David Swift, Professor an der Universität von Columbia, wird zu seinem ehemaligen Mentor, dem Physiker Hans Kleinmann, gerufen. Der alte Mann ist brutal überfallen worden und kämpft nun im Krankenhaus um sein Leben. Als Swift an sein Bett tritt, flüstert Kleinmann ihm eine kryptische Zahlenfolge sowie zwei Wörter auf Deutsch ins Ohr: »Einheitliche Feldtheorie« dann stirbt er. Swift glaubt, dass sein alter Lehrer, der vor fünfzig Jahren Assistent von Albert Einstein war, halluziniert hat. Zeit seines Lebens hat Einstein nach der einheitlichen Feldtheorie gesucht, einer Universalformel, die sämtliche Naturkräfte erklären könnte -allerdings auch die Entwicklung schrecklicher neuer Waffen ermöglichen würde. Einsteins Forschung auf diesem Gebiet blieb vergeblich -oder doch nicht? Kurz darauf merkt Swift, dass er verfolgt wird. Und er ahnt nun, dass die Zahlen, die Kleinmann ihm nannte, tatsächlich Hinweise auf die Einstein'sche Weltformel sind. Dank der Hilfe der gutaussehenden Physikerin Monique Reynolds gelingt es Swift zunächst, seine Verfolger abzuhängen. Aber nicht nur das FBI, sondern auch ein russischer Söldner, dessen Auftraggeber sich nicht zu erkennen geben, will die Formel mit aller Macht in seinen Besitz bringen. Und dazu ist ihm jedes Mittel recht... Mark Alpert studierte Astrophysik und Literatur. Hauptberuflich arbeitet er als Redakteur des populären Wissenschaftsmagazins Scientific American, wo er seinen Lesern komplizierte wissenschaftliche Theorien einfach und verständlich darstellt. Mark Alpert lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Manhattan.
MARK ALPERT
DIE WÜRFEL GOTTES THRILLER
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Final Theory«
Für Lisa, die meine Welt mit Wundern gefüllt hat Die entfesselte Macht des Atoms hat alles geändert bis auf unsere Art zu denken, und deshalb treiben wir auf eine noch nie dagewesene Katastrophe zu.
Albert Einstein
EINS
H
ans Walther Kleinman, einer der großen theoretischen Physiker unserer
Zeit, ertrank in seiner Badewanne. Ein Fremder mit langen, sehnigen Armen drückte Hans' Schultern nach unten. Obwohl das Wasser nur dreißig Zentimeter tief war, verhinderten die Arme, dass Hans seinen Kopf über die Wasseroberfläche hob. Er verkrallte sich in die Hände des Fremden und versuchte dessen Griff zu lockern, aber der Mann war bärenstark, ein junger brutaler Kerl, und Hans war neunundsiebzig Jahre alt, hatte Arthritis und ein schwaches Herz. Er schlug hilflos um sich, trat innen gegen die Badewanne, und das Wasser schwappte wie wild um ihn herum. Er konnte seinen Angreifer nicht richtig sehen - das Gesicht des Mannes war ein undeutlicher verschwommener Fleck. Er musste durch das offene Fenster an der Feuertreppe in die Wohnung geklettert und dann ins Badezimmer geeilt sein, als er begriff, dass Hans drinnen war. Während Hans um sein Leben kämpfte, fühlte er, wie der Druck in seiner Brust zunahm. Das begann direkt unter dem Brustbein und füllte im Nu seinen ganzen Brustkorb. Ein Druck, der von allen Seiten nach innen ging und seine Lunge lahmlegte. Innerhalb von Sekunden stieg er ihm in den Hals, eine heiße, zuschnürende Enge, sodass er den Mund aufmachen musste. Als ihm lauwarmes Wasser in die Kehle drang, wurde aus Hans eine Kreatur reiner Panik, ein sich windendes, zappelndes Tier, das seine letzten Zuckungen durchmacht. Nein, nein, nein, nein, nein, nein! Dann lag er still da, und als sein Blickfeld verblasste, sah er nur noch die kleinen Wellen an der Oberfläche, die sich wenige Zentimeter über ihm kräuselten. Eine Fourier-Reihe, dachte er. Und so schön. Aber das war nicht das Ende, noch nicht. Als Hans das Bewusstsein wiedererlangte, lag er mit dem Gesicht nach unten auf dem kalten Fliesenboden, hustete und spuckte Badewasser aus. Seine Augen brannten, ihm drehte sich der Magen um, und jeder Atemzug war ein qualvolles Keuchen. Wieder lebendig zu werden war tatsächlich schmerzhafter als Sterben. Dann spürte er einen harten Schlag in den Rücken direkt zwischen die Schulterblätter und hörte, wie jemand mit fröhlicher Stimme sagte: »Zeit zum Aufwachen.« Der Fremde packte ihn an den Ellbogen und drehte ihn herum. Hans' Hinterkopf schlug gegen die nassen Fliesen. Er atmete immer noch keuchend und schaute zu seinem Angreifer hoch, der auf dem Badezimmerteppich kniete. Ein großer Mann, der mindestens hundert Kilo wog. Seine Schultermuskeln wölbten sich unter dem schwarzen T-Shirt, die Tarnanzugshose war in schwarze Lederstiefel gestopft. Ein kahler Kopf, der verglichen mit seinem Körper unverhältnismäßig klein wirkte, mit schwarzen Stoppeln auf den Wangen und einer grauen Narbe am Unterkiefer. Höchstwahrscheinlich ein Junkie, vermutete Hans. Nachdem er mich umgebracht hat, nimmt er die Bude auseinander und
sucht nach meinen Wertsachen. Erst dann wird der Idiot begreifen, dass ich keinen gottverdammten Cent besitze. Der Mann dehnte seine dünnen Lippen zu einem Lächeln. »Jetzt unterhalten wir uns ein bisschen, ja? Sie können mich Simon nennen, wenn Sie wollen.« Simons Stimme hatte einen ungewöhnlichen Akzent, den Hans nicht sofort identifizieren konnte. Seine Augen waren klein und braun, seine Nase krumm, und seine Haut hatte die Farbe eines verwitterten Ziegelsteins. Seine Gesichtszüge 4 waren hässlich, aber nicht eindeutig zuzuordnen - er konnte Spanier, Russe, Türke, beinahe alles sein. »Was wollen Sie?«, wollte Hans sagen, aber als er den Mund aufmachte, musste er nur wieder würgen. Simon wirkte amüsiert. »Ja, ja, es tut mir leid. Aber ich musste Ihnen zeigen, dass ich es ernst meine. Und das macht man besser ganz zu Anfang, nicht?« Merkwürdigerweise hatte Hans jetzt keine Angst mehr. Er hatte bereits akzeptiert, dass dieser Mann ihn umbringen würde. Was ihn irritierte, war seine unglaubliche Unverschämtheit: Er hörte nicht auf zu lächeln, während Hans nackt vor ihm auf dem Boden lag. Es schien klar zu sein, was als Nächstes geschehen würde: Simon würde ihn auffordern, ihm die Geheimzahl seiner Scheckkarte zu verraten. Einer Nachbarin von Hans war das Gleiche widerfahren, einer Frau von zweiundachtzig Jahren, die jemand in ihrer Wohnung überfallen und geschlagen hatte, bis sie ihre Geheimzahl preisgab. Nein, Hans hatte keine Angst - er war wütend! Er hustete die letzten Tropfen Badewasser aus seiner Luftröhre und stützte sich auf die Ellbogen. »Diesmal hast du einen Fehler gemacht, du Ganef. Ich habe kein Geld. Ich hab nicht mal eine Bankkarte.« »Ich will kein Geld von Ihnen, Dr. Kleinman. Ich bin an Physik interessiert, nicht an Geld. Sie kennen sich aus auf dem Gebiet, nehme ich an.« Zunächst wurde Hans nur noch wütender. Machte dieser Ganove sich über ihn lustig? Was bildete er sich ein? Nach einem Moment kam ihm jedoch eine beunruhigendere Frage in den Sinn: Wie hat dieser Mann meinen Namen rausgefunden? Und woher weiß er, dass ich Physiker bin? Simon schien zu erraten, was Hans dachte. »Seien Sie nicht so überrascht, Professor. Ich bin nicht so ungebildet, wie ich aussehe. Ich habe vielleicht keinen akademischen Grad, aber ich lerne schnell.« 4
Hans war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass dieser Mann kein Junkie war. »Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?« »Betrachten Sie es als Forschungsprojekt. Auf einem sehr anspruchsvollen und esoterischen Gebiet.« Sein Lächeln wurde breiter. »Ich gebe zu, einige von den Gleichungen waren nicht leicht zu verstehen. Aber ich habe ein paar Freunde, wissen Sie, und die haben es mir sehr gut erklärt.«
»Freunde? Was meinen Sie mit Freunden?« »Nun ja, das ist vielleicht das falsche Wort. >Klienten< wäre wahrscheinlich besser. Ich habe ein paar sehr kenntnisreiche und wohlhabende Klienten. Und sie haben mich damit beauftragt, einige Informationen aus Ihnen herauszuholen.« »Wovon reden Sie da? Sind Sie eine Art Spion?« Simon lachte verhalten. »Nein, nein, nichts so Grandioses. Ich bin ein unabhängiger Unternehmer. Belassen wir es dabei.« Hans' Gedanken überschlugen sich. Sein Angreifer war ein Spion oder vielleicht ein Terrorist. Nicht ganz klar war, in wessen Auftrag er handelte - Iran? Nordkorea? Al-Qaida? -, aber das spielte keine Rolle. Sie waren alle hinter derselben Sache her. Hans verstand bloß nicht, warum die Scheißkerle sich ausgerechnet ihn ausgesucht hatten. Wie die meisten Atomphysiker seiner Generation hatte er in den Sechziger und Siebzigerjahren als geheim eingestufte Arbeit für das Verteidigungsministerium geleistet, aber sein Spezialgebiet waren Radioaktivitätsstudien gewesen. Er hatte nie am Entwurf oder der Herstellung von Bomben gearbeitet und die meiste Zeit seines Berufslebens mit theoretischen Forschungen verbracht, die strikt für zivile Zwecke bestimmt waren. »Ich habe ein paar schlechte Nachrichten für Ihre Klienten, wer sie auch sein mögen« sagte Kleinman. »Sie haben sich den falschen Physiker ausgesucht.« Simon schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht.« 5
»Was für Informationen kann ich Ihnen denn Ihrer Ansicht nach geben? Urananreicherung? Davon habe ich keine Ahnung! Und vom Entwurf atomarer Sprengköpfe verstehe ich auch nichts. Mein Gebiet ist Teilchenphysik, nicht Atomtechnik. Meine Forschungsergebnisse sind alle im Internet erhältlich, an ihnen ist nichts geheim.« Der Mann zuckte unbeirrt mit den Achseln. »Sie haben leider den falschen Schluss gezogen. Sprengköpfe sind mir egal, und Ihre Forschungen sind mir auch egal. Ich bin an der Arbeit eines anderen Physikers interessiert, nicht an Ihrer.« »Warum sind Sie dann in meiner Wohnung? Haben Sie sich in der Adresse geirrt?« Simons Gesicht versteinerte beinahe. Er drückte Hans zurück auf den Boden, legte ihm eine Hand flach auf den Brustkorb und beugte sich über ihn. »Dieser Mann ist zufällig jemand, den Sie gekannt haben. Ihr Professor in Princeton vor fünfundfünfzig Jahren. Der ewige Jude aus Bayern. Der Mann, der Zur Elektrodynamik bewegter Körper geschrieben hat. Den haben Sie doch mit Sicherheit nicht vergessen, stimmt's?« Hans rang nach Luft. Die Hand seines Peinigers fühlte sich unglaublich schwer an. Mein Gott, dachte er. Das darf einfach nicht wahr sein. Simon beugte sich noch etwas weiter nach vorn und kam ihm mit seinem Gesicht so nahe, dass Hans die schwarzen Härchen in seinen Nasenlöchern sehen konnte. »Er hat Sie bewundert, Dr. Kleinman. Seiner Ansicht nach waren
Sie einer seiner intelligentesten Assistenten. Sie haben in seinen letzten Lebensjahren ziemlich eng mit ihm zusammengearbeitet, nicht wahr?« Hans hätte nicht antworten können, selbst wenn er gewollt hätte. Simon drückte ihn so fest zu Boden, dass er das Knirschen seiner Rückenwirbel auf den kalten Fliesen spüren konnte. »Ja, er hat Sie bewundert. Aber er hat Ihnen außerdem 6 auch vertraut. Er hat sich mit Ihnen auf allen Gebieten beraten, an denen er in diesen Jahren arbeitete. Einschließlich seiner Einheitlichen Feldtheorie.« In genau diesem Augenblick brach eine von Hans' Rippen. Auf seiner linken Seite am äußeren Bogen, wo die Belastung am größten war. Der Schmerz fuhr ihm wie ein Messer durch die Brust, und er öffnete den Mund, um zu schreien, konnte aber nicht einmal dafür genug Luft holen. O Gott, Gott im Himmel! Ganz plötzlich bekam er Angst, schreckliche Angst! Weil er verstand, was dieser Fremde von ihm wollte, und er wusste, dass er ihm am Ende nichts mehr entgegenzusetzen hätte. Endlich nahm Simon seine Hand von Hans' Brust, und der Druck ließ nach. Hans machte einen tiefen Atemzug, und während die Luft in seine Lunge rauschte, spürte er wieder diesen Schmerz in seiner linken Seite wie einen Messerstich. Sein Rippenfell war gerissen, was bedeutete, dass sein linker Lungenflügel bald in sich zusammenfallen würde. Er weinte vor Schmerzen und erschauerte mit jedem Atemzug. Simon stand über ihm, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und lächelte zufrieden. Das Ergebnis seiner Arbeit konnte sich sehen lassen. »Verstehen wir uns jetzt? Ist Ihnen klar, wonach ich suche?« Hans nickte und schloss die Augen. Tut mir leid, Herr Doktor, dachte er. Ich werde Sie gleich im Stich lassen. Und er sah den Professor wieder vor seinem geistigen Auge, sah ihn so deutlich, als stünde der große Mann direkt vor ihm im Badezimmer. Aber er sah nicht so aus wie auf den Bildern, die alle kannten, die Fotografien des ungepflegten Genies mit den wilden weißen Haaren. Hans erinnerte sich an den Professor in den letzten Monaten seines Lebens. Die eingefallenen Wangen, die tief liegenden Augen, das niedergeschlagene Gesicht. Der Mann, der einen Blick auf die Wahrheit geworfen hatte, sie aber nicht aussprechen durfte. 6
Hans spürte, wie er in die Seite getreten wurde, direkt unterhalb seiner gebrochenen Rippe. Der Schmerz führ durch seinen Oberkörper, und seine Augen gingen mit einem Ruck auf. Einer von Simons Lederstiefeln ruhte auf Kleinmans nackter Hüfte. »Zum Schlafen ist keine Zeit«, sagte er. »Wir haben noch einiges zu tun. Ich werde jetzt ein paar Blatt Papier von Ihrem Schreibtisch holen, und Sie werden alles für mich aufschreiben.« Er drehte sich um und ging aus dem Badezimmer. »Falls ich irgendwas nicht verstehe, werden Sie es mir
erklären. Wie in einem Seminar, stimmt's? Wer weiß, vielleicht macht es Ihnen sogar ein bisschen Spaß.« Simon ging durch den Flur ins Schlafzimmer. Einen Augenblick später hörte Hans, wie dort herumgestöbert wurde. Jetzt, da der Fremde nicht mehr zu sehen war, verzog sich Hans' Furcht zum Teil, und er war wieder in der Lage nachzudenken, wenigstens bis der Dreckskerl zurückkam. Und das, worüber er nachdachte, waren die Stiefel seines Peinigers, seine glänzenden schwarzen SAStiefel. Hans spürte Ekel in sich aufsteigen. Der Mann versuchte wie ein Nazi auszusehen. Und im Wesentlichen wir er das auch, ein Nazi, der sich von den Schlägern in den braunen Uniformen kaum unterschied, die Hans im Alter von sieben Jahren durch die Straßen Frankfurts hatte marschieren sehen. Und die Leute, für die Simon arbeitete, diese namenlosen »Klienten«? Was sollten sie schon anderes sein als Nazis? Simon kam zurück und hielt einen Kugelschreiber in der einen und einen Notizblock in der anderen Hand. »Okay«, sagte er, »von Anfang an. Ich möchte, dass Sie die revidierte Feldgleichung aufschreiben.« Er beugte sich vor und hielt Hans Stift und Block hin, ein Angebot, das dieser ausschlug. Ein Lungenflügel kollabierte, und jeder Atemzug war eine Qual, aber er würde diesem Nazi nicht helfen. »Geh zum Teufel«, krächzte er. Simon schaute ihn leicht tadelnd an, wie man einen Fünf 7
jährigen anschaut, der sich schlecht benimmt. »Wissen Sie, was ich glaube, Dr. Kleinman? Ich glaube, Sie brauchen noch ein Bad.« Mit einer raschen Bewegung packte er Hans und tauchte ihn wieder unter Wasser. Und wieder kämpfte dieser darum, mit dem Kopf an die Oberfläche zu kommen, wobei er verzweifelt gegen die Innenwände der Badewanne schlug und sich in die Arme des Peinigers verkrallte. Das zweite Mal war sogar noch schrecklicher als das erste, weil Hans genau wusste, was ihm bevorstand: die Qual der wachsenden Beklemmung, die hektischen Verdrehungen, der stumpfe Abstieg in die Schwärze. Dieses Mal stürzte Hans tiefer in die Bewusstlosigkeit ab. Es bedurfte einer gewaltigen Anstrengung, wieder aus dem Abgrund emporzusteigen, und selbst nachdem Hans die Augen aufgeschlagen hatte, hatte er nicht den Eindruck, als sei er völlig wach. Sein Blickfeld war an den Rändern verschwommen, und er konnte nur flach atmen. »Sind Sie wieder da, Dr. Kleinman? Können Sie mich hören?« Die Stimme klang jetzt gedämpft. Als Hans nach oben schaute, sah er Simons Silhouette, aber sein Körper schien von einem Halbschatten vibrierender Partikel umgeben zu sein. »Ich wünschte mir wirklich, Sie wären ein bisschen vernünftiger, Dr. Kleinman. Wenn Sie Ihre Situation einmal logisch betrachten, werden Sie begreifen, dass all
diese Ausflüchte absurd sind. Sie können so etwas nicht für alle Zeiten verstecken.« Hans schaute sich den Halbschatten, der den Mann umgab, etwas genauer an und stellte fest, dass die Partikeln eigentlich nicht vibrierten - sie entstanden sprunghaft und verschwanden wieder auf die gleiche Weise, Paare von Partikeln und Antipartikeln erschienen wie durch Zauberhand aus dem 8
Quantenvakuum und verschwanden genauso schnell wieder. Das ist erstaunlich, dachte Hans. Wenn ich nur eine Kamera hätte! »Auch wenn Sie uns nicht helfen, werden meine Klienten bekommen, was sie haben wollen. Vielleicht wussten Sie das nicht, aber Ihr Professor hatte noch andere Vertraute. Er hielt es für clever, die Informationen unter ihnen aufzuteilen. Wir haben schon zu ein paar dieser alten Herren Kontakt aufgenommen, und sie sind äußerst hilfreich gewesen. Auf die eine oder andere Weise werden wir bekommen, was wir brauchen. Warum wollen Sie es sich also schwer machen.« Die vergänglichen Partikeln schienen größer zu werden, während Hans sie anstarrte. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass es gar keine Partikeln waren, sondern unendlich dünne Fäden, die sich von einem Vorhang des Raums zu einem anderen erstreckten. Die Fäden zitterten zwischen den wogenden Vorhängen, die sich zu Röhren und Kegeln und Schläuchen zusammenrollten. Und der ganze raffinierte Tanz ging genauso vor sich, wie er vorhergesagt worden war, genauso, wie sein Herr Doktor ihn beschrieben hatte. »Es tut mir leid, Dr. Kleinman, aber meine Geduld ist langsam erschöpft. Mir gefällt das nicht, aber Sie lassen mir keine Wahl.« Der Mann trat ihn dreimal links gegen die Brust, aber Hans spürte es nicht mal. Die durchscheinenden Vorhänge des Raums hatten ihn eingeschlossen. Hans konnte sie deutlich sehen, sie waren wie gebogene Scheiben aus geblasenem Glas, strahlend und undurchdringlich, aber weich. Doch der andere Mann konnte sie offenbar nicht sehen. Wer war dieser Mann überhaupt? Er sah so albern aus, wie er mit seinen schwarzen Lederstiefeln da stand. »Können Sie sie nicht sehen?«, flüsterte Hans. »Sie sind direkt vor Ihnen!« Der Mann stieß einen Seufzer aus. »Ich nehme an, dies erfordert eine energischere Form von Überredung.« Er ging in, 8
den Flur zurück und öffnete die Tür zu dem Wäscheschrank. »Mal sehen, was wir hier haben.« Nach einem Moment kehrte er ins Bad zurück, in einer Hand eine Plastikflasche Waschbenzin, in der anderen ein Dampfbügeleisen. »Dr. Kleinman, können Sie mir sagen, wo die nächste Steckdose ist?« Hans beachtete den anderen gar nicht. Er sah nur noch die Spitzenfalten im Stoff des Universums, die sich um ihn legten wie eine unendlich weiche Decke. ZWEI
D
avid Swift war in ungewöhnlich guter Stimmung. Er hatte gerade mit Jonah,
seinem siebenjährigen Sohn, einen wundervollen Nachmittag im Central Park verbracht. Um dem Tag einen angemessenen Schlusspunkt zu verleihen, hatte David an einem Handkarren auf der Seventy-Second Street zwei Eistüten gekauft, und jetzt schlenderten Vater und Sohn durch die schwüle JuniDämmerung zur Wohnung von Davids Exfrau. Jonah war ebenfalls gut gelaunt, weil er in seiner rechten Hand - mit der linken hielt er die Eistüte -einen brandneuen, dreischüssigen Super Soaker schwenkte. Während Jonah über den Bürgersteig ging, richtete er die Hitech-Wasserpistole beiläufig auf verschiedene Ziele -Fenster, Briefkästen, einige Taubengrüppchen -, aber David blieb gelassen. Er hatte den Wasserbehälter der Pistole geleert, bevor sie den Park verließen. Jonah schaffte es irgendwie, an seinem Eis zu lecken, während er gleichzeitig etwas über den Lauf des Super Soaker anvisierte. »Wie funktioniert das noch mal? Warum kommt das Wasser so schnell rausgeschossen?« David hatte ihm das Verfahren schon zweimal erklärt, aber es machte ihm nichts aus, sich zu wiederholen. Diese Art Gespräch führte er liebend gern mit seinem Sohn. »Du siehst doch das rote Ding da, den Pumpengriff? Wenn du den bewegst, schiebst du das Wasser von dem großen Behälter in den kleineren.« »Moment mal, wo ist der kleinere?« David zeigte auf den hinteren Teil der Pistole. »Genau 9
hier. In dem kleineren Behälter ist etwas Luft, und wenn man Wasser in den Tank hineinpumpt, hat die Luft weniger Platz. Die Luftmoleküle werden zusammengequetscht und fangen an, gegen das Wasser zu drücken.« »Das kapier ich nicht. Warum drücken sie gegen das Wasser?« »Weil Luftmoleküle immer herumspringen, verstehst du? Und wenn du sie zusammenquetschst, springen sie stärker gegen das Wasser.« »Kann ich die Pistole für den Anschauungsunterricht mit in die Schule nehmen?« »Ah, ich weiß nicht recht...« »Warum denn nicht? Es hat doch mit Naturwissenschaft zu tun, stimmt's?« »Ich glaube, Wasserpistolen sind in der Schule nicht erlaubt. Aber du hast recht, in diesem Ding stecken eindeutig naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Der Mann, der den Super Soaker erfunden hat, war Naturwissenschaftler. Ein Kernphysiker, der für die NASA gearbeitet hat.« Ein Bus fuhr über die Columbus Avenue, und Jonah verfolgte ihn mit seiner Wasserpistole. Er schien das Interesse an den physikalischen Aspekten der Super Soaker zu verlieren. »Warum bist du kein Naturwissenschaftler geworden, Dad?« David überlegte einen Moment, bevor er antwortete. »Na ja, nicht jeder kann Naturwissenschaftler sein. Aber ich schreibe Bücher über die Geschichte der
Naturwissenschaft, und das macht auch Spaß. Ich erfahre einiges über berühmte Leute wie Isaac Newton und Albert Einstein und gebe Seminare über sie.« »Dazu habe ich keine Lust. Ich will ein richtiger Wissenschaftler werden. Ich werde ein Raumschiff erfinden, das in fünf Sekunden zum Pluto fliegen kann.« Es hätte bestimmt Spaß gemacht, über das Pluto-Raum 10
schiff zu sprechen, doch jetzt fühlte David sich unwohl. Er empfand das starke Bedürfnis, sein Ansehen in den Augen seines Sohnes zu verbessern. »Vor langer Zeit habe ich nach meinem ersten Examen an der Universität richtige Wissenschaft gemacht. Und dabei ging es nur um den Weltraum.« Jonah wandte sich von der Straße ab und starrte ihn an. »Du meinst Raumschiffe?«, fragte er voller Hoffnung. »Raumschiffe, die Milliarden Meilen pro Sekunde zurücklegen können?« »Nein, es ging um die Form des Weltraums. Wie der Weltraum aussehen würde, wenn es nur zwei Dimensionen gäbe anstatt drei.« »Das kapier ich nicht. Was ist eine Dimension?« »Ein Universum mit zwei Dimensionen hat Länge und Breite, aber keine Tiefe. Wie ein riesiges Blatt Papier.« David streckte seine Hände mit den Handflächen nach unten aus, als wolle er ein großes Blatt glätten. »Ich hatte diesen Lehrer, Professor Kleinman hieß er. Er ist einer der klügsten Wissenschaftler der Welt. Und wir haben zusammen ein Referat über zweidimensionale Universen geschrieben.« »Ein Referat?« Das Interesse verschwand aus Jonahs Gesicht. »Ja, das tun Wissenschaftler nun mal, sie schreiben Referate über das, was sie entdeckt haben. Damit ihre Kollegen sehen können, was sie gemacht haben.« Jonah drehte sich um und beobachtete den Verkehr. Er war derart gelangweilt, dass er sich nicht mal die Mühe machte zu fragen, was das Wort Kollegen bedeutete. »Ich werde Mom fragen, ob ich den Super Soaker zum Anschauungsunterricht mitnehmen kann.« Eine Minute später betraten sie das Apartmentgebäude, in dem Jonah und seine Mutter wohnten. Bis vor zwei Jahren, als er und Karen sich trennten, hatte David auch hier 10
gewohnt. Jetzt hatte er eine eigene kleine Wohnung, etwas näher bei seinem Job an der Columbia University. Er holte Jonah an jedem Wochentag um drei an der Schule ab und brachte ihn vier Stunden später zu seiner Mutter. Diese Regelung erlaubte es ihnen, die beträchtlichen Kosten für die Einstellung einer Kinderfrau einzusparen. Aber David wurde immer das Herz schwer, wenn er durch die Eingangshalle seines alten Wohnhauses schritt und in den langsamen Aufzug einstieg. Er kam sich vor wie ein Verbannter. Als sie schließlich im vierzehnten Stock ankamen, sah David Karen im Eingang des Apartments stehen. Sie hatte sich noch nicht umgezogen und trug schwarze
Pumps und ein graues Kostüm, die klassische Uniform einer Unternehmensanwältin. Mit vor der Brust verschränkten Armen inspizierte sie ihren Exmann und nahm mit eindeutiger Missbilligung die Stoppeln in Davids Gesicht, die schlammverschmierte Jeans und das T-Shirt zur Kenntnis, das mit dem Namen seiner Softballmannschaft verziert war, die Hitless Historians. Dann konzentrierte sich ihr Blick auf den Super Soaker. Jonah witterte Unheil, gab David die Pistole und schlüpfte an seiner Mutter vorbei in das Apartment. »Ich muss pinkeln«, rief er, als er ins Badezimmer rannte. Karen schüttelte den Kopf, als sie die Wasserpistole anstarrte. Eine Locke ihres blonden Haars hatte sich gelöst und hing neben ihrer linken Wange. Sie ist immer noch schön, dachte David, aber irgendwie eine kalte Schönheit, kalt und hart. Sie schob sich die Locke mit einer Hand hinters Ohr. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?« David hatte sich auf diese Frage vorbereitet. »Hör zu, ich habe mit Jonah ein paar Regeln vereinbart. Es wird nicht auf Menschen geschossen. Wir waren im Park und haben auf die Steine und die Bäume geschossen. Es hat Spaß gemacht.« 11
»Findest du, eine Maschinenpistole ist ein angemessenes Spielzeug für einen Siebenjährigen?« »Es ist keine Maschinenpistole, okay? Und auf dem Karton hat gestanden: >Ab dem siebten Lebensjahre« Karen kniff die Augen zusammen und verzog die Lippen. Dieses Gesicht machte sie oft, wenn sie sich stritten, und David hatte es noch nie leiden können. »Weißt du, was Jungs mit diesen Super Soakers anstellen?«, fragte sie. »Gestern Abend war eine Geschichte darüber in den Nachrichten. Ein Haufen Jungs in Staten Island haben Benzin statt Wasser in die Pistole gefüllt, damit sie das Ding als Flammenwerfer benutzen konnten. Sie haben fast ihre gesamte Nachbarschaft niedergebrannt.« David holte tief Luft. Er wollte sich nicht mehr mit Karen streiten. Das war der Grund, warum sie sich getrennt hatten - sie stritten sich die ganze Zeit vor Jonah. Deshalb hatte es überhaupt keinen Sinn, diese Unterhaltung fortzusetzen. »Okay, okay, beruhige dich. Sag mir nur, was ich tun soll.« »Nimm die Pistole mit zu dir nach Hause. Du kannst Jonah damit spielen lassen, wenn du auf ihn aufpasst, aber ich will das Ding nicht in meiner Wohnung haben.« Bevor David antworten konnte, hörte er das Telefon in der Wohnung klingeln. Dann rief Jonah: »Ich geh dran.« Karen schaute zur Seite, und einen Augenblick lang sah es so aus, als wollte sie selber zum Telefon rennen, aber stattdessen neigte sie nur den Kopf, um besser zuhören zu können. David fragte sich, ob es ihr neuer Freund war, ein herzlicher grauhaariger Herr mit zwei Exfrauen, einer Menge Geld und Anwalt wie sie. David war nicht im üblichen Sinn eifersüchtig -
er hatte seine Leidenschaft für Karen vor langer Zeit verloren. Was er nicht ertragen konnte, war der Gedanke, dass dieser überschwängliche Armleuchter sich mit Jonah anfreundete. Jonah kam mit dem schnurlosen Telefon in der Hand zur 12
Tür. Dort blieb er abrupt stehen, vermutlich weil er durch die besorgten Mienen seiner Eltern verwirrt war. Dann hielt er David das Telefon hin. »Es ist für dich, Dad.« Karen machte ein langes Gesicht. Sie sah enttäuscht aus. »Das ist merkwürdig. Warum sollte dich irgendjemand hier anrufen. Hat er deine neue Nummer nicht?« Jonah zuckte mit den Achseln. »Der Mann am Telefon meinte, er wäre bei der Polizei.« David saß auf dem Rücksitz eines Taxis, das zum St. Luke's Hospital flitzte. Es wurde allmählich dunkel, und erwartungsvolle Paare reihten sich vor den Restaurants und Bars auf der Amsterdam Avenue in die Schlange ein. Während das Taxi durch den Verkehr jagte, an den langsamen Bussen und Lieferwagen vorbei, starrte David auf die Neonschilder über den Restaurants, deren grelle orangefarbene Buchstaben aufblitzten und hinter ihm verschwanden. Angegriffen, hatte der Police Detective gesagt. Professor Kleinman war in seinem Apartment an der 127th Street angegriffen worden. Jetzt lag er in der Notaufnahme des St. Luke's und befand sich in kritischem Zustand. Und er hatte nach David Swift gefragt. Hatte den Sanitätern eine Telefonnummer zugeflüstert. Sie machen besser schnell, hatte der Detective gesagt. Und auf Davids Frage: »Warum? Was ist denn mit ihm los?«, hatte der Detective geantwortet: »Machen Sie einfach schnell.« David wand sich vor Schuldgefühlen auf seinem Sitz. Er hatte Professor Kleinman seit mehr als drei Jahren nicht mehr gesehen. Der alte Mann war seit seiner Emeritierung vom Physikalischen Institut der Columbia zu einem Einsiedler geworden. Wohnte in einem winzigen Apartment am Rand von West Harlem und gab all sein Geld an Israel. Keine Frau, keine Kinder. Die Physik war sein Leben gewesen. 12
Vor zwanzig Jahren, als David sein erstes Examen hinter sich hatte, war Kleinman sein Mentor gewesen. David hatte ihn auf Anhieb sympathisch gefunden. Er war weder unnahbar noch streng gewesen und hatte seine Vorlesungen über die Quantentheorie mit jiddischen Vokabeln gewürzt. Einmal pro Woche ging David in Kleinmans Büro, um dort von ihm in die Geheimnisse der Wellenfunktionen und der virtuellen Partikeln eingeweiht zu werden. Leider reichten all die geduldigen Erklärungen nicht aus, und nach zwei frustrierenden Jahren musste David zugeben, dass der Stoff über seinen Horizont ging. Er war einfach nicht klug genug, um Physiker zu werden. Also brach er das
Doktorandenstudium in Physik ab, wechselte zu dem Studienfach, das ihm am zweitbesten gefiel, und schrieb eine Dissertation in Wissenschaftsgeschichte. Kleinman war enttäuscht, aber voller Verständnis. Trotz Davids Schwächen in Physik hatte der alte Mann Gefallen an ihm gefunden. Sie ließen während der nächsten zehn Jahre die Verbindung nicht abreißen, und als David mit den Recherchen für sein Buch begann - eine Untersuchung über Albert Einsteins Zusammenarbeit mit seinen verschiedenen Assistenten -, steuerte Kleinman seine persönlichen Erinnerungen an den Mann bei, den er Herr Doktor nannte. Das Buch Auf den Schultern von Riesen war ungeheuer erfolgreich und begründete Davids Reputation. Er war inzwischen ordentlicher Professor für Wissenschaftsgeschichte am Historischen Seminar der Columbia. Aber David wusste, das hatte nicht viel zu bedeuten. Verglichen mit einem Genie wie Kleinman hatte er nichts zustande gebracht. Das Taxi kam quietschend vor dem Eingang zur Unfallstation des St. Luke's zum Stehen. Nachdem David den Fahrer bezahlt hatte, eilte er durch die automatische Glastür und erspähte sofort ein Trio von Officers des New York Police Department, die neben dem Aufnahmeschalter standen. Zwei 13
von ihnen trugen Uniform: ein Sergeant mittleren Alters mit einem vorstehenden Bauch und ein hochgewachsener, dünner Grünschnabel, der so aussah, als hätte er gerade die Highschool verlassen. Der dritte war ein Detective in Zivil, ein gut aussehender Latino in einem ordentlich gebügelten Anzug. Das ist der Mann, der mich angerufen hat, dachte David. Er erinnerte sich an den Namen des Detective: Rodriguez. Mit klopfendem Herzen näherte sich David den Polizisten. »Entschuldigung, ich bin David Swift. Sind Sie Detective Rodriguez?« Der Detective nickte ernst. Die beiden Streifenpolizisten machten jedoch einen amüsierten Eindruck. Der dicke Sergeant lächelte David an. »Hey, haben Sie einen Waffenschein für das Ding?« Er zeigte auf den Super Soaker. Vor lauter Aufregung hatte David völlig vergessen, dass er immer noch Jonahs Wasserpistole in der Hand hielt. Rodriguez schaute den Sergeant stirnrunzelnd an. Er war ganz bei der Sache. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Mr. Swift. Sind Sie mit Mr. Kleinman verwandt?« »Nein, nein, ich bin nur mit ihm befreundet. Tatsächlich habe ich früher mal bei ihm studiert.« Der Detective schien verwirrt zu sein. »Er war Ihr Lehrer?« »Ja, an der Columbia. Wie geht es ihm? Ist er schwer verletzt?« Rodriguez legte David eine Hand auf die Schulter. »Kommen Sie bitte mit uns. Er ist bei Bewusstsein, antwortet aber nicht auf unsere Fragen. Er besteht darauf, mit Ihnen zu reden.«
Der Detective führte David durch einen Flur, während die beiden Streifenpolizisten hinter ihnen her gingen. Sie kamen an zwei Krankenschwestern vorbei, die sie ernst ansahen. Das 14
war kein gutes Zeichen. »Was ist denn passiert?«, fragte David. »Sie sagten, er sei angegriffen worden?« »Wir wurden von einem Einbruchdiebstahl benachrichtigt«, sagte Rodriguez emotionslos. »Jemand von der anderen Straßenseite hat gesehen, wie ein Mann von der Feuertreppe aus in das Apartment eindrang. Als die Polizisten eintrafen, fanden sie Mr. Kleinman mit schweren Verletzungen im Badezimmer. Das ist alles, was wir im Moment wissen.« »Was meinen Sie mit schweren Verletzungen?« Der Detective starrte nach vorn. »Derjenige, der das getan hat, muss ein abartiger Typ gewesen sein. Mr. Kleinman hat Verbrennungen dritten Grades im Gesicht, auf der Brust und an den Genitalien. Außerdem hat er einen kollabierten Lungenflügel, und einige andere Organe sind ebenfalls geschädigt. Die Ärzte sagen, sein Herz sei inzwischen zu schwach. Es tut mir sehr leid, Mr. Swift.« Davids Kehle zog sich zusammen. »Kann er nicht operiert werden?« Rodriguez schüttelte den Kopf. »Das würde er nicht überleben.« »Verdammt noch mal«, murmelte David. Er empfand mehr Zorn als Trauer. Bei dem Gedanken, dass Dr. Hans Walther Kleinman, dieser freundliche und hochintelligente Mann, von irgendeinem Sadisten zusammengeschlagen worden war, ballte er die Hände zu Fäusten. Sie kamen zu einem Raum, der als T RAUMAZENTRUM gekennzeichnet war. Durch den Eingang sah David zwei weitere Schwestern in grüner OP-Kleidung neben einem Bett stehen, das von medizinischen Apparaten umgeben war - ein Herzmonitor, ein mobiler Notfallwagen, ein Defibrillator, ein Infusionsständer. Vom Flur aus konnte David nicht sehen, wer in dem Bett lag. Er wollte gerade den Raum betreten, als Detective Rodriguez ihn am Arm packte. 1 »Ich weiß, das wird schwierig werden, Mr. Swift, aber wir 14 brauchen Ihre Hilfe. Ich möchte, dass Sie Mr. Kleinman fragen, ob er sich an irgendetwas im Zusammenhang mit dem Angriff auf ihn erinnert. Die Sanitäter haben ausgesagt, dass er immer wieder zwei Namen genannt hat, während er in dem Krankenwagen war.« Rodriguez blickte über seine Schulter auf den jungen Polizisten. »Wie lauteten diese Namen noch mal?« Der junge Cop blätterte durch die Seiten in seinem Notizbuch. »Ahm, einen Moment. Es waren deutsche Namen, daran erinnere ich mich. Okay, hier sind sie. Einhard Liggin und Feld Terry.« Rodriguez schaute David gespannt an. »Kennen Sie einen der beiden? Waren sie Kollegen von Mr. Kleinman?«
David wiederholte die Namen stumm: Einhard Liggin, Feld Terry. Sie waren selbst für Deutsche ungewöhnlich. Und dann begriff er. »Es sind keine Namen«, sagte er. »Es sind zwei deutsche Wörter. Einheitliche Feldtheorie.« Rodriguez starrte ihn bloß an. »Und was zum Teufel ist das?« David beschloss, ihm dieselbe Erklärung zu geben, die er Jonah gegeben hätte. »Das ist eine Theorie, die alle Naturkräfte erklären würde. Alles von der Schwerkraft über die Elektrizität bis zur Kernkraft. Es ist der Heilige Gral der Physik. Seit Jahrzehnten arbeiten Forscher daran, aber niemand hat bis jetzt die Theorie entwickelt.« Der dicke Sergeant kicherte. »Na, da haben wir ja unseren Übeltäter. Die Einheitliche Feldtheorie. Soll ich einen Rundruf an alle Streifenwagen rausgeben?« Rodriguez schaute den Sergeant wieder mit gerunzelter Stirn an, bevor er sich erneut an David wandte. »Fragen Sie Mr. Kleinman nur, woran er sich erinnert. Alles wäre hilfreich, so wenig es auch sein mag.« David sagte: »Okay, ich will es versuchen«, aber er war 15
jetzt ein wenig verblüfft. Warum sollte Kleinman ausgerechnet diese beiden Wörter wiederholen? Einheitliche Feldtheorie war ein etwas altmodischer Ausdruck. Die meisten Physiker bezeichneten es mittlerweile als Stringtheorie oder JVI-Theorie oder Quantenschwerkraft, wie die letzten Ansätze, an das Problem heranzugehen, genannt worden waren. Erschwerend kam hinzu, dass Kleinman keinen dieser Ansätze in irgendeiner Weise befürwortet hatte. Seine Physikerkollegen gingen völlig falsch an die Sache heran, pflegte er zu sagen. Anstatt zu versuchen, die Funktionsweise des Universums zu verstehen, bauten sie knallige Türme aus mathematischen Formeln. Rodriguez sah ihn ungeduldig an. Er nahm David den Super Soaker aus der Hand und schob ihn in Richtung des Traumazentrums. »Sie gehen jetzt besser rein. Er hat vielleicht nicht mehr lange.« David nickte und betrat den Raum. Als er sich dem Bett näherte, zogen sich die beiden Krankenschwestern taktvoll zurück und konzentrierten sich auf den Herzmonitor. Als Erstes bemerkte er die Verbände, das dicke Mullpolster, das man mit einem Pflaster auf der rechten Seite von Kleinmans Gesicht befestigt hatte, und die blutgetränkten Bandagen auf seiner Brust. Die Verbände bedeckten den größten Teil von Kleinmans Körper, und trotzdem verhüllten sie nicht all seine Verletzungen. David konnte Stellen sehen, wo das Blut unter dem weißen Haar des alten Mannes getrocknet war, und purpurfarbene Flecken in Form einer Hand auf beiden Schultern. Aber die dunkelblaue Färbung seiner Haut war das Schlimmste. David kannte sich in Physiologie gut genug aus, um zu wissen, was das bedeutete: Kleinmans Herz konnte das mit Sauerstoff angereicherte Blut aus
seiner Lunge nicht mehr in die Außenbereiche seines Körpers pumpen. Die Arzte hatten ihm eine Sauerstoffmaske vor das Gesicht geschnallt und ihn in eine sitzende Position gebracht, damit 16
die Flüssigkeit aus seiner Lunge abgeleitet wurde, aber diese Maßnahmen zeigten keine große Wirkung. Der alte Mann sah schon wie eine Leiche aus. Nach ein paar Sekunden begann sich der Leichnam allerdings zu bewegen. Kleinman schlug die Augen auf und hob langsam die linke Hand zum Gesicht. Mit gekrümmten Fingern klopfte er gegen die durchsichtige Plastikmaske, die seinen Mund und seine Nase bedeckte. David beugte sich über das Bett. »Dr. Kleinman? Ich bin's, David. Können Sie mich verstehen?« Obwohl die Augen des Professors wässrig und stumpf waren, heftete sich sein Blick auf David. Kleinman klopfte wieder gegen die Sauerstoffmaske, und dann griff er nach dem Beatmungsbeutel, der darunter hing, sich füllte und leerte wie ein dritter Lungenflügel. Nachdem er einen Moment daran herumgefummelt hatte, bekam er das Ding zu packen und begann daran zu ziehen. David erschrak. »Ist irgendwas nicht in Ordnung? Bekommen Sie keine Luft?« Kleinman zog fester an dem Beutel. Seine Lippen hinter der Plastikmaske bewegten sich. David beugte sich näher zu ihm hinab. »Was ist los? Was ist nicht in Ordnung?« Der alte Mann schüttelte den Kopf. Ein Schweißtropfen lief ihm die Stirn hinunter. »Sehen Sie es nicht?«, flüsterte er hinter der Maske. »Sehen Sie es nicht?« »Was soll ich sehen?« Kleinman ließ den Beutel los und hielt die Hand hoch, drehte sie langsam in die eine und die andere Richtung, als würde er einen Pokal herumzeigen. »So wunderschön«, flüsterte er. David hörte ein feuchtes Rasseln in Kleinmans Brust. Das war die Flüssigkeit, die sich in seiner Lunge staute. »Wissen Sie, wo Sie sind, Professor? Sie sind im Krankenhaus.« 16
Kleinman starrte weiter auf seine Hand oder, genauer gesagt, auf den leeren Raum, den seine Hand umschloss. »Ja, ja«, keuchte er. »Jemand hat Sie in Ihrem Apartment überfallen. Die Polizei möchte wissen, ob Sie sich an irgendetwas erinnern.« Der alte Mann hustete, versprühte rosafarbenen Speichel auf die Innenseite seiner Maske. Aber seine Augen hefteten sich weiterhin auf den unsichtbaren Pokal in seiner Hand. »Er hatte recht. Mein Gott, er hatte recht!« David biss sich auf die Unterlippe. Er wusste jetzt ohne jeden Zweifel, dass Kleinman im Sterben lag, weil er schon einmal einen ähnlichen Kampf miterlebt hatte. Vor zehn Jahren hatte er neben dem Krankenbett seines Vaters gestanden und zugesehen, wie er an Leberkrebs starb. Davids Vater John Swift war
Busfahrer und ein ehemaliger Boxer gewesen, der seine Familie verlassen und sich zu Tode getrunken hatte. Am Ende hatte er nicht mal seinen Sohn erkannt. Stattdessen hatte er unter der Bettdecke um sich geschlagen und die Namen der ehemals berühmten Weltergewichtsboxer verflucht, die ihn dreißig Jahre zuvor bewusstlos geschlagen hatten. David ergriff Kleinmans Hand. Sie war weich und schlaff und sehr kalt. »Professor, hören Sie mir bitte zu. Das ist wichtig.« Die Augen des alten Mannes hefteten sich wieder auf ihn. Sie waren der einzige Teil von ihm, der noch am Leben zu sein schien. »Alle haben gedacht ... dass er versagt hätte. Aber er hatte Erfolg. Er hatte Erfolg!« Kleinman sprach abgehackt, machte zwischendurch flache Atemzüge. »Aber er konnte ... es nicht veröffentlichen. Der Doktor sah ... die Gefahr. Viel schlimmer ... als eine Bombe. Zerstörer ... der Welten.« David starrte den alten Mann an. Der Doktor? Zerstörer der Welten? Er packte Kleinmans Hand ein bisschen fester. 17
»Versuchen Sie bei mir zu bleiben, okay? Sie müssen mir von diesem Mann erzählen, der Sie verletzt hat. Erinnern Sie sich, wie er aussah?« Das Gesicht des Professors war jetzt in Schweiß gebadet. »Das war der Grund ... weshalb er gekommen ist. Das war der Grund ... warum er mich gefoltert hat.« »Gefoltert?« David war erschüttert. »Ja, ja. Er wollte ... dass ich es aufschreibe. Aber das hab ich nicht getan. Ich habe es nicht getan!« »Was sollten Sie aufschreiben? Was wollte er von Ihnen?« Kleinman lächelte hinter der Maske. »Die Einheitliche Feldtheorie«, flüsterte er. »Das letzte Geschenk ... des Doktors.« David war verblüfft. Die einfachste Erklärung war, dass der Professor halluzinierte. Der Schock des Überfalls hatte Erinnerungen aus der Zeit vor einem halben Jahrhundert an die Oberfläche geholt, als Hans Kleinman ein junger Physiker am Institute for Advanced Study in Princeton gewesen war, den man als Assistenten des legendären, aber kränkelnden Albert Einstein eingestellt hatte. David hatte in seinem Buch darüber geschrieben: der nicht enden wollende Strom von Berechnungen auf der Schiefertafel in Einsteins Arbeitszimmer, die lange vergebliche Suche nach einer Feldgleichung, die sowohl die Schwerkraft wie den Elektromagnetismus in sich fassen würde. Es war durchaus vorstellbar, dass Kleinmans Gedanken in seinem letzten Delirium sich um jene Zeit drehten. Andererseits machte der alte Mann im Augenblick nicht den Eindruck, als befände er sich im Delirium. Sein Atem ging pfeifend, und er schwitzte stark, aber sein Gesicht war ruhig. »Es tut mir leid, David«, krächzte er. »Tut mir leid, dass ich ... Ihnen nie davon erzählt habe. Der Doktor ... sah die Gefahr. Aber er konnte nicht ... er konnte nicht ...« Klein
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man hustete wieder, und sein ganzer Körper erschauerte. »Er konnte seine ... Notizbücher nicht verbrennen. Die Theorie ... war einfach zu schön.« Er hustete noch einmal heftig, und dann kippte er plötzlich vornüber. Eine der Schwestern lief zu der anderen Seite von Kleinmans Bett. Sie packte den Professor an den mit blauen Flecken bedeckten Schultern und richtete ihn wieder auf. David, der immer noch Kleinmans Hand hielt, bemerkte, dass seine Sauerstoffmaske mit rosafarbenem Schaum angefüllt war. Die Schwester nahm ihm schnell die Maske ab und säuberte sie von innen. Aber als sie versuchte, sie ihm wieder aufzusetzen, schüttelte Kleinman den Kopf. Sie packte ihn im Nacken, um seinen Kopf stillzuhalten, aber er schlug die Maske mit seiner freien Hand beiseite. »Nein!«, krächzte er. »Hören Sie auf! Das reicht!« Die Schwester funkelte ihn wütend an und wandte sich an ihre Kollegin, die immer noch auf den Herzmonitor starrte. »Hol den Arzt«, befahl sie. »Wir müssen intubieren.« Kleinman lehnte sich gegen David, der ihm einen Arm um die Schulter legte, damit er nicht umkippte. Das Gurgeln in seiner Brust schien lauter geworden zu sein, und seine Blicke schössen wie wild hin und her. »Ich sterbe«, krächzte er. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Davids Augen begannen zu brennen. »Ist schon okay, Professor. Mit Ihnen wird alles wieder ...« Kleinman hob die Hand und packte den Kragen von Davids Hemd. »Hören Sie ... David. Sie müssen ... vorsichtig sein. Ihr Artikel ... erinnern Sie sich? Der, an dem wir beide ... gearbeitet haben. Erinnern Sie sich?« David brauchte einen Moment, bis er begriff, worauf sich ' der Professor bezog. »Sie meinen, als ich bei Ihnen studierte? >Allgemeine Relativität in zweidimensionaler Raumzeit? Der Artikel? « Kleinman nickte. »Ja, ja ... Sie waren nahe dran ... sehr 18
nahe dran ... an der Wahrheit. Sobald ich weg bin ... sind sie vielleicht hinter Ihnen her.« David spürte ein unangenehmes Kribbeln in seiner Magengegend. »Von wem reden Sie?« Kleinmans Griff an Davids Hemdkragen wurde fester. »Ich habe ... einen Schlüssel. Der Doktor hat mir ... dieses Geschenk gemacht. Und jetzt schenke ich es ... Ihnen. Bewahren Sie es ... gut auf. Sicher. Lassen Sie es ... ihnen nicht... in die Hände fallen. Verstehen Sie? Niemandem!« »Ein Schlüssel? Was ...« »Keine Zeit ... keine Zeit! Hören Sie einfach zu!« Mit überraschender Kraft zog Kleinman David zu sich hinunter. Die feuchten Lippen des alten Mannes streiften sein Ohr. »Vergessen Sie die Zahlen nicht. Vier, null ... zwei, sechs ... drei, sechs ... sieben, neun ... fünf, sechs ... vier, vier ... sieben, acht, null, null.«
Sobald er die letzte Ziffer ausgesprochen hatte, ließ der Professor Davids Hemdkragen los und sackte gegen seine Brust. »Wiederholen Sie jetzt... die Zahlenfolge.« Trotz seiner Verwirrung tat David, was ihm aufgetragen worden war. Er legte seine Lippen an Kleinmans Ohr und wiederholte die Zahlenfolge. Obwohl David nie in der Lage gewesen war, die Gleichungen der Quantenphysik zu begreifen, besaß er die Fähigkeit, lange Zahlenketten auswendig zu lernen. Als er fertig war, nickte der alte Mann. »Guter Junge«, murmelte er. »Guter Junge.« Die Schwester stand neben dem Notfallwagen und bereitete die Intubation vor. David beobachtete, wie sie ein silbernes, sichelförmiges Instrument und eine lange Plastikröhre ergriff, die in regelmäßigen Abständen mit schwarzen Markierungen versehen war. Dieses Ding werden sie dem Professor in die Kehle schieben, dachte er. Und dann spürte David etwas Warmes an seinem Bauch. Er schaute hinunter und sah, wie sich ein Rinnsal rosafarbener Flüssigkeit aus Klein 19
mans Mund ergoss und ihm über das Kinn lief. Die Augen des alten Mannes waren geschlossen, und aus seiner Brust kam kein gurgelndes Geräusch mehr. Als der Chefarzt der Unfallstation schließlich eintraf, warf er David augenblicklich aus dem Traumazentrum hinaus und ließ Verstärkung anrücken. Kurz darauf standen ein halbes Dutzend Arzte und Schwestern an Kleinmans Bett und versuchten, den Professor wiederzubeleben. Aber David wusste, dass das hoffnungslos war. Hans Kleinman war tot. Rodriguez und die beiden Streifenpolizisten traten ihm in den Weg, als er durch den Flur schlurfte. Der Detective, der immer noch den Super Soaker in der Hand hielt, bedachte David mit einem mitfühlenden Blick. Er gab ihm die Wasserpistole zurück. »Wie ist es gelaufen, Mr. Swift? Hat er Ihnen irgendwas gesagt?« David schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Er verlor immer wieder das Bewusstsein. Es hat nicht viel Sinn ergeben.« »Nun ja, was hat er denn gesagt? War es ein Raubüberfall?« »Nein. Er hat gesagt, er sei gefoltert worden.« »Gefoltert? Warum?« Bevor David antworten konnte, rief jemand durch den Flur: »Hey, Sie da! Bleiben Sie mal stehen!« Es war ein hochgewachsener Mann mit einem gesunden Teint, dickem Hals und Bürstenhaarschnitt, der einen grauen Anzug trug. Er wurde von zwei weiteren ehemaligen Linebackern flankiert, die ihm sehr ähnlich sahen. Die drei kamen ziemlich schnell durch den Flur auf sie zu. Als sie bei den, Cops ankamen, zog der Mann in der Mitte seinen Ausweis aus dem Jackett und klappte das Abzeichen auf. »Agent Hawley, FBI«, verkündete er. »Arbeiten Sie an dem Fall Kleinman?« Der dicke Sergeant und der junge Streifenpolizist machten
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einen Schritt nach vorn, sodass sie auf einer Höhe mit Rodriguez standen. Einhellig warfen sie den Bundesagenten höhnische Blicke zu. »Ja, das ist unser Fall«, sagte Rodriguez. Agent Hawley gab einem seiner Gefährten ein Handzeichen, der sich daraufhin auf den Weg zum Traumazentrum machte. Dann griff Hawley wieder in die Innentasche seines Jacketts und zog einen zusammengefalteten Brief heraus. »Wir übernehmen den Fall jetzt«, sagte er und reichte Rodriguez den Brief. »Hier ist die Bevollmächtigung vom Büro des Generalbundesanwalts.« Rodriguez faltete den Brief auseinander. Während er ihn las, verfinsterte sich sein Gesicht. »Das ist Blödsinn. Sie sind hier nicht zuständig.« Hawleys Gesicht blieb ausdruckslos. »Falls Sie sich beklagen möchten, können Sie das beim Generalbundesanwalt tun.« David musterte Agent Hawley, der nach links und rechts blickte, um den Flur zu inspizieren. Nach seinem Akzent zu urteilen, war er eindeutig nicht aus New York. Er hörte sich an wie ein Farmjunge aus Oklahoma, der sich sein Konversationsgeschick im Marine Corps angeeignet hatte. David fragte sich, warum dieser nüchterne FBI-Mann sich so für den Mord an einem emeritierten Physiker interessierte. Er spürte wieder das Kribbeln in seiner Magengegend. Als könne er Davids Unbehagen spüren, zeigte Agent Hawley auf ihn. »Wer ist das denn?«, fragte er Rodriguez. »Was hat er hier zu suchen?« Der Detective zuckte mit den Achseln. »Kleinman hat nach ihm gefragt. Er heißt David Swift. Sie haben gerade ihr Gespräch beendet, und er ...« »Verdammt noch mal! Sie haben diesen Kerl mit Kleinman reden lassen?« David runzelte die Stirn. Dieser Agent war ein echtes Arschloch. »Ich habe versucht zu helfen«, sagte er. »Falls 20
Sie mal einen Moment den Mund hielten, würde der Detective es Ihnen erklären.« Hawley wandte sich abrupt von Rodriguez ab. Mit zusammengekniffenen Augen machte er einen Schritt auf David zu. »Sind Sie Physiker, Mr. Swift?« Der Agent rückte ihm bedrohlich nahe, aber David blieb gelassen. »Nein, ich bin Historiker. Und es heißt Dr. Swift, wenn Sie nichts dagegen haben.« Während Hawley ihn durchdringend anstarrte, kehrte der Agent zurück, der ins Traumazentrum gegangen war. Er trat nahe an Hawley heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Den Bruchteil einer Sekunde lang verzerrten sich Hawleys Lippen zu einer Grimasse. Dann nahm sein Gesicht wieder die ausdruckslose und harte Miene an. »Kleinman ist tot, Mr. Swift. Das heißt, dass Sie mit uns kommen.« David hätte fast gelacht. »Mit Ihnen kommen? Ich glaube nicht.« Aber noch bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte, war der dritte FBIMann hinter ihn geschlüpft, riss seine Arme nach hinten und legte ihm ein Paar Handschellen an. Der Super Soaker fiel klappernd zu Boden.
»Was zum Teufel machen Sie da?«, schrie David. »Bin ich unter Arrest?« Hawley machte sich nicht die Mühe zu antworten. Er packte Davids Arm unmittelbar über dem Ellbogen und drehte ihn um. Der Agent, der ihm die Handschellen angelegt hatte, hob den Super Soaker auf und hielt ihn auf Armeslänge von sich entfernt, als wäre es eine echte Waffe. Dann eskortierten alle drei FBI-Männer David durch den Flur, bewegten sich rasch an den bestürzten Ärzten und Schwestern vorbei. David warf über seine Schulter einen Blick auf Rodriguez und die Streifenpolizisten, aber die Cops standen nur da. Einer der Agenten ging vor und öffnete die Tür zu einem Treppenhaus. David war zu verstört, um zu protestieren. Als 21
sie die Treppe zum Notausgang hinuntereilten, erinnerte er sich an etwas, das Professor Kleinman vor ein paar Minuten gesagt hatte. Es war Teil eines berühmten Zitats von J. Robert Oppenheimer, ein anderer großer Physiker, der mit Einstein zusammengearbeitet hatte. Die Worte waren Oppenheimer durch den Kopf gegangen, als er Zeuge des ersten Atombombentests wurde. Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten. DREI
S
imon spielte auf dem Fahrersitz seines Mercedes Tetris, wobei er gleichzeitig
das elektronische Spiel auf seinem Mobiltelefon und den Eingang des St. Luke's Hospital im Auge behielt. Tetris war das perfekte Spiel für Situationen wie diese hier. Es bot ihm eine gewisse Unterhaltung, ohne ihn von seinem Job abzulenken. Indem er auf die Knöpfe seines Handys tippte, konnte Simon problemlos die Tetris-Blöcke an ihren Platz manövrieren. Dabei beobachtete er die Wagen und Taxis, die am Eingang zur Unfallstation vorfuhren. Entspannt und doch aufmerksam betrachtete er die Fahrzeuge auf der Amsterdam Avenue allmählich, als handele es sich um übergroße Tetris-Blöcke - Quadrate und TGlieder und Zickzacks und L-Formen -, die über die dunkler werdende Straße rollten. Es kommt nur auf die Flexibilität an, dachte Simon. Egal, welches Spiel man spielt, man muss bereit sein, die Strategie den veränderten Bedingungen anzupassen. Sieh doch nur, was heute Abend mit Hans Kleinman passiert ist. Zuerst hatte der Job ganz einfach ausgesehen, aber Kleinman wurde weich in der Birne, bevor Simon etwas Brauchbares aus ihm herauskitzeln konnte. Dann - als wenn das noch nicht gereicht hätte - kamen auch noch zwei Streifenwagen vor dem Mietshaus des Professors vorgefahren. Simon war überrascht gewesen, aber er geriet nicht in Panik - er passte einfach seine Strategie an. Zuerst entkam er der Polizei, indem er auf der Feuertreppe bis zum Dach kletterte und auf das Lagerhaus nebenan sprang. Dann stieg er in seinen Mercedes 39
und folgte dem Krankenwagen, der Kleinman ins St. Luke's brachte. Er hatte einen neuen Plan: Er wollte warten, bis die Polizisten die Unfallstation verließen, und dann - falls Kleinman noch am Leben war - noch mal probieren, die Einheitliche Feldtheorie aus ihm herauszukitzeln. Eigentlich bewunderte Simon den Professor. Er war ein zäher kleiner Mistkerl. Er erinnerte Simon an seinen alten Vorgesetzten in der Spetsnaz, Oberst Alexej Latypov. Alexej war fast drei Jahrzehnte lang Offizier in der Kommandotruppe der russischen Armee gewesen. Er hatte Simons Einheit schnell, klug und rücksichtslos durch die schlimmsten Jahre des Kriegs in Tschetschenien geführt und seinen Männern beigebracht, wie man die Aufständischen überlisten und niederkämpfen konnte. Und dann hatte ein Scharfschütze während eines Überfalls auf eines der Tschetschenenlager Alexej in den Kopf geschossen. Eine furchtbare Sache, aber nicht unerwartet. Simon musste an einen Ausspruch Alexejs denken: »Das Leben ist lauter Scheiße, und alles, was danach kommt, ist vermutlich schlimmer.« Die Tetris-Blöcke stapelten sich unten auf dem Display des Handys, wo sie einen gezackten Berg mit einem tiefen Loch links außen bildeten. Dann begann ein gerades I-Element seinen Abstieg. Simon verschob es an den linken Rand, und vier solide Reihen verschwanden mit einem von der Software erzeugten Seufzer. Sehr befriedigend. Als ob man mit einem Messer zustäche. Einen Augenblick später sah Simon einen schwarzen Chevrolet Suburban mit getönten Scheiben auf der Amsterdam Avenue herankommen. Der Wagen wurde langsamer, als er sich dem Krankenhaus näherte, und parkte neben der Laderampe. Drei große Männer in identischen grauen Anzügen sprangen heraus und marschierten geschlossen auf den Personaleingang des Krankenhauses zu, wo sie dem überraschten Sicherheitsbeamten ihre Abzeichen präsentierten. Ob22 wohl sie fast dreißig Meter entfernt waren, erkannte Simon die Männer an ihrem Gang: ehemalige Marines oder Rangers, eingeteilt zum Dienst im Hauptquartier, höchstwahrscheinlich beim FBI. Der amerikanische Geheimdienst war offensichtlich ebenfalls an Professor Kleinman interessiert. Das war die Erklärung dafür, warum die Polizei so schnell in seinem Apartment aufgetaucht war. Die Bundesagenten mussten ein paar Abhörgeräte in Kleinmans Wohnung versteckt haben, die vermutlich Simons Unterhaltung mit dem Professor weitergeleitet hatten. Die Agenten gingen in das Krankenhaus, vermutlich um Kleinman zu befragen, bevor der alte Mann das Zeitliche segnete. Simon war nicht glücklich über diese Entwicklung, aber er war auch nicht besonders beunruhigt. Obwohl er einen gesunden Respekt vor amerikanischen Agenten hatte -sie waren gut ausgebildet und sehr diszipliniert -, wusste er, dass er alle drei ohne große Schwierigkeiten ausschalten konnte. Simon hatte ihnen etwas voraus: Weil er selbstständig
arbeitete, waren seine Instinkte schärfer. Das war einer der beiden großen Vorteile eines Freiberuflers. Der andere Vorteil war das Geld. Seit er die Spetsnaz verlassen hatte, konnte Simon an einem Tag mehr verdienen als ein ganzer Trupp Fallschirmjäger in einem Jahr. Der Trick bestand darin, Klienten zu finden, die reich und verzweifelt waren. Eine überraschende Zahl von Menschen, Unternehmen und Regierungen fiel in diese Kategorie. Manchen ging es dabei um Macht, anderen um Respekt. Manche wollten Raketen, andere Plutonium. Wie auch immer der Auftrag lautete, Simon hatte keine Skrupel. Für ihn lief alles aufs Gleiche hinaus. Während er darauf wartete, dass die FBI-Agenten wieder zurückkehrten, dachte Simon darüber nach, ob er Kontakt zu seinem derzeitigen Klienten aufnehmen sollte. Seine Mission hatte einen etwas anderen Verlauf genommen als Ursprünglich geplant, und seine Klienten wurden normalerweise gern über solche Änderungen informiert. Aber am Ende kam er zu dem Schluss, dass es nicht nötig sei. Dieser Klient war vielleicht verzweifelter als jeder, mit dem er bis jetzt zu tun gehabt hatte. Als der Mann ihn zum ersten Mal anrief, hatte Simon es für einen Scherz gehalten; es kam ihm lächerlich vor, dass jemand gutes Geld für eine wissenschaftliche Theorie ausgeben wollte. Aber als Simon mehr über den Auftrag erfuhr, begann er zu verstehen, welche Anwendungsmöglichkeiten diese Theorie hatte, in militärischer und anderer Hinsicht. Und es dämmerte ihm, dass dieser besondere Job ihm etwas unendlich viel Besseres als Geld zu bieten hatte. Bevor er damit gerechnet hatte, tauchten die drei Agenten aus einem der Notausgänge des Krankenhauses auf. Sie hatten einen Gefangenen im Schlepptau. Er war ein bisschen kleiner als die FBI-Männer, aber schlank und athletisch, und er trug Freizeitschuhe, eine Jeans und eins dieser bedruckten TShirts, von denen Amerikaner so angetan sind. Seine Hände waren mit Handschellen hinter seinem Rücken gefesselt, und er drehte den Kopf wie ein verschreckter Vogel in die eine und die andere Richtung, während zwei der Agenten ihn Richtung Fahrzeug schoben. Der dritte Agent trug eine grellbunte Spielzeugpistole. Simon lachte in sich hinein -testete das FBI inzwischen Wasserpistolen im Feldversuch? Die ganze Szene war ziemlich seltsam, und einen Moment lang fragte Simon sich, ob diese Verhaftung überhaupt etwas mit Kleinman zu tun hatte. Vielleicht war der Mann, der da abgeführt wurde, nur ein exzentrischer New Yorker, der die Arzte mit seinem Super Soaker bedroht hatte. Aber unmittelbar bevor die Agenten ihren Gefangenen in den Wagen schoben, zogen sie ihm eine schwarze Kapuze über den Kopf und zogen sie unter seinem Kinn zusammen. Okay, dachte Simon. Dieser Mann ist nicht irgendein Verrückter. Er ist jemand, den die Agenten verhören möchten. 23
Der Fahrer des Suburban schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr los. Simon rutschte tief in seinen Sitz hinunter, als der Wagen an ihm vorbeifuhr. Er würde den FBI-Männern zwei Häuserblocks Vorsprung einräumen, bevor er ihnen
folgte. Es hatte keinen Sinn, weiter vor dem Krankenhaus abzuwarten - der Umstand, dass die Agenten ohne Kleinman abgefahren waren, war ein deutliches Zeichen dafür, dass der alte Mann tot war. Glücklicherweise schien der Professor jedoch einige seiner Geheimnisse einem jüngeren Kollegen anvertraut zu haben. Simon drückte auf den Aus-Knopf seines Handys, um das Tetris-Spiel zu beenden, aber bevor das Gerät sich abschaltete, leuchtete ein Bild auf dem Display auf, ein Foto, das immer dann erschien, wenn er das Handy ein- oder ausschaltete. Im Grunde war es eine Dummheit, ein privates Foto auf einem Telefon zu speichern, das er für geschäftliche Zwecke benutzte, aber er hatte es trotzdem getan. Er wollte ihre Gesichter nicht vergessen. Sergej mit seinem seidenweichen Haar und den strahlend blauen Augen. Larissa mit ihren blonden Locken, nur ein paar Wochen vor ihrem vierten Geburtstag. Der Bildschirm wurde schwarz. Simon steckte das Handy wieder in seine Tasche und startete den Mercedes. Es war eine Frauenstimme mit einem starken Südstaatenakzent. »Okay, Hawley, Sie können ihm das Ding jetzt abnehmen.« David schnappte nach Luft, als ihm die Kapuze vom Kopf gezogen wurde. Ihm war übel, weil er so lange durch den schwarzen Stoff geatmet hatte, der von seinem eigenen Schweiß feucht geworden war. Anfangs musste er blinzeln, und die Augen, die sich an das grelle Neonlicht gewöhnen mussten, brannten ihm. Er saß an einem grauen Tisch in einem kahlen, fensterlosen Raum. Neben seinem Stuhl stand Agent Hawley, der 24
die schwarze Kapuze zusammenrollte und in seine Hosentasche steckte. Hawleys Partner untersuchten beide den Super Soaker, öffneten methodisch die Tanks der Wasserpistole und schauten in jedes Loch. Und auf der anderen Seite des Tischs saß jemand, den er noch nicht kannte, eine breitschultrige, vollbusige Frau um die sechzig, die einen beeindruckenden Helm aus platinblondem Haar trug. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Mr. Swift?«, fragte sie. »Sie sehen ein bisschen zerzaust aus.« Mit David war nichts in Ordnung. Er war verängstigt und desorientiert und trug immer noch Handschellen. Und jetzt war er zu allem Überfluss noch ernsthaft verwirrt. Diese Frau sah nicht wie eine FBI-Agentin aus. In ihrem knallroten Jackett und der locker sitzenden weißen Bluse sah sie wie eine Großmutter aus, die sich für ein Bingospiel herausgeputzt hatte. »Wer sind Sie?«, fragte er. »Ich bin Lucille, Schätzchen, Lucille Parker. Aber Sie können mich Lucy nennen. Das tun sowieso alle.« Sie griff nach einem Wasserkrug und zwei Pappbechern, die auf dem Tisch standen. »Hawley, nehmen Sie Mr. Swift doch die Handschellen ab.« Agent Hawley schloss widerwillig die Handschellen auf. David rieb seine schmerzenden Handgelenke und musterte Lucille, die Wasser in die Pappbecher goss. Ihr Lippenstift hatte die gleiche Farbe wie ihr Jackett. Ihr Gesicht war ange-
nehm gealtert, sie hatte viele Lachfältchen um die Augen, und an einer Perlenkette um ihren Hals hing eine Lesebrille. Aber hinter ihrem linken Ohr wand sich auch ein dünnes Kabel, und sie trug denselben Kopfhörer, den alle Agenten der Bundesregierung benutzten. »Bin ich festgenommen worden?«, fragte David. »Falls ja, will ich mit einem Anwalt sprechen.« Lucille lächelte. »Nein, Sie sind nicht festgenommen. Tut mir leid, wenn wir diesen Eindruck bei Ihnen erweckt haben.« 25
»Eindruck? Ihre Agenten haben mir Handschellen verpasst und mir einen gottverdammten Beutel über den Kopf gezogen!« »Ich will versuchen, Ihnen das zu erklären, Schätzchen. Dieses Gebäude wird von uns als sicheres Haus bezeichnet. Und wir haben ein Standardverfahren, mit dem wir Leute hier reinbringen. Wir können den genauen Standort nicht preisgeben, und deshalb müssen wir die Kapuze verwenden.« David stand auf. »Na ja, wenn ich nicht festgenommen wurde, kann ich ja jetzt gehen, stimmt's?« Agent Hawley packte David an der Schulter. Lucille schüttelte den Kopf, aber sie lächelte noch immer. »Es ist leider ein bisschen komplizierter.« Sie schob ihm einen der Pappbecher zu. »Setzen Sie sich, Mr. Swift. Nehmen Sie einen Schluck Wasser.« Die Hand auf Davids Schulter wurde schwerer. Er verstand den Hinweis und setzte sich. »Es heißt Dr. Swift«, sagte er. »Und ich bin nicht durstig.« »Möchten Sie vielleicht etwas Stärkeres?« Sie zwinkerte ihm auf eine beunruhigend kokette Weise zu, griff in ihr Jackett und zog einen silbernen Flachmann aus der Innentasche. »Das hier ist der echte weiße Blitz aus Texas, neunzig Prozent. Ein Freund von mir unten in Lubbock hat eine Brennerei. Er hat eine Spezialerlaubnis vom ATF, damit alles seine Richtigkeit hat. Möchten Sie ein Schlückchen probieren?« »Nein, danke.« »Ah ja, richtig, ich vergaß.« Sie steckte den Flachmann in ihr Jackett zurück. »Sie rühren das Zeug ja nie an, nicht wahr? Wegen Ihrem Daddy, stimmt's?« David wurde steif auf seinem Stuhl. Einige seiner Freunde und Kollegen wussten, dass er vor langer Zeit dem Trinken abgeschworen hatte, aber nur seine Exfrau und ein paar seiner ältesten Kumpel wussten, warum. Und jetzt hatte Lucille es ganz beiläufig erwähnt. »Was ist hier los?«, wollte er wissen. »Bleiben Sie locker, Schätzchen. Es steht in Ihrer Akte.« Sie griff in eine sperrige Handtasche, die an der Rückenlehne ihres Stuhls hing, und zog zwei Aktenordner heraus, einen dicken und einen dünnen. Sie setzte ihre Lesebrille auf und öffnete den dünnen Ordner. »Mal sehen, Familiengeschichte. Name des Vaters: John Swift. Profiboxer von 1968 bis 1974. Spitzname: The Two-fisted Terror. Hey, der ist gut.«
David sagte nichts dazu. Im Ring war sein Vater diesem Spitznamen nie gerecht geworden. Die einzigen Menschen, die er erfolgreich terrorisiert hatte, waren die Mitglieder seiner Familie gewesen. Lucille überflog die Seite, bis sie unten ankam. »Gesamtbilanz: vier Kämpfe gewonnen, sechzehn verloren. Wurde 1975 als Busfahrer für die Metropolitan Transit Authority eingestellt. 1979 entlassen nach einer Verhaftung wegen Trunkenheit am Steuer. 1981 wegen schwerer Körperverletzung zu drei Jahren Zuchthaus in Ossining verurteilt.« Sie schloss den Ordner und schaute David in die Augen. »Das tut mir leid. Es muss schrecklich gewesen sein.« Clever, dachte er. Es war vermutlich eine Standardtechnik, die das FBI an seiner Academy lehrte. Dem Gegenüber zunächst zeigen, dass man seine Geheimnisse bereits kannte. Und dann zum entscheidenden Schlag ausholen. »Keine schlechte Leistung Ihrer Forschungsabteilung«, bemerkte David. »Haben Sie den ganzen Kram innerhalb der letzten halben Stunde ausgegraben?« »Nein, wir haben vor ein paar Tagen Ihre Akte angelegt. Wir haben Material zu jedem gesammelt, der mal mit Kleinman zusammengearbeitet hat, und Sie waren als Mitverfasser eines seiner Referate aufgeführt.« Sie nahm den dicken Aktenordner in die Hand. »Das ist die Akte für den verstor 26
benen Professor persönlich.« Sie schlug den Ordner auf und schüttelte den Kopf, während sie ihn durchblätterte. »Ich kann Ihnen sagen, einiges von dieser Physik hier ist ziemlich happig. Ich meine, was zum Teufel ist eigentlich dieser Kleinman-Gupta-Effekt? Er wird ein halbes Dutzend Mal hier drin erwähnt, aber ich werde einfach nicht schlau daraus.« David musterte sie eingehend. Er konnte nicht sagen, ob sie wirklich keine Ahnung hatte, oder ob sie sich dumm stellte, um ihn zum Reden zu bringen. »Das ist ein Phänomen, zu dem es kommt, wenn bestimmte instabile Atome zerfallen. Dr. Kleinman entdeckte es 1965 zusammen mit seinem Kollegen Amil Gupta.« »Das ist doch die Ursache radioaktiver Strahlung, stimmt's? Wenn Atome zerfallen?« Er runzelte die Stirn. »Hören Sie, ich würde Ihnen das alles mit großem Vergnügen erklären, aber nicht hier. Bringen Sie mich in mein Büro, dann können wir uns unterhalten.« Lucille nahm die Lesebrille ab. »Ich kann verstehen, dass Sie es kaum erwarten können, hier rauszukommen, Mr. Swift, aber Sie müssen sich noch ein bisschen gedulden. Sehen Sie, Professor Kleinman hatte Zugang zu geheimen Informationen, und wir haben den Verdacht, dass es zu einem Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen gekommen sein könnte.« David sah sie entsetzt an. »Wovon reden Sie da? Es ist vierzig Jahre her, dass er für die Regierung gearbeitet hat. Nachdem er seine Untersuchung radioaktiver Strahlung abgeschlossen hatte, hat er aufgehört, für das Militär zu arbeiten.«
»Das ist nicht die Art von Arbeit, mit der er hausieren gegangen wäre. Nachdem Kleinman von der Columbia emeritiert war, hat er an einem Projekt des Verteidigungsministenums teilgenommen.« 27
»Und Sie nehmen an, aus dem Grund ist er überfallen worden?« »Ich kann nur sagen, dass Kleinman im Besitz von streng vertraulichem Material war, und jetzt müssen wir feststellen, wer alles davon erfahren haben könnte. Falls er Ihnen irgendwas gesagt hat, als Sie an seinem Krankenbett waren, müssen Sie uns davon Mitteilung machen.« Lucille hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und beugte sich zu ihm vor. Sie lächelte nicht mehr und nannte ihn auch nicht mehr Schätzchen; ihr Gesicht war todernst geworden. David hatte jetzt keine Schwierigkeiten mehr zu glauben, dass sie FBI-Agentin war. Er glaubte nur ihre Geschichte nicht. »Es tut mir leid, aber das klingt nicht glaubwürdig. Es klingt nicht nach Dr. Kleinman. Er hat bedauert, fürs Militär gearbeitet zu haben. Er hat gesagt, es sei unmoralisch.« »Vielleicht kannten Sie ihn nicht so gut, wie Sie dachten.« David schüttelte den Kopf. »Nein, das ergibt keinen Sinn. Er hat Protestveranstaltungen an der Columbia organisiert. Er hat dort jeden Physiker dazu überredet, eine Erklärung gegen Atomwaffen zu unterzeichnen.« »Ich habe nie gesagt, dass er an Waffen gearbeitet hat. Er ist nach dem elften September an das Verteidigungsministerium herangetreten. Er hat angeboten, bei der Terrorismusbekämpfung zu helfen.« David dachte darüber nach, ob das möglich war. Es war weit hergeholt, aber nicht unvorstellbar. Kleinman war Fachmann auf dem Gebiet radioaktiven Zerfalls, insbesondere des Zerfalls von Uranatomen, die in Atomsprengköpfen benutzt wurden. Diese Art Wissen konnte zweifellos zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt werden. »Woran hat er denn gearbeitet?«, fragte David. »An einer neuen Art von Strahlungsdetektor?« »Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber ich kann Ihnen et 27
was zeigen.« Sie nahm Kleinmans Akte wieder zur Hand und blätterte sie durch. Nach einigem Suchen zog sie den Nachdruck eines alten Forschungsreferats heraus und reichte ihn David. Der Nachdruck umfasste etwa zehn Seiten und war leicht vergilbt. »Das können Sie sich ansehen. Es ist eins der wenigen Dinge in dieser Akte, die nicht geheim sind.« Das Referat war 1975 in der Physical Review veröffentlicht worden. Der Titel lautete: »Measurements of the Flux of Rho Mesons«, und der Autor war H. W. Kleinman. David hatte diesen Text noch nie gesehen; das Thema war ziemlich obskur, und er hatte sich während seines Studiums nicht damit befasst. Erschwerend kam hinzu, dass der Artikel mit fantastisch komplizierten Gleichungen gespickt war.
»Deshalb haben wir Sie hierhergebracht, Mr. Swift. Die oberste Priorität einer Operation zur Terrorismusbekämpfung ist es, dafür zu sorgen, dass die Terroristen unsere Abwehrmaßnahmen nicht kennen. Daher müssen wir herausfinden, was Kleinman Ihnen über unsere Arbeit gesagt haben könnte.« David prüfte den Artikel, versuchte, ihn so gut wie möglich zu verstehen. Kleinman hatte offensichtlich entdeckt, dass man durch die Konzentration radioaktiver Strahlung auf Uranatome heftige Schauer von Teilchen auslösen konnte, die als Rho Mesons bezeichnet wurden. Obwohl in dem Artikel nichts über den praktischen Nutzen dieser Untersuchung stand, schien die Sache klar zu sein: Diese Technologie konnte angereichertes Uran in einem atomaren Sprengkopf entdecken, selbst wenn die Bombe in einer Bleiummantelung steckte. David musste wieder an sein letztes Gespräch mit Kleinman denken und fragte sich, ob er die letzten Worte des Professors falsch verstanden hatte. Als Kleinman ihn vor dem »Zerstörer der Welten« gewarnt hatte, konnte er da an eine in die Vereinigten Staaten geschmuggelte Atomwaffe gedacht haben? 28
»Hat er an einem aktiven Scanning-System gearbeitet?«, fragte David. »Etwas, womit man einen Sprengkopf entdecken konnte, der in einem Lastwagen oder einem Schiffscontainer versteckt ist?« »Das kann ich weder bestätigen noch verneinen«, antwortete Lucille. »Aber ich glaube, Sie verstehen jetzt, warum wir diese Angelegenheit so ernst nehmen.« David wollte gerade den Blick von dem Artikel abwenden, als er etwas auf der letzten Seite bemerkte. Da war eine Tabelle abgebildet, in der die Eigenschaften des Rho Mesons mit denen seiner nahen Verwandten, der Omega und Phi Mesons, verglichen wurden. David war die letzte Spalte der Tabelle ins Auge gefallen, in der die Lebensdauer der Partikeln aufgeführt war. Er starrte mehrere Sekunden auf die Zahlen. »Was hat Kleinman also gesagt, Mr. Swift? Was hat er Ihnen erzählt?« Lucille schaute ihn ernst an, benahm sich wieder wie eine freundliche Großmutter. Aber David hatte sie jetzt durchschaut. »Sie lügen«, sagte er. »Dr. Kleinman hat nicht an einem Detektor gearbeitet. Er hat überhaupt nicht für die Regierung gearbeitet.« Lucilles Gesicht nahm einen gekränkten, verständnislosen Ausdruck an, und sie öffnete den Mund weit. »Was? Wollen Sie ...« David tippte mit dem Finger auf die letzte Seite von Kleinmans Artikel. »Die Lebensdauer eines Rho Mesons beträgt weniger als 10~23 Sekunden.« »Na und? Was bedeutet das?« »Das bedeutet, dass Ihre Forschungsabteilung Mist gebaut hat, als sie diese Geschichte ausgebrütet hat. Selbst wenn sich ein Rho Meson mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, würde es weniger als ein Billionstel Zentimeter zurücklegen, bevor es zerfiele. Man könnte diese Teilchen gar nicht entde 28
cken, wenn sie von einem atomaren Sprengkopf ausgingen, und deshalb wäre es unmöglich, ein Scanningsystem auf der Grundlage dieses Artikels zu entwickeln.« Der gekränkte Ausdruck verließ Lucilles Gesicht nicht, und einen Moment lang glaubte David, sie würde so tun, als wüsste sie von nichts. Nach ein paar Sekunden jedoch machte sie den Mund zu und presste die Lippen fest zusammen. Die Falten um ihre Augen herum wurden tiefer, aber es waren keine Lachfältchen. Lucille war stinksauer. »Okay, fangen wir noch mal von vorn an«, sagte David. »Warum verraten Sie mir nicht den wahren Grund, warum Sie so interessiert an Dr. Kleinman sind? Es ist eine Art Waffe, nicht wahr? Irgendeine streng geheime Waffe, über die Sie kein Sterbenswörtchen verlieren wollen, aber für die Sie mehrere Milliarden Dollar ausgeben?« Sie antwortete nicht. Stattdessen zog sie ihr Jackett aus und drapierte es über die Rückenlehne ihres Stuhls. Ein Schulterholster hing seitlich an ihrer Bluse, und in dem Holster steckte eine schnittige schwarze Pistole. Während David auf die Waffe starrte, wandte sich Lucille an die beiden Agenten, die immer noch den Super Soaker inspizierten. »Seid ihr Jungs langsam fertig mit dem verdammten Ding?« Einer der Agenten kam zu ihr und legte die Wasserpistole auf den Tisch. »Sie ist sauber, Ma'am«, meldete er. »Was für eine Erleichterung. Setzen Sie sich jetzt mit der Logistik in Verbindung und sagen Sie Bescheid, dass wir in zehn Minuten einen Wagen zum Flughafen brauchen.« Der Agent zog sich auf die andere Seite des Raums zurück und begann, in das Mikrofon zu murmeln, das sich in seinem Ärmel befand. In der Zwischenzeit drehte sich Lucille auf ihrem Stuhl herum und griff wieder in die Tasche ihres Jacketts. Diesmal zog sie eine Packung Zigaretten und ein Zippo-Feuerzeug heraus, das mit dem Lone Star von Texas 29
verziert war. Sie funkelte David wütend an, während sie eine Zigarette aus der Packung schüttelte. »Sie sind eine echte Nervensäge, wissen Sie das?« Sie wandte sich an Hawley, der immer noch neben Davids Stuhl stand. »Ist der Kerl nicht eine Nervensäge, Hawley?« »Erster Güte«, erwiderte er. Lucille steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel. »Sehen Sie ihn sich doch nur an. Wahrscheinlich hält er auch vom Rauchen nichts. Wahrscheinlich meint er, wir sollten rausgehen, wenn wir uns eine anstecken wollen.« Mit einer schnellen Bewegung öffnete sie das Zippo, zündete sich die Zigarette an und blies David die erste Rauchwolke ins Gesicht. »Nun ja, Swift, ich hab ein paar Neuigkeiten für Sie. Wir können alles tun, was wir wollen, Sie Arschgesicht.« Sie schloss das Zippo und schob es wieder in ihr Jackett. »Verstehen Sie?« Während David überlegte, wie er darauf reagieren sollte, nickte Lucille Agent Hawley zu. Einen Augenblick später versetzte er David einen klatschenden
Schlag an den Kopf. »Hören Sie nicht gut?«, rief er. »Agent Parker hat Ihnen eine Frage gestellt.« David biss die Zähne zusammen. Es war ein harter Schlag gewesen, und er tat höllisch weh, aber in diesem Fall war die Beleidigung schlimmer als der Schmerz. Sein Magen brannte vor Wut, als er zu Hawley hochsah. Nur die Existenz der Pistolen in den Holstern der Agenten verhinderte, dass er aufsprang. Lucille lächelte. »Ich habe noch eine Neuigkeit für Sie. Erinnern Sie sich an die Krankenschwester in Kleinmans Zimmer im Krankenhaus? Nun ja, einer unserer Agenten hat mit ihr gesprochen.« Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und stieß eine weitere Rauchwolke aus. »Sie hat gesagt, der Professor habe Ihnen ein paar Zahlen ins Ohr geflüstert.« 30
Verdammt, dachte David. Die Schwester. »Eine lange Kette von Zahlen, sagte sie. Sie erinnert sich natürlich nicht an sie. Aber ich wette, dass Sie sich erinnern.« Das tat er auch. Er sah die Reihenfolge der Zahlen vor seinem geistigen Auge, fast so, als schwebten sie vor ihm in der Luft. So funktionierte Davids Gedächtnis nun mal. »Sie werden uns diese Zahlen jetzt nennen«, sagte Lucille. Sie rollte den linken Ärmel ihrer Bluse zurück, unter dem eine alte Uhr an einem silbernen Armband zum Vorschein kam. »Ich gebe Ihnen dreißig Sekunden.« Während Lucille sich zurücklehnte, zog Agent Hawley die schwarze Kapuze aus seiner Tasche. David schnürte sich die Kehle zusammen, als er auf das Ding starrte. Herrgott, dachte er, wie zum Teufel war es dazu gekommen? Diese Agenten schienen anzunehmen, sie hätten das Recht, ihm eine Kapuze über den Kopf zu ziehen und ihn zu Brei zu schlagen. Und die einzige vernünftige Entscheidung war jetzt, Dr. Kleinmans Warnungen zu vergessen und ihnen die Zahlen zu nennen. Die Zahlenfolge konnte ohnehin bedeutungslos sein, was wusste er denn schon? Und selbst wenn die Zahlen nicht willkürlich waren, selbst wenn sie der Schlüssel zu etwas Entsetzlichem waren - warum sollte er denn dafür verantwortlich sein, das Geheimnis zu wahren? Er hatte nicht darum gebeten. Alles, was er getan hatte war, ein Referat über die Relativität zu schreiben. Er ergriff die Tischkante, um sich irgendwo festzuhalten. Er hatte noch fünf, vielleicht zehn Sekunden Zeit. Lucilles Augen waren auf ihre Armbanduhr gerichtet, und Agent Hawley rollte die schwarze Kapuze auseinander, und als David die Agenten betrachtete, begriff er, dass die beiden ihn nicht gehen lassen würden, selbst wenn er ihnen die Zahlen verriet. Solange die Ziffern in seinem Kopf blieben, war er ein Sicherheitsrisiko. Seine einzige Hoffnung bestand darin, 30
einen Deal zu machen, vorzugsweise mit jemandem, der höher in der Befehlskette stand als die Agenten Parker und Hawley.
»Ich brauche ein paar Garantien, bevor ich Ihnen irgendwas erzähle«, sagte er. »Ich will mit jemandem sprechen, der wirkliche Entscheidungsbefugnis hat.« Lucille funkelte ihn böse an. »Was glauben Sie, was wir hier haben? Ein Warenhaus? Glauben Sie, Sie können sich beim Geschäftsführer beschweren, wenn Ihnen der Service nicht passt?« »Ich brauche eine Vorstellung davon, warum Sie die Zahlen haben wollen. Falls Sie mir den Grund nicht nennen können, bringen Sie mich zu jemandem, der es kann.« Lucille stieß einen langen Seufzer aus. Sie nahm die Zigarette aus dem Mund und ertränkte sie in einem der Pappbecher. Dann schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf, wobei sie ein bisschen zusammenzuckte, als sie die Knie durchdrückte. »Okay, Mr. Swift, der Wunsch wird Ihnen erfüllt. Wir bringen Sie an einen Ort, an dem es viele Leute gibt, mit denen Sie plaudern können.« »Wohin? Nach Washington?« Sie lachte leise. »Nein, dieser Ort liegt ein bisschen weiter südlich. Ein reizendes Fleckchen, das Guantänamo Bay heißt.« Adrenalin durchflutete Davids Körper. »Einen Moment mal! Ich bin amerikanischer Staatsbürger! Sie können mich nicht...« »Unter Berufung auf den Patriot Act erkläre ich Sie hiermit zu einem feindlichen Kombattanten.« Sie wandte sich an Hawley. »Legen Sie ihm die Handschellen wieder an. Das mit den Fußfesseln erledigen wir, sobald wir im Wagen sind.« Hawley packte ihn am Arm und rief: »Aufstehen!«, aber David blieb wie erstarrt auf seinem Stuhl sitzen, sein Herz 31
schlug rasend, und seine Beine zitterten. Hawley wurde noch lauter: »Ich habe gesagt A UFSTEHEN!«, und er wollte David gerade von seinem Stuhl hochreißen, als einer der anderen Agenten ihn auf die Schulter tippte. Es war der Mann, der über sein Funkgerät Verbindung mit der Logistik aufnehmen sollte. Er sah ein bisschen blass aus. »Äh, Sir?«, flüsterte er. »Ich glaube, wir haben ein Problem.« »Was ist los? Worin besteht das Problem?«, schaltete sich Lucille ein. Der blasse Agent war so nervös, dass er ein paar Sekunden brauchte, bis er seine Stimme wiederfand. »Ich kriege keine Verbindung zur Logistik. Ich hab es auf jeder Frequenz versucht, aber ich kriege keine Antwort. Auf allen Kanälen gibt es nur Rauschen.« Lucille sah ihn skeptisch an. »Mit Ihrem Funkgerät stimmt was nicht.« Sie griff nach dem Mikrofon, das am Kragen ihrer Bluse befestigt war, und drückte auf den Sprechknopf. »Black One an Logistik. Logistik, hören Sie mich?« Aber bevor sie eine Antwort bekam, erschütterte eine mächtige Explosion die Wände. Als Simon auf die Tiefgarage zuging, in der der schwarze Suburban geparkt war, kam ihm der Gedanke, dass er immer Arbeit als Sicherheitsberater finden könnte,
falls er jemals den Beruf wechseln wollte. Wer konnte schließlich bessere Ratschläge dazu erteilen, wie man eine Regierungseinrichtung oder eine Unternehmenszentrale verteidigte, als jemand, der eine gewisse Erfahrung darin hatte, in sie einzubrechen. Mit Sicherheit konnte er dem FBI ein paar Tipps geben. In dem Parkwächterhäuschen am Eingang zu der Tiefgarage war nur ein Agent, ein untersetzter junger Grünschnabel in einem orangefarbenen Anorak und einer Baseballmütze der 32 New York Yankees, was seinen nicht sonderlich überzeugenden Versuch darstellte, wie ein normaler Parkwächter auszusehen. Einen anstatt zwei Agenten in das Parkwächterhäuschen zu setzen, ist ein Fehler, dachte Simon. Man sollte bei der Verteidigung des Außenbereichs nie sparen, und ganz bestimmt nicht bei der Nachtschicht. Simon hatte sich umgezogen und trug jetzt einen eleganten dunklen Anzug und eine lederne Aktentasche. Als er an die kugelsichere Glasscheibe des Wächterhäuschens klopfte, musterte ihn der Agent von oben bis unten, bevor er die Tür einen Spalt öffnete. »Was gibt's?«, fragte er. »Tut mir leid, wenn ich störe«, sagte Simon, »aber ich würde gerne wissen, wie hoch die monatlichen Parkgebühren hier sind.« »Wir haben keine ...« Simon riss die Tür auf, rammte dem Agenten seine Schulter in den Unterleib und warf ihn auf den Rücken. Es gab nur eine Überwachungskamera in dem Wächterhäuschen, und sie war so hoch eingestellt, dass sie den Boden nicht im Fokus hatte. Noch ein Fehler. Simon hatte sich auf den Agenten geworfen, stieß ihm sein Nahkampfmesser ins Herz und drückte ihn auf den Boden, bis er aufhörte, sich zu bewegen. Es war eigentlich nicht seine Schuld, dachte Simon. Es war ein institutionelles Versagen. Als Simon aufstand, trug er den Anorak und die Baseballmütze. Er hatte außerdem die Uzi und seine gesamte Munition aus der Aktentasche geholt. Er versteckte die Maschinenpistole unter dem Anorak, verließ das Wächterhäuschen und ging die lange Rampe zur Tiefgarage hinunter. Jetzt waren viele Videokameras auf ihn gerichtet, und deshalb hielt er den Kopf gesenkt. Er kam um eine Ecke und sah ein halbes Dutzend Suburbans, die neben einer nicht gekennzeichneten Stahltür geparkt waren. Als er noch ungefähr zehn Meter entfernt war, ging die Tür auf, und ein 32 aufgeregter Mann in einem grauen Anzug schaute heraus. »Anderson!«, rief er. »Was zum Teufel haben Sie ...« Simon hob den Kopf und schoss gleichzeitig mit der Uzi. Praktischerweise stürzte der Agent der Länge nach zu Boden, sodass seine Leiche die Tür am Zufallen hinderte. Simon rannte auf sie zu und kam gerade rechtzeitig dort an,
um einen dritten Agenten niederzustrecken, der seinem Partner zu Hilfe eilen wollte. Das ist unfassbar, dachte Simon. Sie machen es mir zu leicht. Direkt hinter dem Eingang lag der Kommando- und Kontrollraum, in dem die unglückseligen Agenten stationiert gewesen waren. Simon setzte als Erstes das Sende-Empfangsgerät außer Gefecht und überflog dann die Reihe der Videomonitoren. Seine Zielperson fand er auf dem mit SUB-3A markierten Bildschirm, der eines der Vernehmungszimmer im Kellergeschoss zeigte. Simon war mit der Anlage des Gebäudes bereits vertraut; im Lauf der Jahre hatte er sich mehrere Quellen im amerikanischen Geheimdienst herangezogen, die ihm gegen ein unbedeutendes Honorar eine Menge über die Funktionsweise ihrer Agenturen verraten hatten. Es blieb nur noch ein weiteres Hindernis, eine zweite Stahltür auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. Diese Tür hatte ein alphanumerisches Tastenfeld, mit dem das Schloss kontrolliert wurde. Einen Moment lang bedauerte Simon, dass er die Agenten so schnell getötet hatte - er hätte wenigstens einen von ihnen so lange am Leben lassen sollen, bis er ihm den Zugangscode verraten hätte. Doch zum Glück für ihn hatte das FBI einen weiteren dummen Fehler begangen, indem es nur einen einzigen Riegel an der Tür installiert hatte, und keinen stärkeren Schließmechanismus. Simon nahm ein halbes Kilogramm C-4 aus seiner Munitionstasche. Er brauchte dreiundachtzig Sekunden, um den Sprengstoff um den Riegel herum anzubringen, die Zünd 33
kapseln einzusetzen und die Zündschnur durch den Kontrollraum zu verlegen. Hinter eine Säule gekauert, rief Simon »Na zdorovye!« - einen traditionellen Trinkspruch, das russische Äquivalent zu »Prost!«. Dann brachte er den Sprengstoff zur Explosion. Sobald sie die Detonation hörten, zogen Lucille, Hawley und die beiden anderen Agenten ihre Glocks. Es war kein Feind in Sicht, aber sie holten trotzdem ihre Pistolen heraus und richteten sie auf die geschlossene Tür des Vernehmungszimmers. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte sich David, er hätte ebenfalls eine Schusswaffe. »Verdammte Scheiße!«, rief Hawley. »Was zum Teufel war das denn?« Lucille schien etwas ruhiger zu sein. Sie gab ihren Agenten ein Handzeichen, indem sie den Zeige- und den Mittelfinger hochhielt. Die drei Männer näherten sich langsam der Tür. Dann ergriff Hawley den Knauf und stieß sie auf, und seine beiden Partner machten einen Ausfall in den Flur. Nach einer bangen Sekunde riefen beide: »Frei!« Lucille atmete erleichtert auf. »Okay, alle mal herhören. Hawley bleibt hier, um unseren Häftling zu sichern. Die anderen kommen mit mir, um festzustellen, worin die Gefahr besteht, und den Funkverkehr wiederherzustellen.« Sie griff sich die Aktenordner, die auf dem Tisch lagen, und klemmte sie sich unter den
Arm. Dann wandte sie sich an David. »Sie werden auf diesem Stuhl sitzen bleiben, Mr. Swift, und keinen Laut von sich geben. Agent Hawley wird direkt vor dieser Tür da stehen. Falls Sie auch nur einen Piep machen, kommt er wieder rein und verpasst Ihnen eine Kugel. Verstanden?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, was auch nichts gebracht hätte - David war zu erschrocken, um etwas zu sagen. Stattdessen stürmte sie auf den Flur, wobei sie Hawley 34
streifte, der die Hand immer noch am Türknauf hatte. »Äh, Ma'am?«, fragte er. »Wie sieht die Rückfallposition aus? Was ist, wenn ich die Stellung nicht halten kann?« »Falls es dazu kommt, sind Sie befugt, die notwendigen Schritte zu unternehmen.« Hawley ging ebenfalls in den Flur und schloss die Tür hinter sich. David hörte, wie das Schloss einrastete. Dann wurde es so still im Zimmer, dass er das Summen der Neonlampe an der Decke hören konnte. Notwendige Schritte. Die Bedeutung dieser Worte wurde David klar, als er da saß. Er war im Besitz von Informationen, die das FBI aus welchem Grund auch immer für wertvoll hielt. Und zwar für so wertvoll, dass das Bureau alles Mögliche unternehmen würde, um dafür zu sorgen, dass sie nicht in die falschen Hände fielen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie die Informationen vernichten, bevor sie jemand anderes in die Finger bekäme. Selbst wenn das bedeutete, ihn zu vernichten. Vor seinem inneren Auge sah er, wie Agent Hawley das Zimmer betrat und seine Pistole auf ihn richtete. David sprang auf. Er konnte hier nicht bleiben, er musste raus aus dem Zimmer! Er schaute sich um, suchte hektisch nach einem Fluchtweg, vielleicht gab es eine Deckenplatte, die er herausstemmen, einen Ventilationsschacht, durch den er kriechen konnte. Aber die Decke und die Wände waren aus massivem Beton, leer und weiß. In dem Zimmer gab es nichts, abgesehen von den Stühlen und dem grauen Tisch, auf dem sich der Wasserkrug, die Pappbecher und der gründlich inspizierte Super Soaker befanden. Dann bemerkte er noch etwas. In ihrer Hast hatte Lucille ihr knallrotes Jackett auf der Lehne des Stuhls hängen lassen. In seinen Taschen stockten ein ZippoFeuerzeug und ein Flachmann mit Alkohol. Und David erinnerte sich, was seine Exfrau über die Gefährlichkeit des Super Soaker gesagt hatte. 34
Simon fand eine Sache nicht schlecht, was die Sicherheit des FBI-Gebäudes betraf: Zumindest hatten sie die Stromkreisunterbrecher nicht an einem so offensichtlichen Ort wie dem Kommando- und Kontrollzentrum untergebracht. Er musste den Windungen und Drehungen der über Putz liegenden Kabel folgen, bevor er den Wandschrank der Stromversorgung fand. Aber seine Meinung von der Agentur sank wieder ins Bodenlose, als er feststellte, dass der
Schrank unverschlossen war. Er schüttelte den Kopf, als er den kleinen Raum betrat und die elektrische Schalttafel ausfindig machte. Unglaublich, dachte er. Als Steuerzahler wäre ich empört. Als er einen Schalter umlegte, wurde es dunkel im Gebäude. Dann griff Simon in seine Tasche und nahm sein neues Spielzeug heraus, eine Infrarotbrille. Er stellte das Gerät an und richtete den Kopfgurt so, dass das Binokular gut über seinen Augen saß. Es war eine viel bessere Technologie als bei den Nachtsichtgeräten der US-Army, die schwaches Umgebungslicht verstärkten; die Thermalbrille zeigte Wärme, nicht Licht, sodass sie auch bei völliger Dunkelheit funktionierte. Auf seinem Display leuchteten die warmen Computer und Bildschirme in dem Raum hell, während die kalte Stahltür pechschwarz war. Er fand den Weg zum Treppenhaus ganz leicht, indem er den langsam abkühlenden Neonröhren folgte, die er gerade ausgeschaltet hatte. Simon lächelte im Dunkeln - er fand neue Technologien toll. Jetzt war er bereit, die Jagd auf sein Opfer zu eröffnen, den schlanken, athletischen Gefangenen, der Simon an einen erschrockenen Vogel erinnert hatte. Er lief zwei Treppenabsätze hinunter, bevor er Schritte hörte. Sehr leise ging er die Stufen bis zum nächsten Absatz zurück und richtete seine Uzi auf den Eingang zum Treppenhaus. Nach ein paar Sekunden sah er drei verschiedene Strahlen von Taschenlampen, die sich durch den Flur herantasteten. Das konnte man den Agenten eigentlich nicht zum 35
Vorwurf machen - unter den gegebenen Umständen hatten sie kaum eine andere Wahl, als ihre Taschenlampen zu benutzen. Das änderte allerdings nichts am Ergebnis. Auf dem infraroten Display sah Simon eine warme Hand, die einen hellen Zylinder gepackt hielt, und ein geisterhaftes Gesicht, das aussah, als wäre es in Leuchtfarbe getunkt worden. Bevor der Agent die Taschenlampe auf ihn richten konnte, feuerte Simon zwei Kugeln in seinen glänzenden Kopf. Eine barsche Stimme ertönte: »Lampen aus!«, und die beiden anderen Taschenlampenstrahlen verschwanden. Ohne einen Laut zu machen, kam Simon die Treppe hinunter, machte einen Schritt über die Leiche des von ihm erschossenen Agenten und lugte um die Ecke. Zwei Gestalten kauerten in dem Flur, eine rund zehn Meter entfernt, die andere etwas weiter dahinter. Der Agent, der näher war, hatte eine gebückte Schießhaltung eingenommen, die Pistole mit beiden Händen umfasst und schwenkte sie, auf der Suche nach einem Ziel in der Dunkelheit, schnell von rechts nach links. Das Infrarotbild war derart präzise, dass Simon graue Spuren kühleren Schweißes sehen konnte, die an seinem weißen Gesicht hinunterliefen. Simon erledigte den armen Kerl mit einem Schuss in die Stirn, aber bevor er den dritten Agenten ausschalten konnte, pfiff eine Kugel an seinem rechten Ohr vorüber. Simon zog sich hinter die Ecke zurück, als eine weitere Kugel an ihm vorbeistreifte. Der dritte Agent schoss blind in seine Richtung. Nicht schlecht,
dachte er. Wenigstens hat dieser Typ ein bisschen Kampfgeist. Er wartete ein paar Sekunden, bevor er wieder durch den Flur schaute, um sich Klarheit über seinen Gegner zu verschaffen. Der Agent hatte sich zur Seite gedreht, um ein kleineres Ziel abzugeben, und Simon sah auf dem Infrarot-Bildschirm eine dicke, kräftige Gestalt mit Beinen wie Baumstämme und massiven Brüsten. Er zögerte, bevor er die Uzi hob - der Agent war eine 36
Babuschka! Sie hätte Simons Großmutter sein können! Und während er diesen kurzen Moment zögerte, gab sie drei weitere Schüsse auf ihn ab. Er drückte sich so fest wie möglich gegen die Wand. Herrgott, das war knapp! Er hob seine Waffe und bereitete sich darauf vor, das Feuer zu erwidern, aber die Babuschka drehte sich auf der Stelle um und verschwand hinter einer Ecke. Jetzt war Simon wütend. Die Alte hatte ihn gedemütigt! Er begann, hinter ihr herzugehen, bewegte sich leise durch den Flur. Bevor er jedoch eine größere Strecke zurücklegen konnte, hörte er von irgendwo hinter sich einen gedämpften Schrei. Er blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Er hörte noch einen Schrei, eine sehr laute Männerstimme aus einer ziemlichen Entfernung, so laut, dass er durch die Wände im ganzen Gebäude gehört werden konnte: »Sie haben mich verstanden, Hawley! Machen Sie die gottverdammte Tür auf!« Mit großem Widerwillen brach Simon seine Verfolgung der Babuschka ab. Um sie würde er sich später kümmern. Im Moment hatte er einen Job zu erledigen. Die Lampen gingen aus, als David seine Hand gerade in Lucilles Jackett gesteckt hatte. Er erstarrte wie ein Taschendieb, der auf frischer Tat ertappt wird. Agent Hawley, der draußen vor der Tür Wache stand, war von der plötzlichen Verdunkelung genauso überrascht. David hörte ihn schreien: »Verdammter Scheiß ...«, bevor er abbrach und den Mund hielt. David holte tief Luft. Okay, dachte er. Das hier ändert gar nichts. Ob die Lampen nun an sind oder nicht, ich muss trotzdem hier raus. Er zog den silbernen Flachmann aus der Innentasche von Lucilles Jackett und stellte ihn vorsichtig auf den Tisch, sorgfältig darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Dann grub er ein bisschen tiefer und holte Lucil 36
les Zippo heraus. Einen Moment lang dachte er daran, das Feuerzeug anzumachen, damit er sehen konnte, was er da tat, aber er wusste, dass Hawley möglicherweise den Lichtschein unter der Tür durchschimmern sehen konnte. Nein, er musste dies blind tun. Er stellte das Feuerzeug auf den Tisch, wobei er sich sorgfältig dessen Position merkte. Dann griff er nach dem Super Soaker. Glücklicherweise war er im Umgang mit der Wasserpistole ein ziemlicher Fachmann geworden. Er hatte den Tank der Pistole mindestens ein Dutzend Mal gefüllt, als er nur ein paar Stunden zuvor mit Jonah spielte, und jetzt konnte er mit den Fingern leicht die Einfüllöffnung ertasten und den Deckel abnehmen. Die Erinnerung an seinen Nachmittag mit Jonah ließ ihn eine Sekunde
innehalten, und sein Magen verkrampfte sich, als er sich fragte, ob er seinen Sohn je wiedersehen würde. Nein, wies er sich zurecht, denk nicht darüber nach. Mach einfach weiter. Er packte den silbernen Flachmann und schraubte den Verschluss ab. Die kleine Flasche enthielt vielleicht einen Viertelliter Schnaps, und wie Lucille versprochen hatte, war es fast reiner Alkohol - die Dämpfe brannten in Davids Augen, als er das Zeug in den Super Soaker goss. Aber war es auch genug? Er brauchte fast die doppelte Menge, um genügend Druck zum Schießen zu erzeugen. Verdammt! Obwohl es in dem Raum stockfinster war, schloss er die Au gen, um nachdenken zu können. Wasser. Irgendwo auf dem Tisch standen zwei Pappbecher mit Wasser. Und Alkohol brannte auch noch, wenn man ihn bis auf fünfzig Prozent verdünnte. Nachdem er vorsichtig auf dem Tisch herumgetastet hatte, fand er einen der Pappbecher, fischte den Zigarettenstummel •heraus und goss knapp hundert Milliliter Wasser in den Tank. Dann ertastete er den zweiten Becher und füllte noch einmal die gleiche Menge nach. Das war alles, was er riskieren konnte. Er hoffte nur, dass es genug war. 37
David schloss den Wasserbehälter und bediente leise die Pumpe. Er stellte sich in der Dunkelheit vor, wie die Mischung aus Alkohol und Wasser in den zweiten Tank strömte und Druck auf die Luftmoleküle darin ausübte. Als er so viel gepumpt hatte, wie er konnte, drehte er an der Düse der Wasserpistole, bis sie auf Weite Streuung stand. Der Alkohol würde leichter brennen, wenn er zu Tröpfchen zerstäubt wurde. Dann streckte er die Hand nach der Stelle aus, wo er das Zippo hingestellt hatte, aber als er es gerade packen wollte, hörte er zweimal einen scharfen Knall irgendwo draußen. Es waren Schüsse. Erschrocken stieß er das Feuerzeug vom Tisch, und er hörte es über den Boden rutschen. Der Boden des Zimmers schien sich zu neigen. Es kam David so vor, als sei er dabei, auf dem Boden eines schwarzen Meeres zu ertrinken. Er starrte hilflos in den Abgrund, in den das Zippo gefallen war, und dann ließ er sich auf Hände und Knie nieder und begann, nach ihm zu tasten. Er überprüfte methodisch den gesamten Bereich vom Tisch bis zu den Wänden, führ mit seinen Armen in weiten Bögen über das kalte Linoleum, konnte aber das verdammte Ding nicht finden. Auf dem Flur waren erneut Schüsse zu hören, die diesmal näher klangen. David suchte hektisch weiter, rammte seine Finger in jede Ecke. Herrgott im Himmel! Wo zum Teufel ist das Ding? Dann schlug er mit dem Kopf gegen einen der Stühle, und als er unter den Tisch griff, fühlte er das Zippo. Zitternd öffnete er das Feuerzeug und drehte an dem Feuersteinrädchen. Die Flamme stieg wie ein Engel empor, ein kleines, vom Himmel gesandtes Wunder. David sprang auf, schnappte sich den Super Soaker und richtete ihn auf die Tür. Er hörte eine dritte Salve von Schüssen, als er die Flamme vor die
Plastikmündung hielt, aber diesmal zuckte er nicht zusammen. »Hawley!«, rief er. »Machen Sie die Tür auf! Sie müssen mich rauslassen.« 38
Eine leise Stimme zischte von der anderen Seite der Tür. »Halt den Mund, du Arschloch!« Hawley wollte offenbar nicht die Aufmerksamkeit des-oder derjenigen, die in der Nähe um sich schössen, auf sich lenken. Aber David hatte den Eindruck, dass sie ohnehin kamen. »Sie haben mich verstanden, Hawley!«, brüllte er. »Machen Sie die gottverdammte Tür auf.« Mehrere Sekunden verstrichen. Er präpariert sich innerlich, dachte David. Seine Position ist unhaltbar geworden, und jetzt muss er die notwendigen Schritte unternehmen. Seine einzige Alternative ist, mich umzubringen. Dann öffnete sich die Tür, und David drückte auf den Abzug. Simon kam zu einer Stelle, wo sich zwei Flure kreuzten, und sah noch einen Agenten auf dem Infrarot-Display. Der hier stand vor einer Tür und umfasste den Knauf mit einer warmen Hand und hielt eine Pistole in der anderen. Neugierig schlich Simon näher, wobei er seine Uzi auf den Mann gerichtet hielt. Der Agent stand mehrere Sekunden wie ein nervöser Freier da und murmelte »Verfluchte Scheiße, verfluchte Scheiße«, als müsse er sich beruhigen. Dann machte er die Tür weit auf und griff in seiner Hosentasche nach einer Taschenlampe. Plötzlich brach eine strahlende weiße Wolke aus der Türöffnung hervor. Simon war geblendet. Die sengende Wolke dehnte sich aus, bis sie jede Ecke seines Bildschirms ausfüllte und das Display in ein leeres weißes Rechteck verwandelte. Er riss sich die nutzlose Brille herunter, nahm eine Kauerhaltung ein und legte sich die Arme über den Kopf. Es war eine Art Brandsatz, aber es roch nicht wie Benzin oder weißer Phosphor. Seltsamerweise roch es eher wie selbst gebrannter Wodka. Der Feuerball löste sich nach ein paar Sekunden auf und hinterließ ein paar kleine bläuliche Flammen, die von 38 einer Pfütze auf dem Boden aufstiegen. Der FBI-Agent taumelte rückwärts und begann dann, wie ein Baumstamm über den Boden zu rollen, weil er die blauen Flammenfransen an seinem Jackett auslöschen wollte. Dann hörte Simon eine rasche Serie gummiartiger Quietschtöne. Das Geräusch war schon an ihm vorüber, als er begriff, was es war: die Freizeitschuhe des Gefangenen. Automatisch hob Simon seine Uzi und zielte damit in die Richtung der schnellen Schritte, aber er wagte nicht zu schießen. Er wollte den Mann lebend haben. Also richtete er sich unbeholfen auf und jagte in dem stockfinsteren Flur hinter ihm her. Simon war kurz davor, den Mann von hinten anzuspringen, als er etwas klappernd zu Boden fallen hörte, etwas, das aus Plastik und hohl war, und im nächsten Augenblick trat er auf das Ding und verlor das
Gleichgewicht. Das ist die verdammte Wasserpistole, begriff er, als er nach hinten fiel und mit dem Schädel gegen einen Türrahmen knallte. Er lag vielleicht zehn oder fünfzehn Sekunden da im Dunkeln. Als er die Augen aufmachte, sah er den immer noch qualmenden FBI-Agenten an sich vorbeirennen, hinter dem entflohenen Gefangenen her. Ein typischer amerikanischer Idiot, dachte Simon. Engagiert, aber blind für seine Umgebung. Nachdem er tief Luft geholt hatte, um einen klaren Kopf zu bekommen, stand Simon auf und zog die Infrarotbrille wieder an. Das Display-System hatte sich neu eingestellt, und der Bildschirm arbeitete wieder normal. Dann hob er seine Maschinenpistole auf und lief den Flur hinunter. David stürzte sich in die Dunkelheit und dachte nur noch an Flucht. Er hörte einen dumpfen Aufschlag hinter sich, nachdem er den Super Soaker hatte fallen lassen, aber er drehte sich nicht um, sondern lief einfach weiter. Schließlich machte er das Feuerzeug wieder an, und die Flamme erleuchtete einen kleinen Kreis um ihn herum. Zuerst sah er nur kahle
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Wände auf beiden Seiten des Flurs, dann aber erblickte er ein schimmerndes rotes Schild über einer Tür zu einem Treppenhaus. »Ausgang« stand darauf. Er hielt direkt darauf zu und rammte die Tür mit der Schulter. Zu seiner Bestürzung gab sie nicht nach. Er versuchte, den Türknauf zu drehen, aber er ließ sich nicht bewegen. Unglaublich! Wie konnte man einen Notausgang verschließen? Und wie er da stand und vergeblich an dem Türknauf rüttelte, hörte er in einiger Entfernung ein Gebrüll - »Verdammte Scheiße!« - und dann die hallenden Schritte von Agent Hawley. David begann wieder zu rennen. Er bog nach links und raste durch einen anderen Flur, verzweifelt auf der Suche nach einem anderen Treppenhaus, einem anderen Ausgang. Er überflog beide Seiten des Flurs und rannte so schnell er konnte, als er über etwas stolperte, das sich wie ein Wäschesack anfühlte. David machte das Zippo wieder an und stellte fest, dass er auf einer Leiche lag. Es war einer von Hawleys Partnern im grauen Anzug, und er hatte zwei blutige Löcher in der Stirn. Voller Entsetzen sprang David auf. Dann stellte er fest, dass die Leiche am Fuß eines Treppenhauses lag. Einen Augenblick später kam Hawley um die Ecke und erschien am Ende des Flurs. Sobald er das Feuerzeug sah, nahm er Schießhaltung ein. David löschte das Licht und jagte die Treppe hoch. Er stieg in der Finsternis nach oben, tastete wie wild nach dem Geländer und stieß sich die Schienbeine an den Stufen, während Hawley nur ein paar Sekunden hinter ihm war. Nachdem er drei Treppenabsätze hinter sich gelassen hatte, erspähte er einen schwachen gelben Lichtschein durch einen gezackten Eingang. Er lief durch einen Raum voller zerschlagener Videomonitore und sprang über zwei andere Leichen, ohne einen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden. Er war jetzt in einer Tiefgarage und konnte
die süßlich verpestete New Yorker Luft riechen. Er sprintete die Rampe hoch auf das herrliche Tageslicht zu. 40 Aber es waren mindestens dreißig Meter bis zum Ende der Auffahrt, und es gab keine Möglichkeit, sich dort irgendwo zu verstecken. Deshalb wusste er, dass er verloren war, als er über die Schulter schaute und Hawley unten stehen sah. Uber das verbrannte und geschwärzte Gesicht des Agenten zog ein breites Lächeln. Langsam hob er seine Glock und zielte sorgfältig. Dann erklang ein Schuss, und Hawley brach auf dem Boden zusammen. David starrte auf den Körper des Agenten, der nun wie ein Fötus dalag. Einen Augenblick dachte er, irgendjemand spiele ihm einen Streich. Er war zu verwirrt, um Erleichterung zu empfinden, und zu verängstigt, um mit dem Laufen aufzuhören. Seine Beine trugen ihn die Auffahrt hoch, und innerhalb weniger Sekunden stand er auf einer verlassenen Straße, die von hohen Bürogebäuden gesäumt war. Er las die Straßenschilder an der Ecke: Liberty Street und Nassau Street. Er war im unteren Teil von Manhattan, knapp drei Häuserblocks nördlich der Börse. Aber er hörte jetzt Polizeisirenen, und deshalb hielt er sich nicht länger auf und lief in Richtung Westen auf den Broadway und den Hudson River zu. Als Simon den angekokelten FBI-Agenten erledigt und das Ende der Rampe erreicht hatte, kamen einige Streifenwagen auf der Liberty Street näher. Die Babuschka, dachte er. Sie musste das NYPD per Funk um Unterstützung gebeten haben. Als die Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen kamen und die Cops in die Tiefgarage ausschwärmten, duckte er sich hinter einem Zeitschriftenkiosk mit verschlossenen Fensterläden. Der Gefangene hatte nur einen Häuserblock Vorsprung, war jetzt an der Ecke Broadway und Liberty, aber Simon konnte es nicht riskieren, an all diesen Polizisten vorbeizumarschieren, nicht mit einer Uzi unter seinem Anorak. Also tauchte er stattdessen in die Nassau Street ab und rannte einen Häuserblock nach Norden, wo er sein Opfer abzufan40
gen hoffte. Als er jedoch den Broadway erreichte, war von dem Gefangenen nichts zu sehen. Simon hetzte die breite Straße entlang und schaute in jede der Querstraßen hinein, aber er konnte seinen Mann nicht entdecken. »Yobany v'rot!«, fluchte er und schlug sich frustriert auf den Oberschenkel. Aber seine Wut hielt nur einen Augenblick an. Es kommt nur auf deine Flexibilität an, ermahnte er sich. Er musste seine Strategie wieder anpassen. Während er an der Straßenecke stand und keuchte wie ein Hund, dachte Simon über den Gefangenen nach. Es gab nicht viele Orte, wohin er gehen konnte, und sie waren alle ziemlich vorhersagbar. Der erste Schritt war, den Mann zu identifizieren und festzustellen, worin seine Verbindung zu Professor Kleinman bestand. Dann ging es nur noch darum, seine Kontaktpersonen ausfindig zu
machen. Früher oder später, das wusste Simon, würde ihn dieser Bursche in den Freizeitschuhen zu der Einheitlichen Feldtheorie führen. Simon kam wieder zu Atem, während er dorthin zurückging, wo er den Mercedes geparkt hatte. Er empfand grimmige Befriedigung, als er zu den Wolkenkratzern am Broadway hochschaute, deren dunkle Türme hoch über der Straße aufragten. Sehr bald, dachte er, wird all das hier verschwunden sein. VIER
verdammt noch mal, Lucy! Was zum Teufel ist da passiert?« Lucille saß in einem Konferenzraum im FBI-Hauptquartier am Federal Plaza und sprach über eine sichere Telefonleitung mit dem Direktor des Bureau. Sie hatte das Gebäude an der Liberty Street evakuiert und einen vorläufigen Kommandoposten im regionalen New Yorker Hauptquartier eingerichtet. Alle Agenten außer Dienst, die in der Nähe wohnten, waren aus den Betten geholt worden und hatten neue Anweisungen erhalten. Und jetzt, eine Viertelstunde nach Mitternacht, war Lucille mit der schwierigen Aufgabe beschäftigt, ihrem Boss die schlechten Nachrichten zu übermitteln. »Sie haben uns überrascht«, gab sie zu. »Sie haben zunächst die Logistik ausgeschaltet und unser Kommunikationssystem lahmgelegt. Dann haben sie die Stromzufuhr unterbrochen und versucht, sich den Häftling zu schnappen. Wir haben sechs Agenten verloren.« Lucille war erstaunt, wie gelassen sie das berichten konnte. Sechs Agenten. Was für ein beschissener Albtraum. »Ich übernehme die volle Verantwortung.« »Scheiße, wer war das, zum Teufel noch mal? Haben Sie irgendwas auf Video?« »Nein, Sir, leider sind die Überwachungssysteme zerstört worden. Aber wir haben eine Ahnung, mit wem wir es zu tun haben. Sie waren mit Uzis bewaffnet und haben C-4 benutzt. Wahrscheinlich hatten sie auch Infrarotbrillen aufgesetzt.« 41
»Denken Sie an Leute von al-Qaida?« »Nein, für die war die ganze Sache zu raffiniert. Vielleicht die Russen. Oder vielleicht die Chinesen oder die Nordkoreaner. Zum Teufel, es hätten sogar die Israelis sein können. Es war eine ziemlich professionelle Operation.« »Was ist mit dem Häftling? Glauben Sie, er steckt mit ihnen unter einer Decke?« Lucille zögerte, bevor sie antwortete. Um ehrlich zu sein, wusste sie nicht, was sie von David Swift halten sollte. »Zuerst hätte ich gesagt, nein. Ich meine, der Typ ist Professor für Geschichte. Keine Vorstrafen, kein Wehrdienst, keine ungewöhnlichen Reisen und Anrufe ins Ausland. Aber er hat praktisch zugegeben, dass Kleinman ihm eine Zahlenkombination genannt hat, vermutlich einen Code zur Verschlüsselung einer Computerdatei. Vielleicht haben sie versucht, die Information zu verkaufen, aber mit dem Deal ist irgendwas schiefgelaufen.«
»Wie gut stehen die Chancen, ihn wieder in die Finger zu bekommen? Der Verteidigungsminister treibt mich noch in den Wahnsinn. Er ruft jede halbe Stunde an und will auf den neuesten Stand gebracht werden.« Sie spürte, wie Widerwille in ihr aufstieg. Der gottverdammte Minister. Er hatte das Bureau gezwungen, in diesem Fall die Drecksarbeit zu übernehmen, und trotzdem wollte er nicht mit der Sprache rausrücken, worum es hier eigentlich ging. »Teilen Sie ihm mit, es ist alles unter Kontrolle«, sagte sie. »Wir haben die New Yorker Polizei veranlasst, Kontrollpunkte an den Brücken und Tunneln einzurichten, mit Sprengstoffspürhunden, die nach Spuren von dem C-4 schnüffeln. Außerdem haben wir Agenten an allen Bahnhöfen und Busbahnhöfen stationiert.« »Haben Sie ein Foto von dem Häftling? Zu Identifikationszwecken?« »Wir haben ein Führerscheinfoto von der New Yorker Zu 42
lassungsbehörde und ein Foto vom Schutzumschlag eines Buchs, das er geschrieben hat. Der Titel ist Auf den Schultern von Riesen. Wir sind gerade dabei, Handzettel zu drucken, und wir sollten im Lauf der nächsten Stunde oder so in der Lage sein, sie an unsere Agenten zu verteilen. Keine Sorge, der geht nirgendwohin.« David rannte am Hudson River entlang Richtung Uptown. Nachdem er den FBIAgenten entkommen war, hatte er einen vordringlichen Impuls: sich so weit wie möglich von dem Gebäude an der Liberty Street zu entfernen. Aber er hatte zu viel Angst, sich ein Taxi heranzuwinken oder in eine U-Bahn zu springen, machte sich zu viel Sorgen, von einem Streifenwagen oder einem Verkehrspolizisten angehalten zu werden. Daher lief er auf dem parallel zum Fluss verlaufenden Fahrradweg und mischte sich unter die abendlichen Fitness-Fanatiker, die Jogger, Radfahrer und Inline-Skater, die mit glänzenden Leuchtstreifen geschmückt waren. Er lief bis zur Thirty-Fourth Street, mehr als drei Meilen, bis er langsamer wurde und stehen blieb. Schwer atmend lehnte er sich gegen einen Laternenpfahl und schloss für einen Moment die Augen. Herrgott, flüsterte er. Das darf nicht wahr sein. Er hatte fünf Minuten lang den Worten eines sterbenden Physikprofessors gelauscht, und jetzt rannte er um sein Leben. Und was von dem, was Kleinman gesagt hatte, war so unglaublich wichtig? Einheitliche Feldtheorie? Zerstörer der Welten? David schüttelte den Kopf. Was zum Teufel war hier los? Eine Sache war klar: Die FBI-Agenten waren nicht die einzigen, die Kleinmans Geheimnis haben wollten. Jemand anderes hatte den Professor gefoltert, jemand anderes hatte das Gebäude an der Liberty Street überfallen. Und David hatte keine Ahnung, wer das war. Von diesem Gedanken beunruhigt, machte er die Augen 42
auf und blickte den Fahrradweg entlang. Hier konnte er nicht bleiben. Er musste sich etwas überlegen. Er wusste, dass es nicht besonders schlau wäre, zu seinem oder Karens Apartment zu gehen; das FBI überwachte mittlerweile wahrscheinlich beide Wohnungen. Aus demselben Grund konnte er es auch nicht riskieren, einen seiner Freunde oder Kollegen aufzusuchen. Nein, er musste aus New York verschwinden. Er musste sich Bargeld besorgen und sich dann auf den Weg machen, vielleicht eine Möglichkeit einfallen lassen, wie er die kanadische Grenze überqueren konnte. Er konnte keinen Wagen mieten - die FBI-Agenten würden die Transaktion bald auf seinem Kreditkartenkonto sehen und jedem State Trooper im Nordosten das Nummernschild durchgeben -, aber vielleicht konnte er mit ein bisschen Glück einen Zug oder einen Bus nehmen, ohne bemerkt zu werden. David fand einen Geldautomaten und hob so viel Geld von seinem Bank- und seinem Kreditkartenkonto ab, wie er konnte. Auch diese Transaktionen würde das FBI entdecken, aber das ließ sich nicht vermeiden. Dann ging er schnurstracks zum Bahnhof Penn Station. Sobald er allerdings durch den Bahnhofseingang an der Eighth Avenue gegangen war, wusste er, dass er zu spät war. Im Bereich vor den Fahrkartenschaltern wimmelte es von Polizisten und Mitgliedern der Nationalgarde. An den Eingängen zu den einzelnen Bahnsteigen verlangten die Cops Ausweise von allen Fahrgästen, und Deutsche Schäferhunde beschnüffelten jede Handtasche, jeden Aktenkoffer und jedes Hosenbein. David verwünschte sich im Stillen, während er auf die andere Seite des Bahnhofs ging. Er hätte schon vor einer Stunde im PATH Station downtown einen Zug besteigen sollen. Als David sich dem Ausgang Seventh Avenue näherte, strömte plötzlich eine neue Welle von Polizisten in die Eingangshalle und bildete eine geschlossene Linie vor den Trep 43
pen und Aufzügen. »Ach du Scheiße«, flüsterte David. Einer der Cops hob ein Megafon an den Mund. »Okay, Leute«, tönte er. »Bilden Sie vor der Treppe eine Reihe und holen Sie die Führerscheine raus. Wir müssen irgendeinen Ausweis zu sehen bekommen, bevor Sie den Bahnhof verlassen können.« David drehte sich um und ging denselben Weg wieder zurück, wobei er versuchte, so unauffällig wie möglich zu wirken, aber mittlerweile standen auch an den Ausgängen zur Eighth Avenue Cops. Voller Panik begann er sich nach einem Versteck umzusehen, einem Kiosk oder Imbissstand, wo er ein paar Minuten Unterschlupf finden und seine fünf Sinne wieder zusammennehmen konnte, aber die meisten Geschäfte in der Bahnhofshalle hatten bereits zugemacht. Die einzigen Lokale, die noch nicht geschlossen hatten, waren ein Dunkin' Donuts voller Polizisten und eine trostlose kleine Kneipe namens The Station Break. David hatte seit Jahren keine Kneipe mehr von innen gesehen,
und allein bei dem Gedanken daran, diese hier zu betreten, stieg ihm die Galle hoch. Aber er konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. In der Kneipe tobten ein Dutzend fleischige, bärtige Burschen Anfang bis Mitte zwanzig um einen Tisch herum, der mit Budweiser-Dosen vollstand. All die Männer trugen identische, speziell angefertigte T-Shirts mit dem Aufdruck P ETES J UNGGESELLENABSCHIED über einer vollbusigen Silhouette. Sie waren unglaublich laut und hatten offensichtlich bis auf den Barkeeper, der mit einem angewiderten Stirnrunzeln hinter der Kasse stand, alle anderen Gäste aus dem Lokal vertrieben. David nahm an der Theke Platz, lächelte und tat so, als wäre alles in Ordnung. »Ich hätte gern eine Cola.« Ohne ein Wort griff der Barkeeper nach einem trüben Glas und füllte es mit Eis. David sah zwei Toilettentüren 44
am hinteren Ende des Lokals, aber keinen Notausgang. Es gab einen Fernseher an der Wand, aber der Ton war abgestellt; eine junge blonde Moderatorin stand neben den Worten T ERRORALARM und starrte ernst in die Kamera. »Hey, die ist verdammt scharf!«, rief einer der Männer. Er kam taumelnd auf die Beine, um einen besseren Blick auf die Moderatorin werfen zu können. »Oh yeah! Trag mir die Nachrichten vor, Baby! Komm schon, trag sie Larry vor! Larry will die ganze Geschichte kennenlernen, Baby!« Während seine Freunde in brüllendes Gelächter ausbrachen, näherte sich Larry der Bar. Er hatte einen Bauch von der Größe eines Medizinballs über dem Gürtel hängen. Seine Augen waren blutunterlaufen, sein Bart war mit Popcornbröckchen gesprenkelt, und er roch derart stark nach Budweiser, dass David die Luft anhalten musste. »Hey, Barkeeper!«, schrie Larry. »Wie viel kostet ein Jägermeister?« Die Falten auf der Stirn des Barkeepers vertieften sich. »Zehn Dollar.« »Herrgott im Himmel!« Larry schlug mit der Faust auf die Theke. »Das ist der Grund dafür, dass ich nicht mehr in diese Scheißstadt komme!« Der Barkeeper ignorierte ihn und gab David seine Cola. »Macht sechs Dollar.« Larry wandte sich an David. »Sehen Sie, was ich meine? Das ist der reinste Wucher. Das ist dreimal so teuer wie in Jersey.« David sagte nichts. Er wollte den Typ nicht ermutigen. Er hatte schon genug Dinge, um die er sich Sorgen machen musste. Er gab dem Barkeeper einen Zwanziger. »Bei den Tittenbars ist es genauso«, fahr Larry fort. »Wir kommen gerade aus einem Lokal, das Cat Club heißt. An der Twenty-First Street. Die Mädchen wollten da fünfzig Dollar für einen Strip über meinem Schoß haben. Können Sie sich das vorstellen? Fünfzig beschissene Dollar? Also hab 44
ich gesagt: Scheiß auf diesen Nepp, fahren wir wieder nach Metuchen. Da gibt's einen Club an der Route 9, die Lucky Lounge, in dem sind die Mädchen genauso gut, und für einen Strip auf dem Schoß bezahlt man nur zehn Mäuse.« David hätte den Kerl am liebsten erwürgt. Die Polizisten und die Männer von der Nationalgarde kamen immer näher, patrouillierten mit ihren Schäferhunden und ihren M-16ern unmittelbar vor dem Station Break vorbei, aber anstatt sich zu überlegen, wie er aus diesem Chaos wieder rauskam, musste David diesem Trottel aus New Jersey zuhören. Er schüttelte frustriert den Kopf. »Entschuldigen Sie, aber im Moment bin ich ...« »Hey, wie heißen Sie, Kumpel?« Larry hielt ihm die rechte Hand hin. David knirschte mit den Zähnen. »Phil. Hören Sie, ich bin ein bisschen ...« »Schön, Sie kennenzulernen, Phil! Ich heiße Larry Nelson.« Er packte Davids Hand und schüttelte sie energisch. Dann zeigte er auf seine Freunde. »Das sind meine Kumpels aus Metuchen. Sehen Sie Pete da hinten? Er heiratet am Sonntag.« Der Bräutigam hing über dem Tisch, sein Kopf war vor lauter Budweiser-Dosen fast nicht mehr zu sehen. Seine Augen waren geschlossen, und eine Seite seines Gesichts war fest gegen die Tischplatte gepresst, als versuche er das Rumpeln der Züge zu hören, die in den Bahnhof einfuhren. David verzog das Gesicht. Das war ich vor zwanzig Jahren, dachte er. Ein dummer Junge, der sich mit seinen Freunden betrank. Der einzige Unterschied war, dass David keine Entschuldigung wie einen Junggesellenabend gebraucht hatte, um sich die Kante zu geben. Während der letzten paar Monate seines Physikstudiums hatte er sich jeden Abend volllaufen lassen. »Wir wollten den Zug um Null Uhr dreißig zurück nach Jersey nehmen«, fügte Larry hinzu, »aber dann haben die 45
Cops angefangen, Ausweise zu überprüfen, und die verdammte Schlange wurde so lang, dass wir den Zug verpasst haben. Jetzt müssen wir eine Stunde auf den nächsten warten.« »Was ist, wenn man keinen Ausweis dabeihat?«, fragte David. »Lassen sie einen dann nicht in den Zug?« »Nee, nicht heute Abend. Wir haben einen Typ gesehen, der gesagt hat, er hätte seine Brieftasche zu Hause gelassen. Die Cops haben ihn abgeführt. Das ist so ein verdammter Terroralarm. Gelber Alarm, roter Alarm - ich kann mich nicht erinnern, was für einer.« Davids Magen verkrampfte sich. Herrgott, dachte er, ich werde es nie schaffen, hier rauszukommen. Das ganze verdammte Land ist auf der Suche nach mir. »Das einzig Gute an der ganzen Sache ist, dass ich morgen früh nicht arbeiten muss«, sagte Larry. »Ich hab diese Woche Abendschicht und muss deshalb erst um sechzehn Uhr im Polizeirevier aufkreuzen.«
David starrte ihn einen Moment lang an, den ungepflegten Bart, den Bierbauch. »Sie sind ein Cop?« Er nickte stolz. »Ich bin Dispatcher für das Police Department von Metuchen. Hab gerade vor zwei Wochen angefangen.« Erstaunlich, dachte David. Er hatte den einzigen Cop in ganz New York City gefunden, der nicht nach ihm suchte. Zunächst sah er nur die Merkwürdigkeit dieser zufälligen Begegnung, aber nach ein paar Sekunden sah er auch die Gelegenheit, die sich ihm dadurch bot. Er versuchte, sich an das bisschen zu erinnern, was er geografisch über New Jersey wusste. »Ich lebe gar nicht weit von Metuchen entfernt, wissen Sie. In New Brunswick.« »Ohne Scheiß?« Larry wandte sich an seine Freunde. »Hey, Jungs, hört mal her! Der Typ hier kommt aus New Brunswick .« 46
Mehrere von ihnen hoben ihre Bierdosen zu einem halbherzigen Salut hoch. Ihre Stimmung tendiert langsam gegen den Nullpunkt, dachte David. Sie mussten ein wenig aufgemuntert werden. »Hören Sie, Larry, ich würde gern was für Ihren Freund Pete tun. Zu Ehren seiner Hochzeit und so. Wie wär's, wenn ich allen einen Jägermeister ausgebe?« Larry machte große Augen. »Hey, das wäre super!« David stand von seinem Barhocker auf und hielt seine Arme senkrecht in die Höhe, als wäre er ein Football-Schiedsrichter, der einen Touchdown bekannt gibt. »Eine Lokalrunde Jägermeister!« Die plötzlich wiederbelebte Junggesellenmannschaft ließ ein lautes Johlen ertönen. Als David sich an den Barkeeper wandte, machte der Mann allerdings keinen übermäßig glücklichen Eindruck. »Lassen Sie erst mal das Geld sehen«, sagte er. »Das wären dann hundertdreißig.« David zog eine dicke Rolle Zwanziger aus seiner Hosentasche und legte sie auf den Tresen. »Lassen Sie sie einfach anrollen.« Karen lag neben Amory Van Cleve, geschäftsführender Teilhaber der Kanzlei Morton Mclntyre & Van Cleve, und lauschte dem seltsamen Pfeifen, das aus den Nasenlöchern des schlafenden Anwalts drang. Dies war das erste Mal, dass es ihr auffiel, obwohl sie mittlerweile seit mehreren Wochen mit Amory ins Bett ging. Das Pfeifen hatte drei verschiedene Töne - F über dem eingestrichenen C, wenn er Luft holte, das zunächst auf D und dann auf B hinuntersank, wenn er ausatmete. Karen hatte Musik studiert, bevor sie mit dem Jurastudium anfing. Nach einer Weile wurde ihr klar, warum ihr die Tonfolge so vertraut vorkam: Es waren die ersten drei Noten von »The Star-Spangled Banner«, der Nationalhymne. Karen unterdrückte ein Lachen. Ihr neuer Freund war einfach von ganzem Herzen ein altmodischer Patriot. 46
Er lag auf dem Rücken und hielt die manikürten Hände vor der Brust gefaltet. Karen rückte näher an ihn heran und musterte sein volles graues Haupthaar,
seine Patriziernase und sein ausgeprägtes Kinn. Für einen Sechzigjährigen sieht er eigentlich verdammt gut aus, entschied sie. Und selbst wenn er außer dem nächtlichen Pfeifen noch ein paar Fehler hatte, selbst wenn er nicht mehr so gut hörte und nicht der leidenschaftlichste aller Liebhaber war, ließen seine Vorzüge all diese Fehler trivial erscheinen. Amory war würdevoll, wohlerzogen und gut gelaunt. Und was am besten war: Er wusste, was Karen wollte. Er wusste, was für sie eine Rolle spielte. Das war etwas, was David nie kapiert zu haben schien, obwohl er drei Jahre um sie geworben hatte und neun mit ihr verheiratet gewesen war. Eine Sirene heulte auf der Columbus Avenue. Von denen schienen heute Nacht eine Menge unterwegs zu sein. Wahrscheinlich unterwegs zu irgendeinem Feuer oder vielleicht zu einem großem Wasserrohrbruch. Sie würde morgen in der Zeitung nachsehen. Natürlich konnte sie David nicht an allem die Schuld geben. Karen hatte selbst erst begriffen, was sie wollte, als die Hälfte ihrer Ehe hinter ihr lag. Als sie sich kennengelernt hatten, war sie eine naive dreiundzwanzig Jahre alte Frau, eine Klavierstudentin an der Juilliard School, die einen aussichtslosen Kampf gegen Kandidaten mit mehr Talent führte. David war fünf Jahre älter und schon ein erfolgreicher Professor im Programm der Columbia für Wissenschaftsgeschichte. Karen verliebte sich in ihn, weil er lustig und klug war und gut aussah, und sie begann sich die Zukunft auszumalen, die sie sich zusammen aufbauen würden. Nach ihrer Hochzeit gab sie Juilliard auf und begann mit dem Jurastudium. Nach Jonahs Geburt unterbrach sie ihr Studium ein Jahr lang, aber innerhalb eines Jahrzehnts war sie Seniorpartnerin bei Morton Mclntyre & Van Cleve und verdiente doppelt so 47
viel wie ihr Mann. Außerdem wusste sie inzwischen genau, was sie wollte: ein gemütliches Zuhause für ihre Familie, eine Privatschule für ihren Sohn und einen prominenteren Platz in den gesellschaftlichen Kreisen der City. Karen konnte David verzeihen, dass er diese Interessen nicht teilte - er war im Grunde seines Herzens Wissenschaftler und legte deshalb nicht viel Wert auf seine äußere Erscheinung. Was sie ihm nicht verzeihen konnte, war seine völlige Missachtung ihrer Wünsche. Er schien ein perverses Vergnügen dabei zu empfinden, so ungepflegt wie möglich auszusehen, indem er Jeans und Freizeitschuhe zu seinen Seminaren anzog und sich mehrere Tage lang nicht rasierte. Zum Teil ließ sich das zweifellos auf seine chaotische Erziehung zurückführen. Er war mit einem prügelnden Vater und einer geschlagenen, verhuschten Mutter aufgewachsen, und obwohl er hart daran gearbeitet hatte, dieses Trauma zu überwinden, war er nur teilweise erfolgreich gewesen. David war ein wundervoller Vater für seinen Sohn geworden, aber ein armseliger Ehemann. Immer wenn Karen etwas vorschlug, machte er es zunichte. Er wollte nicht mal darüber nachdenken, in eine größere Wohnung zu ziehen oder Jonah
auf eine Privatschule zu schicken. In ihren Augen schlug es dem Fass den Boden aus, als er das Angebot zurückwies, die Leitung des Historischen Seminars zu übernehmen. Diese Stellung hätte ihnen zusätzliche dreißigtausend Dollar pro Jahr gebracht, was gereicht hätte, um ihre Küche zu renovieren oder die Anzahlung auf ein Landhaus zu leisten, aber David lehnte sie ab, weil die damit verbundenen Verpflichtungen ihm »kaum noch Zeit für seine Forschung gelassen hätten«, wie er sagte. Danach hatte Karen ihn aufgegeben. Sie konnte nicht mit einem Mann zusammenleben, der ihr auch nicht das kleinste Zugeständnis machen wollte. Ach, hör endlich auf, über David nachzudenken, ermahnte sie sich. Was sollte das schon bringen. Sie hatte doch jetzt 48
Arnory. Sie hatten schon davon gesprochen, ein Apartment zu kaufen. Ein Haus auf der East Side wäre eine schöne Abwechslung. Vielleicht eine Fünf-ZimmerWohnung in einem dieser Gebäude an der Park Avenue. Oder ein Stadthaus mit Dachgarten. Das würde eine schöne Stange Geld kosten, aber Amory konnte es sich leisten. Karen war so sehr damit beschäftigt, sich das perfekte Apartment vorzustellen, dass sie das Klingeln an der Tür beim ersten Mal nicht hörte. Das zweite Klingeln hörte sie allerdings, weil es davon begleitet wurde, dass jemand gegen die Tür hämmerte. »Mrs. Swift?«, ertönte eine eindringliche Bassstimme. »Sind Sie da, Mrs. Swift?« Sie setzte sich im Bett auf, und ihr Herz pochte wie wild. Wer um alles in der Welt würde um diese Uhrzeit an ihrer Tür klopfen? Und warum benutzte er den Ehenamen, den sie vor zwei Jahren aufgegeben hatte? Beunruhigt packte sie Amory an der Schulter und schüttelte ihn. »Amory! Wach auf! Da ist jemand an der Tür.« Amory drehte den Kopf auf die andere Seite und murmelte etwas. Er hatte einen gesunden Schlaf. »Machen Sie auf, Mrs. Swift«, vernahm sie eine andere tiefe Stimme. »Hier ist das FBI. Wir müssen mit Ihnen sprechen.« Das FBI? Was war das denn? Wollte ihr jemand einen Streich spielen? Dann erinnerte sie sich an den Telefonanruf von vor ein paar Stunden, der Anruf des Detectives, der nach David gefragt hatte. War es das? War David in irgendwelche Schwierigkeiten geraten? Sie schüttelte Amory noch mal an der Schulter, richtig fest diesmal, und er öffnete die" Augen. »Was?«, krächzte er. »Was ist denn? Was ist hier los?« »Steh auf! Da sind ein paar Männer an der Tür! Sie sagen, sie wären vom FBI!« »Was? Wie spät ist es?« 48
»Steh einfach auf und sieh nach!«
Amory seufzte, griff nach seiner Brille und stieg aus dem Bett. Er streifte einen rötlich braunen Bademantel über seinen gelben Schlafanzug und zog den Gürtel zu. Karen warf sich ein altes T-Shirt über und schlüpfte in eine Trainingshose. »Dies ist Ihre letzte Chance!« Eine dritte Stimme. »Wenn Sie die Tür nicht aufmachen, schlagen wir sie ein! Hören Sie mich, Mrs. Swift?« »Moment mal! Nicht so schnell!«, erwiderte Amory. »Ich bin schon auf dem Weg.« Karen folgte ihm, hielt sich aber ein wenig im Hintergrund. Während Amory in die Eingangsdiele ging, bezog sie instinktiv Stellung vor der Tür zu Jonahs Kinderzimmer. Gott sei Dank hatte ihr Sohn auch einen gesunden Schlaf. Amory beugte sich ein wenig vor, sodass er durch den Spion gucken konnte. »Wer sind Sie, meine Herren?«, fragte er durch die Wohnungstür. »Und was machen Sie hier mitten in der Nacht?« »Wir haben Ihnen gesagt, dass wir vom FBI sind. Machen Sie auf.« »Tut mir leid, aber ich muss zuerst Ihre Dienstmarken sehen.« Karen starrte auf Amorys Hinterkopf, während er durch den Spion schaute. Nach ein paar Sekunden warf er ihr über die Schulter einen Blick zu. »Es sind wirklich FBI-Agenten«, sagte er. »Ich will mal feststellen, was sie wollen.« Karen rief noch: »Warte, lass sie nicht ...«, aber es war zu spät. Amory entriegelte die Tür und drehte den Knauf um. Im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen, und zwei riesige Männer in grauen Anzügen griffen Amory an, warfen ihn auf den Rücken und hielten ihn am Boden fest. Zwei weitere Agenten sprangen über ihn und rannten in das Apartment, ein hochgewachsener, breitschultriger Blonder 49
und ein Schwarzer mit einem dicken Hals. Karen brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass beide Schusswaffen auf sie richteten. »Keine Bewegung!«, schrie der Blonde. Sein Gesicht war angespannt, blass und ungeheuer breit. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, gab er seinem Partner ein Handzeichen. »Sieh in den Schlafzimmern nach.« Karen machte einen Schritt nach hinten. Sie spürte die Tür zu Jonahs Zimmer in ihrem Rücken. »Bitte nicht! Ich habe ein Kind! Er ist...« »Ich hab gesagt: K EINE B EWEGUNG!« Der Blonde kam auf sie zu. Die Waffe in seiner Hand zitterte, als hätte sie ein Eigenleben. Sie hörte Schritte hinter der Kinderzimmertür und dann ein leises, verängstigtes »Mommy?« Aber die Agenten schienen nichts davon zu hören. Beide bewegten sich jetzt mit hoch erhobenen Pistolen auf sie zu, die Augen fest auf die Tür gerichtet, als ob sie versuchten hindurchzusehen. »Aus DEM W EG!«, befahl der Blonde. Karen stand da wie gelähmt, sie atmete nicht einmal. Dann hörte sie Jonahs Schritte direkt hinter ihr, hörte das blecherne Wackeln des Türknaufs, und mit
einer blitzartigen Bewegung führ sie herum und stieß die Tür auf und warf sich auf ihren Sohn. »N EIN , NEIN !«, schrie sie. »T UN SIE IHM NICHT WEH !« Die Agenten standen über ihr, ihre massigen Gestalten füllten den Türrahmen aus, ihre Pistolen nach unten gerichtet, aber das war okay, es war okay. Sie bedeckte jeden Quadratzentimeter von Jonahs Körper mit ihrem eigenen. Sein Kopf ruhte unter ihrem Kinn an ihrer Kehle, und seine Schultern wurden von ihren Brüsten gegen den Boden gedrückt. Sie konnte ihn vor Furcht und Verwirrung zittern spüren. »Mommy, Mommy!«, flüsterte er weinend dem Holzboden zu. Aber er war in Sicherheit. 50
Während der blonde Agent über ihr Wache stand, ging der schwarze ins Kinderzimmer und öffnete die Tür zum Wandschrank. »Alles klar!«, rief er. Dann inspizierte er die anderen Zimmer. Im Hintergrund konnte Karen neben dem Geräusch von Jonahs Weinen und den Rufen der Agenten Amorys empörte Stimme hören. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, was Sie hier machen?«, schrie er. »Sie können diese Wohnung nicht ohne eine richterliche Anordnung durchsuchen! Das ist eine eindeutige Verletzung unserer verfassungsmäßigen Rechte!« Nach ein paar Sekunden kehrte der schwarze Agent zurück, um dem blonden, der das Kommando zu haben schien, Bericht zu erstatten. »Sonst ist niemand hier«, sagte er. »Und der alte Mann entspricht nicht der Beschreibung.« Der blonde Agent trat von Karen zurück und ging in die Eingangsdiele, um sich mit seinen Partnern zu beraten. Er steckte die Waffe ins Holster. Karen setzte sich aufrecht hin, umklammerte Jonah und erschauerte vor Erleichterung. Amory lag ein kleines Stück von ihr entfernt auf dem Bauch, die Hände mit einer Art Plastikschnur hinter dem Rücken zusammengebunden. »Das wird Ihnen noch leidtun, meine Herren!«, rief er. »Ich bin gut befreundet mit dem Generalbundesanwalt!« Der blonde Agent schaute ihn finster an. »Halt die Klappe, Opa«, sagte er. Dann wandte er sich an Karen. »Wo ist Ihr Exmann, Mrs. Swift?« Erstaunlicherweise hatte Karen keine Angst mehr. Nachdem der Agent seine Waffe weggesteckt hatte, empfand sie nur noch Verachtung für ihn. »Ist das der Grund, warum Sie hier reingeplatzt sind? Weil Sie David suchen?« »Beantworten Sie einfach ...« »Sie verdammter Scheißkerl! Sie haben Ihre Waffe auf einen siebenjährigen Jungen gerichtet!« Während Karen den FBI-Mann anfunkelte, zog Jonah vor 50
ne an ihrem T-Shirt. Sein Gesicht war feucht und fleckig. »Wo ist Daddy?«, fragte er weinend. »Ich will Daddy hier haben!« Einen Moment lang schien der Agent zu zögern. Sein Adamsapfel tanzte auf und ab, als er Karen und Jonah betrachtete, die aneinandergekuschelt im Türrahmen
saßen. Aber dann wurde seine Mimik wieder starr. »David Swift wird wegen Mordes gesucht. Wir mussten die notwendigen Vorkehrungen treffen.« Karen hob die Hand an den Mund. Nein, dachte sie. Das ist unmöglich. David hatte viele Fehler, aber Gewalttätigkeit gehörte nicht dazu. Das Brutalste, was sie ihn je hatte tun sehen, war, mit der Faust in seinen Softball-Handschuh zu schlagen, nachdem seine Mannschaft ein Spiel verloren hatte. Er hatte sich so gut im Griff, dass seine Gefühle nie außer Kontrolle gerieten. Er hatte von seinem Vater gelernt, was andernfalls passieren konnte. »Das ist eine Lüge«, sagte sie. »Wer hat Ihnen das erzählt?« Die Augen des blonden FBI-Agenten wurden schmaler. »Ich kenne ein paar der Männer, die er umgebracht hat, Mrs. Swift. Zwei von ihnen waren Freunde von mir.« Er starrte sie noch einen Moment an, kalt und ohne mit den Wimpern zu zucken. Dann sprach er in das Mikrofon, das im Ärmel seines Jacketts verborgen war. »Hier spricht Agent Brock. Wir haben hier drei, die wir mitbringen. Rufen Sie die Zentrale an und sagen Sie Bescheid, dass wir eine Frau und einen Minderjährigen dabeihaben.« Karen nahm Jonah fester in den Arm. »Nein! Das können Sie nicht machen!« Der Agent schüttelte den Kopf. »Es ist zu Ihrer eigenen Sicherheit. Bis wir Ihren Exmann finden.« Er griff in die Tasche seines Jacketts und holte ein paar Streifen Plastikschnur heraus. 51
»Auf Phils Wohl! Du bist der Größte, Phil! Du bist der Allergrößte!« Um den Tisch im Station Break herum erhoben die Teilnehmer von Petes Junggesellenabend ihre Gläser mit Jägermeister, um Davids Alter Ego, dem großzügigen Phil aus New Brunswick, zuzuprosten. Es war die dritte Runde, die David ausgegeben hatte. Larry hielt in jeder Hand ein Glas und stimmte den Sprechchor an: »Phil! Phil! Phil!«, bevor er die beiden Gläser in schneller Folge leerte. Sogar Pete, der betrunkene Bräutigam, hob kurz den Kopf vom Tisch und murmelte: »Du bist der Größte!« David reagierte auf die gleiche Weise, legte den Arm um Pete und rief: »Nein, DU bist der Größte! Du bist der G RÖSSTE, du verrückter Scheißer!« Aber obwohl David zusammen mit den anderen brüllte und grölte, ließ er keinen Tropfen Alkohol an seine Lippen kommen. Er schob seine Gläser nacheinander Larry hin, der nur zu glücklich war, sie leeren zu dürfen. Nachdem die Sprechchöre verklungen waren, kam Larry schwankend auf die Beine. »Und vergesst Vinnie nicht!«, schrie er. »Vinnie soll leben, der muschigeplagte Scheißer, der heute Abend nicht bei uns sein konnte, weil seine Freundin denkt, wir würden einen miesen Einfluss auf ihn haben.« Alle schrien Variationen von »Scheiß auf diese Schlampe!«. In der Zwischenzeit öffnete Larry eine Plastiktüte, die auf dem Tisch lag, und nahm ein ordentlich gefaltetes blaues Hemd heraus. Es war eins dieser speziell angefertigten T-Shirts, das alle anderen anhatten, und trug ebenfalls vorn den Aufdruck P ETES J UNGGESELLENABSCHIED. »Seht euch das an!«, tönte Larry. »Weil Vinnie es
nicht geschafft hat mitzukommen, hab ich noch dieses T-Shirt übrig!« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Wisst ihr, was ich mache? Ich werde dafür sorgen, dass diese beschissene Freundin es bezahlt.« Die anderen Junggesellen riefen: »Yeah, lass die Schlampe zahlen!« und ähnliche Stellungnahmen, aber David starr 52
te nur auf das T-Shirt. Nach einigem Nachdenken schlug er mit der Faust auf den Tisch, damit jeder ihn ansah. »Ich werde dir das T-Shirt abkaufen, Larry«, verkündete er. »Wie viel kostet es?« Larry machte einen verdutzten Eindruck. »Ach, Phil, das brauchst du nicht. Ich meine, du hast uns schon all die Runden ausgegeben und ...« »Nein, nein, ich bestehe darauf! Ich will es kaufen! Ich will ein offizielles Mitglied von Petes Scheiß-Junggesellenabend werden!« Er stand auf und schob Larry einen Zwanzig-Dollar-Schein hin. Dann schnappte er sich das T-Shirt und zog es an, über sein Softball-Trikot. Natürlich jubelten ihm alle zu. »Phil! Phil! Phil! Phil!« Dann schrie jemand: »Hey, es ist fast halb zwei, wir werden den Scheiß-Zug wieder verpassen!«, und die versammelten Junggesellen stolperten los. »Gehen wir!«, befahl Larry. »Wir müssen bei der Lucky Lounge ankommen, bevor sie zumacht! Jemand muss Pete helfen!« Während zwei der Feiernden Pete an den Ellbogen packten, erblickte David seine Chance. Er rief mit undeutlicher Stimme: »Wartet auf mich!«, und fiel dann der Länge nach hin, wobei er seinen Sturz vorsichtig mit seinen Händen abfing. Larry beugte sich schwankend über ihn. »Hey, Phil, alles in Ordnung?« »Ich bin ein bisschen ... durch den Wind«, antwortete David, der versuchte, so betrunken wie möglich zu klingen. »Kannst du mir ... hochhelfen?« »Klar, Kumpel, kein Problem!« Larry ergriff Davids Arm, zog ihn hoch und führte^ ihn zur Tür des Station Break. David lehnte sich gegen die Schulter des großen Mannes, während sie aus der Kneipe torkelten. Obwohl David seit knapp zwanzig Jahren nicht mehr betrunken gewesen war, konnte er ohne Schwierigkeiten den schwankenden Gang und die 52
gebeugte Haltung imitieren. Die Erinnerung daran war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. In der Bahnhofshalle befanden sich mittlerweile kaum noch Fahrgäste, dafür wimmelte es immer noch von Polizisten. Ein halbes Dutzend Cops standen vor dem Eingang zum Gleis zehn, auf den die Junggesellen zusteuerten. Larry stieß mit der Faust in die Luft, als sie sich den Polizisten näherten. »Okay, NYPD!«, rief er mit dröhnender Stimme. »Wir stehen hinter euch, Mann! Schnappt euch diese Scheiß-Terroristen!« »Yeah, schnappt euch die Scheißer!«, rief der nächste. »M ACHT SIE ALLE KALT !«
Ein hagerer Police Sergeant streckte die Hände aus, als wolle er den Verkehr anhalten. »Okay, Leute, beruhigt euch«, sagte er. »Holt einfach alle euren Führerschein raus.« David drehte sich der Magen um, als die anderen ihre Brieftaschen hervorzogen. Okay, dachte er. Jetzt geht es los. Er gab sich ganz den Anschein, seine Hosentaschen abzuklopfen, zuerst die vorderen, dann die Gesäßtaschen. »Scheiße«, rief er. »Ach du Scheiße!« Er ließ sich auf Hände und Knie fallen und begann wie ein betrunkener Schwachkopf den Boden abzusuchen. Larry beugte sich wieder über ihn. »Was ist denn los, Phil?« »Meine Brieftasche«, keuchte David und klammerte sich an Larrys Schulter. »Kann meine ... verdammte Brieftasche nicht finden.« »Hast du sie in der Kneipe gelassen?« David schüttelte den Kopf. »Scheiße ... weiß nicht... die könnte ... überall sein.« Der Sergeant nahm die Aufregung zur Kenntnis und kam herüber. »Was ist denn hier los?« »Phil hat seine Brieftasche verloren«, teilte Larry ihm mit. 53 Mit offen stehendem Mund und zur Seite hängendem Kopf schaute David zu dem Sergeant hoch. »Ich versteh ... das nich ... sie war ... grad noch ... hier.« Der Cop legte die Stirn in Falten. Sein Mund war eine straffe, grimmige Linie. Oh-oh, dachte David. Der hier ist ein scharfer Hund. »Haben Sie keinen Ausweis dabei?« »Das ist Phil«, erklärte Larry. »Aus New Brunswick.« Er zeigte auf das J UNGGESELLENABSCHIED -T-S HIRT . »Er gehört zu uns.« »Man braucht einen Ausweis, um in den Zug zu kommen«, erwiderte der Sergeant. Wie aufs Stichwort erklang ein hoher Glockenton aus den Lautsprechern des Bahnhofs. »Achtung, Achtung«, verkündete eine Stimme vom Band. »Letzter Aufruf für den Zug der Northeast Corridor Line an Gleis zehn mit den Stationen Newark, Elizabeth, Rahway, Metuchen, New Brunswick und Princeton Junction. Fahrgäste auf Gleis zehn, bitte einsteigen.« »Wir müssen in diesen Zug einsteigen!«, rief Larry. Er griff hektisch in die Hosentasche und zog seine eigene Brieftasche heraus und öffnete sie für den Sergeant. »Sehen Sie, ich bin bei der Polizei von Metuchen. Hier ist meine Marke. Ich sage Ihnen, Phil gehört zu uns. Er ist mein Kumpel.« Der Sergeant schaute mit immer noch gerunzelter Stirn auf das Dienstabzeichen, zögerte, ihretwegen eine Ausnahme zu machen. Und in dem Moment hörte David einen Hund bellen. Er drehte sich um und sah einen Mann von der Nationalgarde und seinen Schäferhund etwa zwanzig Meter entfernt unter einer Ankunftstafel hervorkommen. Der Hund, der genau auf sie zuging*, zog mit einer derartigen Begeisterung an seiner Leine, dass der Nationalgardist sich nach
hinten lehnen musste, um das Gleichgewicht zu bewahren. O Herr im Himmel, dachte David. Das verdammte Tier riecht irgendwas, was ich an mir habe. 54
Er schloss die Augen und eine Welle von Übelkeit erfasste ihn. Es ist hoffnungslos, dachte er. Sie werden mich festnehmen und mich dem FBI übergeben, und die werden mich zurück in eins ihrer Verhörzimmer bringen. Er konnte den fensterlosen Raum mit den nackten Wänden und den Neonröhren an der Decke und den FBI Agenten, die in grauen Anzügen um den Metalltisch herumstanden, vor seinem inneren Auge sehen. Eine weitere Welle der Übelkeit fuhr durch seinen Körper, und diese war so heftig, dass David sich plötzlich krümmte und trocken würgen musste. Ein dünner Speichelfaden zog sich von seinem Mundwinkel bis zu dem Betonboden. »Vorsicht!«, warnte Larry. »Phil muss sich gleich übergeben!« Der Sergeant machte einen schnellen Schritt zurück. »Ach du Scheiße«, rief er. »Schafft ihn hier weg!« David hob den Kopf und schaute zu dem Sergeant hoch. Der Mann verzog die Lippen, sichtlich angeekelt. Aus einem Impuls heraus stolperte David näher auf den Cop zu und machte ein würgendes Geräusch, ein feuchtes gutturales »Ahhhhhhh!« Der Sergeant stieß David von sich, schob ihn auf Larry zu. »Scheiße, schafft diesen Typ hier fort!«, schrie er. »Los, nehmt ihn in den Zug mit.« »Ja, Sir!«, erwiderte Larry und packte David unter den Achselhöhlen. Und zusammen eilten sie die Treppe zu Gleis zehn hinunter und in den Ein-Uhrdreißig-Zug nach Metuchen. Simon saß an einem alten Schreibtisch in einer der grotesk überteuerten Suiten im Waldorf-Astoria. Das Hotel stellte einem zweitausend Dollar pro Nacht für einen stickigen Salon mit Fenster auf die Park Avenue und ein Schlafzimmer in Rechnung, das wie ein Bordell aus der Zarenzeit eingerichtet 54
war. Simon war so erfolgreich, dass er sich das leisten konnte, aber er weigerte sich aus Prinzip zu bezahlen; stattdessen hatte er sich eine Kreditkartennummer aus einer der undichten Rohrleitungen des Internets gemopst. Ein ahnungsloser Bewohner Oregons namens Neil Davison bezahlte jetzt Simons Aufenthalt im Waldorf sowie für den Lammrücken und den halben Liter Stolichnaya, die er beim Zimmerservice bestellt hatte. Während Simon noch ein Glas Wodka hinunterkippte, starrte er auf den Bildschirm seines Laptops, auf dem die Webseite des Physikseminars der Columbia University zu sehen war. Praktischerweise enthielt die Liste der Mitglieder des Lehrkörpers Farbfotos aller Professoren, aller Dozenten und Assistenten. Simon scrollte langsam nach unten und musterte jedes Gesicht. Die Annahme, dass es sich bei Kleinmans Komplizen um einen Physikprofessor handelte, schien auf der Hand zu liegen. Die Einheitliche Feldtheorie wäre ganz
bestimmt für einen Laien zu kompliziert; man würde vermutlich umfassende Grundkenntnisse in der Relativitätstheorie und in Quantenmechanik benötigen, um auch nur mathematische Terme in den revidierten Feldgleichungen zu erkennen. Und dennoch sah Simon den Mann in den Freizeitschuhen nirgendwo auf der Webseite des Physikalischen Seminars. Er überprüfte zur Sicherheit noch die entsprechenden Listen des wissenschaftlichen Personals an zwanzig anderen Universitäten mit berühmten Physikalischen Abteilungen - Harvard, Princeton, MIT, Stanford und so weiter -, fand aber dennoch keinen Hinweis auf sein Opfer in den Fotogalerien lächelnder Wissenschaftler. Nach einer Stunde klappte er den Laptop zu und warf die leere Flasche Stoli in den Papierkorb. Es war nicht zu fassen. Er brauchte nur den Namen des Mannes. Um sich zu beruhigen, ging Simon zum Fenster und starrte auf die Lichter an der Park Avenue. Selbst um zwei Uhr 55
morgens bewegte sich ein steter Strom von Taxis über die Straße. Während er den Yellow Cabs dabei zusah, wie sie sich in eine gute Position zu drängeln versuchten, fragte sich Simon, ob er irgendwas übersehen hatte, irgendein Detail aus Professor Kleinmans Leben, das die Identität seines Kollegen offenbarte. Vielleicht war der Mann ein Neffe oder Patensohn des Physikers, vielleicht sogar das uneheliche Kind aus einer längst verflossenen Affäre. Simon ging zum Schrank, öffnete seinen Matchbeutel und holte das Buch heraus, das er benutzt hatte, um Kleinman aufzuspüren. Es war ein dickes Buch, mehr als fünfhundert Seiten, vollgepackt mit nützlichen Informationen über all die Physiker, die Albert Einstein in den letzten Jahren seines Lebens assistiert hatten. Es hieß Auf den Schultern von Riesen. Als Simon das Buch aufschlug, erhaschte er einen Blick auf etwas, das ihm bekannt vorkam. Er nahm sich die Innenseite des hinteren Schutzumschlags vor. Direkt unterhalb eines überschwänglichen Klappentexts aus dem Library Journal war ein Foto des Autors. Simon lächelte. »Hallo, David Swift«, sagte er laut. »Schön, Sie kennenzulernen.« FÜNF
T
rotz aller Bitten von Larry, Pete und den anderen Junggesellen blieb David
standhaft und stieg an der Haltestelle Metuchen nicht aus. Er sagte, seine Frau würde ihn umbringen, wenn er nicht direkt nach Hause käme, versprach aber, sich mit seinen neuen Freunden an einem anderen Abend in der Lucky Lounge zu treffen. Die ganze betrunkene Mannschaft klatschte ihm gegen die erhobene Hand, als sie ausstiegen und sangen »Phil! Phil! Phil! Phil!«. David nahm ihr Gejohle mit hoch gestrecktem Daumen zur Kenntnis und sank dann erschöpft auf seinen Platz zurück.
Als der Zug den Bahnhof verließ, begann David zu schaudern. Die Klimaanlage schien das Abteil unerträglich kalt zu machen. Er schlang sich die Arme um die Brust und rieb sich die Schultern, um sich zu wärmen, aber er hörte einfach nicht auf zu zittern. Er erkannte, was mit ihm los war: Er hatte eine posttraumatische Stressreaktion, die verzögerte Antwort seines Körpers auf all die erschreckenden Ereignisse der letzten vier Stunden. Er schloss die Augen und machte mehrere tiefe Atemzüge. Es ist alles in Ordnung, sagte er sich. Du bewegst dich mit großer Geschwindigkeit weg von New York. Du lässt sie alle hinter dir. Er schlug die Augen auf, als der Zug in die Station New Brunswick einfuhr. Inzwischen hatte er aufgehört zu zittern und konnte etwas klarer denken. Er beschloss, im Zug zu bleiben, bis dieser Trenton erreichte. Dann würde er in einen Greyhound-Bus nach Toronto steigen. Aber als die Türen zugingen und der Zug weiter in westlicher Richtung 56
fuhr, begann David die Fehler an seinem Plan zu erkennen. Was wäre, wenn man auch an den Busbahnhöfen die Ausweise kontrollierte? Er konnte nicht direkt damit rechnen, auf noch einen Junggesellenabschied zu stoßen. Und wenn der Bus schließlich an der kanadischen Grenze ankäme, würde die Polizei wahrscheinlich auch dort nach ihm suchen. Nein, einen Bus zu nehmen war zu gefährlich, falls er keinen gefälschten Führerschein in die Finger bekäme. Und wie zum Teufel sollte er das bewerkstelligen? David begann, im Gang des beinahe leeren Eisenbahnwaggons auf und ab zu gehen, weil er zu aufgeregt war, um sitzen zu bleiben. Es gab nur drei weitere Fahrgäste: ein Paar kurzberockte Teenager und ein älterer Mann in einem karierten Pullover, der leise in sein Mobiltelefon sprach. Einen Augenblick lang dachte David daran, Karen und Jonah mit seinem eigenen Handy anzurufen, aber er wusste, dass der Apparat im selben Moment, in dem er ihn einschaltete, ein Signal zum nächsten Funkturm senden würde, und dann wüsste das FBI, wo er war. Das Frustrierende daran war, dass David sich allmählich Sorgen um seine Exfrau machte. Er hatte den Eindruck, dass die Männer in den grauen Anzügen versuchen könnten, sie zu vernehmen. Kurze Zeit später verkündete der Zugführer: »In wenigen Minuten erreichen wir Princeton Junction. Dort besteht eine Verbindung nach Princeton mit der Princeton Branch Line.« Es war die Wiederholung, die den Ausschlag gab, die drei Princetons hintereinander. David dachte sofort an jemanden, der ihm helfen konnte. Er hatte diese Person seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesehen, aber er wusste, dass sie immer noch in Princeton wohnte. Die Wahrscheinlichkeit, dass das FBI vor ihrem Haus auf ihn wartete, war nicht besonders groß. Obwohl das Bureau offensichtlich eine gründliche Untersuchung seiner Vergangenheit vorgenommen hatte, bezweifelte er, dass sie irgendetwas über Monique ausgegraben 56
hatten. Erfreulicherweise war sie Physikerin und hatte bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der Stringtheorie geleistet. David hatte den Verdacht, dass nur Physiker etwas von der Geschichte verstehen konnten, die er zu erzählen hatte. Der Zug blieb stehen, und die Türen gingen auf. David trat auf den Bahnsteig hinaus und ging zu dem Gleis der Princeton Branch Line. Im Jahr 1989, als David noch Doktorand in Physik war, hatte er an einer Konferenz zur Stringtheorie in Princeton teilgenommen. Zu dieser Zeit war die neue Idee in der Wissenschaftlergemeinde sehr en vogue, weil sie ein seit Langem bestehendes Problem zu lösen versprach. Obwohl Einsteins Relativitätstheorie die Schwerkraft perfekt erklärte und die Quantenmechanik Aufschluss über jede Nuance der subatomaren Welt geben konnte, waren die beiden Theorien mathematisch inkompatibel. Dreißig Jahre lang hatte Einstein versucht, die beiden Reihen physikalischer Gesetze in der Absicht zu vereinigen, eine einzige allumfassende Theorie zu schaffen, die alle Naturkräfte erklären konnte. Aber alle von Einstein veröffentlichten Lösungen stellten sich als fehlerhaft heraus, und nach seinem Tod kamen viele Physiker zu dem Schluss, dass seine Suche auf falschen Annahmen beruhte. Sie meinten, das Universum wäre einfach zu komplex, um durch einen einzigen Satz von Gleichungen beschrieben zu werden. In den Siebzigerjahren begannen allerdings einige Physiker damit, die Idee einer einheitlichen Theorie durch die Hypothese wiederzubeleben, dass alle fundamentalen Partikeln eigentlich winzige »strings«, also Saiten von Energie seien, von denen jede weniger als ein Billionstel eines Billionstel Millimeters lang ist. Mitte der Achtziger hatten die Stringtheoretiker ihr Modell weiterentwickelt, indem sie behaupteten, dass die Ketten in zehn Dimensionen vibrierten, von 57 denen sechs zu derart kleinen Mannigfaltigkeiten zusammengerollt seien, dass sie unterhalb der Wahrnehmungsgrenze lägen. Die Theorie war unbestimmt, unvollständig und äußerst unhandlich, und trotzdem beflügelte sie die Fantasie von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt. Eine von ihnen war Monique Reynolds, eine vierundzwanzigjährige Doktorandin in Princetons Naturwissenschaftlicher Fakultät. David sah sie zum ersten Mal am Tag der Schlussveranstaltung der Konferenz, die in einem großen Auditorium in Jadwin Hall stattfand. Monique stand auf der Bühne und bereitete sich darauf vor, einen Vortrag über mehrdimensionale Mannigfaltigkeiten zu halten. Was ihm als Erstes auffiel, war ihre Größe, einen ganzen Kopf größer als der vertrocknete Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät, der Monique als »die klügste junge Studentin, mit der ich je das Vergnügen hatte zusammenzuarbeiten« vorstellte. David fragte sich, ob sie dem alten Mann nicht vielleicht ein bisschen zu sehr gefiel, weil diese Frau nicht nur groß, sondern auch wunderschön war. Ihr Gesicht war wie eines der antiken Porträts von Athene, der griechischen Göttin der Weisheit, aber anstatt eines Helms trug sie eine Krone kompliziert geflochtener Cornrows, und ihre Haut hatte die Farbe
von Kaffeelikör mit Sahne. Ein langes Kleid aus gelb-rotem Kente-Stoff umhüllte ihre Schultern, und mehrere goldene Reifen hingen an jedem ihrer braunen Arme. In der Eintönigkeit von Jadwin Hall funkelte sie wie ein Teilchenschauer. Physikerinnen waren in den Achtzigerjahren eine ungewöhnliche Erscheinung, aber eine dunkelhäutige Stringtheoretikerin war eine echte Seltenheit. Die Naturwissenschaftler im Hörsaal betrachteten sie, wie sie jede andere Seltenheit betrachten würden, mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Skepsis. Sobald sie allerdings mit ihrer Präsentation anfing, akzeptierten sie Monique als eine der Ihren, weil sie ihre Sprache sprach, die abstruse Zunge der Mathematik. Sie ging 58
zu der Tafel und schrieb eine lange Folge von Gleichungen auf, jede voll mit den Symbolen, die für die fundamentalen Parameter des Universums standen: die Lichtgeschwindigkeit, die Gravitationskonstante, die Masse des Elektrons, die Stärke der Atomkraft. Mit einer Leichtigkeit, um die David sie nur beneiden konnte, manipulierte und transformierte sie anschließend das dichte Unterholz der Symbole, bis sie sich zu einer einzigen, eleganten Gleichung zusammengefasst fanden, die die Form des Raums um einen vibrierenden String beschrieb. David konnte nicht jedem Schritt ihrer Beweisführung folgen; zu diesem Zeitpunkt seines Studiums hatte er die Grenzen seiner mathematischen Fähigkeiten erkannt, und normalerweise empfand er eine überwältigende Frustration und Eifersucht, wenn er Zeuge wurde, wie ein Genie von Moniques Kaliber seine Fertigkeiten demonstrierte. Aber während sie ihre Zauberkunststücke an der Tafel vollführte und gelassen auf die Fragen ihrer Kollegen antwortete, empfand David nicht die Spur von Bitterkeit. Er gab sich in ihre Hände, ohne Widerstand zu leisten. Als sie mit ihrer Präsentation fertig war, sprang er auf und ging nach vorn zur Bühne, um sich vorzustellen. Monique zog die Augenbrauen hoch, als David seinen Namen nannte. Ein Ausdruck von Überraschung und Freude zog über ihr Gesicht. »Natürlich, ich kenne Sie!«, rief sie aus. »Ich habe gerade das Referat gelesen, das Sie mit Hans Kleinman geschrieben haben. Relativität in einer zweidimensionalen Raumzeit, stimmt's? Das war ein feines Stück Arbeit.« J Sie ergriff seine Hand und drückte sie. David war sprachlos - er konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich sein Referat gelesen hatte. »Na ja, eigendich ist es nichts Besonderes«, antwortete er. »Nicht im Vergleich mit Ihrer Arbeit, meine ich. Ihre Präsentation war absolut umwerfend.« Er versuchte 58
sich zu einem intelligenteren Kommentar aufzuraffen, aber ihm wollte nichts einfallen. »Sie haben mich völlig umgehauen. Ich war ehrlich überwältigt.« »Herr im Himmel, machen Sie mal 'nen Punkt!« Sie ließ ein Lachen hören, einen wundervollen hohen perlenden Ton. »Ich komme mir ja vor wie ein Filmstar!« Dann machte sie einen Schritt auf ihn zu und legte ihm leicht die Hand auf den
Unterarm, als wären sie alte Freunde. »Also, Sie sind an der Columbia, stimmt's? Wie sieht es dort an der Fakultät aus?« Ihr Gespräch dauerte mehrere Stunden, wobei sie sich zunächst ins Dozentenzimmer begaben, wo David ein paar der anderen Doktoranden in Princetons Physikalischem Institut kennenlernte, und dann zu einem Restaurant namens The Rusty Scupper in der Nähe, wo die kleine Schar angehender Physiker Margaritas bestellte und die relativen Verdienste der chiralen und nicht chiralen Stringtheorie diskutierte. Nach ein paar Drinks gestand David Monique, dass er manche Partien ihrer Präsentation nicht verstanden hatte, und sie freute sich, seine Verständnislücken füllen zu können und erklärte geduldig jedes mathematische Verfahren. Nach ein paar weiteren Drinks fragte er sie, woher ihr Interesse an Physik stammte, und sie erzählte ihm, es läge alles an ihrem Vater, einem Mann, der nie über die neunte Klasse hinausgekommen sei, aber immer wieder interessante Theorien über die Welt aufstellte. Um Mitternacht waren David und Monique die letzten Gäste im Restaurant, und um ein Uhr befummelten sie sich gegenseitig auf der Couch in Moniques winziger Wohnung. Für David war diese Reihenfolge von Ereignissen ziemlich typisch. Er befand sich mitten in der sechsmonatigen Sauftour, die das zweite Jahr seines Doktorandenstudiums überschattete, und wenn er mit einer Frau trank, versuchte er normalerweise, mit ihr ins Bett zu gehen. Und obwohl Monique intelligenter und schöner als die meisten Frauen 59
war, mit denen er geschlafen hatte, war sie auf andere Weise typisch - sie war impulsiv, einsam und schien aus irgendeinem Grund traurig zu sein. Daher bewegte sich alles in den üblichen Bahnen, aber als Monique von der Couch aufstand und den Reißverschluss ihres Kente-Kleids aufzog und es zu einem farbenfrohen Haufen um ihre Knöchel fallen ließ, lief irgendetwas schief. Sobald David ihren nackten Körper sah, begann er zu weinen. Das kam so plötzlich und war so unerklärlich, dass David zuerst dachte, es geschähe Monique, nicht ihm. Er dachte: Warum weint sie bloß? Hab ich irgendwas falsch gemacht? Aber nein, sie weinte nicht. Die Schluchzer kamen aus seiner Kehle, und die Tränen liefen seine Wangen hinunter. Er stand schnell auf und wandte sich beschämt von ihr ab. Herrgott noch mal, dachte er, was zum Teufel ist mit mir los? Nach ein paar Sekunden spürte er Moniques Hand auf seiner Schulter. »David?«, flüsterte sie. »Alles in Ordnung?« Er schüttelte den Kopf und versuchte verzweifelt, sein Gesicht zu verbergen. »Tut mir leid«, murmelte er und trat von ihr zurück. »Ich gehe jetzt besser.« Aber Monique ließ ihn nicht los. Sie schlang die Arme um seine Taille und zog ihn näher zu sich. »Was ist los, Baby? Du kannst es mir sagen.« Ihre Haut war weich und kühl. Er spürte, wie etwas in ihm nachgab, und auf einmal wusste er, warum er weinte. Mit Monique Reynolds verglichen war er wertlos. In der Woche zuvor war er durch seine Prüfungen gerasselt, was
bedeutete, dass das Physikalische Institut an der Columbia ihn bald auffordern würde, sein Doktorandenstudium abzubrechen. Die Trinkerei hatte mit Sicherheit zu seinem Versagen beigetragen - es ist einigermaßen unmöglich, die Quantentheorie zu verstehen, wenn man einen chronischen Kater hat -, aber er bezweifelte, dass das Ergebnis anders gelautet hätte, wenn er das ganze Semester stocknüchtern gewesen wäre. 60
Schlimmer noch war, dass sein Vater ihm diese Entwicklung vorhergesagt hatte. Als er den alten Mann zwei Jahre zuvor in dem schmuddeligen Hotelzimmer besucht hatte, in dem John Swift seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis wohnte, hatte der gelacht, als David ihm von seinen Plänen erzählte, Physiker zu werden. »Du wirst nie Wissenschaftler werden«, hatte sein Vater ihn gewarnt. »Du wirst einfach Scheiße bauen.« Aber davon konnte er Monique nichts erzählen. Stattdessen löste er ihre Hände von seiner Taille. »Tut mir leid«, sagte er wieder. »Aber ich muss gehen.« Er hörte nicht auf zu weinen, während er Moniques Wohnung verließ und über das dunkle Universitätsgelände Princetons ging. Du Idiot, murmelte er, du blöder Idiot. Es liegt an dem Alk, dem ganzen verdammten Alk. Du kannst nicht mehr richtig denken. Er blieb vor einem der Studentenwohnheime der Uni stehen und lehnte sich eine Minute gegen das neugotische Gebäude, um einen klaren Kopf zu bekommen. Du musst mit dem Trinken aufhören, sagte er sich. Du hast deinen letzten Alkohol getrunken. Aber als er am nächsten Tag nach New York zurückkam, ging er als Erstes zur West End Tavern am Broadway und bestellte einen Jack Daniel's. Er war noch nicht ganz unten angekommen. Erst zwei Monate später, nachdem man ihn offiziell vom Physikstudium an der Columbia ausgeschlossen hatte, hatte er ein Stadium der Erniedrigung erreicht, das ihm derart unangenehm war, dass er für immer dem Trinken abschwor. Während David in den folgenden Jahren sein Leben auf die Reihe bekam und sein Doktorandenstudium in Geschichte betrieb, dachte er gelegentlich daran, sich mit Monique in Verbindung zu setzen, um ihr zu erklären, was vorgefallen war. Aber er tat es nie. 2001 stieß er im Scientific American auf einen Artikel über sie. Sie war immer noch in Prince 60 ton und beschäftigte sich immer noch mit der Stringtheorie, die seit den Achtzigerjahren erhebliche Fortschritte gemacht hatte, aber immer noch so unbestimmt, unvollständig und unhandlich war wie zuvor. Monique erforschte jetzt die Möglichkeit, dass die von der Stringtheorie vorhergesagten zusätzlichen Dimensionen nicht zu unendlich kleinen Mannigfaltigkeiten zusammengerollt waren, sondern hinter einer kosmischen Barriere lagen, die uns daran hinderte, sie zu sehen. David war allerdings weniger an den physikalischen als an den biografischen Details interessiert, die in den letzten Absätzen des Artikels
bekannt gegeben wurden. Wie sich herausstellte, war Monique in Anacostia, dem ärmsten Viertel in Washington, D. C, aufgewachsen. Ihre Mutter war heroinsüchtig gewesen, und ihr Vater war bei einem Raubüberfall erschossen worden, als sie erst zwei Monate alt gewesen war. Als David das las, empfand er einen Schmerz tief in seiner Brust. Sie hatte ihm erzählt, dass ihr Vater sie dazu inspiriert habe, Physikerin zu werden, aber in Wirklichkeit hatte sie den Mann nie kennengelernt. David dachte wieder an Monique, nachdem seine Ehe gescheitert war, und ein paar Mal war er kurz davor gewesen, sie anzurufen. Aber jedes Mal hatte er den Hörer wieder hingelegt und stattdessen gegoogelt, ihren Namen in die Suchmaschine eingetippt und auf den Webseiten nachgeschaut, die sich daraufhin ergaben. Auf diese Weise hatte er erfahren, dass sie inzwischen ordentliche Professorin für Physik war, dass sie an einem Web-Chat über afrikanische Geschichte teilgenommen und dann New York Marathon in drei Stunden und zweiundfünfzig Minuten absolviert hatte, eine sehr beachtliche Zeit für eine dreiundvierzig Jahre alte Frau. Seine beste Entdeckung allerdings war ein Foto von Monique in der Online-Version des Princeton Packet, das sie zeigte, wie sie vor einem bescheidenen zweistöckigen Haus mit einer großen Veranda stand. David erkannte das Haus sofort: Es war 61 112 Mercer Street, das Haus, in dem Albert Einstein die letzten zwanzig Jahre seines Lebens gewohnt hatte. In seinem Testament hatte Einstein darauf bestanden, dass das Haus nicht in ein Museum verwandelt würde, und daher blieb es der private Wohnsitz für Professoren, die mit Princetons Institute for Advanced Study zu tun hatten. In der Legende unter dem Foto stand, dass Professor Reynolds vor Kurzem in das Haus eingezogen sei und den Platz eines emeritierten Kollegen einnähme. Das war die Richtung, die David einschlug, als er den Zug am Bahnhof Princeton verließ. Er überquerte wieder das dunkle Universitätsgelände, diesmal sauber und nüchtern, aber immer noch verzweifelt, und er konnte sich nicht vorstellen, dass Monique froh wäre, ihn zu sehen. Lucille telefonierte mit ihren Agenten in Trenton, als der Verteidigungsminister in den Konferenzraum stürmte. Sie war so überrascht, dass sie fast den Hörer fallen ließ. Sie hatte den Minister erst einmal anlässlich einer Veranstaltung im Weißen Haus getroffen, bei der eine neue Antiterrorismus-Initiative angekündigt worden war, und sie hatten sich nur die Hand geschüttelt und einige Nettigkeiten ausgetauscht. Aber jetzt baute sich der Mann direkt vor ihr auf, den Quadratschädel kampflustig vorgestreckt, während die kleinen Augen hinter der randlosen Brille missbilligend zusammengekniffen waren. Obwohl es drei Uhr nachts war, hatte er die dünnen grauen Haare ordentlich gekämmt, und seine Krawatte hing kerzengerade von einem makellosen Windsorknoten herab. Ein
Zwei-Sterne-General der Air Force folgte in seinem Windschatten, die Aktentasche des Ministers unter dem Arm. »Ahm, ich rufe Sie zurück«, sagte Lucille in das Telefon. Sie legte auf und erhob sich pflichtschuldigst. »Mr. Secretary, ich ...« 62 »Behalten Sie Platz, Lucy, behalten Sie Platz.« Er winkte sie in ihren Sitz zurück. »Wir können auf Formalitäten verzichten. Ich wollte mir nur selbst ein Bild davon machen, wie die Operation läuft. Die Air Force war so freundlich, mich nach New York zu fliegen.« Super, dachte Lucille. Es wäre nett gewesen, wenn mich jemand gewarnt hätte. »Nun ja, Sir, wir glauben, wir haben uns Klarheit über den Aufenthaltsort des Häftlings verschafft. Wir sind im Besitz von Informationen, dass er jetzt in New Jersey ist, und wir ...« »Was?« Der Minister beugte sich vor und drehte den Kopf zur Seite, als versuche er eine leichte Schwerhörigkeit auf einem Ohr zu kompensieren. »Ich dachte, Sie hätten den Kerl in Manhattan festgenagelt. Was ist mit all den Kontrollpunkten an den Brücken und Tunneln?« Lucille rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. »Leider ist David Swifts Foto erst mit einer gewissen Verspätung an die Polizei verteilt worden. Sobald wir die Handzettel verteilt hatten, hat ein der Penn Station zugeteilter Officer den Verdächtigen erkannt. Er hat gesagt, Swift sei gegen halb zwei in einen Zug Richtung New Jersey eingestiegen.« »Wie ist er in den Zug reingekommen? Hatte er falsche Papiere?« »Nein, der Verdächtige hat sich anscheinend einer Gruppe von Männern angeschlossen, die den Zug schnell noch in letzter Sekunde besteigen wollten. Ein Haufen betrunkener Trottel. In der Verwirrung hat der Officer darauf verzichtet, sich den Ausweis zeigen zu lassen.« Der Minister runzelte die Stirn. Sein linker Mundwinkel verzog sich nach unten wie ein Angelhaken. »Das ist unverzeihlich. Wenn das hier eine richtige Armee wäre, würde dieser Officer erschossen. Er würde in der Morgendämmerung von Angehörigen seiner eigenen Einheit exekutiert.« 62 Lucille war nicht sicher, wie sie darauf reagieren sollte. Sie beschloss, die bizarre Bemerkung auf sich beruhen zu lassen. »Ich habe gerade mit unseren Agenten in New Jersey gesprochen. Sie sind im Bahnhof Trenton in den Zug gestiegen, haben den Verdächtigen aber nicht gefunden. Jetzt überprüfen wir die Möglichkeit, dass Swift mit den Betrunkenen ausgestiegen ist. Der Officer in der Penn Station sagte, sie wären aus Metuchen.« »Das klingt nicht sehr verheißungsvoll. Was für Anhaltspunkte haben Sie sonst noch?« »Wir haben Observierungsteams an den Privatadressen von Swifts Kollegen am Historischen Institut der Columbia postiert. Mehrere davon wohnen in New
Jersey, daher stehen die Chancen nicht schlecht, dass er bei einem von ihnen auftaucht und ihn um Hilfe bittet. Und wir haben uns Swifts Exfrau geschnappt, um sie zu verhören. Sie ist unten mit ihrem Sohn und ihrem Freund, einem älteren Knaben namens Amory Van Cleve. Wir werden uns ...« »Moment mal, was haben Sie da gerade für einen Namen genannt?« »Amory Van Cleve. Er ist Rechtsanwalt, der geschäftsführende Partner von Morton Mclntyre und ...« »Herrgott noch mal!« Der Minister hob die Hand an die Stirn. »Wissen Sie nicht, wer das ist? Van Cleve war einer der größten Spendenbeschaffer bei der letzten Wahl, um Himmels willen! Er hat zwanzig Millionen Dollar für die Kampagne des Präsidenten aufgetrieben!« Lucille wurde steif. Dieser Ton gefiel ihr nicht. »Sir, ich befolge nur die Anordnungen des Direktors vom Bureau. Er hat mich angewiesen, diesen Fall mit allem gebührenden Nachdruck zu verfolgen, und das ist genau das, was ich tue.« Der Minister verzog das Gesicht, nahm die Brille ab und kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken. »Glauben Sie mir, Lucy, ich will, dass Sie aggressiv sind. Ich 63 will, dass Sie sich mit allem, was Sie haben, auf diesen Fall konzentrieren. Dieses Projekt steht ganz oben auf der Prioritätenliste des Pentagon. Wenn die Information den Iranern oder den Nordkoreanern in die Hände fallen würde, wären die Konsequenzen katastrophal.« Er setzte die Brille wieder auf und warf einen kurzen Blick auf sie, wobei seine Augen ihr wie zwei Heckenschützen vorkamen. »Aber Sie können bei jemandem wie Amory Van Cleve nicht die üblichen Befragungstechniken einsetzen. Er ist einer der besten Spendenbeschaffer im ganzen Land für die Republikaner. Als der Präsident im letzten Frühjahr hier oben war, haben sie zusammen Golf gespielt!« »Nun ja, was schlagen Sie vor, Sir?« Er schaute über die Schulter auf den Air-Force-General. Ohne dass ein Wort fiel, öffnete der Mann den Aktenkoffer, zog einen Hefter heraus und reichte ihn dem Minister, der ihn aufschlug und darin herumblätterte. »Okay, hier steht, dass dieser Bursche Swift eine Vorgeschichte von Drogenmissbrauch hat.« »Er hatte in seinen Zwanzigern ein Alkoholproblem«, stellte Lucille klar. Der Minister zuckte mit den Achseln. »Einmal ein Trinker, immer ein Trinker. Wir können sagen, dass der Kerl inzwischen bei Kokain angekommen ist und den Stoff den reichen Studenten an der Columbia vertickt. Das Bureau war dabei, ihn in seinem Crackhaus zu verhaften, aber er und seine Freunde haben es geschafft, die Agenten zu überraschen und ein halbes Dutzend von ihnen zu töten. Wie gefällt Ihnen das als Geschichte?« Lucille versuchte, sich eine diplomatische Antwort einfallen zu lassen. »Es gibt ein paar Probleme. Zunächst würde das Bureau normalerweise nicht...«
»Die Einzelheiten muss ich nicht wissen. Bringen Sie einfach die Geschichte auf Vordermann und erzählen Sie sie Van 64 Cleve und der Exfrau. Vielleicht verlieren sie so viel von ihrer Sympathie für Swift, dass sie uns sagen, wo er sich versteckt. Und geben Sie die gleiche Geschichte auch an die Presse. Auf die Weise kriegen wir eine landesweite Fahndung auf die Beine gestellt.« Lucille schüttelte den Kopf. Das war ja wohl nicht zu glauben. Den Verteidigungsminister auf dem Laufenden zu halten, war eine Sache, aber Befehle von ihm entgegenzunehmen eine andere. Was brachte diesen Blödmann auf die Idee, er könnte eine FBI-Aktion leiten? »Ich weiß nicht, ob das die richtige Vorgehensweise ist«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir uns mit dem Direktor des Bureau in Verbindung setzen und ...« »Keine Sorge, der Direktor wird damit einverstanden sein. Ich werde mit ihm reden, sobald ich wieder in Washington bin.« Er schloss den Hefter und gab ihn dem Air-Force-General zurück. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging aus dem Konferenzraum hinaus, der General unmittelbar hinter ihm. Lucille stand entrüstet auf. »Einen Moment mal, Mr. Secretary. Ich finde, Sie sollten sich das noch mal überlegen!« Er drehte sich nicht mal zu ihr um. Er hob nur den Arm zum Abschied, während er aus dem Zimmer marschierte. »Keine Zeit zum Nachkarten, Lucy. Man zieht mit den Truppen in den Krieg, die man zur Verfügung hat.« David war schon einmal in Einsteins Haus an der Mercer Street gewesen, als er Auf den Schultern von Riesen schrieb. Weil es ein Wohnhaus für Professoren war, stand das Haus der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung, aber nachdem David einen besonderen Antrag gestellt hatte, in dem er seine Absicht erläuterte, gewährte ihm das Institute for Advanced Study die Erlaubnis für einen halbstündigen Besuch. Dieser Besuch erwies sich für seine Studien als unschätzbar. Er ver 64 brachte den größten Teil der ihm zugestandenen Zeit in dem Arbeitszimmer im ersten Stock, wo Einstein in seinen letzten Jahren fast alle seine Untersuchungen durchgeführt hatte. Drei Wände des Zimmers waren von der Decke bis zum Boden mit Bücherregalen ausgestattet, und die vierte wurde von einem Panoramafenster mit Blick auf den Garten hinter dem Haus dominiert. David war von einem merkwürdigen Schwindel gepackt worden, als er auf den Schreibtisch vor dem Fenster starrte. Er versetzte sich ein halbes Jahrhundert in die Vergangenheit und konnte vor seinem geistigen Auge sehen, wie Einstein über diesen Schreibtisch gebeugt dasaß und mit seinem Füller stundenlang Seite um Seite mit Raumzeit-Maßen und Ricci-Tensoren vollkritzelte. Als er sich dem Haus jetzt im Dunkeln näherte, sah David, dass das Grundstück irgendwann im Lauf der vergangenen zehn Jahre auf Vordermann gebracht
worden war. Jemand hatte Blumentöpfe auf die Vorderveranda gestellt und die ungebärdige Glyzinie gestutzt, die sich früher um das Abflussrohr an der Regenrinne gewunden hatte. David ging sehr leise die Verandatreppe zur Haustür hoch. Er drückte auf die Türklingel, die überraschend laut war, und wartete. Zu seiner Bestürzung ging kein Licht an. Nach einer halben Minute drückte er noch mal auf die Klingel und lauschte aufmerksam auf irgendwelche Lebenszeichen im Haus. Mist, dachte er, vielleicht ist niemand zu Hause. Vielleicht ist Monique übers Wochenende weggefahren. Langsam machte sich Verzweiflung in ihm breit, und er wollte gerade ein drittes Mal auf die Klingel drücken, als ihm etwas Merkwürdiges auffiel: Der Türrahmen war vor Kurzem erneuert worden. Die neuen Türpfosten waren noch nicht gestrichen, und in die Tür war ein neues Schloss eingebaut worden, dessen Messingbeschlag frisch glänzte. Die Arbeiten schienen hastig und schludrig erledigt worden zu sein, und ihre Qualität stand in deutlichem Kontrast zur or 65 dentlichen Erscheinung des restlichen Hauses. Aber bevor er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, hörte er irgendjemand, der sich nur ein paar Schritte hinter ihm befand, schreien: »Hey, du Arschloch!« David fuhr herum und sah einen barfüßigen jungen Mann mit nacktem Oberkörper die Verandatreppe hochkommen. Er trug nur eine Jeans, hatte lange blonde Haare, eine beeindruckende Brustmuskulatur, aber was David wirklich ins Auge fiel, war der Baseballschläger in seinen Händen. »Yeah, ich rede mit dir«, sagte der Mann unnötigerweise. »Was zum Teufel machst du hier? Feststellen, dass niemand zu Hause ist?« David machte einen Schritt von der Tür weg und streckte seine Hände aus, um zu zeigen, dass sie leer waren. »Tut mir leid, dass ich so spät noch störe. Ich heiße David ...« »Es tut dir leid? Du sagst, es tut dir leid? In einer Minute tut es dir noch viel mehr leid, du Arschgesicht.« Sobald der Mann die oberste Stufe erreicht hatte, drosch er mit dem Baseballschläger los. Er verfehlte David nur um ein paar Zentimeter, der Schläger fuhr so nahe an seinem Ohr vorbei, dass er ihn pfeifen hören konnte. »Herrgott!«, rief er und wich zurück. »Hör auf. Ich bin ein Freund.« Der Mann kam hinter ihm her. »Du bist nicht mein Freund. Du bist ein Scheißnazi.« Er holte mit dem Schläger aus, um erneut zuzuschlagen. Es blieb keine Zeit mehr zum Nachdenken, daher reagierte David instinktiv. Er wusste, wie man kämpfte. Sein Vater hatte ihm die Grundregel beigebracht: Hab keine Angst davor, schmutzig zu kämpfen. Er blieb außer Reichweite, bis der blonde Kerl zuschlug, dann lief er auf ihn zu und trat ihm zwischen die Beine. Als der Kerl zusammenklappte, rammte David ihm einen Unterarm gegen die Brust und warf ihn hintenüber. Sein nackter Rücken landete mit einem dröhnenden Klatschen auf der Veranda, und während er nach Luft
66 schnappte, hebelte David ihm den Baseballschläger aus den Händen. Innerhalb von drei Sekunden war alles vorbei. David beugte sich über den auf dem Rücken liegenden Mann. »Okay, zweiter Versuch«, sagte er. »Tut mir leid, dass ich so spät noch störe. Ich heiße ...« »Keine Bewegung, du Wichser!« David schaute hoch und sah Monique zwischen den Türpfosten stehen und eine Schusswaffe auf ihn richten. Ihre hinreißenden Augen funkelten wütend, während sie den Revolver in beiden Händen hielt. Ein knallgelbes Nachthemd hing ihr bis auf die Oberschenkel und bewegte sich leicht in der nächtlichen Brise. »Lass den Schläger fallen und geh weg von ihm«, lautete ihre Anweisung. David tat wie befohlen. Er ließ den Schläger klappernd zu Boden fallen und machte drei Schritte zurück. »Monique«, sagte er. »Ich bin es, David. Ich habe ...« »Halt gefälligst das Maul!« Sie hielt die Waffe auf seinen Kopf gerichtet, erkannte ihn offenbar nicht. »Keith, ist alles in Ordnung?« Der barbrüstige Mann stemmte sich hoch. »Ja, mir geht's gut«, sagte er, klang aber ein bisschen benommen. »Monique, ich bin es«, wiederholte David. »David Swift. Wir haben uns neunundachtzig auf dem String-Kongress kennengelernt, als du dein Referat über die Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten gehalten hast.« »Ich hab gesagt, du sollst das Maul halten!«, zischte sie, aber David merkte, dass er sie auf sich aufmerksam gemacht hatte. Ihre Stirn legte sich in Falten. »David Swift«, sagte er noch einmal. »Ich war Doktorand an der Columbia. Relativität in zweidimensionaler Raumzeit. Erinnerst du dich?« Als sie begriff, wer er war, sperrte sie den Mund auf, aber wie David es sich gedacht hatte, war sie nicht erfreut. Sie schien eher noch wütender zu sein. Sie runzelte weiterhin 66 die Stirn, während sie den Revolver senkte und den Hahn entspannte. »Was zum Teufel ist hier los? Warum tauchst du hier mitten in der Nacht auf? Ich hätte dir fast den Kopf weggepustet.« »Kennst du diesen Typ, Mo?«, fragte Keith, der mühsam auf die Beine kam. Sie nickte. »Ich kenne ihn vom Studium. Flüchtig.« Mit einer schwungvollen Bewegung ihres Handgelenks klappte sie die Trommel des Revolvers heraus und ließ die Patronen in ihre Handfläche fallen. In dem Haus nebenan ging ein Licht an. Mist, dachte David. Wenn wir nicht leiser werden, wird jemand die Cops rufen. Er warf Monique einen flehenden Blick zu. »Hör mal, ich brauche deine Hilfe. Ich hätte dich nicht belästigt, wenn es nicht wichtig wäre. Können wir uns vielleicht drinnen unterhalten?« Moniques Stirn blieb gerunzelt. Nach ein paar Sekunden stieß sie jedoch einen Seufzer aus. »Ach, was soll's. Komm rein. Ich werde ohnehin nicht wieder einschlafen können.«
Sie hielt ihm die Tür auf. Keith hob den Baseballschläger auf, und David dachte einen Moment lang, er würde noch einmal damit auf ihn einschlagen, aber stattdessen gab er ihm die Hand. »Hey, Mann, tut mir leid«, sagte er. »Ich dachte, du wärst eins von diesen Nazi-Arschlöchern. Sie haben Mo einigen Ärger gemacht.« »Nazis? Wovon redest du?« »Das wirst du sehen, wenn wir reingehen.« David betrat das Haus und fand sich in einem kleinen Wohnzimmer mit einem gemauerten Kamin auf der einen und einem Erkerfenster auf der anderen Seite wieder. Er erinnerte sich von seinem früheren Besuch daran, dass ein ansehnlicher hölzerner Sims den Kamin nach oben abschloss, aber jetzt sah er so aus, als hätte sich jemand mit einer Axt daran zu schaffen gemacht. Das lackierte Bord wies auf sei 67 ner gesamten Länge tiefe Kerben auf. Der Kamin selber war ebenfalls verwüstet worden; mindestens ein Dutzend Ziegelsteine waren herausgegraben oder abgeschlagen worden. Die Wohnzimmerwände waren mit klaffenden Löchern übersät, die mit einem Vorschlaghammer gemacht worden sein mussten, und die Dielen waren an mehreren Stellen herausgerissen worden, wodurch dunkle, gezackte Krater im Boden entstanden waren. Am schlimmsten war aber, dass überall Hakenkreuze zu sehen waren: in den Kaminsims geschlagen, in die verbliebenen Bodendielen geritzt, mit Farbe auf die Wände gesprüht. Ein Paar große rote Hakenkreuze waren irgendwie an die Decke gemalt worden, und zwischen ihnen standen die Wörter N IGGA GO HOME . »O nein«, flüsterte David. Er drehte sich zu Monique um, die den Revolver mitsamt Patronen auf den Kaminsims gelegt hatte und jetzt an die Decke starrte. »Skinheads, wahrscheinlich Jungs von der Highschool«, sagte sie. »Ich hab sie in ihren Lederjacken und Springerstiefeln an der Bushaltestelle rumhängen sehen. Sie haben vermutlich das Bild von mir in der Zeitung entdeckt und sich gedacht: Oh, Junge, das ist unsere große Chance. Eine Niggerschlampe, die im Haus des berühmtesten Juden der Welt wohnt. Das passt doch wie die Faust aufs Auge.« David zuckte zusammen. »Wann ist das passiert?« »Am letzten Wochenende, als ich ein paar Freunde in Boston besuchte. Die Typen sind ganz schön clever gewesen. Sie haben gewartet, bis niemand zu Hause war, und dann haben sie die Haustür aufgebrochen. Die Außenwände haben sie nicht besprüht, weil sie wussten, dass sie jemand von der Straße aus hätte sehen können.« David dachte an das Arbeitszimmer im ersten Stock. »Haben sie die Zimmer oben auch demoliert?« »Ja, sie haben sich fast in jedem Teil des Hauses ausgetobt. Sie haben sogar den Rasen im Garten aufgewühlt. Zum 67
Glück haben sie die Küche in Ruhe gelassen, und die Möbel haben sie nicht zu sehr beschädigt.« Sie zeigte auf ein schwarzes Ledersofa, einen verchromten Beistelltisch und einen knallroten Barcelona-Sessel, alles Stücke, die Einstein offensichtlich nie gehört hatten. Keith machte einen Schritt über eines der Löcher im Fußboden, die Daumen hatte er in den Vordertaschen seiner Jeans eingehakt. David bemerkte jetzt, dass er eine Klapperschlange auf die linke Schulter tätowiert hatte, und sein Gesicht hatte den frischen, ernsten Ausdruck eines Zwanzigjährigen. »Als wir die Türklingel hörten, dachten wir, es wäre wieder einer dieser Punks, der überprüfen wollte, ob das Haus leer war. Wir nahmen an, die Jungs würden einfach weglaufen, wenn wir das Licht anmachten, und deshalb bin ich hinten aus dem Haus gegangen, um sie zu überraschen.« Monique legte Keith den Arm um die Taille und ließ den Kopf gegen seine tätowierte Schulter sinken. »Keith ist ein Engel«, sagte sie. »Er ist diese Woche jede Nacht bei mir geblieben.« Keith reagierte, indem er Moniques Hüfte packte und sie oben auf den Kopf küsste. »Was hätte ich denn sonst tun sollen? Du bist meine beste Kundin.« Er wandte sich mit einem breiten Lächeln auf seinem jugendlichen Gesicht an David. »Sehen Sie, ich arbeite an Mos Auto. Im Princeton Auto Shop. Sie hat eine scharfe Corvette, aber die hat ihre Launen.« David starrte sie einen Augenblick verwirrt an. Monique, eine berühmte Stringtheoretikerin, hatte eine feste Beziehung mit ihrem Kfz-Mechaniker? Das schien unglaublich. Aber er ließ diesen Gedanken auf sich beruhen. Es gab wichtigere Dinge, um die er sich kümmern musste. »Monique, können wir uns irgendwo hinsetzen? Ich weiß, das ist ein schlechter Zeitpunkt für dich, aber ich stecke im Moment in 68 großen Schwierigkeiten und muss rauskriegen, was eigentlich los ist.« Sie zog eine Augenbraue hoch und schaute ihn sorgfältig an, als spürte sie zum ersten Mal, wie verzweifelt er war. »Wir können in die Küche gehen«, sagte sie. »Dort herrscht Chaos, aber wenigstens gibt es keine Hakenkreuze.« Die Küche war groß und modern; sie war vor ein paar Jahren angebaut worden, um die enge Kombüsenküche zu ersetzen, in der Einsteins zweite Frau Elsa mal gekocht hatte. Eine breite Arbeitsfläche aus Marmor lag unter einer Reihe von Hängeschränken, und in einer Frühstücksnische stand ein runder Tisch. Aber obwohl die Küche selbst für Vorstadtverhältnisse groß war, gab es keinen Platz, weil jeder verfügbare Raum mit Kartons, Büchern, Lampen und Krimskrams aus anderen Teilen des Hauses bis zum Überquellen vollgestellt war. Monique führte David zu dem Frühstückstisch und entfernte einen Bücherstapel von einem der Stühle. »Tut mir leid, wie es hier aussieht«, sagte sie. »Ich musste einiges Zeug in der Küche unterbringen, weil das Arbeitszimmer so ein Katastrophengebiet ist.«
David half ihr, Tisch und Stühle freizuräumen. Während er einen Stapel Bücher zum Fensterbrett trug, erkannte er einen ziemlich weit oben liegenden Band. Es war Auf den Schultern von Riesen. Monique gab ein erschöpftes Stöhnen von sich, als sie sich setzten. Dann wandte sie sich an Keith und legte ihm sanft die Hand aufs Knie. »Baby, könntest du etwas Kaffee machen? Ich brauche unbedingt eine Tasse.« Er tätschelte ihre Hand. »Kein Problem. Kolumbianischer Supremo, stimmt's?« Sie nickte und sah ihm hinterher, wie er zur Kaffeemaschine auf der anderen Seite der Küche ging. Sobald er außer Hörweite war, beugte sie sich über den Tisch zu David hin. »Okay. Wo liegt das Problem?« SECHS
Als Simon im Spetsnaz war und die Aufständischen in Tschetschenien bekämpfte, hatte er eine nützliche Technik kennengelernt, um den Standort des Feindes ausfindig zu machen. Man konnte es in zehn Wörtern zusammenfassen: Um jemanden zu finden, muss man wissen, was er will. Ein tschetschenischer Rebell beispielsweise will russische Soldaten töten, also sollte man in den Bergen in der Nähe militärischer Stützpunkte nach ihnen Ausschau halten. Ganz einfach. Aber bei David Swift gab es eine Komplikation: Die Amerikaner hielten auch nach ihm Ausschau. Wenn man annahm, dass dieser Geschichtsprofessor auch nur ein bisschen Verstand hatte, würde er sich von seiner Wohnung und von seinem Büro an der Columbia und irgendwelchen anderen Orten fernhalten, wo das FBI vielleicht auf ihn wartete. Deshalb musste Simon wieder improvisieren. Mithilfe des Internets begann er mit einer Untersuchung David Swifts geheimer Wünsche. Um drei Uhr morgens starrte er immer noch auf seinen Laptop in der überteuerten Suite im Waldorf Astoria. Er hatte es fertiggebracht, sich Zutritt zum internen Netzwerk der Columbia zu verschaffen, und machte schon bald eine erfreuliche Entdeckung: Der Administrator des Netzwerks verfolgte die Internet-Aktivität der Mitglieder des Lehrkörpers, wahrscheinlich um sicherzustellen, dass sie sich während der Bürostunden keine Pornofilme ansahen. Simon lachte leise in sich hinein - das würde den Sowjets gefallen. Und was noch besser war, die Nachweise der Aktivitäten waren nicht 69 mal verschlüsselt. Mit ein paar Klicks war er in der Lage, die URL-Adresse von jeder Webseite herunterzuladen, die David Swift in den vergangenen neun Monaten besucht hatte. Eine lange Liste von Web-Adressen lief über den Bildschirm des Laptops, insgesamt viertausendsiebenhundert-fünfundfünfzig. Zu viele, um sie einzeln zu überprüfen. Aber es gab eine Methode, die Liste zu verkürzen: indem er sich nur die Ergebnisse der Google-Suchläufe ansah. Wonach du suchst, offenbart, was du begehrst. Google war das neue Fenster zur menschlichen Seele.
Simon fand eintausendeinhundertsechsundzwanzig Suchläufe. Immer noch zu viele, aber jetzt konnte er sich auf die Suchbegriffe konzentrieren. Er hatte ein Programm auf seinem Laptop, das die Vornamen in jeder Textprobe identifizieren konnte. Eine Analyse der verbleibenden URL-Adressen ergab, dass David Swift bei einhundertsiebenundvierzig seiner Suchläufe einen Namen eingegeben hatte. Jetzt war die Liste der Web-Adressen so kurz, dass Simon jede einzelne inspizieren konnte. Aber Swift hatte den Job für ihn viel leichter gemacht. Es gab nur einen Namen, der mehr als einmal auftauchte. Seit September hatte David Swift an drei verschiedenen Tagen nach jemandem namens Monique Reynolds gesucht. Und als Simon selber nach ihr suchte, sah er schnell, warum. Er wählte die Nummer der Rezeption des Hotels und wies den Concierge an, seinen Mercedes in fünf Minuten abfahrbereit zu haben. Er würde nach New Jersey fahren, um dem letzten Heim des ruhelosen Juden aus Bayern einen Besuch abzustatten. David holte tief Luft. »Hans Kleinman ist tot«, begann er. »Er ist heute Nacht ermordet worden.« Monique fuhr in ihrem Stuhl zurück, als wäre sie geschlagen worden. »Ermordet? Wie? Wer hat das getan?« 70 »Ich weiß nicht. Die Polizei behauptet, es wäre ein Einbruchdiebstahl, bei dem etwas schiefgegangen ist, aber ich glaube, es war etwas anderes.« Er brach ab. Seine Theorie zu dem Mord an Professor Kleinman war bestenfalls bruchstückhaft, und er war sich noch weniger sicher, wie er sie Monique erklären sollte. »Ich habe mit Kleinman im Krankenhaus geredet, kurz bevor er starb. Damit hat dieser ganze Albtraum angefangen.« Er wollte ihr gerade erzählen, was in dem FBI-Gebäude an der Liberty Street passiert war, konnte sich aber noch rechtzeitig bremsen. Sie schüttelte den Kopf, starrte mit leerem Blick auf die lackierte Platte des Küchentischs. »Herrgott«, flüsterte sie. »Das ist furchtbar. Erst Bouchet und jetzt Kleinman.« Der erste Name versetzte David einen Schock. »Bouchet?« »Ja, Jacques Bouchet von der Sorbonne. Du kennst ihn doch, oder?« David kannte ihn gut. Bouchet war einer der großen alten Männer der französischen Physik, ein herausragender Wissenschaftler, der zur Entwicklung einiger der stärksten Teilchenbeschleuniger Europas beigetragen hatte. Er war ebenfalls einer von Einsteins Assistenten zu Beginn der Fünfzigerjahre gewesen. »Was ist ihm zugestoßen?« »Seine Frau hat heute den Direktor des Instituts angerufen. Sie sagte, Bouchet sei letzte Woche gestorben, und sie wolle eine Stiftung zu seinen Ehren ins Leben rufen. Der Direktor war überrascht, weil er nirgendwo einen Nachruf auf Bouchet gelesen hatte. Seine Frau sagte, die Familie hätte es nicht an die große
Glocke gehängt, weil es ein Selbstmord gewesen sei. Anscheinend hat er sich in der Badewanne die Pulsadern aufgeschlitzt.« David hatte Bouchet im Rahmen seiner Studien zu Auf den Schultern von Riesen interviewt. Der Physiker hatte ihn zu einem wundervollen Abendessen in seinem Landhaus in 71 der Provence eingeladen und bis drei Uhr morgens mit ihm Karten gespielt. Er war ein kluger, lustiger und unbekümmerter Mann gewesen. »War er krank? Hat er sich deshalb das Leben genommen?« »Darüber hat der Direktor nichts gesagt. Aber er sprach davon, dass die Frau sich ziemlich verzweifelt angehört habe. Als ob sie es immer noch nicht glauben könnte.« Davids Gedanken überschlugen sich. Zuerst Bouchet und jetzt Kleinman. Zwei von Einsteins Assistenten, die innerhalb einer Woche das Zeitliche segneten. Natürlich waren sie mittlerweile alle ziemlich alt, Ende siebzig, Anfang achtzig. Man sollte annehmen, dass sie allmählich wegstarben. Aber nicht so. »Hast du einen Computer, den ich benutzen könnte?«, fragte er. »Ich muss etwas im Internet überprüfen.« Monique zeigte ein wenig verwirrt auf einen schwarzen Laptop, der neben einem Karton auf der Küchenablage stand. »Du kannst mein MacBook benutzen, das hat eine drahtlose Verbindung. Wonach suchst du?« David holte den Laptop an den Tisch, stellte ihn an und rief die GoogleHomepage auf. »Amil Gupta«, sagte er, während er den Namen in die Suchmaschine tippte. »Er hat auch in den Fünfzigerjahren mit Einstein zusammengearbeitet.« In weniger als einer Sekunde erschienen die Suchergebnisse auf dem Bildschirm. David scrollte rasch auf der Liste vor. Die meisten Einträge bezogen sich auf Guptas Arbeit am Robotics Institute an der Carnegie Mellon University. Gupta hatte in den Achtzigerjahren, nachdem er dreißig Jahre als Wissenschaftler gearbeitet hatte, die Welt der Physik unvermittelt verlassen und eine Softwaregesellschaft gegründet. Innerhalb eines Jahrzehnts war er mehrere hundert Millionen Dollar schwer. Er wurde Philanthrop, stiftete sein Geld für verschiedene schrullige Forschungsprojekte, aber sein Hauptinteresse war nach wie vor die künstliche Intelligenz. 71 Er spendete dem Robotics Institute fünfzig Millionen Dollar und wurde ein paar Jahre später sein Direktor. Als David Gupta interviewte, war es ein echtes Problem gewesen, ihn beim Thema Einstein zu halten. Alles, worüber er reden wollte, waren Roboter. David überflog mindestens hundert Suchergebnisse, bevor er hinreichend beruhigt war, dass es keine schrecklichen Neuigkeiten über Gupta gab. Aber ein
großer Trost war es nicht. Er konnte schon tot sein, und es hatte nur noch niemand seine Leiche gefunden. Während er auf den Bildschirm des Laptops starrte, kam Keith mit zwei Bechern Kaffee zum Tisch zurück. Er gab David einen. »Hier bitte«, sagte er. »Wollen Sie Milch oder Zucker haben?« David nahm den Becher dankbar entgegen. Seine grauen Zellen schrien förmlich nach Koffein. »Nein, nein, schwarz ist prima. Vielen Dank.« Keith reichte Monique den anderen Becher. »Hör mal, Mo, ich geh dann nach oben. Ich muss morgen früh um acht in. der Werkstatt sein.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihr hinüber, sodass sein Gesicht neben ihrem war. »Ist das in deinem Sinn?« Sie drückte seine Hand und lächelte. »Ja, das geht völlig in Ordnung. Hol dir eine Mütze Schlaf, Baby.« Sie küsste ihn auf die Wange und gab ihm einen Klaps auf den Po, als er abzog. David musterte ihr Gesicht, während er seinen Kaffee schluckte. Man konnte darin lesen wie in einem Buch. Sie hatte den Burschen offenbar gern. Und obwohl Monique zwanzig Jahre älter war als ihr Freund, sah sie in diesem Augenblick genauso jung aus wie er. Ihr Gesicht hatte sich seit dem letzten Mal, als David sie auf der Couch in ihrem winzigen Studentenapartment gesehen hatte, kaum verändert. Nach ein paar Sekunden bemerkte Monique, dass er sie 72 anstarrte. Verlegen hob David den Becher Kaffee an seine Lippen und trank die Hälfte in großen Schlucken, die ihm heiß die Kehle hinunterliefen. Dann stellte er ihn auf dem Tisch ab und wandte sich wieder dem Laptop zu. Es gab noch einen Namen, den er überprüfen musste. Er tippte Alastair MacDonald in die Suchmaschine. MacDonald war der Unglücksrabe unter Einsteins Assistenten. 1958 erlitt er einen Nervenzusammenbruch und musste das Institute for Advanced Study verlassen. Er ging nach Hause zu seiner Familie in Schottland, aber er wurde nie wieder richtig gesund; er fing an, sich unberechenbar zu benehmen, schrie Passanten auf den Straßen von Glasgow an. Ein paar Jahre später griff er einen Polizisten an, und seine Familie ließ ihn in eine psychiatrische Klinik einweisen. David besuchte ihn dort im Jahr 1995, und obwohl MacDonald ihm die Hand schüttelte und sich zu einem Gespräch hinsetzte, antwortete er nicht auf Davids Fragen über seine Arbeit mit Einstein. Er saß einfach da und starrte ins Leere. Eine lange Liste mit Ergebnissen erschien auf dem Bildschirm, aber bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass es sich um andere Personen handelte Alastair MacDonald, der schottische Volkssänger, Alastair MacDonald, der australische Politiker und so weiter. Keine Spur von Alastair MacDonald, dem Physiker.
Monique stand auf und schaute ihm über die Schulter. »Alastair MacDonald? Wer ist das?« »Noch einer von Einsteins Assistenten. Er ist quasi vom Erdboden verschwunden, und deshalb ist es schwer, irgendwelche Informationen über ihn zu finden.« Sie nickte. »Ach ja, du hast ihn in deinem Buch erwähnt. Er ist der Typ, der verrückt geworden ist, stimmt's?« David fühlte sich geschmeichelt. Sie hatte Auf den Schultern von Riesen ziemlich sorgfältig gelesen. Er ging zum Fensterbrett, griff sich Moniques Ausgabe seines Buchs und schlug 73 das Kapitel über MacDonald auf. Er fand den Namen der Anstalt, Holyrood Mental Institution, und tippte ihn direkt neben Alastair MacDonald in die Suchmaschine. Nur ein Ergebnis tauchte auf, aber das war noch nicht lange her. David klickte auf die Web-Adresse, und einen Augenblick später erschien eine Seite aus der Online-Version des Glasgow Herald auf dem Bildschirm. Es war ein kurzer Artikel, der am 3. Juni erschienen war, vor neun Tagen erst. U NTERSUCHUNG IN HOLYROOD Das schottische Executive Health Department kündigte heute an, dass es eine Untersuchung eines Unfalls mit tödlichem Ausgang in der Holyrood Mental Institution veranlassen würde. Einer der Insassen, der einundachtzigjährige Alastair MacDonald, wurde Montag früh tot im Hydrotherapieraum der Anstalt aufgefunden. Angehörige des Departments gaben bekannt, MacDonald sei in einem der Therapiebecken ertrunken, nachdem er sein Zimmer irgendwann im Lauf der Nacht verlassen habe. Das Department ist darum bemüht festzustellen, ob Lücken bei der Überwachung durch das Personal der Nachtschicht für den Unfall mitverantwortlich sind. David schauderte, als er auf den Monitor starrte. MacDonald ertrank in einem Therapiebecken, Bouchet schnitt sich die Pulsadern in einer Badewanne auf. Und jetzt erinnerte er sich, was Detective Rodriguez ihm im St. Luke's Hospital erzählt hatte: Die Polizei hatte Kleinman in seinem Badezimmer gefunden. Die drei alten Physiker waren nicht nur durch ihre Zusammenarbeit mit Einstein miteinander verbunden, sondern auch durch einen schrecklichen Modus Operandi. Dieselben Mistkerle, die Kleinman zu Tode gefoltert hatten, 73 hatten auch MacDonald und Bouchet getötet und ihre Ermordung als Unfall und Selbstmord getarnt. Aber das Motiv, was war das Motiv? Der einzige Hinweis waren Kleinmans letzte Worte: Einheitliche Feldtheorie. Zerstörer der Welten. Monique lehnte sich gegen David, damit sie die Kurznachricht über seine Schulter lesen konnte. Ihr Atem ging schneller, als sie begriff, was da stand. »Mist«, flüsterte sie. »Das ist sehr merkwürdig.«
David drehte sich um und sah ihr in die Augen. Ob sie bereit war oder nicht, es war Zeit, ihr seine Hypothese zu präsentieren. »Was weißt du über Einsteins Arbeiten zur Einheitlichen Feldtheorie?« »Was?« Sie machte einen Schritt zurück. »Einsteins Arbeiten? Was hat das ...« »Gedulde dich bitte noch einen Moment. Ich rede von seinen Versuchen, eine Feldgleichung abzuleiten, die Schwerkraft und Elektromagnetismus in sich vereinigt. Du weißt schon, seine Arbeit über fünfdimensionale Mannigfaltigkeiten, post-Riemannsche Geometrie. Wie vertraut bist du mit diesen Arbeiten?« Sie zuckte mit den Achseln. »Nicht sehr. Das Zeug ist nur von historischem Interesse. Es ist für die Stringtheorie nicht relevant.« David runzelte die Stirn. Er hatte sich - vielleicht unrealistische - Hoffnungen gemacht, dass Monique das Thema in- und auswendig kannte und ihm deshalb bei der Untersuchung der Möglichkeiten helfen könne. »Wie kannst du so was sagen? Es gibt eindeutig eine Verbindung zur Stringtheorie. Was ist mit Einsteins Zusammenarbeit mit Kaluza? Sie waren die Ersten, die die Existenz einer fünften Dimension postuliert haben. Und du hast dich während deiner ganzen beruflichen Laufbahn mit zusätzlichen Dimensionen beschäftigt! « 74 Sie schüttelte den Kopf. Der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag, war der einer leidgeprüften Professorin, die einem unwissenden Erstsemester die Grundlagen beibringt. »Einstein hat versucht, eine klassische Theorie zu entwickeln. Eine Theorie mit eindeutiger Ursache und Wirkung und ohne seltsame QuantenUngewissheiten. Aber die Stringtheorie leitet sich von der Quantenmechanik her. Es ist eine Quantentheorie, die die Schwerkraft einbezieht, und das unterscheidet sich gänzlich von dem, woran Einstein gearbeitet hat.« »Aber in seinen späteren Arbeiten ist er anders an das Problem herangegangen«, widersprach David. »Er hat versucht, die Quantenmechanik in eine allgemeinere Theorie zu integrieren. Die Quantentheorie wäre ein spezieller Fall in einem größeren klassischen Rahmen.« Monique tat das mit einer Handbewegung ab. »Ich weiß, ich weiß. Aber was ist am Ende dabei herausgekommen? Keine von seinen Lösungen hat standgehalten. Seine letzten Aufzeichnungen waren totaler Unsinn.« David wurde ärgerlich. Ihr Ton gefiel ihm nicht. Vielleicht war er kein mathematisches Genie wie Monique, aber diesmal wusste er, dass er recht hatte. »Einstein hat eine funktionierende Lösung entdeckt. Er hat sie nur nicht publiziert.« Sie legte den Kopf schief und schaute ihn fragend an. Ihre Mundwinkel zogen sich kaum merklich nach oben. »Ach, wirklich? Hat dir jemand ein lange verschollenes Manuskript geschickt?« »Nein, das hat Kleinman mir erzählt, bevor er starb. Er sagte: >Herr Doktor hatte Erfolg.< Das waren seine genauen Worte. Und deshalb wurde er heute Nacht umgebracht, deshalb wurden sie alle umgebracht.«
Monique hörte die Dringlichkeit in seiner Stimme und sie sah ihn ernst an. »Hör mal, David, ich verstehe, dass du außer dir bist, aber was du da andeutest, ist unmöglich. Auf kei 75 nen Fall hätte Einstein eine einheitliche Theorie formulieren können. Er verstand nur etwas von Schwerkraft und Elektromagnetismus. Die Physiker haben die schwache Atomkraft erst in den Sechzigerjahren verstanden, und die starke Kraft haben sie erst zehn Jahre später kapiert. Wie konnte Einstein dann eine Theorie von Allem entwickeln, wenn er zwei der vier fundamentalen Kräfte nicht verstand? Es ist so, als wollte man ein Puzzlespiel zusammensetzen und hätte nur die Hälfte der Teile.« David dachte einen Moment darüber nach. »Aber er müsste nicht alle Details kennen, um eine allgemeine Theorie zu konstruieren. Es ist eher ein Kreuzworträtsel als ein Puzzle. Solange du genug Anhaltspunkte hast, kannst du die Struktur rauskriegen und die Leerstellen später ausfüllen.« Monique war nicht überzeugt. An ihrem Gesichtsausdruck konnte David ablesen, dass sie die Idee für absurd hielt. »Nun ja, wenn er eine stichhaltige Theorie entwickelt hat, warum hat er sie dann nicht veröffentlicht? War das nicht schon immer sein Traum?« Er nickte. »Ja, das war er. Aber das geschah alles nur ein paar Jahre nach Hiroshima. Und obwohl Einstein nichts mit dem eigentlichen Bau der Atombombe zu tun hatte, war er sich im Klaren darüber, dass seine Gleichung die Richtung angegeben hatte. E = mc2, große Mengen Energie aus winzigen Teilchen Uran. Es war qualvoll für ihn. Er hat einmal gesagt: >Wenn ich gewusst hätte, dass sie das machen würden, wäre ich Schuster gewordene« »Ja, ja, das hab ich alles schon gehört.« »Na ja, dann denk mal einen Moment darüber nach. Falls Einstein tatsächlich eine Einheitliche Feldtheorie gefunden hätte, hätte er sich dann nicht Sorgen gemacht, dass die gleiche Sache noch mal passieren könnte? Er wusste, dass er sich über die Implikationen der Entdeckung klar werden müsste, über alle möglichen Konsequenzen. Und ich glaube, er 75 sah voraus, dass die Theorie für militärische Zwecke benutzt werden könnte. Vielleicht um etwas zu erschaffen, das noch schlimmer wäre als eine Atombombe.« »Was meinst du? Was könnte noch schlimmer sein?« David schüttelte den Kopf. Das war das schwächste Glied in seiner Argumentation. Er hatte keine Ahnung, was die Einheitliche Feldtheorie war, geschweige denn, was sie entfesseln konnte. »Das weiß ich nicht, aber es muss etwas Schreckliches gewesen sein. Es war schlimm genug, dass Einstein beschloss, die Theorie nicht zu veröffentlichen. Aber er konnte es auch nicht auf sich beruhen lassen. Er glaubte, dass die Physik eine Offenbarung von Gottes
Werk war. Er konnte die Theorie nicht einfach ausradieren und so tun, als hätte es sie nie gegeben. Also vertraute er sie seinen Assistenten an. Er gab wahrscheinlich jedem von ihnen ein kleines Stück der Theorie und ordnete an, es sicher aufzubewahren.« »Was sollte das denn nützen? Falls die Theorie so schrecklich war, konnten seine Assistenten sie auch nicht veröffentlichen.« »Er dachte an die Zukunft. Einstein war ein hoffnungsloser Optimist. Er glaubte wirklich, dass die Amerikaner und die Russen in ein paar Jahren ihre Waffen einmotten und eine Weltregierung bilden würden. Dann würde Krieg geächtet werden, und alle würden miteinander in Frieden leben. Und seine Assistenten müssten einfach bis zu diesem Tag warten, bevor sie die Theorie bekannt gäben.« Überraschenderweise begannen Davids Augen zu brennen. »Sie haben ihr ganzes Leben gewartet.« Monique schaute ihn voll Mitgefühl an, aber sie glaubte kein Wort von dem, was er gesagt hatte. »Das ist eine außergewöhnliche Hypothese, David. Und außergewöhnliche Behauptungen verlangen außergewöhnliche Beweise.« David wappnete sich. »Kleinman hat mir eine Reihe von 76 Zahlen genannt, als ich ihn heute Nacht im Krankenhaus besucht habe. Er sagte, sie seien der Schlüssel, den Einstein ihm gegeben habe, und er gäbe ihn mir.« »Na ja, das ist kaum als ...« »Nein, das ist nicht der Beweis. Der Beweis ist, was danach passiert ist.« Dann erzählte er ihr von seiner Vernehmung in dem FBI-Gebäude und dem Massaker, zu dem es daraufhin gekommen war. Zunächst starrte sie ihn nur ungläubig an, aber als er beschrieb, wie das Licht ausgegangen war und die Schüsse in den Gängen widerhallten, packte sie den Saum ihres Nachthemds, ohne sich dessen bewusst zu sein, und zerknüllte den Stoff in ihrer Hand. Als er mit seiner Geschichte fertig war, machte Monique einen genauso verstörten Eindruck wie er, als er aus der Tiefgarage auf die Liberty Street hinausgelaufen war. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Wer hat das Haus angegriffen? Waren es Terroristen?« »Ich weiß nicht, ich hab sie nicht gesehen. Ich hab nur die toten FBI-Agenten gesehen. Aber ich wette, es waren dieselben Leute, die Kleinman und Bouchet und MacDonald umgebracht haben.« »Woher weißt du das? Vielleicht hat das FBI sie umgebracht. Es hört sich so an, als wären Regierung und Terroristen hinter der gleichen Sache her.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das FBI hätte sie zur Befragung festgenommen. Meiner Ansicht nach ist es so abgelaufen, dass die Terroristen als Erste von der Einheitlichen Feldtheorie erfahren haben. Vielleicht haben sich Kleinman, Bouchet oder MacDonald irgendwie verplappert. Also waren die Terroristen hinter ihnen her und haben sie einzeln gefoltert, um weitere Informationen aus ihnen rauszuholen. Und als einer nach dem anderen als Leiche auftauchte, müs-
sen sich die amerikanischen Geheimdienste gedacht haben, dass irgendwas im Busch war. Deshalb haben sich die FBI77 Agenten so schnell im Krankenhaus blicken lassen. Sie haben Kleinman vermutlich überwacht.« Davids Stimme war lauter geworden, als er das Szenario skizzierte, und seine letzten Worte hallten regelrecht von den Küchenwänden wider. Er ertappte sich dabei und schaute Monique an, um festzustellen, wie sie reagierte. Ihr Gesichtsausdruck war nicht mehr ganz so skeptisch, aber sie war noch nicht überzeugt. Sie ließ seine Schulter los und starrte erneut auf ihren Laptop, der mittlerweile wieder seinen Bildschirmschoner zeigte, die Animation einer rotierenden CalabiYau-Mannigfaltigkeit. »Das ergibt keinen Sinn«, sagte sie. »Ich meine, du hast vielleicht recht, was die Morde betrifft, vielleicht waren die Terroristen hinter Kleinman und den anderen her, weil sie alle an irgendeinem geheimen Projekt mitgearbeitet haben. Aber ich kann nicht glauben, dass es sich bei dem Projekt um die Einheitliche Feldtheorie handelt, die Einsteins Assistenten seit fünfzig Jahren versteckt hielten. Das ist einfach zu unwahrscheinlich.« Er nickte wieder. Er konnte verstehen, dass sie Schwierigkeiten hatte, ihm zu glauben. Es ging nicht nur darum, dass sie der Quantenphysik klassischen Theorien gegenüber den Vorzug gab. Ihr gesamtes Lebenswerk stand hier zur Debatte. David sagte im Grunde nichts anderes, als dass alle Errungenschaften, die sie und ihre Stringtheoretiker-Kollegen in den letzten zwei Jahrzehnten erreicht hatten, all die mit großer Sorgfalt erzielten Fortschritte und hart erkämpften Einsichten und brillanten Neuformulierungen, irrelevant waren. Ein Wissenschaftler, der gestorben war, bevor die meisten von ihnen das Licht der Welt erblickt hatten, hatte sich bereits ihren wichtigsten Preis geschnappt, die Theorie von Allem. Und diese Möglichkeit war, um es gelinde zu formulieren, nicht leicht zu akzeptieren. Er wandte sich von Monique ab und überlegte, wie er sie überzeugen könnte. Er hatte eine außergewöhnliche Behaup 77 tung aufgestellt, aber keinen außergewöhnlichen Beweis. Er hatte nicht mal etwas in der Richtung eines gewöhnlichen Beweises. Als er an die leeren Küchenwände starrte, kam ihm allerdings ein neuer Gedanke. Es war kein angenehmer Gedanke; er war im Gegenteil derart abscheulich, dass ihm das Herz bis zum Halse schlug. Aber es war ein Beweis. »Schau dich mal um«, sagte er, während er sich wieder Monique zuwandte und auf Wände und Küchenschränke zeigte. »Schau dir diese Küche an. Hier ist nichts kaputtgemacht worden, keine Schmierereien. Nicht ein einziges Hakenkreuz.« Sie starrte ihn verständnislos an. »Ja? Na und?«
»Warum sollte ein Haufen von Skinheads aus New Jersey jedes Zimmer in diesem Haus verwüsten, die Küche aber in Ruhe lassen? Kommt dir das nicht ein bisschen merkwürdig vor?« »Was hat das denn mit deiner Geschichte ...« »Es gab keine Skinheads, Monique. Jemand hat dieses Haus auseinandergenommen, um nach Einsteins Notizbüchern zu suchen. Sie haben unter den Bodendielen nachgeschaut, Löcher im Garten gegraben und sich durch den Gips gebohrt, um die Zwischenräume zwischen den Wänden zu überprüfen. Und sie haben überall Hakenkreuze hingeschmiert, damit es nach Vandalismus aussieht. Die Küche haben sie nicht angerührt, weil sie erst lange nach Einsteins Tod an das Haus angebaut worden ist und er deshalb hier nichts versteckt haben konnte. Und deine Möbel haben sie aus demselben Grund nicht angerührt.« Monique hob die Hand an den Mund. Ihre langen schlanken Finger berührten ihre Lippen. »Falls ich raten müsste«, fuhr David fort, »würde ich sagen, dass FBI-Agenten das Haus durchsucht haben. Die Terroristen hätten sich nicht damit abgegeben zu warten, bis du zum Wochenende das Haus verlassen hast. Sie hätten dich 78 einfach im Schlaf umgebracht. Und ich würde auch darauf tippen, dass die Agenten keine Notizbücher gefunden haben. Dafür war Einstein zu schlau. Er hätte nichts Schriftliches hinterlassen.« Obwohl Moniques Hand die untere Hälfte ihres Gesichts bedeckte, konnte David beobachten, wie sich ihr Mienenspiel veränderte. Zuerst weiteten sich ihre Augen vor Angst und Überraschung, aber innerhalb von Sekunden verengten sie sich wieder, und eine tiefe senkrechte Linie erschien zwischen ihren Augenbrauen. Sie war fuchsteufelswild, absolut außer sich. Neonazi-Skinheads waren schlimm genug, aber Agenten der Bundesregierung, die Hakenkreuze an die Wände sprühten, um eine geheime Operation zu vertuschen? Das war eine völlig andere Liga. Schließlich nahm sie die Hand wieder herunter und packte David an der Schulter. »Was waren das für Zahlen, die Kleinman dir genannt hat?« Simon hatte keine Schwierigkeiten damit, auf die andere Seite des Hudson zu kommen. Es gab eine Kontrolle an der Einfahrt zum Lincoln Tunnel, wo ein Paar Polizisten ihm befahl, sein Fenster herunterzulassen, und ein Bombenspürhund die Schnauze in den Wagen steckte, aber Simon hatte sich im Waldorf umgezogen und jede Spur C-4 von seiner Haut abgeduscht, sodass der Schäferhund nur dümmlich das Lenkrad anstarrte. Simon zeigte den Officers seinen Ausweis - einen perfekt gefälschten Führerschein des Staates New York -, woraufhin sie ihn durchwinkten. Fünf Minuten später war er auf dem New Jersey Turnpike und raste über den Damm, der die dunklen, feuchten Meadowlands überspannte. Er konnte so schnell fahren, wie er wollte, weil der Highway um vier Uhr morgens fast leer war
und alle State Trooper die New Yorker Polizei an Brücken und Tunneln unterstützten. Also bretterte er mit hundert 79 vierzig Stundenkilometern am Newark Airport vorbei und schwenkte dann nach Westen in Richtung der wild wuchernden Exxon-Raffinerie ab. Es war tiefste Nacht. Geradeaus vor ihm erhoben sich die Destillationstürme der Raffinerie aus der Schwärze. Ein Gasfeuer strömte aus einem der Fackelrohre, aber die Flammen waren dünn und flackerten so schwach wie eine Zündflamme. Die Straße schien dunkler zu werden, als Simon an dem Labyrinth aus Röhren und Petroleumtanks vorbeiraste, und ein paar Sekunden lang kam es ihm so vor, als führe er unter Wasser. Auf dem leeren Bildschirm vor seinem geistigen Auge sah er zwei Gesichter, die Gesichter seiner Kinder, aber es war nicht das tröstliche Bild, das er auf seinem Handy gespeichert hatte. Auf diesem Bild lächelten Sergej und Larissa nicht. Sergej lag mit geschlossenen Augen in einem schlammigen Graben, seine Arme von langen schwarzen Brandwunden gestreift und seine Haare mit Blut verkrustet. Aber Larissas Augen waren weit aufgerissen, als ob sie immer noch am Leben wäre, als ob sie immer noch voller Entsetzen den Feuerball anstarren würde, der sie zu verschlingen drohte. Simon trat aufs Gas, und der Mercedes machte einen Satz nach vorn. Kurze Zeit später erreichte er die Ausfahrt 9 und brauste weiter auf der Route 1 nach Süden. Er würde in fünfzehn Minuten in Princeton sein. 4 0 2 6 3 6 7 9 5 6 4 4 7 8 0 0 J David schrieb die Zahlen mit Bleistift auf ein Stück Papier. Er reichte es Monique und verspürte sofort den fast unwiderstehlichen Drang, ihr das Papier wieder abzunehmen und es in kleine Stücke zu zerreißen. Er hatte Angst vor diesen sechzehn Ziffern. Er wollte sie vernichten, sie vergraben, sie für alle Zeiten auslöschen. Aber er wusste, dass er das nicht konnte. Sie waren alles, was er hatte. 79 Monique hielt das Stück Papier in beiden Händen und betrachtete die Zahlen. Ihre Augen flogen von rechts nach links, hielten Ausschau nach Mustern, Progressionen, geometrischen Sequenzen. Auf ihrem Gesicht fand sich der gleiche konzentrierte Blick, den David gesehen hatte, als sie ihr Referat über die Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten auf der Konferenz zur Stringtheorie in Princeton gehalten hatte. Wie das Gesicht der Göttin Athene, wenn sie sich auf die Schlacht vorbereitete. »Die Verteilung sieht nicht-zufällig aus«, bemerkte sie. »Es gibt drei Nullen, drei Vieren und drei Sechsen, aber nur ein einziges Paar, die beiden Siebener. Bei einer numerischen Sequenz dieser Größenordnung ist es unwahrscheinlich, mehr Drillinge als Pärchen zu haben.« »Könnte es ein Schlüssel für die Dekodierung einer Computerdatei sein? Kleinman hat das Wort Schlüssel benutzt, also wäre es nicht unlogisch.«
Sie hielt den Blick auf die Zahlen gerichtet. »Die Größe ist ungefähr richtig. Sechzehn Ziffern, und jede davon kann in vier Stück digitalen Code umgewandelt werden. Das würde zusammen vierundsechzig Stück ergeben, und das ist die Standardlänge für einen Verschlüsselungscode. Aber damit die Technik funktioniert, muss die Sequenz zufallsgeneriert sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Mit einer nicht-zufälligen Sequenz könnte man den Code zu leicht knacken. Warum sollte sich Kleinman für einen derart mangelhaften Schlüssel entscheiden?« »Na ja, vielleicht ist es eine andere Art Schlüssel. Vielleicht ist es eher eine Art Erkennungs-Etikett. Etwas, das uns hilft, die Datei zu finden anstatt sie zu entschlüsseln.« Monique antwortete nicht. Stattdessen hielt sie das Stück Papier ein wenig näher an ihr Gesicht, als hätte sie Schwierigkeiten, die Zahlen zu entziffern. »Du hast diese Sequenz merkwürdig hingeschrieben.« 80 »Was meinst du damit?« Sie drehte das Blatt Papier um, damit er es sehen konnte. »Die Zahlen sind ein bisschen zusammengezogen. Nach jeder zweiten Ziffer sind die Zwischenräume ein wenig breiter. Außer am Ende, wo die Abstände gleichmäßig sind.« Er nahm ihr das Blatt ab. Sie hatte recht, die ersten zwölf Ziffern waren in Paaren zu zwei Ziffern angeordnet. Er hatte sie nicht bewusst auf diese Weise geschrieben, aber so sah es aus. »Hmm«, grunzte er. »Das ist wirklich merkwürdig.« »Hat Kleinman diese Gruppierung vorgenommen, als er dir die Sequenz nannte?« »Nein, nicht genau.« Er schloss einen Moment lang die Augen und sah Professor Kleinman wieder vor sich, wie er sich in seinem Krankenhausbett aufrichtete und seine letzten Worte hervorkeuchte. »Seine Lunge versagte, und deshalb kamen die Zahlen stoßweise heraus, immer zwei auf einmal. Und so sehe ich die Zahlenfolge auch jetzt in meiner Erinnerung. Ein halbes Dutzend zweistellige Zahlen mit einer vierstelligen Zahl am Ende.« »Aber ist es möglich, dass hinter dieser Gruppierung eine Absicht steckte? Dass Kleinman wollte, dass du die Zahlen so arrangierst?« »Ja, ich denke schon. Aber ändert das etwas an der Sache?« Monique griff sich das Blatt und legte es auf den Küchentisch. Dann nahm sie den Bleistift und machte Striche zwischen den zweistelligen Zahlen. 4 0 / 2 6 / 3 6 / 7 9 / 5 6 / 4 4 / 7 8 0 0 »Wenn man die Zahlenfolge so gruppiert, wirkt sie sogar noch weniger zufällig«, sagte sie. »Vergiss zunächst mal die vierstellige Zahl und schau dir nur die zweistelligen an. Fünf von den sechs liegen zwischen fünfundzwanzig und sechzig. 80
Nur die Neunundsiebzig fällt nicht in diesen Bereich. Das ist eine relativ dichte Gruppierung.« David starrte die Zahlen an. Auf ihn wirkten sie immer noch ziemlich zufällig. »Ich weiß nicht. Es sieht so aus, als würdest du ganz schön manipulieren, um ein Muster zu erzeugen.« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß, was ich tue, David. Ich hab eine Menge Zeit damit verbracht, Datenpunkte von teilchenphysikalischen Experimenten zu studieren, und ich erkenne ein Muster, wenn ich eins sehe. Aus irgendeinem Grund sind die Zahlen in einem schmalen Streifen zusammengedrängt.« Er starrte die Zahlenfolge wieder an und versuchte sie aus Moniques Perspektive zu sehen. Okay, dachte er, die Zahlen scheinen sich unterhalb von sechzig zu bewegen. Aber konnte das nicht einfach eine zufällige Anordnung sein? In Davids Augen sah die Sequenz genauso zufällig aus wie die Gewinnzahlen für das New York Lotto, bei dem er von Zeit zu Zeit trotz der erbärmlich schlechten Chancen mitspielte. Die Lottozahlen scharten sich auch immer unterhalb von sechzig, aber das lag nur daran, dass neunundfünfzig die höchste Zahl war, die man wählen konnte. Und dann sah er es sonnenklar. »Minuten und Sekunden«, sagte er. Monique schien ihn nicht zu hören. Sie blieb weiterhin über den Küchentisch gebeugt und studierte die Zahlenfolge. »Du siehst Minuten und Sekunden vor dir«, sagte er, diesmal etwas lauter. »Deshalb liegen die Zahlen unter sechzig.« Sie schaute zu ihm hoch. »Was? Willst du damit sagen, dass es sich hier um eine Art Zeitangabe handelt?« »Nein, nicht Zeit. Das sind räumliche Dimensionen.« David schaute noch einmal auf die Zahlenfolge, und jetzt öffne 81 te sich ihm ihre Bedeutung wie eine Blume, bei der alle sechs Blütenblätter perfekt angeordnet sind. »Es sind geografische Koordinaten, Breiten- und Längenangaben. Die erste zweistellige Zahl ist das Winkelmaß, die zweite sind Bogenminuten, und die dritte sind Bogensekunden.« Monique starrte ihn einen Moment lang an, dann wandte sie sich wieder den Zahlen zu. Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, eins der bezauberndsten Lächeln, die David je gesehen hatte. »Okay, Dr. Swift«, sagte sie. »Es ist einen Versuch wert.« Sie ging zu ihrem Laptop. »Ich gebe die Koordinaten in Google Earth ein. Dann können wir uns die Stelle mal ansehen.« Sie fand das Programm und gab die Zahlen ein. »Ich nehme an, bei der Breite handelt es sich um vierzig Grad Nord, nicht Süd. Andernfalls wärst du irgendwo im Pazifik. Und was die Länge betrifft, vermute ich, es ist neunundsiebzig Grad West, nicht Ost.« David stand neben ihr, damit er den Bildschirm des Laptops sehen konnte. Das erste Bild, das auftauchte, war ein unscharfes Satellitenfoto. Oben befand sich ein
großes Gebäude, das wie ein H geformt war, und unten war eine Reihe von kleineren Gebäuden in der Form von Ls und Pluszeichen. Ihre Ausmaße waren zu groß für Häuser, aber sie waren nicht hoch genug, um Bürohochhäuser sein zu können. Zudem waren sie nicht in einem Straßennetz angeordnet oder neben einem Highway angesiedelt; stattdessen lagen die meisten Gebäude an) der Peripherie eines langen rechteckigen Hofs, der kreuz und quer von Gehwegen durchzogen war. Ein Campus, dachte David. Es war ein Universitätsgelände. »Wo liegt dieser Komplex?« »Moment mal, ich rufe das Straßenverzeichnis auf.« Monique klickte auf ein Symbol, das alle Gebäude und Straßen mit Schildchen versah. »Es ist in Pittsburgh. Die Koordinaten kreuzen sich genau auf diesem Gebäude hier.« Sie zeigte auf 82 einen Punkt auf dem Bildschirm und kniff die Augen zusammen, um das Schild zu lesen. »Die Adresse lautet 5000 Forbes Avenue. Newell-Simon Hall.« David erinnerte sich an den Namen. Er hatte das Gebäude schon einmal betreten. »Das ist in der Carnegie Mellon. Das Robotics Institute. Wo Amil Gupta arbeitet.« Monique tippte noch auf ein paar Tasten und fand die Website des Instituts. Sie klickte auf die Seite, die eine Liste der Mitglieder des Lehrkörpers enthielt. »Sieh dir mal die Telefonnummern an«, sagte sie und warf einen Blick über die Schulter auf David. »Jeder hat einen vierstelligen Nebenanschluss, der mit achtundsiebzig anfängt.« »Welchen Anschluss hat Gupta?« »Seine Privatnummer ist sieben-acht-drei-zwo. Aber er ist Institutsdirektor, stimmt's?« »Ja, seit zehn Jahren.« »Sieh dir das an. Die Nebenstelle für das Büro des Direktors ist sieben-acht-nullnull.« Sie strahlte triumphierend. »Das sind die letzten vier Ziffern in Kleinmans Sequenz.« Sie war so begeistert von ihrem gemeinsamen Erfolg, dass sie mit der Faust in die Luft boxte. Aber David starrte nur auf die Namensliste auf dem Bildschirm des Laptops. »Irgendwas ist da faul«, sagte er. »Das kann nicht die richtige Nachricht sein.« »Wovon redest du da? Es ergibt perfekten Sinn. Falls Einstein tatsächlich eine einheitliche Theorie entwickelt hat, hat er wahrscheinlich auch Gupta davon erzählt. Kleinman wollte dir sagen, dass du zu Gupta gehen sollst, um die Theorie zu bewachen. Das ist doch ganz offensichtlich!« »Das ist ja das Problem. Die Nachricht ist zu offensichtlich. Jeder weiß, dass Gupta mit Einstein zusammengearbeitet hat. Das FBI weiß es, die Terroristen wissen es, es gibt ein ganzes verdammtes Kapitel in meinem Buch darüber. Warum sollte sich Kleinman also die ganze Mühe machen und die 82
sen komplizierten Code entwickeln, wenn das alles ist, was er sagen wollte?« Sie zuckte mit den Achseln. »Tja, mein Lieber, da fragst du die Falsche. Ich habe keine Ahnung, was Kleinman durch den Kopf gegangen ist. Vielleicht war das der beste Plan, der ihm einfiel.« »Nein, das glaube ich nicht. Kleinman war nicht blöd.« Er schnappte sich das Blatt Papier mit den sechzehn Ziffern. »In dieser Zahlenfolge muss noch irgendwas versteckt sein. Etwas, das uns noch nicht aufgefallen ist.« »Nun ja, es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden. Wir müssen mit Gupta reden.« »Wir können ihn nicht anrufen. Ich bin sicher, dass die Typen vom FBI mittlerweile sein Telefon angezapft haben.« Monique schaltete den Laptop aus und klappte ihn zu. »Dann müssen wir nach Pittsburgh fahren.« Sie nahm den Laptop mit zur Küchentheke und verstaute ihn in einer ledernen Tragetasche. Dann holte sie sich eine kleine Reisetasche und begann verschiedene Dinge aus den Küchenschränken und -Schubladen einzupacken: ein Batterieladegerät, ein kleiner Schirm, ein iPod, eine Schachtel mit Keksen. David sah ihr beunruhigt zu. »Bist du verrückt? Wir können nicht einfach bei Gupta zu Hause auftauchen! Das FBI lässt wahrscheinlich das Institut überwachen. Wenn sie ihn nicht schon nach Guantänamo verschleppt haben.« Oder die Terroristen ihn noch nicht zu Tode gefoltert haben, dachte er. »Wir werden so oder so nicht in seine Nähe kommen .« Monique zog den Reißverschluss an der Reisetasche zu. »Wir sind zwei intelligente Leute, David. Wir werden uns schon eine Möglichkeit ausdenken.« Mit der Reisetasche in einer und dem Laptop in der anderen Hand marschierte sie aus der Küche. David folgte ihr ins Wohnzimmer. »Warte doch einen 83 Moment! Das können wir nicht machen! Die Polizei macht bereits Jagd auf mich! Es ist ein Wunder, dass ich überhaupt aus New York rausgekommen bin.« Sie blieb vor dem verwüsteten Kamin stehen und setzte die Taschen auf dem Boden ab. Dann nahm sie den Revolver vom Kaminsims und ließ die Trommel seitlich ausschwingen. Die senkrechte Falte war wieder zwischen ihren Augenbrauen erschienen, und ihr Mund war ein schmaler, grimmiger Strich. »Schau mal dort hoch«, sagte sie und zeigte mit der Waffe auf die zwei roten Hakenkreuze an der Decke und auf die Wörter N IGGA GO HOME. »Diese Arschlöcher sind in mein Haus eingebrochen - in mein Haus! - und haben diese Scheiße an meine Wände geschrieben. Glaubst du, ich lasse ihnen das durchgehen?« Sie nahm die Patronen vom Kaminsims und führte sie eine nach der anderen in die Trommel ein. »Nein, ich werde dieser Sache auf den Grund gehen. Ich werde rauskriegen, was hier vor sich geht, und dann werde ich dafür sorgen, dass diese Drecksäcke bezahlen.«
David konzentrierte sich auf den Revolver in Moniques Hand. Ihm gefiel nicht, wie diese Sache sich entwickelte. »Diese Waffe wird dir nicht viel nützen. Sie haben Hunderte von Agenten und Tausende von Cops. Du kannst dir den Weg nicht einfach freischießen.« »Keine Sorge, ich habe nicht vor, irgendwelche Schießereien anzufangen. Wir werden raffiniert sein und nicht blöd. Niemand weiß, dass du bei mir bist, also wird das FBI nicht nach meinem Wagen Ausschau halten. Du musst einfach dein Gesicht bedeckt halten, dann haben wir keine Probleme.« Sie schob die letzte Patrone ein und klappte die Trommel wieder zu. »Jetzt gehe ich nach oben und ziehe mich an. Soll ich dir Reiths Rasierzeug mitbringen?« Er nickte. Er konnte ihr nicht mehr widersprechen. Sie war wie eine Naturgewalt, unnachgiebig und nicht aufzu 84 halten, sie verbog die ganze Struktur der Raumzeit um sich herum. »Was wirst du Keith erzählen?« Monique schnappte sich beide Taschen mit einer Hand und nahm den Revolver in die andere. »Ich werde ihm eine Nachricht hinterlassen. Ich sage ihm, wir hätten zu einer Konferenz fahren müssen oder so.« Sie ging in die Eingangsdiele und stieg die Treppe hoch. »Er wird nicht allzu sauer sein deswegen. Keith hat noch drei Freundinnen, mit denen er seine Zeit verbringen kann. Der Junge hat ein erstaunliches Durchhaltevermögen.« Er nickte wieder. Also war ihre Beziehung zu Keith nicht so ernst. David stellte zu seiner Überraschung fest, dass er diese Tatsache ganz erfreulich fand. Simon raste nur noch eine halbe Meile von Einsteins Haus entfernt über die Alexander Road, als er das kreisende Blinklicht in seinem Rückspiegel sah. Es war ein blau-weißer Streifenwagen vom Princeton Borough Police Department. »Yob tovyu mat!«, fluchte er und schlug mit der Faust gegen das Lenkrad. Wenn das nur eine Minute früher passiert wäre, als er auf der Route 1 war, hätte er einfach Gas gegeben -sein Mercedes war ein SLK 32 AMG, der problemlos jeden in Amerika produzierten Wagen hinter sich gelassen hätte -, aber jetzt war er auf innerörtlichen Straßen, und die Gefahr war zu groß, dass er in eine Falle geriet. Er hatte keine andere Wahl, als an den Straßenrand zu fahren. Er hielt am Seitenstreifen eines verlassenen Straßenstücks, ungefähr fünfzig Meter vom Eingang eines Parks entfernt. Es gab keine Häuser oder Geschäfte in der Nähe, und auf der Straße herrschte kein Verkehr. Der Streifenwagen hielt rund zehn Meter hinter ihm, ließ die Scheinwerfer an und blieb einfach mehrere Sekunden stehen, die ihn nachgerade wahnsinnig machten. Der Fahrer des Wagens gab vermutlich gerade über Funk eine Beschreibung von Simons Fahrzeug 84 an seine Zentrale durch. Schließlich stieg ein kräftiger Mann in einer blauen Uniform aus dem Polizeiauto. Simon verstellte seinen linken Außenspiegel, um
den Streifenpolizisten genauer in Augenschein zu nehmen. Ein junger Bursche von höchstens fünfundzwanzig Jahren. Muskulöse Arme und Schultern, aber ein bisschen pummelig um die Taille. Wahrscheinlich verbrachte er den größten Teil seiner Schicht damit, im Wagen zu sitzen und darauf zu warten, dass betrunkene Studenten zu schnell an ihm vorbeifuhren. Simon ließ sein Seitenfenster hinuntergleiten, als der Officer sich dem Mercedes näherte. Der junge Mann stützte die Hände auf der Fahrertür ab und beugte sich zu Simon herab. »Mister, haben Sie eine Ahnung, wie schnell Sie gefahren sind?« »Einhundertdreiundvierzig Kilometer pro Stunde«, antwortete Simon. »Mehr oder weniger.« Der Officer runzelte die Stirn. »Das hier ist kein Witz. Sie könnten jemand getötet haben. Führerschein und Fahrzeugschein, bitte.« »Gerne.« Simon griff in sein Jackett. Er hatte einen gefälschten Führerschein, aber keinen Kraftfahrzeugschein für den Mercedes, den er vor zwei Tagen bei einem Autohändler in Connecticut gestohlen hatte. Anstatt also nach seiner Brieftasche zu greifen, zog er seine Uzi und schoss dem Polizisten in die Stirn. Der Mann taumelte nach hinten. Simon ließ den Mercedes an und brauste los. In wenigen Minuten würde ein vorbeifahrender Verkehrsteilnehmer die Leiche bemerken, und binnen einer halben Stunde würde die Polizei von Princeton nach seinem Fahrzeug Ausschau halten. Aber das war in Ordnung. Er hatte nicht vor, sehr lange in der Stadt zu bleiben. Keith träumte von Moniques Corvette. Sie hatte den Wagen in die Werkstatt gebracht und ihm gesagt, der Motor liefe 85 heiß, aber als er die Kühlerhaube anhob, stellte er fest, dass der Motor fehlte. Dieser Typ namens David Swift lag zusammengerollt dort, wo der Motorblock hätte sein sollen. Keith drehte sich zu Monique um, weil er sie fragen wollte, was los sei, aber sie versteckte sich schelmisch hinter ihm. Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. Das war echt, kein Traum. Eine Hand packte seine Schulter und drehte ihn sanft auf den Rücken. Das muss Monique sein, die wieder ins Bett kam, dachte er. Wollte wahrscheinlich ein bisschen an ihm herumknabbern. Sie war gut im Bett, konnte aber nicht genug bekommen. »Ach, Mo«, stöhnte er mit geschlossenen Augen. »Ich hab dir doch gesagt, dass ich früh aufstehen muss.« »Du bist nicht David Swift.« Die fremde Stimme machte ihn im Nu hellwach. Er schlug die Augen auf und sah die Silhouette eines kahlen Kopfs mit einem dicken Hals vor sich. Die Hand des Mannes war zu Keiths Kehle gewandert und drückte jetzt fest zu, presste ihn ins Bett. »Wo sind sie?«, fragte der Mann. »Wo sind sie hingegangen?« Die Finger legten sich um seine Luftröhre. Er lag da, unbeweglich, zu erschrocken, um Widerstand zu leisten. »Unten!«, krächzte er. »Sie sind unten!« »Nein, sind sie nicht.«
Keith hörte ein Rascheln in der Dunkelheit und sah etwas kurz aufblitzen. Es war eine lange gerade Klinge, die das bläuliche Licht der Morgendämmerung widerspiegelte, das durch das Schlafzimmerfenster hereinfiel. »Nun gut, mein Freund«, sagte der Mann. »Wir werden uns kurz unterhalten.« SIEBEN
Karen maß einen Vernehmungsraum der FBI-Niederlassung am Federal Plaza mit ihren Schritten aus. Zuerst ging sie an der Stahltür vorbei, die von außen verschlossen war. Dann passierte sie einen Spiegel, der fast die gesamte Länge einer Wand einnahm, höchstwahrscheinlich ein venezianischer Spiegel, der es Agenten gestattete, die Vernehmungen von der anderen Seite aus zu beobachten. Schließlich marschierte sie an einem blau-goldenen Schild mit dem Bild eines Adlers und den Worten FEDERAL B UREAU OF I NVESTIGATION PROTECTING A MERICA vorbei. Mehrere Stühle standen um einen Metalltisch in der Mitte des Raums herum, aber Karen war zu aufgeregt, um sich hinzusetzen. Stattdessen zog sie mindestens fünfzigmal ihre Kreise durch den Raum, leicht benommen von Angst, Empörung und Müdigkeit. Die Agenten hatten ihr Jonah weggenommen. Um fünf Uhr hörte sie Schritte in dem Flur vor der verschlossenen Tür. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss, und einen Augenblick später trat der Agent, der sie festgenommen hatte, in den Raum. Er war hochgewachsen, blond und muskelbepackt und trug immer noch das hässliche graue Jackett, das von dem Schulterholster ausgebeult wurde. Karen erinnerte sich an seinen Namen, als sie auf ihn zustürmte: Agent Brock. Der Mistkerl hatte einem siebenjährigen Jungen Handschellen angelegt. »Wo ist mein Sohn?«, wollte sie wissen. »Ich will sofort meinen Sohn sehen!« Brock streckte die Hände aus, als wolle er sie auffangen. Er hatte kalte blaue Augen. »Hey, hey, immer mit der Ruhe! 86 Ihrem Sohn geht's gut. Er schläft in einem der Zimmer vorn im Flur.« Karen glaubte ihm nicht. Jonah hatte geschrien wie verrückt, als die Agenten ihn aus ihren Armen gerissen hatten. »Bringen Sie mich dorthin! Ich muss ihn jetzt sehen!« Sie versuchte, um Brock herumzugehen, um zur Tür zu gelangen, aber der Agent trat ihr in den Weg. »Hey, ich hab gesagt, immer mit der Ruhe! Sie können Ihren Sohn gleich sehen. Ich muss Ihnen zuerst ein paar Fragen stellen.« »Hören Sie mal, ich bin Anwältin, okay? Ich praktiziere vielleicht kein Strafrecht, aber ich weiß, dass das hier illegal ist. Sie können uns hier nicht festhalten, ohne Anklage zu erheben.« Brock schnitt eine Grimasse. Von Anwälten hielt er offenbar nichts. »Wir können Anklage gegen Sie erheben, wenn Sie das wollen. Was halten Sie von strafbarer Vernachlässigung eines Kindes? Klingt das legal genug für Sie?« »Was? Wovon reden Sie da?«
»Ich rede von der Drogensucht Ihres Exmannes. Und wie er sie finanziert hat, indem er Kokain an seine Studenten an der Columbia verkaufte. Er hat meistens im Central Park gedealt, direkt nachdem er Ihren Sohn von der Schule abgeholt hatte.« Karen starrte ihn nur an. Das war das Lächerlichste, was sie je gehört hatte. »Das ist irrsinnig! Das Schlimmste, was sie im Park tun, ist mit dem Super Soaker spielen!« »Wir haben Überwachungsvideos, auf denen die Transaktionen zu sehen sind. Unseren Quellen zufolge betreibt Swift dieses Geschäft seit mehreren Jahren.« »Herr im Himmel! Ich hätte davon erfahren, wenn David im Park mit Rauschgift dealt!« Brock zuckte mit den Achseln. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Eine Sache steht jedenfalls fest: Das Familiengericht wird sicher wissen wollen, ob Sie auch darin verwickelt waren. 87 Sie könnten dann die Entscheidung treffen, Ihnen das Sorgerecht für Ihren Sohn zu entziehen, bis die Angelegenheit geklärt ist.« Karen schüttelte den Kopf. Brock log. Als Unternehmensanwältin verdiente sie ihre Brötchen damit, Fusionsvereinbarungen zu treffen, und sie konnte normalerweise erkennen, wenn die Gegenseite einen Bluff versuchte. »Okay, beweisen Sie es. Zeigen Sie mir die Überwachungsvideos.« Brock trat einen Schritt auf sie zu. »Keine Sorge, Sie werden sie heute Abend in den Nachrichten sehen. Sie müssen nämlich wissen, dass Ihr Exmann sein Geschäft ausweiten wollte und deshalb anfing, mit den Latin Kings zu arbeiten. Ich nehme an, Sie haben von ihnen gehört?« Sie schaute ihn entsetzt an. »Wollen Sie sagen, dass David sich mit einer Gangsterbande angefreundet hat?« »Die Latin Kings kontrollieren den Drogenhandel in Upper Manhattan. Außerdem haben sie in der letzten Nacht meine Kollegen umgebracht. Sie haben drei Agenten erschossen, die als verdeckte Ermittler Drogen von Swift kaufen wollten, und drei weitere, die zum Überwachungsteam gehörten.« Karen gab ein angewidertes Schnauben von sich. Die Geschichte war absurd. Jeder, der David kannte, würde das sofort erkennen. Aber warum dachte sich das FBI diesen Blödsinn aus? Was versuchten sie zu verstecken? Sie wich vor Brock zurück, ging zu dem Metalltisch und setzte sich auf einen der Stühle. »Okay, Agent Brock, im Moment verlasse ich mich auf Ihr Wort. Was möchten Sie von mir wissen?« Er zog ein Notizbuch und einen Stift aus seinem Jackett. »Wir brauchen Informationen über die Kontaktpersonen Ihres Exmannes. Besonders über alle, die in New Jersey wohnen.« »New Jersey? Glauben Sie, David hält sich dort auf?« Brock machte ein finsteres Gesicht. »Lassen Sie mich die
88 Fragen stellen, okay? Wir haben schon die Namen seiner Kollegen an der Columbia. Jetzt arbeiten wir an einer Liste mit Freunden, Bekannten, etwas in der Art.« »Ich bin in dem Punkt nicht der beste Ansprechpartner. David und ich sind seit zwei Jahren geschieden.« »Nein, Sie sind eindeutig die beste Ansprechpartnerin. Sehen Sie, Swift ist auf der Flucht, und wahrscheinlich hält er jetzt nach einem Freund Ausschau, der ihm helfen könnte. Einer sehr engen Freundin beispielsweise, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er legte den Kopf schief und warf ihr einen wissenden Blick zu. »Hat er irgendwelche Freundinnen dieser Art in New Jersey?« Karen schüttelte erneut den Kopf. Wie erbärmlich, dachte sie. Brock versuchte, sich ihre Eifersucht zunutze zu machen. »Ich habe keine Ahnung.« »Ach, kommen Sie schon. Wissen Sie nichts über sein Liebesleben?« »Warum sollte mich das was angehen? Wir sind nicht mehr verheiratet.« »Na ja, was ist denn mit der Zeit vor Ihrer Scheidung? Hat David nie mit anderen Frauen rumgemacht? Irgendwelche späten Trips über die George Washington Bridge unternommen?« Sie sah ihm unverwandt in die Augen. »Nein.« Brock stand vor Karens Stuhl. Er stützte sich mit einer Hand an der Tischkante ab und beugte sich vor, sodass sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. »Sie sind nicht sehr hilfsbereit, Karen. Wollen Sie Ihren Sohn nicht sehen?« Ihr Magen verkrampfte sich. »Wollen Sie mir drohen?« »Nein, ganz und gar nicht. Ich möchte Sie nur an das Familiengericht erinnern. Wenn wir denen keinen günstigen Bericht erstatten, geben sie Ihren Sohn vielleicht zu Pflegeeltern. Sie wollen ihn doch nicht verlieren, nicht wahr?« 88 Brocks Gesicht war so nahe, dass Karen sein Mundwasser riechen konnte, ein widerlicher Pfefferminzduft. Einen Moment lang dachte sie, sie müsste sich übergeben. Aber stattdessen schob sie ihren Stuhl zurück und stand auf. Sie streifte Brock, als sie an ihm vorbei auf den Spiegel am anderen Ende des Raums zuging. Sie versuchte durch das Glas zu spähen, aber alles, was sie sehen konnte, war ihr eigenes Spiegelbild. »Okay, ihr Idioten«, sagte sie an den Spiegel gerichtet. »Habt ihr mittlerweile rausgekriegt, mit wem ihr es hier zu tun habt?« Im Spiegel sah sie Brock auf sich zukommen. »Niemand ist da, Karen. Nur Sie und ich.« Sie richtete den Zeigefinger auf das Glas. »Amory Van Cleve. Klingelt es bei Ihnen, wenn Sie den Namen hören? Er kennt die Hälfte der Anwälte im Justizministerium, und er wird nicht erfreut sein, wenn ich ihm sage, was ihr hier mit mir anstellt.«
Brock war jetzt nur noch ein kurzes Stück hinter ihr. »Okay, das reicht. Sie setzen sich besser ...« »Schaffen Sie mir dieses Arschloch vom Hals!«, rief Karen und zeigte auf Brock, wobei sie weiter in den Spiegel schaute. »Falls er immer noch hier ist, wenn ich bis zehn gezählt habe, lässt Amory die Fetzen fliegen. Hört ihr mich? Er wird mit seinen Freunden in Washington reden und dafür sorgen, dass ihr alle in den Knast kommt!« Ungefähr fünf Sekunden lang war es still in dem Raum. Sogar Brock hielt die Klappe, während er darauf wartete, was passieren würde. Dann hörte Karen wieder Schritte auf dem Flur. Die Tür ging auf und eine ältere Frau in einer weißen Bluse und mit einer Lesebrille betrat den Raum. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Süße?«, fragte sie in schleppendem Tonfall. »Ich hörte jemand rufen, und ich dachte mir ...« Karen wirbelte herum. »Fangen Sie gar nicht erst an!«, schrie sie. »Bringen Sie mich nur zu meinem Sohn!« 89 David wurde in dem niedrigen Beifahrersitz von Moniques Corvette wach. Halb benommen und desorientiert schaute er aus der Windschutzscheibe. Der Wagen fuhr auf einem Interstate Highway durch eine üppige Hügellandschaft, die im Morgenlicht grün leuchtete. Eine Herde brauner Kühe stand auf einer weiten, abfallenden Wiese neben einer großen roten Scheune und einem frisch gepflügten Acker. Es war ein wunderschöner Anblick, und einen langen Moment starrte David nur auf das ruhige, unbewegliche Vieh. Dann spürte er einen dumpfen Schmerz unten im Rücken, der zweifellos von der ganzen Rennerei herrührte, die er in der vergangenen Nacht absolviert hatte, und ihm fiel wieder ein, warum er durch die Landschaft brauste. Er veränderte seine Position in dem unbequemen Schalensitz. Monique schaute hinaus auf die Straße, eine Hand am Lenkrad, die andere wühlte in einer Schachtel Keks mit Vanillecreme. Bevor sie das Haus verlassen hatte, hatte sie eine weiße Bluse und eine Khaki-Shorts angezogen, und jetzt trug sie außerdem ein Paar Ohrhörer von ihrem iPod, der in ihrem Schoß lag. Ihr Kopf bewegte sich ganz leicht im Takt der Musik. Sie merkte zunächst nicht, dass David wach war, und ein paar Sekunden lang beobachtete er sie aus den Augenwinkeln, starrte auf ihren herrlichen Hals und die langen, kakaofarbenen Oberschenkel. Nach einer Weile kam er sich allerdings wie ein Voyeur vor, und deshalb gähnte er, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er streckte die Arme aus, soweit ihm dies in dem beengten Innenraum der Corvette möglich war. Monique wandte sich ihm zu. »Na endlich!«, sagte sie. »Du bist drei Stunden lang weg gewesen.« Sie zog sich die Ohrhörer vom Kopf, und David hörte einen lärmenden Fetzen Rap-Musik, bevor sie den iPod ausstellte. Dann bot sie ihm die Schachtel mit den Keksen an. »Möchtest du ein bisschen frühstücken?« 89
»Ja, klar, vielen Dank.« Sobald David die Schachtel in der Hand hatte, merkte er, wie heißhungrig er war. Er stopfte sich zwei Kekse in den Mund und griff sich noch drei weitere. »Wo sind wir?« »Im schönen West-Pennsylvania. Wir sind keine Stunde mehr von Pittsburgh entfernt.« Er sah die Anzeige der Uhr im Armaturenbrett: 8:47. »Kein schlechter Schnitt.« »Bist du verrückt?«, fragte sie spöttisch. »Wenn ich fahren würde wie sonst, wären wir schon da. Ich bleibe nur unter hundertzwanzig, falls irgendwelche State Trooper in der Nähe sind.« David nickte. »Gute Idee. Mittlerweile haben sie wahrscheinlich mein Bild.« Er zog noch zwei Kekse aus der Schachtel. Dann schaute er Monique wieder an und bemerkte mit Verspätung die Schatten unter ihren Augen. »Hey, du musst völlig erschöpft sein. Soll ich dich mal ablösen?« »Nein, mir geht's prima«, sagte sie schnell. »Ich bin nicht müde.« Sie packte das Lenkrad jetzt mit beiden Händen, als wolle sie ihr Anrecht darauf bestärken. Die Vorstellung, dass er ihr Auto fuhr, behagte ihr eindeutig nicht. Nun ja, das war verständlich, dachte er. Ihre Corvette war eine Augenweide. »Bist du sicher?« »Aber ja, das macht mir nichts aus. Ich fahre gern lange Strecken. Unterwegs kommen mir manche meiner besten Gedanken. Kennst du meinen letzten Beitrag in der Physical Review? >Zu den Schwerkrafteffekten nicht-kompakter Extra-Dimensionen Auf die Idee dazu bin ich gekommen, als ich an einem Wochenende runter nach D. C. führ.« Da kommt sie doch her, erinnerte er sich, aus dem Ana-costia-Teil von Washington, D. C. Wo man ihren Vater ermordet hatte und ihre Mutter heroinsüchtig wurde. David wollte Monique fragen, ob sie dort immer noch Verwand 90 te habe, ließ es dann aber sein. »Und woran hast du gerade eben gedacht?«, fragte er stattdessen. »Bevor ich wach wurde, meine ich.« »An verborgene Variablen. Etwas, womit du vermutlich vertraut bist.« David hörte auf zu essen und stellte die Schachtel ab. Verborgene Variablen waren ein wichtiger Teil von Einsteins Suche nach einer einheitlichen Theorie. In den Dreißigerjahren gelangte er zu der Überzeugung, dass dem merkwürdigen Quantum-Verhalten der subatomaren Partikel eine Ordnung zugrunde läge. Die mikroskopische Welt machte einen chaotischen Eindruck, aber das lag nur daran, dass niemand die verborgenen Variablen sehen konnte, die detaillierte Blaupause des Universums. »Also versuchst du rauszufinden, wie Einstein es geschafft hat?« Sie runzelte die Stirn. »Ich kann es mir immer noch nicht erklären. Die Quantumtheorie will sich einfach nicht in einen klassischen Rahmen einfügen lassen. Es ist so, als wollte man einen eckigen Pflock in ein rundes Loch stecken.
In mathematischer Hinsicht unterscheiden sich die beiden Systeme völlig voneinander.« David versuchte sich zu erinnern, was er in Auf den Schultern von Riesen über verborgene Variablen geschrieben hatte. »Nun ja, bei der Mathematik kann ich dir nicht helfen. Aber Einstein war fest davon überzeugt, dass die Quantenmechanik nicht vollständig war. In all seinen Briefen und Vorträgen hat er sie immer mit einem Würfelspiel verglichen. Die Theorie konnte dir nicht exakt sagen, wann ein radioaktives Atom zerfallen würde oder wo die herausgeschleuderten Teilchen genau landen würden. Die Quantenmechanik konnte dir nur Wahrscheinlichkeiten an die Hand geben, und das fand Einstein inakzeptabel.« »Ja, ja, ich weiß. >Gott spielt nicht Würfel mit dem Universum^« Sie verdrehte die Augen. »Das ist eine ziemlich 91 arrogante Feststellung, wenn du mich fragst. Was hat Einstein zu der Ansicht verleitet, er könne Gott vorschreiben, was er tun soll?« »Aber die Analogie geht noch tiefer.« David war gerade ein Absatz aus seinem Buch eingefallen. »Wenn du ein Paar Würfel wirfst, kommen dir die Zahlen zufällig vor, aber in Wirklichkeit sind sie es nicht. Wenn du die vollkommene Kontrolle über alle verborgenen Variablen hättest - wie hart du die Würfel wirfst, der Winkel ihrer Flugbahn, der Luftdruck im Zimmer -, könntest du jedes Mal eine Sieben werfen. Es gibt keine Überraschungen, wenn du das System perfekt verstehst. Und Einstein dachte, dasselbe träfe auch auf die Elementarteilchen zu. Man könnte sie vollkommen verstehen, wenn man die verborgenen Variablen fände, die die Quantenmechanik mit einer klassischen Theorie verbinden.« Monique schüttelte den Kopf. »Das klingt im Prinzip nicht schlecht, aber glaub mir, es ist nicht so einfach.« Sie nahm eine Hand vom Steuer und zeigte nach draußen. »Siehst du die ganze schöne Landschaft hier? Das ist ein gutes Bild für eine klassische Feldtheorie wie die Relativität. Wunderschön gleichmäßige Hügel und Täler umreißen die Krümmung der Raumzeit. Wenn du eine Kuh entdeckst, die über die Weide läuft, kannst du ziemlich genau berechnen, wo sie in einer halben Stunde sein wird. Aber die Quantentheorie? Das ist wie der schlimmste, irrste Teil der South Bronx. Alle möglichen seltsamen, unvorhersehbaren Dinge tauchen aus dem Nichts auf und bohren sich durch die Wände.« Sie bewegte ihre Hand schnell im Zickzack, um eine Ahnung von Quantenverrücktheit zu vermitteln. »Das ist kurz gesagt das Problem. Du kannst die South Bronx nicht magisch mitten in einem Maisfeld erscheinen lassen.« Monique griff nach der Schachtel und holte sich noch einen Keks heraus. Sie starrte auf die Straße, und obwohl sie 91 gerade das ganze Unterfangen für fruchtlos erklärt hatte, konnte David erkennen, dass sie immer noch über das Problem nachdachte. Ihm kam der Gedanke, dass
sie vielleicht mehr als einen Grund dafür hatte, nach Pittsburgh zu fahren. Bis zu diesem Moment hatte er angenommen, dass ihr hauptsächliches Motiv Wut war, ihr tief sitzender Hass gegen die FBI-Agenten, die in ihr Haus eingedrungen waren, aber jetzt regte sich in ihm der Verdacht, dass sie noch von einem anderen Gedanken angetrieben wurde. Sie wollte die Theorie von Allem kennenlernen. Selbst wenn sie nichts darüber publizieren konnte, selbst wenn sie keinem lebenden Menschen von der Theorie erzählen konnte - sie wollte es einfach wissen. Und David wollte es auch wissen. Eine Erinnerung an die Nacht zuvor stellte sich wieder ein. »Professor Kleinman erwähnte in der vergangenen Nacht noch etwas. Das Relativitätsreferat, das ich während des Doktorandenstudiums gehalten habe.« »Das du zusammen mit Kleinman geschrieben hast?« »Ja. >Allgemeine Relativität in einer zweidimensionalen Raumzeit.< Er brachte es zur Sprache, kurz bevor er mir die Zahlenfolge nannte. Er sagte, ich sei der Wahrheit ziemlich nahe gekommen.« Monique zog eine Augenbraue hoch. »Aber in dem Referat wurde doch kein realistisches Modell des Universums präsentiert, oder?« »Nein, wir sahen uns Flachland an, ein Universum mit nur zwei räumlichen Dimensionen. Die Rechnerei ist viel einfacher, wenn du es nicht mit dreien davon zu tun hast.« »Wie lauteten eure Ergebnisse? Es ist so lange her, dass ich das Ding gelesen habe.« »Wir haben festgestellt, dass zweidimensionale Massen keine Anziehungskraft aufeinander ausüben, dass sie aber die Form des Raums um sich herum ändern. Und wir haben 92 ein Modell für ein zweidimensionales schwarzes Loch formuliert.« Sie sah ihn verblüfft an. »Wie zum Teufel habt ihr das denn geschafft?« David verstand ihre Verwirrung. In drei Dimensionen wurden schwarze Löcher geboren, wenn riesige Sterne unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrachen. Aber in zwei Dimensionen gäbe es keine Schwerkraft, die den Zusammenbruch auslösen könnte. »Wir haben ein Szenario entworfen, in dem zwei Partikel miteinander kollidiert sind, um das Loch zu bilden. Es war ziemlich kompliziert, und deshalb erinnere ich mich nicht an alle Einzelheiten. Aber es gibt eine Kopie des Referats im Netz.« Monique dachte einen Moment darüber nach und klopfte mit einem Fingernagel gegen das Lenkrad. »Interessant. Du erinnerst dich, was ich vorhin über die klassische Theorie gesagt habe, dass sie so schön und gleichmäßig wäre? Nun ja, schwarze Löcher sind die große Ausnahme. Deren physikalische Eigenschaften sind absolut irre.«
Sie verfiel in Schweigen, während sie über den Pennsylvania Turnpike brausten. David sah ein Schild am Straßenrand: P ITTSBURGH 37 M EILEN. Er spürte, wie die Angst ihm einen Stich versetzte, als er begriff, wie nahe dran sie waren. Anstatt sich über die möglichen Umrisse von Einsteins einheitlicher Theorie Gedanken zu machen, sollten sie sich eine Möglichkeit überlegen, wie sie an Amil Gupta herankommen könnten. Die FBI-Agenten überwachten wahrscheinlich das Robotics Institute und beobachteten jeden, der sich der Newell-Simon Hall näherte. Und selbst wenn David und Monique es schafften, durch den Kordon zu schlüpfen, was konnten sie dann als Nächstes tun? Gupta vor der Gefahr warnen und ihn überreden, das Land zu verlassen? Ihn irgendwie heimlich über die Grenze nach Kanada oder Mexiko bringen, irgendwohin, wo er sowohl vor 93 dem FBI als auch den Terroristen sicher wäre? Die Aufgabe war derart ungeheuer, dass David kaum anfangen mochte, darüber nachzudenken. Nach einer Weile legte Monique eine Pause in ihren Berechnungen ein und wandte sich ihm zu. David glaubte, sie wolle ihm noch eine Frage nach seinem Flachland-Papier stellen, aber stattdessen sagte sie: »Du bist also jetzt verheiratet, stimmt's?« Sie hatte sich um einen nüchtern-sachlichen Tonfall bemüht, es aber nicht ganz hingekriegt. David vernahm ein leichtes Zögern in ihrer Stimme. »Wie kommst du denn auf die Idee?« Sie zuckte mit den Achseln. »Als ich dein Buch las, hab ich gesehen, dass es jemandem namens Karen gewidmet war. Ich dachte mir, das müsste deine Frau sein.« Ihr Gesicht war ausdruckslos, entschieden desinteressiert, aber David durchschaute sie. Es war verdammt unwahrscheinlich, dass sich jemand an den Namen einer Widmung erinnerte. Monique hatte sich offenbar seit der Nacht, die sie vor zwanzig Jahren miteinander verbracht hatten, eine gesunde Neugier bewahrt, was ihn betraf. Sie hatte ihn vermutlich genauso oft gegoogelt wie er sie. »Wir sind nicht mehr verheiratet. Karen und ich haben uns vor zwei Jahren scheiden lassen.« Sie nickte, immer noch mit ausdruckslosem Gesicht. »Weiß sie irgendwas hiervon? Was mit dir letzte Nacht passiert ist, meine ich?« J »Nein, ich hab mit ihr nicht geredet, seitdem ich Kleinman im Krankenhaus besucht habe. Und jetzt kann ich sie nicht anrufen, weil das FBI den Anruf zurückverfolgen wird.« Seine Angst flammte wieder auf, als er an Karen und Jonah dachte. »Ich hoffe nur, diese verdammten Agenten kommen nicht auf die Idee, die beiden zu schikanieren.« »Die beiden? « 93 »Wir haben einen sieben Jahre alten Sohn. Er heißt Jonah.«
Monique lächelte. Anscheinend gegen ihren Willen durchbrach das Lächeln ihre bemühte Gleichgültigkeit, und David war erneut beeindruckt davon, wie umwerfend sie damit aussah. »Das ist ja wundervoll«, sagte sie. »Wie ist er denn so?« »Na ja, Naturwissenschaft liebt er, das ist keine Überraschung. Er arbeitet schon an einem Raumschiff, das schneller ist als die Lichtgeschwindigkeit. Aber er liebt auch Baseball und Pokémon und überhaupt ein Höllenspektakel zu machen. Du hättest ihn gestern im Central Park sehen sollen, wie er mit diesem Super ...« David brach mitten im Satz ab, als ihm einfiel, was mit dem Super Soaker passiert war. Monique wartete ein paar Sekunden und schaute auf die Straße vor ihnen; offenbar wartete sie darauf, mehr zu hören. Dann warf sie einen Blick auf ihn, und das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb. »Was ist los?« Er atmete tief durch. Seine Brust fühlte sich so an, als wäre sie eingeschnürt. »Herrgott«, flüsterte er. »Wie zum Teufel werden wir das überstehen?« Sie biss sich auf die Unterlippe. Während sie den Verkehr im Auge behielt, griff sie mit der Hand hinüber zu seinem Sitz und legte sie ihm aufs Knie. »Es ist schon in Ordnung, David. Wir werden alles der Reihe nach in Angriff nehmen. Zuerst müssen wir mit Gupta reden. Dann können wir einen Plan ausarbeiten.« Ihre langen Finger tätschelten sein Knie. Dann drückte sie einmal zur Beruhigung fest zu, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Highway zuwandte. Und obwohl ihre Geste Davids Ängste kein bisschen vermindert hatte, war er ihr dennoch dankbar. Eine Minute später zeigte Monique auf ein anderes Hinweisschild am Straßenrand. Auf diesem stand: N EUE R ASTSTÄTTE S TANTON ZWEI M EILEN . 94 »Wir fahren hier besser raus«, sagte sie. »Wir haben fast keinen Sprit mehr.« David hielt nach State Troopers Ausschau, während sie im Leerlauf auf die Raststätte rollten. Vor der Tankstelle standen Gott sei Dank keine Streifenwagen. Monique hielt vor der Zapfsäule mit Selbstbedienung und füllte den Tank der Corvette, während David sich im Beifahrersitz so klein wie möglich machte. Dann stieg sie wieder ein und fuhr auf den Parkplatz der Raststätte. Sie kamen an einem großen Betonbau vorbei, in dem sich ein Burger King, ein Nathan's und ein Starbucks befanden. »Ich mache die Sache nicht gerne kompliziert, aber ich muss pinkeln«, sagte sie. »Was ist mit dir?« David überflog den Parkplatz und sah keine Polizeiautos. Aber wenn ein State Trooper in dem Gebäude Posten bezogen hatte, direkt vor der Herrentoilette? Die Wahrscheinlichkeit war nicht besonders hoch, aber es war trotzdem ein Risiko. »Ich bleibe im Wagen. Ich kann in einen Becher pinkeln.«
Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. »Pass nur auf, was du tust. Du machst besser keinen Tropfen auf den Ledersitz.« Sie stellte den Wagen in einer freien Ecke des Parkplatzes ab, rund zehn Meter von dem nächsten Fahrzeug entfernt. David gab ihr zwei Zwanzig-DollarScheine. »Könntest du ein paar Sachen mitnehmen, wenn du schon mal drinnen bist? Vielleicht ein paar Sandwiches, ein bisschen Wasser, ein paar Chips?« ' »Du meinst, du bist die Kekse allmählich satt?« Sie lächelte wieder, als sie die Fahrertür aufmachte und zu den Toiletten ging. Sobald sie weg war, merkte David, dass er ziemlich dringend urinieren musste. Er durchsuchte die Corvette nach irgendeinem Behälter, tastete unter den Sitzen nach einer leeren Wasserflasche oder einem leeren Plastikbecher, aber er 95 hatte kein Glück - der Wagen war makellos. Nirgendwo war Abfall, nicht mal im Handschuhfach. Er nahm an, er könnte warten, bis Monique mit den neuen Wasserflaschen zurückkehrte, und eine von denen leermachen, aber ihm gefiel die Vorstellung nicht, in das Ding zu pinkeln, während sie daneben stand. Unschlüssig starrte er über den Parkplatz und bemerkte in einer Entfernung von rund zwanzig Metern einen grasbewachsenen Picknickbereich unter einer Baumgruppe. Eine Familie nahm an einem der Picknicktische Frühstückssandwiches zu sich, aber es sah so aus, als würde sie gleich aufbrechen. Die junge Mutter schrie die Kinder an, sie sollten ihren Abfall mitnehmen, während der Vater mit den Autoschlüsseln in der Hand ungeduldig dabeistand. Nach ein paar Minuten verzog sich die Familie zu ihrem Minivan, und David stieg aus der Corvette aus. Er ging hinüber zu dem Picknickbereich und schaute erst über die eine Schulter, dann über die andere. Der einzige Mensch in der Nähe war ein alter Mann, der am Rand des Parkplatzes seinen Dackel ausführte. David schritt an den Picknicktischen vorbei, stellte sich hinter den dicksten Baum und öffnete seinen Hosenschlitz. Als er fertig war, ging er spürbar erleichtert zu der Corvette zurück. Aber als er vom Gras auf den Asphalt trat, eilte der ältere Hundehalter auf ihn zu. »He, Sie da!«, rief er. David erstarrte. Eine Sekunde lang bildete er sich ein, der Mann sei ein verkleideter Cop im Undercover-Einsatz. Aber als er näher kam, sah David, dass er echt alt war. Seine Lippen waren mit Speichel bespritzt, und sein rosafarbenes Gesicht war so runzlig wie eine Rosine. Er stieß David mit einer zusammengerollten Zeitung gegen die Brust. »Ich hab gesehen, was Sie getan haben!«, schimpfte er. »Wissen Sie nicht, dass es hier auch Toiletten gibt?« Amüsiert bedachte David den alten Herrn mit einem Lächeln. »Hören Sie, es tut mir leid. Es war ein Notfall.« 95 »Das ist widerlich, ausgesprochen widerlich. Sie sollten ...« Der alte Mann hörte abrupt auf, ihn zu beschimpfen. Er starrte David mit zusammengekniffenen Augen an, dann schaute er auf die Zeitung in seiner Hand.
Sein Gesicht wurde um einige Töne blasser. Er stand ein paar Sekunden mit offenem Mund da und entblößte eine Reihe schiefer gelblicher Zähne. Dann fuhr er herum und begann wegzulaufen, wobei er hektisch an der Leine des Dackels zog. Im gleichen Moment hörte David Monique rufen: »Komm schnell wieder her!« Sie stand neben der Corvette und hielt eine sperrige Plastiktüte in der Hand. Während er zu ihr lief, warf sie die Tüte in den Wagen, setzte sich hinter das Lenkrad und ließ den Motor an. »Komm schon, steig ein!« Sobald David auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, brauste die Corvette los. Monique trat das Gaspedal durch, und innerhalb von Sekunden lag die Raststätte hinter ihnen, und sie befanden sich auf der Auffahrt zum Highway. »Herrgott noch mal!«, rief sie. »Warum musstest du denn ein Gespräch mit diesem alten Knacker führen?« David zitterte am ganzen Körper. Der alte Mann hatte ihn erkannt. Die Nadel auf dem Tachometer näherte sich der hundertfünfzig. Monique trat das Gaspedal bis zum Boden durch, und die Corvette schoss wie ein Blitz über den Highway. »Die nächste Ausfahrt ist hoffentlich nicht mehr weit«, sagte sie. »Wir müssen von dieser Straße runter, bevor dein Freund die Cops ruft .« Vor seinem geistigen Auge sah David wieder den Mann mit dem Hund. Die aufgerollte Zeitung, dachte er. Deshalb hat er mich erkannt. Als könne sie seine Gedanken lesen, griff Monique in die Plastiktüte, die zwischen ihnen stand, und zog eine Ausgabe der Pittsburgh Post-Gazette heraus. »Die hab ich an dem 96 Zeitungsstand neben dem Starbucks gesehen.« Sie reichte ihm das Blatt. David fand die Geschichte oben auf der Titelseite. Die Schlagzeile lautete: S ECHS A GENTEN BEI D ROGENRAZZIA IN N EW Y ORK GETÖTET , und darunter stand in kleinerer Schrift: Polizei sucht Professor von der Columbia. Und neben der Schlagzeile war das Schwarz-Weiß-Foto von David abgebildet, das hinten auf dem Schutzumschlag von Auf den Schultern von Riesen erschienen war. Simon starrte vom Washington Crossing State Park in New Jersey auf den friedlichen Delaware River. Er stand auf einem verlassenen Parkplatz oberhalb des Flusses und lehnte an der Seite eines knallgelben Ferrari. Er hatte den Wagen - ein 575 Maranello-Coupe - aus der Werkstatt des Princeton Auto Shop entführt. Keith, der Kfz-Mechaniker, dem er in Monique Reynolds' Haus begegnet war, hatte ihm verraten, wo die Schlüssel zu finden waren. Das war ausgesprochen hilfreich gewesen angesichts der Tatsache, dass Simon seinen Mercedes nach dem Zusammenstoß mit dem Officer der Princeton Borough Police aufgeben musste. Es wäre sogar noch hilfreicher gewesen, wenn Keith ihm verraten hätte, wo David Swift und Monique Reynolds hingefahren waren,
aber der junge Mechaniker bestand darauf, er wisse es nicht, selbst nachdem Simon ihm drei seiner Finger abgetrennt und ihm den Bauch aufgeschlitzt hatte. Der einzige Anhaltspunkt, den er jetzt noch hatte, war die Notiz, die Monique auf der Küchenablage zurückgelassen hatte. Er zog das Blatt aus seiner Hosentasche und studierte es noch einmal, aber es half ihm nicht weiter. Keith, es tut mir so leid, aber David und ich mussten ganz schnell weg. Er hat ein paar wichtige Ergebnisse, die wir überprüfen müssen. Ich melde mich, wenn ich zurück bin. 97 PS: Im Kühlschrank steht Orangensaft und im Brotkorb liegen Bagels. Vergiss nicht, die Tür abzuschließen. Die letzten Zeilen waren zum Teil von einem blutigen Daumenabdruck verdeckt, den Simon gemacht hatte, als er auf die Notiz stieß. Bevor er das Haus verließ, hatte er die Bagels an sich genommen. Keith hatte sein letztes Essen schon hinter sich. Simon steckte die Nachricht wieder in die Tasche und schaute auf die Uhr: 9:25. Fast die Zeit für den täglichen Schwatz mit seinem Klienten. Jeden Morgen rief Henry Cobb ihn genau um halb zehn an, um sich über seine Fortschritte unterrichten zu lassen. »Henry Cobb« war fast mit Sicherheit ein Deckname. Simon hatte den Mann nie persönlich kennengelernt - ihren Vertrag hatten sie telefonisch ausgehandelt, wobei sie verschiedene Codes benutzten, die Henry entworfen hatte -, aber nach seinem Akzent zu urteilen, war sein richtiger Name eher Abdul oder Muhammad. Obwohl Simon sich über die Nationalität des Mannes noch nicht im Klaren war, lag seine Heimatstadt eindeutig irgendwo zwischen Kairo und Karatschi. Wenn man in Betracht zog, dass Simon so viele Jahre damit verbracht hatte, muslimische Rebellen in Tschetschenien zu töten, fand er es ein bisschen überraschend, dass eine islamische Gruppe ausgerechnet ihn anheuerte. Aber vielleicht war er den Dschihadis gegenüber etwas ungerecht. Wenn sie ihrem Anliegen wirklich verpflichtet waren, würden sie auf nichts anderes Wert legen als darauf, den besten Mann für den Job zu bekommen. Und wie die Tschetschenen bezeugen konnten, hatte Simon vorzügliche Ergebnisse vorzuweisen. Wie die Art und die Nationalität von Henrys Organisation auch aussehen mochten, eine Sache war klar: Sie hatten beträchtliche finanzielle Mittel zu ihrer Verfügung. Um Simon auf seinen Einsatz vorzubereiten, hatte Henry ihm eine ganze 97 Palette von Lehrbüchern über Teilchenphysik und allgemeine Relativität sowie mehrere Dutzend Ausgaben der Physical Review und des Astrophysical Journal zugeschickt. Und was Simon wichtiger war, er hatte ihm telegrafisch zur Deckung seiner Ausgaben zweihunderttausend Dollar überwiesen und versprochen, eine weitere Million zu zahlen, wenn der Job erledigt war.
Das Ironische an der Sache war allerdings, dass Simon die Arbeit mit Freuden umsonst gemacht hätte, wenn ihm von vornherein klar gewesen wäre, worum es dabei ging. Das volle Ausmaß von Henrys ehrgeizigen Plänen war ihm erst vor einer Woche aufgegangen, als er dem Landsitz von Jacques Bouchet in der Provence seinen Besuch abgestattet hatte. Simon war dem französischen Physiker gegenübergetreten, als dieser in der Badewanne saß, und nach einem kurzen, feuchten Ringkampf begann der alte Mann zu reden. Leider kannte er nur ein paar Einzelteile der Einheitlichen Feldtheorie, aber er erzählte Simon eine ganze Menge über die möglichen Konsequenzen eines Missbrauchs der Gleichungen. Bouchet hatte offensichtlich erwartet, dass Simon nach dieser Information von Entsetzen gepackt würde, vielleicht in einem Maße, das ihn dazu veranlasste, das ganze Unternehmen abzublasen, aber stattdessen war Simon geradezu entzückt gewesen. Wie es der Zufall wollte, stimmten die Wünsche seines Klienten völlig mit seinen eigenen überein. Von einem Gefühl des Triumphs durchdrungen, hatte er die Befragung Bouchets fortgesetzt, bis der alte Mann zitternd in der Wanne saß. Dann hatte er dem Physiker die Pulsadern aufgeschnitten und zugesehen, wie die Blutwolken sich im Badewasser ausbreiteten. Eine Minute vor halb zehn griff Simon nach seinem Handy und öffnete es in Erwartung von Henrys Anruf. Sergej und Larissa erschienen mit erwartungsvollem Lächeln auf dem 98 Display. Habt noch ein bisschen Geduld, flüsterte Simon. Es dauert nicht mehr lange. Um exakt halb zehn klingelte das Telefon. Simon hob das Gerät an sein Ohr. »Hallo, hier spricht George Osmond«, sagte er. Sein eigener Deckname. »Guten Morgen, George. Es tut gut, Ihre Stimme zu hören.« Die langsame, bedächtige Stimme mit dem Akzent aus dem Nahen Osten. »Erzählen Sie mir doch, wie das Spiel gestern Abend ausgegangen ist.« Henry verließ sich bei den meisten seiner Codes auf Metaphern aus dem Baseballbereich. Obwohl ihre verschlüsselten Gespräche manchmal ans Lächerliche grenzten, musste Simon zugeben, dass die Vorsichtsmaßnahmen sinnvoll waren. Seit dem 11. September war kein Telefongespräch mehr sicher. Man musste davon ausgehen, dass Regierungsstellen alles abhörten. »Das Spiel war ein bisschen enttäuschend«, sagte er. »Es wurde kein Lauf erzielt.« Eine lange Pause entstand. Henry war eindeutig nicht erfreut. »Was war mit dem Pitcher?« Das war ihr Codewort für Kleinman. »Ist gar nicht zum Einsatz gekommen. Für ihn ist die Saison leider zu Ende.« Eine noch längere Pause. »Wie ist das passiert?« »Behinderung durch die Yankees. Sie können in den Zeitungen von heute einen Spielbericht lesen. Die Reporter haben natürlich nicht alle Einzelheiten auf die
Reihe gekriegt. Sie haben versucht, noch einen Drogenskandal daraus zu machen.« Diesmal dehnte sich das Schweigen fast zu einer halben Minute. Simon stellte sich seinen Klienten in einem weißen Dishdasha-Gewand vor, wie er eine Schnur mit Betperlen strangulierte. »Ich bin alles andere als glücklich darüber«, sagte er schließlich. »Ich habe große Stücke auf diesen Pitcher gehalten. Wie sollen wir ohne ihn gewinnen?« 99 »Keine Sorge, ich habe einen anderen aussichtsreichen Kandidaten. Ein jüngerer Mann, ein Spieler mit großer Zukunft. Er hat eng mit dem Pitcher zusammengearbeitet, glaube ich.« »Habe ich seinen Namen schon mal gehört?« »Er wird auch in den Zeitungen erwähnt. Ein College-Spieler. Ich glaube, er hat das, was wir brauchen.« »Wissen Sie, wo er sich aufhält?« »Im Moment noch nicht. Ich war kurz davor, gestern Abend Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber er hat plötzlich die Stadt verlassen.« Henry ließ ein unzufriedenes Grunzen hören. Offenbar kein geduldiger Mann. Aber das war sein Typ auch selten. »Das ist inakzeptabel«, sagte er. »Ich zahle Ihnen ein gutes Gehalt. Dafür kann ich bessere Ergebnisse verlangen als das hier.« Simon spürte, wie sich leichter Arger in ihm breitmachte. Er rühmte sich seines Professionalismus. »Beruhigen Sie sich. Sie bekommen schon etwas für Ihr Geld. Ich kenne jemanden, der mir helfen kann, diesen Spieler zu finden.« »Wer ist das?« »Ein Agent in der Organisation der Yankees.« Noch ein langes Schweigen folgte, aber diesmal von anderer Art. Es war ein verwundertes, sprachloses Schweigen. »Von den Yankees?«, murmelte sein Klient. »Sie haben bei denen einen Freund?« »Eine reine Geschäftsbeziehung. Sehen Sie, die Yankees sind davon überzeugt, dass sie diesen Spieler früher oder später ausfindig machen können. Sobald sie wissen, wo er ist, wird der Agent diese Information an mich weitergeben.« »Gegen ein Honorar, nehme ich an.« »Natürlich. Und ich werde eine erhebliche Erhöhung meines Budgets brauchen, um es abdecken zu können.« »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Geld ist kein Pro 99 blem. Ich bin bereit, alle notwendigen Ausgaben zu bezahlen.« Seine Stimme war jetzt beschwichtigend, fast respektvoll. »Aber sind Sie sicher, dass Sie diesem Mann trauen können?« »Ich habe ein Treffen mit dem Agenten anberaumt, um seine Absichten zu beurteilen. Eigentlich sollte er in ein paar Minuten hier eintreffen.«
»Nun ja, dann lasse ich Sie mal Ihren Terminplan erfüllen. Bitte, halten Sie mich auf dem Laufenden.« »Gewiss.« Simon runzelte die Stirn, als er das Telefon schloss und zurück in seine Tasche steckte. Er hasste es, mit den Klienten zu verhandeln. Das war bei Weitem der unangenehmste Teil seines Jobs. Aber er würde es nicht mehr lange machen müssen. Wenn alles planmäßig ablief, würde dieser Einsatz sein letzter sein. Er wandte sich wieder zum Delaware River und der Reihe von Eichen auf der anderen Seite. Einem Schild am Rand des Wassers war zu entnehmen, dass dies die Stelle war, wo George Washington mit seinen Truppen über den Fluss gesetzt war. In der Nacht des 25. Dezember 1776 hatte er zweitausendvierhundert Rebellen von Pennsylvania nach New Jersey geführt, um die britische Armee in ihrer Kaserne in Trenton überraschen zu können. Der Fluss war jetzt so friedlich, dass es schwer vorstellbar war, irgendjemand könnte hier ums Leben gekommen sein. Aber Simon wusste es besser. Der Tod lag direkt unter der sich kräuselnden Wasseroberfläche. Er war in allen Flüssen, in allen Ländern. Das ganze Universum war voll von ihm. Das Heulen eines Geländewagens unterbrach seine Gedanken. Simon warf einen Blick über seine Schulter und sah einen schwarzen Suburban, der auf den Parkplatz einbog. Kein anderes Fahrzeug war in Sicht, was ein gutes Zeichen war. Wenn das FBI einen Hinterhalt plante, hätte man einen 100 Konvoi geschickt. Der Suburban blieb am anderen Ende des Parkplatzes stehen, und nach ein paar Sekunden stieg ein Mann im grauen Anzug aus dem Wagen. Obwohl er eine Sonnenbrille trug und fast fünfzig Meter entfernt war, wusste Simon sofort, dass es der Mann war, mit dem er sich verabredet hatte. Er hatte eine charakteristische krumme Haltung und stand da mit hochgezogenen Schultern und den Händen in den Hosentaschen. Die Brise zerzauste ihm die Haare, als er begann über den Asphalt zu marschieren. Wahrscheinlich trug er eine Pistole in dem Schulterholster unter dem Jackett, aber das war okay - Simon war ebenfalls bewaffnet. Er war bereit, es darauf ankommen zu lassen, wenn es eine Schießerei geben sollte. Der Agent blieb ein paar Meter vor dem Ferrari stehen. Er zeigte auf den Wagen und grinste. »Nette Kiste«, sagte er. »Muss eine Stange Geld gekostet haben.« Simon zuckte mit den Achseln. »Nicht der Rede wert. Gehört zum Handwerkszeug.« »Handwerkszeug, wie?« Er ging um den Ferrari herum, bewunderte seine Linienführung. »Ich hätte nichts dagegen, auch so ein Handwerkszeug in die Finger zu bekommen.« »Das könnte möglich sein. Mein Angebot steht immer noch.« Der Agent fuhr mit seinen Fingern über den Spoiler des Ferraris. »Sechzigtausend, stimmt's? Das war der Deal?«
Simon nickte. »Dreißig zahlbar jetzt. Die anderen dreißig, wenn Ihre Information zur Ergreifung des Verdächtigen führt.« »Na ja, ich schätze, das ist heute mein Glückstag. Ich habe gerade eine Nachricht aus dem Hauptquartier bekommen, als ich hierherfuhr.« Er faltete die Arme vor der Brust. »Haben Sie das Geld bei sich?« Ohne den Blick von dem Agenten abzuwenden, griff Simon in den Ferrari. Er nahm die schwarze Aktentasche in die 101 Hand, die auf dem Fahrersitz gelegen hatte. »Die erste Rate ist hier drin. In Zwanzig-Dollar-Scheinen.« Der Agent schaute nicht mehr auf den Wagen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt der Aktentasche. Die Habgier des Mannes war überwältigend, was den Grund dafür darstellte, weshalb Simon diesen speziellen Kontakt kultiviert hatte. »Wir haben einen Bericht erhalten, dass ein Bürger Swift vor einer Stunde entdeckt hat. An einer Raststätte am Pennsylvanian Turnpike.« Simon warf einen Blick auf die Pennsylvania-Seite des Flusses. »Wo? An welcher Raststätte?« »An der New Stanton Service Area. Ungefähr dreißig Meilen östlich von Pittsburgh. Die Staatspolizei hat Straßensperren errichtet, aber sie haben ihn noch nicht gefunden. Wahrscheinlich ist er schon vom Highway runtergefahren.« Ohne zu zögern reichte Simon dem Agenten die Aktentasche. Er wollte sich unbedingt auf den Weg machen. »Wegen der zweiten Ratenzahlung setze ich mich mit Ihnen in Verbindung. Rechnen Sie innerhalb der nächsten zwölf Stunden mit einem Anruf.« Der Agent umklammerte die Aktentasche mit beiden Händen. Er schien sein Glück nicht fassen zu können. »Ich freue mich darauf. Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.« Simon stieg in den Ferrari und ließ den Motor an. »Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Mr. Brock.« ACHT
Von seinem knapp hundert Meter entfernten Aussichtspunkt starrte David auf die Newell-Simon Hall und versuchte sich an die genaue Lage von Amil Guptas Büro zu erinnern. Er und Monique hockten in einem leeren Hörsaal im Purneil Arts Center, einem benachbarten Gebäude auf dem Campus der Carnegie Mellon. Der Hörsaal wurde offenbar für ein Seminar zum Thema Bühnendekoration benutzt; zwischen den Tischen standen mehrere flache Holzbretter, die bemalt worden waren, um Bäume, Häuser, Autos und Ladenfronten darzustellen. Eine große Tafel, die die Vorderseite eines Friseurgeschäfts zeigte und am oberen Rand die Wörter S WEENEY T ODD trug, befand sich neben dem Fenster, durch das David und Monique lugten. Die ganzen zweidimensionalen Nachbildungen verliehen dem Raum etwas Desorientierendes, wie das Innere eines Rummelplatz-Hauses mit beweglichen Wänden
und Zerrspiegeln. David dachte an sein Referat über Flachland, eine Welt ohne Tiefe. Es war fast Mittag. Nach dem Fiasko an der Raststätte hatten sie mehr als eine Stunde damit verbracht, durch die Nebenstraßen der Vororte von Pittsburgh zu schleichen, damit sie zur Carnegie Mellon vordringen konnten, ohne irgendwelchen Streifenwagen zu begegnen. Sobald sie angekommen waren, versteckte Monique ihre Corvette unter den Hunderten von Sportwagen, die auf dem größten Parkplatz der Universität abgestellt waren; dann machten sie sich zu Fuß auf den Weg durch den Campus. Sie entschieden sich für das Purneil Arts Center zur Erkundung des Geländes, weil 102 es auf einer Anhöhe über der Newell-Simon Hall lag und einen ausgezeichneten Blick auf den Parkplatz zwischen den beiden Gebäuden bot. Das Erste, was David auffiel, war das Roboterfahrzeug Highlander, eine Spezialanfertigung von Hummer, auf deren Dach ein großer Silberball montiert war. Er hatte im Scientific American etwas über den Wagen gelesen. Der Highlander, eines von Guptas Lieblingsprojekten, konnte Hunderte von Meilen ohne Fahrer zurücklegen. Zwei Studenten vom Robotics Institute testeten das Fahrzeug, beobachteten, wie es autonom auf dem Parkplatz herumfuhr. Der Ball auf dem Dach des Wagens enthielt einen Laserscanner, der eventuelle Hindernisse entdeckte. Einer der Studenten hielt ein Steuergerät in der Hand, mit dem er den Motor sofort ausstellen konnte, wenn das Roboterauto verrückt spielte. Das Zweite, was David auffiel, waren die Suburbans. Zwei schwarze Geländewagen waren in der Nähe des Eingangs zur Newell-Simon geparkt und zwei weitere im hinteren Teil des Parkplatzes abgestellt. Er machte Monique auf sie aufmerksam. »Siehst du all die Geländewagen? Das sind Autos der Regierung.« »Woher weißt du das?« »Ich habe eine Menge von ihnen in der FBI-Tiefgarage in New York gesehen.« Als Nächstes zeigte er ihr zwei Männer in T-Shirts und Shorts, die einen Football hin und her warfen. »Sieh dir mal diese Typen mit dem Football an. Warum werfen sie sich den Ball mitten auf einem Parkplatz zu?« »Sie sehen für Studenten ein bisschen zu alt aus«, stellte Monique fest. »Genau. Und schau dir mal den Typ mit dem nackten Oberkörper an, der dort drüben im Gras liegt. Das muss der blasseste Sonnenanbeter sein, den ich je gesehen habe.« »Auf der anderen Seite des Gebäudes sitzen noch zwei im Gras.« 102 David schüttelte den Kopf. »Ich bin selbst schuld. Sie haben wahrscheinlich die Überwachung aufgestockt, sobald sie rausfanden, dass wir auf dem Highway waren. Sie wissen, dass wir versuchen, mit Gupta Verbindung aufzunehmen.«
Er wandte sich vom Fenster ab und ließ sich gegen die Wand sinken. Es war eine Falle. Die verdeckten Agenten warteten nur darauf, dass er auftauchte. Aber seltsamerweise geriet David nicht in Panik. Seine Ängste waren abgeklungen, zumindest im Augenblick, und alles, was er jetzt noch empfand, war Empörung. Er dachte an den Artikel auf der ersten Seite der Pittsburgh Post-Gazette , die ausgeklügelte Lügengeschichte, in der er als Dealer und Mörder dargestellt wurde. »Herrgott im Himmel«, murmelte er. »Diese Arschlöcher glauben, sie können mit allem durchkommen.« Monique lehnte sich neben ihm gegen die Wand. »Nun ja, der nächste Schritt liegt auf der Hand. Du bleibst hier und ich gehe rein.« »Was?« »Nach mir suchen sie nicht. Diese Agenten haben keine Ahnung, dass ich bei dir bin. Sie wissen nur, dass ein alter Mann dich an der Raststätte gesehen hat.« »Und wenn der Typ nun auch noch das Nummernschild deines Wagens notiert hat?« Sie sah ihn entsetzt an. »Dieser alte Knacker? Der rannte um sein Leben, nachdem er dich erkannt hatte. Der hat nichts notiert.« David runzelte die Stirn. Moniques Plan gefiel ihm nicht. »Das ist zu riskant. Diese Agenten starren jeden argwöhnisch an, der sich dem Gebäude nähert. Sie haben möglicherweise ein Foto von jedem theoretischen Physiker im ganzen Land, und wenn sie rauskriegen, wer du bist, schöpfen sie bestimmt Verdacht. Sie waren schon bei dir zu Hause, erinnerst du dich?« 103 Sie atmete tief durch. »Ich weiß, dass es riskant ist. Aber was sollen wir sonst machen? Hast du eine bessere Idee?« Leider waren ihm die Ideen ausgegangen. Er wandte sich von ihr ab und sah sich in dem Hörsaal um, vielleicht wartete dort ja eine Eingebung auf ihn. »Wie wär's mit einem Kostüm?«, schlug er vor. »Hier wird Theater gespielt, also gibt es wahrscheinlich ein paar Kostüme hier in der Nähe. Vielleicht kannst du ja eine Perücke tragen oder so was in der Art.« »Also bitte, David. Alles, was wir hier finden, wird mich nur lächerlicher aussehen lassen. Und das erregt noch mehr Aufmerksamkeit.« »Das muss nicht unbedingt sein. Was wäre denn, wenn du ...« Bevor David den Satz beenden konnte, hörte er ein lautes Rumpeln in dem Gang vor dem Hörsaal. Monique schrie: »Scheiße!«, und griff nach dem Revolver, den sie in ihre Shorts gesteckt hatte, aber David packte ihr Handgelenk. Das war das Letzte, was sie brauchten. Er zog sie hinter die große Holztafel, auf der Sweeney Todds Friseurladen dargestellt war. Kurze Zeit später hörten sie das Klimpern von Schlüsseln. David war sicher, dass ein Team von FBI-Agenten auf der anderen Seite der Tür stand, bereit, den Hörsaal zu stürmen. Aber als die Tür aufging, sah er nur die Putzfrau des Gebäudes, eine junge Frau in einem hellblauen Kittel, die einen großen Segeltuch-Container vor sich herschob. j
Monique grub ihre Finger erleichtert in Davids Schulter, aber keiner von beiden rührte sich in ihrem Versteck. David schaute verstohlen dahinter hervor und beobachtete, wie die Putzfrau den Müllcontainer durch den Hörsaal schob. Als sie am anderen Ende angelangt war, hob sie einen Abfalleimer voller ausrangierter Dekorationsmaterialien - abgesägte Ecken von Holzbrettern, ein großes Knäuel mit Farbe getränkter Lappen - und schüttete seinen Inhalt in den Contai 104 ner. Sie war eine große, schlanke Schwarze, die unter ihrem Kittel ein T-Shirt und eine Shorts aus Jeansstoff trug. Sie war vermutlich nicht älter als dreiundzwanzig, aber ihr Gesicht war schon von Sorge gezeichnet und erschöpft. Sie machte ein finsteres Gesicht, als sie den Abfalleimer über dem Container leerte, und in dem Moment erkannte David, dass die Putzfrau und Monique sich trotz des Altersunterschieds sehr ähnlich sahen. Sie hatten die gleichen langen Beine, die gleiche herausfordernde Kopfhaltung. David starrte sie weiterhin an, als sie den leeren Abfalleimer auf den Boden stellte und den Container wieder aus dem Hörsaal zu schieben begann. Gerade als sie die Tür erreichte, kam er aus seinem Versteck hervor. Monique versuchte ihn aufzuhalten, aber sie war zu langsam. »Entschuldigen Sie?«, sagte David. Die Putzfrau wirbelte herum. »Herrgott noch mal! Was zum ...« »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Meine Kollegin und ich wollten gerade letzte Hand an das Bühnenbild für die Aufführung heute Abend legen.« Er forderte Monique durch eine Handbewegung auf, herauszukommen. Mit zusammengebissenen Zähnen trat sie neben ihn. David legte ihr seine Hand ins Kreuz und schob sie nach vorn. »Dies ist Professor Gladwell«, sagte er, »und ich bin Professor Hodges. Von den Theaterwissenschaftlern.« Die Putzfrau presste die Hand gegen die Brust, erholte sich immer noch von dem Schreck. Sie betrachtete David und Monique zornig. »Mir ist fast das Herz stehengeblieben! Ich hab gedacht, dieser Raum wäre bis ein Uhr leer.« David lächelte, um sie zu beruhigen. »Das ist er normalerweise auch, aber wir erledigen noch ein paar Dinge in letzter Minute für die Aufführung heute Abend. Es ist eine große Premiere, sehr aufregend.« Die Frau schien nicht beeindruckt zu sein. »Und was wol 104 len Sie von mir? Haben Sie irgendwas, das Sie wegwerfen wollen?« »Eigentlich habe ich über den Kittel nachgedacht, den Sie da tragen. Gibt es vielleicht die Möglichkeit, ihn ein paar Stunden auszuleihen?« Sie schaute ungläubig an ihrem Kittel hinunter, mit dem aufgenähten Stoffflecken direkt über ihrer linken Brust, auf dem stand: C ARNEGIE M ELLON G EBÄUDEREINIGUNG. »Dieses Ding? Was wollen Sie denn damit?« »Eine der Gestalten in unserem Stück ist eine Reinemachefrau, aber ich bin mit dem Kostüm, das wir im Moment haben, nicht sehr glücklich. Ich möchte etwas
haben, das mehr so wie Ihre Uniform ist. Ich muss es nur unserer Kostümdesignerin zeigen, damit sie es kopieren kann.« Die Augen der Frau wurden schmal. Das nahm sie ihm nicht ab. »Schauen Sie, ich muss diese Uniform tragen, während ich arbeite«, sagte sie. »Wenn ich sie Ihnen ausleihe, muss ich mir eine neue in der Hausverwaltung holen, und das ist ein langer Weg.« »Ich bin bereit, Sie für Ihre Unannehmlichkeiten zu entschädigen.« David griff in seine Hosentasche und zog eine Rolle Zwanziger hervor. Er zählte zehn von den Scheinen ab. Sie starrte auf die zweihundert Dollar in seiner Hand. Sie war kein bisschen weniger misstrauisch als zuvor, aber jetzt hatte sie einen Grund, ihr Misstrauen zu ignorieren. »Sie bezahlen mich für die Uniform?« Er nickte. »Das Theaterseminar hat ein Budget für Notfälle wie den hier.« »Und Sie geben sie wieder zurück, wenn Sie damit fertig sind?« »Auf jeden Fall. Sie können sie heute Nachmittag abholen.« Sie sah ihn immer noch argwöhnisch an, während sie den 105 Kittel auszog. »Erzählen Sie nur niemand von der Gebäudereinigung davon, okay?« »Keine Sorge, ich werde kein Wort sagen.« Dann kam ihm noch ein Gedanke. »Und wir werden auch Ihren Container brauchen. Als Requisite für die Aufführung.« Sie übergab David den Kittel. »Der Container ist mir egal. Es gibt noch einen im Keller, den ich benutzen kann.« Sie schnappte sich die zweihundert Dollar und verließ schnell den Raum, als hätte sie Angst, er könne es sich anders überlegen. David wartete ein paar Sekunden, bevor er die Tür zu dem Hörsaal verschloss. Mit dem blauen Kittel über dem Arm drehte er sich zu Monique um. »Okay, ich habe dein Kostüm.« Sie starrte die Uniform grimmig an. »Eine Putzfrau. Wie originell.« Ihre Stimme klang verbittert. »Hey, tut mir leid. Ich dachte nur ...« »Ja, ich weiß, was du dachtest.« Sie schüttelte den Kopf. »Schwarze Frauen putzen Büros, stimmt's? Wenn diese FBI-Agenten also sehen, wie ich einen Container in das Gebäude reinschiebe, werden sie mich gar nicht genauer anschauen.« »Falls du das Teil nicht anziehen ...« »Nein, nein, du hast recht. Das ist das Traurigste daran, du hast vollkommen recht.« Sie griff sich den Kittel von Davids Arm und schüttelte ihn kurz aus. Der blaue Stoff peitschte durch die Luft. »Es spielt keine Rolle, wie viele akademische Grade du erwirbst, wie viele Referate du publizierst oder wie viele Preise du gewinnst. In ihren Augen bin ich nur eine Putzfrau.«
Sie steckte die Arme durch die Ärmel der Uniform und begann sie zuzuknöpfen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde sie in Tränen ausbrechen, aber sie biss sich auf die Unterlippe und kämpfte dagegen an. David spürte, 106 wie sein schlechtes Gewissen einen Knoten in seinem Magen bildete. Egal, wie seine Absichten aussahen, er hatte sie tief gekränkt. »Monique«, begann er. »Es ist mein Fehler. Ich wollte nicht...« »Da hast du verdammt recht, dass es dein Fehler ist. Jetzt geh da rein.« Sie zeigte auf die Ladung Abfall in dem Segeltuch-Container. Verwirrt schaute David sie an. »Da rein?« »Ganz genau. Du kannst dich auf den Boden legen, und ich häufe den Abfall über dich. Dann können wir beide in das Gebäude gehen und Gupta aufsuchen.« Scheiße, dachte er. Aber es war seine eigene Idee gewesen. Lucille Parker saß in einem der Passagiersitze der C-21, der Air-Force-Version des Learjets, während die Maschine über den Westen Pennsylvanias dahinzog. Sie schaute aus dem Fenster und sah den Turnpike, der wie ein straff gezogenes Seil über den grünen Hügeln und Tälern lag. Irgendwo an dieser Strecke lag die Raststätte, wo man David Swift gesichtet hatte, aber Lucille konnte sie nicht erkennen. Höchstwahrscheinlich waren sie schon daran vorbei. Weiter vorn konnte sie die Stadt Pittsburgh ausmachen, ein grauer Klecks, der den Monongahela River überspannte. Der Anruf vom Direktor des Bureau erfolgte in dem Moment, als das Flugzeug mit dem Abstieg begann. Lucille nahm den Hörer des ARC-190 in die Hand, des Air-Force-Funkgeräts, das eine abhörsichere Kommunikation mit Festnetzgeräten ermöglichte. »Hier Black One.« »Hallo, Lucy«, sagte der Direktor. »Wie sieht es aus?« »Ich bin zehn Minuten vom Pittsburgh International entfernt. Am Flughafen wartet ein Fahrzeug auf mich.« »Was ist mit dem Hinterhalt?« »Bis jetzt kein Zeichen von dem Verdächtigen, aber dazu 106 ist es noch zu früh. Wir haben zehn Agenten in der Umgebung von Guptas Gebäude und weitere zehn drinnen. Videokameras im Foyer sowie an allen Eingängen, und Abhöranlagen auf allen Stockwerken.« »Sind Sie sicher, dass dies die richtige Vorgehensweise ist? Vielleicht sollten wir uns Gupta einfach schnappen und feststellen, was er weiß.« »Nein, wenn wir Gupta jetzt in Gewahrsam nehmen, wird das ziemlich schnell die Runde machen, und Swift wird nicht mal in die Nähe der Universität kommen. Aber wenn wir uns bedeckt halten, können wir beide auf einmal erwischen.« »Okay, ich verlasse mich auf Sie, Lucy. Je schneller wir diesen Job beenden, desto besser. Ich bin es leid, Anrufe vom Verteidigungsminister abzublocken.« Der
Direktor stieß einen langen Seufzer aus. »Gibt es sonst noch irgendwas, was Sie brauchen? Mehr Agenten, mehr Unterstützung?« Lucille zögerte. Das würde heikel werden. »Ich brauche die Personalakten aller Agenten in der Region New York.« »Warum?« »Je mehr ich darüber nachdenke, was gestern Abend in der Liberty Street passiert ist, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass es einen Verräter in unseren Reihen gibt. Die Angreifer wussten zu viel über unsere diversen Einsätze. Ich glaube, sie hatten Hilfe von innen.« Der Direktor seufzte wieder. »Herrgott. Das hat uns gerade noch gefehlt.« Es war dunkel und unbequem und roch viel schlimmer, als David erwartet hatte. Der größte Teil des auf ihn gehäuften Abfalls war harmloses Zeug - Papier, Lumpen, Stofffetzen und so weiter -, aber irgendjemand hatte die Reste seines Frühstücks in den Müll geworfen, und deshalb durchdrang jetzt der Schwefelgeruch verdorbener Eier den unteren Teil des Containers. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, 107 lag die gezackte Kante eines Holzbretts quer über seinem Rücken und grub sich jedes Mal in seine Schulterblätter, wenn die Räder des Containers über eine Unebenheit fuhren. David zuckte zusammen, als Monique ihn aus dem Purnell Arts Center hinaus und auf dem Gehweg in Richtung Newell-Simon Hall schob. Nach etwa einer Minute passten sich seine Augen an die Dunkelheit an, und er bemerkte einen kleinen senkrechten Riss in der Segeltuchverkleidung des Containers. Indem er sich auf Ellbogen und Knien wand, bewegte er sich zentimeterweise vorwärts, bis er durch die Öffnung blinzeln konnte. Sie waren auf dem Parkplatz; unmittelbar vor ihnen war der Highlander Roboterwagen, der sich flott auf den Dienstboteneingang der Newell-Simon zubewegte. Monique ging hinter dem Fahrzeug und den beiden Studenten her, die seine Fortschritte verfolgten. Der Plan schien zu funktionieren. In wenigen Sekunden wären sie in dem Gebäude. Dann hörte David jemanden »Achtung da vorn!« schreien, und eine Sekunde später krachte etwas in den geschichteten Abfall über ihm. Ein stumpfer Gegenstand traf ihn am Hinterkopf und drückte seine Nase gegen den Boden des Müllcontainers. Der Schmerz war heftig, aber er gab keinen Laut von sich. Bald hörte er Schritte. Durch den Riss im Segeltuch sah er ein Paar blasse, behaarte Beine, dann noch eins. Ach du Scheiße, dachte er. Das sind die beiden Agenten mit ihrem Football. Sie hatten ihre Pille genau in den Container geworfen. Schlimmer noch, die Wucht des Aufpralls hatte den Abfall über ihm verschoben, sodass seine Schultern und sein Kopf jetzt freilagen. Die Agenten kamen näher. Einer von ihnen war weniger als zwei Meter entfernt. David lag still und wartete nur darauf, dass der Mann sich über die Seite des Containers beugte und ihn entdeckte. Dann sah er ein drittes Beinpaar, glatt und braun, das vor das des Agenten trat. »Verdammt noch
108 mal!«, schrie Monique. »Ihr hättet mich fast mit dem Ding getroffen!« »Tut mir leid«, erwiderte der Agent. »Wir wollten nicht...« »Das hier ist kein Spielplatz! Ihr Jungs solltet aufpassen, was ihr tut!« Der Mann machte einen Schritt zurück. Mit ein paar Worten und einem bisschen Kampfgeist hatte Monique ihn ernsthaft eingeschüchtert. David musste ihrer Taktik Bewunderung zollen. Die beste Verteidigung war ein guter Angriff. Die Spitzen von Moniques Sandalen wandten sich dem Container zu, und sie beugte sich über die Oberkante. David spürte ihre Hände auf seinem Rücken, als sie den Football wegnahm und den Abfall über ihm neu arrangierte, um ihn zu verdecken. Dann wandte sie sich an die Agenten. »Hier ist euer Ball. Jetzt geht woanders spielen.« Die bleichen Beine zogen sich zurück. Die braunen standen noch ein paar Sekunden Wache, dann verschwanden sie aus seinem Blickfeld, und der Container rollte wieder los. Bald kamen sie durch den Dienstboteneingang der Newell-Simon, eine Ladebucht, die auch als Garage für den Highlander fungierte. Monique steuerte auf den Lastenaufzug zu und drückte auf den Knopf. David hielt den Atem an, bis die Tür des Aufzugs sich öffnete und Monique den Container hineinschob. Sobald sich die Aufzugstür schloss, hustete Monique zweimal rasch hintereinander. Weil sie annahmen, dass die FBI-Leute das Gebäude mit Abhörgeräten versehen hatten, hatten sie sich auf ein Signalsystem verständigt wenn Monique zweimal hustete, bedeutete das: »Ist mit dir alles in Ordnung?« David hustete einmal, um die Frage zu bejahen, und dann waren sie auch schon im dritten Stock. Nachdem sie durch einen makellos sauberen Flur gerollt waren, kamen sie zum Empfangsbereich von Amil Guptas Büro, den David von seinem letzten Besuch im Robotics Ins 108 titute wiedererkannte. Ein eleganter schwarzer, mit Computermonitoren vollgestellter Schreibtisch stand in der Mitte des Raums, genau wie David sich erinnerte, aber dahinter saß nicht mehr die hochgewachsene, vollbusige Blondine, die ihm schöne Augen gemacht hatte, während er auf sein Gespräch mit Gupta wartete, sondern ein junger Mann, ein sehr junger Mann, der höchstens achtzehn Jahre alt war. David verdrehte seinen Kopf ein bisschen, damit er den Teenager besser durch das Loch in dem Segeltuch sehen konnte. Der Junge starrte auf einen Computerbildschirm und bewegte wie wild einen Joystick neben der Tastatur. Höchstwahrscheinlich war er ein Student, ein Computerfreak, der die Highschool ein paar Jahre früher beendet hatte und sich jetzt das Studium finanzierte, indem er Sekretariatsarbeit für das Robotics Institute erledigte. Er hatte ein etwas schwammiges Gesicht mit dunkler Haut und dichten schwarzen Augenbrauen.
Monique ließ den Container stehen und ging zum Schreibtisch des Jungen. »Entschuldigen Sie?«, sagte sie. »Ich bin hier, um Dr. Guptas Büro zu reinigen.« Er schaute nicht auf. Seine Augen starrten auf den Bildschirm und flogen hin und her, um dem Computerspiel zu folgen, dem er sich gerade widmete. »Entschuldigen Sie?«, wiederholte Monique, diesmal ein bisschen lauter. »Ich gehe jetzt in sein Büro, um die Papierkörbe auszuleeren, okay?« Immer noch keine Reaktion. Der Mund des Jungen stand offen, während er auf den Bildschirm starrte, und seine Zungenspitze lag auf seiner Unterlippe. Sein Gesicht ließ überhaupt keine Emotion erkennen, nur eine beständige, maschinenähnliche Konzentration. Die Gesamtwirkung war ein bisschen beunruhigend. Vielleicht ist er kein Student, dachte David. Ihm kam der Gedanke, dass mit dem Jungen vielleicht etwas nicht stimmte. 109 Monique schrieb ihn schließlich ab und ging zu der Tür hinter dem Schreibtisch. Sie packte den Türknauf, aber er ließ sich nicht drehen. Stirnrunzelnd drehte sie sich zu dem Teenager um. »Die Tür ist abgeschlossen«, sagte sie. »Sie müssen sie aufschließen, damit ich meinen Job erledigen kann.« Der Junge antwortete nicht, aber David hörte, wie irgendwo in der Nähe ein lautes Brummen ertönte. Es war das Heulen eines Elektromotors, und es schien sich auf den Container zuzubewegen. Ein erstaunter Ausdruck erschien auf Moniques Gesicht, als sie durch den Raum schaute. Dann sah David, was ihre Aufmerksamkeit erregt hatte: Eine kastenförmige silberne Maschine von der Größe eines Koffers rollte auf Raupenketten auf sie zu. Sie stoppte vor ihren Füßen, streckte einen Roboterarm aus und hielt ihr einen glühbirnenförmigen Sensor entgegen. Die Maschine sah ein bisschen wie eine Schildkröte mit einem sehr langen Hals aus. Monique und der Roboter betrachteten einander argwöhnisch ein paar Sekunden lang, und dann kam eine synthetische Stimme aus den Lautsprechern der Maschine: »Guten Morgen! Ich bin AR-21, der Selbstständige Rezeptionist, entwickelt von den Studenten an dem Robotics Institute. Kann ich Ihnen behilflich sein?« Monique glotzte das Ding an. Sie warf einen Blick auf den menschlichen Rezeptionisten, fragte sich vermutlich, ob er sie zum Narren hielt, aber der Teenager war immer noch vertieft in sein Computerspiel. Die Maschine richtete ihren Sensor neu aus, sodass er ihr Gesicht vermaß. »Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein«, verkündete sie. »Bitte, sagen Sie mir, was Sie wollen, dann werde ich versuchen, Ihnen zu helfen.« Mit offenkundigem Widerwillen wandte sie sich wieder der Maschine zu und schaute in den birnenförmigen Sensor. »Ich bin die Putzfrau. Schließen Sie die Tür auf.« 109
»Tut mir leid«, erwiderte der AR-21. »Ich habe nicht verstanden, was Sie gesagt haben. Könnten Sie bitte wiederholen?« Moniques Stirnrunzeln vertiefte sich. »Die ... Putz ... frau«, sagte sie laut und langsam. »Schließen ... Sie die ... Tür auf.« »Sagten Sie: >Lehrbuchverkauf Bitte antworten Sie mit Ja oder Nein.« Sie machte einen Schritt auf die Maschine zu, und einen Augenblick lang dachte David, sie würde dem Ding einen Tritt versetzen. »Ich muss ... in Dr. Guptas ... Büro hinein. ... Verstanden? Dr. Guptas ... Büro.« »Sagten Sie: >Gupta Bitte antworten Sie mit Ja oder Nein.« »Ja! Ja! Dr. Gupta!« »Professor Amil Gupta ist der Direktor des Robotics Institute. Würden Sie gerne einen Termin mit ihm vereinbaren?« »Ja! Ich meine: nein! Ich muss nur sein Büro sauber machen!« »Professor Gupta hat montags und mittwochs Bürostunden. Der frühest mögliche Termin ist am nächsten Montag um drei Uhr. Würde Ihnen diese Zeit passen? Bitte antworten Sie mit Ja oder Nein.« Moniques Geduld war am Ende. Sie hob resigniert die Hände und stapfte zvj dem Container zurück. David spürte einen Ruck, als sie den Rand der Segeltuchverkleidung packte, und dann begann sie das Ding rückwärts zu schieben, aus dem Empfangsbereich hinaus. Sie bewegten sich schnell durch den Flur, sodass die Räder des Containers auf dem Fliesenboden klapperten. Anstatt jedoch zu dem Lastenaufzug zurückzukehren, öffnete Monique die Tür zu einem Vorratsraum und manövrierte den Container hinein. Sobald die Tür geschlossen war, griff sie in die Abfall 110 schichten hinein und fegte das zerknüllte Papier und die schmutzigen Lappen beiseite, die Davids Kopf und Schultern bedeckten. Er stützte sich auf die Ellbogen, schaute nach oben und blickte in Moniques Gesicht. Die Botschaft war eindeutig: Sie brauchte Hilfe. David hob vorsichtig den Kopf und sah sich in dem Raum um. An den Wänden standen Metallregale, die eine Auswahl von Reinigungsmitteln und Büromaterialien enthielten - Flaschen mit Fußbodenreiniger, Pakete mit Toilettenpapier, Kartons mit Druckerpatronen. In einer Ecke war ein Waschbecken aus Edelstahl angebracht. Von Überwachungskameras war nichts zu sehen. Natürlich konnte das FBI irgendwo eine versteckt haben, aber David bezweifelte, dass die Bundesagenten in einem Raum, der so klein war und selten benutzt wurde, ein elaboriertes Videosystem installieren würden. Mit Abhörgeräten war es allerdings eine andere Sache; es wäre gar kein Problem, in jedem Raum des Gebäudes eins unterzubringen. Ohne ein Wort zu sagen, kletterte er aus dem Container, ging zu dem Waschbecken und drehte den Wasserhahn bis zum Anschlag auf. Er hatte diesen Trick in einem Film gesehen, hatte aber keine Ahnung, ob er tatsächlich verhinderte, dass ihnen jemand
zuhörte. Um sicherzugehen, zog er Monique nahe an sich heran und flüsterte ihr ins Ohr. »Du musst in den Empfangsraum zurückgehen.« Sie schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall«, flüsterte sie. »Dieser verdammte Roboter ist nutzlos. Beschissene Kommunikationssoftware, das ist das Problem.« »Dann geh wieder dorthin und mach den Jungen auf dich aufmerksam. Klopf ihm auf die Schulter, wenn es nicht anders geht.« »Das bringt es nicht. Der Junge sieht aus, als wäre er behindert oder so. Und die FBI-Agenten hören wahrscheinlich alles mit, was ich dort drinnen sage. Wenn ich zu viel Theater mache, werden sie misstrauisch.« 111 »Na ja, was sollen wir sonst machen? Hier warten, bis Gupta das Klopapier ausgeht?« »Gibt es denn keinen anderen Weg in Guptas Büro?« »Ich weiß es nicht! Ich bin seit Jahren nicht mehr hier gewesen! Ich kann mich nicht erinnern ...« Plötzlich stieß irgendetwas gegen Davids Ferse. Es war nur ein leichter Stups hinten gegen seinen Schuh, aber er bekam einen Heidenschreck. Er schaute nach unten und sah eine blaue Scheibe ungefähr so groß wie ein Frisbee, die sich langsam über den Boden des Vorratsraums bewegte und eine feuchte Zickzackspur auf dem Linoleum hinterließ. Eine Sekunde später sah auch Monique die Scheibe und stieß einen überraschten Schrei aus. David legte ihr die Hand auf den Mund. »Keine Angst«, flüsterte er. »Das ist nur ein Roboter zur Bodenreinigung. Noch eins von Guptas Projekten. Er verteilt Reinigungsflüssigkeit in einem programmierten Muster und saugt dann das Schmutzwasser auf.« Sie machte ein finsteres Gesicht. »Jemand sollte auf das Ding treten und es von seinen Qualen erlösen.« David nickte und starrte auf das Gerät, während es weiterkroch. Es wirkte mit seiner spindeldürren Antenne, die vom Rand der Scheibe nach oben abstand, ein bisschen wie ein übergroßes Insekt. Gupta stattete alle seine Roboter mit Sendern aus, weil er von der Idee besessen war, ihre Wege zu kontrollieren. Als David Gupta vor zehn Jahren interviewte, hatte ihm der alte Mann stolz einen Computerbildschirm gezeigt, auf dem detailliert die Positionen aller selbstständigen Maschinen verzeichnet waren, die durch die Flure und Laboratorien der Newell-Simon Hall wanderten. Die Erinnerung an diesen Bildschirm mit seinen blinkenden Punkten und den dreidimensionalen Grundrissen der einzelnen Stockwerke brachte David jetzt auf eine Idee. »Wenn wir nicht zu Gupta gehen können, bringen wir 111 ihn dazu, zu uns zu kommen«, sagte er und trat auf den Reinigungsroboter zu. Er beugte sich vor, um die Antenne der Maschine zu packen. »Das wird seine
Aufmerksamkeit erregen.« Mit einer raschen Drehung des Handgelenks brach er die dünne Antenne ab. Der Roboter gab sofort einen ohrenbetäubenden, schrillen Alarmton von sich. David sprang zurück. Das war nicht die Reaktion, mit der er gerechnet hatte; er hatte einen Alarm erwartet, der nur auf Guptas Computer erschien, nicht dieses durchdringende Kreischen. »Verdammt!«, rief Monique. »Was hast du denn da gemacht?« »Ich weiß es nicht!« »Stell es ab! Stell das Ding ab!« David hob das Gerät hoch und drehte es um, wobei er hektisch nach einem Schalter suchte, aber auf der Unterseite des Apparats gab es nur Spritzdüsen und Drehbürsten, und wegen der Lautstärke des Alarms vibrierte das ganze Ding in seinen Händen. Er gab es auf, lief zu dem Waschbecken und schlug so hart er konnte mit dem Roboter gegen die Edelstahlkante. Die Plastikhülle des Apparats brach entzwei, Reinigungsflüssigkeit ergoss sich zusammen mit gesplitterten Platinen in das Becken. Der Lärm hörte abrupt auf. David beugte sich schwer atmend über das Waschbecken. Er drehte sich zu Monique um und sah, dass sie ein Gesicht machte, als sei ihr ein wenig übel. Sie sagte kein Wort, aber es war klar, was sie dachte. Die FBI-Agenten mussten den Alarm gehört haben. Bald würde einer von ihnen in den Vorratsraum kommen, um nachzusehen, was da los war. Monique schien bei dem Gedanken wie gelähmt zu sein, und mehrere Sekunden lang stand sie einfach in der Mitte des Raums, die Augen starr auf die Tür gerichtet. Während er sie anschaute, spürte David, wie etwas in ihm nachgab. Sie saßen in der Falle. Sie waren hilflos. Ihr Plan war gescheitert, bevor er 112 überhaupt richtig konzipiert war. Sie konnten nicht mal sich selber retten, geschweige denn die Welt. Dann ging die Tür auf, und Amil Gupta trat ein. »Okay, reden Sie mit mir. Wie sieht die Lage aus?« Lucille stand in einem mobilen Kommandoposten, den das Bureau früh an diesem Morgen auf den Campus von Carnegie Mellon gezogen hatte. Von außen sah er aus wie ein gewöhnlicher Büroanhänger, ein langer beigefarbener Kasten mit Aluminiumverkleidung, eins von den Dingern, die man normalerweise an einer Baustelle sieht, aber innen enthielt er mehr elektronische Geräte als ein Atom-U-Boot. Auf einer Seite befand sich eine Reihe von Videoschirmen, auf denen Live-Bilder der verschiedenen Büros, Treppenhäuser, Aufzüge und Flure zu sehen waren, die in der Newell-Simon Hall überwacht wurden. Zwei Techniker saßen vor den Bildschirmen; zusätzlich zur Prüfung der Videoübertragungen trugen sie Kopfhörer, um die Gespräche zu verfolgen, die von den Abhörgeräten aufgezeichnet wurden. Am anderen Ende des Anhängers überprüften zwei weitere Techniker den digitalen Verkehr in den
Internetverbindungen des Robotics Institute sowie die Höhe der radioaktiven Strahlung im Gebäude, was bei jedem Antiterror-Einsatz geschah. Und in der Mitte des Anhängers nahm Lucille Agent Crawford in die Zange, ihren pflichtbewussten und ehrgeizigen Stellvertreter. ) »Gupta ist seit zehn Uhr allein in seinem Büro«, berichtete Crawford. Er las seine Notizen vom Display eines Black-berry ab, das er in der Hand hielt. »Um zehn Uhr fünfzehn ging er auf die Toilette, kam um zehn Uhr zwanzig zurück. Um elf Uhr fünf ging er in die Cafeteria, um eine Tasse Kaffee zu trinken, und kam um elf Uhr neun zurück. Sie können ihn jetzt auf Bildschirm Nummer eins sehen, direkt dort drüben.« 113 Der Bildschirm zeigte Gupta an seinem Schreibtisch, wie er sich in seinem Drehstuhl zurücklehnte und konzentriert auf seinen Computermonitor starrte. Der Mann war klein, aber rüstig, ein ein Meter dreiundfünfzig großer Sechsundsiebzigjähriger mit dünnem grauen Haar und einem braunen Puppengesicht. Der Akte zufolge, die Lucy auf dem Weg nach Pittsburgh gelesen hatte, war Guptas kleine Statur die Folge der Unterernährung, die er in den Dreißigerjahren als Kind in Bombay erlitten hatte. Aber jetzt musste er bestimmt nicht mehr hungern; dank dem Verkauf der Softwaregesellschaft, die er begründet, und den verschiedenen Investitionen, die er in der Roboterindustrie gemacht hatte, besaß er jetzt ungefähr dreihundert Millionen Dollar. Obwohl der Kerl dürrer war als ein gerupftes Huhn, trug er einen schönen olivgrünen italienischen Anzug, den sich kein Regierungsangestellter jemals leisten konnte. »Was ist auf seinem Computer?«, fragte Lucille. »Hauptsächlich Softwarecode«, antwortete Crawford. »Unsere Verbindung zu seinem ISP-Kabel zeigt, dass er unmittelbar nach seiner Ankunft im Büro ein riesengroßes Programm heruntergeladen hat, mehr als fünf Millionen Zeilen Code. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es eines seiner Programme mit künstlicher Intelligenz. Seit zwei Stunden nimmt er kleinere Änderungen daran vor.« »Was ist mit seiner E-Mail und Telefonanrufen?« »Er hat ein Dutzend E-Mails bekommen, aber nichts Ungewöhnliches, und alle seine eingehenden Anrufe werden an die Voice-Mail weitergeleitet. Er will offensichtlich nicht gestört werden.« »Sind irgendwelche Besucher in sein Büro gegangen?« Agent Crawford schaute wieder auf seinen Blackberry. »Einer seiner Studenten, ein Asiate namens Jacob Sun, kam in den Empfangsraum und vereinbarte einen Gesprächstermin für nächste Woche. Keine anderen Besucher, von ei 113 nem FedEx-Boten abgesehen. Und eine Putzfrau, sie hat den Empfangsraum vor einer Minute verlassen.« »Haben Sie sie durch die biometrische Datenbank laufen lassen?«
»Nein, das erschien uns nicht notwendig. Keiner der Besucher entsprach dem Profil.« Lucille runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit: entsprach dem Profil?« Crawford blinzelte, und seine Selbstsicherheit geriet ein wenig ins Wanken. »Ah, dem Profil der von uns gesuchten Personen, David Swift und seine Mitverschwörer. Die Individuen, die wir beobachtet haben, waren eindeutig nicht...« »Hören Sie, mir ist egal, ob es ein Student oder eine Putzfrau oder eine neunundneunzigjährige Oma im Rollstuhl ist. Ich will, dass Sie jeden unter die Lupe nehmen, der in die Nähe von Guptas Büro kommt. Nehmen Sie ihre Bilder von der Videoaufzeichnung und lassen Sie sie durch das Gesichtserkennungssystem laufen, verstanden?« Er nickte mehrfach. »Ja, Ma'am, das tun wir sofort. Es tut mir leid, wenn ...« Bevor er den Satz zu Ende führen konnte, stieß einer der Techniker einen Schrei aus und riss sich die Kopfhörer herunter. Crawford, dem in diesem Moment ziemlich viel daran lag, sein Gespräch mit Lucille zu beenden, ging zu dem Mann hin. »Was ist los?«, fragte er. »Eine Rückkoppelung?« Der Techniker schüttelte den Kopf. »Gerade ist irgendein Alarm ausgelöst worden. Auf dem dritten Stock, glaube ich.« Lucilles Kopfhaut begann zu kribbeln. »Das ist Guptas Etage, stimmt's?« Im gleichen Augenblick drehte sie sich zu Bildschirm Nummer eins um und sah, wie der kleine Mann sich von seinem Stuhl erhob und sich von dem Schreibtisch entfernte. »Seht mal, er ist in Bewegung! Er geht aus dem Büro!« 114 Crawford beugte sich über die Schulter des Technikers und deutete auf eine Reihe von Knöpfen unter den Videoschirmen. »Schalten Sie auf die Kamera im Empfangsraum um. Mal sehen, wo er hingeht.« Der Techniker drückte auf einen Knopf. Bildschirm Nummer eins zeigte jetzt einen unscheinbaren Teenager, der an einem Schreibtisch saß, und ein mechanisches Vehikel, das aussah wie ein Minipanzer. Allerdings keinen Gupta. Sie warteten mehrere Sekunden, aber von ihm war nichts zu sehen. »Wo ist er hingegangen?«, fragte Lucille. »Hat sein Büro einen zweiten Ausgang?« Crawford begann wie wild zu blinzeln. »Ah, ich muss mir den Grundriss ansehen. Lassen Sie mich ...« »Mist, dafür haben wir keine Zeit! Lassen Sie sofort ein paar Agenten dort hochgehen!« David packte Professor Gupta und legte ihm die Hand auf den Mund, während Monique die Tür hinter ihm verschloss. Der alte Mann war überraschend leicht, kaum mehr als fünf-undvierzig Kilo, sodass es relativ einfach war, ihn in den hinteren Teil des Vorratsraums zu tragen. So behutsam er konnte, setzte David Gupta an der Wand ab und hockte sich neben ihn. Der Professor war fast doppelt so alt wie David, und dennoch verliehen ihm sein zierlicher Körperbau
und sein faltenloses Gesicht eine bemerkenswert kindliche Erscheinung. Einen Moment lang stellte David sich vor, er hielte Jonah fest, legte ihm einen Arm um die Schultern, um ihn zu wärmen, und berührte sanft seine Lippen, damit sein Weinen leiser wurde. »Dr. Gupta?«, flüsterte er. »Erinnern Sie sich an mich? Ich bin David Swift. Ich bin schon mal hier gewesen, um Sie zu Ihrer Arbeit mit Dr. Einstein zu interviewen, erinnern Sie sich?« Seine Augen, zappelige weiße Murmeln mit dunkelbraunen 115 Kreisen in der Mitte, musterten David eine Sekunde unsicher, weiteten sich dann, als sie ihn wiedererkannten. Seine Lippen bewegten sich unter Davids Hand. »Was wollen Sie ...« »Bitte!«, zischte David. »Sprechen Sie nicht lauter als im Flüsterton.« »Zu Ihrer eigenen Sicherheit«, fügte Monique hinzu, die sich über Davids Schulter beugte. »Ihre Büros werden überwacht. Es befinden sich vielleicht Abhörgeräte in diesem Raum.« Guptas Augen flogen zwischen David und Monique hin und her. Er war offenbar zu Tode erschrocken, aber er schien zu versuchen, die Situation zu verstehen. Nach ein paar Sekunden nickte er, und David nahm seine Hand vom Mund des alten Mannes. Gupta leckte sich nervös über die Lippen. »Abhörgeräte?«, flüsterte er. »Wer hört denn zu?« »Mit Sicherheit das FBI«, erwiderte David. »Und vielleicht auch noch andere. Einige sehr gefährliche Leute halten nach Ihnen Ausschau, Professor. Wir müssen Sie hier rausbringen.« Gupta schüttelte verwirrt den Kopf. Sein widerspenstiges graues Haar fiel ihm in die Stirn. »Ist das eine Art Scherz? David, ich habe Sie seit Jahren nicht gesehen, und jetzt kommen Sie mit ...« Er brach ab und zeigte auf Moniques Uniform. »Wer sind Sie denn? Arbeiten Sie für die Carnegie Mellon Gebäudereinigung?« »Nein, ich bin Mohique Reynolds«, flüsterte sie. »Vom Institute for Advanced Study.« Er sah sie lange an, als versuche er, sie unterzubringen. »Monique Reynolds? Die String-Theoretikerin?« Sie nickte. »Das stimmt. Es tut mir leid, wenn wir ...« »Ja, ja, ich kenne Sie.« Er lächelte schwach. »Meine Stiftung unterstützt einige Experimente in Teilchenphysik bei Fermilab, deshalb bin ich mit Ihrer Arbeit vertraut. Aber warum tragen Sie diesen Kittel?« 115 David wurde allmählich ungeduldig. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die FBIAgenten in dem Vorratsraum auftauchten, um herauszufinden, was den Alarm ausgelöst hatte. »Wir müssen uns auf die Socken machen, Professor, ich werde Ihnen in den Müllcontainer helfen, und dann ...« »In den Müllcontainer?«
»Bitte, kommen Sie einfach mit uns. Wir haben keine Zeit für Erklärungen.« David packte Guptas Arm oberhalb des Ellbogens und half ihm auf die Beine. Aber der alte Mann wollte sich nicht von der Stelle rühren. Mit erstaunlicher Kraft riss er seinen Arm aus Davids Griff. »Sie werden sich leider die Zeit nehmen müssen. Ich gehe nirgendwohin, bis Sie mir erklären, was hier vor sich geht.« »Hören Sie, die Agenten werden jeden ...« »Dann empfehle ich Ihnen, sich zu beeilen.« Mist, dachte David. Das war das Problem mit diesen brillanten Wissenschaftlern, sie waren so verdammt rational. Er schaute einen Augenblick lang an die Decke, versuchte, seine Angst in den Griff und seinen Kopf klar zu bekommen. Dann sah er Gupta in die Augen. »Die Einheitliche Feldtheorie«, flüsterte er. »Das ist es, was sie wollen.« Die Wörter übten eine verzögerte Wirkung auf Gupta aus. Zunächst zog er nur leicht überrascht die Augenbrauen hoch, aber nach ein paar Sekunden wurde sein Gesicht schlaff. Er sank zurück gegen die Wand und starrte ausdruckslos auf die Regale mit Reinigungsmitteln. David beugte sich über ihn, damit er dem alten Mann weiter ins Ohr flüstern konnte. »Irgendjemand versucht, die Theorie zusammenzusetzen. Vielleicht sind es Terroristen, vielleicht sind es Spione, ich weiß es nicht. Zuerst haben sie sich MacDonald vorgeknöpft, dann Bouchet und Kleinman.« Er machte eine Pause, weil er sich davor fürchtete, was er als Nächstes sagen musste. Gupta hatte viele Jahre mit den ande 116 ren Physikern zusammengearbeitet. Er und Kleinman waren besonders eng befreundet gewesen. »Es tut mir leid, Professor. Sie sind alle drei tot. Sie sind als Einziger übrig.« Gupta schaute zu ihm hoch. Die braune Haut unter seinem rechten Auge zuckte. »Kleinman? Er ist tot?« David nickte. »Ich habe ihn gestern Abend im Krankenhaus besucht. Er war gefoltert worden.« »Nein, nein, nein ...« Gupta griff sich an den Bauch und stöhnte. Seine Augen schlossen sich, und sein Mund ging auf. Es hatte den Anschein, als würde er sich gleich übergeben Monique legte den Arm um den Professor. »Sch-sch-sch«, flüsterte sie und klopfte ihm auf den Rücken. »Es wird alles wieder gut, es wird alles wieder gut.« David wartete mehrere Sekunden, während Monique den alten Mann tröstete. Aber er durfte nicht zu lange warten. Vor seinem inneren Auge stürmten die FBI-Agenten das Treppenhaus der Newell-Simon Hall hoch. »Die Regierung hat rausbekommen, was da los war«, sagte er. »Und jetzt wollen sie die Theorie auch haben. Deshalb lässt das FBI Sie überwachen, und deshalb sind sie seit sechzehn Stunden hinter mir her.«
Gupta schlug die Augen auf und zuckte zusammen. Sein Gesicht war schweißüberströmt. »Woher wissen Sie das alles?« »Bevor Kleinman starb, gab er mir einen Code, eine Folge von Zahlen. Es stellte sich heraus, dass es sich um die geografischen Koordinaten Ihres Büros handelte. Ich glaube, Kleinman wollte, dass ich die Theorie irgendwie in Sicherheit bringe. Sie sowohl vor der Regierung als auch vor den Terroristen verstecke.« Der Professor starrte auf den Boden und schüttelte langsam den Kopf. »Sein schlimmster Albtraum«, murmelte er. »Das war der schlimmste Albtraum des Herrn Doktor.« David spürte einen Adrenalinstoß. Seine Halsschlagader 117 begann zu pochen. »Wovor hatte er Angst? War es eine Waffe?« Gupta schüttelte weiter den Kopf. »Das hat er mir nie gesagt. Er hat es den anderen gesagt, nicht mir.« »Was? Was meinen Sie damit?« Gupta holte tief Luft und zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche. »Einstein war ein Mann mit Gewissen, David. Er dachte sehr gründlich nach, bevor er die Leute aussuchte, die diese Bürde übernehmen mussten.« Er hob das Taschentuch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Im Jahr 1954 war ich verheiratet, und meine Frau war schwanger mit unserem ersten Kind. Das Letzte, was der Herr Doktor tun wollte, war, mich einer Gefahr auszusetzen. Deshalb teilte er die Gleichungen auf und gab sie stattdessen den anderen -Kleinman, Bouchet und MacDonald. Keiner von ihnen war verheiratet, verstehen Sie.« Monique warf David einen besorgten Blick zu. Gleichermaßen beunruhigt beugte sich David ein bisschen näher zu dem alten Mann. »Einen Moment mal«, flüsterte er. »Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Einheitliche Theorie nicht kennen? Nicht mal einen Teil davon?« Gupta schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß, dass Einstein es geschafft hat, die Theorie zu formulieren, und dass er beschlossen hat, sie geheim zu halten. Aber ich kenne keine der Gleichungen oder der ihnen zugrunde liegenden Prinzipien. Meine Kollegen haben dem Herrn Doktor geschworen, dass sie es keiner Menschenseele verraten würden, und sie haben ihren Schwur strikt eingehalten.« Davids Enttäuschung war derart stark, dass ihm schwindlig wurde. Er musste sich an der Wand abstützen, um das Gleichgewicht zu bewahren. »Moment mal, Moment mal«, stotterte er. »Das ergibt doch keinen Sinn. Kleinmans Code war auf Sie gerichtet. Warum hat er mich hierhergeschickt, wenn Sie die Theorie nicht kennen?« 117 »Vielleicht haben Sie den Code falsch interpretiert.« Gupta hatte seine Fassung zum Teil wiedergewonnen, und jetzt schaute er David an, als wäre er ein Student. »Sie sagten, es sei eine Zahlenfolge?« »Ja, ja, sechzehn Ziffern. Die ersten zwölf sind die geografische Breite und Länge der Newell-Simon Hall. Die letzten vier sind die Nummer in Ihrem Telefon ...«
David brach mitten im Satz ab. Er hatte etwas gehört. Ein schnelles metallisches Rasseln, leise, aber unverkennbar, das von der Tür des Vorratsraums herrührte. Jemand versuchte, den Türknauf zu drehen. Agent Crawford schwebte über der Videokonsole, sein besorgtes Gesicht knapp zwanzig Zentimeter von dem Bildschirm entfernt. Uber sein Sprechfunkgerät murmelte er Anweisungen an das Zwei-Mann-Team, das zu Amil Guptas Büro unterwegs war. Lucille stand hinter ihm und überprüfte die ganze Aktivität in dem Kommandoposten. Sie hatten die Newell-Simon Hall abgeriegelt, sodass Gupta keine Chance hatte, das Gebäude unbemerkt zu verlassen. Auf dem Videomonitor sah Lucille die Agenten Walsh und Miller in Guptas Empfangsraum marschieren. Sie waren wie Studenten angezogen - Shorts, TShirts und Turnschuhe -, und jeder trug einen großen blauen Rucksack. Nicht die schlaueste Verkleidung der Welt, aber sie musste genügen. Der unscheinbare Teenager saß immer noch an dem Schreibtisch, aber der Minipanzer war mittlerweile verschwunden. Einer der Agenten - Walsh, der größere - näherte sich dem Jungen. »Sie müssen Professor Gupta holen!«, rief er. »Im Computerlabor ist ein Feuer ausgebrochen!« Der Junge schaute nicht mal hoch. Er starrte einfach weiter auf den Flachbildschirm, der den meisten Platz auf seinem Schreibtisch einnahm. Weil die Überwachungskamera 118 im Empfangsraum in der Wand hinter dem Jungen eingelassen war, konnte Lucille einen Blick darauf werfen, was sich auf dem Monitor abspielte: Ein Zeichentricksoldat in einer khakifarbenen Uniform rannte an einem gelben Blockhaus vorbei. Irgendein verdammtes Computerspiel. Agent Walsh beugte sich über den Schreibtisch, bis sein Gesicht vor dem des Jungen war. »He, bist du taub? Das ist ein Notfall! Wo ist Professor Gupta?« Der Teenager legte einfach den Kopf schief und machte weiter mit seinem Spiel. In der Zwischenzeit ging Agent Miller zur Tür von Guptas Büro. »Sie ist abgeschlossen«, sagte er. »Sieh mal nach, ob es auf dem Schreibtisch einen Summer gibt, mit dem man die Tür aufmacht.« Walsh drückte sich um den Schreibtisch herum und schob den Stuhl des Jungen beiseite. Als er sich vorbeugte, um die Arbeitsfläche zu untersuchen, kam er mit der Hand gegen die Tastatur, und der Bildschirm wurde schwarz. In demselben Moment sprang der Teenager aus seinem Stuhl und begann zu schreien. Es war ein schrecklicher, verzweifelter, wahnsinniger Schrei, lang und beharrlich. Der Junge flatterte mit den Armen, während er schrie, wedelte wild mit den Händen, als ob sie in Flammen stünden. »Herrgott noch mal!«, rief Walsh und fuhr herum, um ihn anzusehen. »Halt dein verdammtes Maul!«
Der Teenager wurde steif und schrie noch lauter. Ach du Scheiße, dachte Lucille, als sie auf den Monitor starrte. Sie hatte diese Art Benehmen schon mal gesehen. Eins der Enkelkinder ihrer Schwester in Houston hatte das gleiche Problem. Der Junge war autistisch. Sie machte einen Schritt nach vorn und griff sich das Sprechfunkgerät von Agent Crawford. »Lasst den Jungen in Ruhe!«, schrie sie in das Mikrofon. »Brecht einfach die Tür auf!« Walsh und Miller öffneten gehorsam ihre Rucksäcke und 119 holten ihr Einbruchwerkzeug heraus. Walsh setzte das gegabelte Ende der Halligan-Stange zwischen Tür und Türpfosten an, und Miller schwang den Vorschlaghammer, um das Teil hineinzutreiben. Nach nur drei Schlägen stemmten sie die Tür auf und eilten in Guptas Büro. Lucille sah zu, wie die Agenten auf einem anderen Videomonitor erschienen, wo sie an dem Schreibtisch des Professors vorbeigingen, um den Raum zu durchsuchen. »Er ist nicht hier«, berichtete Walsh über das Funkgerät. »Aber es gibt hinten eine andere Tür, die quasi hinter den Bücherregalen versteckt ist. Sollen wir in dieser Richtung vorrücken?« »Zum Teufel, ja doch!«, bellte Lucille. Neben ihr blätterte Agent Crawford durch die Grundrisse der Newell-Simon Hall. »Diese Tür ist nicht in den Plänen«, sagte er. »Sie muss erst kürzlich eingebaut worden sein.« Lucille sah ihn voller Empörung an. Er war nicht zu gebrauchen. »Ich will, dass weitere sechs Agenten ihre Arsche in den dritten Stock hochbewegen, haben Sie verstanden? Jeder Raum muss durchsucht werden, jeder gottverdammte Raum!« Während Crawford an seinem Funkgerät herumfummelte, kam einer der Techniker mit einem Ausdruck in der Hand zu Lucille. »Ah, Agent Parker?«, sagte er. »Kann ich Sie eine Sekunde stören?« »Herrgott! Was denn Aun?« »Ich habe, äh, die Ergebnisse der Datenbanksuche, um die Sie gebeten haben. Ich hab die Bilder von den Überwachungskameras durch das Gesichtserkennungssystem laufen lassen.« »Nun spucken Sie es schon aus! Haben Sie irgendwas gefunden?« »Ah, ja, ich glaube, ich hab was gefunden, was Sie sich vielleicht ansehen sollten.« 119 »He, ist da irgendjemand drin?« Sie erstarrten alle drei, als sie die dröhnende Stimme auf der anderen Seite der Tür hörten. David, Monique und Professor Gupta hielten zur selben Zeit den Atem an, und das einzige Geräusch im Vorratsraum kam von dem Wasserstrahl, der immer noch in das Waschbecken lief.
Dann ertönte ein dringliches Klopfen an der Tür, das so heftig war, dass die Wände erzitterten. »Hier spricht die Feuerwehr! Wenn irgendjemand dort drin ist, soll er die Tür aufmachen!« Gupta packte David am Arm, seine zierlichen Finger gruben sich in den Bizeps. Wieder dachte David an seinen Sohn, erinnerte sich daran, wie Jonah sich an ihn hängte, wenn er Angst hatte. Gupta zeigte auf die Tür und schaute ihn fragend an. David schüttelte den Kopf. Das war eindeutig nicht die Feuerwehr. Jetzt kam ein klirrendes Geräusch aus dem Flur. Etwas Schweres kratzte am Türrahmen. Eine Sekunde später erschütterte ein donnerartiger Schlag den Raum. In dem schmalen Spalt zwischen der Tür und dem Türpfosten sah David das gegabelte Ende einer Metallstange. Monique zog ihren Revolver aus dem Hosenbund ihrer Shorts, und diesmal hielt David sie nicht auf. Er wusste, dass sie nicht die geringste Chance hatten, dass die FBI-Agenten sie in Stücke schießen würden, falls sie das Feuer eröffneten, aber in diesem Moment dachte er nicht allzu klar. In Wirklichkeit fühlte er sich wie betrunken, betrunken vor Angst und Wut. Es war dumm und selbstmörderisch, aber er war so stinksauer, dass es ihm egal war. Ich scheiße auf alles, dachte er. Ich ergebe mich nicht kampflos. Glücklicherweise ergriff Professor Gupta die Initiative. Er ließ David los und packte Moniques Arm, zwang sie, die Waffe zu senken. »Das brauchen Sie nicht«, flüsterte er. »Ich habe eine bessere Idee.« 120 Gupta griff in die Innentasche seines Jacketts und zog ein Gerät im Taschenformat heraus, das ein bisschen so aussah wie ein Blackberry, aber offenbar eine Spezialanfertigung war. Mit seinen flinken kleinen Daumen begann er auf die Tastatur des Geräts einzutippen. Auf dem Miniaturschirm war ein dreidimensionales architektonisches Layout zu sehen, ein Bauplan der NewellSimon Hall mit blinkenden Symbolen, die auf die einzelnen Stockwerke verteilt waren. David hatte diesen Plan schon einmal bei seinem früheren Besuch in Guptas Büro gesehen. Der alte Mann benutzte ihn, um die Positionen seiner Roboter zu kontrollieren. Ein weiterer wuchtiger Schlag erschütterte die Tür. Der Lärm ließ David zusammenfahren, aber Gupta blieb über seinen winzigen Schirm gebeugt, und seine Daumen arbeiteten wie verrückt. Herr im Himmel, dachte David, was zum Teufel macht er da? Dann der dritte Schlag, der lauteste von allen, und er war von einem tiefen metallischen Stöhnen begleitet, dem Geräusch des Stahltürrahmens, der unter dem Druck der Halligan-Stange nachgab. Das gegabelte Ende ragte jetzt mehrere Zentimeter in den Raum und glänzte silbergrau im Licht der Neonlampen. Noch ein leichter Klaps, und die Tür würde aufspringen. Dann hörte David ein vertrautes Summen im Flur außerhalb des Raums. Es war das Heulen eines Elektromotors, der immer näher kam. Kurz darauf ertönte die
synthetische Stimme des Selbstständigen Rezeptionisten AR-21: »WARNUNG! Es sind gefährliche radioaktive Strahlenwerte gemessen worden. Verlassen Sie sofort das Gebäude ... WARNUNG! Es sind gefährliche radioaktive Strahlenwerte gemessen worden. Verlassen Sie sofort das Gebäude ...« Wie um die Warnung des Roboters zu bestätigen, erklang im ganzen Gebäude ein Alarm über die Lautsprecheranlage, und die stroboskopische Notfallbeleuchtung an der Decke begann zu blinken. Gupta hatte offenbar die elektrische 121 Anlage des Gebäudes neu verkabelt, sodass er sie mit seinem Handapparat kontrollieren konnte. Neben dem Alarmton vernahm David Rufe im Flur, die Stimmen der FBI-Agenten, die sich gegenseitig Anweisungen erteilten. Dann ließen sie ihre Einbruchwerkzeuge fallen - David hörte sie auf den Boden klappern - und rannten zum Ausgang. Bald konnte er ihre Schritte nicht mehr hören. Grinsend steckte Monique ihre Waffe weg und drückte Professor Guptas Schulter. Der alte Mann lächelte verlegen und zeigte auf den Apparat in seiner Hand. »Die Warnung war schon in dem Programm«, sagte er. »Wir haben diese Klasse von Robotern ursprünglich für das Verteidigungsministerium entwickelt. Für Aufklärungseinsätze in der Umgebung von Schlachtfeldern. Die Militärversion heißt Dragon Runner.« »Wir machen uns jetzt besser auf den Weg«, sagte David. »Die Agenten werden in ein paar Minuten mit ihren Geigerzählern wieder hier sein.« Er führte den Professor zu dem Müllcontainer und bereitete sich darauf vor, ihn hineinzuhieven. »Es ist nicht das bequemste Gefährt, aber ich bin damit in das Gebäude gekommen. Sie müssen nur still liegen, okay?« »Sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist?«, fragte Gupta. »Das FBI sucht jetzt nach mir, und das Gebäude ist wahrscheinlich umstellt. Glauben Sie nicht, dass sie den Container durchsuchen werden?« Monique, die bereits die Tür aufgeschlossen hatte, blieb stehen. »Mist, er hat recht. Wir kommen hier so nicht raus.« David schüttelte den Kopf. »Wir haben keine andere Wahl. Wir nehmen den Container so weit wie möglich, bis wir an den Überwachungskameras vorbei sind, und dann müssen wir es einfach darauf ankommen lassen, dass ...« »Diese Überwachungskameras«, schaltete sich Gupta ein. »Sie übertragen ihre Signale drahtlos, korrekt?« 121 »Äh, ja, ich glaube schon«, antwortete David. »Ich meine, es ist eine verdeckte Operation, also dürfte das FBI kein Interesse daran haben, in dem ganzen Haus Kabel zu verlegen.« Gupta lächelte wieder. »Dann können wir ein bisschen daran drehen. Bringen Sie mich zum Raum 407. Da ist der Störsender drin. Danach brauchen wir den Müllcontainer nicht mehr.«
»Aber wie sollen wir aus dem Gebäude rauskommen?«, fragte Monique. »Selbst wenn die Kameras es nicht mehr tun, haben sie immer noch genug Agenten, um alle Ausgänge zu kontrollieren.« »Keine Sorge, ich kenne einen Ort, wo wir hingehen können«, erwiderte Gupta. »Meine Studenten werden uns helfen. Aber wir müssen zuerst Michael holen.« »Michael?« »Ja, er sitzt an dem Schreibtisch in meinem Empfangsbereich. Er spielt dort gern mit seinen Computerspielen.« Der seltsame Junge, dachte David. Der auf den Computermonitor gestarrt hatte, anstatt Monique zu antworten. »Entschuldigen Sie, Professor, aber warum wollen Sie ...« »Wir können ihn nicht hierlassen, David. Er ist mein Enkel.« Lucille studierte den Ausdruck, den sie in den Händen hielt. Auf der linken Seite war ein Bild von einer der Überwachungskameras, ein Standbild von einer Putzfrau, die einen Segeituchcontainer in Amil Guptas Empfangsbereich schob. Auf der rechten war eine Seite aus dem FBI-Dossier über Monique Reynolds, Physikprofessorin an Princetons Institute for Advanced Study. Das Bureau hatte zur Vorbereitung des Undercover-Einsatzes in ihrem Haus in der Mercer Street 112 eine ganz schöne Menge an Informationen über Professor Reynolds zusammengetragen. Die Agenten in New 122 Jersey berichteten, dass sie nicht vorbestraft sei, obwohl ihre Mutter eine lange Liste von Festnahmen wegen Drogendelikten habe und ihre Schwester eine Prostituierte in Washington, D. C, sei. Wichtiger allerdings war, dass Professor Reynolds keine offenkundige Verbindung zu einem der Assistenten Einsteins hatte; das Institut hatte ihr die ehrenvolle Nutzung des Hauses in der Mercer Street 122 einfach deshalb überlassen, weil sie eine seiner höchst angesehenen Physikerinnen war. Die Agenten kamen zu der Schlussfolgerung, dass Reynolds völlig unbeteiligt sei, und sprachen die Empfehlung aus, dass das Bureau die Durchsuchung ihres Hauses tarne und sie wie eine mutwillige Beschädigung aussehen lasse. Jetzt schien es allerdings so, als wäre diese Schlussfolgerung voreilig getroffen worden. Sie ist hübsch, dachte Lucille. Volle Lippen, hohe Wangenknochen, geschwungene Augenbrauen. Und ungefähr im selben Alter wie David Swift. Beide waren Ende der Achtzigerjahre Doktoranden in Physik gewesen. Und natürlich war Princeton eine der Haltestellen des New Jersey Transitzuges gewesen, den Swift gestern Nacht bestiegen hatte. Obwohl Lucille unmöglich irgendetwas davon im Voraus hätte erraten können, fühlte sie nichtsdestoweniger einen Anflug von Demütigung, während sie Moniques Bild anstarrte. Magere Ziege, murmelte sie. Du und Swift, ihr hättet mich fast an der Nase rumgeführt. Aber jetzt habe ich euch.
Ein Spektakel am anderen Ende des Kommandopostens unterbrach ihre Gedanken. Agent Crawford stand vor einem der Videomonitore und schrie in sein Sprechfunkgerät. »Richtig, zieht euch ins Erdgeschoss zurück und bezieht dort eure Positionen. Ich wiederhole, bezieht eure Positionen im Erdgeschoss. Wir müssen das Gebäude weiter abriegeln.« Lucille legte den Ausdruck hin und schaute Crawford an. »Was ist da los?« »Wir haben eine Meldung von radioaktiver Strahlung auf 123 dem dritten Stock. Ich ziehe alle Agenten ab, bis wir das Gefahrenstoff-Team dort oben haben.« Lucille durchfuhr ein Ruck. Radioaktive Strahlung? Warum wurde sie nicht früher entdeckt? »Wer hat sie gemeldet? Und von wie vielen Rems ist hier die Rede?« Sie wartete ungeduldig, während Crawford die Fragen in sein Sprechfunkgerät blaffte. Nach mehreren endlosen Sekunden bekam er eine Antwort. »Es war ein Alarm, der ausgelöst wurde. Von einem Aufklärungsroboter, einem Dragon Runner.« »Was? Wir haben gar keine Aufklärungsroboter eingesetzt!« »Aber Agent Walsh hat gesagt, er sei sicher, dass es ein Dragon Runner war.« »Hören Sie, es ist mir egal...« Lucille überlegte. Sie erinnerte sich an etwas, das sie gerade vor ein paar Minuten auf einem der Videomonitore gesehen hatte. Das seltsame Vehikel, das wie ein Minipanzer ausgesehen hatte und über den Boden von Guptas Empfangsbereich gerollt war. »Mist, das ist einer von Guptas Robotern! Das ist ein Trick!« Crawford stand nur da und sah verwirrt aus. »Ein Trick? Was meinen Sie ...« Sie hatte keine Zeit für Erklärungen. Stattdessen riss sie Crawford die Kopfhörer herunter und sprach in das Mikrofon. »Jeder kehrt auf seine frühere Position zurück! Es gibt keine radioaktive Strahlung in dem Gebäude. Ich wiederhole, keine radioaktive Strahlung in ...« »Agent Parker!«, rief einer der Techniker. »Schauen Sie sich Monitor fünf an!« Lucille schaute gerade noch rechtzeitig auf den Bildschirm, dass sie Monique Reynolds ihren Container über den Flur schieben sehen konnte. Sie drückte mit aller Kraft gegen das Ding, beide Hände hatten die Kante des Karrens gepackt, und ihr Oberkörper lag fast waagerecht in der Luft. 123 Und neben ihr lief der autistische Teenager aus Guptas Empfangsraum. Monique verschwand schnell aus dem Sichtfeld der Überwachungskamera, aber Lucille merkte sich den Standort des Geräts. Sie sprach wieder in das Mikrofon. »Alle Teams gehen in die südwestliche Ecke des dritten Stockwerks. Die Zielperson ist in diesem Bereich gesichtet worden. Ich wiederhole, die südwestliche Ecke des dritten Stocks.«
Lucille atmete tief durch und gab Crawford das Sprechfunkgerät zurück. Okay, dachte sie, jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit. Sie starrte auf die Reihe der Videomonitoren und sah ihre Agenten die Treppen von Newell-Simon Hall hochflitzen. In weniger als einer Minute würden sie bei Monique Reynolds' Position zusammenströmen und Amil Gupta aus ihrem Müllcontainer ziehen. Und David Swift vielleicht auch, falls er so dumm gewesen war, mit ihr in das Gebäude zu gehen. Und dann konnte Lucille diesen ganzen miesen Auftrag vergessen und zurück in ihr Büro in Quantico gehen, wo sie sich keine Sorgen um theoretische Physik oder Historiker auf der Flucht oder die bescheuerten Buck-Rogers-Ein-fälle des Verteidigungsministers zu machen brauchte. Aber während sie noch in Gedanken bei diesen fröhlichen Aussichten verweilte, wurde jeder Bildschirm in der Reihe der Videomonitoren plötzlich schwarz. Nachdem er mit dem Ferrari viereinhalb Stunden so schnell gefahren war, wie er glaubte, sich erlauben zu können, erreichte Simon Carnegie Mellon und steuerte direkt weiter in Richtung des Robotics Institute. Als er jedoch von der For-bes Avenue abbog, fürchtete er, zu spät zu kommen. Ein Dutzend kräftige Männer in Shorts und T-Shirts bewachte den Eingang des Gebäudes; die Hälfte von ihnen durchsuchte die Rucksäcke und Handtaschen der Studenten und Studentinnen, die das Foyer verlassen wollten, und die andere Hälfte 124 musterte misstrauisch die Menge, während ihre Pistolen in kaum verborgenen Holstern steckten. Simon parkte den Wagen und fand hinter einem benachbarten Gebäude eine Beobachtungsposition. Seine Intuition war richtig gewesen. David Swift und Monique Reynolds waren nach Westen gefahren, um sich mit Amil Gupta zu treffen. Simon war Gupta und seine Arbeit bei Dr. Einstein durchaus ein Begriff; er hatte sogar anfangs, als er seinen derzeitigen Auftrag übernommen hatte, vermutet, dass Gupta zusammen mit Bouchet, MacDonald und Kleinman eine seiner Zielpersonen sei. Aber sein Klient Henry Cobb hatte ihm ziemlich früh gesagt, dass Gupta kein lohnender Gesprächspartner sei. Obwohl er einer von Einsteins Assistenten gewesen sei, habe er keine Ahnung von der einheitlichen Theorie. Cobb gab nicht zu erkennen, wie er zu dieser Erkenntnis gekommen war, war sich seiner Sache aber sehr sicher. Daher war es jetzt relativ amüsant, zu sehen, wie die FBI-Agenten das Robotics Institute umstellten, bereit, sich auf einen Mann zu stürzen, der ihnen leider nichts erzählen konnte. Das Problem war jedoch, dass David Swift ebenfalls angenommen hatte, dass Gupta die Theorie kannte, und jetzt sah es so aus, als hätten die Bundesagenten ihn und seine Physikerfreundin in die Falle gelockt. Sie aus dem FBI-Gewahrsam herauszuholen, würde nicht einfach sein. Das Bureau hatte die Sicherheitsmaßnahmen des Einsatzes verstärkt; zusätzlich zu den Agenten vor der Newell-Simon Hall gab es noch ein Dutzend am Dienstboteneingang und vermutlich noch weitere in dem Anhänger, der ihnen als Kommandoposten
diente. Simon hatte ihn anhand der verschwenderischen Anzahl von Antennen auf dem Dach sofort identifiziert. Aber er ließ sich nicht entmutigen. Er wusste, dass er sie ablenken konnte, wenn er auf den richtigen Zeitpunkt wartete. Es war hilfreich, dass so viele Studenten in der Gegend 125 rumstanden und die Agenten anstarrten. Er brauchte vielleicht einen menschlichen Schild, wenn er den FBI-Männern gegenübertrat. Simon zog ein Fernglas hervor, damit er die Operation etwas genauer beobachten konnte. Vor dem Dienstboteneingang stand ein großer Agent mit einem M-16 in der Hand neben einer Reihe von Frauen in hellblauen Kitteln, die Handschellen trugen. Simon zoomte ihre Gesichter näher heran: Alle fünf waren schwarz, aber Monique Reynolds war nicht unter ihnen. Ein paar Schritte entfernt wühlten zwei weitere Agenten in einem Segeltuchcontainer herum und warfen wütend Zeitungen und zerknüllte Tüten und Holzstücke in die Luft. Innerhalb von zwanzig Sekunden war der ganze Abfall auf dem Parkplatz verstreut, und die Agenten starrten niedergeschlagen auf den Boden des Karrens. Dann trabte eine füllige Frau in weißer Bluse und rotem Rock zu den Agenten hinüber und begann sie anzuschreien. Simon richtete das Fernglas auf ihr Gesicht, das viele Falten um die Augen hatte und verzerrt war vor Frustration. Er bekam einen Schock, als er sie wiedererkannte: Es war die Babuschka! Die vollbusige Frau, die ihn in der Nacht zuvor fast getötet hatte! Sie leitete diesen Einsatz hier ebenfalls, und an ihrem Gesichtsausdruck konnte Simon ablesen, dass irgendwas schiefgegangen war. Zumindest eine ihrer Zielpersonen war entkommen. Dann entdeckte Simon noch eine Schar von Agenten, die ein sehr merkwürdig aussehendes Gefährt umschwärmten. Die Fahrerkabine des Vehikels war von dem Fahrgestell abgerissen worden, und an ihrer Stelle saß jetzt ein massiver Maschinenblock, der von einer großen silbernen Scheibe gekrönt wurde. Simon hatte dieses Fahrzeug schon mal in einem Zeitschriftenartikel gesehen. Er erinnerte sich deutlich daran, weil ihn die Technologie fasziniert hatte. Die Scheibe enthielt einen rotierenden Laserscanner, der dazu bestimmt 125 war, Hindernisse im Weg des Gefährts zu entdecken. Die FBI-Männer inspizierten den Wagen gründlich und leuchteten mit ihren Taschenlampen in jeden Winkel und jede Spalte. Ein Agent befragte die beiden Studenten vom Robotics Institute, die den Wagen erprobten, während ein anderer sich auf alle viere niederließ und unter dem Fahrzeug nachsah, offenbar auf der Suche nach blinden Passagieren, die sich an der Bodengruppe des Fahrgestells festklammerten. Schließlich gestatteten die Agenten die Fortsetzung des Tests, und die Studenten gingen hinter dem Roboterwagen her, während dieser sich einen Weg suchte, auf dem er den Parkplatz verlassen konnte. Aber als das Fahrzeug nach rechts in die Forbes Avenue einbog und langsam weiterrollte, fiel Simon etwas Merkwürdiges auf: Die Silberscheibe drehte sich
nicht, während das Fahrzeug abbog. Der Laserscanner arbeitete nicht, und dennoch fuhr der Wagen nicht den Bordstein hoch oder krachte in den entgegenkommenden Verkehr. Er führ eine makellose Kurve und blieb die ganze Zeit in seiner Spur. Simon wusste, dass dies nur zwei Gründe haben konnte: Entweder verwendete das Fahrzeug eine andere Art Technologie, die Hindernisse vermeiden half, oder irgendwo im Innern des Fahrzeugs war ein Fahrer versteckt. Grinsend steckte Simon das Fernglas wieder ein und lief zu seinem Wagen zurück. NEUN
I
n einem dunklen, innerhalb des Highlanders versteckten Abteil hockte Amil
Gupta über den Schaltknöpfen des Armaturenbretts zur manuellen Steuerung. Vier Menschen waren in den engen Raum gezwängt: David quetschte sich zwischen Gupta und Monique, während Michael am anderen Ende des Abteils kauerte und mit einem Gameboy spielte, der auf seinen Knien ruhte. Gupta hatte sie gewarnt, dass sein Enkel schreien würde, wenn man ihn berührte, und deshalb waren David und Monique in einer ungemütlichen Umarmung verschlungen, um ein paar Zentimeter Platz zwischen dem Teenager und ihnen zu schaffen. Moniques Hintern presste Davids Oberschenkel an den Boden, und ihre Ellbogen gruben sich in seine Rippen. Bei einer Gelegenheit stieß ihr Hinterkopf gegen Davids Kinn, sodass er sich in die Zunge biss, aber er gab keinen Laut von sich. Er wusste, dass die FBI-Agenten direkt neben dem Fahrzeug standen. Er konnte sie auf dem Bildschirm in der Mitte des Armaturenbretts sehen, der eine Live-Übertragung von einer der Videokameras des Highlander zeigte. Das Armaturenbrett sah mit seinen schwarzen Handgriffen auf der linken und rechten Seite des Bildschirms in der Mitte ein bisschen so wie das Steuer eines Flugzeugs aus. Gupta drehte den rechten Griff, um das Fahrzeug zu beschleunigen, und drückte den linken, um es abzubremsen. Stoßweise manövrierte er den Highlander von dem Parkplatz herunter und von den FBI-Agenten fort. Als er in die Forbes Avenue einbog, stieß er einen erleichterten Pfeifton aus. »Ich glau 126 be, jetzt sind wir in Sicherheit«, sagte er. »Anscheinend folgt uns keiner von den Agenten.« Gupta blieb in der rechten Spur der stark befahrenen Straße und fuhr im Schneckentempo, damit seine Studenten zu Fuß mit dem Highlander mithalten konnten. David bemerkte, dass auf der Kompassanzeige über dem Bildschirm OSTEN stand. »Wohin fahren wir?«, fragte er. »In keine besondere Pachtung«, erwiderte Gupta. »Ich versuche nur, ein wenig Abstand von den Herren des FBI zu gewinnen.«
»Fahren Sie zum Parkplatz im Osten des Campus«, raunte Monique. »Da steht mein Wagen. Ich kann nicht sehr viel länger so eingepfercht bleiben.« Gupta nickte. »Okay, aber es wird ein paar Minuten dauern, bis wir dort ankommen. Ich kann mit dem Highlander schneller fahren, aber es würde sehr verdächtig wirken, wenn ich meine Studenten zurückließe.« Der alte Mann schien sich mit der manuellen Schaltung ganz gut auszukennen. »Etwas verstehe ich nicht«, sagte David. »Warum haben Sie ein manuelles Steuerungssystem in ein Fahrzeug mit automatischer Lenkung eingebaut?« »Der Highlander ist ein Auftrag der Army«, erklärte Gupta, »und die Army wollte ein Fahrzeug mit Selbststeuerung, das notfalls auch von Soldaten gefahren werden kann. Verstehen Sie, das Pentagon vertraut der Technologie nicht wirklich. Ich habe es ihnen auszureden versucht, aber sie bestanden darauf. Deshalb haben wir das manuelle Steuerungssystem und das Zwei-Mann-Cockpit entworfen. Wir haben das Cockpit genau in die Mitte des Fahrzeugs gelegt, um die Menge der Panzerung zu maximieren, die darum herum geschichtet werden konnte.« »Aber warum haben die FBI-Agenten nicht begriffen, dass hier drinnen Leute sein könnten? Wissen sie nichts von den Projekten der Army?« 127 Der Professor lachte still in sich hinein. »Offensichtlich haben Sie noch nie für die Regierung gearbeitet. All diese Forschungs-und-Entwicklungs-Aufträge sind streng geheim. Die Army erzählt der Navy nicht, was sie tut, und die Navy erzählt es nicht den Marines. Vollkommen lächerlich, die ganze Angelegenheit.« Davids rechter Fuß wurde von Moniques Gewicht, das auf seinem Oberschenkel lag, allmählich taub. Er versuchte sein Bein ein bisschen zu verlagern, wobei er darauf achtgab, Michael nicht zu streifen. Die Finger des Teenagers tanzten über die Knöpfe des Gameboys, aber der Rest seines Körpers war bewegungslos, arretiert in einer starren Fötushaltung. Auf dem Display des Gameboys schoss ein Zeichentricksoldat mit seinem Gewehr auf ein niedriges gelbes Gebäude. David sah der Handlung ein paar Sekunden zu, bevor er sich zu Gupta hinüberbeugte. »Ihr Enkel scheint jetzt viel ruhiger zu sein«, flüsterte er. »Das Computerspiel hat eine ziemlich wohltuende Wirkung auf ihn.« »Das ist eins der Symptome des Autismus«, sagte Gupta. »Eine Hinwendung zu bestimmten Aktivitäten unter Ausschluss aller anderen. Das ist seine Methode, die Welt auszusperren.« Guptas Tonfall war sachlich. Er sprach so, als wäre er der Arzt des Jungen, ohne jeden Anflug von Bedauern oder Verzweiflung. In Davids Augen schien das eine erstaunliche Leistung emotionaler Beherrschung zu sein. Dazu wäre er nie in der Lage gewesen, wenn Jonah als Autist auf die Welt gekommen wäre. »Wo sind seine Eltern?« Der Professor schüttelte den Kopf. »Meine Tochter ist drogensüchtig, und sie hat mir nie gesagt, wer Michaels Vater ist. Der Junge lebt seit fünf Jahren bei mir.«
Gupta hielt den Blick weiter auf den Bildschirm gerichtet, aber seine Hände schienen sich um die Griffe zu verkrampfen. So viel zur emotionalen Beherrschung, dachte David. 128 Selbst die rationalsten Menschen haben ihre Schwachstellen. Um ihn nicht weiter zu quälen, zeigte David auf Michaels Gameboy. »Ist das nicht das gleiche Spiel, das auf dem Computer in Ihrem Empfangsraum gelaufen ist?« Der Professor nickte, erfreut, das Thema wechseln zu können. »Ja, es ist ein Programm namens Warfighter. Die Army benutzt es zum Kampftraining. Das Robotics Institute hatte den Auftrag, ein neues Interface für das Programm zu entwickeln, und Michael kam eines Tages in das Computerlabor, als wir daran arbeiteten. Er hat einen Blick auf den Bildschirm geworfen, und seitdem ist er darauf versessen. Ich habe versucht, sein Interesse an anderen Computerspielen zu wecken - Major League Baseball, Dinge in dieser Art -, aber er will nur noch Warfighter spielen.« Jetzt verlagerte Monique ihr Gewicht, hob ihr Hinterteil von Davids Oberschenkel und quetschte seine Kniescheibe ein. Ihr Po war fest und muskulös. Trotz der Schmerzen in seinem Bein spürte David, wie ihn eine Welle der Erregung ergriff. Er war eine geraume Zeit nicht mehr so nahe bei einer Frau gewesen. Er wollte die Arme um ihre Taille schließen und ihren Geruch einatmen, aber dies war nun beileibe nicht der richtige Zeitpunkt. Er wandte sich wieder an Gupta. »Ihr Institut hat viele Militäraufträge, nicht wahr? Der Dragon Runner, der Highlander, der Warfighter.« Gupta zuckte mit den Achseln. »Die haben das große Geld. Meine Stiftung hat beträchtliche Mittel, aber nur das Pentagon hat genug, um diese langfristigen Forschungsprojekte zu finanzieren. Allerdings habe ich nie an Waffen gearbeitet. Aufklärung, ja, Kampfsimulation, ja. Aber nie an Waffen.« »Warum ist das Militär Ihrer Ansicht nach so an der Einheitlichen Feldtheorie interessiert? Was für eine Waffe könnte möglicherweise dabei herauskommen?« »Ich sagte Ihnen doch, ich kenne die Details der Einheitlichen Feldtheorie nicht. Aber jede Theorie zur Vereinheit 128 lichung muss beschreiben, was mit Teilchen und Kräften auf sehr hohem Energieniveau geschieht. Einem Energieniveau, das vergleichbar dem in einem schwarzen Loch ist, beispielsweise. Und es ist vorstellbar, dass in diesem Bereich unerwartete Phänomene auftreten.« Monique drehte und wand sich, bis sie wieder auf David lag. Sie wirkte angespannt. »Aber wie könnte man um diese Phänomene herum eine Waffe konstruieren?«, fragte sie. »Es gibt keine praktikable Methode, derart hohe Energien zu generieren. Man würde einen Teilchenbeschleuniger von der Größe der Milchstraße benötigen.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, erwiderte Gupta. »Es ist unmöglich, die Konsequenzen einer neuen Entdeckung in der Physik vorherzusagen. Sehen Sie sich die spezielle Relativitätstheorie des Herrn Doktor an. Nachdem er den Artikel von 1905 geschrieben hatte, brauchte er mehrere Monate, um zu begreifen, dass seine Gleichungen zu der Formel E = mc2 führten. Und weitere vierzig Jahre vergingen, bevor Physiker erkannten, wie man die Formel benutzen konnte, um eine Atombombe herzustellen.« David nickte. »Bei einer Pressekonferenz in den Dreißigerjahren wurde Einstein von einem Journalisten gefragt, ob es möglich sei, Energie freizusetzen, indem man Atome spaltete. Und er verwarf die Idee vollkommen. Seine Antwort lautete: >Das wäre, als würde man im Dunkeln auf Vögel schießen, und das in einem Land, in dem es wenig Vögel gibt.«< »Ganz genau. Der Herr Doktor hätte keinen größeren Irrtum begehen können. Und er wollte diesen Irrtum mit Sicherheit nicht wiederholen.« Der Professor schüttelte den Kopf. »Zum Glück musste ich die Last der einheitlichen Theorie nicht tragen, aber ich wusste, was auf dem Spiel stand. Es ist kein physikalisches Problem, es ist ein Problem des menschlichen Verhaltens. Die Menschen sind einfach nicht 129 so intelligent, dass sie aufhören würden, sich gegenseitig umzubringen. Sie werden alle Geräte, die ihnen zur Verfügung stehen, dazu benutzen, ihre Feinde zu vernichten.« Er verstummte in dem Moment, als auf dem Bildschirm am Armaturenbrett die Einfahrt zu dem riesigen Ostparkplatz auftauchte, der um ein Velfaches größer war als der Parkplatz, den sie vor fünf Minuten verlassen hatten. Der Professor lenkte den Highlander durch die Einfahrt und betätigte den linken Handgriff, um das Gefährt anzuhalten. Dann drückte er auf einen Knopf, der das Bild auf dem Schirm zu einer Panoramaansicht des ganzen Parkplatzes veränderte. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen«, sagte er. »Dr. Reynolds, würden Sie bitte die Position Ihres Wagens auf dem Bildschirm bestimmen?« Monique verdrehte ihren Hals, um genauer hinsehen zu können. Nach ein paar Sekunden zeigte sie auf eine rote Corvette im Hintergrund, knapp hundert Meter entfernt. »Da steht er. Ich erinnere mich, dass ich neben dem Reisebus in der Ecke geparkt habe.« Gupta berührte den Bildschirm an dieser Stelle, woraufhin ein weißes X über der Corvette zu blinken begann. Dann drückte er auf einen anderen Knopf und legte die Arme über der Brust zusammen. »Jetzt habe ich den Highlander auf Selbststeuerungsbetrieb umgeschaltet. Schauen Sie auf den Schirm.« Ohne dass Gupta irgendwelche Hebel bediente, begann das Roboterfahrzeug, über den Parkplatz zu rollen. Es nahm die kürzeste befahrbare Route zu der Corvette, bewegte sich mit zwanzig Stundenkilometern und schlängelte sich gekonnt zwischen den geparkten Autos hindurch. Ungefähr auf halber Strecke
setzte nur knapp drei Meter vor ihnen plötzlich ein Minivan rückwärts aus seiner Parklücke. Der Bildschirm zeigte den Highlander, wie er geradewegs auf die Schiebetür des Vans zuhielt. David streckte automatisch den rechten Fuß 130 nach vorn, blindlings auf der Suche nach dem nicht vorhandenen Bremspedal, aber Gupta ließ die Arme über der Brust verschränkt. Ein Eingreifen war nicht erforderlich, weil der Highlander bereits langsamer wurde. Auf sich allein gestellt blieb das Fahrzeug rechtzeitig stehen. »Erstaunlich, nicht wahr?«, sagte Gupta und zeigte auf den Bildschirm. »Selbststeuerung ist viel mehr als ein einfacher Algorithmus. Es bedeutet Analyse der Umgebung und Identifizierung der Hindernisse. Es ist ein äußerst komplexer Prozess der Entscheidungsfindung, und Entscheidungsfindung ist der Schlüssel zu Intelligenz und Bewusstsein.« Er wandte sich wieder an David und Monique. »Das war der Grund, warum ich von der Physik zur Robotertechnik gewechselt bin. Ich sah, dass die Welt dem Traum des Herrn Doktor, dem Traum des Weltfriedens, kein Stück näher kam. Und ich erkannte, dass dieser Traum nie Wirklichkeit werden würde, bevor es nicht zu einer fundamentalen Veränderung des menschlichen Bewusstseins käme.« Der Fahrer des Minivans schaltete in einen anderen Gang und gab den Weg für den Highlander wieder frei. Einen Augenblick später setzte das Roboterauto seine Fahrt zu der Corvette fort. Währenddessen lehnte sich Gupta gegen die Wand des Innenraums. »Ich dachte, die künstliche Intelligenz könnte als Brücke zu diesem neuen Bewusstsein dienen«, sagte er. »Wenn wir Maschinen beibringen könnten, wie man denkt, könnten wir dabei vielleicht etwas über uns selbst lernen. Ich weiß, diese Idee muss sich völlig utopisch anhören, aber zwanzig Jahre lang habe ich mir in der Hinsicht große Hoffnungen gemacht.« Er senkte den Kopf und seufzte. In dem schwachen Licht des Navigationsschirms sah er erschöpft aus. »Aber unsere Zeit wird knapp. Unsere Maschinen sind intelligent, aber nur so intelligent wie Termiten. Genug, um sich auf einem Parkplatz zurechtzufinden, aber nicht mehr.« 130 Der Highlander kam schließlich an seinem programmierten Zielpunkt an. Der Navigationsschirm zeigte das Heck von Moniques Corvette knapp zwei Meter entfernt; die Buchstaben auf ihrem Nummernschild verbanden sich zu STRINGS. David wandte sich an Gupta in der Hoffnung, mit ihm ihre nächsten Schritte austüfteln zu können, aber der alte Mann starrte immer noch auf den Boden. »Was für eine Verschwendung, was für eine sinnlose Verschwendung«, murmelte er kopfschüttelnd. »Der arme Alastair, das Geheimnis hat ihn in den Wahnsinn getrieben. Er ging zurück nach Schottland, um die Gleichungen zu vergessen, die der Herr Doktor ihm gegeben hatte, aber er konnte sie nicht aus seinem Kopf streichen. Jacques und Hans waren stärkere Persönlichkeiten, aber die Theorie hat auch ihnen Qualen bereitet.«
Monique warf einen Blick über ihre Schulter und sah anschließend David an. Sie hatten keine Zeit für eine längere Besprechung auf dem Parkplatz. Die FBIAgenten waren weniger als eine Meile entfernt, und sobald sie jeden Quadratzentimeter von Newell-Simon Hall inspiziert hatten, würden sie mit Sicherheit den Umkreis ihrer Suche erweitern. Sie könnten sogar beschließen, sich den Highlander noch einmal anzusehen. Von neuem mit Besorgnis erfüllt, beugte sich David näher zu Gupta und berührte den alten Mann am Arm. »Professor, wir müssen gehen. Wie öffnet man die Luke?« Gupta schaute hoch, aber seine Augen sahen durch ihn hindurch. »Wissen Sie, was Hans zu mir gesagt hat, als ich ihn zum letzten Mal sah? Er sagte, es sei vielleicht besser für alle, wenn er und Jacques und Alastair die einheitliche Theorie mit ins Grab nähmen. Ich war schockiert, ihn das sagen zu hören, weil Hans die Theorie mehr liebte als die anderen. Immer wenn es zu einem großen Durchbruch in der Physik kam, bei der Entdeckung des Top-Quark beispielsweise oder der Verletzung der Ladungsparität, rief er mich an und sagte: >Siehst du? Der Herr Doktor hat es vorausgesagt!<« 131 Trotz seiner Angst stimmte David die Erwähnung seines alten Mentors Hans Kleinman nachdenklich. Der arme einsame Mann, wie er durch die Straßen von West Harlem schlurrte, die Geheimnisse des Universums fest in seinem müden Kopf verschlossen. Kein Wunder, dass er nie geheiratet, nie eine Familie gegründet hatte. Und doch war er nicht völlig ohne Freunde gewesen. Er war mit Amil Gupta in Verbindung geblieben. »Wann haben Sie Dr. Kleinman zum letzten Mal gesehen?«, fragte David. Gupta dachte einen Moment nach. »Vor ungefähr vier Jahren, glaube ich. Ja, ja, vor vier Jahren. Hans war gerade von der Columbia emeritiert, und er schien ein bisschen deprimiert zu sein, deshalb habe ich ihn nach Carnegie's Retreat eingeladen. Wir haben zwei Wochen dort verbracht.« »Carnegie's Retreat? Was ist das?« »Der Name klingt großartiger, als es in Wirklichkeit ist. Es ist nur eine alte Jagdhütte unten in West Virginia, die der Carnegie Mellon gehört. Die Universität stellt sie im Sommer den Dozenten zur Verfügung, aber es verbringt kaum jemand seine Ferien dort. Sie ist zu abgelegen.« Eine Hütte im Wald. Kleinman und Gupta hatten vor vier Jahren dort einige Zeit verbracht, aber das war ihre einzige Verbindung zu dem Ort, also würden weder das FBI noch die Terroristen davon etwas wissen. »Gibt es Computer in der Hütte?« Gupta schien über die Frage erstaunt zu sein. Er hob die Hand ans Kinn und klopfte sich mit dem Zeigefinger auf die Lippen. »Ja, wir haben ein Computersystem installiert, damit Michael seine Spiele spielen konnte. Er war damals dreizehn, ja.«
Monique drehte sich um, sodass sie David in die Augen sehen konnte. »Woran denkst du? Dass Kleinman dort die Gleichungen versteckt hat?« Er nickte. »Das ist eine Möglichkeit. Kleinmans Code zu210 folge hatte Professor Gupta die Theorie, stimmt's? Er kennt zwar die Gleichungen nicht, aber vielleicht hat Kleinman sie auf einem der Computer des Professors untergebracht, ohne ihm etwas davon zu sagen. Kleinman wusste, dass er weder die Computer im Robotics Institute noch die bei Professor Gupta zu Hause benutzen konnte - das wären die ersten Stellen, wo die Regierung nachsehen würde, wenn sie zur Jagd auf die Theorie bläst. Diese Hütte in West Virginia wäre ein viel besseres Versteck. Niemand außer Amil weiß, dass Kleinman jemals dort war.« Gupta klopfte sich immer noch auf die Lippen. Er sah nicht überzeugt aus. »Ich habe Hans nie an dem Computer in Carnegie's Retreat gesehen. Und falls er die Theorie dort verstecken wollte, warum hat er mir dann nichts davon gesagt?« »Vielleicht hatte er Angst, dass jemand Sie verhören würde. Oder foltern.« Bevor Gupta antworten konnte, zeigte Monique auf den Navigationsschirm des Highlanders. Die beiden Studenten, die dem Fahrzeug von Newell-Simon Hall bis zum Parkplatz gefolgt waren, winkten in dem Versuch, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, der Kamera zu. Einer der jungen Männer war klein und dick, während der andere hoch aufgeschossen und voller Pickel war, aber beide hatten den gleichen besorgten Gesichtsausdruck. »Mist!«, schrie Monique. »Draußen ist irgendwas los!« Gupta sah ebenfalls auf den Bildschirm. Er drückte auf einen anderen Knopf am Armaturenbrett, und die verborgene Luke ganz oben auf dem Highlander öffnete sich mit einem Zischen. Monique und David krabbelten als Erste hinaus, dann half Gupta seinem Enkel aus dem Fahrzeug. Sobald Davids Turnschuhe den Asphalt berührten, hörte er das Heulen der Sirenen. Ein halbes Dutzend schwarz-weiße Streifenwagen vom Pittsburgh Police Department raste auf der 132 Forbes Avenue vorbei in Richtung Newell-Simon Hall. Das FBI hatte Verstärkung angefordert. Monique eilte zu der Corvette und entriegelte die Türen. »Schnell! Steigt ein! Bevor sie die Straßen abriegeln!« David brachte Professor Gupta und Michael zur Beifahrertür, als er abrupt stehen blieb. »Moment mal! Wir können diesen Wagen nicht nehmen!« Er wandte sich an Monique und zeigte auf ihr Nummernschild. »Das FBI überprüft wahrscheinlich gerade seine Überwachungsvideos. Sobald sie rausgekriegt haben, wer du bist, wird jeder Cop in Pennsylvania nach einer roten Corvette mit diesem Kennzeichen Ausschau halten!« »Was sollen wir denn sonst machen?«, fragte Monique. »Wir können nicht den Highlander nehmen, nach dem werden sie ebenfalls suchen!«
Der hochgewachsene, pickelige Student hob schüchtern die Hand. »Ah, Professor Gupta? Sie können meinen Wagen haben, wenn Sie wollen. Er steht gleich dort drüben.« Er zeigte auf einen ramponierten grauen Hyundai Accent mit einer großen Beule in einem hinteren Kotflügel. Monique starrte mit offenem Mund auf die Kiste. »Ein Hyundai? Du willst, dass ich meine Corvette hier stehen lasse und einen Hyundai fahre?« Gupta ging zu dem pickeligen Studenten, der seine Auto-schlüssel schon aus der Tasche genommen hatte, und klopfte dem jungen Mann auf den Rücken. »Das ist sehr großzügig von Ihnen, Jeremy. Wir werden Ihnen den Wagen zurückgeben, sobald wir können. Und in der Zwischenzeit sollten Sie und Gary ein paar Tage die Stadt verlassen. Nehmt einen Bus zu den Finger Lakes, macht eine Wanderung durch die Schluchten. Okay, Jungs?« Die Studenten nickten, offenbar entzückt, ihrem verehrten Professor einen Gefallen tun zu können. Jeremy händigte Gupta die Schlüssel aus, der sie an David weitergab. Aber 133 Monique stand immer noch neben der offenen Fahrertür der Corvette und betrachtete den Wagen traurig, als würde sie ihn nie wiedersehen. Als David zu ihr kam, warf sie ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Es hat sieben Jahre gedauert, bis ich das Geld für diesen Wagen zusammen hatte. Sieben Jahre!« Er langte an ihr vorbei, um die Reisetasche, den Laptop und die Tüte Sandwiches, die Monique an diesem Morgen in der Raststätte New Stanton gekauft hatte, aus dem Wagen zu holen. Dann ließ er ihr die Schlüssel zu dem Hyundai in die Hand fallen. »Komm schon, gib dem Accent die Sporen«, sagte er. »Ich hab gehört, das ist ein netter kleiner Flitzer.« Simon sah durch sein Fernglas, wie vier Gestalten aus dem Roboterauto stiegen. David Swift, Monique Reynolds und Amil Gupta erkannte er sofort. Die vierte Gestalt war ihm ein Rätsel - ein schlaksiger Teenager mit schwarzen Haaren und dunkler Haut. Gupta wich dem Jungen nicht von der Seite und führte ihn aus dem Fahrzeug, ohne ihn zu berühren. Ja, sehr rätselhaft. Simons erster Impuls war, einen Überraschungsangriff zu unternehmen, aber dieser Parkplatz war kein ideales Operationsfeld. Zu offen, zu einsehbar. Und erschwerend kam hinzu, dass die kleine Armee von FBI-Agenten zu nahe war und ganze Geschwader von Streifenwagen des hiesigen Police Department auf dem Universitätsgelände zusammenströmten. Nein, er wartete besser auf eine vorteilhaftere Gelegenheit. Die vier Gestalten gingen zunächst zu Moniques Corvette, aber nach einer kurzen Beratung mit dem ungleichen Paar Studenten vom Robotics Institute quetschte sich das Quartett in einen verbeulten grauen Kleinstwagen. Das Auto sauste von dem Parkplatz herunter und bog nach rechts in die Forbes Avenue ein. Simon ließ ihnen hundert Meter Vorsprung, bevor er sich in seinem Ferrari an die Verfolgung
134 machte. Er hatte vor, sich zurückzuhalten, bis sie zu einem Stück Landstraße kamen, das ihm hinreichend abgelegen erschien. Nach ungefähr einem Kilometer bog der kleine Wagen an der Murray Avenue wieder nach rechts ab. Sie fuhren nach Süden. Karen hatte angenommen, dass Jonah immer noch schlief. Sie hatte ihn ins Bett gebracht, sobald sie an diesem Morgen von der FBI-Dienststelle nach Hause gekommen waren, und als sie ein paar Stunden später in sein Zimmer ging, um nach ihm zu sehen, lag er auf dem Bauch unter seiner Spider-Man-Decke, das Gesicht in das rot-blaue Kissen gepresst. Doch als sie sich umdrehte, um das Zimmer zu verlassen, rollte er sich auf den Rücken und schaute sie an. »Wo ist Daddy?«, fragte er. Sie setzte sich auf seine Bettkante und schob ihm die blonden Haare aus den Augen. »He, mein Süßer«, murmelte sie. »Geht's dir jetzt besser?« Jonah runzelte die Stirn und schlug ihre Hand beiseite. »Warum sucht die Polizei nach ihm? Hat Daddy was Schlimmes gemacht?« Okay, dachte Karen. Gib ihm nicht zu viele Informationen. Finde zuerst mal raus, was er schon weiß. »Was haben die Agenten dir letzte Nacht erzählt? Nachdem sie dich von mir weggeholt haben, meine ich.« »Sie haben gesagt, Daddy wäre in Schwierigkeiten. Und sie haben mich gefragt, ob er irgendwelche Freundinnen hätte.« Er richtete sich im Bett auf und stieß mit den Füßen die Decke von seinen Beinen. »Sind sie wütend auf Daddy? Weil er jetzt Freundinnen hat?« Karen schüttelte den Kopf. »Nein, mein Schatz, niemand ist wütend. Was letzte Nacht passiert ist, war nur ein Fehler, okay? Diese Agenten haben sich in der Wohnung vertan.« »Sie hatten Pistolen. Die hab ich gesehen.« Jonahs Augen 134 weiteten sich, als ihm die Szene wieder einfiel. Er packte Karens Ärmel und zerknüllte den Stoff in seiner Hand. »Werden sie Daddy erschießen, wenn sie ihn finden?« Sie schlang die Arme um ihren Sohn, hielt ihn fest an sich gedrückt und legte ihr Kinn auf seine linke Schulter. Da begann er zu weinen, seine kleine Brust hob und senkte sich an ihrer, und einen Moment später weinte auch Karen. Sie befürchteten beide das Gleiche. Die Männer mit den Pistolen waren auf der Suche nach David, und früher oder später würden sie ihn finden. Karens Tränen rollten ihr die Wangen hinunter und fielen auf Jonahs Rücken. Sie konnte die feuchten Flecken auf seiner Schlafanzugjacke sehen. Während sie Jonah auf ihrem Schoß hin und her wiegte, starrte sie auf das Bild, das neben seinem Bett an der Wand hing. Es war eine Zeichnung des Sonnensystems, die David vor ungefähr zwei Jahren für Jonah gemacht hatte, unmittelbar bevor er aus ihrer Wohnung ausgezogen war. Auf einem großen
gelben Plakat hatte er die Sonne und alle Planeten skizziert, außerdem den Asteroidengürtel und ein paar umherschweifende Kometen. David hatte stundenlang an dem Ding gearbeitet, sorgfältig die Ringe des Saturns und den Großen Roten Fleck des Jupiters dargestellt. Zu der Zeit, erinnerte sich Karen, war sie ein bisschen verärgert über all die Mühe gewesen, die er in das Bild hineinsteckte; er war bereit, den ganzen Tag damit zu verbringen, ein Bild für Jonah zu malen, aber er konnte keine fünf Minuten dafür aufbringen, mit seiner Frau zu sprechen, obwohl ihre Ehe gerade in Stücke zerfiel. Jetzt erkannte sie allerdings, dass David nicht so herzlos gewesen war. Er hatte einfach den Rückzug vor dem Unvermeidlichen angetreten. Anstatt sich einem weiteren fruchtlosen Streit zu unterziehen, hatte er sich lieber über das gelbe Poster gebeugt und etwas getan, das er gerne tat. Nach ungefähr einer Minute wischte Karen sich die Tränen aus dem Gesicht. Okay, dachte sie, genug geweint. Es ist 135 Zeit, etwas zu tun. Sie packte Jonah an den Schultern, hielt ihren Sohn auf Armeslänge von sich und schaute ihm in die Augen. »So, mein Lieber, hör zu. Ich möchte dass du dich so schnell wie möglich anziehst.« Er sah sie verwirrt an, seine Wangen verquollen und gerötet. »Warum? Wo gehen wir hin?« »Wir gehen eine Freundin von mir besuchen. Sie kann uns helfen, diesen Fehler in Ordnung zu bringen, sodass Daddy nicht mehr in Schwierigkeiten ist. Okay?« »Wie kann sie das in Ordnung bringen? Kennt sie die Polizei?« Karen legte ihm die Hand auf den Rücken und schob ihn aus dem Bett. »Zieh dich einfach an. Wir reden auf dem Weg zu ihr darüber.« Während Jonah aus seinem Schlafanzug schlüpfte, ging sie in ihr Schlafzimmer, um eines ihrer Geschäftskostüme anzuziehen. Vielleicht das graue von Donna Karan, das sie normalerweise bei Vertragsverhandlungen trug. Um das durchzuführen, was sie vorhatte, musste sie seriös aussehen. Bevor sie sehr weit gekommen war, klingelte es an der Tür. Sie erstarrte einen Augenblick, weil sie daran denken musste, wie die FBI-Agenten in der Nacht zuvor in das Apartment gestürmt waren. Vorsichtig näherte sie sich der Wohnungstür und schaute durch den Spion. Es war Amory. Er stand in seinem grauen Anzug auf der Fußmatte und sah besorgt und müde aus. Ein Verband auf seiner Stirn bedeckte die klaffende Wunde, die er sich zugezogen hatte, als ihn die Bundesagenten attackierten. Er hielt ein Mobiltelefon am Ohr und nickte mehrfach, beendete offenbar gerade ein Gespräch. Karen öffnete die Tür. Amory klappte das Handy schnell zu und betrat das Apartment. »Karen, du musst mit mir nach Downtown in das Büro des Bundesstaatsanwalts kommen. Er möchte sofort mit dir sprechen.« 135
Sie schaute ihn finster an. »Was? Bist du verrückt? Ich gehe nicht wieder dorthin!« »Es ist nicht das FBI, es ist der Bundesstaatsanwalt. Er möchte sich für das Verhalten der Agenten letzte Nacht entschuldigen.« Er zeigte auf den Verband über seiner Augenbraue. »Er hat sich bereits bei mir für die raue Behandlung entschuldigt.« »Er möchte sich entschuldigen?« Karen schüttelte benommen den Kopf. »Wenn er sich entschuldigen möchte, sollte er hierherkommen und es tun! Er sollte sich hinknien und meinen Sohn um Verzeihung bitten! Und dann sollte er sich vorbeugen, damit ich ihn in den Arsch treten kann!« Amory wartete, bis sie fertig war. »Er hat außerdem ein paar neue Informationen zu dem Fall deines Exmanns. Sie haben eine von Davids Mitverschwörerinnen in dem Drogengeschäft identifiziert. Sie ist Professorin in Princeton und heißt Monique Reynolds.« »Von der hab ich nie gehört. Und es gibt kein Drogengeschäft, Amory. Ich hab dir doch gesagt, das ist eine Geschichte, die sie erfunden haben.« »Ich fürchte, damit irrst du dich vielleicht. Diese Reynolds ist eine Schwarze aus Washington, und sie hat eindeutige Verbindungen zum Drogenhandel. Ihre Mutter ist ein Junkie und ihre Schwester eine Prostituierte.« Karen winkte ab. »Na und? Das beweist ganz und gar nichts. Sie erfinden wieder Geschichten.« »Sie haben diese Frau mit ihm zusammen gesehen, Karen. Bist du sicher, dass David sie nie erwähnt hat?« Amory musterte sie eindringlich. Nach ein paar Sekunden wurde sie misstrauisch. Sie konnte das Motiv erkennen, das die FBI-Leute hatten, diese Geschichte zu verbreiten: Sie setzten immer noch auf die Nummer mit der Freundin, versuchten immer noch, sie eifersüchtig zu machen, damit sie ihren Exmann verriet. Aber warum beobachtete Amory 136 sie so genau? »Was ist los?«, fragte sie. »Willst du mich verhören?« Er kicherte über ihre Frage, aber es hörte sich gezwungen an. »Nein, nein, ich versuche nur, die Fakten festzustellen. Das ist es doch, was wir Anwälte tun, wir ...« »Herrgott noch mal! Ich dachte, du wärst auf meiner Seite!« Er machte einen Schritt auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. Dann neigte er den Kopf und schenkte ihr ein väterliches Lächeln, das er normalerweise für die jüngeren Partner in seiner Anwaltssozietät bereithielt. »Bitte, beruhige dich. Natürlich bin ich auf deiner Seite. Ich versuche nur, die Dinge ein bisschen leichter für dich zu machen. Ich habe ein paar Freunde, die uns helfen wollen.« Er streichelte ihren Arm, aber die Zärtlichkeit verursachte ihr eine Gänsehaut. Der alte Dreckskerl arbeitete für das FBI. Irgendwie hatten sie ihn für ihre Sache
rekrutiert. Sie schüttelte seine Hand ab. »Ich brauche deine Hilfe nicht, okay? Ich kann mich selbst um diese Angelegenheit kümmern.« Sein Lächeln verschwand. »Karen, hör mir bitte zu. Dies ist ein sehr ernster Fall, und einige sehr mächtige Leute sind darin verwickelt. Du willst dir diese Leute nicht zu Feinden machen. Das wäre nicht gut für dich, und es wäre nicht gut für deinen Sohn.« Sie ging um ihn herum und öffnete die Wohnungstür wieder. Sie konnte nicht glauben, dass sie jemals mit diesem Menschen geschlafen hatte. »Mach, dass du hier rauskommst, Amory. Und du kannst deinen Freunden sagen, dass sie sich ins Knie ficken können.« Er schnitt eine Grimasse und verzog seine Oberlippe. Mit aller Würde, die er aufbringen konnte, verließ er das Apartment. »An deiner Stelle wäre ich vorsichtig«, sagte er kalt. »Ich würde nichts Überstürztes tun.« 137 Karen warf die Tür ins Schloss. Sie hatte allerdings vor, etwas sehr Überstürztes zu tun. Der Vizepräsident saß am Schreibtisch seines Büros im Westflügel und stocherte lustlos in seinem Essen herum, einem Meinen, trockenen Stück Hähnchenbrust, das von gedünsteten Karotten umringt war. Seit seinem vierten Herzinfarkt servierten ihm die Küchenchefs des Weißen Hauses dauernd geschmacklose, fettarme Gerichte wie dieses hier. Während des ersten Jahres hatte er die neue Diät stoisch akzeptiert; die Erinnerung an die schrecklichen Schmerzen in seiner Brust war frisch genug, ihn auf dem Pfad der Tugend wandeln zu lassen. Aber im Lauf der Zeit wurde er immer ärgerlicher. Er sehnte sich nach einem Porterhouse Steak, das in seinen Säften schwamm, oder nach einem faustgroßen Hummerschwanz, der in geschmolzener Butter getränkt war. Die tägliche kulinarische Entbehrung versetzte ihn in eine üble Stimmung und war dafür verantwortlich, dass er seine persönlichen Berater und seine Begleiter vom Secret Service anschnauzte. Nichtsdestoweniger machte er unermüdlich weiter. Das amerikanische Volk zählte auf ihn. Der Präsident war ein Banause, eine hirnlose Galionsfigur mit einem Talent dafür, Wahlen zu gewinnen, aber wenig mehr. Ohne den Beistand und die Beratung des Vizepräsidenten würde die gesamte Regierung schnurstracks den Bach runtergehen. Während er auf seinem geschmacklosen Hähnchen herumkaute, klopfte es an der Tür. Nachdem er das Stück Fleisch hinuntergewürgt hatte, antwortete er: »Ja?«, und einen Augenblick später trat der Chef seines Mitarbeiterstabs ein. Aber bevor der Mann ein Wort sagen konnte, stürmte der Verteidigungsminister schon an ihm vorbei in den Raum, seinen Quadratschädel gesenkt wie einen Rammbock. »Wir müssen miteinander reden«, verkündete er. Der Vizepräsident gab seinem Stabschef ein Zeichen, 137
dass er das Büro verlassen und die Tür hinter sich schließen solle. Der Verteidigungsminister war zwar aufdringlich, jähzornig und von einem geradezu grotesk übertriebenen Selbstbewusstsein, aber er war einer der wenigen Leute in der Regierung, denen der Vizepräsident trauen konnte. Sie arbeiteten schon seit Nixons Tagen zusammen. »Was ist es denn dieses Mal?«, fragte der Vize. »Noch eine Explosion in Bagdad?« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben ein Problem mit der Operation Shortcut.« Der Vizepräsident schob seinen Teller beiseite. Er fühlte ein Stechen mitten in der Brust. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, es sei alles in trockenen Tüchern.« »Es ist die Schuld des gottverdammten FBI. Sie haben schon zweimal Scheiße gebaut.« Der Minister nahm seine randlose Brille ab und stach damit in die Luft. »Zuerst haben sie einen Häftling entkommen lassen, weil sie ihn zu einer schlecht verteidigten Einrichtung gebracht haben, und dann haben sie eine andere Zielperson durch die Maschen schlüpfen lassen, weil sie die Überwachung vermasselt haben. Jetzt sind sie beide auf der Flucht, und das Bureau hat keine Ahnung, wo sie sind.« Das Stechen in der Brust des Vizepräsidenten wurde stärker. Es fühlte sich an wie eine Reißzwecke unter seinem Brustbein. »Wer sind diese Zielpersonen?« »Es sind Professoren, wahrscheinlich ultraliberale Irre. Ich wäre nicht überrascht, wenn sie mit al-Qaida Hand in Hand arbeiten würden. Oder die Iraner bezahlen sie vielleicht. Das Bureau hat natürlich keinen Schimmer. Der Direktor hat einer Frau die Leitung der Operation anvertraut, das ist ein Teil des Problems.« »Wie heißt sie?« »Parker, Lucille Parker. Ich weiß nicht viel über sie, außer dass sie aus Texas stammt. Aber das erklärt alles. Sie hat 138 wahrscheinlich irgendeinen Draht zu unserem Obercowboy.« Er fuhr ruckartig mit dem Kopf nach links, in Richtung des Oval Office. Der Vizepräsident nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas und hoffte, das würde den Schmerz in seiner Brust ein wenig lindern. Operation Shortcut hatte vor etwa zwei Wochen begonnen, nachdem die National Security Agency bei ihrer Überwachung des Internets auf eine merkwürdige Sache gestoßen war. Es handelte sich um eine E-Mail in einer verschlüsselten Sprache und voll von seltsamen Gleichungen, die zu einem Computer in einer Anstalt für Geisteskranke in Glasgow zurückverfolgt werden konnte. Zunächst hatte die NSA sie als das Werk eines einfallsreichen Irren abgetan, aber einer der Analytiker der Agency begann aus reiner Neugier, sich das Ding genauer anzusehen. Es stellte sich heraus, dass der Verfasser der Nachricht ein ehemaliger Physiker war, der als junger Mann mit Albert Einstein zusammengearbeitet hatte. Die Gleichungen waren nur ein Bruchstück einer größeren Theorie, aber es war genug vorhanden, um die NSA davon zu überzeugen, dass eine Sondereinheit gebildet werden sollte, um den Rest zu finden. Die Einschätzung der Experten
lautete, dass diese Theorie den Vereinigten Staaten eine entscheidende neue Waffe im Kampf gegen den Terrorismus liefern könnte. Aber wenn es etwas gab das der Vizepräsident im Lauf seiner vierzig Jahre in der Regierung gelernt hatte, dann dies, dass Staatsbeamte unfähig sind, irgendetwas schnell zu tun. Als die Sondereinheit der NSA schließlich einsatzfähig war, waren drei ihrer vier Zielpersonen, in deren Besitz sich die Geheiminformationen befanden, bereits tot. Irgendeine ausländische Regierung oder Terroristengruppe war ebenfalls hinter der Theorie her, und jetzt sagten die AntiterrorismusExperten, dass die Ergebnisse katastrophal sein könnten, wenn sie den falschen Leuten in die Hände fiele. Dem 139 Memorandum des NSA-Direktors zufolge könnten die Anschläge vom 11. September im Vergleich dazu wie ein kleines Geplänkel aussehen. »Was haben Sie nun vor?«, fragte der Vize. »Ich nehme an, Sie hatten einen Grund dafür, in mein Büro zu kommen.« Der Minister nickte. »Ich brauche eine Regierungsorder. Ich will die Delta Force auf amerikanischem Boden einsetzen. Ich will sie an der Grenze patrouillieren und die Zielpersonen aktiv verfolgen lassen. Es wird Zeit, dass das Pentagon die Sache in die Hand nimmt.« Der Vizepräsident dachte einen Moment darüber nach. Theoretisch schloss der Posse Comitatus Act aus, dass Armeeeinheiten an Polizeieinsätzen auf dem Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten teilnahmen. Aber im Fall eines nationalen Notstands konnten Ausnahmen gemacht werden. »So gut wie geschehen«, sagte er. »Wie schnell können Sie die Truppen in den Staaten haben?« »Die Force ist derzeit im Westen Iraks. Ich kann sie in weniger als zwölf Stunden über eine Luftbrücke hier haben.« ZEHN
E
xakt um 18 Uhr, während sie gerade auf der Route 19 durch die
Hügellandschaft West Virginias fuhren, hörte das Geräusch simulierten Gewehrfeuers, das aus Michaels Gameboy kam, abrupt auf. Das Gerät stieß ein schrilles Ping aus, und dann verkündete eine synthetische Stimme: »Es ist Zeit zum Abendessen.« David schaute über die Schulter zur Rückbank und sah, wie Michael den Kopf hob und sich zu Professor Gupta umdrehte, der neben seinem Enkel döste. »Es ist Zeit zum Abendessen, Grandpa«, sagte der Junge. Das waren die ersten Worte, die David von ihm vernahm. Seine Stimme war so knapp und emotionslos wie die des Gameboys. Obwohl David die Ähnlichkeit zwischen Michael und seinem Großvater deutlich sehen konnte - sie hatten die gleichen dicken Augenbrauen und das gleiche widerspenstige Haar -, waren die Augen des Teenagers glasig, und sein Gesicht war ausdruckslos. »Es ist Zeit zum Abendessen, Grandpa«, wiederholte er.
Gupta blinzelte ein paarmal und kratzte sich am Kopf. Er beugte sich vor, schaute erst Monique an, die den Hyundai fuhr, dann David. »Entschuldigen Sie«, sagte er. »Sie haben nicht zufällig irgendwas zum Essen im Wagen, oder?« David nickte und hob die Plastiktüte mit dem Proviant, den Monique in der Raststätte am Pennsylvania Turnpike gekauft hatte, vom Boden hoch. »Ich sehe mal nach, was noch übrig ist.« Während er in der Tüte herumkramte, ließ Monique einen Moment die Straße aus den Augen und warf einen Blick 140 in den Rückspiegel. Sie hatte in den vergangenen drei Stunden den Highway nervös nach Streifenwagen abgesucht, aber jetzt fasste sie Gupta und seinen Enkel ins Auge. »Das Computerspiel sagt ihm, wann er etwas essen soll?«, fragte sie. »Ja, ja«, erwiderte Gupta, »wir haben den Warfighter so programmiert, dass er das Spiel zu den Mahlzeiten automatisch eine halbe Stunde lang unterbricht. Und nachts schaltet er sich natürlich auch aus. Andernfalls würde Michael so lange spielen, bis er zusammenbricht.« David fand unten in der Tüte ein abgepacktes Truthahnsandwich. »Mag Ihr Enkel Truthahn?« Gupta schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Haben Sie sonst noch was?« »Nicht viel. Nur eine Tüte Kartoffelchips und ein paar Kekse.« »Oh, er mag Kartoffelchips! Aber nur mit Ketchup. Er wird nur einen Kartoffelchip essen, der genau zwei Kleckse Ketchup drauf hat.« Als David unter dem Truthahnsandwich nachschaute, fand er ein paar KetchupPäckchen, die Monique zum Glück in die Tüte geworfen hatte. Er reichte sie Professor Gupta zusammen mit den Kartoffelchips. »Ja, das ist perfekt«, sagte der Professor. »Wissen Sie, Michael ist sehr eigen, was sein Essen angeht. Das ist noch ein Symptom des Autismus.« Während Gupta die Chipstüte öffnete, warf Monique einen weiteren Blick in den Rückspiegel. Ihre Lippen waren missbilligend zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Kartoffelchips und Ketchup waren kein vernünftiges Abendessen. »Leben Sie mit Michael allein zusammen, Professor?«, fragte sie. Gupta nahm einen Chip aus der Tüte und drückte einen Tropfen Ketchup darauf. »O ja, wir sind nur zu zweit. Meine Frau ist leider vor sechsundzwanzig Jahren gestorben.« 140 »Haben Sie irgendjemanden, der Ihnen dabei hilft, sich um Ihren Enkel zu kümmern?« »Nein, wir kommen allein zurecht. Er macht wirklich nicht viel Arbeit. Man muss sich nur an seine Routinen gewöhnen.« Gupta quetschte noch einen Tropfen Ketchup auf den Chip und reichte ihn seinem Enkel. »Natürlich wäre alles einfacher gewesen, wenn meine Frau noch am Leben wäre. Hannah hatte eine
wundervolle Art, mit Kindern umzugehen. Sie hätte Michael tief in ihr Herz geschlossen.« David spürte einen Anflug von Mitleid mit dem alten Mann. Während seines Interviews für Auf den Schultern von Riesen hatte Gupta David von der langen Kette persönlicher Tragödien erzählt, die ihm in den Jahren nach seiner Zusammenarbeit mit Einstein widerfahren waren. Sein erstes Kind, ein Sohn, starb an Leukämie, als er zwölf Jahre alt war. Ein paar Jahre später war Hannah Gupta von einer Tochter entbunden worden, aber das Mädchen wurde bei einem Autounfall schwer verletzt. Und 1982, kurz nachdem der Professor die Physik aufgegeben und die Softwaregesellschaft gegründet hatte, die ihn zu einem reichen Mann machen würde, war seine Frau im Alter von neunundvierzig Jahren an einem Schlaganfall gestorben. An einer Stelle des Interviews hatte Gupta David ihr Bild gezeigt, und er erinnerte sich jetzt deutlich daran - eine dunkelhaarige osteuropäische Schönheit, schlank und ernst..^ Gupta hatte während dieses Interviews noch etwas über seine Frau zur Sprache gebracht, etwas leicht Beunruhigendes, aber David konnte sich nicht an die Einzelheiten erinnern. Er drehte sich um und wandte sich an den Professor. »Ihre Frau hat auch in Princeton studiert, nicht wahr?« Der alte Mann quetschte gerade wieder etwas Ketchup auf einen Kartoffelchip und hob den Kopf. »Nein, nicht ganz. Sie hat zwar ein paar Oberseminare in Physik besucht, aber sie war nie richtig immatrikuliert. Der Krieg hat ihren 141 Bildungsweg unterbrochen, und deshalb fehlten ihr die notwendigen Zeugnisse für ein Studium, obwohl sie einen brillanten Verstand für die Naturwissenschaft hatte.« Jetzt erinnerte David sich. Hannah Gupta hatte den Holocaust überlebt. Sie war einer der jüdischen Flüchtlinge, die mit Einsteins Hilfe im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg nach Princeton gekommen waren. Einstein hatte so viele europäische Juden zu retten versucht, wie er konnte, indem er ihre Einwanderung in die Vereinigten Staaten unterstützte und ihnen Jobs in den Forschungseinrichtungen der Universität besorgte. Das hatte damals Amil und Hannah zusammengeführt. »Ja, ich habe einige sehr schöne Erinnerungen an diese Seminare«, fuhr Gupta fort. »Hannah saß in den hinteren Reihen, und alle Männer im Hörsaal warfen verstohlene Blicke auf sie. Es herrschte eine ziemliche Konkurrenz unter uns, als es darum ging, sie auf uns aufmerksam zu machen. Sowohl Jacques als auch Hans waren ebenfalls an ihr interessiert.« »Tatsächlich?« David wurde neugierig. Gupta hatte während ihres früheren Gesprächs nichts von einer romantischen Rivalität zwischen Einsteins Assistenten erwähnt. »Wie heftig wurde die Konkurrenz denn?« »Ach, nicht besonders. Ich war mit Hannah verlobt, bevor Hans oder Jacques auch nur den Mut aufbrachten, das Wort an sie zu richten.« Der Professor
lächelte sehnsüchtig. »Wir blieben Gott sei Dank alle miteinander befreundet. Hans wurde Patenonkel meiner beiden Kinder. Er war besonders nett zu meiner Tochter, nachdem Hannah gestorben war.« Faszinierend, dachte David. Er wünschte, er hätte diese Geschichte früher gekannt, damit er sie mit in sein Buch hätte aufnehmen können. Sobald ihm dieser Gedanke kam, bemerkte David jedoch, wie töricht er war. Einsteins Entdeckung der Einheitlichen Feldtheorie war eine viel eklatantere 142 Auslassung in Auf den Schultern von Riesen und jeder anderen Biographie des Physikers. Nach einigen weiteren Meilen bogen sie nach Westen auf den County Highway 33 ab, eine einspurige Straße, die sich durch die Hügel schlängelte. Obwohl die Sonne mindestens noch eine Stunde scheinen würde, lag die Straße wegen der steilen bewaldeten Hänge zu beiden Seiten bereits im Schatten. Gelegentlich fuhren sie an einem verwitterten Wohnwagen oder einem zwischen den Bäumen rostenden Autowrack vorbei, aber das waren die einzigen Zeichen von Zivilisation. Die Straße war jetzt leer bis auf den Hyundai und einen gelben Sportwagen ungefähr eine Viertelmeile hinter ihnen. Monique warf wieder einmal einen Blick in den Rückspiegel. Auf der Rückbank gab Professor Gupta Michael gerade einen weiteren mit Ketchup versehenen Kartoffelchip, schob ihn dem Teenager direkt in den Mund, als würde er einen kleinen Vogel füttern. David hielt es für einen seltsam anrührenden Anblick, aber Monique schüttelte den Kopf, während sie die beiden anstarrte. »Wo ist Ihre Tochter jetzt, Professor?«, fragte sie. Er verzog gequält das Gesicht. »In Columbus, Georgia. Das ist eine gute Stadt für Drogensüchtige, weil Fort Benning in der Nähe liegt. Jede Menge Metamphetamin für die Soldaten verfügbar.« »Haben Sie versucht, sie in ein Therapieprogramm zu schicken?« »O ja, das habe ich. Viele Male.« Er senkte den Kopf und schaute das KetchupPäckchen in seiner Hand stirnrunzelnd an, wobei er die Nase rümpfte, als hätte er gerade etwas Fauliges gerochen. »Elizabeth ist eine sehr störrische Person. Sie war genauso brillant wie ihre Mutter, aber sie hat die Highschool nie beendet. Sie ist mit fünfzehn von zu Hause weggerannt, und seitdem hat sie unter unbeschreiblichen Bedingungen gelebt. Ich werde Ihnen nicht mal sagen, womit sie 227 ihren Lebensunterhalt verdient, es ist einfach zu abscheulich. Selbst wenn Michael nicht autistisch wäre, hätte ich das Sorgerecht für ihn übernommen.« Zwischen Moniques Augenbrauen erschien eine senkrechte Falte. Während der vergangenen vierundzwanzig Stunden hatte David erfahren, was das bedeutete. Eigentlich war ihr Zorn ein bisschen überraschend - ihre eigene Mutter war heroinsüchtig, und er hatte angenommen, dass sie dank dieser Erfahrung mehr
Verständnis für Professor Guptas Schwierigkeiten aufgebracht hätte. Aber das war ganz und gar nicht der Fall. Es sah so aus, als wolle sie mit der Hand nach hinten langen und den Professor am Kragen packen. »Ihre Tochter wird nicht zur Therapie gehen, wenn Sie derjenige sind, der sie vorschlägt«, sagte sie. »Es gibt zu viel böses Blut zwischen Ihnen. Sie brauchen jemand anderes, der an Ihrer Stelle einschreitet.« Gupta beugte sich vor, und seine Augen wurden schmal. Jetzt sah er ebenfalls zornig aus. »Das habe ich schon ausprobiert. Ich habe Hans gebeten, nach Georgia zu fahren und ihr gut zuzureden. Er ist in die Bruchbude gegangen, in der Elizabeth wohnte, hat alle ihre Drogen weggeworfen und sie in einem ambulanten Behandlungszentrum angemeldet. Er hat sogar einen anständigen Job für sie gefunden, Sekretariatsarbeit für einen der in Fort Benning stationierten Generale.« Er zeigte mit einem Finger auf Moniques Reflektion im Rückspiegel. »Und wissen Sie, wie lange das gedauert hat? Zweieinhalb Monate. Sie ist auf Sauftour gegangen, hat ihren Job verloren und aufgehört zu ihrer Therapie zu gehen. Damals ist Michael dann endgültig zu mir gezogen.« Schwer atmend sank der alte Mann auf seinen Platz zurück. Michael saß völlig unbeirrt neben ihm und wartete geduldig auf seinen nächsten Kartoffelchip. Der Professor zog einen aus der Tüte, aber seine Hände zitterten mittlerweile so sehr, dass er das Ketchup-Päckchen nicht mehr ausdrü 143 cken konnte. David wollte ihn gerade fragen, ob er ihm helfen könne, als der gelbe Sportwagen, den er vor Kurzem gesehen hatte, an ihnen vorbeisauste. Er raste mit mindestens achtzig Meilen pro Stunde über die kurvenreiche Straße und schwenkte auf die Gegenfahrbahn, obwohl an dieser Stelle Überholverbot herrschte. »Herrgott!«, schrie er erschrocken. »Was zum Teufel war das denn?« Monique beugte sich nach vorn, um besser sehen zu können. »Es ist kein Streifenwagen. Es sei denn, die Cops in West Virginia fahren jetzt Ferraris.« »War das ein Ferrari?« Sie nickte. »Und ein schöner noch dazu: ein 575er Maranello Coupe. Von denen gibt es nur fünfzig in den Staaten. Kostet ungefähr dreimal so viel wie meine Corvette.« »Woher weißt du das so genau?« »Der Dekan für Maschinenbau in Princeton fährt einen. Ich sehe ihn dauernd in Keiths Werkstatt. Es ist ein toller Wagen, aber er bleibt mit schöner Regelmäßigkeit liegen.« Der Ferrari überquerte die doppelte gelbe Linie und führ wieder auf die richtige Fahrbahn zurück. Aber anstatt davonzubrausen, wurde der Wagen langsamer. Seine Geschwindigkeit sank auf siebzig, dann auf sechzig, dann auf fünfzig Meilen die Stunde. Innerhalb von wenigen Sekunden kroch er mit dreißig knapp
zehn Meter vor ihnen her, und Monique konnte ihn wegen all der unübersichtlichen Kurven auf der Straße nicht überholen. »Was ist mit dem Kerl los?«, fragte David. »Erst fliegt er an uns vorbei, und jetzt schaut er sich die Landschaft an?« Monique antwortete nicht. Sie reckte ihren Hals über das Lenkrad und schielte nach dem Ferrari, der bergab kroch. Nach ein paar Sekunden zuckte ein Muskel in ihrer Wange. »Er hat ein Nummernschild aus New Jersey«, sagte sie mit einer Stimme, die kaum über ein Flüstern hinausging. 144 Am Fuß des Berges machte der Ferrari einen Satz nach vorn und raste etwa hundert Meter geradeaus. Dann trat der Fahrer auf die Bremse, und der Wagen blieb vor einer Brücke mit nur einer Fahrspur stehen und blockierte ihren Weg. Es war eine kitzlige Situation. Simon musste vier Zielpersonen in einem fahrenden Auto ergreifen, ohne sie ernsthaft zu verletzen oder unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Zuerst erwog er, den kleinen Wagen von der Straße zu rammen, aber auf beiden Seiten der Straße lagen dichte Wälder, und er wusste, dass ihr Auto zusammengequetscht würde wie ein Akkordeon, wenn es gegen einen der Bäume prallte. Er würde es nicht leicht haben, seine Zielpersonen aus dem Wrack zu ziehen, und noch schwerer, sie auszufragen. Nein, er musste sie zunächst zwingen, langsamer zu fahren. Simon sah seine Gelegenheit kommen, als er sich einer Brücke mit nur einer Fahrspur näherte, die über einen kleinen Bach führte. Er stellte den Ferrari quer über die Straße, schnappte sich die Uzi und sprang aus dem Wagen. Er legte den Lauf der Waffe auf die Motorhaube des Ferraris und zielte auf den Kleinwagen. Sobald dieser so langsam geworden wäre, dass er drehen konnte, würde er auf die Reifen schießen, und der Rest wäre ein Kinderspiel. Das Fahrzeug war bereits so nahe, dass er alle vier Insassen erkennen konnte, einschließlich des schlaksigen Teenagers auf der Rückbank. Es war eine glückliche Fügung, dachte er, dass sie den Jungen mitgenommen hatten. Um seine Gesprächspartner auskunftsbereiter zu machen, hatte er vor, mit dem Jungen anzufangen. David bemerkte, dass sich auf der von ihnen abgewandten Seite des Ferraris etwas bewegte. Ein großer, kahlköpfiger Mann in einem schwarzen T-Shirt und einer Hose in Tarnfarben kauerte hinter dem Wagen. Sein Kopf war zur Sei 144 te geneigt, und er hatte nur ein Auge geöffnet, mit dem er am Lauf einer kurzen schwarzen Maschinenpistole entlang sah. Ein eiskalter Schrecken überflutete Davids Brust. Es war ganz so, als könne er schon fühlen, wie die Kugel sein Herz durchbohrte. Sein Rücken wurde steif in dem Schalensitz, und seine rechte Hand presste sich gegen die Armlehne in der Tür. Aber seine Augen blieben fest auf den bewaffneten Mann hinter dem Ferrari gerichtet, und in diesem Sekundenbruchteil bemerkte er, dass die Mündung der Waffe nicht direkt auf sie gerichtet war. Er zielte ein bisschen tiefer, auf die Reifen des Hyundai.
Monique sah den Mann ebenfalls. »Scheiße!«, schrie sie. »Ich drehe!« Sie nahm den Fuß vom Gaspedal, aber bevor sie auf die Bremse treten konnte, langte David hinüber und packte ihr Knie. »Nein, nicht langsamer werden! Sonst schießt er auf die Reifen!!« »Was machst du da? Lass mich los!« »Fahr dort hinüber!« Er zeigte auf eine Lücke zwischen den Bäumen auf der linken Seite der Straße, einen steinigen, überwucherten Pfad, der zu dem Bach hinunterführte. »Gib einfach Gas! Tritt drauf!« »Bist du verrückt? Wir können nicht. . . » Drei laute metallische Schläge erschütterten den Hyundai, als ein Feuerstoß aus der Maschinenpistole den vorderen Kotflügel traf. Ohne weiteren Widerspruch trat Monique aufs Gaspedal und riss den Wagen zur anderen Straßenseite herum. Noch eine Salve traf das Heck des Hyundais, während er über einen kleinen Hügel und den schmalen Pfad hinunterrollte. Monique umklammerte das Lenkrad und rief: »Du heilige Scheiße!«, während David, Gupta und Michael in ihren Sitzen hüpften und der ganze Wagen klapperte wie ein Koffer voller Besteck. Viel zu schnell holperten sie über Grasklumpen 145 und lose Steine, und innerhalb einer Sekunde schlitterten sie durch den seichten Bach, wobei sie allein ihr Schwung durch das felsige Bachbett trug. Die Räder des Hyundais wühlten große Hahnenschwänze von Wasser auf, dann waren sie am gegenüberliegenden Ufer, und Monique trat das Gaspedal bis zum Bodenblech durch. Der Motor heulte auf, aber der Wagen kletterte die Böschung hoch wie ein Ziegenbock und fand den Weg, der zurück zum Highway führte, ohne Probleme. David schaute in den Außenspiegel, als ihre Reifen wieder auf dem Asphalt landeten, und sah den kahlköpfigen Mann auf der Brücke stehen, den Kolben der Uzi immer noch an die Schulter gedrückt. Aber er schoss nicht auf sie. Stattdessen lief er zu dem Ferrari zurück und stieg ein. »Drück auf die Tube!«, rief David. »Er kommt hinter uns her!« Ein Weg für Kanufahrer, das war es. Damit die privilegierten, vergnügungssüchtigen Amerikaner mit ihren Pick-ups bis an den Rand des Bachs fahren und ihre Boote ins Wasser schieben konnten. Simon verfluchte sich, weil er nicht früher darauf gekommen war. As er zu dem Ferrari zurückkehrte und in den ersten Gang schaltete, beschloss er, seine Taktik den Umständen anzupassen. Schluss mit den cleveren Versuchen, die Zielpersonen unverletzt zu ergreifen. Solange einer von ihnen überlebte, konnte er bekommen, was er brauchte. Monique trat aufs Gaspedal, aber sie fuhren gerade einen hohen Bergrücken hinauf, und der Hyundai quälte sich ab, eine Geschwindigkeit von siebzig Meilen pro Stunde zu erreichen. Sie schlug mit der Faust auf das Lenkrad, während der Motor heulte und klopfte. »Ich hab dir doch gesagt, wir hätten meine Corvette
nehmen sollen!«, schrie sie, während sie einen wütenden Blick auf den Tachometer warf. 146 David schaute über seine Schulter nach hinten. Auf der gewundenen Straße hinter ihnen war bis jetzt nichts von dem Ferrari zu sehen, aber er meinte, im Hintergrund das kehlige Knurren des Wagens hören zu können. Auf der Rückbank starrte Michael wieder auf seinen Gameboy und wartete schweigend darauf, dass das Display wieder ein Lebenszeichen von sich gab. Es hatte den Anschein, als hätte er nicht mal bemerkt, dass irgendwas nicht stimmte. Aber Professor Gupta war ernsthaft beunruhigt. Er hatte beide Hände an die Brust gehoben, als würde er versuchen, sein trommelndes Herz zu beruhigen. Seine Augen waren unnatürlich geweitet. »Was ist los?«, fragte er keuchend. »Es ist alles okay, Professor«, sagte David. »Kein Grund zur Sorge.« Gupta schüttelte energisch den Kopf. »Ich muss hier raus! Lassen Sie mich aus dem Wagen raus!« Ein Panikanfall, dachte David. Er streckte die Hände aus, die Handflächen nach unten, eine Geste, die beruhigend wirken sollte. »Atmen Sie einfach tief durch, okay? Ganz tief durch.« »Nein, ich muss aussteigen!« Er machte seinen Sicherheitsgurt auf und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Glücklicherweise war die Tür verriegelt, und bevor Gupta sie entriegeln konnte, war David auf die Rückbank geklettert und hatte ihn gebändigt, indem er sich auf den alten Mann warf und seine Handgelenke festhielt. »Ich sagte Ihnen doch, dass kein Grund zur Sorge besteht!«, wiederholte er. Aber die Worte waren kaum aus seinem Mund, als er wieder aus dem Rückfenster schaute und rund fünfzig Meter hinter ihnen den Ferrari sah. David drehte sich schnell nach vorn, um Monique zu warnen, aber sie hatte es bereits gesehen. »Das ist der Wagen des Dekans!«, zischte sie. »Diese glatzköpfige Arschgeige hat den Wagen des Dekans geklaut!« 146 »Er kommt näher«, sagte David. »Kannst du nicht schneller fahren?« »Nein, kann ich nicht! Er sitzt in einem Ferrari, und ich fahre einen beschissenen Hyundai!« Sie schüttelte den Kopf. »Er muss auf der Suche nach uns in mein Haus eingebrochen sein! Aber stattdessen hat er Keith gefunden. So hat er sich den Wagen beschafft!« Der Ferrari holte langsam, aber sicher auf, während sie sich dem Kamm des Bergrückens näherten. Als der Wagen nur noch knapp zehn Meter hinter ihnen war, sah David, wie der kahlköpfige Mann das Fenster in der Fahrertür absenkte. Er hielt das Lenkrad mit der rechten Hand fest, lehnte sich halb aus dem Fenster und richtete die Maschinenpistole auf den Hyundai. David packte Michael und Professor Gupta und drückte sie auf den Boden. Der Teenager stieß einen
markerschütternden Schrei aus, während David die beiden mit seinem Körper deckte. »Duck dich!«, schrie er Monique an. »Gleich wird er schießen!« Die erste Salve zerschmetterte das Rückfenster und ließ einen Schauer von Glassplittern auf ihre Rücken herabregnen. Die zweite ging direkt über ihre Köpfe, die Kugeln zischten durch das Fahrzeug und durchbohrten die Windschutzscheibe. David war überzeugt, dass Monique getroffen worden war, und krabbelte nach vorn, um das Steuer zu übernehmen, aber er stellte fest, dass sie offensichtlich unverletzt war und immer noch das Lenkrad umklammerte. Sie blutete nirgendwo, aber ihre Wangen waren nass. Sie weinte. »Keith ist tot, nicht?«, fragte sie schluchzend. Sie kannten beide die Antwort, also war es nicht nötig, etwas zu erwidern. David legte ihr nur die Hand auf die Schulter. »Machen wir einfach, dass wir hier wegkommen, okay?« Der Hyundai erreichte den Scheitelpunkt und wurde allmählich schneller, während sie bergab bretterten. Der kahl 147
köpfige Mann schoss wieder auf sie, aber er verfehlte diesmal den Wagen, weil die Straße eine scharfe Rechtskurve machte. Die Reifen des Hyundais quietschten, als er sich in die Kurve legte, und David musste sich am Armaturenbrett festhalten, um nicht gegen Monique zu prallen. »Herrgott noch mal!«, schrie er. »Pass auf!« Sie schien ihn nicht zu hören. Sie starrte auf die Straße vor ihr, die Augen fest auf die gelbe Doppellinie gerichtet. Ihre rechte Wade trat hervor von der Anstrengung, das Gaspedal durchzutreten, und ihre Hände packten das Lenkrad derart fest, dass die Adern zwischen den Knöcheln zu sehen waren. Ihr ganzer Körper war ein straffer Bogen von Nerven und Muskeln, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck höchster Konzentration. Der Verstand, der die Feinheiten der Stringtheorie ausgelotet hatte, die komplexen Gleichungen und Topologien mehrdimensionaler Mannigfaltigkeiten, berechnete jetzt Zentrifugalkräfte. Auf halbem Weg nach unten wurde die Straße gerade, wurde zu einer steilen Rutsche, die durch den Wald schnitt. Der Hyundai fuhr inzwischen schneller als hundert, aber der Ferrari war immer noch dicht hinter ihnen. Auf beiden Seiten der Landstraße flogen die Bäume vorbei, ein ununterbrochenes verschwommenes Laufband von Blättern und Stämmen und Zweigen. Und dann sah David eine Lücke, ungefähr hundert Meter vor ihnen. Ein schmaler Streifen Asphalt ging nach links ab, bildete einen Winkel von fünfundvierzig Grad mit der Landstraße. Er warf einen Blick auf Monique; sie hatte die Abzweigung ebenfalls gesehen. David drehte sich nach hinten und starrte auf den Ferrari. Der Mann mit der Glatze lehnte sich aus dem Fenster und richtete erneut seine Maschinenpistole auf sie. David hatte gerade noch Zeit für ein kurzes, stilles Gebet. Noch nicht, flehte er. Warte noch eine Sekunde, bevor du abdrückst. Nur noch eine Sekunde.
148 Dann riss Monique den Hyundai nach links, schleuderte David heftig gegen die Beifahrertür. Der Wagen kippte auf seine rechten Räder und war kurz davor, sich zu überschlagen, aber nach einem kurzen Moment landeten die linken Räder wieder auf Asphalt, und der Hyundai richtete sich aus und flog über die schmale Straße. Überrascht schaute der Mann mit der Glatze von seiner Maschinenpistole hoch und versuchte mit Verspätung, ihnen zu folgen, indem er sein Lenkrad mit einer Hand drehte. Er drehte es zu weit. Das Heck des Ferraris brach aus, und der Wagen geriet in eine heimtückische Rotationsbewegung gegen den Uhrzeigersinn. Er schwebte über die Straße wie ein knallgelbes Windrädchen, beinahe wunderschön mit seiner Geschwindigkeit, seiner Fremdheit und seinem Glanz. Dann rutschte er vom Asphalt und knallte mit einem abscheulichen Knirschen in einen der Bäume. Monique nahm den Fuß vom Gas, setzte aber ihre Fahrt die Straße hinunter fort. David schaute durch die zerschossene Heckscheibe des Hyundais und sah, dass sich der Ferrari um den knorrigen Stamm einer alten Eiche gewickelt hatte. Dann machte die Straße eine S-Kurve, und das Wrack war nicht mehr zu sehen. Karen und Jonah standen in der Eingangshalle des Gebäudes der New York Times. Ein mürrischer, hakennasiger Mann vom Sicherheitsdienst saß in einem blauen Blazer hinter seinem Tisch und musterte sie. »Kann ich Ihnen weiterhelfen?«, fragte er. Karen schenkte ihm ihr freundlichstes Lächeln. »Ja, ich bin hier, um Ms. Gloria Mitchell zu besuchen. Sie ist Reporterin bei Ihrer Zeitung.« »Haben Sie einen Termin?« Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht versucht, Gloria anzurufen, weil sie den Verdacht hegte, dass das FBI ihr 148 Telefon angezapft hatte. »Nein, wir sind alte Freunde. Ich wollte nur bei ihr im Büro vorbeischauen und guten Tag sagen.« Der Sicherheitsmann griff nach dem Telefon auf seinem Tisch. »Wie heißen Sie?« »Karen Atwood.« Ihr Mädchenname. »Wir waren Klassenkameradinnen in der Forest Hills Highschool. Wir haben lange nichts voneinander gehört, aber sie wird sich an mich erinnern.« Der Mann vom Sicherheitsdienst ließ sich Zeit mit dem Wählen der Nummer. Karen sah sich besorgt in der Eingangshalle um und hielt nach FBI-Agenten Ausschau, die sie möglicherweise beschatteten. Sie befürchtete, die Agenten könnten sie wieder festnehmen, bevor sie in die Nachrichtenredaktion gelangte. Um ihre Nerven zu beruhigen, drückte sie Jonahs Hand. Schließlich bekam der Sicherheitsmann Gloria an den Apparat. »Karen Atwood ist hier, um Sie zu besuchen«, sagte er. Es entstand eine Pause. »Ja, Karen Atwood.« Noch eine Pause. Dann legte er seine Hand über die Sprechmuschel und wandte sich an Karen. »Sie sagt, sie kennt niemand mit dem Namen.«
Um Karens Brust schien sich ein eiserner Reifen zu legen. Wie konnte Gloria sie vergessen haben? Sie hatten drei Jahre zusammen Sport gehabt! »Sagen Sie ihr, es ist Karen Atwood von der Forest Hills High. Aus Mr. Sharkeys Sportunterricht .« Mit einem ungeduldigen Seufzen wiederholte der Sicherheitsmann die Information über das Telefon. Es gab eine weitere Pause, diesmal eine lange, dann sagte der Mann: »Okay, ich schicke sie hoch.« Er legte den Hörer auf und begann einen Besucherpass auf Karens Namen auszustellen. Sie atmete erleichtert aus. »Vielen Dank.« Immer noch mürrisch reichte der Sicherheitsmann ihr den 149 Pass. »Ms. Mitchell sitzt im fünfzehnten Stock. Gehen Sie zu den Fahrstühlen auf der linken Seite.« Während Karen auf die Reihe der Fahrstühle zuging, erwartete sie jeden Moment, dass die Männer in den grauen Anzügen über sie herfielen, aber Jonah und sie bestiegen den Fahrstuhl ohne weiteren Zwischenfall. Sie fand es merkwürdig, dass die FBI-Agenten sie Verbindung mit der Zeitung aufnehmen ließen. Vielleicht nahmen sie an, dass kein Reporter ihre Geschichte glauben würde. In Wirklichkeit hatte sie auch keine große Geschichte zu erzählen; obwohl sie wusste, dass die Drogenanklage gegen David erfunden war, hatte sie keine Ahnung, warum die Regierung solche Lügen in die Welt setzen sollte. Und was wichtiger war: Hier stand ihr Wort gegen das des Bundesstaatsanwalts. In den Augen der Welt war sie nur die Exfrau eines mit Drogen dealenden Professors, und keine Zeitung würde ihre Anschuldigungen ernst nehmen. Es sei denn, sie hätte Beweise, natürlich. Und Karen würde nicht mit völlig leeren Händen in die Nachrichtenredaktion gehen. Sie erinnerte sich an den Namen des Detective vom New York Police Department, der in der vergangenen Nacht in ihrem Apartment angerufen hatte, des Mannes, der der New York Times sagen konnte, warum David in das St. Luke's Hospital gerufen worden war. Er lautete Hector Rodriguez. Lucille saß hinter dem Schreibtisch in Amil Guptas Büro und sprach mit dem Direktor des Bureau über ihr Handy, während ihre Agenten den Computer des Professors sezierten. In den vier Stunden, seitdem Gupta, Swift und Reynolds aus dem Robotics Institute entkommen waren, hatte ihr Team auf der Suche nach Hinweisen, wohin die Verdächtigen verschwunden waren, jede Ecke des Universitätsgeländes der Carnegie Mellon unter die Lupe genommen. Agent Walsh 149 hatte eine Frau vom Reinigungsdienst vernommen, die zugab, ihre Uniform Reynolds und Swift zur Verfügung gestellt zu haben, und Agent Miller hatte Reynolds' Corvette auf einem der Parkplätze auf dem Campus gefunden. Obwohl nicht zu leugnen war, dass das Bureau großen Mist gebaut hatte, war Lucille davon überzeugt, dass ihr Team mit ein bisschen Lauferei den Aufenthaltsort der
Verdächtigen feststellen und sie in Gewahrsam nehmen würde. Und das war auch der Grund, weshalb sie so wütend wurde, als der Direktor sie informierte, dass das Pentagon die Sache in die Hand nähme. »Was zum Teufel denken die sich denn dabei?«, rief sie ins Telefon. »Die Army kann doch keine Polizeiarbeit übernehmen! Es ist illegal, wenn sie an einem Einsatz innerhalb der Staaten teilnimmt!« »Ich weiß, ich weiß«, erwiderte der Direktor. »Aber sie sagen, sie handeln im Regierungsauftrag. Und die Delta Force hat Erfahrung auf dem Fahndungssektor. Zumindest im Irak und in Afghanistan.« »Aber wo wollen sie denn hingehen? Wir haben bis jetzt noch keine Hinweise, was den Aufenthaltsort der Verdächtigen angeht. Sie könnten mittlerweile überall von Michigan bis Virginia sein.« »Dem Einsatzplan zufolge landen die Truppen in der Andrews Air Force Base und verteilen sich von dort aus. Sie haben Hubschrauber und Stryker-Fahrzeuge, sodass sie in der Lage sind, sich ziemlich schnell in alle Richtungen zu bewegen.« Lucille schüttelte den Kopf. Das war die reine Dummheit. Kommandotruppen in Brigadestärke bei der Suche nach den Flüchtigen einzusetzen, würde nichts bringen. Wahrscheinlich liefe es darauf hinaus, dass die Soldaten irgendeinen betrunkenen Bubba erschießen würden, weil er an einem ihrer Kontrollpunkte vorbeibrauste. »Sir, lassen Sie mir noch ein 150 bisschen Zeit«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich diese Mistkerle finden kann.« »Es ist zu spät, Lucy. Die Truppen beladen bereits ihre C-17er. Sie leiten den Einsatz noch bis Mitternacht. Dann nehmen wir die Übergabe an das Verteidigungsministerium vor.« Sie erwiderte nichts. Ein stiller Protest. Der Direktor wartete einen Moment und sagte dann: »Ich muss jetzt noch zu einem anderen Meeting. Rufen Sie mich in zwei Stunden zurück, um mir Ihre Pläne zur Übergabe der Einsatzleitung mitzuteilen.« Dann legte er auf. Mehrere Sekunden starrte sie nur auf das Mobiltelefon in ihrer Hand. Auf dem Display stand: ANRUF BEENDET 19:29, und dann zeigte es wieder das vertraute Siegel des FBI. Aber in Wirklichkeit schaute sie nicht auf das Display; sie schaute auf das Ende ihrer Laufbahn. Vierunddreißig Jahre hatte sie sich mühsam hochgearbeitet, die einzige Frau in einer Armee starrköpfiger Männer, und sie hatte Erfolg gehabt, indem sie zäher und klüger war als alle anderen. Sie hatte Bankräuber attackiert, Motorradgangs infiltriert, Kidnappings vereitelt und Mafiosi abgehört. Vor einem Monat hatte der Direktor ihr versprochen, sie zur Leiterin des FBI-Büros in Dallas zu machen, ein Bombenjob als krönender Abschluss ihrer zahlreichen Dienstjahre. Aber jetzt sah sie, dass daraus nichts wurde. Statt eine Beförderung zu erhalten, würde sie in den Ruhestand abgeschoben.
Agent Crawford, ihr Stellvertreter, schlich misstrauisch auf sie zu, wie ein geprügelter Hund, der sich seinem Herrchen näherte. »Ähem, Agent Parker? Wir haben die Analyse von Guptas Computersystem abgeschlossen.« Sie steckte das Telefon in die Tasche und wandte sich ihm zu. Sie hatte noch vier Stunden die Fäden in der Hand, also konnte sie genauso gut das Beste daraus machen. »Haben Sie Dokumente zu physikalischen Themen gefunden?« 151 »Nein, es geht nur um Robotik. Große Dateien voller Software-Codes und Hardware-Designs. Wir haben auch das Programm gefunden, das ihm ermöglichte, mit seinen Robotern zu kommunizieren. Auf diese Weise hat er den Dragon Runner dazu bekommen, den Strahlungsalarm auszulösen.« Lucille zuckte zusammen. Sie wurde nicht gerne daran erinnert, wie sie sich da hatten an der Nase herumführen lassen, aber sie konnte es auch nicht ignorieren. Sie musste der Ursache ihres Verhängnisses auf den Grund gehen. »Zeigen Sie mir das Programm.« Crawford beugte sich über den Schreibtisch und benutzte die Maus, um ein dreieckiges Symbol auf dem Computerbildschirm anzuklicken. Ein Fenster erschien, in dem ein dreidimensionaler Lageplan von Newell-Simon Hall mit einem Dutzend blinkender gelber Punkte gezeigt wurde, die sich auf verschiedene Stockwerke verteilten. »Dieser Bildschirm zeigt Standort und Status jedes Roboters«, sagte Crawford. »Gupta war in der Lage, ihnen Befehle zu schicken, indem er sich eines drahtlosen Geräts bediente.« »Ein drahtloses Gerät?« Sie spürte, wie Hoffnung in ihr aufkeimte. Weil Mobiltelefone und andere drahtlose Geräte in regelmäßigen Abständen Signale an ihr Netzwerk sendeten, konnte das Bureau ihre ungefähre Position bestimmen, solange sie eingeschaltet waren. »Können wir es zurückverfolgen?« »Nein, Guptas Gerät benutzt Funk nur mit kurzer Reichweite. Um Roboter an anderen Orten zu steuern, schickt er die Befehle über das Festnetz zu einem örtlichen Senderknoten, der das Signal dann an die Automaten ausstrahlt.« Mist, dachte Lucille. Das Glück war wirklich nicht auf ihrer Seite. Aber dann kam ihr eine andere Idee. »Was für andere Orte? Wo hat er sonst noch Roboter?« Crawford klickte ein anderes Symbol an, und der Bild 151 schirm wechselte zu einer Karte des Universitätsgeländes. »Es gibt ein paar im Institut für Informatik und ein paar in der Abteilung für Maschinenbau.« Er zeigte auf einen Haufen blinkender Punkte am Rand der Karte. »Außerdem ein paar hier in Guptas Haus.« »Irgendwo außerhalb von Pittsburgh?« Mit einem weiteren Mausklick wurde eine Karte der Vereinigten Staaten aufgerufen. Es gab vier blinkende Punkte in Kalifornien, einen in Tennessee, einen in West Virginia, zwei in Georgia und ein halbes Dutzend in der Nähe von Washington, D. C. »Das Verteidigungsministerium testet Guptas
Überwachungsroboter an verschiedenen Standorten«, erklärte Crawford. »Und die NASA bereitet eine seiner Maschinen auf eine Reise zum Mars vor.« »Was ist mit diesem Standort?« Lucille zeigte auf den blinkenden Punkt in West Virginia. Er war Pittsburgh am nächsten. Agent Crawford klickte den Punkt an, und ein Schildchen tauchte neben ihm auf: »Carnegie's Retreat, Jolo, West Virginia.« »Das klingt nicht nach einem Militärstützpunkt oder einem NASA-Zentrum«, bemerkte Lucille. Der Hoffnungskeim in ihrer Brust trieb Blüten. Sie wusste, dass es nur eine Ahnung war, aber im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, ihren Ahnungen zu trauen. Crawford schaute angestrengt auf das Schildchen. »Ich habe diesen Namen nirgendwo in Guptas Unterlagen gefunden. Es könnte der Standort eines privaten Auftragnehmers sein, nehme ich an. Vielleicht eine der Firmen im Verteidigungsbereich, die Robotikarbeiten machen.« Sie schüttelte den Kopf. Der Punkt blinkte im südlichsten Teil des Staates, mitten im Hatfield-and-McCoy-Land. Es gab keine Auftragnehmer des Verteidigungsministeriums auch nur irgendwo in der Nähe dieses Punkts. »Haben wir 152 irgendwelche Agenten, die sich gerade in dem Teil West Virginias aufhalten?« Crawford holte den Blackberry aus der Tasche, den er benutzte, um die Agenten aufzuspüren, die zum Einsatzkommando gehörten. »Ahm, mal sehen. Die Agenten Brock und Santullo sind auf dem 1-77 und helfen der Staatspolizei bei einer Straßensperre aus. Sie sind ungefähr fünfzig Meilen von Jolo entfernt.« »Sagen Sie Brock und Santullo, sie sollen so schnell wie möglich dorthin fahren. Sie werden Unterstützung brauchen, also trommeln Sie ein Dutzend Agenten zusammen und lassen Sie den Learjet startbereit machen.« Crawford zog eine Augenbraue hoch. »Sind Sie sicher? Alles, was wir im Moment wissen, ist...« »Tun Sie's einfach!« ELF
E
s war vollkommen dunkel, als sie in Carnegie's Retreat ankamen, aber im
grellen Licht der Scheinwerfer konnte David genug von der Anlage erkennen, um zu wissen, dass Andrew Carnegie niemals auch nur eine Nacht hier verbracht hätte. Es war nicht mehr als ein Schuppen, eine einstöckige Hütte, die man aus Eisenbahnschwellen auf einer kleinen Lichtung im Wald gebaut hatte. Heruntergefallene Zweige lagen im Vorgarten verstreut, und ein klumpiger Teppich von nassen Blättern bedeckte die Veranda. Die Carnegie Mellon Universität hatte das Häuschen verfallen lassen. Es war klar, dass seit dem vergangenen Sommer kein Dozent die Hütte besucht hatte, wenn überhaupt.
David stieg aus und half Professor Gupta aus dem Rücksitz heraus. Der alte Mann hatte sich von seinem Panikanfall erholt, aber seine Beine waren immer noch wackelig. David musste ihn am Ellbogen festhalten, als sie über die toten Zweige schritten. Monique und Michael stiegen auch aus, und Monique ließ die Scheinwerfer eingeschaltet, damit sie sehen konnten, wo sie hingingen. Als sie an der Eingangstür ankamen, zeigte Gupta auf einen Blumentopf, der nur Erde enthielt. »Der Schlüssel ist unter dem Topf da.« As David sich nach vorn beugte, um das Ding in die Hand zu nehmen, hörte er in der Ferne ein gedämpftes Bumm, das von den Hügeln zurückgeworfen wurde. Er richtete sich sofort wieder auf, und seine Muskeln verkrampften sich. »Herrgott noch mal!«, zischte er. »Was zum Teufel war das?« Gupta kicherte und tätschelte ihm den Rücken. »Keine 153 Sorge, das sind nur die Einheimischen. In den Abendstunden streifen sie gerne mit ihren Flinten durch die Wälder und jagen sich ihr Abendessen zusammen.« David atmete zweimal tief durch. »Ich verstehe allmählich, warum keiner der Professoren von Ihrer Uni hierherkommt.« »Ach, so schlimm ist es gar nicht. Die Leute in dieser Gegend sind eigentlich ziemlich interessant. Sie haben eine Kirche, in der sie sonntags mit Schlangen hantieren. Sie tanzen um die Kanzel herum und halten Klapperschlangen über ihre Köpfe. Erstaunlicherweise werden sie kaum je gebissen.« »Kommt, gehen wir rein«, drängte Monique. Sie starrte nervös in das dunkle Blätterdach über ihnen. David bückte sich wieder, hob den Blumentopf hoch und nahm einen rostigen Schlüssel in die Hand. Er steckte ihn in das Schloss, und nach ein paar Versuchen ließ sich der Schlüssel drehen, und die Tür ging auf. Innen sah die Hütte ein bisschen einladender aus. An der gegenüberliegenden Wand gab es einen gemauerten offenen Kamin, und auf dem Boden lag ein brauner langfloriger Teppich. Auf der linken Seite befand sich eine winzige Küche mit einem uralten Kühlschrank, und auf der rechten Seite gab es zwei kleine Schlafzimmer. In der Mitte des Raums stand ein massiver Eichenholztisch mit einem Computer, einem Monitor und mehreren Peripheriegeräten. Professor Gupta führte sie hinein. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Es wird leider nichts zum Essen da sein, weil die Hütte so lange leergestanden hat.« Er ging direkt zu dem Eichentisch, um den Strom für das Computersystem einzuschalten, aber als er unter dem Tisch nach dem Elektrokabel fahndete, sah er etwas anderes. »Oh, sieh dir das an, Michael! Ich hatte ganz vergessen, dass wir dieses Ding hiergelassen haben! Und die Batterien sind immer noch aufgeladen!« Auf dem Boden kniend legte Gupta ein paar Schalter um. 153 David hörte das Heulen eines Elektromotors und sah dann einen vierbeinigen Roboter unter dem Tisch hervorkommen. Er war etwa sechzig Zentimeter hoch
und neunzig Zentimeter lang und so konstruiert worden, dass er wie ein MiniBrontosaurus aussah. Sein Körper war aus glänzendem schwarzen Plastik gemacht, und sein Hals und sein Schwanz bestanden aus einzelnen Segmenten, was ihnen gestattete, sich auf eine unheimlich realistische Weise zu schlängeln, während der Roboter über den Boden tapste. Auf seinem faustgroßen Kopf waren zwei rote Leuchtdioden angebracht, die wie Augen aussahen, und auf seinem Rücken war eine dünne schwarze Antenne. Die mechanische Kreatur blieb vor ihnen stehen und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, als begutachtete sie den Raum. »Würdest du gerne Ball spielen, Michael?«, fragte eine synthetische Stimme. Der Plastikunterkiefer des Roboters klappte auf und wieder zu, als die Worte herauskamen. Der Teenager hörte auf, sich mit seinem Gameboy zu beschäftigen. Zum ersten Mal sah David ihn lächeln, und in diesem Moment war sein fröhliches Gesicht dem von Jonah sehr ähnlich. Michael lief zum Teppich, hob dort einen leuchtend rosafarbenen Ball auf und rollte ihn auf den Dinosaurier-Roboter zu. Der Apparat drehte den Kopf, folgte dem Ball mit seinen Sensoren und tapste dann hinter ihm her. »Er ist darauf programmiert, hinter allem herzugehen, was rosa ist«, erklärte Gupta. »Er hat einen CMOS-Sensor, der die Farbe erkennen kann.« Der Professor sah seinem Enkel mit offensichtlichem Vergnügen zu. Monique wurde allerdings ungeduldig. Sie warf einen Blick zum Computer auf dem Eichentisch, dann auf David. Er konnte sehen, was sie dachte: Irgendwo auf dieser Festplatte war vielleicht die Theorie von Allem. Monique war begierig, sie zu sehen. »Ahm, Professor?«, sagte David. »Könnten wir uns inzwischen die Dateien ansehen?« 154 Der alte Mann riss sich abrupt von seinen Träumereien los. »Ja, ja, natürlich! Tut mir leid, David, ich habe mich ablenken lassen.« Er zog einen Stuhl an den Tisch heran und schaltete den Computer ein. David und Monique stellten sich hinter ihn und schauten ihm über die Schulter. Zuerst öffnete Gupta den Dokumentenordner des Computers. In dem Fenster erschien ein Verzeichnis all der Dateien, die von den verschiedenen Professoren bei ihrem Besuch in Carnegie's Retreat auf diesem Rechner erstellt worden waren. Gupta scrollte vor zu einem Ordner, der als MICHAELS KISTE bezeichnet worden war. Der Inhalt war durch ein Passwort geschützt, das Gupta eintippte REDPIRATE79 -, um den Ordner zu öffnen. »Das sind die Dokumente, die wir geschrieben haben, als wir vor vier Jahren hier waren«, sagte er und zeigte auf eine Liste von sieben Microsoft-Word-Dateien. »Wenn Hans die Theorie auf dem Computer versteckt hat, muss es irgendwo in diesem Ordner sein, weil alle anderen Dateien auf der Festplatte danach erstellt wurden.« Die sieben Dokumente waren nach dem Zeitpunkt ihrer letzten Änderung angeordnet; die Daten reichten vom 27. Juli 2004 ganz oben bis zum 9. August
2004 am Ende der Liste. Die erste Datei trug das Etikett VISUAL. Die Namen der nächsten sechs Dateien waren alles dreistellige Zahlen: 322, 512, 845, 641, 870 und 733. Gupta öffnete Visual. »Daran erinnere ich mich«, sagte er. »In unserer ersten Nacht hier habe ich ein Forschungsreferat heruntergeladen, das einer meiner Studenten über visuelle Erkennungsprogramme geschrieben hatte. Aber ich hatte keine Gelegenheit, es zu lesen. Vielleicht hat Hans die Datei geöffnet und ein paar Gleichungen hineingesteckt.« Der Titel des Referats lautete: »Probabilistische Teilräume in visueller Repräsentation«, und es war eine typische Doktorandenleistung: lang, mühsam und undurchschaubar. Während Gupta durch die Seiten scrollte, erwartete David 155 dauernd, eine plötzliche Lücke im Text zu sehen, ein großes Stück weiße Fläche, das von einer ordentlichen Folge von Gleichungen abgelöst wurde, die nichts mit visueller Erkennung zu tun hatten. Aber stattdessen ging das Referat immer weiter, schleppte sich durch neun Kapitel, dreiundzwanzig Abbildungen und zweiundsiebzig Fußnoten. »Okay, eine wäre erledigt«, sagte Gupta, als er am Ende ankam. »Sechs kommen noch.« Er klickte die Datei 322 an. Das Dokument war sehr groß und brauchte einige Zeit, bis es geöffnet war. Nach fünf oder sechs Sekunden erschien eine lange Liste von Namen auf dem Bildschirm, jeder begleitet von einer Telefonnummer. Der erste Name war Paul Aalami und der zweite Tanya Aal-to. Dann kamen mindestens dreißig Aarons und fast genauso viele Aaronsons. Professor Gupta scrollte weiter, und das Fenster zeigte eine scheinbar endlose Parade von Abbotts, Abernathys, Ackermans und Adams'. Er scrollte schneller, und Tausende alphabetischer Einträge erhoben sich in einem verschwommenen digitalen Schwärm vom unteren Bildschirmrand. Monique schüttelte verwirrt den Kopf. »Warum haben Sie ein Telefonbuch heruntergeladen?« »Das hat Michael gemacht.« Gupta wies mit dem Kopf auf seinen Enkel, der immer noch mit dem Brontosaurus-Roboter Ball spielte. »Autistische Kinder haben oft merkwürdige Obsessionen. Manche lernen Zug- oder Busfahrpläne auswendig. Vor ein paar Jahren hat Michael eine Phase durchgemacht, in der er von Telefonnummern regelrecht besessen war. Er las dann Telefonbücher, prägte sie sich ein und transkribierte sie. Jede dieser Dateien ist ein Telefonbuch für einen bestimmten Vorwahlbereich.« David starrte auf den zuckenden verschwommenen Strom auf dem Computerbildschirm, der sich viel zu schnell bewegte, um gelesen werden zu können. »Gibt es irgendeine 155 Möglichkeit festzustellen, ob Dr. Kleinman die Dateien geändert hat?«
»Leider war die Funktion >Änderungen verfolgen< ausgeschaltet, deshalb kann ich die Änderungen nicht automatisch ausfindig machen. Ich muss mir vielleicht die Seiten ansehen, um festzustellen, ob Hans irgendetwas hinzugefügt hat.« Monique pfiff durch die Zähne. »Mist. Wenn die anderen Dateien so lang sind wie diese hier, werden Sie stundenlang auf diesen Bildschirm starren.« Professor Gupta hörte abrupt auf, in dem Verzeichnis vorzuscrollen. Er starrte derart konzentriert auf den Computer, dass David einen Moment lang glaubte, der alte Mann sei auf wundersame Weise über die Gleichungen des Herrn Doktor gestolpert, die wie glänzende Nadeln in dem riesigen Heuhaufen von Daten glänzten. Aber der Bildschirm zeigte nur eine lange Kette von Cabots. »Ich habe eine Idee«, sagte er und bewegte den Cursor zum oberen Rand des Bildschirms. »Jede Gleichung muss doch ein Gleichheitszeichen haben, stimmt's? Also durchsuche ich einfach alle Dateien nach diesem Symbol.« Er klickte das Menü »Bearbeiten« an und öffnete das Fenster »Suchen«. »Die Suche könnte allerdings ein paar Minuten dauern. Die Dateien sind so groß.« David nickte. Es war einen Versuch wert. Die Argun-Schlucht ist eine der am stärksten vom Krieg gezeichneten Orte in ganz Tschetschenien, aber in Simons Träumen war die Schlucht immer unberührt. Er schwebte wie ein Falke über dem schmalen Fluss Argun, der auf beiden Seiten von den Granithängen des Kaukasus flankiert wurde. Er konnte eine Straße am Ostufer des Flusses sehen, eine Straße, die gebaut worden war, damit russische Kampfpan-zer und gepanzerte Truppentransporter daraufhinund herfahren konnten, aber jetzt war nur ein einziges Fahrzeug auf der Straße, und es hatte nichts Militärisches an sich. Simon 156 stieß hinab in die Schlucht, um es sich genauer anzusehen. Nach ein paar Sekunden erkannte er das Fahrzeug: Es war sein eigener Wagen, seine alte graue Lada-Limousine. Am Steuer saß seine Frau Olenka Iwanowna, deren lange blonde Haare sich über ihren Rücken ergossen, und auf der Rückbank saßen seine Kinder Sergej und Larissa. Sie kamen, um Simon zu besuchen, der in der Stadt Baskhoi stationiert war, ungefähr zwanzig Kilometer weiter südlich. Die Straße war sicher - alle tschetschenischen Rebellen in dieser Gegend waren entweder getötet oder tiefer in die Berge vertrieben worden -, aber in seinen Träumen schwebte Simon dennoch über dem Wagen, folgte ihm schützend über die kurvenreiche Straße. Und dann bog der Lada um eine dieser Kurven, und Simon sah den schwarzen Hubschrauber, der mit Hellfire-Raketen bestückt war. In Wirklichkeit hatte Simon den Angriff nicht gesehen. Er hörte erst eine Stunde später davon, als sein Kommandant ihm mitteilte, dass die amerikanischen Streitkräfte wieder die Grenze nach Tschetschenien überquert hätten. Nach dem 11. September hatte die Delta Force begonnen, unmittelbar südlich der Grenze zu operieren und Jagd auf Kämpfer der al-Qaida zu machen, die sich zusammen mit den Tschetschenen in die Republik Georgien zurückgezogen hatten. Zuerst
hatte die russische Armee die Anwesenheit der Amerikaner toleriert, aber das Bündnis zeigte bereits Zeichen von Anspannung. Die Apache-Hubschrauber der Delta Force verirrten sich immer wieder auf russisches Territorium, und sie hatten die üble Angewohnheit, ihre Raketen auf unbeteiligte Zivilisten abzufeuern. Als Simon mit seinem Truppentransporter zum Schauplatz der amerikanischen Attacke fuhr, erwartete er schon, ein weiteres Massaker unter Bauern zu sehen, noch einen brennenden Ochsenkarren, der von toten Babuschkas umgeben war. Stattdessen sah er das geschwärzte Wrack seines Ladas mit dem verkohlten Skelett seiner Frau 157 immer noch hinter dem Steuer. Die Explosion hatte Sergej und Larissa vom Rücksitz gefegt und sie in einen schlammigen Graben zwischen Straße und Fluss geschleudert. Simon erfuhr nie, warum es zu diesem Irrtum gekommen war, entdeckte nie, wieso erfahrene Angehörige einer Kommandotruppe mit Spezialausbildung seine Familie für eine Bande von Terroristen hatten halten können. Weil der Einsatz der Delta Force der Geheimhaltung unterlag, vertuschten die amerikanischen und russischen Generäle den Vorfall. Als Simon Protest erhob, gab sein Kommandeur ihm eine Leinentasche, die mit Hundert-Dollar-Scheinen gefüllt war. Eine Kondolenzzahlung nannten sie es. Simon schleuderte die Tasche seinem Kommandeur entgegen und verließ die Spetsnaz. Er kam nach Amerika in der Hoffnung, irgendwie den Piloten und den Bordschützen der Apache ausfindig machen zu können, aber das war eine unmögliche Aufgabe. Er kannte weder ihre Namen noch das Kennzeichen ihres Hubschraubers. Er würde jeden einzelnen Soldaten der Special Forces abschlachten müssen, um sicher zu sein, dass er die richtigen erwischt hatte. In seinen Träumen sah er allerdings die Gesichter der Männer. Er sah den Piloten, der seine Maschine gerade hielt, während der Bordschütze die Hellfire abfeuerte. Er sah die Stichflammen aus dem Heck der Rakete spritzen, als sie auf den grauen Lada zuflog. Dann saß Simon plötzlich zwischen seinen Kindern auf der Rückbank des Wagens und starrte durch die Windschutzscheibe auf die heranjagende Rakete. Er spürte ein Zupfen an seinem Hemdkragen, das Zupfen einer kleinen Hand, die ihn festhielt. Simon schlug die Augen auf. Es war dunkel. Er war sicher zwischen dem Fahrersitz des Ferraris und dem Airbag eingeklemmt, der sich vom Lenkrad aus aufgebläht hatte. Der Wagen war mit der Beifahrerseite gegen den Baum geknallt, wodurch die rechte Hälfte des Fahrzeugs übel zugerichtet, 157 die linke aber praktisch unversehrt geblieben war. Und es zerrte tatsächlich jemand an seinem Hemdkragen, aber es war weder Sergej noch Larissa. Es war ein vertrockneter alter Hillbilly, ein zahnlückiger Eingeborener der Appalachen mit eingefallenen Wangen, der ein fadenscheiniges Flanellhemd trug und ein
misstrauisches Stirnrunzeln aufgesetzt hatte. Er hatte in den zu Schrott gefahrenen Ferrari hineingegriffen und eine Hand auf Simons Hals gelegt, um nach seinem Puls zu fühlen. Der Pick-up des Mannes stand mit dem Motor im Leerlauf auf der Landstraße, und der Lichtstrahl seiner Scheinwerfer schnitt durch den Wald. Simon befreite seine linke Hand von dem Airbag und packte den Hillbilly am Handgelenk. Der Mann sprang zurück. »Heiliger Jesus!«, japste er. »Sie sind ja am Leben!« Simon ließ den sehnigen Unterarm des Mannes nicht los. »Helfen Sie mir hier raus!«, befahl er. Weil sich die Tür des Ferraris nicht öffnen ließ, zog der Hillbilly ihn aus dem Fenster. Simon zuckte zusammen, als sein rechter Fuß den Boden berührte - der Knöchel war verstaucht. Der Appalache half ihm zu dem Pick-up. »Ich hab gedacht, der ist mausetot, hab ich gedacht«, sagte er verwundert. »Kommen Sie, wir müssen Sie ins Krankenhaus schaffen.« Der alte Mann stank nach Schweiß und Tabak und Holzrauch. Voller Ekel packte Simon den Hillbilly an den Schultern und warf ihn gegen die Seite des Pick-ups. Dann umklammerte er den Hals des Dummkopfs mit beiden Händen. »Haben Sie einen grauen Hyundai gesehen?«, wollte er wissen. »Mit einer großen Beule hinten im Kotflügel?« Der Mann riss erstaunt den Mund auf. Er hob die Hände an die Kehle und versuchte, Simons Griff zu lösen, aber seine kleinen, zitternden Finger fanden keinen Halt. »A NTWORTE MIR!«, schrie Simon ihm ins Gesicht. »H AST DU DEN
W AGEN
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GESEHEN ?«
Er brachte keinen Ton heraus, weil Simon ihm die Luftröhre eindrückte, aber er schüttelte mit einem schnellen, spastischen Zittern den Kopf. »Dann bist du nutzlos.« Simon packte fester zu und spürte, wie der Kehlkopf des Mannes unter seinen Händen nachgab. Der Hillbilly schlug mit den Füßen aus und wand sich an der Seite des Pick-ups, aber Simon hatte kein bisschen Mitleid mit ihm. Dieser Mann war nur ein zuckendes Stück Dreck. Warum sollte es ihm gestattet sein zu leben und zu atmen, während Sergej und Larissa in ihren Gräbern verwesten? Das war unerträglich. Es war unverzeihlich. Sobald der Mann tot war, ließ Simon ihn zu Boden fallen. Dann hinkte er zu dem Ferrari zurück und holte seine Uzi und seine anderen Waffen, die zum Glück unbeschädigt waren. Er trug alles in den Pick-up, holte dann sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Er war nicht sicher, ob er ein Signal bekommen würde, weil er in einer derart verlassenen Gegend war, aber nach ein paar Sekunden hörte er einen Summton und eine Stimme meldete sich: »Hier Brock.«
Während Professor Gupta die umfangreichen Dateien auf seinem Computer durchsuchte, ging David zu einem Fenster im hinteren Teil der Hütte. Er war zu aufgeregt, um auf den Bildschirm zu schauen, während Gupta Gigabytes von Daten durchkämmte. Er brauchte einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. Er konnte zunächst nichts durch das Fenster sehen, weil es zu dunkel war. Aber indem er die Stirn gegen die Glasscheibe drückte und die Hände seitlich um die Augen herum legte, konnte er die Silhouetten der Bäume im Umkreis der Hütte und einen wundervollen Streifen Nachthimmel über ihnen ausmachen. Wie alle Bewohner von New York wurde David immer wieder durch die Vielzahl der Sterne in Erstaunen versetzt, die er sehen konnte, sobald er die Stadt verlassen hatte. Er entdeckte als Erstes den Großen Wagen, der senkrecht dahing wie ein Fragezeichen. Er sah das Sommerdreieck - Wega, Deneb und Altair - und das Zickzack der Kassiopeia. Dann schaute er direkt nach oben und starrte auf die Milchstraße, diesen unvorstellbar riesigen Spiralarm der Galaxie. Es war die Beobachtung des Sternenhimmels, die vor fast vierzig Jahren Davids Interesse an Naturwissenschaft ausgelöst hatte. Im Haus seiner Großmutter in Belmont Falls, Vermont, hatte er gelernt, die Planeten und die hellsten Fixsterne zu identifizieren. Während seine Mutter das Geschirr vom Abendessen spülte und sein Vater in die Stadt fuhr, um sich zu betrinken, saß er im Garten und zeichnete die Sternbilder mit dem Finger nach. Indem er sich in die Gesetze der Physik vertiefte - die Theorien von Kepler und Newton, Faraday und Maxwell -, konnte David sich von den Wutausbrüchen seines betrunkenen Vaters und der stummen Verzweiflung seiner Mutter distanzieren. Er verbrachte seine ganze Jugend damit, sich auf die Karriere eines Wissenschaftlers vorzubereiten, studierte beharrlich Geometrie und Differentialrechnung in der Highschool und setzte dies fort, indem er Thermodynamik und Relativität im College lernte. Als seine Dämonen ihn im Alter von dreiundzwanzig schließlich einholten, ihn aus der Welt der Physik ausstießen und an die düstere Theke der West End Tavern setzten, war dies mehr als nur ein beruflicher Rückschlag. Er verlor das, was ihm in seinem Leben die größte Freude bereitet hatte. Und obwohl es ihm gelang, aus dem Abgrund hinauszukriechen und eine erfolgreiche Karriere in den Randbezirken der Wissenschaft aufzubauen, indem er Bücher über Newton, Maxwell und Einstein schrieb, kam er sich immer noch wie ein Versager vor. Er wusste, dass er nie eine Chance bekäme, auf den Schultern dieser Riesen zu stehen. 159 Aber als David in den Himmel über Carnegie's Retreat starrte, spürte er, wie ein Teil der alten Freude in sein Herz zurückkehrte. Er betrachtete das gesamte Aufgebot der Planeten und Fixsterne als winzigen Tropfen in einer kosmischen Welle. Vor fast vierzehn Milliarden Jahren war ein Quantenkessel zur Größe des Universums explodiert und hatte gewaltige Spuren von Materie und Energie in
seinem Gefolge hinterlassen. Kein Wissenschaftler auf der Welt wusste, warum es zu diesem Urknall gekommen oder was ihm vorausgegangen war - oder wie alles ausgehen würde. Aber die Antworten auf diese Fragen waren vielleicht endlich in Reichweite, lauerten irgendwo in den Schaltkreisen von Professor Guptas Computer. Und David wäre einer der Ersten, die sie zu sehen bekämen. Er war derart aufgedreht, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte, als er einen leichten Klaps auf seiner Schulter spürte. Er führ herum in der Erwartung, Gupta hinter sich zu sehen, aber der Professor starrte immer noch auf den Computerbildschirm. Stattdessen war es Monique. Sie sah genauso besorgt aus wie er. »Ich möchte dir noch eine Frage zu deinem Flachland-Referat stellen«, sagte sie. »Zu deinem Modell eines zweidimensionalen schwarzen Lochs.« Ihr Wunsch kam völlig überraschend, aber nach einem Moment des Nachdenkens verstand David. Monique wollte sich noch ein letztes Mal selbst an der Theorie von Allem versuchen, bevor Professor Gupta die Gleichungen bekannt gab. »Was möchtest du wissen?« »Enthielt dein schwarzes Loch CTCs?« David hatte den Begriff seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gehört, aber er erinnerte sich an ihn. Ein CTC war eine closed timelike curve, eine geschlossene zeitartige Kurve oder Zeitschleife. Im Wesentlichen war es ein Pfad, der es einem Teilchen erlaubte, in der Zeit vor und zurück zu reisen und an genau demselben Punkt anzukommen, an dem es gestartet war. 160 »Ja, wir haben CTCs in dem Modell gefunden, aber es war nicht so erstaunlich, sie in einer zweidimensionalen Raumzeit zu sehen. Flachland hat alle möglichen seltsamen, unsinnigen Dinge, die man nicht unbedingt in einem dreidimensionalen Universum sehen würde.« »Und hatte die Raumzeit eine Wurmloch-Struktur?« David nickte. Ein Wurmloch war ein Tunnel durch die Berge und Täler der Raumzeit, eine kosmische Abkürzung, die es Objekten ermöglichte, unmittelbar von einer Region des Universums in eine andere zu reisen. In der zweidimensionalen Welt, die er und Dr. Kleinman vorgeschlagen hatten, würden Teilchen, die in das schwarze Loch abtauchten, in einem separaten Universum auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kommen. »Ja, das stimmt. Ich bin überrascht, dass du all das weißt. Ich dachte, du hättest gesagt, dass du dich an dieses Referat nicht so gut erinnerst?« »Tu ich auch nicht. Aber während wir hierhergefahren sind, hab ich angefangen darüber nachzudenken, warum Kleinman gesagt hat, dein Referat sei der Wahrheit nahe gekommen. Und jetzt frage ich mich, ob es vielleicht eine Verbindung mit Geons gibt.« Das war ein Begriff, der ihm nicht vertraut war. Entweder hatte er ihn nie gelernt oder er hatte ihn völlig vergessen. »Geons?«
»Das steht für >gravitative elektromagnetische Einheit<. Es ist eine alte Idee aus den Fünfzigerjahren. Die Prämisse lautet, dass die Elementarteilchen keine Objekte in der Raumzeit sind, sondern Knoten im Stoff der Raumzeit selbst. Wie kleine Wurmlöcher.« David erinnerte sich vage. Er hatte von der Idee schon mal gehört, vermutlich in einem Oberseminar vor zwei Jahrzehnten. »Ja, ich glaube, Kleinman könnte diese Theorie mal in einer Vorlesung erwähnt haben. Aber ich hatte den Eindruck, dass die Physiker diesen Versuch aufgegeben haben.« 161 »Das liegt daran, dass niemand ein stabiles Geon formulieren konnte. Den Gleichungen zufolge würde die Energie entweder implodieren oder versickern. Aber vor ein paar Jahren haben einige Forscher die Idee als mögliche Vereinheitlichungstheorie wieder ausgegraben. Ihre Arbeit ist immer noch ziemlich bruchstückhaft, aber was sie bis jetzt entwickelt haben, ist ein Teilchen, das wie ein mikroskopisches Wurmloch mit CTCs aussieht.« David schüttelte den Kopf. »Und das nehmen die Leute ernst?« »Es ist eine Randidee, zugegeben. Nur ein paar Leute arbeiten daran. Aber dies ist eine klassische Feldtheorie, etwas worauf Einstein hätte kommen können. Und sie hat das Potenzial, die Unsicherheiten der Quantenmechanik zu erklären.« »Wie?« »Die CTCs sind der Schlüssel. Auf den kleinsten Skalen der Raumzeit wird die Kausalität verzerrt. Das Teilchen wird sowohl von Ereignissen in der Zukunft wie auch von solchen in der Vergangenheit beeinflusst. Aber ein außenstehender Betrachter kann keine Ereignisse messen, die noch nicht passiert sind, deshalb kann er den Zustand des Teilchens nie genau kennen. Das Beste, was er tun kann, ist, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen.« David versuchte, es sich vorzustellen, ein Teilchen, das irgendwie seine eigene Zukunft kannte. Es klang absurd, aber er begann die Vorzüge der Idee zu erkennen. »Also sind zukünftige Ereignisse Einsteins versteckte Variablen, stimmt's? Eine vollständige Beschreibung des Universums existiert, aber sie ist zu jedem gegebenen Zeitpunkt unerreichbar?« Sie nickte. »Gott spielt schließlich doch nicht Würfel mit dem Universum. Aber Menschen müssen es, weil wir nicht in die Zukunft sehen können.« Was David am meisten beeindruckte, war, wie aufgeregt 161 Monique schien. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, während sie über die Theorie sprach, hüpfte praktisch vor Begeisterung. Theoretische Physiker sind von Natur aus ein konservativer Haufen; obwohl es ihr Job ist, mit obskuren Gleichungen und manchmal fantasievollen Geometrien neue Modelle der Wirklichkeit zu bauen, unterwerfen sie diese Modelle zugleich einer eingehenden Untersuchung. David vermutete, dass Monique bereits mögliche Einwände gegen die Geon-Theorie analysiert und keine verhängnisvollen Fehler entdeckt hatte.
»Was ist mit Interaktionen der Teilchen?«, fragte er. »Wie würden die in diesem Modell aussehen?« »Jede Interaktion würde eine Änderung in der Topologie der lokalen Raumzeit mit sich bringen. Stell dir zwei Schleifen vor, die sich miteinander verbinden und einen ...« Sie wurde von dem Klatschen unterbrochen, mit dem Guptas Hand auf den Tisch schlug. Der Professor rief: »Verdammt!«, und schaute finster auf den Computerbildschirm. Monique eilte zu ihm. »Was ist los? Was haben Sie gefunden?« Gupta ballte frustriert die Hände zu Fäusten. »Zuerst habe ich die Dateien nach Gleichheitszeichen durchsucht. Ohne Ergebnis. Dann habe ich nach dem Integralzeichen gesucht. Wieder ohne Ergebnis. Dann fiel mir ein, dass Hans die Information vielleicht im Betriebssystem des Computers anstatt im Dokumentenordner untergebracht hat. Aber ich habe gerade einen Vergleich Zeile für Zeile vorgenommen und keine Veränderungen an der Software festgestellt.« Er wandte sich stirnrunzelnd an David. »Ich fürchte, Sie haben sich geirrt. Wir sind den ganzen Weg hierher umsonst gekommen.« Er klang fast krank vor Enttäuschung. Es war klar, dass der alte Mann sich auch nach einem Blick auf die einheitliche Theorie gesehnt hatte, vielleicht noch stärker als David 162 oder Monique. Aber Gupta gab zu schnell auf, dachte David. Die Antwort war ganz in der Nähe. Dessen war er sich sicher. »Vielleicht ist sie irgendwo anders in der Hütte versteckt«, schlug David vor. »Vielleicht hat Dr. Kleinman die Theorie auf Papier festgehalten und sie in einer Schublade oder einem Schrank deponiert. Wir sollten anfangen nachzusehen.« Monique ließ ihre Blicke sofort durch den Raum wandern. Aber Gupta blieb auf seinem Stuhl sitzen und schüttelte den Kopf. »Das hätte Hans nicht gemacht. Er wusste, dass andere Professoren von Carnegie Mellon in den Ferien hierherkamen. Er hätte es nicht gewollt, dass einer von ihnen über die Theorie stolperte, während er in den Hängeschränken nach Zucker sucht.« »Vielleicht hat er die Papiere sehr sorgfältig versteckt«, entgegnete David. »In einer Ritze in den Wänden vielleicht. Oder unter den Bodendielen.« Der Professor schüttelte abermals den Kopf. »Wenn das der Fall ist, dann ist die Theorie verschwunden. Die Hütte ist mit Mäusen verseucht. Sie hätten mittlerweile die gesamte Einheitliche Feldtheorie verspeist. Die Gleichungen des Herrn Doktors wären unter ihrem Kot verteilt.« »Nun ja, vielleicht hat Kleinman die Papiere in eine Kassette gelegt, bevor er sie versteckt hat. Oder in eine Keksdose oder eine Plastikbox. Ich will damit sagen, dass es nichts schaden kann, nachzusehen.«
Gupta legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Seine Augen waren glasig vor Müdigkeit. »Es wäre vielleicht klüger, unsere Annahmen neu zu überdenken. Warum sind Sie so davon überzeugt, dass Hans die Theorie hier versteckt hat?« »Das haben wir doch bereits besprochen. Kleinman hätte nichts in Ihrem Büro oder bei Ihnen zu Hause versteckt, weil diese Orte zu sehr auf der Hand liegen. Die Theorie 163 wäre der Regierung direkt in die Hände gefallen, wenn die Agenten ...« »Langsamer bitte. Wir müssen jeden einzelnen Schritt in Ihrer Argumentation überprüfen.« Er drehte seinen Stuhl herum, sodass er David ansehen konnte. »Beginnen wir mit dem Code, den Kleinman Ihnen gegeben hat. Zwölf der Ziffern waren die geografischen Koordinaten des Robotics Institute, stimmt's?« »Ja, die geografische Breite und Länge.« David schloss einen Moment die Augen und sah die Ziffern wieder, die auf der Innenseite seiner Augenlider vorbeischwebten. Die Zahlenfolge war permanent in seiner Hirnrinde eingeprägt. Er würde sich wahrscheinlich bis zu dem Tag, an dem er starb, an sie erinnern. »Und die letzten vier Ziffern waren Ihr Telefonanschluss.« »Also wollte Hans, dass Sie Verbindung mit mir aufnehmen. So viel wissen wir. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass er die Theorie in einem meiner Computer oder unter den Dielen einer Hütte versteckt hat, in der wir vor vier Jahren die Ferien verbracht haben.« Gupta lehnte sich in seinem Stuhl zurück und strich sich über das Kinn. Er war in seine Professorenrolle zurückgefallen und nahm David in die Zange, als wäre dies ein Seminar in boolescher Logik. Monique hörte konzentriert zu, ihr Blick war auf den alten Physiker gerichtet, aber David dachte immer noch über die sechzehn Ziffern nach, die Dr. Kleinman ihm ins Ohr geflüstert hatte. Die Zahlen schwebten immer noch durch sein Blickfeld, glitten an Guptas braunem Gesicht und dem Computerbildschirm hinter ihm vorbei. Und auf diesem Monitor sah David rein zufällig eine andere Zahlenfolge, die in einer säuberlichen Spalte auf der linken Seite des Dokumentenordners angeordnet war. Es waren die Namen der Telefonbücher, die Gupta für seinen Enkel heruntergeladen hatte: 322, 512, 845, 641, 870 und 733. 163 David trat nach vorn und zeigte auf den Bildschirm. »Sollen diese Dateinamen Vorwahlnummern sein? Eine für jedes Telefonbuch?« Der Professor sah ärgerlich aus. David hatte seinen Gedankengang unterbrochen. »Ja, ja. Aber ich sagte Ihnen doch, diese Dateien enthalten keine Gleichungen.« David trat noch näher an den Bildschirm heran und deutete auf den Dateinamen an der Spitze der Spalte, die Zahl 322. »Das hier kann keine Vorwahlnummer sein«, sagte er. Dann klopfte er auf die 733. »Und das hier auch nicht.« Gupta drehte sich in seinem Stuhl herum. »Wovon reden Sie da?«
»Mein Sohn hat mich neulich gefragt, wie viele Vorwahlnummern es gebe. Ich hab mich ein bisschen umgesehen und festgestellt, dass es nicht mehr als siebenhundertzwanzig geben kann. Eine Vorwahlnummer kann nicht mit einer Null oder einer Eins beginnen, und die beiden letzten Ziffern können nicht gleich sein. Die Telefongesellschaften reservieren diese Zahlen für besondere Zwecke. Wie 112, 411, solche Nummern.« Gupta musterte die Zahlen auf dem Bildschirm. Er schien unbeeindruckt. »Wahrscheinlich habe ich mich vertippt.« »Aber Dr. Kleinman könnte doch auch die Dateinamen verändert haben. Das würde erklären, warum die Nummern keinen Sinn ergeben. Er hätte alle sechs Dateinamen in wenigen Sekunden ändern können.« »Aber warum sollte er das tun? Glauben Sie, Hans hätte die Einheitliche Feldtheorie auf ein halbes Dutzend dreistellige Zahlen reduziert?« »Nein, das ist nur ein weiterer Schlüssel. Genau wie der, den er mir im Krankenhaus gegeben hat.« Jetzt trat Monique zu ihnen. Sie beugte sich über Gupta und starrte auf den Bildschirm. »Aber hier gibt es insgesamt achtzehn Ziffern, nicht sechzehn.« 164 »Konzentrieren wir uns auf die ersten zwölf«, erwiderte David. »Kannst du auf eine Website gehen, die Karten mit Breiten- und Längengraden hat?« Monique ging um Guptas Stuhl herum, griff sich die Maus und klickte den Internet Explorer an. Sie fand die Karten-Website und beugte sich über die Tastatur. »Okay, lies mir die Nummern vor.« David musste nicht mal auf den Bildschirm schauen. Er hatte sich die Zahlenfolge bereits eingeprägt. »Drei, zwei, zwei, fünf, eins, zwei, acht, vier, fünf, sechs, vier, eins.« Mehrere Sekunden verstrichen, während der Webserver die Informationen aus seiner Datenbank herausholte. Dann erschien eine Karte vom Westen Georgias mit dem Chattahoochee River zur Linken auf dem Bildschirm. »Die Adresse, die dem angegebenen Ort am nächsten liegt, ist Victory Drive 3617«, berichtete Monique. »In Columbus, Georgia.« Professor Gupta sprang auf und schob David und Monique beiseite. Er schaute wütend auf den Bildschirm, als hätte der Computer gerade seine Männlichkeit in Frage gestellt. »Das ist Elizabeths Adresse!« David konnte sich zunächst nicht an den Namen erinnern. »Elizabeth?« »Meine Tochter!«, rief Gupta. »Die kleine ...« Aber bevor er den Satz beenden konnte, wurde die Eingangstür der Hütte aufgesprengt. Lucille saß auf dem Beifahrersitz eines Geländewagens vom Bureau, der mit Blaulicht über die Route 52 raste. Während Agent Crawford um den langsameren Verkehr herumfuhr, sprach sie über das Satellitentelefon mit Brock und Santullo, die im Wald vor einer Hütte in Jolo kauerten. Die Verbindung war schlecht,
vermutlich wegen des Terrains, in dem die Agenten sich gerade aufhielten. Brocks heisere Stimme 165 wurde lauter und leiser, und gelegentliche atmosphärische Störungen machten sie völlig unhörbar. »Brock, hier spricht Parker«, rief Lucille in das Telefon. »Ich habe Ihre letzte Äußerung nicht mitbekommen. Wiederholen Sie. Over.« »Verstanden, wir haben vier Verdächtige in dem Haus gesichtet. Gupta, Swift, Reynolds und den nicht identifizierten Teenager. Wir rücken jetzt zu einer neuen Position vor, damit wir einen besseren Blick nach innen haben. Es gibt ein Fenster auf der anderen ...« Ein Schwall atmosphärischer Störungen begrub seine letzten Wörter unter sich. »Verstanden, wenigstens das Meiste. Sorgen Sie bloß dafür, dass Sie in Deckung bleiben, bis die Einheiten zur Unterstützung eintreffen. Treten Sie den Verdächtigen nur gegenüber, wenn sie versuchen, das Haus zu verlassen. Hören Sie mich, Brock?« »Verstanden. Wir halten die Stellung an der neuen Position. Ende der Durchsage.« Lucille hatte leichte Bedenken. Es war unglücklich, dass Brock und Santullo die ersten Agenten am Schauplatz waren. Brock war in der Spezialeinheit derjenige, den sie am wenigsten mochte - der Kerl war hitzköpfig und arrogant, fast bis zur Aufsässigkeit. Es sähe ihm durchaus ähnlich, eine Schießerei anzufangen und einen der Verdächtigen zu töten. Oder, schlimmer noch, selbst getötet zu werden. Deshalb hatte sie ihm befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Sie wollte nicht noch mehr Agenten verlieren. Vor ihnen tauchte ein Straßenschild aus der Dunkelheit auf: W ELCH , 5 M EILEN. Sie waren weniger als eine halbe Stunde von Jolo entfernt, und drei Streifenwagen der West Virginia State Police waren sogar noch näher. Falls alles ablief, wie geplant, konnten sie alle vor Mitternacht Feierabend machen. Dann ertönte Brocks Stimme aus dem Satellitentelefon. 165 »Mayday, Mayday! Erbitte Erlaubnis, sofort eindringen zu dürfen! Wiederhole, erbitte Erlaubnis, sofort eindringen zu dürfen!« Lucille presste sich das Telefon ans Ohr. »Was ist los? Versuchen sie aufzubrechen?« »Wir haben sie wieder gesichtet, und sie stehen um den Computer herum! Erbitte Erlaubnis zum Eindringen, bevor sie wertvolle Informationen vernichten!« Sie atmete tief durch. Es war eine Gewissensentscheidung. Ihre vordringlichste Aufgabe war, Informationen zu sichern, die von immenser Bedeutung für die nationale Sicherheit waren. Und Brock konnte recht haben: Die Verdächtigen versuchten vielleicht, die Daten zu vernichten. Aber Lucille hatte großes Vertrauen in die Fähigkeiten der Computerexperten des Bureau. Sie hatte
gesehen, wie sie gelöschte Daten von hundert Festplatten wiederhergestellt hatten. »Erlaubnis verweigert. Ihre Unterstützung ist weniger als zwanzig Minuten entfernt. Halten Sie Ihre Position, bis sie dort eintreffen.« »Verstanden, wir dringen ein!« Lucille dachte, er habe sie bei dem Sturm atmosphärischer Störungen missverstanden. »Nein, ich sagte, halten Sie Ihre Position! Dringen Sie nicht ein! Ich wiederhole: Dringen Sie nicht ein!« »Verstanden, wir bewahren Funkstille bis zur Ergreifung der Verdächtigen. Ende der Durchsage.« Eine schlimme Vorahnung duchfuhr sie wie ein Blitz. »V ERDAMMT , BROCK , ICH SAGTE , HALTEN
S IE I HRE P OSITION ! N ICHT ...«
Dann war die Leitung tot. Sie waren zu zweit. Zwei muskelbepackte Männer in dunkelblauen Overalls mit Goldbuchstaben, die sie als FBI auswiesen. Einer war ein großer blonder Rabauke, der andere ein 166 mediterraner Typ mit dunklem Teint und einem Schnauzbart. Beide hatten Glocks Kaliber neun Millimeter in der Hand, die sie auf Gupta, David und Monique richteten. Professor Gupta schirmte instinktiv seinen Enkel ab. Er trat vor Michael, der auf dem Boden neben dem Spielzeug-Brontosaurus kniete und nur Augen für seinen kleinen Roboter hatte. Der blonde Agent reagierte darauf, indem er mit seiner Pistole auf Guptas Stirn zielte. »N OCH EINE B EWEGUNG UND ICH PUSTE DIR DAS G EHIRN RAUS!«, schrie er. »N IMM DIE H ÄNDE HOCH , DU
S TÜCK S CHEISSE !«
Der alte Mann starrte auf die Mündung der Schusswaffe. Seine linke Wange zuckte, und er stieß ein Wimmern aus. Dann drehte er sich um und schaute auf seinen Enkel hinab. »Bitte ... bitte steh auf, Michael.« Seine Stimme war leise und zitterig. »Und halt deine Hände so hoch wie ich.« Der blonde Agent wirbelte herum und richtete seine Waffe jetzt auf David. Die Nase des Mannes war missgebildet, wahrscheinlich mehrere Male gebrochen, und seine Wangen waren von feinen roten Äderchen durchzogen. Er schien zu verlebt zu sein, um zum FBI zu gehören; er sah eher aus wie ein Kneipenschläger. »Du auch, du Arschgesicht«, sagte er. »Nimm die Hände hoch.« Als David die Hände hob, warf er einen Blick auf Monique, die auf der anderen Seite von Gupta und Michael stand. Er wusste, dass sie einen Revolver hinten im Bund ihrer Shorts stecken hatte. Er wusste auch, dass sie vermutlich so gut wie tot waren, wenn sie danach greifen würde. Er schüttelte fast unmerklich den Kopf: Tu's nicht, tu's nicht. Nach einer schrecklichen Sekunde der Ungewissheit hob sie ebenfalls die Hände.
Der blonde Agent drehte sich zu seinem Partner um. »Halt sie in Schach, Santullo. Ich durchsuche sie nach Waffen.« Der Mann ging zuerst zu David und tastete ihn grob ab. 167 Als er fertig war, rammte er David die Pistole in die Rippen. »Du bist ein blöder Arsch«, sagte er. David stand absolut still. Nein, dachte er, der Dreckskerl wird mich nicht erschießen. Die Regierung will mich lebend haben. Und trotzdem konnte er sich nicht sicher sein. Er stellte sich die Patrone im Patronenlager vor, der Hahn bereit, zuzuschlagen. Aber der Agent zog den Abzug nicht durch. Stattdessen beugte er sich vor, bis seine Lippen fast Davids Ohrläppchen berührten. »Du hättest bei deiner Exfrau bleiben sollen«, flüsterte er. »Sie sieht viel besser aus als dieses Niggerweib.« Dann trat der Mann von ihm weg und ging zu Professor Gupta. David senkte die Arme, benommen vor Wut, aber der Agent namens Santullo richtete sofort seine Glock auf ihn. »N IMM DIE H ÄNDE HOCH !«, schrie er. »Das ist meine letzte Warnung!« David gehorchte, und der blonde Agent tastete Professor Gupta ab. Der alte Mann quälte sich ein Lächeln ab und schaute auf seinen Enkel. »Michael, dieser Mann wird dich gleich berühren. Aber hab keine Angst, es tut nicht weh. Siehst du, er macht das gerade bei mir, und es tut gar nicht weh.« Der Agent grinste hämisch. »Was ist los mit dem Jungen? Ist er zurückgeblieben?« Gupta wandte den Blick nicht von Michael ab. »Du musst nicht schreien, okay? Er wird dich ein paar Sekunden lang berühren, und dann ist es vorbei.« Die Versicherungen des Professors schienen zu funktionieren: Als der Agent Michael durchsuchte, jammerte der Teenager ein bisschen, aber er schrie nicht. Dann wandte sich der Agent Monique zu und entdeckte schnell ihren Revolver. Er zog ihn aus ihrer Shorts und hielt ihn hoch, dass ihn alle sehen konnten. »Na, seht euch das mal an«, frohlockte 167 er. »Dieses Frauenzimmer hat 'ne Menge Black Power in ihrer Unterhose.« Monique funkelte ihn an - sie bereute offenbar ihre Entscheidung, es nicht auf einen Schusswechsel ankommen zu lassen. Der Agent steckte seine Waffe ins Holster und öffnete die Trommel des Revolvers, um nachzusehen, ob er geladen war. »Das ist ein Glücksfall für mich«, sagte er, »aber sehr unglücklich für Sie, Ms. Reynolds. Ich habe gerade die Mordwaffe gefunden.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe niemanden umgebracht! Wovon zum Teufel reden Sie da?« Er klappte die Trommel wieder zu und kehrte an die Seite seines Partners zurück. »Ich rede davon.« Er richtete die Waffe auf Santullos Kopf und drückte ab.
Es geschah so schnell, dass Santullos Augen immer noch auf Gupta, David und Monique gerichtet waren, als die Kugel durch seinen Schädel drang. Blut und Gehirnmasse spritzten aus der Austrittswunde. Die Wucht des Schusses warf ihn zur Seite auf den Boden, und die Glock fiel aus seiner Hand. Der blonde Agent hob sie auf, dann hielt er Santullos Waffe in der einen Hand und Moniques in der anderen. Michael fing an zu schreien, als er den Schuss hörte. Er ließ sich auf den Teppich fallen und hielt sich mit den Händen die Ohren zu. Professor Gupta beugte sich über ihn und drehte ihn von dem Toten weg. David aber war zu fassungslos, um irgendwo anders hinzusehen. Blut quoll aus der Eintrittswunde unmittelbar über der Schläfe des Mannes. Der blonde Agent trat um die Leiche herum, ohne sie eines zweiten Blicks zu würdigen. »Okay, genug rumgegammelt«, sagte er. Er legte den Sicherungshebel der Glock um und steckte sie sich in die Hose, hielt aber den Revolver weiter auf seine Gefangenen gerichtet. »Wir müssen machen, dass wir hier rauskommen, bevor die State Trooper hier auftauchen. Wir werden ein wenig durch den Wald spazieren 168 und einen Freund von mir auf der anderen Seite des Berges treffen.« David schaute in das lädierte Gesicht des Agenten. Mit einem Schauder wurde ihm klar, dass sein anfänglicher Verdacht berechtigt gewesen war: Der Mann gehörte nicht wirklich zum FBI. Er arbeitete mit den Terroristen zusammen. Mit drei schnellen Schritten marschierte der Agent hinüber zu Professor Gupta und seinem schreienden Enkel. Zunächst schob er Gupta zur Seite, sodass er der Länge nach hinfiel. Dann packte er Michael beim Kragen seines Polohemds und presste den Lauf des Revolvers gegen den Kopf des Jungen. »Ihr werdet alle im Gänsemarsch vor mir hergehen. Wenn irgendjemand wegzurennen versucht, ist der Junge tot. Kapiert?« Monique stand nun auf der linken Seite des Agenten und David auf seiner rechten. Sie sah David eindringlich an, und er verstand: Der Mann war in einer verwundbaren Position. Er konnte sie nicht beide auf einmal im Auge behalten. Wenn sie etwas unternehmen wollten, war jetzt der richtige Zeitpunkt. Gupta kam langsam wieder auf die Beine. Als er den Agenten ansah, verzerrte sich sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse. »Hören Sie sofort auf damit, Sie Trottel!«, rief er. »Nehmen Sie Ihre Hände von meinem Enkel!« David schätzte die Entfernung zwischen sich und dem Agenten ab. Er könnte auf den Dreckskerl springen und vielleicht seinen Arm mit der Waffe packen, aber das würde ihn nicht daran hindern, den Revolver abzufeuern. Sie mussten ihn dazu bringen, die Waffe auf etwas anderes als Michael zu richten. Der Agent grinste den Professor amüsiert an. »Wie haben Sie mich genannt? Einen Trottel?«
Monique warf David noch einen Blick zu: Worauf wartest du noch? Und dann bemerkte er, dass der Roboter-Bronto 169 saurus ganz in ihrer Nähe mit seinem Gliederschwanz wedelte. Er richtete den Blick auf die dünne Antenne des Automaten. »Ja, Sie sind ein Trottel!«, rief Gupta. »Begreifen Sie denn nicht, was Sie tun?« David bildete stumm das Wort Antenne mit dem Mund und zeigte auf das Ding. Zuerst sah Monique nur verwirrt aus. Dann ballte David seine rechte Hand zur Faust und drehte sie. Das reichte. Monique beugte sich über den Brontosaurus und knickte seine Antenne ab. Der Alarm war sogar noch lauter, als David sich erinnerte. Der Agent ließ Michael sofort los und richtete den Revolver auf den Krach. Dann ging David von hinten auf ihn los. Simon parkte den Pick-up am vereinbarten Treffpunkt, einer scharfen Kurve in einer unbefestigten Straße ungefähr einen Kilometer südlich der Hütte. Er hatte den Ort mit Hilfe einer Landkarte der näheren Umgebung bestimmt, die er im Handschuhfach gefunden hatte. Ein Treffen an Carnegie's Retreat wäre unklug gewesen, weil die Hütte am Ende einer Sackgasse lag und mindestens ein Dutzend Polizeifahrzeuge bereits aus nördlicher Richtung dorthin unterwegs waren. Aber die unbefestigte Straße verlief durch einen verwilderten dunklen Wald nach Süden, wodurch sie eine perfekte Fluchtroute in den benachbarten Staat Virginia war. Er machte die Scheinwerfer aus und schaute auf die leuchtenden Zeiger seiner Armbanduhr: 9 :21. Brock sollte in neun Minuten eintreffen. Simon hatte ihm eine beträchtliche Belohnung - zweihundertfünfzigtausend Dollar - in Aussicht gestellt, falls er es schaffte, alle vier Zielpersonen lebend bei ihm abzuliefern. Der Agent hatte vor, den Anschein zu erwecken, als hätten die Verdächtigen seinen Partner erschossen und wären in den Wald entkommen. Simon hatte den Ver 169 dacht, dass das FBI ihm diese Geschichte nicht abnehmen würde, aber das war Brocks Problem und nicht seines. Er ließ das Fenster hinunter und steckte den Kopf nach draußen, lauschte auf das Geräusch von fünf Leuten, die durch das trockene Laub stolperten. Aber alles, was er hörte, war der übliche Lärm des nächtlichen Abends: der schnarrende Gesang der Zikaden, das Quaken der Ochsenfrösche, der in den Baumwipfeln raschelnde Wind. Nach ein paar Sekunden vernahm er ein gedämpftes Bumm im Westen. Höchstwahrscheinlich ein Flintenknall. Und dann hörte er einen merkwürdigen, schrillen Schrei und vier weitere Schüsse in rascher Folge. Diese Geräusche kamen aus dem Norden, und es waren keine Flintenschüsse. Er hatte ziemlich viel Erfahrung darin, Geräusche zu identifizieren, die von verschiedenen Schusswaffen herrührten. Dies war eine Faustfeuerwaffe, vermutlich ein Revolver.
Keine Sorge, sagte er sich. Das ist nur das Geräusch, mit dem Agent Brock seinen Partner exekutiert. Aber warum vier Schüsse? Eine Kugel in den Kopf reichte normalerweise. Nein, nein, zieh keine voreiligen Schlüsse - vielleicht war Brock ein schlechter Schütze, vielleicht hatte er noch dreimal auf seinen Partner geschossen, um ganz sicher zu sein, dass er den Mann getötet hatte. Aber keine dieser Überlegungen vermochte Simons Besorgnis zu lindern. Sein Instinkt sagte ihm, dass irgendwas schiefgegangen war. Er schnappte sich seine Uzi, öffnete die Tür des Pick-ups und trat vorsichtig mit dem Fuß auf. Sein rechter Knöchel war böse angeschwollen, aber er hatte keine andere Wahl. David sprang los und rammte dem Agenten seine rechte Schulter in den Rücken. Er traf ihn hart, und weil der Mann sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, kippte er nach vorn und knallte mit der Brust auf den Boden. Der Revolver blieb jedoch in seiner Hand, und er drückte ab; der 170 Schuss ließ den Roboter-Dinosaurier explodieren und den Alarm verstummen. David fiel auf ihn und presste den Arm mit der Waffe zu Boden. Der Agent schoss wieder, völlig unkontrolliert, und David prügelte auf den Kopf des Mannes ein, schlug mit seinen Fingerknöcheln gegen den knochigen Knubbel unten an seinem Schädel. Er hielt sich an die harte Lektion, die sein Vater ihm erteilt hatte: So etwas wie einen fairen Kampf gibt es nicht. Es gibt nur Gewinnen oder Verlieren, und wenn du gewinnen willst, musst du weiter auf den Dreckskerl einschlagen, bis er aufhört, sich zu bewegen. Die Nase des Agenten brach wieder, als David sein Gesicht gegen den Boden schmetterte, und trotzdem schoss der Mann weiter mit dem Revolver. Zwei Schüsse ertönten, und David hörte Monique aufschreien. Außer sich vor Wut rammte er das Knie auf den Unterarm des Agenten, und endlich rutschte ihm die Waffe aus der Hand. Aber David hörte nicht eine Sekunde lang auf. Er hörte die alkoholgetränkte Stimme seines Vaters: Um Himmels willen, gib ihm nicht die Chance aufzustehen! Tritt ihn, schlag ihn, mach ihn fertig! Und David befolgte die Anweisungen seines Vaters, befolgte sie buchstäblich, bis das Gesicht des Mannes unter ihm ein einziger Bluterguss mit offen stehendem Mund und zugeschwollenen Augen war. David schrie: »Du S CHEISSER !«, aber er dachte gar nicht mehr an den Agenten. Er schrie seinen Vater an, diesen betrunkenen mörderischen Dreckskerl, während er mit den Fäusten auf das violette Gesicht des Mannes einschlug. Er hätte weiter geschlagen, bis der Mann tot gewesen wäre, aber er spürte jemanden hinter sich, der ihn an den Armen zurückzog. »Genug, genug! Er ist bewusstlos!« Er drehte sich um und sah Monique. Zu seiner Überraschung schien sie nicht verletzt zu sein. Sie schaute ihn besorgt an, dann griff sie in das Schulterholster
des Agenten und zog seine Halbautomatik heraus. »Roll ihn auf den Bauch, damit ich an die andere rankomme«, befahl sie. 171 David drehte den schweren Körper um, und Monique holte Santullos Waffe aus dem Hosenbund des Agenten. »Hier, nimm die«, sagte sie und reichte ihm die Glock. »Halt ihn in Schach, falls er wach wird. Ich kümmere mich um Amil.« »Amil? Was ist los mit ihm?« Er schaute über die Schulter und sah, dass Michael immer noch auf dem Teppich hockte und sich mit den Händen die Ohren zuhielt. Neben ihm lag Professor Gupta auf dem Rücken in einer Blutlache, die immer größer wurde. Er starrte entsetzt auf die Wunde. »Es kommt da raus!«, schrie er. »Es kommt raus, es kommt raus, es kommt raus!« Monique zeigte auf Davids Hemd. »Schnell, zieh es aus«, sagte sie. Dann lief sie zu Gupta und riss ihm das linke Hosenbein ab, das schon ganz durchnässt war. »Versuchen Sie sich zu beruhigen, Professor«, sagte sie. »Atmen Sie tief durch. Sie müssen Ihren Herzschlag verlangsamen.« Sie nahm Davids Hemd - das Hemd seiner Softballmannschaft - und faltete es zu einem Polster, das sie auf Guptas Wunde legte. Sie schlug die Ärmel um seinen Oberschenkel, schlang sie zu einem Knoten und presste mit der Hand gegen den Verband, um die Blutung zu stillen. Dann bewegte sie die andere Hand zu seinem Unterleib und begann den Bereich unmittelbar links von seinem Hosenschlitz abzutasten. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie, »ich versuche nur, die Oberschenkelarterie zu finden.« Gupta war damit beschäftigt, tief durchzuatmen, und hörte sie wahrscheinlich nicht. David beobachtete erstaunt, wie sie mit den Fingern im Schritt des alten Mannes herumbohrte. Nach ein paar Sekunden fand sie den Druckpunkt und drückte den Handballen dagegen, quetschte die Schlagader gegen den Beckenknochen. Der Professor schrie vor Schmerzen auf. Monique lächelte ihn breit an. »Na, na, das ist schon viel besser«, sagte sie. »Die Blutung wird jetzt langsam nachlas 171 sen.« Aber ihr Gesicht war grimmig, als sie sich an David wandte. »Wir müssen ihn in ein Krankenhaus schaffen.« Diesmal hörte Gupta sie. Er schüttelte heftig den Kopf und versuchte, sich aufzusetzen. »Nein!«, rief er. »Ihr müsst abhauen! Ihr müsst nach Georgia kommen.« »Bitte, Professor, legen Sie sich wieder hin«, bedrängte Monique ihn. »Nein, hören Sie mir zu! Der Mann hat gesagt, die State Trooper wären unterwegs! Wenn die Sie erwischen, bekommen sie die Einheitliche Feldtheorie!« Monique musste sich anstrengen, um weiter Druck auf Guptas Oberschenkelarterie und ihren improvisierten Verband ausüben zu können. »Wir können Sie nicht zurücklassen!«, rief sie. »Sie würden verbluten!«
»Sobald die Polizisten hier eintreffen, werden sie mich so schnell wie möglich ins Krankenhaus schaffen. Glauben Sie mir, sie würden mich nicht sterben lassen. Ich bin zu wichtig für sie.« Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht von seiner Seite weichen. David war von ihrer Haltung beeindruckt. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass Monique den Professor nicht sonderlich gut leiden konnte, trotzdem war sie jetzt bereit, alles für ihn zu opfern. Gupta streckte seine Hand zu ihr aus und berührte sie an der Wange. Dann zeigte er auf seinen Enkel, der auf den Fußballen hin und her schaukelte. »Nehmen Sie Michael mit«, sagte er. »Wenn die Polizei ihn findet, sperrt sie ihn in eine Anstalt. Lassen Sie das nicht zu, Monique. Bitte, ich flehe Sie an.« Sie drückte mit der Hand auf den Verband, aber sie nickte. Dann drehte Gupta sich zu David um und zeigte auf den Computer auf dem Tisch. »Bevor Sie gehen, müssen Sie die Festplatte zerstören. Damit das FBI den Code nicht sieht.« Ohne ein Wort hob David den Computer über den Kopf 172 und schleuderte ihn zu Boden. Das Plastikgehäuse brach auf, und David riss die Festplatte heraus, die aussah wie ein Plattenteller im Miniaturformat mit einem Stapel Silberscheiben. Er packte die Glock am Lauf und begann, mit dem Kolben der Pistole auf die Scheiben einzuschlagen. Er machte damit weiter, bis sie in Hunderte kleine Splitter zerschmettert waren. Als er gerade damit fertig war, hörte er eine Sirene. Es war das Heulen eines Streifenwagens der State Police, der auf der Schotterstraße angejagt kam und vielleicht noch eine Viertelmeile entfernt war. Er hörte genauer hin und machte noch zwei Sirenen aus, die ein bisschen weiter weg waren. Und dann hörte er ein Geräusch, das sogar noch weniger willkommen war, die schnellen Schüsse einer Maschinenpistole. Er sprang auf. Monique beugte sich immer noch über Professor Gupta, drückte weiter auf seinen Verband, aber der alte Mann flüsterte jetzt etwas in Michaels Ohr. »Komm schon!«, schrie David. »Wir müssen los!« »Geht schon«, sagte Gupta und schob sowohl Michael als auch Monique von sich weg. Er sah aus, als würde er schwächer. »Und vergessen Sie nicht ... Michaels Gameboy mitzunehmen.« Monique, die inzwischen weinte, stand auf und ging zur Tür. David fand den Gameboy und drückte ihn dem Teenager in die Hände. Michael betätigte einen Knopf, und das Display erwachte wieder zum Leben. Er spielte Warfighter an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte, als wäre in der Zwischenzeit nichts von Bedeutung passiert, und er war dadurch so sehr abgelenkt, dass er David gestattete, ihn am Ellbogen anzufassen und aus der Hütte zu geleiten. Simon knöpfte sich als Erstes die State Trooper vor. Er lehnte sich an einen Baum neben der Straße, nahm die Windschutzscheibe des führenden Streifenwagens unter Beschuss und
173 tötete beide Insassen. Der Wagen rutschte von dem Schotter herunter und prallte gegen einen mit Kudzu bewachsenen Felsblock. Der Fahrer des zweiten Fahrzeugs sah das Wrack erst, als er um die Kurve kam, und das war viel zu spät. Er schaffte es, den Wagen mitten auf der Straße zum Stehen zu bringen, aber Simon knallte ihn ab, bevor er den Rückwärtsgang einlegen konnte. Der dritte Fahrer blieb klugerweise außer Schussweite. Aus einiger Entfernung konnte Simon hören, wie mehrere Cops in Deckung gingen und in ihre Funkgeräte riefen. Seine Aufgabe war erfüllt: Jetzt würden die Trooper eine Zeit auf der anderen Straßenseite bleiben und sich hinter Felsen und Baumstämmen verstecken, wodurch Simon sich um andere Dinge kümmern konnte. Er humpelte über die Straße zu der Hütte. Das erste Zeichen dafür, dass da Probleme auf ihn warteten, war die offene Tür. Das zweite waren die drei Körper, die drinnen auf dem Boden lagen. Nur einer von ihnen war tot - ein FBI-Mann mit einem absurden Schnurrbart, offenbar Brocks Partner. Teile seines Gehirns waren gegen die Wand neben ihm gespritzt. Ein kleiner Inder, der hoch geschätzte Professor Gupta, lag bewusstlos in einer Blutlache. Jemand hatte seine Oberschenkelwunde notdürftig versorgt, aber der Verband war bereits blutgetränkt. Und nicht zuletzt war da noch Agent Brock, er wand sich auf dem Bauch, stöhnte vor Schmerzen und spuckte Stücke seiner Zähne aus. Simon stand einen Moment da, um zu beschließen, was zu tun war. Swift und Reynolds, seine primären Zielpersonen, waren wahrscheinlich nicht weit entfernt und liefen mit ihrem jugendlichen Gefährten blindlings durch den Wald. Unter normalen Umständen hätte Simon sie verfolgt, aber sein Knöchel entzündete sich immer mehr, und er wusste, dass er sein Gewicht nicht viel länger tragen würde. Im Moment musste er sich damit zufriedengeben, Dr. Gupta zu befragen. Angenommen, der alte Mann starb nicht am Schock, standen 173 die Chancen nicht schlecht, dass er ihm sagen konnte, wohin Swift und Reynolds hatten fahren wollen. Brock kam schwankend auf die Beine. Sein Gesicht war ein blutiger Klumpen, aber im Übrigen war er brauchbar. Wenn sie zusammenarbeiteten, konnten sie Gupta wahrscheinlich durch den Wald bis zu dem Pick-up tragen. Simon packte Brocks Nacken und schob ihn auf den Professor zu. »Ich hab einen neuen Job für Sie, Mr. Brock«, sagte er. »Und wenn Sie am Leben bleiben möchten, dann rate ich Ihnen, ihn zu übernehmen.« ZWÖLF
L
ucille kniete neben der Leiche Tony Santullos, eines vierundzwanzig Jahre
alten Agenten, der erst vor sechs Monaten die Academy absolviert hatte, und zwang sich, das klaffende Loch in seiner Schläfe anzusehen. Sie holte tief Luft
und verdrängte all die Dinge, die sie hätten ablenken können, alle Gedanken an Schuld und Zorn und Frustration. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, das zu rekonstruieren, was sich in der Hütte abgespielt hatte. Sie untersuchte die Position von Santullos Leiche und das Muster der Blutspritzer. Sie bemerkte, dass sich noch zwei Blutlachen auf der anderen Seite des Raums befanden, Anzeichen dafür, dass es weitere Opfer gegeben hatte. Und sie nahm den über den Boden verstreuten Schrott zur Kenntnis, das zerbrochene Computergehäuse, die zerschmetterte Festplatte und die Plastiküberreste von irgendeinem Roboter. Agent Crawford stand hinter ihr und hielt ein Funkgerät am Ohr. »Brock, kommen«, rief er. »Melden Sie sich, los, melden Sie sich endlich. Antworten Sie sofort, over.« Lucille schüttelte den Kopf. Fairerweise musste man zwar die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Agent Brock die Verdächtigen in den Wald verfolgt hatte und jetzt nicht auf den Funkkontakt reagierte, weil er tot oder verwundet im Gebüsch lag. Aber das bezweifelte sie stark. Innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden hatte der Verdacht in ihr Gestalt angenommen, dass es einen Verräter im Einsatzkommando gab, und jetzt war sie sicher, wer es war. Abrupt nahm Crawford das Funkgerät herunter und legte 174 den Kopf schief, weil er auf ein Geräusch lauschte, das von draußen kam. Nach ein paar Sekunden hörte Lucille es auch: das Schlagen von Hubschrauberrotoren. Sie erhob sich und folgte Crawford aus der Hütte. Sie schauten nach Nordosten und sahen, wie drei Blackhawks knapp über die Hügel glitten, während ihre Suchscheinwerfer die Baumwipfel unter ihnen illuminierten. Es war die Vorhut der Delta Force, die vor der vereinbarten Zeit hier eintraf. Mit nacktem Oberkörper rannte David in die Dunkelheit. Er konnte nicht das Geringste sehen, aber er stürmte trotzdem vorwärts und bemühte sich, den Geräuschen zu folgen, die Monique machte, während sie durch das Unterholz brach. Mit der linken Hand tastete er nach Baumstämmen und Asten, und mit der rechten hatte er Michael am Ellbogen gepackt und zog ihn mit sich. Zuerst hatte der Teenager geschrien, aber nachdem er ungefähr eine halbe Meile gelaufen war, hatte er nicht mehr genug Luft, um zu protestieren. Sie rasten durch den dunklen Wald, als flögen sie durch die Luft, getrieben durch die nackte Angst. Sie kamen an eine Lichtung, und Monique blieb abrupt stehen. David wäre fast gegen sie geprallt. »Was machst du da?«, zischte er. »Lauf weiter, los, lauf weiter!« »Wo laufen wir denn hin? Woher weißt du, dass wir nicht im Kreis laufen?« Er schaute hoch zu den Sternen. Der Kleine Wagen stand rechts von ihnen am Himmel, was bedeutete, dass sie nach Westen unterwegs waren. Er nahm Moniques Hand und zeigte damit nach links. »Wir sollten in dieser Richtung weiterlaufen, damit wir langsam nach Süden kommen. Dann können wir ...« »O Gott, was ist das denn?«
Drei Lichtpunkte erhoben sich über den Wipfeln hinter ihnen und hingen wie helle neue Sterne am Himmel. Wäh 175 rend David in diese Richtung starrte, hörte er in der Ferne das Brummen von Hubschrauberrotoren. Er packte Michael am Ellbogen und schob Monique nach vorn. »Los, los, los! Macht, dass ihr unter den Bäumen verschwindet!« Sie tauchten wieder im Wald unter und kletterten einen steinigen Abhang hoch. Es ging hier mühsamer voran, der Untergrund war felsiger. Monique stolperte über etwas und fiel mit einem Schrei zu Boden. David lief zu ihr, aber als er sich vorbeugte, um sie zu fragen, ob alles mit ihr in Ordnung sei, vernahm er eine langsame, tiefe Stimme: »Macht jetzt keine Bewegung mehr.« Dann hörte er, wie die Abzugshähne von zwei Gewehren gespannt wurden. David erstarrte. Einen Moment lang erwog er, sich seitlich in die Büsche zu schlagen, aber als er sich umdrehte, sah er, dass der Gameboy in Michaels Hand immer noch eingeschaltet war. Das Licht von dem Display war schwach, aber es war stark genug, um als Ziel zu fungieren. Eine Taschenlampe wurde eingeschaltet, und der Strahl glitt über sie. Durch den grellen Lichtschein versuchte David, den Mann zu erkennen, der die Taschenlampe hielt, aber alles, was er ausmachen konnte, war eine kräftige Silhouette. Wahrscheinlich niemand vom FBI, dachte er. Eher ein She-riff aus der Gegend oder ein State Trooper. Wobei es in diesem Moment keinen großen Unterschied machte. »Was macht ihr denn hier draußen?«, fragte der kräftige Mann. »Das ist nicht der richtige Platz für ein Picknick.« Er hörte sich tatsächlich verblüfft an. David blinzelte in den Lichtstrahl der Taschenlampe und erkannte zu seiner Erleichterung, dass der Mann keine Uniform trug. Er trug einen Overall und ein extragroßes Flanellhemd, und die Schusswaffe, die er auf sie gerichtet hatte, war eine Flinte und kein Gewehr. Links von ihm stand noch ein Mann mit einer Flinte, ein alter zahnloser Bursche mit einer John-Deere-Kappe auf 175 dem Kopf, und zu seiner Rechten stand ein kleiner, gedrungener junge, der vielleicht acht oder neun Jahre alt war. Der Junge hatte eine selbst gemachte Steinschleuder in der Hand, und sein Gesicht war merkwürdig platt. »Hört ihr mir zu?«, fragte der dicke Mann. Er hatte einen dichten braunen Bart, und über seinem linken Auge klebte ein schmutziger Verband. »Ich hab euch eine Frage gestellt.« David nickte. Das waren die einheimischen Jäger, von denen Gupta gesprochen hatte. Großvater, Vater und Sohn, keine Frage. Hinterwäldler aus West Virginia, mit ihrem Misstrauen Fremden gegenüber. Vermutlich nicht sehr dazu geneigt, für eine schwarze Physikerin und einen Geschichtsprofessor mit nacktem
Oberkörper Verständnis zu haben. Aber von der Regierung hielten sie vermutlich auch nicht allzu viel. David fragte sich, ob er sich diesen Umstand zunutze machen konnte, um sie auf seine Seite zu ziehen. »Wir stecken in Schwierigkeiten«, räumte er ein. »Sie sind gekommen, um uns festzunehmen.« Der dicke Mann richtete sein gutes Auge auf ihn. »Wer ist gekommen?« »Das FBI. Und die State Trooper. Sie arbeiten zusammen.« Der Mann schnaubte. »Was haben Sie angestellt? Eine Bank überfallen?« David war sich natürlich klar darüber, dass er nicht die Wahrheit sagen konnte. Er musste sich eine Geschichte ausdenken, die die Jäger ihm abnehmen würden. »Wir haben gar nichts angestellt. Es ist eine illegale Regierungsoperation.« »Was zum Teufel meinen Sie mit ...« Er wurde von seinem Sohn unterbrochen, der plötzlich einen hohen, heiseren Schrei ausstieß, ganz wie der Ruf eines tropischen Vogels. Auf dem Gesicht des Jungen zeichnete sich ein verzerrtes Lächeln ab, und er schwankte von einer Seite zur anderen, als würde er vom Wind geschüttelt. Mit 176 einem Schlag begriff David, was mit dem Jungen los war. Er litt am DownSyndrom. Der dicke Mann schenkte seinem Sohn keine Beachtung. Er hielt seine Flinte auf David gerichtet. »Hören Sie mal, wollen Sie mir jetzt endlich sagen, was hier los ist?« Okay, dachte David. Sie hatten etwas gemeinsam. Das war zumindest ein Anfang. Er zeigte auf Michael, der auf dem Boden hockte und sich vor und zurück wiegte. »Sie sind hinter unserem Sohn her!«, rief David. »Sie versuchen ihn uns wegzunehmen ! « Monique starrte ihn völlig entgeistert an. Aber die Lüge war nicht völlig absurd, so weit hergeholt sie auch schien. In der Finsternis konnte man den dunkelhäutigen Teenager gut für ihren Sohn halten. Und die Jäger schienen diese Möglichkeit zu akzeptieren. Der kräftig gebaute senkte seine Flinte ein Stück, sodass sie jetzt auf ihre Füße gerichtet war. »Ist euer Junge krank?« David machte ein entrüstetes Gesicht. »Die Ärzte wollen ihn in eine Irrenanstalt stecken! Wir sind aus Pittsburgh abgehauen, um von den Dreckskerlen wegzukommen, aber sie sind uns gefolgt!« »Wir haben vor einiger Zeit ein paar Schüsse gehört. Haben die auf euch geschossen?« David nickte abermals. »Und jetzt haben sie sich Verstärkung besorgt. Hören Sie die Hubschrauber?« Das Rotorengeräusch wurde lauter. Der Junge mit dem Down-Syndrom schaute zum Himmel hoch. Der alte Bursche mit der John-Deere-Kappe wechselte einen Blick mit dem dicken Mann. Dann senkten beide ihre Waffen. Der dicke machte seine Taschenlampe aus. »Kommt hinter mir her«, befahl er. »Der Weg geht hier lang.«
Simon erkannte die Hubschrauber an ihren Silhouetten. Niedrig fliegende Blackhawks, nur ein paar Meter über den 177 Baumwipfeln. Das war eine Taktik der Delta Force, im Windschatten der Erde zu fliegen, unterhalb des Radarschirms. Simons Puls schlug schneller - seine Feinde waren nah. Die Soldaten, die nach Tschetschenien geflogen waren, diejenigen, die seine Frau und seine Kinder umgebracht hatten, waren vielleicht sogar unter ihnen. Einen Moment lang dachte er daran, seine Uzi abzufeuern; mit einem Glücksschuss konnte er einen der Piloten erwischen. Aber dann würden die anderen Blackhawks seine Position einkreisen, und das Spiel wäre vorbei. Nein, sagte Simon sich, besser hältst du dich an den ursprünglichen Plan. Auf diese Weise tötest du viel mehr von ihnen. Er und Brock erreichten bald darauf den Pick-up und hievten Professor Gupta auf die Rückbank der Fahrerkabine. Dann brach Brock auf dem Beifahrersitz zusammen, und Simon setzte sich hinter das Lenkrad. Er wusste, dass er die Scheinwerfer des Pick-ups nicht einschalten konnte - die Piloten der Blackhawks würden sie sofort bemerken -, und setzte deshalb seine Infrarotbrille auf. Auf dem Display des Geräts war die unbefestigte Straße kalt und schwarz, aber die Baumstämme und die Äste am Straßenrand glühten warm, weil sie etwas von der Hitze des Tages gespeichert hatten. Der Kontrast war so stark, dass er ziemlich schnell fahren konnte, was nicht unglücklich war, und viel Zeit hatten sie nicht. Als Simon einen Blick über seine Schulter warf, bemerkte er, dass Guptas Gesicht beträchtlich kühler als das von Brock war. Der Professor verfiel in einen Schock. Sie waren ungefähr zwanzig Kilometer südlich der Hütte, jenseits der Grenze nach Virginia, als Simon ein Haus an einer Biegung der Straße stehen sah. Es war ein ziemlich unauffälliges zweistöckiges Gebäude mit einer Vorderveranda und einer angebauten Garage. Was Simons Aufmerksamkeit erregt hatte, war der Name auf dem Briefkasten. Er war mit 177 Plastikbuchstaben geschrieben, die sich deutlich von dem kalten Metall abhoben:
D R . M ILO J ENKINS .
Simon bremste scharf, kam rutschend zum Stehen und bog in die Zufahrt des Arztes ein. Die Jäger bewegten sich wie Geister durch den Wald. Unter dem Blätterbaldachin folgten sie einem kurvenreichen Pfad, der sich am Hang eines schmalen Gebirgstals hochwand. Obwohl sie so schnell gingen, dass Monique, David und Michael kaum mithalten konnten, machten die Jäger kein Geräusch. David konnte nur deshalb auf ihrer Spur bleiben, weil das Licht der Mondsichel von ihren Flintenläufen reflektiert wurde. Ungefähr eine halbe Stunde lang marschierten sie bergauf, indem sie einen steilen Bergkamm erklommen, der dicht mit Kiefern besetzt war. Michael begann zu
keuchen, aber er blieb nicht stehen; die Augen fest auf den Gameboy gerichtet, erlaubte er David, ihn am Ellbogen zu führen. Als sie den Bergrücken erreichten, drehte David sich um und spähte durch eine Lücke zwischen den Bäumen auf die Landschaft nach Osten. Er konnte die Suchscheinwerfer aller drei Hubschrauber sehen, die weiter unten durch die Hügel und Niederungen streiften, aber sie waren inzwischen so weit entfernt, dass der Lärm ihrer Rotoren nur noch ein dumpfes Brummen war. Die Jäger setzten ihren Weg über den Höhenzug noch ungefähr eine Meile fort, bevor sie begannen, in ein benachbartes Tal abzusteigen. Nach mehreren Minuten erblickte David ein Licht am Abhang. Die Jäger hielten darauf zu und beschleunigten ihre Schritte, und bald standen sie vor einem ungestrichenen Sperrholzschuppen, der auf Blöcken aus Schlackesteinen stand. Er war lang und schmal und gegen einen Baum gesackt wie ein baufälliger Güterwagen, den man im Wald hatte stehen lassen. Ein Pärchen räudiger Hunde 178 umkreiste kläffend und jaulend den Schuppen, aber die Tiere wurden leiser, als die Männer näher kamen. Einer der Hunde lief auf den Jungen mit dem DownSyndrom zu und tanzte um seine Füße herum. Sein Vater, der dicke Mann in dem Overall, wandte sich an David. »Das hier ist unser Zuhause«, sagte er und streckte seine Hand aus. »Ich heiße Caleb. Das ist mein Pa, und das ist mein Junge Joshua.« David schüttelte ihm die Hand. Er bemerkte, dass Calebs Ringfinger fehlte. »Ich heiße David. Das ist meine Frau Monique.« Die Lüge ging ihm leicht von den Lippen. Ohne jede Schwierigkeit hatte er eine neue Familie gegründet. »Und das hier ist unser Sohn Michael.« Caleb nickte. »Ihr solltet wissen, dass wir hier keine Vorurteile haben. Ob jemand schwarz oder weiß ist, macht hier oben in den Bergen keinen Unterschied. Wir sind in Gottes Augen alle Brüder und Schwestern.« Monique rang sich ein Lächeln ab. »Das ist sehr nett von Ihnen.« Caleb trat auf den Schuppen zu und machte die Tür auf, ein grob behauenes Brett, das schief in seinem Rahmen hing. »Kommt rein und setzt euch. Ihr könnt bestimmt eine kleine Pause gebrauchen.« Alle betraten der Reihe nach den Schuppen, der nur aus einem langen Raum bestand. Es gab kein einziges Fenster, und Licht spendete nur eine einzelne nackte Glühbirne, die von der Decke hing. Auf einem Tisch im vorderen Teil des Raums standen ein paar Plastikschalen und eine Kochplatte; dahinter befanden sich einige Küchenstühle mit zerrissenen Sitzbezügen. Hinter den Stühlen lag eine graue Armeedecke auf dem Boden und markierte offensichtlich den Schlafbereich. Und in der Dunkelheit ganz am hinteren Ende des Raums machte sich ein riesiger Haufen mit Pappkartons und unordentlichen Kleidungsstücken breit. Ohne ein Wort zu sagen, nahm Calebs Vater seine John178
Deere-Kappe ab und ging zum Küchentisch. Er schaltete die Kochplatte ein und öffnete eine Dose Eintopf. In der Zwischenzeit rannte der Junge in den hinteren Bereich des Raums und begann mit seinem Hund Tauziehen zu spielen. Caleb zerzauste die schwarzen Haare seines Sohnes, die aussahen, als wären sie seit geraumer Zeit nicht gewaschen worden. »Joshua ist ein ganz besonderes Geschenk vom Herrgott für mich«, sagte er. »Das Jugendamt vom Mingo County versucht, ihn mir wegzunehmen, seit seine Ma gestorben ist. Deshalb hab ich das Haus hier mitten im Wald gebaut. Wir sind gute zwei Meilen von der nächsten Straße entfernt. So weit weg, dass uns der Sheriff normalerweise in Ruhe lässt.« Monique warf David einen Blick zu. Sie dachte wahrscheinlich genau das Gleiche wie er: Es war ein irrer Zufall, dass sie diesen Typ hier gefunden hatten. In diesem Teil von West Virginia war es andererseits vielleicht doch nicht so unwahrscheinlich, dass eine Gruppe von Flüchtigen einer anderen über den Weg lief. Jeder, der in dieser gottverlassenen Gegend wohnte, musste vor irgendwem oder -was auf der Flucht sein. Caleb ging auf Michael zu und versuchte, die Aufmerksamkeit des Teenagers zu gewinnen. »Du bist auch ein Geschenk vom Herrgott«, sagte er. »Genau wie es in der Bibel steht, im Markusevangelium, Kapitel zehn: >Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht: denn solcher ist das Himmelreiche« Michael ignorierte ihn und betätigte mit den Daumen die Tasten des Gameboy. Nach einer Weile wandte sich Caleb dem Haufen alter Kleidungsstücke zu, die wahllos über die Pappkartons drapiert worden waren. Er wählte ein T-Shirt aus und reichte es David. »Hier, ziehen Sie das an«, sagte er. »Ihr seid herzlich eingeladen, die Nacht bei uns zu verbringen .« 179 David warf einen Blick auf die graue Decke, die auf dem Boden ausgebreitet war. Er war so müde, dass er mit Freuden auf dem Ding geschlafen hätte, egal wie ungemütlich das war, aber er machte sich immer noch Sorgen wegen der Hubschrauber, die er auf der anderen Seite des Bergrückens gesehen hatte. »Vielen Dank für das Angebot, Caleb, aber ich glaube, wir sollten uns besser auf den Weg machen.« »Wo wollt ihr denn hin, Bruder? Wenn ihr mir die Frage erlaubt.« »Nach Columbus, Georgia.« David zeigte auf Monique. »Meine Frau hat dort unten Verwandte. Die können uns weiterhelfen.« »Wie wollt ihr dort hinkommen?« »Wir haben unseren Wagen stehen lassen, als die Cops uns zu jagen anfingen. Aber wir werden schon irgendwie nach Columbus kommen. Wenn es sein muss, gehen wir zu Fuß.« Caleb schüttelte den Kopf. »Das müsst ihr nicht. Ich glaube, ich kann euch helfen. In unserer Kirche gibt es einen Mann namens Graddick. Der sollte morgen nach Florida fahren. Vielleicht kann er euch unterwegs absetzen.« »Wohnt er in der Nähe?«
»Nein, aber er wird gegen Mitternacht hier vorbeikommen, um die Schlangen abzuholen. Ich bin sicher, er nimmt euch mit.« »Schlangen?« David dachte, er hätte sich verhört. »Ich hab letzte Woche ein paar Wald-Klapperschlangen auf dem Bergkamm gefangen, und Graddick wird sie zu einer Holiness-Kirche in Tallahassee bringen. Das ist eine Kirche, in der sie mit Schlangen umgehen, genau wie unsere in Rockridge.« Caleb öffnete einen der Pappkartons und holte eine Zedernholzkiste von der Größe einer Schreibtischschublade heraus. Die Kiste hatte einen Deckel aus Plexiglas mit kleinen kreisförmigen Löchern. »Wir versuchen, unseren Brü 180 dem in Florida zu helfen, versteht ihr, aber es ist nicht ganz legal. Deshalb transportieren wir die Schlangen nachts.« David schaute durch das Plexiglas. Eine rostfarbene Schlange, die ungefähr so dick war wie der Unterarm eines Menschen, lag zusammengerollt in der Kiste. Sie schüttelte ihr Schwanzende, und das Geräusch war ein scharfes, verärgertes »Schhhhhh!«. Caleb stellte die Kiste auf den Boden und holte noch eine aus dem Pappkarton. »Steht in der Bibel, dass wir das tun sollen. Markusevangelium, Kapitel sechzehn. >Die Zeichen aber, die folgen werden denen, die da glauben, sind diese: In meinem Namen werden sie böse Geister austreiben, sie werden in neuen Zungen reden und Schlangen mit den Händen hochheben.«< Er holte eine dritte Kiste heraus und stellte sie auf die beiden anderen. Dann hob er die aufeinandergestapelten Kisten hoch und drückte sie an seine breite Brust. »Ich nehme diese Kisten mit nach draußen und mache sie sauber, bevor Graddick hier herkommt. Ihr könnt euch in der Zwischenzeit ein bisschen ausruhen. Im Küchenschrank gibt es etwas Trockenfleisch, falls ihr Hunger habt.« Joshua und sein Hund folgten Caleb aus dem Schuppen nach draußen. Calebs Vater saß immer noch am Tisch und aß Eintopf aus der Dose, und Michael hockte auf der Armeedecke. Monique ließ sich mit dem Rücken an der Sperrholzwand neben ihn auf den Boden sinken. Sie wirkte erschöpft und sah nachdenklich aus. David setzte sich neben sie. »Hey, ist irgendwas?«, fragte er mit leiser Stimme für den Fall, dass der alte Mann zuhörte. Sie starrte Michael an und schüttelte den Kopf. »Schau ihn dir an«, flüsterte sie. »Jetzt hat er niemanden mehr. Nicht mal seinen Großvater.« »Mach dir um Amil keine Sorgen, okay? Dem geht es prima. Die FBI-Leute bringen ihn in ein Krankenhaus.« 180 »Das ist mein Fehler. Alles, worüber ich mir Gedanken gemacht habe, war die Theorie. Alles andere war mir egal.« Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und legte beide Hände auf die Stirn. »Mama hatte recht. Ich bin ein kaltherziges Biest.«
»Hör mal, das ist nicht deine Schuld. Daran ist der ...« »Und du bist nicht besser!« Sie hob den Kopf und sah ihn herausfordernd an. »Was willst du machen, wenn du die Einheitliche Feldtheorie gefunden hast? Hast du überhaupt schon so weit gedacht?« Um ehrlich zu sein, hatte David das nicht getan. Als Richtlinie hatte er nur die Anweisungen, die Dr. Kleinman ihm gegeben hatte: Sorgen Sie dafür, dass die Theorie sicher ist. Lassen Sie sie nicht in deren Hände fallen. »Wir müssen die Theorie einem neutralen Dritten anvertrauen. Vielleicht einer Art internationaler Organisation.« Monique schnitt eine Grimasse. »Was? Wulst du sie etwa den Vereinten Nationen zur sicheren Aufbewahrung überreichen?« »Vielleicht ist das keine so verrückte Idee. Einstein war ein großer Befürworter der UN.« »Ach, zur Hölle mit Einstein!« Sie hatte so laut gesprochen, dass sie die Aufmerksamkeit von Calebs Vater erregt hatte. Er hörte einen Moment auf zu essen und warf einen Blick über seine Schulter. David lächelte ihn aufmunternd an und wandte sich dann wieder an Monique. »Beruhige dich«, flüsterte er. »Der alte Mann kann dich hören.« Monique beugte sich zu ihm und kam mit den Lippen nahe an sein Ohr. »Einstein hätte die Theorie zerstören sollen, sobald er begriff, wie gefährlich sie war. Aber die Gleichungen waren ihm viel zu wichtig. Er war auch ein kaltherziger Mistkerl.« Sie blickte ihn herausfordernd an, eindeutig auf Streit aus. 181 Aber David reagierte nicht, und nach einer Weile schien sie das Interesse zu verlieren. Gähnend rückte sie ein Stück von ihm ab und legte sich auf die graue Decke. »Ach, vergiss es«, sagte sie. »Weck mich, wenn der Schlangenmann hier eintrifft.« Innerhalb von dreißig Sekunden war sie eingeschlafen. Sie lag zusammengerollt auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen. Die zusammengefalteten Hände hatte sie unter das Kinn gelegt, als würde sie beten. David nahm die Decke und legte sie über sie. Dann setzte er sich neben Michael, das andere Mitglied seiner neuen Familie. Der Teenager war immer noch in sein Warfighter-Spiel vertieft, und David schaute ein wenig zu. Ein Zeichentrick-Soldat in einer khakifarbenen Uniform rannte durch einen dunklen Flur. Ein anderer Soldat erschien am Ende des Flurs, aber Michael schoss ihn sofort nieder. Sein Soldat sprang über die auf dem Bauch liegende Leiche und lief dann in einen kleinen Raum, in dem sich ein halbes Dutzend Gestalten zusammendrängten. Michael drückte auf einen Knopf, woraufhin sein Soldat in die Hocke ging und den Feind mit einem Feuerstoß aus seiner M-16 bestrich. Kurz darauf lagen alle sechs gegnerischen Soldaten auf dem Boden, und aus ihren Wunden strömte simuliertes Blut. Dann öffnete Michaels Soldat eine Tür am anderen Ende des Zimmers. Das Display wurde schwarz, und
in blinkenden Buchstaben erschien eine Botschaft: H ERZLICHEN
G LÜCKWUNSCH ! S IE HABEN
DIE
S TUFE SviA/4 ERREICHT ! David
vermutete, dass dies ein unglaublich hohes Geschicklichkeitsniveau für Warfighter sein musste, aber Michael ließ nicht mal eine Spur von Befriedigung erkennen. Sein Gesicht blieb so ausdruckslos wie immer. David verspürte den plötzlichen Drang, Kontakt mit dem Jungen zu bekommen. Er beugte sich nahe zu Michael hinunter und zeigte auf das Display. »Was geschieht jetzt?« 182 »Es geht zurück zu Stufe Al.« Michaels Stimme war monoton, und seine Augen blieben auf den Gameboy gerichtet, aber es war eine Antwort, eine verständliche Reaktion. David lächelte. »Also hast du das Spiel gewonnen, ja? Das ist toll.« »Nein, ich hab nicht gewonnen. Es geht zurück zu Stufe Al.« David nickte. Okay, wie er meinte. Er zeigte wieder auf das Display, das jetzt den Khaki-Soldat in einem offenen Feld zeigte. »Aber es ist trotzdem ein Spiel, das Spaß macht, stimmt's?« Diesmal antwortete Michael nicht. Warfighter nahm wieder seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch. David spürte, dass er nun keinen Kontakt mehr zu dem Jungen herstellen konnte. So blieb er einfach neben dem Teenager sitzen und sah ihm beim Spielen zu, anstatt mit ihm zu reden. Er wusste aus seiner Erfahrung als Vater, dass es zur Kommunikation keiner Worte bedurfte. Während der Nachmittage, die er mit Jonah verbrachte, saß er immer neben dem Jungen, während dieser seine Hausaufgaben machte. Die physische Nähe allein war beruhigend. Nach zehn Minuten war Michael auf Stufe B3 angelangt. Calebs Vater beendete sein Abendessen und schlief auf seinem Stuhl ein. Dann hörte David draußen Stimmen, aufgeregte Stimmen. Beunruhigt eilte er zur Tür des Schuppens und öffnete sie ein paar Zentimeter. Durch den Spalt sah er Caleb mit einem anderen dicken Mann reden. Dieser trug eine ausgebeulte Jeans und ein verlottertes graues Sweatshirt. Wie Caleb hatte er einen dichten braunen Bart und trug eine Doppelflinte. Das muss Graddick sein, dachte David erleichtert. Er machte die Tür ganz auf und trat nach draußen. Caleb fuhr herum. »Holen Sie Ihre Frau und Ihren Jungen! Sie müssen sofort aufbrechen!« »Was ist los? Was stimmt nicht?« 182 Graddick machte einen Schritt nach vorn. Seine Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, waren von einem unheimlichen Blau. »Satans Armee ist auf dem Vormarsch. Ein ganzer Konvoi von Humvees kommt auf der Route 83 angefahren. Und die schwarzen Hubschrauber landen auf dem Kamm.«
»Armaggedon rückt näher, Bruder!«, rief Caleb. »Sie machen sich besser auf den Weg, bevor sie die Straßen sperren!« Professor Gupta lag auf einem Mahagonitisch in Dr. Milo Jenkins' Esszimmer. Mehrere Kissen vom Wohnzimmersofa waren unter seine Beine geschoben worden, um sie höher zu legen, und Dr. Jenkins hatte eine OP-Klemme in die Hüftwunde gesetzt, um die Blutung zu stillen. Simon hatte wirklich Glück gehabt, als er Jenkins fand, weil dieser ein Landarzt alten Stils war, der zu Hause praktizierte und einige Erfahrung damit hatte, die Schussverletzungen seiner Hillbilly-Nachbarn zu behandeln. Vom Kronleuchter hing eine Infusionsvorrichtung, aber Jenkins schüttelte den Kopf, als er sich über den vom Blut glitschigen Tisch beugte und mit den Fingern nach Guptas Halsschlagader tastete. Simon, der seine Maschinenpistole auf den Arzt gerichtet hatte, spürte, dass irgendwas schiefgegangen war. Jenkins drehte sich um und sah ihn an. Der Arzt trug ein kariertes Nachthemd, das jetzt von dunkelroten Flecken verschmiert war. »Es ist so, wie ich Ihnen gesagt habe«, führte er in schleppendem Tonfall aus. »Wenn Sie das Leben dieses Mannes retten wollen, müssen Sie ihn zu einem Krankenhaus bringen. Ich kann hier nicht mehr für ihn tun.« Simon runzelte die Stirn. »Und wie ich Ihnen gesagt habe, lege ich keinen Wert darauf, sein Leben zu retten. Er muss nur ein paar Minuten wieder das Bewusstsein erlangen. Ich muss nur ein kurzes Gespräch mit ihm führen.« »Nun ja, dazu wird es auch nicht kommen. Er befindet sich 183 im letzten Stadium eines hypovolämischen Schocks. Wenn er nicht bald in ein Krankenhaus eingeliefert wird, ist sein Schöpfer die einzige Person, mit dem er ein Gespräch führen wird.« »Was ist denn genau das Problem? Sie haben die Blutung gestillt, und Sie haben ihn an den Tropf gehängt. Er sollte sich mittlerweile ein bisschen erholt haben.« »Er hat zu viel Blut verloren. Er hat nicht genug rote Blutkörperchen, um seine Organe mit Sauerstoff zu versorgen.« »Dann machen Sie doch eine Transfusion.« »Glauben Sie vielleicht, dass ich eine Blutbank im Kühlschrank habe? Er wird mindestens anderthalb Liter brauchen!« Simon rollte den rechten Hemdsärmel hoch, während er die Waffe auf Jenkins gerichtet hielt. »Meine Blutgruppe ist Null positiv. Universalspender.« »Sind Sie verrückt? Wenn ich Ihnen so viel Blut abnehme, verfallen Sie in einen Schock!« »Das glaube ich nicht. Ich habe schon mal im Feldlazarett Blut gespendet. Holen Sie noch einen Infusionsapparat.« Aber Jenkins rührte sich nicht. Er verschränkte die Arme vor der Brust, zog verächtlich die Lippen hoch und bedachte Simon mit dem störrischen Blick des
Hinterwäldlers. »Nein, ich hab jetzt die Nase voll. Ich helfe Ihnen nicht mehr. Meinetwegen können Sie mich erschießen, wenn Sie wollen.« Simon stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Er musste an seinen Job bei der Spetsnaz in Tschetschenien denken und an all die Schwierigkeiten, die er mit widerspenstigen Soldaten unter seinem Kommando hatte. Die Drohung, hingerichtet zu werden, war eindeutig nicht so zwingend, Dr. Jenkins bei der Stange zu halten. Simon musste ihm eine stärkere Motivation geben. »Brock!«, rief er. »Bringen Sie bitte Mrs. Jenkins hier rein.« 184 Um fünf Uhr früh, als gerade die Sonne über Washington aufging, stieg der Vizepräsident aus seiner Limousine und ging auf den Seiteneingang vom Westflügel zu. Von Natur aus war er kein Frühaufsteher; wenn es nach ihm ginge, würde er lieber bis sieben Uhr schlafen und um acht im Büro sein. Aber der Präsident wollte seinen Arbeitstag unbedingt im Morgengrauen beginnen, also machte es der Vize genauso. Er musste einfach jederzeit greifbar sein, um verhindern zu können, dass der Oberbefehlshaber irgendeine Dummheit beging. Sobald er das Gebäude betrat, sah er den Verteidigungsminister in einem der Ohrensessel im Foyer sitzen. Er hatte einen Kugelschreiber in der Hand und eine Ausgabe der New York Times auf dem Schoß. Am Rand der Zeitung hatte er sich ein paar Notizen gemacht. Der Mann schläft nie, dachte der Vize. Er verbringt die ganze Nacht damit, durch die Korridore des Weißen Hauses zu streifen. Der Verteidigungsminister sprang auf, als er den Vizepräsidenten sah, hielt den politischen Teil der Zeitung hoch und schüttelte ihn wütend. »Haben Sie das gesehen?«, bellte er. »Wir haben ein Problem. Einer der New Yorker Cops hat geplaudert.« »Was meinen Sie ...« »Hier, lesen Sie selbst.« Er schob dem Vize die Zeitung in die Hände. Die Geschichte stand in der oberen linken Ecke der Titelseite.
FBI-B ESCHULDIGUNGEN
ZWEIFELHAFT von Gloria Mitchell
Ein Detective der New Yorker Polizei hat die Behauptung des Federal Bureau of Investigation angefochten, dass ein Professor der Columbia University an der brutalen Ermordung von sechs 184 FBI-Agenten am Donnerstagabend beteiligt gewesen sei. Das FBI hat im Anschluss an die Morde, zu denen es angeblich während eines verdeckten Drogeneinsatzes in West Harlem gekommen war, eine bundesweite Suchaktion nach David Swift in die Wege geleitet. Das Bureau erklärt, dass Swift, ein für seine Biografien von Isaac Newton und Albert Einstein bekannter Geschichtsprofessor, der Anführer des Kokain-Rings sei und angeordnet habe, die Undercover-Agenten umzubringen, nachdem ihre wahre Identität bekannt wurde.
Gestern behauptete allerdings ein Detective des Morddezernats Manhattan North, dass FBI-Agenten Swift am Donnerstagabend gegen zwanzig Uhr in Gewahrsam genommen hätten, drei Stunden, bevor es nach Angaben des Bureau zu den Morden gekommen war. Der Detective, der sich unter der Bedingung äußerte, dass sein Name nicht genannt wird, sagte, die Agenten hätten Swift im St. Luke's Hospital in Morningside Heights festgenommen. Zu dieser Zeit besuchte Swift den Physiknobelpreisträger Dr. Hans Kleinman, der mit Verletzungen eingeliefert worden war, die er früher am gleichen Abend bei einem Raubüberfall erlitten hatte. Kleinman erlag kurz nach Swifts Ankunft seinen Verletzungen. Der Vizepräsident war zu erbost, um weiterzulesen. Da hatte jemand ernsthaft Mist gebaut. »Wie zum Teufel ist das passiert?« Der Verteidigungsminister schüttelte seinen Quadratschädel. »Typische CopBlödheit. Der Detective war sauer auf die Feds, weil sie ihm den Fall Kleinman entzogen ha 185 ben. Also hat er sich gerächt, indem er bei der Times die Petze spielt.« »Können wir ihm das Maul stopfen?« »Oh, darum haben wir uns schon gekümmert. Wir haben rausgekriegt, wer es war - ein Bursche spanischer Abstammung namens Rodriguez -, und haben ihn zur Vernehmung einbestellt. Aber das größere Problem ist Swifts Exfrau. Sie hat die Times dazu angestachelt, die Story zu bringen.« »Na ja, können wir ihr nicht ebenfalls das Maul stopfen?« »Wir sind dabei. Ich hab gerade mit ihrem Freund telefoniert, Amory Van Cleve, der Anwalt, der zwanzig Millionen Dollar für Ihre letzte Wahlkampagne locker gemacht hat. Offenbar hat sich ihr Verhältnis in den letzten vierundzwanzig Stunden ein bisschen abgekühlt. Jetzt sagt er, er hätte nichts dagegen, wenn wir sie hopsnehmen.« »Dann tun Sie's doch einfach.« »Die Agenten, die sie beschatten, sagen, sie und ihr Sohn hätten die vergangene Nacht bei der Reporterin verbracht, die den Artikel in der Times geschrieben hat. Swifts Ex ist ein cleveres Weibsstück. Sie weiß, dass wir sie nicht verhaften können, während sie bei der Reporterin ist. Wir haben sowieso schon genug Schwierigkeiten mit der Times.« »Eine von ihren Reporterinnen gewährt ihr Unterschlupf? Und die nennen sich unparteiisch!« »Ich weiß, ich weiß. Aber wir werden sie uns bald schnappen. Wir haben ein halbes Dutzend Agenten, die das Apartment überwachen. Sobald die Reporterin zur Arbeit aufbricht, dringen wir ein.« Der Vizepräsident nickte. »Und was ist mit West Virginia? Wie sieht es an der Front aus?«
»Da gibt es keine Probleme. Eine Schwadron der Delta Force ist an Ort und Stelle, und zwei weitere sind unterwegs.« Er machte sich langsam auf den Weg zum Kontroll186 räum. »Ich setze mich jetzt gleich mit den Kommandeuren in Verbindung. Vielleicht haben sie die Flüchtigen schon gefangen genommen.« Der Vize sah ihn streng an. Der Verteidigungsminister hatte die schlechte Angewohnheit, voreilig Siegesmeldungen zu verkünden. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.« »Ja, ja, natürlich. Ich melde mich später aus Georgia bei Ihnen. Ich fahre heute Morgen nach Fort Benning, um vor den Infanteristen eine Rede zu halten.« DREIZEHN
D
avid wurde hinten in Graddicks Kombi wach und stellte fest, dass Monique
in seinen Armen schlief. Er war ein bisschen überrascht; als sie vor mehreren Stunden eingeschlafen waren, hatten sie sich sorgfältig in den entgegengesetzten Bereichen des großzügigen Laderaums hingelegt. Aber Monique hatte sich offensichtlich im Schlaf auf David zubewegt, und jetzt lag ihr Rücken an seiner Brust und ihr Kopf unter seinem Kinn. Vielleicht hatte sie sich an ihn gekuschelt, damit ihr wärmer war. Oder sie hatte sich instinktiv von den Kisten mit den Klapperschlangen entfernt, die unterhalb des Rückfensters von einer Plane verdeckt waren. Aus welchem Grund auch immer, da lag sie nun in seinen Armen, und ihr Brustkorb hob und senkte sich sanft mit jedem Atemzug; David wurde von einem fast schmerzhaften Gefühl der Zärtlichkeit für sie erfasst. Er erinnerte sich an das letzte Mal, als er sie so gehalten hatte: vor fast zwei Jahrzehnten auf der Couch in ihrer winzigen Studentenbude. David hob den Kopf und schaute aus dem Fenster, wobei er so gut wie möglich versuchte, sie nicht zu wecken. Es war früh am Morgen, und sie fahren auf einem Highway, der auf beiden Seiten von Pech-Kiefern gesäumt war. Graddick saß am Steuer und pfiff eine Gospelmelodie im Autoradio mit, und Michael lag auf der Rückbank ausgestreckt, er schlief tief und fest, umklammerte aber immer noch seinen Gameboy. Nach einer Weile erblickte David ein Schild: 1-185 S OUTH , C OLUMBUS. Sie waren in Georgia, vermutlich nicht allzu weit von ihrem Reiseziel entfernt. 186 Monique begann sich zu rühren. Sie drehte sich um und schlug die Augen auf. Überraschenderweise befreite sie sich nicht aus seiner Umarmung. Stattdessen gähnte sie nur und streckte die Arme von sich. »Wie spät ist es?« David schaute auf seine Armbanduhr. »Kurz vor sieben.« Er fand es erstaunlich, wie nonchalant sie damit umging, dass sie neben ihm lag, als wären sie tatsächlich ein Ehepaar. »Hast du gut geschlafen?«, fragte er. Er sprach mit leiser Stimme,
obwohl er bezweifelte, dass Graddick bei der Musik aus dem Autoradio irgendetwas hören konnte. »Ja, jetzt geht's mir wieder besser.« Sie rollte sich auf den Rücken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Tut mir leid wegen gestern Nacht. Ich hab mich wohl ein bisschen zickig benommen.« »Nicht der Rede wert. Wenn man von der U.S. Army gejagt wird, hat man ein Recht darauf, ein bisschen gereizt zu sein.« Sie lächelte. »Dann bist du nicht sauer wegen all der gemeinen Sachen, die ich über Einstein gesagt habe?« Er erwiderte ihr Lächeln und schüttelte den Kopf. Das ist nett, dachte er. So ein Gespräch hatte er schon lange nicht mehr mit einer Frau geführt. »Nein, überhaupt nicht. Du hattest in mancher Beziehung sogar recht.« »Meinst du, Einstein wäre tatsächlich ein kaltherziger Mistkerl gewesen?« »So weit würde ich nicht gehen. Aber manchmal konnte er ziemlich gefühllos sein.« »Tatsächlich? Was hat der Mistkerl getan?« »Nun ja, er hat zum Beispiel seine Kinder im Stich gelassen, als seine erste Ehe in die Brüche ging. Er hat Mileva und ihre zwei Söhne in der Schweiz zurückgelassen, während er nach Berlin ging, um an der Relativitätstheorie zu arbeiten. Und die Tochter, die er mit Mileva bekommen hatte, bevor sie geheiratet haben, hat er nie anerkannt.« 187 »Hey, Moment mal. Einstein hatte eine uneheliche Tochter?« »Ja, sie hieß Lieserl. Sie wurde 1902 geboren, als Einstein noch ein mittelloser Hauslehrer in Bern war. Weil es ein Skandal war, haben ihre Familien die Sache vertuscht. Mileva ist zurück zu ihren Eltern nach Serbien gegangen, um das Baby auszutragen. Und dann ist Lieserl entweder gestorben, oder sie wurde zur Adoption freigegeben. Genau weiß man das nicht.« »Was? Wieso weiß niemand davon?« »Einstein hat aufgehört, sie in seinen Briefen zu erwähnen. Dann kam Mileva zurück in die Schweiz, und sie haben geheiratet. Und keiner von beiden hat je wieder von Lieserl gesprochen.« Monique wandte sich abrupt von ihm ab. Mit gerunzelter Stirn starrte sie auf den schäbigen grauen Stoff, der den Boden des Laderaums bedeckte. David war von ihrem plötzlichen Stimmungsumschwung verwirrt. »Hey, was ist los?« Monique schüttelte den Kopf. »Nichts. Mir geht's prima.« Durch ihre Nähe ermutigt, legte er ihr die Hand unters Kinn und drehte ihren Kopf, bis er ihr in die Augen sehen konnte. »Komm schon«, sagte er. »Keine Geheimnisse zwischen Kollegen.« Sie zögerte. Einen Moment lang dachte David, sie würde wütend werden, aber stattdessen wandte sie sich wieder ab und starrte aus dem Fenster. »Als ich sieben war, wurde meine Mutter schwanger. Der Vater war wahrscheinlich einer der
Typen, von denen sie Heroin kaufte. Am Tag nach der Geburt gab sie das Baby fort. Sie hat mir nie irgendwas davon erzählt, außer dass das Baby ein Mädchen war.« David führ mit seiner Hand über die weiche Haut unter Moniques Unterkiefer, bis seine Finger ihr Ohr berühr 188 ten. »Hast du jemals herausgefunden, was mit ihr geschehen ist?« Sie nickte, ohne ihn anzusehen. »Ja. Sie ist jetzt eine Crack-Hure.« In ihrem Augenwinkel sammelte sich eine Träne und lief dann ihre Wange hinunter. Unwillkürlich beugte sich David zu ihr hinüber und küsste sie ihr weg. Er spürte die Feuchtigkeit auf den Lippen, schmeckte das Salz. Dann schloss Monique die Augen, und er küsste sie auf die Lippen. Mindestens eine Minute lang küssten sie sich schweigend auf dem Boden des Laderaums wie zwei Teenager, die sich vor den Erwachsenen auf den Vordersitzen verstecken. Monique schlang die Arme um seine Taille und zog ihn näher an sich heran. Der Kombiwagen wurde langsamer - sie näherten sich offenbar der Ausfahrt Columbus -, aber David hob nicht den Kopf, um aus dem Fenster zu schauen. Er küsste sie erneut, während der Wagen die Ausfahrt nahm und eine weit geschwungene Kurve fuhr, die ihn an Möwen denken ließ, wie sie über dem Meer ihre Kreise zogen, und brachte das irgendwie damit durcheinander, wie weich und schmiegsam sich Moniques Lippen anfühlten. Schließlich zog er sich von ihr zurück und schaute sie an. Mehrere Sekunden starrten sie sich gegenseitig an, ohne ein Wort zu sagen. Dann bog der Kombi scharf nach rechts ab und blieb stehen. Sie machten sich schnell voneinander los und schauten aus dem Fenster. Der Wagen parkte vor einer heruntergekommenen Ladenzeile an einer Allee, auf der bereits viele Fahrzeuge unterwegs waren. David erkannte, dass sie nicht weit von Fort Benning entfernt waren, weil die Namen aller Geschäfte etwas Militärisches an sich hatten. Das größte war das Ranger Rags, in dem Lagerbestände der Army und Navy billig verkauft wurden und dessen Schaufensterpuppen Tarnkleidung trugen. Daneben gab es ein Imbissrestaurant namens Combat Zone Chicken und einen Tätowie 188 rungssalon namens Ike's Inks. Ein paar Meter weiter stand ein fensterloses Gebäude aus Schlackesteinen mit einer großen Leuchtreklame auf dem Dach. Die orangefarbenen Neonröhren waren zur Form einer vollbusigen Frau verdreht, die auf den Worten T HE NIGHT MANEUVERS L OUNGE lag. Im Widerspruch zu ihrem Namen schien die Lounge vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet zu sein: Mindestens zwei Dutzend Wagen waren vor der Bar geparkt, und ein zwielichtig aussehender Rausschmeißer bewachte den Eingang. Graddick hievte sich aus dem Fahrersitz und ging schwerfällig um den Kombi herum. Er öffnete die Hecktür, aber David zögerte, aus dem Wagen
auszusteigen. Er kniete sich neben die Klapperschlangenkisten und musterte beide Straßenseiten, wobei er nach irgendwelchen Uniformierten Ausschau hielt. Angesichts der Umstände war das hier ein besonders riskanter Aufenthaltsort. »Wo sind wir?«, fragte er. Graddick starrte sie mit seinen unheimlich blauen Augen an und zeigte auf die Night Maneuvers Lounge. »Sehen Sie die Zahl über der Tür? Das ist die Adresse, die Sie mir angegeben haben - 3617 Victory Drive.« »Nein, das kann nicht stimmen.« David war verwirrt. Das sollte Elizabeth Guptas Adresse sein. »Ich kenne dieses Lokal«, sagte Graddick schleppend. »Bevor ich gerettet wurde, war ich Soldat in Satans Armee. Ich war hier in Benning stationiert, und wir sind immer zum Victory Drive gegangen, wenn wir Wochenendurlaub bekamen.« Mit finsterem Gesicht spuckte er auf den Asphalt. »Wir haben ihn den Tripper Drive genannt. Es ist ein Pfuhl der Hurerei.« David nickte. Jetzt verstand er allmählich. Er erinnerte sich daran, was Professor Gupta über seine drogensüchtige Tochter gesagt hatte. Mit ihr Verbindung aufzunehmen, würde schwieriger sein, als er erwartet hatte. »Ich glaube, die Frau, die wir besuchen müssen, arbeitet in dem Lokal.« 189 Graddicks Augen wurden schmal. »Haben Sie nicht gesagt, diese Frau ist mit Ihnen verwandt?« David nickte wieder und zeigte auf Monique. »Das stimmt, sie ist eine Cousine meiner Frau.« »Hurerei und Unzucht«, murmelte Graddick und schaute das Gebäude stirnrunzelnd an. »Du hast das Land durch deine Hurerei entweiht.« Er spuckte abermals aus, während er auf die laszive Leuchtreklame starrte. Es sah ganz so aus, als wolle er das Ding mit bloßen Händen herunterreißen. David hatte den Eindruck, als könne sich dieser kräftige Mann aus den Bergen West Virginias als nützlich erweisen. »Ja, wir sind todunglücklich darüber, was mit Elizabeth passiert ist«, sagte David. »Wir müssen ihr irgendwie zu helfen versuchen.« Wie David gehofft hatte, schien Graddick die Idee zu gefallen. Er legte den Kopf schief. »Meinen Sie, Sie wollen sie retten?« »Auf jeden Fall. Wir müssen sie davon überzeugen, dass sie Jesus Christus als ihren persönlichen Erlöser akzeptiert. Andernfalls wird sie direkt in der Hölle landen.« Graddick dachte darüber nach, strich sich über den Bart und warf einen Blick auf die von der Plane bedeckten Klapperschlangenkisten. »Na ja, ich muss nicht vor fünf Uhr in Tallahassee sein. Da habe ich noch ein bisschen Zeit totzuschlagen.« Nach ein paar Sekunden lächelte er und legte den Arm um Davids Schultern. »In Ordnung, Bruder, tun wir das Werk des Herrn! Gehn wir in diese Höhle der Missetaten und singen sein Lob! Hallelujah!«
»Nein, nein, ich werde allein in die Bar gehen, okay? Sie fahren mit dem Wagen hintenrum und warten dort, bis wir zur Hintertür rauskommen. Falls sie anfängt, Theater zu machen, können Sie mir helfen, sie zum Wagen zu tragen.« »Gute Idee, Bruder!« Graddick knallte ihm fröhlich die Hand zwischen die Schulterblätter. 190 Bevor er sich hinten aus dem Kombiwagen schob, drückte David Moniques Arm. »Behalt Michael im Auge, okay?«, sagte er. Dann machte er sich auf den Weg zur Night Maneuvers Lounge. Der Geruch von verschüttetem Bier drang ihm in die Nase, noch bevor er die Tür erreichte. Das vertraute Ekelgefühl verschloss ihm genauso die Kehle wie in der Nacht, als er die Bar in der Penn Station betreten hatte. Aber er holte tief Luft und zauberte ein Lächeln auf seine Lippen, als er dem Türsteher die zehn Dollar für Eintritt und ein Getränk gab. Drinnen war der Raum blau vor lauter Zigarettenqualm. Der alte Song »She's Got Legs« von ZZ Top dröhnte aus den Lautsprechern. Auf einer halbkreisförmigen Bühne standen zwei Oben-ohne-Tänzerinnen vor einem Publikum von hoffnungslos betrunkenen Gis. Eine der Frauen wand sich langsam um eine silberne Stange herum. Die andere drehte dem Publikum den Rücken zu und bückte sich vornüber, bis ihr Kopf umgekehrt von ihren Knien eingerahmt wurde. Ein Soldat wankte nach vorn und ließ einen Fünf-DollarSchein vor ihrem Mund baumeln. Sie leckte sich die Lippen und packte dann den Geldschein mit den Zähnen. Zunächst machte der Anblick all der Uniformen David nervös, aber er begriff rasch, dass diese besonderen Soldaten keine Gefahr darstellten. Die meisten von ihnen tranken vermutlich in dem Bemühen, jede Minute ihres achtundvierzigstündigen Wochenendurlaubs zu genießen, seit zwölf Stunden ununterbrochen. Er schob sich näher an die Bühne heran und fasste die beiden Tänzerinnen genauer ins Auge. Leider sah keine von beiden so aus, als könne sie mit Professor Gupta verwandt sein. Die Tänzerin an der Stange war ein sommersprossiger Rotschopf und die Frau mit dem Kopf zwischen den Beinen eine Blondine mit schneeweißer Haut. David ging zur Theke und bestellte ein Bier. Während er 190 die Flasche auf Armeslänge von sich weghielt, musterte er die drei Frauen, die für die Soldaten auf den Barhockern strippten. Zwei weitere Blondinen und noch ein Rotschopf. Sie waren alle ziemlich attraktiv, hatten feste, runde Brüste und straffe Hintern, die sie zur Unterhaltung der Soldaten langsam im Kreis bewegten, aber David hielt nach jemand anderem Ausschau. Er fing an, sich Sorgen zu machen, Elizabeth könnte schon nach Hause gegangen sein; schließlich war es sieben Uhr morgens, und die Stripperinnen arbeiteten höchstwahrscheinlich schichtweise.
Vielleicht hatte sie auch in einem anderen Club zu tanzen angefangen. Oder war ganz aus Columbus weggezogen. Er wollte gerade die Hoffnung aufgeben, als er jemanden in einer olivgrünen Armyjacke bemerkte, der auf einem Tisch in der gegenüberliegenden Ecke des Raums zusammengesackt war. Zunächst dachte David, es wäre ein Gl, der auf seinem Stuhl das Bewusstsein verloren hatte, aber als er näher kam, erblickte er einen schimmernden Fächer aus schwarzen Haaren, die strahlenförmig von dem Kopf der Gestalt abgingen. Es war eine Frau, die mit dem Gesicht auf der Tischplatte und den gespreizten Beinen darunter eingeschlafen war. Sie trug weder ein Hemd unter der Armyjacke, noch irgendeine Art von Hose, nur ein knallrotes Bikini-Unterteil und kniehohe weiße Stiefel. David näherte sich dem Tisch und versuchte, einen besseren Blick auf sie zu erhaschen, aber die Ecke war schummrig beleuchtet, und die Haare der Frau verdeckten ihr Gesicht. Es führte kein Weg daran vorbei: Er musste sie wecken. Er setzte sich in den Stuhl ihr gegenüber und klopfte leise mit den Knöcheln auf den Tisch. »Ah, entschuldigen Sie?« Keine Reaktion. David klopfte ein bisschen lauter. »Entschuldigen Sie? Kann ich einen Moment mit Ihnen reden?« Die Frau hob langsam den Kopf und tastete mit einer 191 Hand an dem Vorhang aus Haaren vor ihren Augen herum. Sie zog ein paar schwarze Strähnen aus dem Mund und schielte David an. »Was zum Teufel wollen Sie von mir?«, krächzte sie. Ihr Gesicht war in einem fürchterlichen Zustand. Ein verschmierter Fleck blutroter Lippenstift verlief von ihrem linken Mundwinkel bis zur Mitte ihrer Wange. Ihre Tränensäcke waren geschwollen und grau, und eine ihrer falschen Wimpern hatte sich teilweise von dem Lid gelöst, sodass sie bei jedem Blinzeln schlug wie der Flügel einer Fledermaus. Aber ihre Haut war karamellbraun, genau der gleiche Farbton wie der von Michael, und ihre winzige, puppenähnliche Nase sah genauso aus wie die von Professor Gupta. Sie schien auch im richtigen Alter zu sein: Mitte bis Ende dreißig, deutlich älter als die anderen Tänzerinnen in dem Club. Davids Atem ging schneller; er beugte sich über den Tisch und sagte: »Elizabeth?« Sie verzog das Gesicht. »Wer hat Ihnen diesen Namen genannt?« »Nun ja, das ist eine lange ...« »Nennen Sie mich nie wieder so! Ich heiße Beth, hören Sie? Nur Beth.« Sie verzog ihre Oberlippe, und David konnte einen Blick auf ihre Zähne werfen. Jeder hatte eine braune Stelle in der Nähe des Zahnfleischs. »Meth mouth« Meth-Mund -nannten es die Süchtigen. Wenn man die Droge rauchte, zerstörten die Dämpfe den Zahnschmelz. Jetzt war David überzeugt, dass es sich bei dieser Frau um Elizabeth Gupta handelte. »Okay, Beth, hören Sie zu. Ich habe mich gefragt ...«
»Wollen Sie ficken oder einen geblasen bekommen?« Die linke Hälfte ihres Gesichts zuckte. »Ich hatte gehofft, wir könnten uns einen Moment nur unterhalten.« 192 »Für diesen Scheiß habe ich keine Zeit!« Plötzlich stand sie auf, und ihre Armyjacke klappte zur Seite und erlaubte David den Blick auf ein goldenes Medaillon, das an einer Kette zwischen ihren Brüsten schwang. »Auf dem Parkplatz einen geblasen bekommen kostet zwanzig, ein Fick im Motel fünfzig.« Ihr Gesicht zuckte wieder, und sie fing an, mit scharlachroten Fingernägeln an ihrem Kinn herumzukratzen. Sie muss an Entzugssymptomen leiden, dachte David. Ihr ganzer Körper sehnte sich nach einem neuen Metamphetaminstoß. Er stand auf. »Okay, gehen wir auf den Parkplatz.« Er versuchte, sie zur Hintertür zu steuern, aber sie schlug seine Hand beiseite. »Du musst zuerst bezahlen, du Blödmann!« David nahm einen Zwanzig-Dollar-Schein aus seiner Brieftasche und reichte ihn ihr. Sie ließ den Geldschein in der Innentasche ihrer Jacke verschwinden und ging auf den Notausgang zu. Als er hinter ihr herging, bemerkte David, dass sie hinkte, und das war die endgültige Bestätigung ihrer Identität. Elizabeth Gupta war als junges Mädchen von einem Auto angefahren worden und hatte dabei einen dreifachen Beinbruch erlitten. Sobald sie draußen war, ging sie mit großen Schritten auf eine schmierige Nische zwischen dem Club und zwei Müllcontainern zu. »Ziehen Sie die Hose runter«, befahl sie. »Wir werden das hier schnell hinter uns bringen.« Er warf einen Blick über die Schulter und erblickte den Kombi. Graddick war schon ausgestiegen. Jetzt hatte David Verstärkung, für den Fall, dass die Dinge eine unangenehme Wendung nahmen. »Ich will eigentlich gar keinen geblasen kriegen. Ich bin ein Freund Ihres Vaters, Beth. Ich möchte Ihnen helfen.« Sie sperrte den Mund auf und starrte ihn einen Augenblick verständnislos an. Dann biss sie die faulen Zähne zu 192 sammen. »Meines Vaters? Wovon reden Sie da, verdammte Scheiße?« »Ich heiße David Swift, okay? Professor Gupta hat mir gesagt, wo ich Sie finden kann. Wir versuchen die ...« »Der Arsch!« Sie schrie die Wörter über den ganzen Parkplatz. »Wo ist er?« David streckte beide Hände aus wie ein Verkehrspolizist. »Hey, hey, immer mit der Ruhe! Ihr Vater ist nicht hier. Nur ich und ...« »Du A RSCHLOCH !« Sie eilte auf ihn zu und zielte mit ihren langen Fingernägeln auf seine Augen. »Du SCHWANZLUTSCHENDER W ICHSER !« Er machte sich innerlich bereit und hoffte, sie an den Handgelenken erwischen zu können, aber bevor sie nahe genug an ihm dran war, packte Graddick sie von hinten. Der Mann aus den Bergen bewegte sich viel schneller, als David für möglich gehalten hätte, und er setzte Elizabeth außer Gefecht, indem er ihr die
Arme auf den Rücken drehte. »Mutter der Abscheulichkeiten!«, rief Graddick. »Erhebe die Augen zu deinem Herrn Jesus Christus! Bereue, bevor dich die Strafe Gottes ereilt!« Nach einer kurzen Überraschung hob Elizabeth das rechte Knie und trat Graddick so fest sie konnte mit ihrem Stiefelabsatz auf die Zehen. Als er sie vor Schmerzen aufheulend losließ, ging sie auf David los. Er schaffte es, ihre rechte Hand abzulenken, aber mit den Fingernägeln der linken kratzte sie ihm seitlich den Hals auf. Herrgott noch mal, dachte er, diese Frau ist vielleicht schnell! Er schob sie zurück, aber sie ging wieder auf ihn los und trat nach ihm, wobei sie knapp seinen Schritt verfehlte. Es war, als lieferte er sich mit einem wilden Tier einen Kampf auf Leben und Tod, und David machte sich langsam mit dem Gedanken vertraut, sie bewusstlos schlagen zu müssen, um sie in den Kombi schaffen zu können. Aber dann sah Elizabeth 193 etwas aus dem Augenwinkel, bevor sie ihn wieder anspringen konnte. Sie hielt abrupt inne und wirbelte nach rechts herum. Dann rannte sie quer über den Parkplatz auf Monique und Michael zu, die vor Graddicks Wagen standen. »Michael!«, schrie sie und schlang ihrem Sohn die Arme um den Hals. Die Delta Force hatte ihr Hauptquartier in einer Kirche der Pfingstbewegung in Jolo aufgeschlagen. Lucille starrte auf das einfache Holzgebäude - die Kirche des Lebendigen Herrn Jesus - und schüttelte den Kopf. Das war ein spektakuläres Exempel militärischer Dummheit. Falls man auf die Mitarbeit der Einheimischen angewiesen ist, besetzt man nicht einfach ihre Andachtsstätten. Aber die Kommandotruppe war direkt aus dem Irak eingeflogen, wo die Soldaten offensichtlich etwas von ihrer Geduld für lokale Empfindlichkeiten verloren hatten. Lucille und Agent Crawford betraten die Kirche und begannen sich nach Colonel Tarkington umzusehen, dem Schwadronskommandeur. Seine Männer hatten einen Kommandoposten neben der Kanzel eingerichtet. Zwei Soldaten kümmerten sich um das Funkgerät, ein weiteres Paar beugte sich über eine Landkarte von West Virginia, und zwei andere Soldaten richteten ihre M-16 auf eine Gruppe von Häftlingen mit verbundenen Augen, die in den Kirchenbänken saßen. Lucille schüttelte erneut den Kopf. Die Gefangenen waren missmutige, störrische Hillbillys, die Gott fürchteten, aber sonst nicht viel. Selbst wenn sie etwas über den Verbleib der Flüchtigen wussten, würden sie den Soldaten bestimmt keine Auskunft geben. Endlich entdeckte sie Colonel Tarkington im hinteren Bereich der Kirche. Er kaute auf dem feuchten Stummel einer Zigarre herum und rief Befehle in ein Funkgerät. Lucille wartete, bis er die Verbindung unterbrach, bevor sie sich ihm 193
näherte. »Colonel, ich bin Special Agent Lucille Parker, ihre Verbindungsfrau zum FBI. Ich möchte mit Ihnen über das Beweismaterial reden, das Ihre Männer letzte Nacht in Carnegie's Retreat sichergestellt haben.« Der Colonel starrte sie und Agent Crawford mehrere Sekunden lang an, während er Lippen und Zähne dazu benutzte, die Zigarre in den Mundwinkel zu bugsieren. »Was ist damit?« »Sie sollten den zerstörten Computer in das Labor des Bureaus in Quantico schicken. Wir sind vielleicht in der Lage, einige der Daten von der beschädigten Festplatte runterzuholen.« Tarkington brachte es fertig, um seine Zigarre herum zu grinsen. »Machen Sie sich keine unnötigen Sorgen, Darling. Wir haben das ganze Zeug schon zur DIA geschickt.« Lucille sträubten sich bei dem »Darling« die Nackenhaare, aber ihrer Stimme war nichts anzumerken. »Bei allem nötigen Respekt, Sir, unsere Ausrüstung in Quantico ist allem, was die Defense Intelligence Agency hat, weit überlegen.« »Ich bin sicher, unsere Jungs werden damit klarkommen. Abgesehen davon werden wir diese Informationen sowieso nicht brauchen. Wir haben in diesem Teil des Staats alle Straßen gesperrt. Wir werden diese Flüchtigen vor der Mittagspause finden.« Das bezweifelte sie sehr. Im Lauf der vergangenen sechsunddreißig Stunden hatte sie gelernt, David Swifts Einfallsreichtum in Sachen Ausweichmanöver nicht zu unterschätzen. »Trotzdem, Sir, das Bureau möchte diese Festplatte haben.« Der Colonel hörte auf zu grinsen. »Ich habe Ihnen schon gesagt, die DIA hat sie. Reden Sie doch mit denen. Ich habe hier einen Einsatz zu leiten.« Dann marschierte er hinüber zur Kanzel, um sich mit seinen Männern zu beraten. Lucille blieb noch einen Moment wütend stehen. Zum 194 Teufel mit ihm, dachte sie. Was hat es für einen Sinn, ihm meine Hilfe anzubieten, wenn er sie nicht will? Sie war ohnehin zu alt für diesen Blödsinn. Sie sollte einfach zurück zu ihrem Büro in Washington fahren und sich auf ihren Hintern setzen wie alle anderen gottverdammten Bürokraten auch. Sie stürmte aus der Kirche und zurück zu ihrem Geländewagen. Agent Crawford musste sich sputen, um nicht den Anschluss zu verlieren. »Wohin gehen wir jetzt?«, fragte er. Sie war kurz davor zu sagen: »D. C«, aber dann kam ihr eine Idee. Es war eine derart einfache und auf der Hand liegende Sache, dass sie sich nicht erklären konnte, warum sie nicht früher daran gedacht hatte. »Dieser Computer in Carnegie's Retreat hatte doch eine Verbindung zum Internet, stimmt's?« Crawford nickte. »Ja, eine Kabelverbindung, glaube ich.« »Rufen Sie deren Internet-Provider an. Finden Sie raus, ob es gestern Abend irgendwelche Aktivitäten gegeben hat.«
Elizabeth Gupta lag auf einem Bett in Zimmer 201 des Army Mule Motels gegenüber der Night Maneuvers Lounge. Das war das Zimmer, in dem Elizabeth normalerweise die Freier bediente, die sie in dem Stripteaselokal aufgabelte, aber jetzt war sie allein in dem Doppelbett und hatte unter der Bettdecke noch einen Bademantel aus Frotteestoff an. Monique saß auf der Bettkante, führ Elizabeth sanft übers Haar und murmelte beruhigend, kümmerte sich um die nicht viel jüngere Frau, als wäre sie ein fünfjähriges grippekrankes Mädchen. Michael saß in einem der Sessel und spielte wieder mit seinem Gameboy, während David durch die Vorhänge am Fenster spähte, um zu überprüfen, ob es auf dem Victory Drive zu einer ungewöhnlichen Betriebsamkeit kam. Sie hatten Graddick nach draußen geschickt, damit er Kaffee holte; seine Ermahnungen zur Erlösung und göttlichen Vergebung hatten sich als kontraproduktiv erwiesen. 195 Monique wickelte einen Müsliriegel aus der Verpackung, den sie aus dem Automaten des Motels gezogen hatte, und hielt ihn Elizabeth hin. »Hier, beißen Sie ein Stück davon ab.« »Nee, bin nicht hungrig«, krächzte sie. Seit ihrem Schreikrampf auf dem Parkplatz hatte sie nicht mehr als ein Dutzend Wörter gesprochen. Monique hielt ihr den Müsliriegel direkt unter die Nase. »Kommen Sie schon, einen Bissen. Sie müssen etwas zu sich nehmen.« Ihre Stimme war sanft, aber bestimmt. Elizabeth kapitulierte und knabberte an einer Ecke des Riegels. David war beeindruckt, wie geschickt Monique mit der Situation fertig wurde. Es war klar, dass sie einige Erfahrung im Umgang mit Drogensüchtigen hatte. Elizabeth nahm noch einen Bissen von dem Müsliriegel, dann setzte sie sich im Bett auf, damit sie ein wenig Wasser aus einem Styroporbecher trinken konnte, den Monique ihr an die Lippen hielt. Innerhalb von Sekunden aß sie heißhungrig, schob sich den Riegel in den Mund und klaubte die Krümel auf, die auf die Bettlaken fielen. Und sie hielt die ganze Zeit den Blick auf Michael gerichtet, starrte wie gebannt auf den Teenager, während ihr Unterkiefer sich auf und ab bewegte. Als sie den Riegel vertilgt hatte, wischte sie sich den Mund mit dem Handrücken ab und zeigte auf ihren Sohn. »Ich kann es nicht glauben. Er ist so groß geworden.« Monique nickte. »Er ist ein gut aussehender junger Mann.« »Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, war er erst dreizehn. Er ging mir kaum bis zu den Schultern.« »Dann hat Ihr Vater ihn nie zu einem Besuch hierhergebracht? « Der wilde, finstere Ausdruck trat wieder auf Elizabeths 195 Gesicht. »Der Schwanzlutscher hat mir nicht mal Bilder geschickt. Ich hab ihn einmal im Jahr, an Michaels Geburtstag, per R-Gespräch angerufen, aber das blöde Arschloch wollte meine Anrufe nicht annehmen.«
»Das tut mir so leid.« Monique biss sich auf die Unterlippe. Sie machte einen echt traurigen Eindruck. »Ich wusste nicht ...« »Also ist der Scheißkerl tot? Er hat zu mir gesagt, ich würde Michael niemals wiedersehen, solange er noch am Leben ist.« Monique warf einen Blick auf David, als wüsste sie nicht genau, was sie antworten sollte. Er trat weg vom Fenster und näherte sich dem Bett. »Ihr Vater ist nicht tot, aber er liegt im Krankenhaus. Er hat uns gesagt, wir sollten Michael hierherbringen, weil er nicht wollte, dass er in eine Anstalt kommt.« Elizabeth sah ihn misstrauisch an. »Das klingt gar nicht nach meinem Vater. Und warum liegt er im Krankenhaus?« »Am besten beginnen wir am Anfang, okay? Ich war mal ein Student bei einem Freund Ihres Vaters, Hans Kleinman. Sie erinnern sich an ihn, nicht wahr?« Sie nickte, und ihre Miene entspannte sich ein bisschen. »Klar kenne ich Hans. Er ist mein Patenonkel. Außerdem ist er der einzige Mensch auf der Welt, den mein Vater mehr hasst als mich.« »Wie bitte?«, fragte David irritiert. »Ihr Vater hat Dr. Kleinman nicht gehasst. Sie waren enge Kollegen. Sie haben viele Jahre lang zusammengearbeitet.« Elizabeth schüttelte den Kopf. »Mein Vater hasst ihn, weil Hans klüger ist als er. Und weil Hans in meine Mutter verliebt war.« David musterte ihr Gesicht, weil er festzustellen versuchte, ob sie ihn auf den Arm nehmen wollte. »Ich kannte Dr. Kleinman sehr gut, und ich kann kaum glauben, dass ...« 196 »Ob Sie mir glauben oder nicht, ist mir scheißegal. Ich weiß nur, dass ich Hans auf dem Begräbnis meiner Mutter gesehen habe, und er hat geheult wie ein Baby. Auf der Vorderseite seines Hemds waren lauter kleine feuchte Flecken.« Er versuchte sich das vorzustellen, wie sein alter Lehrer an Hannah Guptas Grab weinte. Es kam ihm so unwahrscheinlich vor. Dann verbannte David das Bild aus seinem Kopf. Dafür war jetzt keine Zeit. Komm schon zur Sache. »Ihr Vater hat uns erzählt, dass Dr. Kleinman vor ein paar Jahren nach Columbus gekommen ist. Er hat versucht, Ihnen dabei zu helfen, clean zu werden, stimmt's?« Ein verlegener Ausdruck trat auf ihr Gesicht. Sie schaute nach unten auf die Bettdecke. »Ja, er hat mir einen Job in Benning besorgt, bei dem ich für einen General das Telefon bedient habe. Und er hat auch ein Apartment für mich gefunden. Aber ich habe Mist gebaut.« »Nun ja, deshalb sind wir hier, Beth. Sehen Sie, Dr. Kleinman ist vor ein paar Tagen gestorben, aber er hat eine ...« »Hans ist tot?« Sie setzte sich kerzengerade im Bett auf. »Was ist passiert?« »Ich kann jetzt nicht ins Detail gehen, aber er hat eine Nachricht hinterlassen, mit der er zum Ausdruck brachte, dass er ...«
»Herr im Himmel«, murmelte sie und hob die Hand zur Stirn. »Verdammt noch mal!« Sie packte mit der Hand ein Haarbüschel und riss daran. Monique beugte sich näher zu ihr und klopfte ihr beruhigend auf den Rücken. David war von Elizabeths Reaktion ein bisschen überrascht; er hatte angenommen, dass eine speedsüchtige Nutte für Trauergefühle zu abgebrüht wäre. Aber Dr. Kleinman war der einzige Mensch in ihrem Leben gewesen, der versucht hatte, ihr zu helfen. Zwischen dem alten Physiker und seiner Patentochter hatte es offensichtlich ein starkes 197 Band gegeben. Vielleicht war das der Grund dafür, warum er die Theorie von Allem in Columbus versteckt hatte. David setzte sich neben Elizabeth und Monique auf das Bett. Die drei hatten jetzt die Köpfe so eng zusammengesteckt, dass sie sich fast berührten. »Hören Sie, Beth, ich will ganz offen zu Ihnen sein. Wir stecken in großen Schwierigkeiten. Dr. Kleinman hatte ein Geheimnis, ein wissenschaftliches Geheimnis, das viele Leute liebend gern in die Finger bekämen. Hat Hans irgendwelche Papiere bei Ihnen gelassen, als er hierhergekommen ist?« Elizabeth verzog verständnislos das Gesicht. »Nein, er hat nichts bei mir gelassen. Abgesehen von etwas Geld. So viel, dass ich ein paar Monatsmieten für mein Apartment bezahlen konnte.« »Was ist mit einem Computer? Hat er Ihnen einen gekauft?« »Nee, aber er hat mir einen Fernseher besorgt. Und auch ein schönes Radio.« Bei der Erinnerung trat ein Lächeln auf ihr Gesicht, das aber einen Moment später wieder verblasste. »Ich musste die Geräte ins Pfandhaus bringen, als ich meinen Job in der Kaserne verloren habe. Alles, was ich jetzt noch habe, ist ein Karton mit Klamotten.« Sie zeigte auf einen Pappkarton neben dem Fenster, aus dem Slips, BHs und Nylonstrümpfe quollen. David bezweifelte sehr, dass die Einheitliche Feldtheorie dort drin war. »Also wohnen Sie inzwischen hier? In diesem Zimmer?« »Manchmal in diesem Zimmer, manchmal in dem nebenan. Harlan kümmert sich um alle Motelrechnungen.« »Harlan?« »Ja, er ist der Geschäftsführer im Night Maneuvers.« Mit anderen Worten, ihr Zuhälter, dachte David. »Die Nachricht von Dr. Kleinman gab als Adresse die der Kneipe an. Dann muss er gewusst haben, was mit Ihnen passiert ist.« 197 Elizabeth zuckte zusammen. Sie kauerte auf dem Bett und verschränkte die Arme vor dem Bauch. »Hans rief mich an, nachdem man mich gefeuert hatte. Er sagte, er würde wieder hier runterkommen und mir einen Platz in einem Therapieprogramm besorgen.«
Jetzt stellte David sich Dr. Kleinman in der Night Maneuvers Lounge vor, ein weiteres unwahrscheinliches Bild. Er begann sich zu fragen, ob das Striplokal einen Computer im Büro hatte. »Hat Dr. Kleinman Sie dann in dem Lokal besucht? Und ist er möglicherweise dort ins Büro gegangen?« Sie kniff die Augen fest zusammen und schüttelte den Kopf. »Nein, Hans ist gar nicht gekommen. Ich war high, als er anrief, deshalb habe ich zu ihm gesagt, er soll sich verpissen. Und das war das letzte Mal, dass wir miteinander gesprochen haben.« Sie beugte sich nach vorn, bis ihre Stirn nur noch ein paar Zentimeter von der Bettdecke entfernt war. Sie gab keinen Laut von sich, aber sie schluchzte so, dass sie am ganzen Körper zu zittern begann und sich auch die Matratze im gleichen Rhythmus bewegte. Monique tätschelte ihr wieder den Rücken, aber diesmal ohne Wirkung. Deshalb ging sie hinüber zu Michael, packte ihn sanft am Ellbogen und führte den Teenager zu seiner Mutter ans Bett. Elizabeth umarmte ihn automatisch. Michael hätte wie am Spieß geschrien, wenn irgendjemand anderes das versucht hätte. Allerdings erwiderte er ihre Zuneigung nicht, ja er schaute sie nicht mal an. Während sie die Arme um seine Taille schlang, wandte er sich ein bisschen zur Seite, um weiter Warfighter spielen zu können. Nach einer Weile löste Elizabeth die Umarmung und hielt ihren Sohn mit gestreckten Armen von sich weg. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, während sie ihn prüfend ansah. »Dass du immer noch das verdammte Kriegsspiel 198 spielst«, seufzte sie mit Blick auf das Display des Gameboys. »Ich hätte gedacht, dass du es inzwischen leid bist.« Da Michael natürlich nicht reagierte, wandte Elizabeth sich an David und Monique. »Michael hat mit diesem Spiel angefangen, als ich in Benning arbeitete. Hans hat einen der Computer in meinem Büro so eingerichtet, dass Michael das Spiel dort spielen konnte.« Sie fuhr dem Jungen mit der Hand durch die Haare und zog ihm einen Scheitel auf der linken Seite. »An den Tagen, wenn die Schule für autistische Kinder geschlossen war, hab ich ihn mit zur Arbeit genommen, und dann hat er stundenlang vor diesem Computer gesessen.« Elizabeth senkte ihre Hand ein bisschen und streichelte Michaels Wange. Es war ein rührender Anblick, und normalerweise wäre David nicht dazwischengefahren, aber sein Verstand lief auf Hochtouren. »Einen Augenblick mal. Dr. Kleinman ist in Ihr Büro in Fort Benning gekommen?« Sie nickte. »Ja, an meinem ersten Arbeitstag. Er wollte mich General Garner vorstellen, meinem neuen Boss. Hans kannte den Kerl schon ganz lange. Sie hatten vor hundert Jahren zusammen an irgendeinem Armyprojekt gearbeitet.« »Und während Hans in Ihrem Büro war, hat er sich dort an einem Computer zu schaffen gemacht?«
»Ja, der Laden war voll von Computern. Es wurde das VKS-Büro genannt, Abteilung für Virtuelle Kampf-Simulation. Sie hatten alle möglichen Arten von verrücktem Scheiß da - Tretwerke, Infrarotbrillen, Plastikgewehre. Da die Army für den größten Teil von diesem Mist gar keine Verwendung hatte, haben sie Michael damit spielen lassen.« »Wie lange hat Hans an dem Computer gearbeitet?« »Zum Teufel, ich weiß es nicht. Mindestens ein paar Stunden. Er und der General waren alte Freunde. Hans konnte dort machen, was er wollte.« Davids Herz schlug jetzt ganz schnell. Er wechselte ei 199 nen Blick mit Monique und konzentrierte sich dann auf den Gameboy in Michaels Händen. Zufällig zeigte das Display den gleichen dunklen Korridor, den David in der Nacht zuvor auf dem Gameboy gesehen hatte, als er Michael über die Schulter schaute. Wieder einmal platzte ein Zeichentrick-Soldat in ein kleines Zimmer und schoss mit seiner M-16 auf ein halbes Dutzend Feinde. Wieder einmal fielen die gegnerischen Soldaten auf den Boden und verströmten simuliertes Blut. Und wieder einmal erschien eine blinkende Botschaft: »H ERZLICHEN G LÜCKWUNSCH ! S IE HABEN DIE S TUFE SviA /4 ERREICHT !«
»Was zum Teufel ist das?«, fragte Monique und zeigte auf das Display. »SviA /4?« David hatte keine Ahnung, aber er wusste, wen man fragen musste. Er beugte sich nach vorn, bis sein Gesicht unmittelbar vor dem von Michael war. Der Teenager hatte in der vergangenen Nacht mit ihm geredet. Vielleicht würde er es wieder tun. »Hör mir zu, Michael. Was ist auf Stufe SviA /4?« Der Junge ließ das Kinn auf die Brust sinken, um Davids Blick auszuweichen. »Ich komme nicht auf diese Stufe«, sagte er mit seiner tonlosen Stimme. »Es geht zurück auf Stufe Al.« »Ich weiß, das hast du mir schon erzählt.« David neigte den Kopf, sodass sein Gesicht weiterhin vor dem des Jungen blieb. »Aber warum kannst du nicht auf Stufe SviA /4 gehen?« »Der Gameboy hat diese Stufe nicht. Die ist nur auf dem Programm, das auf dem Server läuft. So hat Hans es eingerichtet.« »Und warum hat er es so eingerichtet?« Michael machte den Mund weit auf, als wollte er gleich zu schreien anfangen. Aber stattdessen schaute er David zum ersten Mal in die Augen. »Er hat zu mir gesagt, es wäre dort sicher! Es wäre ein sicherer Ort!« 199 David nickte. Dr. Kleinman hatte offenbar die Warfighter-Software geändert. Weil der Gameboy allen möglichen Leuten in die Hände fallen konnte, enthielt er eine verkürzte Version des Programms. Die vollständige Version, die alle Informationen enthielt, die Kleinman hinzugefügt hatte, war an einem sicheren Ort. »Wo ist der Server?«
Bevor Michael antworten konnte, ließ der Gameboy ein Ving hören, um bekannt zu geben, dass er zur Stufe Al zurückgesprungen war. Der Teenager wandte sich schnell von David ab und verließ das Bett seiner Mutter. Er zog sich auf die andere Seite des Zimmers zurück, drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und machte weiter mit dem Spiel. Elizabeth funkelte David wütend an. »Hey, hören Sie auf, ihm Fragen zu stellen! Sie bringen ihn ganz durcheinander!« »Okay, okay.« Er zog sich von ihrem Bett zurück. In Wahrheit musste er Michael gar keine Fragen mehr stellen. Er wusste, wo der Server war. Dr. Kleinman hatte sich den unverfrorensten Platz ausgesucht, der überhaupt vorstellbar war. Er hatte Einsteins Einheitliche Feldtheorie in einem Computer in Fort Benning untergebracht. Dr. Milo Jenkins und seine Frau lagen bäuchlings auf ihrem Wohnzimmerteppich. Ohne die Schusswunden in ihren Köpfen hätte man annehmen können, sie machten ein Nickerchen. Simon hatte sie um neun Uhr abgeknallt, kurz nachdem der Hillbilly-Doktor verkündet hatte, dass Professor Gupta außer Gefahr sei und friedlich auf dem Esszimmertisch schlafe. Die Schüsse weckten Agent Brock, der auf dem Wohnzimmersofa des Landarztes ausgestreckt lag, aber nach ein paar Sekunden drehte er sich auf die andere Seite und schlief weiter. Simon hätte liebend gern auch ein bisschen geschlafen. In den letzten sechsunddreißig Stunden war er herzlich we 200 nig zur Ruhe gekommen, und die Bluttransfusion hatte ihn mehr geschwächt, als er erwartet hatte. Aber sein Klient, der mysteriöse Henry Cobb, war mit seinem täglichen Anruf um neun Uhr dreißig fällig, um sich über die Fortschritte seines Auftrags unterrichten zu lassen, und Simon fühlte sich verpflichtet, ihm einige günstige Neuigkeiten mitzuteilen. Daher trat er mit einem lustlosen Grunzen ins Esszimmer und näherte sich dem blutverkrusteten Tisch, auf dem Professor Gupta lag. Die vom Kronleuchter hängende Infusion steckte noch in Guptas Arm, aber der Infusionsbeutel war leer. Der kleine Professor schlief unruhig auf dem Rücken, das verwundete Bein auf einem Sofakissen hochgelegt. Die Wirkung der Schmerzmittel, die Dr. Jenkins ihm gegeben hatte, war inzwischen mit Sicherheit weitgehend verflogen, sodass Gupta Qualen leiden würde, sobald er das Bewusstsein wiedererlangte. Und das war genau das, was Simon wollte. Er leitete diesen Vorgang ein, indem er auf das genähte Loch in Guptas Oberschenkel schlug. Der Körper des Professors verfiel in konvulsivische Zuckungen: Mit seinem Hinterkopf knallte er gegen die Tischplatte aus Mahagoni, und mit seinem nicht verletzten Bein stieß er das Sofakissen auf den Boden. Er gab ein langes, abgehacktes Stöhnen von sich, und seine Augenlider flatterten.
Simon beugte sich über den Tisch. »Aufwachen, Professor. Gleich fängt das Seminar an.« Dann schlug er noch einmal auf die Oberschenkelwunde Guptas, und zwar so fest, dass die Wunde, die Dr. Jenkins so sorgfältig genäht hatte, wieder zu nässen begann. Diesmal öffnete Gupta die Augen und stieß einen hohen Schrei aus. Er versuchte sich aufzurichten, aber Simon drückte seine Schultern auf den Tisch zurück. »Sie haben Glück gehabt, wissen Sie das? Fast hätten Sie es nicht geschafft.« Gupta schaute zu ihm hoch und blinzelte. Der alte Mann 201 war offensichtlich ein bisschen verwirrt. Simon kniff ihn aufmunternd in die Schultern. »Es ist alles okay, Professor. Sie werden wieder gesund. Sie müssen mir nur eine Frage beantworten. Nur eine kleine Frage, dann sind wir fertig.« Der Professor öffnete den Mund und schloss ihn wieder, aber es kamen keine Worte heraus. Er brauchte mehrere Sekunden, um seine Stimme zu finden. »Was ist los? Wer sind Sie?« »Das ist im Moment nicht wichtig. Es ist wichtig, dass wir Ihre Freunde finden. David Swift und Monique Reynolds, erinnern Sie sich? Sie waren gestern Nacht mit ihnen in der Hütte. Und dann haben die beiden Sie blutend auf dem Boden liegen lassen. Das war nicht sehr rücksichtsvoll von ihnen, oder?« Gupta legte die Stirn in Falten. Das war ein gutes Zeichen - sein Gedächtnis kehrte zurück. Simon verstärkte seinen Griff auf die Schultern des alten Mannes. »Ja, Sie erinnern sich. Und ich glaube, Sie erinnern sich auch daran, wo sie hinfahren wollten. Sie wären mit ihnen gefahren, wenn Sie nicht angeschossen worden wären, stimmt's?« Nach ein paar Sekunden wurden die Augen des alten Mannes schmal, und er zog die Augenbrauen zusammen. Das war kein so gutes Zeichen. Jetzt, wo seine Erinnerung zurückkehrte, wurde Gupta trotzig. »Wer sind Sie?«, wiederholte er. »Ich sagte Ihnen doch, das ist nicht wichtig. Ich muss wissen, wo Swift und Reynolds hinwollten. Sagen Sie es mir jetzt, oder die Situation nimmt eine unangenehme Wendung für Sie, Professor.« Guptas Augen flogen nach links, und zum ersten Mal nahm er seine Umgebung richtig wahr: den Mahagonitisch, den Kronleuchter, die rot-gelbe Tapete im Esszimmer der Jenkins. Er holte mühsam Luft. »Sie sind nicht vom FBI«, flüsterte er. 201 Simon ließ eine Hand auf Guptas Schulter liegen und bewegte die andere zu seinem verletzten Oberschenkel. »Nein, ich habe erfreulicherweise mehr Spielraum. Die Amerikaner haben natürlich auch ein paar Tricks - die Wasserkur, der Schlafentzug, die Deutschen Schäferhunde. Aber ich verschwende keine Zeit mit halbherzigen Maßnahmen.« Als seine Hand an der Schusswunde ankam, ergriff er den Mullverband und riss ihn ab.
Gupta bog den Rücken durch und stieß noch einen Schrei aus. Aber als Simon das Gesicht des Mannes musterte, sah er nicht den erstarrten Schreckensblick, der normalerweise die wilden Zuckungen begleitete. Stattdessen bleckte der Professor die Zähne. »Sie Trottel!«, zischte er. »Sie sind genauso blöd wie dieser Agent!« Verärgert steckte Simon zwei Finger in die Wunde, wobei er die Fingernägel benutzte, um die Nähte zu lockern. Blut begann wieder zwischen den losen Hautfetzen hindurchzusickern. »Das reicht jetzt. Wo sind Swift und Reynolds?« »Sie Trottel! Sie Idiot!«, rief Gupta und schlug mit der Faust auf den Tisch. Simons Finger gruben sich tiefer in die Wunde. Blut lief an Guptas Oberschenkel hinunter. »Wenn Sie mir nicht sagen, wo sie sind, reiße ich Ihnen die Nähte raus. Und dann ziehe ich Ihnen die Haut in Streifen vom Bein.« Der Professor warf den Oberkörper nach vorn und funkelte ihn mit wütenden Augen an. »Sie hirnloses Russenschwein! Ich bin Henry Cobb!« VIERZEHN
M
onique schaute ihn entrüstet an. »Das ist verrückt. Wir verschwenden
unsere Zeit.« Sie saßen wieder in dem Kombi, aber jetzt stritten sie sich, anstatt sich zu küssen. Der Wagen befand sich an einer Tankstelle am Victory Drive, ungefähr eine Viertelmeile südlich der Night Maneuvers Lounge, und Elizabeth Gupta machte gerade einen Anruf am Münztelefon der Tankstelle. Graddick stand mit einem Becher Kaffee daneben Wache, während David, Monique und Michael im Auto warteten. »Das ist nicht verrückt«, beharrte David. »Es ergibt durchaus Sinn.« Monique schüttelte den Kopf. »Wenn Kleinman die Theorie von der Regierung fernhalten wollte, warum sollte er sie dann in einem Computer unterbringen, der der U.S. Army gehört?« »Militärische Computer gehören zu den sichersten Systemen der Welt. Und er hat die Gleichungen in einem Stück Kriegsspiel-Software versteckt, das niemand mehr benutzt.« »Aber die Army hat immer noch Zugang dazu! Was wäre denn, wenn irgendein Captain oder Colonel in der Abteilung für Virtuelle Kämpfe sich eines Tages langweilt und beschließt, Warfighter zu spielen?« »Zunächst mal kommst du gar nicht an die Theorie ran, wenn du nicht das höchste Geschicklichkeitsniveau erreichst. Das ist wahrscheinlich nicht so leicht, wenn man das Spiel nicht die ganze Zeit spielt wie Michael.« David zeigte auf 202 den Teenager, der auf dem Rücksitz über seinem Gameboy hockte. »Und zweitens, selbst wenn du das Spiel beherrschtest und die Gleichungen fändest, würdest du nicht begreifen, was sie bedeuten, solange du kein Physiker bist. Du würdest einfach annehmen, es wäre Unsinn, und es ignorieren.«
Sie sah nicht überzeugt aus. »Ich weiß nicht, David. Du musst zugeben, es ist eine ziemlich verwegene Annahme. Bist du sicher, dass du ...« Bevor sie den Gedanken zu Ende formulieren konnte, trat Elizabeth von dem Münzfernsprecher weg und kam zu dem Kombi zurück. Sie trug inzwischen Spandex-Leggings und ein T-Shirt, sah aber immer noch sehr nach einer Nutte aus. »Es geht niemand an den Apparat«, sagte sie durch das Wagenfester zu David. »Sheila ist vermutlich übers Wochenende weggefahren.« David runzelte die Stirn. Er hatte gehofft, dass Sheila -eine Freundin Elizabeths, die immer noch als Sekretärin in der Abteilung für Virtuelle Kampf-Simulation arbeitete - ihnen hätte helfen können, ins Fort Benning hineinzukommen. »Kennen Sie irgendjemanden, der noch dort arbeitet?« »Nee, niemand«, erwiderte Elizabeth. »Die meisten Typen in der Abteilung waren Computer-Freaks. In der ganzen Zeit, die ich dort war, haben sie mich kein einziges Mal gegrüßt.« Mist, dachte David. Ohne ein bisschen Hilfe von jemandem, der in der Kaserne arbeitete, gab es keine Möglichkeit, an der Sicherheitskontrolle von Benning vorbeizukommen, geschweige denn, in die VKS-Abteilung. »Das ist komisch«, fuhr Elizabeth fort, »ich hab auch keinen von den Freaks je in dem Club gesehen. Sie müssen auf Internet-Pornografie abfahren.« Ihm kam eine Idee. »Beth, haben Sie irgendwelche Stammkunden, die in Fort Benning arbeiten? Männer, die regelmäßig zu Ihnen kommen?« 203 »Verdammt, ja.« Ihre Stimme wurde leiser, so als hätte er sie gerade herausgefordert. »Ich hab ein paar Typen, die einmal in der Woche kommen. Eine Menge.« »Gehört einer von ihnen zur Militärpolizei?« Sie dachte ein paar Sekunden nach. »Ja, ich kenne einen Sergeant von der MP, Sergeant Mannheimer. Ich kenne ihn schon seit Jahren, seitdem ich angefangen habe, in dem Club zu arbeiten.« »Kennen Sie seine Telefonnummer?« Statt einer Antwort streckte sie den Arm in den Wagen und schnalzte vor Michaels Nase mit den Fingern. Der Kopf des Teenagers schoss von seinem Gameboy hoch. Elizabeth schaute ihn streng an. »Telefonbuch Columbus«, sagte sie. »Mannheimer, Richard.« »706-544-1329«, rezitierte Michael. Dann senkte er den Kopf und kehrte an sein Spiel zurück. Elizabeth lächelte. »Nicht schlecht, oder? Er hat das Telefonbuch von Columbus auswendig gelernt, als er mit mir zusammenlebte. Das von Macon auch.« David schrieb die Nummer auf ein Stückchen Papier. Er war von Michaels Gedächtnisleistung nicht besonders überrascht; er wusste, dass viele autistische Kinder erstaunliche mnemotechnische Fertigkeiten hatten, und er erinnerte sich an die Telefonbücher, die in dem Computer in Carnegie's Retreat gespeichert
waren. Was ihn beunruhigte, war die Selbstverständlichkeit, mit der Elizabeth die Fähigkeit ihres Sohnes nutzte. Sie hatte die Nummer mit dem Fingerschnalzen offenbar schon früher ausprobiert. Es musste eine bequeme Art gewesen sein, Verbindung zu ihren Freiern aufzunehmen. Er gab ihr den Zettel. »Rufen Sie den Sergeant an und bitten Sie ihn um einen Gefallen. Sagen Sie ihm, Sie hätten ein paar Freunde in der Stadt, die Passierscheine brauchen, um in die Kaserne zu kommen. Sagen Sie ihm, wir wollten 204 unseren kleinen Bruder besuchen, hätten aber aus Versehen unsere Ausweise zu Hause gelassen.« Sie schielte auf die Telefonnummer und schüttelte den Kopf. »Mannheimer wird das nicht umsonst tun, wissen Sie. Er wird eine Gratisnummer von mir haben wollen. Vielleicht zwei.« Das hatte David erwartet. Er zog seine Brieftasche hervor und nahm fünf Zwanziger heraus. »Keine Sorge, dafür komme ich auf. Einhundert jetzt und zweihundert, wenn wir fertig sind. Abgemacht?« Elizabeth starrte auf die Zwanzig-Dollar-Scheine. Sie leckte sich über die Lippen, schmeckte wahrscheinlich schon die Speed-Kristalle. Dann schnappte sie sich das Geld und ging zurück zu dem Münztelefon. David schaute zu Monique, aber sie wandte sich von ihm ab. Sie war sauer, keine Frage, aber sie sagte kein Wort, und das war schlimmer, als wenn sie ihn angeschrien hätte. Sie sahen schweigend zu, wie Elizabeth die Nummer an dem Münztelefon eintippte und zu reden anfing. Schließlich streckte David seinen Arm aus und berührte Monique an der Schulter. »Hey, was ist los?« Sie schüttelte seine Hand ab. »Du weißt, was los ist. Du machst den Zuhälter für sie.« »Nein, das tue ich nicht! Ich sorge nur dafür, dass ...« »Was wird sie deiner Ansicht nach mit dem Geld anfangen? Sie wird alles für Speed verbrauchen und sich den Kopf völlig zudröhnen. Und dann muss sie wieder in den Stripteaseclub und in das Motelzimmer.« »Sieh mal, wir brauchen sie, um die Theorie zu finden. Wenn du eine bessere Idee hast...« Auf einmal packte Monique David am Arm. »Irgendwas stimmt da nicht«, sagte sie und zeigte auf das Münztelefon. Graddick stand neben Elizabeth und redete laut auf sie ein. Sie beachtete ihn nicht und redete weiter in den Hörer. 204 Einen Augenblick später packte Graddick sie um die Taille und begann, sie zu dem Kombi zu schleppen. David wusste nicht, was los war, bis er den Victory Drive hinuntersah und feststellte, dass ein halbes Dutzend schwarzer Geländewagen vor der Night Maneuvers Lounge parkte. Ein Schwärm von
Männern in grauen Anzügen sprang aus den Fahrzeugen und umringte das Stripteaselokal. Graddick riss die Hecktür des Kombis auf und schob Elizabeth hinein. »Lassen Sie den Motor an, Bruder! Satan ist hinter uns her!« Karen stand im Wohnzimmer von Gloria Mitchells Apartment und lugte durch die Jalousien auf den Verkehr der East Twenty-Seventh Street hinaus. Zwei stämmige Männer in Sweatshirts lungerten auf dem Bürgersteig neben einem Lieferwagen herum, der sich in den vergangenen zwölf Stunden nicht von der Stelle bewegt hatte. Alle paar Minuten legte einer der beiden Männer die Hand vor den Mund und tat so, als müsse er husten. Er sprach in ein Mikrofon, das in einem Hemdsärmel versteckt war. Jonah saß auf der Couch und blätterte in einem Astronomiebuch, das er in Glorias Bücherregal gefunden hatte. Gloria stand in der gegenüberliegenden Ecke des Zimmers und redete auf ihrem Mobiltelefon mit ihrem Redakteur. Sie hatte rabenschwarze Haare, magere Beine, ein spitzes Kinn und dunkle Augen und war dauernd in Bewegung. Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, klappte sie das Telefon zu und sagte zu Karen: »Ich muss jetzt los. Ein Doppelmord in Brooklyn. Bleibt einfach hier, bis ich zurückkomme.« Karen drehte sich der Magen um. Sie zeigte auf das Fenster. »Die Agenten sind immer noch draußen.« Sie sprach leise, damit Jonah nichts mitbekam. »Sobald sie sehen, dass du das Gebäude verlässt, kommen sie hier hoch und greifen sich uns.« 205 Gloria schüttelte den Kopf. »Ein illegaler Einbruch in das Apartment einer Reporterin? Das würden sie nicht wagen.« »Sie würden die Tür aufbrechen und sie wieder in Ordnung bringen, bevor du zurückkommst. Es wird so aussehen, als hätten Jonah und ich einfach beschlossen zu gehen. Das wird dir das FBI erzählen, wenn du fragst, was mit uns passiert ist.« »Glaubst du wirklich ...« »Kannst du deinen Redakteur nicht bitten, den Auftrag jemand anderes zu geben?« »Vergiss es. Mit dem Typ ist nicht gut Kirschen essen.« Karen warf einen Blick auf ihren Sohn, der ein Bild vom Asteroidengürtel studierte. Auf gar keinen Fall würde sie zulassen, dass diese Dreckskerle ihn noch mal in die Finger bekämen. »Dann kommen wir mit dir. Sie werden uns nicht festnehmen, wenn du danebenstehst.« Gloria zuckte mit den Achseln. »Okay, ganz wie du willst.« Wenn das ein normaler Job gewesen wäre, hätte Simon seinen Klienten mittlerweile erschossen. Professor Amil Gupta, alias Henry Cobb, war der arroganteste Mann, für den er je gearbeitet hatte. Er konnte einen aber auch zur Raserei bringen. Sobald der Professor seine wahre Identität offenbart hatte,
begann er, Simon mit den unangenehmsten Schimpfwörtern zu attackieren. Obwohl Gupta legitime Gründe hatte, verärgert zu sein, war es in Wirklichkeit sein Fehler: Zu diesem Durcheinander wäre es nicht gekommen, wenn er nicht auf diesem absurden Pseudonym bestanden hätte. Simon versuchte, ihm dies zu erklären, als er die Schusswunde des Mannes neu bandagierte, aber Gupta führ fort, ihn zu beleidigen. Und sobald der Professor in der Lage war zu gehen, erteilte er Befehle. Er entwarf einen neuen Plan: Er und 206 Simon würden den Pick-up nehmen und den Zielpersonen nach Georgia folgen, während Agent Brock in dem Dodge-Kastenwagen von Dr. Jenkins nach New York führe. Als Simon fragte, warum Brock zurück nach New York fahren solle, meinte Gupta knapp, er solle den Mund halten und die Schlüssel zu dem Kastenwagen finden. Simons Hand griff automatisch nach seiner Uzi, aber er bremste sich rechtzeitig, bevor er Guptas Gehirn im ganzen Zimmer verspritzte. Bleib gelassen, ermahnte er sich. Konzentrier dich auf das Ziel. Weil Jenkins' Haus ein paar Kilometer außerhalb des Kordons lag, den die amerikanische Sondertruppe gezogen hatte, begegnete Simon auf den Nebenstraßen im südwestlichen Virginia keiner Patrouille. Um elf Uhr erreichten sie die Stadt Meadowview, wo Brock auf dem 1-81 nach Norden abbog und Simon mit Gupta nach Süden. Der Professor legte sich auf dem Beifahrersitz so weit wie möglich nach hinten und stützte das verletzte Bein auf dem Armaturenbrett ab, aber leider schlief er nicht ein. Stattdessen schaute er alle fünf Minuten auf die Uhr und wetterte über die Ausmaße der menschlichen Dummheit. Nachdem sie die Staatsgrenze zwischen Virginia und Tennessee überquert hatten, lehnte er sich unvermittelt zu Simon hinüber und zeigte auf ein Verkehrsschild, auf dem stand A USFAHRT 69 B LOUNTVILLE . »Fahren Sie von dem Highway runter«, befahl er. »Warum? Die Straße ist frei. Weder Soldaten noch Polizei.« Gupta schaute ihn finster an. »Wir haben nicht genug Zeit, nach Georgia zu fahren. Wegen Ihrer Unfähigkeit haben Swift und Reynolds einen Vorsprung von zehn Stunden. Sie haben wahrscheinlich die Verbindung zu meiner Tochter schon hergestellt.« »Ein Grund mehr dafür, den Interstate zu nehmen. Auf den Nebenstraßen werden wir langsamer vorankommen.« »Es gibt noch eine Alternative. Ich habe zeitweise für ein 206 Unternehmen in Blountville gearbeitet, eine Rüstungsfirma namens Mid-South Robotics. Ich habe ein paar Prototypen für sie gebaut, und deshalb sind sie an mein Überwachungsnetzwerk angeschlossen.« »Überwachung?« »Ja. Wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege, wo Swift und Reynolds hingehen, sind wir vielleicht in der Lage, sie zu beobachten.«
Simon verließ den Interstate Highway und fuhr ungefähr zwei Kilometer auf der Route 394. Mid-South Robotics befand sich in einem großflächigen einstöckigen Gebäude. Weil es Samstagvormittag war, stand nur ein Wagen auf dem Parkplatz. Simon parkte daneben, dann gingen er und Professor Gupta Richtung Pförtnerhäuschen. Darin saß ein hagerer, weißhaariger Mann in einer blauen Uniform und las die Lokalzeitung. Gupta klopfte gegen das Fenster, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen. »Hallo, Sie da!«, rief er. »Ich bin Dr. Amil Gupta vom Robotics Institute. Erinnern Sie sich an mich? Ich war im April zu Besuch hier.« Der Wachmann legte die Zeitung beiseite und starrte die beiden einen Moment an. Dann grinste er. »Ach ja, Dr. Gupta! Aus Pittsburgh! Ich war hier, als Sie zu Ihrer Führung durch die Fabrik gekommen sind!« Er stand auf und öffnete die Tür, damit er dem Professor die Hand schütteln konnte. »Es ist mächtig nett, Sie wiederzusehen!« Gupta zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, es ist auch schön, Sie wiederzusehen. Sagen Sie, ist Mr. Compton schon im Büro? Er hat mich gebeten, vorbeizuschauen und einen Blick auf einen seiner Prototypen zu werfen.« »Oh, das tut mir aber wirklich leid, aber Mr. Compton ist nicht hier. Er hat nichts davon gesagt, dass Sie heute vorbeikommen wollten.« »Er wird vermutlich später eintreffen, nehme ich an. Könnten Sie in der Zwischenzeit mich und meinen Assis 207 tenten in das Versuchslabor lassen? Ich kann nur zwei Stunden bleiben, deshalb muss ich sofort anfangen zu arbeiten.« Der Wachmann warf einen Blick auf Simon, bevor er sich wieder an Gupta wandte. »Ich schätze, ich sollte zuerst mal Mr. Compton anrufen. Nur damit er Bescheid weiß, dass Sie hier sind.« »Bitte, das ist nicht nötig. Ich möchte ihn nicht an seinem freien Wochenende stören.« »Trotzdem rufe ich ihn vielleicht besser an.« Er zog sich in sein Häuschen zurück, als der Professor einmal mit dem Kopf nickte. Simon trat mit seiner Uzi vor und schoss dem Wachmann zwischen die Augen. Der Mann war tot, bevor sein Körper auf dem Boden aufschlug. Simon beugte sich über ihn und durchsuchte seine Taschen. Gupta schaute auf die Leiche hinunter. »Faszinierend. Ich habe sechsundsiebzig Jahre lang gelebt, ohne Zeuge eines Mordes zu werden, und jetzt habe ich zwei innerhalb der letzten zwölf Stunden gesehen.« »Man gewöhnt sich dran.« Nachdem er die Schlüssel aus der Hosentasche des Wachmanns genommen hatte, begann Simon, die Alarmanlage des Gebäudes auszuschalten.
Der Professor schüttelte den Kopf. »Es ist wie der Zusammenbruch eines kleinen Universums. Eine unendliche Ansammlung von Wahrscheinlichkeiten reduziert auf eine einzige tote Gewissheit.« »Wenn es eine solche Tragödie ist, warum haben Sie mir dann befohlen, ihn zu töten?« »Ich habe nie gesagt, es wäre eine Tragödie. Manche Universen müssen sterben, damit andere geboren werden können.« Gupta hob den Blick zum Himmel und hielt die Hand an die Stirn, um die Augen von der Sonne abzuschirmen. »Die Menschheit wird einen großen Sprung nach vorn machen, sobald wir der Welt die Einheitliche Feldtheorie prä 208 sentieren. Wir werden die Hebammen einer neuen Epoche sein, eines goldenen Zeitalters der Aufklärung.« Simon runzelte die Stirn. Er war Soldat, keine Hebamme. Seine Mission war der Tod, keine Geburt. Es war leicht zu sehen, warum Sergeant Mannheimer einer von Elizabeths Stammkunden war. Da er schlaksig und ein Großmaul war, langsam kahl wurde und eine Riesennase hatte, konnte er wahrscheinlich nur eine Nutte für sich interessieren. Er saß neben Elizabeth auf der Rückbank des Kombis, hatte den Arm um ihre Taille geschlungen und starrte ihr ins Dekollete, aber er warf auch lüsterne Blicke auf Monique, die mit Michael im Laderaum saß. Graddick schimpfte vor sich hin, während er den Wagen auf die Einfahrt von Fort Benning zusteuerte; offenbar gefiel ihm der Sergeant nicht, und er war auch nicht glücklich darüber, dass sie der Kaserne einen Besuch abstatteten. Aber David hatte darauf bestanden, dass es für Elizabeths Rettung notwendig wäre, und das reichte aus, um Graddick bei der Stange zu halten, zumindest vorerst. Als sie sich dem Kasernentor näherten, bemerkte David eine lange Schlange von Fahrzeugen vor ihnen. Für einen Samstagmorgen schien es ihm eine Menge Verkehr zu sein. Er zeigte auf das Tor und wandte sich an Mannheimer. »Was ist da los?« Der Sergeant spielte gerade mit der Goldkette um Elizabeths Hals und versuchte, das Medaillon herauszuziehen, das zwischen ihren Brüsten hing. »Die kommen alle, um Darth Vader zu sehen. Er hält heute eine Rede in der Kaserne.« »Darth Vader?« »Ja, der Verteidigungsminister. Der Mann, der den Schnellzug von Benning nach Bagdad betreibt.« David schaute wieder zum Kasernentor und sah, dass ein halbes Dutzend Militärpolizisten die Wagen vorn in der 208 Schlange untersuchten. Die Soldaten öffneten den Kofferraum und knieten sich neben die Kotflügel auf den Boden, um nachzusehen, ob sich Bomben unter dem Fahrgestell befanden. »Mist. Sie haben die Kontrollen verschärft.«
»Mach dir nicht ins Hemd, Freund.« Mannheimer hatte das Medaillon herausgezogen und ließ es nun vor Elizabeths Augen hin und her baumeln. »Das sind meine Jungs. Sie werden uns nicht piesacken.« Elizabeth kicherte, während der Sergeant so tat, als wollte er sie hypnotisieren. Jetzt, wo sie hundert Dollar in der Tasche hatte, war sie gut gelaunt. Dagegen wurde David immer nervöser, während der Wagen sich allmählich dem Anfang der Schlange näherte. Nach fünf Minuten kamen sie an dem Tor an, und ein strammer junger Corporal mit einer M-9-Pistole in seinem Holster trat an den Kombi heran. Er beugte sich vor und steckte den Kopf in das Fenster auf der Fahrerseite. »Führerschein und Fahrzeugschein«, befahl er. »Und ich brauche Ausweise für alle Insassen.« Bevor Graddick antworten konnte, lehnte sich Mannheimer vor, um den Corporal auf sich aufmerksam zu machen. »Hey, Murph«, rief er fröhlich. »Wir fahren nur zum PX, um ein bisschen einzukaufen.« Murph salutierte halbherzig. An dem Ausdruck auf seinem Gesicht konnte David erkennen, dass er von dem Sergeant keine hohe Meinung hatte. »Wir haben neue Befehle vom Standortkommandanten bekommen, Sir. Alle Besucher müssen ihre Ausweise zeigen.« »Keine Sorge, Kumpel. Diese Leute sind mit mir zusammen.« »Keine Ausnahmen, Sir. Das hat der Kommandant ausdrücklich gesagt.« Ein zweiter Militärpolizist näherte sich der Beifahrerseite des Wagens. Dieser hatte einen Helm auf dem Kopf und trug eine M-16. David legte die Hand an den Türgriff, aber er wusste, dass alles vorbei war. In drei Minuten hätte man ihnen Handschellen angelegt. Sergeant Mannheimer rutschte an die Kante der Rückbank, näher an den misstrauischen Corporal heran. Er senkte die Stimme. »Okay, Murph, dann lass ich die Katze aus dem Sack. Siehst du Beth hier neben mir?« Er zeigte mit dem Daumen auf Elizabeth. »Na ja, sie und die schwarze Braut hinten im Wagen sind heute für eine kleine Vorstellung eingeplant. Eine Privatvorstellung für den Verteidigungsminister, wenn er mit seiner Rede fertig ist.« Der Corporal starrte Elizabeth an, die sich die Lippen leckte und die Brust rausstreckte. Ihm klappte der Unterkiefer runter. »Sie haben Stripper für den Verteidigungsminister besorgt?« Mannheimer nickte. »Hey, der Mann arbeitet hart. Er braucht ab und zu mal eine Pause.« »Heilige Scheiße.« Murph betrachtete seinen Vorgesetzten mit neu gewonnenem Respekt. »Weiß der Kommandant davon?« »Nein, diese Befehle kamen direkt aus dem Pentagon.« Der Corporal grinste. »Verdammt, das ist wirklich stark. Der Verteidigungsminister wird ausflippen.« Dann trat er von dem Wagen zurück und winkte sie durch.
Sobald Lucille die Unterlagen von Guptas Internet-Aktivitäten sah - insbesondere die Webseite mit der Adresse Victory Drive 3617 -, erteilte sie neue Anweisungen für den Lear-jet des Bureau. Zwei Stunden später betraten sie und Agent Crawford die Night Maneuvers Lounge, die bereits durch ein Team von Agenten aus dem Büro in Atlanta gesichert worden war. Ungefähr dreißig Gäste - zum größten Teil betrunkene Soldaten mit Wochenendausgang - drückten sich zwischen den Tischen des Lokals herum, während die Angestellten - fünf Tänzerinnen, ein Barkeeper und ein Türste 210
her - an der Theke saßen. Der Türsteher und der Barkeeper hatten David Swift erkannt, als die Agenten ihnen sein Foto gezeigt hatten, und der Barkeeper sagte, er habe gesehen, wie der Verdächtige mit einer anderen Tänzerin das Lokal verlassen habe, deren Schicht gerade zu Ende gegangen war. Diese Tänzerin war, wie sich herausstellte, Beth Gupta, die Tochter des Professors. Leider waren die Agenten aus Atlanta nicht in der Lage, die Frau zu finden, als sie ihre zeitweilige Bleibe in einem Motel auf der anderen Straßenseite durchsuchten. Der Barkeeper, ein schmieriger Zeitgenosse namens Harlan Woods, der auch Geschäftsführer des Lokals war, sagte, er hätte keine Ahnung, wo Beth sein könnte, aber Lucille hatte den Verdacht, dass das nicht stimmte. »Sie sind also der Mann, der in diesem bezaubernden Etablissement das Sagen hat?«, begrüßte sie Harlan, einen kleinen, dicken, bärtigen Mann mit einem TShirt, auf dem stand: I CH GEBE R EITSTUNDEN AUF MEINEM
S CHNURRBART .
Er nickte hektisch. Auf seinem Barhocker an der Theke sah er aus wie ein verlebter Zwerg, der auf einem Pilz saß. »Ich möchte Ihnen helfen, okay? Aber wie ich schon sagte, ich weiß nicht, wo Beth ist. Sie arbeitet nur hier, das ist alles. Was sie in ihrer Freizeit macht, davon hab ich absolut keine Ahnung.« Harlan stand offenbar unter Drogen. Er redete ohne Punkt und Komma und stank wie ein Umkleideraum. Lucille runzelte die Stirn. Sie verabscheute Drogensüchtige. »Nicht so schnell, Bubba. Hat Beth irgendwelche Freundinnen hier in der Stadt?« Er zeigte auf die neben der Theke aufgereihten Tänzerinnen, die in ihren Tangahöschen sichtlich froren. »Klar, die Mädchen sind alle miteinander befreundet. Reden Sie mit Amber oder Britney. Vielleicht wissen sie, wo Beth ist.« »Hat sie sonst keine Freundinnen? Außer den Mädchen, für die Sie den Zuhälter machen, meine ich?« 210 »Verdammt, ich bin kein Zuhälter! Ich bin nur ...« »Erzählen Sie mir keinen Scheiß, Harlan. Und denken Sie ein bisschen flotter, sonst ...«
»Okay, Okay!« Neue Schweißperlen traten auf seine Stirn. Wie alle Süchtigen gab er schnell auf. »Es gibt ein Mädchen namens Sheila, eine echt hochnäsige Ziege. Sie ist einmal hier reingekommen, um mir die Hölle heiß zu machen. Sie hat mal mit Beth zusammen in der Kaserne gearbeitet.« Das war Lucille neu. Die einzige Information, die sie von den Agenten aus Atlanta bekommen hatte, war Elizabeth Guptas Vorstrafenregister gewesen. »Beth hatte einen Job in Fort Benning?« »Ja, bevor sie hierherkam. Irgendwas mit Computern, hat sie gesagt. Ein Verwandter hatte ihr den Job besorgt, aber es hat nicht funktioniert.« Lucille dachte an den zertrümmerten Computer, den sie in der Hütte in West Virginia gesehen hatte. Die Verdächtigen folgten einer digitalen Spur, und was ihr nächstes Ziel anging, hatte sie so eine Ahnung. Sie wandte sich zu Agent Crawford um, der wie immer hinter ihr stand. »Geben Sie mir den Kommandanten von Benning«, befahl sie. »Und Colonel Tarkington, diesen Blödmann.« Das Erste, was David sah, waren die Sprungtürme, drei hohe Spitzen, die über die Kasernen und die Verwaltungsgebäude von Fort Benning aufragten. Sie sahen aus wie der berühmte Fallschirmsprung in Coney Island, die Jahrmarktsattraktion, die Jahrzehnte zuvor geschlossen worden war, aber diese Türme hier wurden immer noch stark in Anspruch genommen. Fallschirmjäger sprangen von oben herab und schwebten wie Samen von einer riesigen Stahlblume zu Boden. Sergeant Mannheimer wies Graddick an, den Kombi hinter einem weitläufigen gelben Gebäude zu parken, das Infan 211 try Hall hieß. Die Abteilung für Virtuelle Kampf-Simulation war im Westflügel des Gebäudes untergebracht. David hatte sich eine Geschichte ausgedacht, die erklärte, warum sie dorthin gehen mussten - Monique hatte einen jüngeren Bruder in der Grundausbildung, der unter Angstzuständen litt und mit jemandem in Ruhe sprechen musste und so weiter und so fort. Es war klar, dass Mannheimer kein Wort davon glaubte, aber erfreulicherweise schien es ihm egal zu sein. Er war so begierig auf seine Gratisnummer, dass er nur daran interessiert war, ein leeres Zimmer zu finden, wo er es Elizabeth besorgen konnte. Er zog sie aus dem Wagen und führte sie zum Hintereingang des Gebäudes. Monique, David und Michael stiegen ebenfalls aus. Graddick blieb hinter dem Lenkrad sitzen und schaute sie besorgt an. »Was ist los, Bruder?« David legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Bleiben Sie einfach hier sitzen, bis wir wieder rauskommen. Wir bleiben nur ein paar Minuten. Dann werden wir an Elizabeths Seele arbeiten, okay?« Graddick nickte. Monique und David nahmen Michael zwischen sich und sie beeilten sich, Elizabeth und Mannheimer wieder einzuholen. David wäre es lieber gewesen, sie hätten den Jungen im Auto lassen können; es war abstoßend, mit
welcher Selbstverständlichkeit sie ihrem Beruf direkt vor seinen Augen nachging. Aber Michael war der Einzige, der wusste, wie man Warfighter spielte. Sie eilten durch den Eingang und die Treppen in den zweiten Stock hoch. Elizabeth und der Sergeant blieben vor einer nicht gekennzeichneten Tür am Ende eines verlassenen Flurs stehen. Mannheimer begann in den Taschen seines Arbeitsanzugs zu wühlen. »Du bist also sicher, dass es da drin eine Couch gibt?«, fragte er. »Ja, es gibt eine im Büro des Direktors«, antwortete Elizabeth. »Ich erinnere mich daran, eine große braune Couch.« 212 »Aber das war vor vier Jahren. Vielleicht hat man sie woanders hingebracht.« »Herr im Himmel, mach einfach die Tür auf.« Endlich fand Mannheimer den Hauptschlüssel, aber bevor er ihn ins Schloss stecken konnte, hörte David, wie etwas auf dem Flur näher kam. Es war ein mechanisches Geräusch, das ihm merkwürdig vertraut vorkam. Er drehte sich um und sah einen Dragon Runner, den kastenförmigen silbernen Überwachungsroboter, den Professor Gupta für die Army entwickelt hatte. Der Automat rollte auf Raupenketten wie ein Panzer im Miniformat und richtete seinen birnenähnlichen Sensor auf sie. David erstarrte. »Mist! Man hat uns entdeckt!« Mannheimer lachte leise in sich hinein. »Stehen Sie bequem, Soldat. Diese Dinger sind noch nicht einsatzbereit.« »Wie bitte?« Davids Herz klopfte laut, während der Roboter an ihnen vorbeiführ. »Sie sind immer noch damit beschäftigt, die Macken auszubügeln. Es ist wie mit allem anderen, was die Army macht. Erst wird das System zehn Jahre lang getestet, und dann wird beschlossen, dass es zu viel kostet.« Mannheimer lachte wieder, machte die Tür auf und schob Elizabeth hinein. »Okay, Baby, wo ist das Büro des Direktors?« David folgte ihnen in das Zimmer. Es war ein großer Raum, vielleicht vierzig Fuß lang. Auf der einen Seite standen mehrere Regale mit Servern, die auf ihren Stahlborden summten und blinkten. Ihnen gegenüber befand sich ein DesktopComputer mit einem extragroßen Flachbildschirm, und in der Mitte des Raums ruhten zwei riesige, hohle, durchsichtige Kugeln, die mindestens neun Fuß hoch waren, auf einer mit Metallrollen versehenen Plattform. Monique stand in der Tür und starrte auf die Kugeln, genauso verdutzt wie David. Aber Michael stürmte in den Raum und steuerte schnurstracks auf einen Schrank am anderen 212 Ende zu. Während seine Mutter und der Sergeant in einem benachbarten Büro verschwanden, öffnete er den Schrank und holte ein sperriges schwarzes Gerät heraus, das wie ein stereoskopischer Bildbetrachter aussah. David erkannte das Ding: Es war eine Datenbrille. Wenn man sie anlegte, zeigte sie eine simulierte
Landschaft; wenn man den Kopf nach rechts oder links drehte, sah man verschiedene Teile der virtuellen Welt. Michael strahlte vor Freude, als er die VRBrille einstellte, dann flitzte er zu dem Computer und begann auf die Tastatur einzutippen. David und Monique gingen zu dem Terminal und schauten Michael über die Schulter. Nach wenigen Sekunden zeigte der Bildschirm einen Soldaten, der mitten in einem großen grünen Feld stand. Der Soldat trug eine khakifarbene Uniform und einen Helm, der mit einer Zahl geschmückt war, einer großen roten 1. »Das ist Warfighter«, flüsterte David. »Er lädt gerade das Programm.« Nach einigen weiteren Sekunden erschien das Wort S TARTBEREIT ? auf dem Bildschirm. Michael ging noch mal zu dem Schrank und zog ein Plastikgewehr heraus, ein Modell der M-16 in Originalgröße. Dann lief er zu einer der riesigen Kugeln, öffnete eine Luke an der Seite und schlängelte sich in das durchsichtige Sphäroid. »Verdammt«, schrie Monique. »Was macht er dort drinnen?« Michael schloss die Luke von innen und legte die VR-Brille an. Er hielt das Plastikgewehr wie ein richtiger Infanterist und begann vorwärts zu gehen, aber natürlich ging er nirgendwohin - die Kugel drehte sich einfach um ihn herum, rotierte an Ort und Stelle wie ein monströser Trackball. Nach einer Weile beschleunigte Michael seinen Schritt, und die Kugel rotierte schneller. Bald darauf rannte der Teenager wie ein Hamster in einem Laufrad. Als David auf den Com 213 puter-Bildschirm schaute, sah er den khakigewandeten Soldaten über das Feld rennen. »Unglaublich, das ist fantastisch.« Er legte Monique eine Hand auf den Rücken und zeigte auf die Plattform unter der Kugel. »Siehst du diese Rollen unter der Kugel? Sie messen, wie schnell sich die Kugel dreht, und stellen die Richtung der Rotation fest. Dann schicken sie die Daten zu dem Computer, der dafür sorgt, dass der Soldat sich genauso schnell bewegt wie Michael. Und Michael kann die ganze Simulation auf seiner Brille sehen. Er rennt innerhalb einer virtuellen Welt.« »Das ist toll, aber wo rennt er hin?« »Es sieht so aus, als hätte er einfach Spaß. Ich nehme an, er absolviert die einzelnen Geschicklichkeitsstufen, wie er das immer macht.« »Und was wird passieren, wenn er die Stufe SviA /4 erreicht?« »Ich weiß es nicht. Es gibt vielleicht eine Möglichkeit, die Theorie von dem Server runterzuladen. Aber ich wette, dass man das VR-Interface benutzen muss, um Zugang dazu zu haben.« David musterte die Symbole unten an dem Computerbildschirm, bis er fand, was er gesucht hatte: S PIEL FÜR ZWEI SPIELER. Als er es anklickte, blinkte
wieder das Wort S TARTBEREIT ? auf dem Bildschirm auf. Während Monique ihn mit offenem Mund anstarrte, ging er zu dem Schrank, fand noch eine VRBrille und ein weiteres Plastikgewehr. »Ich gehe rein«, sagte er. Dann trat er an die zweite Kugel heran und öffnete die Luke. Simon stand Wache im Versuchslabor von Mid-South Robotics, während Professor Gupta Überwachungsvideos auf dem Computer des Labors studierte. Der Bildschirm war in ein Dutzend Quadrate unterteilt, von denen jedes eine Live214 Übertragung von einem der in Fort Benning stationierten Dragon Runner zeigte. Kurz vor zwölf Uhr mittags gab der Computer ein Ping von sich - das Gesichtserkennungsprogramm hatte eine Übereinstimmung in einem der Videos gefunden. Gupta identifizierte den Standort des Roboters und vergrößerte den Übertragungsausschnitt, sodass er den Bildschirm ausfüllte. Simon rückte dem Terminal ein bisschen näher und sah einen hochgewachsenen, hässlichen Soldaten, der den Arm um die Taille einer vollbusigen Frau gelegt hatte. Dann sah er die Zielpersonen: Swift, Reynolds und Guptas Enkel. »Interessant«, murmelte der Professor. »Sie sind in der VKS-Abteilung.« »VKS?« »Virtuelle Kampf-Simulation. Ich habe ein wenig für sie gearbeitet, indem ich das VR-Interface für Warfighter entwickelt habe.« Tief in Gedanken hielt er inne. »Und da hat Elizabeth auch gearbeitet. Der Job, den Hans ihr besorgt hat.« Auf dem Bildschirm betraten die Zielpersonen einen Raum und machten die Tür hinter sich zu, wodurch die Übertragung beendet wurde. Gupta verließ das Programm schnell und tippte auf die Tastatur ein. »Kleinman!«, rief er. »Der alte Narr!« »Was ist los?« Der Professor schüttelte den Kopf. »Er hielt sich für besonders schlau! Das Ding direkt vor meiner Nase zu verstecken!« »Meinen Sie die Einheitliche Feldtheorie?« Ein neues Fenster tauchte auf dem Bildschirm auf, und Gupta tippte einen Benutzernamen und ein Passwort ein. Er versuchte, sich in eine Art Netzwerk einzuloggen. »Glücklicherweise ist es noch nicht zu spät. Alle VKS-Programme sind für einen Fernzugriff entworfen. Der Army ging es da 214 rum, dass Soldaten an unterschiedlichen Standorten in den virtuellen Kämpfen gegeneinander antreten.« Es gab eine Verzögerung von mehreren Sekunden. Dann zeigte der Bildschirm eine lange Liste von militärischen Servern und ihren Tätigkeitsberichten. »Genau wie ich mir gedacht habe«, sagte Gupta. »Sie lassen Warfighter laufen.«
Simon schaute dem Professor über die Schulter und spürte einen Anflug von Besorgnis. »Können sie die Theorie herunterladen? Können sie sie löschen?« Gupta klickte einen der Server an. Während das Netzwerk die Verbindung herstellte, drehte er sich um und funkelte Simon an. »Gehen Sie im Lager nachsehen! Hier gibt es keine VR-Ausrüstung, aber vielleicht haben sie einen Joystick.« David stand in einem großen Feld, das von Pech-Kiefern begrenzt wurde. Wenn er sich nach rechts drehte, sah er eine Landschaft mit bewaldeten Hügeln, die sich bis zum Horizont erstreckte. Wenn er sich nach links wandte, zeigte das VRDisplay eine Lücke zwischen den Bäumen und eine Gruppe niedriger Gebäude. Die Computergrafik war erstaunlich realistisch. Er hörte sogar Vogelrufe durch den Headset, der Mini-Lautsprecher und ein Mikrofon zur Kommunikation mit anderen Spielern enthielt. Die simulierte Landschaft hatte etwas merkwürdig Vertrautes an sich, und nach ein paar Sekunden begriff er, dass die virtuelle Welt so gestaltet worden war, dass sie wie das bewaldete Übungsgelände von Fort Benning aussah. Über den Baumwipfeln konnte er die Sprungtürme sehen, die mehrere Meilen entfernt zu sein schienen. »Worauf wartest du noch?« David hob das Gewehr, als er die Stimme durch die Kopfhörer hörte. Er konnte den Lauf seiner M-16 auf dem Display sehen, aber es gab keine anderen Gestalten auf dem Feld oder im Wald. »Hey!«, rief er. »Wer ist da?« 215 »Ich bin's, du Dummerchen.« Moniques Stimme. »Ich bin am Terminal und beobachte dich auf dem Computerbildschirm. Du siehst genauso aus wie Michaels Soldat, aber du hast eine große rote Zwei auf deinem Helm.« »Wie hast du ...?« »Du hast ein bisschen verloren ausgesehen, und deshalb hab ich nach einem Mikrofon an dem Terminal gesucht, um dir zu sagen, wohin du gehen musst. Michael ist in dem Dorf.« »In dem Dorf?« Er zeigte mit seinem Gewehr auf die Gruppe von Gebäuden. »Meinst du, dort drüben?« »Ja, und er hat schon die Stufe B Zwo erreicht, also bewegst du besser deinen Arsch. Soweit ich das sehe, musst du näher an Michael rankommen, bevor er SviA/4 erreicht. Sonst wirst du nicht in der Lage sein, auf die letzte Stufe zu kommen und die Theorie herunterzuladen.« Sehr zaghaft machte David einen Schritt nach vorn. Die Kugel drehte sich mühelos unter seinen Füßen. Als er einen Schritt nach links unternahm, drehte die Kugel sich zur Seite. Er begann, in Richtung der Lücke zwischen den Bäumen zu gehen, zuerst langsam, dann mit größerem Selbstvertrauen. »Das ist gar nicht schlecht. Nach einer Weile fühlt es sich fast normal an.« »Versuch mal zu laufen. Du hast einen weiten Weg vor dir.«
Er fiel in einen Trab. Während David über das Feld hastete, ragten die Gebäude vor ihm höher auf, und er erkannte allmählich dunkle Gestalten, die bäuchlings im Gras lagen. Es waren computergenerierte feindliche Soldaten - wie Terroristen mit schwarzen Jacken und Kopftüchern bekleidet -, die David schon vorher auf dem Gameboy gesehen hatte. »Sieht so aus, als hätte Michael sich um sie gekümmert.« »Halt die Augen offen«, warnte Monique ihn. »Er hat sie nicht alle erwischt.« 216 »Was passiert, wenn sie auf mich schießen? Wie viele Leben hat man bei diesem Spiel?« »Ich muss in der Bedienungsanleitung nachsehen.« Eine Pause entstand. »Okay, falls du einen Körpertreffer abbekommst, kannst du dich nicht mehr bewegen, aber du kannst deine Waffe noch abfeuern. Falls du in den Kopf geschossen wirst, gehst du automatisch wieder an den Start zurück.« »Und das ist nicht gut, stimmt's?« »Nicht, wenn du Michael einholen willst. Er hat gerade Stufe B3 erreicht.« David legte an Tempo zu und lief im Zickzack um die toten Soldaten herum. Nach ein paar Sekunden erreichte er den Rand des Dorfs, das trist und trostlos aussah. Auf einer Seite der Hauptstraße stand eine Reihe von zweistöckigen Häusern mit abfallenden Dächern; auf der anderen befand sich eine einfache weiße Kirche mit einem Glockenturm. Die Straße war bis auf die gefallenen Soldaten leer, die den von Michael eingeschlagenen Weg markierten. David rannte die Mitte der Straße hinunter, bis er zu einem klotzigen gelben Lagerhaus kam. Ein halbes Dutzend simulierte Leichen lagen direkt vor dem Eingang des Gebäudes. Er wurde langsamer, wobei er darum kämpfen musste, innerhalb der sich drehenden Kugel das Gleichgewicht zu bewahren, und schaute in den Eingang hinein. Es war dunkel, aber er konnte Formen auf dem Boden erkennen, weitere ausgestreckte Leichen. Er wollte gerade hineingehen, als er Schüsse hörte. Sie schienen von hinten zu kommen, also wirbelte er herum. Ein feindlicher Soldat kam auf der Straße angerannt und schoss mit einer AK-47. Einen Augenblick lang vergaß David, dass er einer Simulation zusah; ihn überkam Panik, und er kauerte sich hin und zog den Abzug des Plastikgewehrs durch, wobei er auf die Gestalt in der schwarzen Jacke zielte. Die Schüsse dröhnten in seinen Kopfhörern, und David taumelte nach 216 hinten. Er landete mit dem Hintern auf dem Boden der Kugel, die hin und her schwankte. Sein VR-Display zeigte nur blauen Himmel und die gelbe Wand des Lagerhauses. Doch als er sich wieder aufrappelte, sah er den feindlichen Soldat mit schmerzverzerrtem Gesicht auf Händen und Knien, aber sein Gewehr umklammerte er immer noch.
»Schieß ihn in den Kopf!«, schrie Monique in seinen Kopfhörern. »Schnell, in den Kopf!« David feuerte einmal auf den Schädel des Soldaten, und die Gestalt sank zu Boden. »Herrgott!«, schrie er und schwenkte seine M-16 in einem großen Bogen, auf der Suche nach weiteren Feinden auf der Straße. Er atmete schnell. Er hörte noch mehr Schüsse, konnte aber nicht feststellen, wo sie herkamen. »Geh in das Gebäude! Michael ist auf dem ersten Stock!« Er wandte sich zurück zum Eingang und trat über die Leichen, die drinnen lagen. Das Display wurde dunkler, während er durch einen langen, schmalen Korridor ging. Seine Beine waren jetzt wackelig, und er fühlte sich unbehaglich. Schweißtropfen liefen ihm die Stirn hinunter und sammelten sich an den Rändern seiner Brille. »Mist! Ich kann nichts sehen!« »Geh nach links, nach L INKS! Da ist eine Treppe!« Er wandte sich nach links, taumelnd wie ein Betrunkener. Schüsse hallten in dem Korridor wider, aber er sah nur weiße Blitze. Die Simulation überwältigte sein Gehirn, bereitete ihm Übelkeit. Er hätte am liebsten den Headset heruntergerissen. »Moment mal, ich muss aufhören! Irgendwas ist hinter mir!« »Nein, mach weiter! Michael ist auf Stufe C3. Er ist fast fertig!« Schließlich fand David die Treppe. Das Display wurde heller, als er hochging, und zeigte ihm einen anderen Korridor 217 oben am Ende der Treppe. Er ging den Flur hinunter und kam an mehreren leeren Zimmern vorbei, in denen blutige Leichen auf dem Boden lagen. »Geh nach rechts, wenn du am Ende des Flurs bist«, wies Monique ihn an. »Dann kannst du ...« Ein Soldat kam aus einem der Zimmer herausgerannt, nur ein paar Fuß vor ihm. David war derart überrascht, dass er seine M-16 fallen ließ. Er machte einen Schritt zurück, hob instinktiv die Hände und machte sich auf seinen virtuellen Tod gefasst. Aber der Soldat drehte sich nur um und lief vor ihm den Flur hinunter. Mit Verspätung bemerkte David, dass diese Gestalt keine schwarze Jacke anhatte; sie trug eine Khaki-Uniform und hatte eine knallrote 1 auf seinem Helm. Es war Michael. Begeistert hob David sein Gewehr auf und folgte ihm. Am Ende des Korridors schwenkte Michaels Soldat nach rechts ab, und David hörte eine Salve von Schüssen. Als er den Jungen eingeholt hatte, lagen alle sechs noch übrigen Feinde mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. »Das war's!«, schrie Monique. »Du bist auf der höchsten Stufe.« Michaels Soldat ging auf eine Tür am anderen Ende des Zimmers zu. David hielt den Atem an, weil er damit rechnete, endlich die Gleichungen des Herrn Doktor zu sehen. Aber stattdessen betraten sie ein Zimmer, das wie eine Umkleide aussah. An allen vier Wänden standen dutzendweise graue Metallspinde. Michaels Soldat ging auf den nächsten Spind zu und berührte ihn mit seiner M-16. Eine
neue Waffe materialisierte sich in seinen Händen, ein Gewehr, das an der Unterseite des Laufs mit einem fetten Zylinder ausgerüstet war. Ein Granatenwerfer. David sank der Mut. Das war nicht die höchste Stufe. Es schien sich um einen zwischenzeitlichen Bereitstellungsbereich zu handeln, einen Ort, an dem man sich eine neue 218 Waffe für eine weitere Runde besorgte. »Verdammt! Wie lange geht das denn noch weiter?« »Warte einen Moment«, erwiderte Monique. »Schau dir die Buchstaben auf den Spinden an.« Jeder Spind trug einen Satz mit Schablonen gemalter Buchstaben an der Tür. Die Initialen standen eindeutig für militärische Dienstgrade: Der erste Spind war mit PVT für Private markiert, der zweite mit CPL für Corporal, der dritte mit LT für Lieutenant und so weiter. David erkannte das erste Dutzend Dienstgrade, aber je weiter er kam, desto obskurer wurden die Abkürzungen: WO/1. CWO/5, CMSAF, MGYSGT. »Sieh dir mal die Spindreihe an der gegenüberliegenden Wand an«, sagte Monique. »Der vorletzte Spind.« David erblickte die Initialen: SviA/4. »Ach du heilige Scheiße! Die Buchstaben auf dem Gameboy!« Er eilte zu dem Spind und klopfte mit dem M-16 gegen die Tür. Auf dem VRDisplay sah David, wie sich der virtuelle Granatenwerfer an seinem Gewehr bildete. Zur gleichen Zeit ordneten sich die Symbole an der Spindtür neu an. Das S bewegte sich ein kleines Stück nach links, das A/4 ebenso weit nach rechts. Dann drehte sich das VT um neunzig Grad im Uhrzeigersinn. Das Resultat war eine Gleichung: S
»P ASS
AUF !«
Er hörte wieder Schüsse. Er drehte sich gerade rechtzeitig herum, um Michaels Soldat zu Boden gehen zu sehen. Dann wurde das VR-Display rot, als wäre es mit Blut bespritzt worden. 218 Es ist ein armseliger Ersatz für Krieg, dachte Simon, als er über Guptas Schulter auf den Computerbildschirm schaute. Selbst für eine Ausbildungsübung war das Programm auf absurde Weise unrealistisch. Wenn die Soldaten niedergeschossen wurden, krümmten und wanden sie sich nicht auf dem Boden oder schrien nach ihren Müttern. Sie brachen einfach zusammen. Es war ein Spiel für Kinder, ein Spielzeug. Gupta brauchte seine Hilfe nicht; alles, was er tun musste, war, ein paar Zeichentrick-Soldaten in den Rücken zu schießen.
Nachdem Gupta seine Widersacher ausgeschaltet hatte, ging er zu dem Spind mit den merkwürdigen Symbolen auf der Tür. Indem er den Joystick manipulierte, streckte er sein Gewehr so weit aus, dass es den Spind berührte. Zunächst erschien ein Granatenwerfer an dem Gewehr, und nach ein paar Sekunden blinkte eine Nachricht auf dem Bildschirm auf: B EREIT ZUM
R UNTERLADEN ? J A ODER N EIN ? Gupta klickte J A an. Die Nachricht veränderte sich zu: L ADEVORGANG IN 0 :46 S EKUNDEN ABGESCHLOSSEN . Der Professor starrte auf den Bildschirm,
während die Zahl im Sekundentakt kleiner wurde. Er schien wie gebannt zu sein, als ob er etwas beobachten würde, das tief im Innern des Computers lauerte. »Tut mir leid, Herr Doktor«, flüsterte er. »Aber Sie hätten mich nicht warten lassen sollen.« »David? Wo bist du? Mein Bildschirm spielt verrückt!« Er konnte Moniques Stimme hören, aber er konnte nichts sehen. Das VRDisplay zeigte nur einen dicken roten Dunst, wie ein blutiger Nebel, der alles andere unsichtbar machte. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war der Anblick, wie Michaels Soldat zu Boden fiel, und als er sich dieses Bild vor sein inneres Auge rief, erinnerte er sich an etwas anderes, das er im Hintergrund erblickt hatte. Ein anderer Soldat hatte hinter Michael gestanden. Keine computergenerierte Gestalt 219 in einer schwarzen Jacke, sondern ein Soldat in einer Khaki-Uniform mit der Zahl 3 auf seinem Helm. David riss sich die nutzlose Brille herunter. Draußen vor der durchsichtigen Kugel war Monique über das Terminal gebeugt und hackte wie wild auf der Tastatur herum. »Mist!«, schrie sie. »Jemand anders greift auf den Server zu! Da wird gerade etwas runtergeladen!« Links von ihm stellte Michael in der anderen Kugel gerade seine Brille neu ein. Er schien von ihrer Niederlage weder überrascht noch enttäuscht zu sein. Nach ein paar Sekunden hob er sein Gewehr und begann innerhalb seiner Kugel wieder loszulaufen. Er fing mit einem neuen Spiel an. »Wir müssen zurück an den Anfang«, sagte David. »Wir werden einfach ...« »Dazu hast du keine Zeit!« Monique zupfte an ihren Haaren herum. »Es dauert nur noch zwanzig Sekunden.« Weil ihm keine andere Idee kam, zog David seine Brille wieder an. Der rote Dunst verzog sich mittlerweile, und er erwartete, sich auf dem großen Feld vor dem Dorf wiederzufinden. Aber als die letzten roten Nebelfetzen verschwunden waren, sah er eine Reihe von Spinden mit Buchstaben auf den Türen. Er lag auf Händen und Knien und war immer noch in dem Umkleideraum. Er war in den Körper getroffen worden, nicht in den Kopf.
Er konnte sich nicht vorwärtsbewegen, aber er konnte mit seiner Waffe zielen. Der Soldat mit der 3 auf seinem Helm stand vor dem Spind, der jetzt auf der Tür anstelle der Gleichung einen Countdown zeigte. Als die Anzeige 0:09 erreichte, zog David den Abzug durch. Simon bemerkte eine Bewegung auf dem Computerbildschirm. Etwas Kleines und Rundes prallte gegen die Spindreihe und verschwand aus dem Blickfeld. »Was war das?«, fragte er und zeigte auf den Bildschirm. 220 Gupta antwortete nicht. Er war immer noch von dem Countdown gebannt. »Irgendwas hat sich auf dem Bildschirm bewegt! Es ist nach links geflogen.« Stirnrunzelnd legte der Professor seinen Joystick nach links, wodurch der ganze Umkleideraum ins Blickfeld geriet. Ein grüner eiförmiger Gegenstand lag auf dem Boden. Simon erkannte ihn sofort. Es war eine Granate M 406 der U.S. Army. Davids Beine versagten ihm beinahe den Dienst, als er aus der Kugel hinauskam. Er war weniger als fünfzehn Minuten in der virtuellen Welt gewesen, aber er fühlte sich, als hätte er gerade Iwo Jima gestürmt. Er warf die VR-Brille und das Plastikgewehr beiseite und taumelte auf Monique zu. »Was ist passiert?«, wollte er wissen. »Haben wir es verhindert?« Sie schaute nicht hoch. Sie blieb weiter über das Terminal gebeugt, ihre Augen auf den Bildschirm gerichtet. »Warum hast du die Granate benutzt? Du musstest den Mistkerl doch nur erschießen, um die Verbindung zu unterbrechen.« »Aber wir haben den Ladevorgang unterbrochen, stimmt's? Er hat die Theorie nicht bekommen, nicht wahr?« »O ja, du hast den Ladevorgang unterbrochen. Außerdem hast du Warfighter zum Absturz gebracht und alle Programmdateien gelöscht.« Er ergriff die Kante des Schreibtischs. »Was ist mit der Datei, die die Theorie enthielt?« »Die ist verschwunden. Sauber ausgeputzt. Weil die Datei in die Software des Spiels eingebaut war, hat der Absturz des Programms sie auf Dauer unlesbar gemacht. Selbst wenn jemand versuchte die Daten auf dem Server zu retten, würde er nur Unsinn erhalten.« Ihm drehte sich der Magen um. Es war so, als würde er wieder in die Kugel zurückgehen, aber jetzt drehte sich das 220 ganze Universum um ihn herum. Die Blaupause des Kosmos, die verborgene Konstruktion der Realität - alles wegen seines Fehlers in einem einzigen Augenblick verschwunden. Endlich löste Monique ihren Blick von dem Computerbildschirm. Zu Davids Überraschung lächelte sie. »Glücklicherweise hat Dr. Kleinman einige Vorkehrungen getroffen. Er hat eine Notluke für die Datei gebaut. Unmittelbar
bevor das Programm gelöscht wurde, wurden die Daten auf einem USB-Stick gesichert.« »Was?« Auf ihrer Handfläche lag ein kleiner silberner Zylinder, der ungefähr drei Zoll lang und einen Zoll breit war. »Die Theorie ist hier drin. Oder zumindest hoffe ich, dass sie hier drin ist. Ich schnappe mir besser einen Laptop, um sicherzugehen.« David erschlaffte. Er machte zwei tiefe Atemzüge, während er auf den USB-Stick starrte. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht gewusst, wie wichtig die Theorie für ihn war. Während Monique das Büro nach einem Laptop durchsuchte, stieg Michael aus seiner Kugel. Er legte seine VR-Brille und das Plastikgewehr zurück in den Schrank und nahm dann seinen Gameboy in die Hand. Das Schlachtfeld in der virtuellen Realität zu verlassen und zu einem Gerät zurückzukehren, das mit den Daumen bedient wurde und ein Display mit einem Durchmesser von drei Zoll hatte, musste ein gewaltiger Abstieg für ihn sein, aber Michaels Miene war so ausdruckslos wie immer. Einen Augenblick später kam seine Mutter aus dem angrenzenden Büro. Mit einem angewiderten Seufzer strich sie eine Falte aus ihrer Leggings und zog das Riemchen an einem ihrer Pumps zurecht. Dann ging sie auf David zu. »Okay, wo ist der Rest von meinem Geld?« »Wo ist Mannheimer?« 221 »Der liegt auf der Couch und schläft. Nach einem Schuss ist er völlig fertig. Aber Sie schulden mir trotzdem zweihundert.« »Schon gut, schon gut.« David zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr die Scheine. »Hören Sie, wir müssen die Kaserne verlassen, bevor jemand Verdacht schöpft. Sie kommen besser mit uns.« Sie schnappte sich die Rolle Zwanziger und schob sie in den Bund ihrer Leggings. »Das ist okay. Setzen Sie mich einfach am Motel ab.« Inzwischen hatte Monique einen Laptop gefunden, ein elegantes silbernes MacBook. Bevor sie es jedoch einschalten konnte, ging David zum Fenster und nahm zwei beunruhigende Entwicklungen zur Kenntnis. Erstens war Graddicks Wagen nicht mehr neben dem Hintereingang der Infantry Hall geparkt. Und zweitens rannte ein Trupp Militärpolizisten auf das Gebäude zu. Aus der Entfernung sahen sie den virtuellen Soldaten im Warfighter ziemlich ähnlich, aber die M-16 in ihren Händen waren definitiv nicht aus Plastik. Lucille stand auf einem Exerzierplatz in Fort Benning und lieferte sich ein Wortgefecht mit einem der Lakaien des Verteidigungsministers. Der Minister hielt eine Rede auf einem Podium, das vor der Infantry Hall aufgebaut war. Eine Menge von mindestens dreitausend Soldaten und Zivilisten verteilte sich auf dem Exerzierplatz, und mehrere Hundert weitere Menschen lungerten hinter dem
Podium herum und blockierten den Haupteingang des Gebäudes. Unter dem sicherheitstechnischen Aspekt ein Albtraum - bei all diesen Menschen, die herumliefen, war es unmöglich, eine vernünftige Suche nach den Verdächtigen durchzuführen, die sich offenbar vor weniger als einer Stunde durch die Sicherheitskontrolle gemogelt hatten. Lucille wollte, dass der Minister seine Rede abkürzte, aber sein Adjutant aus dem Penta 222 gon schreckte vor dieser Idee zurück. Er war ein stämmiger Bengel Mitte zwanzig und so dumm, dass er brummte. »Diese Veranstaltung ist seit Monaten geplant«, sagte er. »Die Soldaten haben sich wirklich darauf gefreut.« »Hören Sie, hier handelt es sich um eine Frage der nationalen Sicherheit. Davon haben Sie doch schon mal gehört, oder? Nationale Sicherheit? Das heißt, es ist wichtiger als Ihre gottverdammte Veranstaltung!« Der Adjutant machte einen verwirrten Eindruck. »Sicherheit? Ich dachte, die Militärpolizei kümmert sich um die Sicherheit.« »Herrgott noch mal!« In ihrer Erbitterung griff sie in ihre Jacke und zog ihre Glock aus dem Holster. »Muss ich Sie erschießen, um Sie auf mich aufmerksam zu machen?« Aber selbst der Anblick der Pistole schaffte es nicht, seinen dicken Schädel zu durchdringen. »Bitte, Ma'am, beruhigen Sie sich. Der Minister kommt zum Ende. Er macht sich bereit, seinen Witz von dem dreibeinigen Huhn zu erzählen.« Die Militärpolizisten liefen durch den Hintereingang der In-fantry Hall und begannen die Treppe hochzusteigen. David wandte sich vom Fenster ab. »Los, wir müssen hier abhauen!«, rief er den anderen zu. »Kommt mir nach!« Er zog Michael durch den Korridor, während Monique und Elizabeth hinter ihm her polterten. Automatisch schlug er den Weg zur Vorderseite des Gebäudes ein, weg von ihren Verfolgern, obwohl er wusste, dass ein anderer Trupp höchstwahrscheinlich auch aus dieser Richtung kommen würde. Als David die Treppe über dem Vordereingang erreichte, hörte er Stimmen von unten und vermutete zuerst, dass es sich um die Rufe von übereifrigen Militärpolizisten handelte, die die Treppe hochrannten. Aber nach einem Moment hörte er Gelächter und lautes Hurrageschrei. Es klang mehr nach einer Feier als nach einer Menschenjagd. 222 Sie stürmten nach unten und kamen aus dem Treppenhaus in eine Eingangshalle voll mit Soldaten und ihren Angehörigen. Männer und Frauen in Zivilkleidung saßen an einem langen Tisch, der mit Schalen voller Kartoffelchips und Sixpacks von Colas bestückt war. Eine Art Empfang fand dort statt. Menschen schüttelten sich die Hand, erzählten Witze und aßen, was das Zeug hielt. David schlängelte sich durch die Menge hindurch, wobei er jeden Moment befürchtete, jemand könne den Alarm auslösen, aber niemand schenkte ihm oder Michael irgendwelche Beachtung. Ein paar Soldaten grinsten Elizabeth und Monique
anzüglich an, aber damit hatte es sich. In einer halben Minute waren sie draußen und schlossen sich dem Strom von Menschen an, die zu den Parkplätzen gingen. Während sie sich von dem Gebäude entfernten, sah David, wie ein alter Mann, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam, mehreren Generälen die Hand gab. Herr im Himmel, dachte er, das ist der Verteidigungsminister. David ergriff Michaels Arm etwas fester und wurde ein wenig schneller. Sie bewegten sich ungefähr eine halbe Meile mit der Menge in westlicher Richtung an einer Reihe von Parkplätzen vorbei, wo einzelne Gruppen sich auf die Suche nach ihren Wagen machten. Nach rund zehn Minuten war die Menge kleiner geworden, aber sie marschierten weiter in die gleiche Richtung, wobei sie Schildern folgten, auf denen W ESTTOR , E DDY BRIDGE stand. Sie kamen an einem Tennisplatz und an einem Spielfeld vorbei, auf dem ein Dutzend Soldaten Football spielten. David sah keine Militärpolizisten und auch sonst keine Anzeichen einer Verfolgung. Nach weiteren zehn Minuten sahen sie vor sich einen Fluss, einen gewundenen Streifen schlammigen Wassers mit bewaldeten Ufern auf beiden Seiten. Es war der Chattahoochie River, die Westgrenze von Fort Benning. Eine zweispurige Brücke führte über das Wasser, und auf dieser Seite des Flusses 223 war eine Sicherheitskontrolle. Der Schlagbaum war unten, und mehrere Wagen stauten sich dahinter und warteten darauf, den Stützpunkt verlassen zu können. Die Fahrer drückten auf die Hupe, aber die beiden Militärpolizisten standen da wie zwei Statuen. Mist, dachte David, sie haben den Laden abgeriegelt. Er dachte kurz daran, auf der Stelle kehrtzumachen, aber die beiden Wachen hatten sie vermutlich schon gesehen. Ihre einzige Hoffnung war, sich an ihnen vorbeizubluffen. Sie spazierten wie eine exzentrische Familie auf einer Wanderung bis unmittelbar vor das Tor. David winkte den Militärpolizisten zu. »Hey, Soldaten!«, rief er. »Ist das der Weg zum Campingplatz?« »Meinen Sie den Uchee Creek Campingplatz, Sir?«, erwiderte einer der beiden. »Ja, ja, genau den meine ich.« »Nachdem Sie die Brücke überquert haben, gehen Sie noch zwei Meilen in südlicher Richtung. Aber Sie können jetzt nicht über die Brücke gehen, Sir.« »Warum nicht?« »Sicherheitsalarm. Wir warten auf weitere Befehle.« »Na ja, ich bin sicher, der Alarm gilt nur für Autos. Fußgänger können durchgehen, stimmt's?« Der Militärpolizist dachte einen Moment darüber nach und schüttelte dann den Kopf. »Warten Sie einfach hier, Sir. Es wird hoffentlich nicht allzu lange dauern.« Während David und Monique nervöse Blicke wechselten, kam ein Humvee angebraust. Der Fahrer sprang aus dem Fahrzeug und rannte zu den Wachen. Er hielt ein paar Zettel in der Hand. David konnte nicht sehen, was auf ihnen stand,
aber er war bereit zu wetten, dass sein Foto irgendwo auf der Seite war. Die Militärpolizisten hatten ihnen den Rücken zugewandt, und deshalb führte David Michael, Monique und Elizabeth still um den Schlagbaum herum. Sie gingen auf die Brücke zu, die knappe dreißig Meter entfernt war. 354 »Halt!« Einer der Militärpolizisten hatte sich umgedreht. »Wo zum Teufel wollen Sie hin?« David warf einen Blick über die Schulter, blieb aber nicht stehen. »Tut mir leid, wir haben es ziemlich eilig!« Der andere Militärpolizist, der die Zettel bereits überflogen hatte, richtete seine Pistole auf ihn. »B LEIB SOFORT STEHEN , DU A RSCHLOCH !« Innerhalb von Sekunden hatten alle drei Soldaten ihre M-9 gezogen. Die Fahrer der Wagen hinter dem Schlagbaum hatten mit dem Hupen aufgehört; sie waren zu sehr damit beschäftigt, die Auseinandersetzung zu beobachten. Aber weil alle Augen entweder auf die Soldaten oder auf die Flüchtigen gerichtet waren, sah niemand die Klapperschlange, bis sie vor den Füßen der Militärpolizisten landete. Sie prallte von dem Asphalt ab, eine dicke, rostfarbene Schlange, die sich vor Schmerzen wand und ihre Giftzähne in das erste sich bewegende Ding versenkte, das sie sah, und das war zufällig die Wade eines Militärpolizistenbeins. Der Soldat schrie auf, und dann kam eine weitere Schlange durch die Luft geflogen. David schaute nach vorn und sah Graddick hinter seinem Kombi hocken, der am Ufer geparkt war, nicht weit von der Brücke. Mit einer großen Ausholbewegung warf Graddick die dritte Klapperschlange in die Richtung der Militärpolizisten, die jetzt auf die Bäume zuliefen. Dann winkte er David zu. »Kommt her, ihr Sünder!«, rief er. »Setzt euch in den Wagen!« Karen und Jonah waren in Brownsville, einem der ärmsten Viertel in Brooklyn, und folgten Gloria Mitchell über die mit Glasscherben übersäten Freiflächen einer Siedlung des sozialen Wohnungsbaus. Gloria war eine unermüdliche Reporterin; sie hatte den gesamten Tag damit verbracht, Details über den Doppelmord zu sammeln, hatte zunächst mit den Cops im lokalen Polizeirevier gesprochen und dann die Freunde 224 und Verwandten der Opfer interviewt. Um neun Uhr abends war sie immer noch beruflich unterwegs, weil sie versuchte, einen Zeugen der Schießerei aufzuspüren. Unter normalen Umständen hätte Karen nie gewagt, sich nach Sonnenuntergang in Brownsville herumzutreiben, aber merkwürdigerweise fürchtete sie sich jetzt nicht in dieser Umgebung. Die Banden von Teenagern an den Straßenecken jagten ihr kein bisschen Angst ein. Wovor sie sich dagegen fürchtete, waren die Geländewagen, die ihnen beharrlich überallhin zu folgen schienen. Als sie über einen verlassenen Spielplatz eilten, trat ein hochgewachsener Mann mit einem dicken Hals aus den Schatten. Es war schon so dämmerig, dass Karen nur eine Silhouette wahrnahm. Sie konnte sein Gesicht nicht ausmachen, aber sie
konnte sehen, dass er einen Anzug trug, und sie bemerkte, dass ein gewundenes Kabel hinter seinem linken Ohr verschwand. Karen blieb wie angewurzelt stehen und drückte Jonahs Hand. Aber Gloria, die sich vor nichts und niemandem fürchtete, marschierte weiter, bis sie direkt vor dem Agenten stand. »Hey, mein Junge, haben Sie sich verlaufen?«, fragte sie. »Nein«, war die Antwort. »Die Niederlassung des Bureau liegt am Federal Plaza, falls Sie sich nicht ganz sicher sind. In dieser Richtung.« Sie zeigte nach Westen, dorthin, wo Manhattan lag. »Was bringt Sie auf den Gedanken, dass ich beim FBI bin?« »Ihr billiger Anzug, zum einen. Und die Tatsache, dass Ihre Kumpel mir schon den ganzen Tag auf den Fersen sind.« »An Ihnen bin ich nicht interessiert. Nur an Ihrer Freundin.« »Nun ja, vergessen Sie's. Falls Sie sie festnehmen, wird die Geschichte morgen früh auf der Titelseite der New York Times stehen.« 225 Der Agent griff in sein Jackett und zog eine Pistole heraus. »Scheiß auf die Times. Ich lese die Post.« Dann zielte er auf Glorias Kopf und schoss. Karen packte Jonah und presste sein Gesicht gegen ihren Bauch, damit er es nicht sah. Ihre Beine zitterten, als der Agent einen Schritt nach vorn machte und ein vereinzelter Lichtkeil einer Straßenlaterne sein Gesicht erhellte. Seine Nase war geschwollen, und seine Stirn war fleckig von Blutergüssen, aber sie erkannte ihn trotzdem. Es war Agent Brock. FÜNFZEHN
S
imon kippte sich ein weiteres Glas Stoli hinter die Binde. Er saß im
Wohnzimmer eines bescheidenen Hauses in Knoxville, das Richard Chan und Scott Krinsky gehörte, zwei früheren Studenten Professor Guptas. Während Gupta das Telefon in ihrer Küche benutzte, goss Richard ängstlich Wodka in Simons Glas, und Scott bot ihm ein ekelhaftes Thunfisch-Sandwich an. Zunächst hatte Simon angenommen, dass die beiden Männer ein schwules Pärchen wären, aber nach seinem zweiten Drink begriff er, dass hier etwas Ungewöhnlicheres am Werk war. Richard und Scott waren Physiker am Oak Ridge National Laboratory, wo sie sich dem Bau von Ausrüstungsgegenständen zur Erzeugung hochintensiver Protonenstrahlen widmeten. Sie waren blass, schlaksig, jungenhaft und bebrillt, und sie behandelten Professor Gupta mit einer Ehrerbietung, die ans Fanatische grenzte. Positiv kam noch hinzu, dass sie ganz und gar nicht überrascht waren, als Simon und Gupta vor ihrer Haustür auftauchten. Die beiden jungen Physiker waren eindeutig Mitverschwörer, die von Gupta vor langer Zeit rekrutiert worden waren. Obwohl sie nicht sehr furchterregend aussahen, erkannte Simon in ihnen die wesentliche Qualität eines guten Soldaten: Sie würden
alles tun, was ihr Anführer befahl. Ihre Hingabe an die Sache war genauso absolut wie die eines heiligen Kriegers. Sobald Simon sein leeres Glas auf dem Beistelltisch abgesetzt hatte, sprang Richard auf und füllte es wieder. Nicht schlecht, dachte Simon, während er sich in seinem Sessel zu 226 rücklehnte. An diese Art zu leben konnte man sich gewöhnen. »Dann arbeitet ihr Herren also an der Strahlführung, korrekt? Überwacht die Protonen, während sie in dem Teilchenbeschleuniger ihre Runden drehen?« Die beiden nickten, aber keiner von ihnen sagte ein Wort. Offensichtlich war den beiden nicht allzu wohl bei dem Gedanken, mit einem russischen Söldner zu plaudern. »Das muss ein komplizierter Job sein«, fuhr Simon fort. »Dafür zu sorgen, dass all die Teilchen richtig anvisiert werden. Die idealen Bedingungen für den Zusammenprall bestimmen. Einige seltsame Dinge können passieren, wenn die Protonen gegeneinander knallen, nicht?« Richard und Scott warfen sich einen Blick zu. Ihren Mienen war eine gewisse Überraschung und auch ein bisschen Verwirrung abzulesen. Sie fragten sich wahrscheinlich, wie dieser gedungene Killer an seine Kenntnisse der Teilchenphysik geraten war. »Ja, sehr seltsam«, ergänzte Simon. »Und vielleicht sehr nützlich. Wenn man eine einheitliche Theorie hätte, die exakt festlegt, wie man die Teilchenkollisionen arrangiert, könnte man einige interessante Wirkungen erzielen, nicht wahr?« Jetzt stand Besorgnis in ihren Augen. Richard ließ fast die Flasche Stolichnaya fallen. »Es tut ... es tut mir leid«, stotterte er. »Ich verstehe nicht, wovon Sie da ...« »Keine Sorge.« Simon lachte leise in sich hinein. »Ihr Professor hat mich ins Vertrauen gezogen. Ganz zu Beginn des Einsatzes hat er mir alles über die möglichen Anwendungen der Einheitlichen Feldtheorie erzählt. Andernfalls hätte ich nicht gewusst, welche Informationen ich aus den Assistenten des Herrn Doktor herauskitzeln musste.« Trotz dieser Beteuerung blieben die beiden Physiker beunruhigt. Richard packte die Stoli-Flasche so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, und Scott rieb die Handflächen gegeneinander. Vielleicht wollten sie nichts Genau 226 es über die Methoden wissen, die ihr geschätzter Anführer einsetzte. In diesem Moment beendete Gupta sein Telefongespräch und kam wieder ins Wohnzimmer. Richard und Scott wandten ihm gleichzeitig den Kopf zu wie zwei folgsame Irische Setter, die die Augen auf ihr Herrchen richten. Der Professor belohnte sie mit einem freundlichen Lächeln, bevor er mit dem Finger auf Simon zeigte. »Kommen Sie mit. Wir müssen etwas besprechen.« Simon wartete ein paar Augenblicke, um klarzumachen, dass er kein Schoßhündchen war. Dann erhob er sich aus seinem Sessel und folgte Gupta in
die Küche. Es war eine hässliche, beengte Nische mit durchhängenden Regalen und Wandschränken. »War das Brock am Telefon?«, wollte Simon wissen. Der Professor nickte. »Er hat Swifts Frau und seinen Sohn. Jetzt fährt er so schnell er kann nach Süden. Die beiden könnten sich als nützliches Tauschobjekt erweisen.« »Damit setzen Sie voraus, dass Swift die einheitliche Theorie hat. Das wissen wir aber nicht mit Sicherheit.« »Natürlich hat er die Theorie. Reden Sie nicht so einen Unsinn.« Wieder verspürte Simon den Drang, den alten Mann einen Kopf kürzer zu machen. »Swift hat nicht nur unseren Ladevorgang unterbrochen. Er hat alles gelöscht, was auf dem Server war. Vielleicht war es von Anfang an seine Absicht, die Theorie zu vernichten. Vielleicht war es das, was Kleinman von ihm verlangt hat.« Gupta schüttelte den Kopf. »Nein, unmöglich. Das wäre das Letzte, was Kleinman gewollt hätte. Ich bin sicher, dass er Swift angewiesen hat, die Theorie zu bewahren.« »Na ja, vielleicht überlegt Swift es sich noch mal, ob er diesen Anweisungen folgen soll, sobald er die Gleichung gesehen hat.« 227 Der Professor schüttelte weiterhin den Kopf. Er machte einen völlig unbekümmerten Eindruck. »Glauben Sie mir, er hat die Theorie. Und er könnte sie nicht vernichten, selbst wenn er es wollte. Der nächste Schritt im Aufstieg der Menschheit ist unvermeidlich. Nichts kann uns daran hindern, unsere Demonstration durchzuführen.« Simon stieß ein verächtliches Schnauben aus. Die messianischen Ankündigungen Guptas konnten ihm langsam gestohlen bleiben. »Okay, nehmen wir an, dass Swift die Theorie hat. Dann müssen wir ihn noch immer vor den amerikanischen Soldaten finden.« Gupta machte eine wegwerfende Geste mit der Hand. »Das ist auch unvermeidlich. Innerhalb von ein paar Stunden werden wir wissen, wo Swift und seine Gefährten sind.« »Und wie genau wird es dazu kommen?« Der alte Mann grinste. »Meine Tochter ist bei ihnen. Sie ist metamphetaminabhängig. Und ich bin sicher, dass sie mittlerweile ein bisschen verzweifelt ist.« Auf einer abgelegenen Lichtung im Cherokee National Forest sammelte Graddick trockenes Laub und Zweige für ein Lagerfeuer. Wie sich herausstellte, war dieser Mann aus den Bergen der perfekte Führer für die Flüchtigen; das jahrelange Schmuggeln von Schlangen durch die Appalachen-Staaten hatte ihn zu einem Experten dafür gemacht, wie man den Gesetzeshütern ein Schnippchen schlägt. Nach der Flucht aus Fort Benning hatte David sich nach Mexiko oder Kanada durchschlagen wollen, aber Graddick hielt dagegen, dass zu viele von
Satans Lakaien zwischen ihnen und der Grenze stünden. Stattdessen führ er ins nördliche Alabama und steuerte seinen Kombi über die kurvenreichen Straßen von Sand Mountain. Bei Einbruch der Dunkelheit überquerten sie die Grenze nach Tennessee und erreichten die Great Smokies. 228 Graddick schien jeden Hügel und jede Senke in der Gegend zu kennen. An einer Kreuzung mit dem Namen Coker Creek fuhr er einen unbefestigten Weg hinunter und parkte hinter einem mit Kudzu überwucherten Dickicht. Dann begann er, sich um das Lagerfeuer zu kümmern. David fand die Großzügigkeit des Mannes einfach überwältigend. Sie hatten ihn erst in der vergangenen Nacht kennengelernt, und jetzt riskierte er sein Leben für sie. Obwohl David ihm kein Wort von Einstein oder der Einheitlichen Feldtheorie erzählt hatte, war sich Graddick eindeutig darüber im Klaren, dass hier ungeheure Dinge auf dem Spiel standen. Er betrachtete ihre Situation in einem religiösen Kontext: Sie waren in einen apokalyptischen Kampf verwickelt, eine Schlacht gegen eine Armee von Dämonen, die versuchte, das Königreich Gottes zu Fall zu bringen. Und damit, dachte David, lag er gar nicht so weit daneben. Die Mondsichel, die heute ein bisschen dicker war als in der vergangenen Nacht, verlieh den Bergen um sie herum einen bleichen Glanz. David saß neben Michael auf der Lichtung; der Junge hatte seinen Gameboy auf einem Baumstumpf aufgestellt. Seine Mutter schlief in dem Kombi; sie war während der langen Fahrt in die Berge immer unruhiger geworden, hatte geflucht und gezittert und verlangt, dass man sie aus dem Wagen rausließe, aber schließlich hatte sie sich beruhigt und war eingedöst. Monique hatte die Hälfte der Zeit damit verbracht, Elizabeth zu trösten, und die andere Hälfte damit, den Laptop zu studieren, den sie aus dem VKS-Labor hatte mitgehen lassen. Die gute Nachricht war, dass der USB-Stick tatsächlich einen wissenschaftlichen Aufsatz enthielt, den Albert Einstein vor mehr als fünfzig Jahren geschrieben hatte. Die schlechte, dass der Artikel auf Deutsch geschrieben worden war. Der Titel lautete »Neue Untersuchung über die Einheitliche Feldtheorie«, und David konnte ihn nur annähernd über 228 setzen - höchstwahrscheinlich so was wie A New Understanding of the Unified Field Theory. Aber weiter kam er nicht. Der Artikel enthielt Dutzende von Seiten mit Gleichungen, aber die Symbole und Zahlen und die tiefgestellten Zeichen waren für David genauso verwirrend wie die deutschen Worte, die sie umgaben. Diese Gleichungen hatten überhaupt keine Ähnlichkeit mit denen, die er in den anderen Aufsätzen Einsteins gesehen hatte. Der Herr Doktor hatte offenbar eine vollkommen neue Richtung eingeschlagen und eine ganz andere Art von Mathematik angewandt. Es war irrsinnig frustrierend: Sie hatten die Antwort in der Hand, konnten sie aber nicht interpretieren.
Monique saß jetzt auf einem grasbewachsenen Fleck in der Lichtung und starrte immer noch auf den Bildschirm des Laptops. David hatte ihr eine Zeit lang über die Schulter gesehen, aber sie beklagte sich, dass er sie in ihrer Konzentration störe, und deshalb hatte er sich zurückgezogen. Mist, dachte er, wenn er doch nur Deutsch könnte! Aber selbst wenn Deutsch seine Muttersprache wäre, hätte er immer noch Schwierigkeiten mit der Mathematik. Nein, Monique war die geeignete Person hierfür. Sie war in vielen Bereichen der Mathematik zu Hause, und sie hatte David schon gesagt, dass ihr mehrere der Gleichungen bekannt vorkamen. Nachdem Graddick ein paar Knäuel Zeitungspapier in den Holzhaufen gesteckt hatte, zündete er ihn mit einem Streichholz an. Er ging zu dem Kombi und kam mit fünf Dosen Rindfleischeintopf zurück, die er aufmachte und in die Nähe des Feuers stellte. Dann setzte er sich neben David und Michael auf den Boden. »Wir haben Glück«, sagte er und zeigte in den Sternenhimmel. »Heute Nacht wird's nicht regnen.« David nickte. Michael spielte weiter Warfighter. Graddick deutete auf den Mond, der knapp über dem östlichen Ho 229 rizont hing. »Morgen werden wir diese Pachtung einschlagen«, sagte er. »Rüber nach Haw Knob. Wir fahren auf der Smithfield Road, bis sie aufhört, und dann gehen wir den Berg hoch.« »Warum dorthin?«, fragte David. »Das ist ein gutes Versteck. Dort oben gibt's Kalksteinhöhlen, und nicht allzu weit entfernt entspringt eine Bergquelle. Und man kann meilenweit in alle Richtungen sehen, was einem einen kleinen Vorsprung gibt, wenn jemand hinter einem her ist.« »Aber was sollen wir essen? Ich meine, wenn die Dosen alle sind?« »Keine Sorge, ich kümmere mich um Nachschub. Satans Männer sind nicht auf der Suche nach mir, und deshalb kann ich kommen und gehen. Ihr könnt euch bis zum Ende des Sommers auf dem Haw Knob verkriechen. Bis dahin werden die Heiden die Jagd aufgeben, und ihr werdet es leichter haben, nach Kanada oder Mexiko oder wohin ihr auch wollt zu kommen.« David versuchte, es sich vorzustellen: wie er den Sommer mit Monique, Michael und Elizabeth in einer Kalksteinhöhle verbrachte. Der Plan schien ihm nicht nur unpraktisch -er war hoffnungslos. Egal wie lange sie sich in den Bergen versteckten, die Army und das FBI würden weiter nach ihnen suchen. Und selbst wenn sie es durch irgendein Wunder schafften, ihren Verfolgern zu entkommen und die Grenze zu überqueren, wären sie trotzdem nicht sicher. Früher oder später würde das Pentagon sie aufspüren, ob sie nun in Kanada oder Mexiko oder der Antarktis waren. Nach ein paar Minuten stand Graddick auf und ging zum Feuer, das inzwischen gut brannte. Nachdem er ein graues Taschentuch um seine Hand gewickelt hatte,
holte er die aufgewärmten Dosen und verteilte sie an David, Michael und Monique. Er gab auch ein paar Plastiklöffel 230 aus, die er im Handschuhfach seines Wagens gefunden hatte. Der Eintopf war gerade mal lauwarm, aber David aß trotzdem davon, in der Hoffnung, dass er so seine Probleme eine Zeit lang vergessen könnte. Plötzlich stand Monique jedoch vor ihm. Selbst in der Dunkelheit konnte er erkennen, dass sie aufgeregt war. Ihr Mund stand offen, und sie atmete schnell. »Ich habe was gefunden«, sagte sie. »Aber es wird dir nicht gefallen.« David setzte die Dose ab und erhob sich. Er führte Monique zu einer verkümmerten Kiefer am Rand der Lichtung, ungefähr zwanzig Fuß von Michael und Graddick entfernt. Er hatte angenommen, er würde sich in diesem Augenblick in Jubelstimmung befinden, aber stattdessen hatte ihn ein ungutes Gefühl erfasst. Der flackernde Feuerschein beleuchtete die linke Seite von Moniques Gesicht, aber die rechte Seite lag im Schatten. »Ist sie dort drin?«, fragte er. »Die Einheitliche Theorie?« »Zunächst glaubte ich das nicht. Die Gleichungen sahen wie Kauderwelsch aus, um die Wahrheit zu sagen. Aber dann habe ich mich daran erinnert, worüber wir gestern Abend geredet haben. Die Geon-Theorie.« »Meinst du, da ist etwas dran?« »Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich die Verbindung erkannte. Aber je länger ich mir die Gleichungen ansah, desto mehr kamen sie mir wie die Formeln vor, die man in der Topologie sieht. Du weißt schon, die Mathematik von Oberflächen und Formen und Knoten. Und deshalb habe ich an Geons denken müssen, an die Knoten in der Raumzeit. Hier, ich will es dir zeigen.« Monique klappte den Laptop auf und stellte sich neben David, sodass er den Bildschirm sehen konnte. Er kniff die Augen zusammen und sah eine Seite mit einem Dutzend Gleichungen, jede eine lange Kette von griechischen Buch 230 staben und seltsamen Symbolen: Mistgabeln, Pfundzeichen, Kreise mit Kreuzen darin. Es sah eindeutig wie Kauderwelsch aus. »Was zum Teufel ist das denn?« Sie zeigte auf den oberen Rand der Seite. »Das ist die Einheitliche Feldtheorie, formuliert in der Sprache der Differentialtopologie. Sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den klassischen Gleichungen der Relativität, aber sie umfasst auch die Teilchenphysik. Einstein hat festgestellt, dass alle Teilchen Geons sind. Jedes Teilchen ist eine unterschiedliche Art von Biegung in der Raumzeit, und die Kräfte sind kleine Fältchen im Stoff!« Ihre Stimme wurde lauter, und sie ergriff Davids Ärmel. Sie zog ihn näher heran, damit er sich die Gleichungen genauer ansehen konnte, aber er konnte immer noch nicht vorn und hinten unterscheiden. »Moment mal, bist du sicher, dass das hier echt ist?«
»Schau doch, schau doch hier!« Sie bewegte den Finger zum unteren Rand der Seite. »Das hier ist eine der Lösungen zu der Feldgleichung, die ein fundamentales Teilchen mit einer negativen Ladung beschreibt. Es ist ein Geon, ein winziges Wurmloch mit geschlossenen zeitgleichen Kurven. Die Lösung spezifiziert sogar die Masse des Teilchens. Erkennst du die Zahl?« Direkt unter Moniques Fingernagel stand Folgendes: M = 0,511 MeV/c2 »Herr im Himmel«, flüsterte David. »Die Masse eines Elektrons.« Obwohl die Mathematik um einiges zu hoch für ihn war, wusste er, dass eines der Kennzeichen der Theorie von Allem darin bestand, die Massen aller fundamentalen Teilchen bestimmen zu können. »Und das ist nur der Anfang. Er hat mindestens zwanzig weitere Lösungen für Teilchen mit unterschiedlichen Ladun 231 gen und Drehungen. Die meisten dieser Teilchen sind erst lange nach Einsteins Tod entdeckt worden. Er hat die Existenz von Quarks und des Tau-Leptons vorhergesagt. Und er hat Lösungen für Teilchen, die noch gar nicht gefunden worden sind. Aber du kannst dein Leben darauf verwetten, dass sie existieren.« Monique scrollte durch die Datei und zeigte ihm Seite für Seite topologische Gleichungen. Als David auf den Bildschirm des Laptops starrte, erfüllte eine wachsende Freude seine Brust. Das Einzige, was er damit vergleichen konnte, war die Hochstimmung, die er bei der Geburt von Jonah empfunden hatte. Es war der ultimative Triumph der Physik, eine klassische Theorie, die die Quantenmechanik einschloss, ein einziger Satz von Gleichungen, der alles beschreiben konnte, von der inneren Funktionsweise eines Protons bis hin zur Struktur der Galaxis. Er wandte sich von dem Monitor ab und lächelte Monique an. »Weißt du was? Das unterscheidet sich nicht allzu sehr von dem, was die Stringtheoretiker zu tun versuchen. Nur dass die Teilchen Schlaufen von Raumzeit sind anstatt Ketten von Energie.« »Es gibt noch eine Ähnlichkeit. Sieh dir mal das an.« Sie scrollte noch ein paar Seiten vor und tippte mit dem Finger auf eine Gleichung, die sich von den anderen abhob: S
Stärke jeder Kraft - in der zweidimensionalen Oberfläche dieses Raums zu erhalten ist. Also kannst du dir das ganze Universum als Hologramm vorstellen, so wie die, die du auf deinen Kreditkarten siehst.« »Warte mal einen Augenblick, ich glaube, davon habe ich schon gehört.« »Stringtheoretiker reden schon seit Jahren über dieses Prinzip, weil es eine Möglichkeit bietet, die Physik zu vereinfachen. Aber es stellt sich heraus, dass Einstein vor einem halben Jahrhundert auf diese Idee gekommen ist. Seine einheitliche Theorie ist auf dem holografischen Prinzip aufgebaut. Er hat es dazu benutzt, die ganze verdammte Geschichte des Universums zu entwerfen. Es ist im zweiten Teil des Artikels, genau hier.« Sie zeigte auf eine andere seltsam aussehende Gleichung. Daneben befand sich eine Reihe von Computergrafiken; Dr. Kleinman hatte augenscheinlich drei Skizzen reproduziert, die Einstein vor langer Zeit von Hand gezeichnet hatte. Das erste Bild zeigte ein Paar flacher Platten, die sich aufeinander zubewegten. Im zweiten Bild bogen und wellten sich die Platten, während sie zusammenstießen, und im dritten entfernten sie sich voneinander, nunmehr mit den Kratern neugeborener Galaxien vernarbt:
232 »Was sind das für Dinger?«, fragte David. »Sie sehen aus wie Stücke Aluminiumfolie.« »In der Stringtheorie werden sie Branen genannt. In den Diagrammen sehen sie zweidimensional aus, aber jede repräsentiert eigentlich ein dreidimensionales Universum. Jede Galaxie, jeder Stern und jeder Planet unseres Universums ist in einer dieser Branen enthalten. Es ist eher wie Fliegenpapier als wie Alufolie, weil fast alle subatomaren Teilchen daran festkleben. Die andere Brane ist ein völlig separates Universum, und sie bewegen sich beide durch einen größeren Raum, der Bulk genannt wird und insgesamt zehn Dimensionen hat.« »Warum stoßen sie zusammen?« »Eins der wenigen Dinge, das die Brane verlassen und durch den Bulk ziehen kann, ist die Gravitation. Eine Brane kann durch ihre Schwerkraft eine andere Brane anziehen, 232
und wenn sie kollidieren, verwinden sie sich und erzeugen Unmengen von Energie. Ich habe selbst an dieser Idee gearbeitet, weshalb ich die Diagramme sofort erkannt habe, aber nichts von dem, was ich gemacht habe, kommt dem hier auch nur nahe. Einstein hat die exakten Gleichungen für unsere Brane ausgearbeitet, und wie sie sich entwickelt hat. Seine einheitliche Theorie erklärt, wie alles angefangen hat.« »Meinst du den Urknall?« »Das ist es, was diese Diagramme zeigen. Zwei leere Branen kollidieren, und die Energie von dem Zusammenstoß erfüllt unser Universum, das sich schließlich in Atome und Sterne und Galaxien verwandelt, die alle in einer gigantischen Welle nach außen rasen.« Sie packte ihn wieder am Ärmel und schaute ihm in die Augen. »Das ist es, David. Die Lösung des Mysteriums der Schöpfung.« Verblüfft studierte er die Zeichnungen. »Aber wo ist der Beweis? Ich meine, es ist eine interessante Idee, aber ...« »Der Beweis ist hier!« Monique stieß mit dem Finger auf die Formeln unter den Diagrammen. »Einstein hat all die Beobachtungen vorhergesagt, die Astronomen in den vergangenen fünfzig Jahren gemacht haben. Die Expansionsrate des Universums, der Zerfall von Materie und Energie, es ist alles hier!« Überwältigt starrte David auf die topologischen Gleichungen. Er wünschte, er könnte sie so leicht lesen wie Monique. »Wo liegt also das Problem?«, fragte er. »Warum hast du gesagt, es würde mir nicht gefallen?« Sie holte tief Luft und scrollte zu einer weiteren Seite mit esoterischen Symbolen vor. »Es gibt noch etwas, was die Brane verlassen und sich in die zusätzlichen Dimensionen des Bulk bewegen kann. Du erinnerst dich, was ein Neutrino ist, stimmt's?« »Klar. Das ist der kleine Bruder des Elektrons. Ein Teilchen ohne Ladung mit sehr wenig Masse.« 233 »Nun ja, manche Physiker haben Vermutungen angestellt, es könnte vielleicht ein Teilchen geben, das ein steriles Neutrino genannt wird. Sie nennen es steril, weil es normalerweise mit keinem anderen Teilchen in unserem Universum in Wechselwirkung steht. Die sterilen Neutrinos fliegen durch die Extradimensionen und gehen direkt durch unsere Brane wie Wassermoleküle durch ein Sieb.« »Lass mich raten. Die einheitliche Theorie hat auch für dieses Teilchen die Gleichung.« Sie nickte. »Ja, sie steht in dem Artikel. Und die Gleichung sagt voraus, dass bei einer Verdrehung der Raumzeit unserer Brane Ausbrüche dieser Teilchen erzeugt werden können. Falls die Brane genug verzerrt ist, können die sterilen Neutrinos aus einem Teil unseres Universums hervorschießen und sich zu einem anderen Teil bewegen, indem sie eine Abkürzung durch den Bulk nehmen. Sieh dir das mal an.«
Sie zeigte auf die Reproduktion eines anderen von Einstein gezeichneten Diagramms:
David erkannte das Bild. »Das ist ein Wurmloch, stimmt's? Eine Brücke, die verschiedene Gebiete der Raumzeit miteinander verbindet?« »Ja, aber nur sterile Neutrinos können diese Art von Abkürzung nehmen. Und der einheitlichen Theorie zufolge 234 können die Teilchen Energie gewinnen, während sie durch die zusätzlichen Dimensionen ziehen. Eine ungeheure Menge Energie, falls der Neutrino-Strahl auf die richtige Weise ausgerichtet ist.« David schüttelte den Kopf. Das sah übel aus. »Was passiert, wenn die aufgeladenen Teilchen zurück in unser Universum kommen? Sagt die Theorie irgendetwas darüber?« Monique klappte den Laptop zu und schaltete ihn aus. Sie wollte David nicht die letzten Gleichungen in dem Artikel sehen lassen. »Die zurückkehrenden Teilchen können eine gewaltige Verzerrung der lokalen Raumzeit auslösen. Die Menge an freigesetzter Energie hängt davon ab, wie man das Experiment ausrichtet. Unter den richtigen Bedingungen könnte man diesen Prozess benutzen, um Wärme oder Elektrizität zu erzeugen. Aber man könnte ihn auch als Waffe einsetzen.« Ein Windstoß brachte die Nadeln der Kiefer neben ihnen zum Zittern. Obwohl die Luft immer noch warm war, begann David zu frösteln. »Dann kann man also den Punkt bestimmen, an dem die Teilchen wieder in unser Universum eintreten? Kann man den Strahl mit sterilen Neutrinos in Washington abschießen und ihn durch die zusätzlichen Dimensionen katapultieren, sodass er einen Bunker in Teheran trifft?« Sie nickte wieder. »Man müsste eine Feinabstimmung der Koordinaten des Ziels und der Stärke der Explosion vornehmen. Ein einzelner Ausbruch von sterilen Teilchen könnte ein Kernkraftwerk im Iran oder in Nordkorea zerstören, auch wenn es eine Meile unter der Erde vergraben wäre.« Jetzt wusste David, warum das FBI sie durch das halbe Land gejagt hatte. Eine solche Waffe wäre perfekt für den Kampf gegen den Terror. Das Pentagon könnte seine Feinde eliminieren, ohne Kommandotruppen oder Marschflug 234
körper einzusetzen. Und weil der Teilchenstrahl durch die zusätzlichen Dimensionen fegen würde, könnten ihm Radar, Flugabwehrgeschosse und alle anderen Abwehrmaßnahmen nichts anhaben. »Wie viel Energie kann der Strahl abgeben? Was ist die Obergrenze?« »Das ist das Problem. Es gibt keine Obergrenze. Du könntest mithilfe dieser Technologie einen ganzen Kontinent in die Luft jagen.« Sie hielt den Laptop mit ausgestreckten Armen von sich. »Aber hier kommt der schlimmste Teil: Es ist viel leichter, diese Art Waffe zu bauen, als eine Atombombe herzustellen. Du musst kein Uran für einen Gefechtskopf anreichern oder ein Raketengeschoss abfeuern, um das Ding auf den Weg zu bringen. Alles, was du brauchst, sind die Gleichungen und ein Team von Ingenieuren. Die Iraner und die Nordkoreaner könnten es ohne große Schwierigkeiten tun. Von al-Qaida ganz zu schweigen.« David wandte sich von ihr ab und starrte in das Lagerfeuer. »Scheiße«, murmelte er. »Kein Wunder, dass Einstein es nicht publizieren wollte.« »Ja, es ist ziemlich klar, dass er die Implikationen verstand. Im letzten Teil des Artikels hat er die Formeln zur Erzeugung der extradimensionalen Strahlen niedergelegt. Man müsste ein winziges Stück Raumzeit zu einem vollkommen kugelförmigen Muster verbiegen. Man könnte es vermutlich bewerkstelligen, indem man Protonen in einem Beschleunigerring zusammenstoßen lässt.« Davids Herz begann schneller zu schlagen. »Meinst du, jemand könnte diese Waffe bauen, indem er einen Teilchenbeschleuniger benutzt?« Moniques Miene verfinsterte sich noch mehr. »Die Beschleuniger in den nationalen Laboratorien sind bereits darauf angelegt, die Zahl der Teilchenkollisionen zu maximieren. Kennst du das Tevatron, den Beschleunigerring des Fermilab? Die Physiker dort können Billionen von Protonen 235 in einen Teilchenstrahl hineinstopfen, der dünner ist als ein menschliches Haar. Man müsste den Beschleuniger natürlich in genau der richtigen Weise einstellen, um die Raumzeit zu verbiegen und die sterilen Neutrinos zu erzeugen. Aber Einsteins Gleichungen würden es einem gestatten, die notwendigen Einstellungen zu berechnen.« Ihre letzten Worte hallten über die dunkle Lichtung. David warf einen nervösen Blick über die Schulter und sah, wie Graddick eine leere Eintopfdose ins Feuer warf. Dann hob der Mann aus den Bergen eine andere Dose auf, eine volle, und ging auf das Dickicht zu, neben dem er seinen Kombi abgestellt hatte. Er wollte Elizabeth wecken, um festzustellen, ob sie etwas zu Abend essen wollte. David wandte sich wieder an Monique. »Okay, wir haben zwei Möglichkeiten. Wir können den USB-Stick über die Grenze schmuggeln und Verbindung zu den Vereinten Nationen oder zum Internationalen Gerichtshof aufnehmen, irgendeiner Organisation, der man vertrauen kann, dass sie die Theorie schützt.
Oder wir können das Ding selbst verstecken. Vielleicht können wir einen besseren Ort finden als ...« »Nein, wir können sie nicht verstecken.« Monique zog den USB-Stick aus seinem Port an dem Laptop. Der kleine silberne Zylinder glänzte in ihrer Hand. »Wir müssen sie vernichten.« Davids Muskeln verkrampften sich. Er verspürte den Drang, Monique den USBStick zu entreißen. »Bist du verrückt! Das ist die Theorie von Allem!« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß, was es ist. Ich habe die letzten zwanzig Jahre mit der Arbeit an diesem Problem verbracht.« »Dann weißt du, dass wir es nicht wegwerfen können! Wir müssen es bewahren, nicht zerstören!« Monique schloss die Finger um den Zylinder. »Das ist zu 236 riskant, David. Wenn Einstein die Theorie nicht verstecken konnte, was bringt dich dann auf den Gedanken, dass du es kannst?« Er schüttelte den Kopf. »Dr. Kleinman hat mir aufgetragen, Einsteins Geschenk sicher aufzubewahren! Das waren seine letzten Worte: >Bringen Sie es in Sicherheit.«< »Glaub mir doch, ich will das nicht tun. Aber wir müssen an die Sicherheit aller denken. Die Terroristen wollen diese Theorie genauso sehr wie die Regierung, und sie waren bereits kurz davor, sie zu bekommen. Erinnerst du dich an den Soldaten in dem Warfighter-Programm, den mit der Zahl 3 auf seinem Helm?« Sie schloss ihre Finger noch fester um den USB-Stick. Während David sie beobachtete, zog eine visuelle Erinnerung von Einsteins Gleichungen vor seinem geistigen Auge vorbei. Es war immer noch Kauderwelsch für ihn, aber er erinnerte sich an mehrere Formeln. »Es ist zu spät«, sagte er. »Wir haben die Theorie gesehen. Sie ist jetzt in unseren Köpfen.« »Ich habe dir nicht alle Gleichungen gezeigt. Und mein Gedächtnis ist nicht so gut wie deins. Nachdem wir den USB-Stick zerstört haben, sollten wir uns dem FBI stellen. Sie werden uns verhören, aber sie können uns nicht zwingen, irgendwas zu sagen. Ich habe lieber mit denen zu tun als mit den Terroristen.« David verzog das Gesicht, als er an sein Verhör in dem FBI-Gebäude an der Liberty Street denken musste. »So einfach wird es nicht sein. Schau mal, warum machen wir nicht...« Ein Schrei unterbrach ihn. Es war Graddicks Stimme. Er kam zurück auf die Lichtung gerannt, schweißüberströmt und mit wildem Blick. »Sie ist nicht im Wagen!«, schrie er. »Elizabeth ist verschwunden!« 236 Verfluchte Scheiße, dachte Beth, hier gibt's ja nichts außer Bäumen! Barfuß stolperte sie über den unbefestigten Feldweg und versuchte, so schnell wie möglich zurück auf die Landstraße zu kommen. Der Wald war so dicht, dass sie die Hand kaum vor den Augen sehen konnte, und sie stieß immer wieder mit den
Zehen gegen Wurzeln und Steine. Sie hatte ihre Pumps in dem Kombi liegen lassen, und inzwischen hatte sie sich die Fußsohlen an allen möglichen Stellen aufgerissen, aber das war ihr egal. Was sie im Moment brauchte, war ein großer Schuss, und obwohl sie dreihundert Dollar in ihrer Hose stecken hatte, würde sie hier in dem Wald mit absoluter Sicherheit keinen Dealer finden. Endlich sah sie weiter vorn Licht, das durch die Blätter funkelte. Sie sprintete darauf zu und fand sich auf der Route 68 wieder, einer einspurigen Landstraße, die schwach im Mondschein schimmerte. Okay, dachte sie, damit wären wir wieder im Geschäft. Früher oder später würde ein geiler alter Bursche vorbeifahren. Sie schlug sich mit der flachen Hand den Schmutz von den Füßen, schob sich die Haare aus der Stirn und steckte ihr T-Shirt in die Hose, damit sich ihre Brüste besser darunter abzeichneten. Aber die Landstraße war leer. Nicht ein einziges Auto. Nach zehn Minuten begann sie die Straße entlangzugehen, in der Hoffnung, eine Tankstelle zu finden. Es war nicht sehr kalt, aber ihre Zähne fingen an zu klappern. »Scheiße!«, schrie sie die Bäume an. »Ich brauche einen verdammten Schuss!« Aber alles, was sie zur Antwort bekam, war das wahnsinnige Schnarren der Zikaden. Beth stand kurz vor dem Zusammenbruch, als sie um eine Kurve kam und ein langes, niedriges Gebäude erblickte. Es war eine kleine Ladenzeile - ein Geschäft mit Geschenkartikeln, ein Postamt, ein Laden mit Gasflaschen. Na also, dachte sie, endlich ein Zeichen von Zivilisation! Jetzt brauchte sie nur noch einen LkwFahrer, der sie bis zur nächsten Stadt mit 237 nahm. Aber während sie auf das Gebäude zurannte, bemerkte sie zu ihrer Enttäuschung, dass alle Geschäfte geschlossen waren und kein Auto auf dem Parkplatz stand. Plötzlich war ihr schlecht, und sie griff sich an den Bauch. Und dann sah sie es, direkt vor dem Postamt: ein Münztelefon. Zunächst stand sie da wie gelähmt. Sie kannte eine Nummer, die sie anrufen konnte, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Von allen Menschen auf der Welt war dies der letzte Dreckskerl, mit dem sie sprechen wollte. Aber er hatte ihr vor langer Zeit gesagt, dass sie ihn in einem Notfall immer anrufen konnte. Beth ging zu dem Telefon. Mit zitternden Fingern wählte sie die Vermittlung und gab die Nummer für ein R-Gespräch an. Nach einer kurzen Pause ging der Typ an den Apparat. »Hallo, Elizabeth, meine Liebe. Was für eine angenehme Überraschung.« Jonah war Gott sei Dank schließlich eingeschlafen. Während der vergangenen drei Stunden hatte Karen ihm dabei zugesehen, wie er gegen die Kordeln ankämpfte, mit denen seine Füße und Hände zusammengeschnürt waren. Brock, dieses Ungeheuer, hatte auch einen Knebel über Jonahs Mund gebunden, um die Schreie des Jungen zu dämpfen, und das hatte ihn natürlich noch verzweifelter gemacht. Karen war auch gefesselt und geknebelt, aber sie konnte fühlen, wie ihr Sohn zitterte, während er neben ihr auf dem Boden von Brocks Van lag. Ihre
größte Qual war, dass sie ihn nicht trösten, ihn nicht in die Arme nehmen, ihm nicht zuflüstern konnte: »Es ist schon okay, es wird alles wieder gut.« Sie konnte nichts anderes tun, als seine Stirn mit ihrer zu berühren und zu versuchen, durch den feuchten Lappen über ihrem Mund ein beruhigendes Geräusch zu machen. Irgendwann um Mitternacht herum, nachdem sie mindestens zweihundert Meilen zurückgelegt hatten, hörte Jonah 238 auf zu schreien. Seine Erschöpfung wurde stärker als sein Schrecken, und er dämmerte ein, während sein nasses Gesicht sich an den Hals seiner Mutter presste. Sobald er eingeschlafen war, drehte sich Karen auf die Seite, sodass sie einen kurzen Blick durch die Windschutzscheibe des Vans werfen konnte. Sie entdeckte ein Straßenschild: A USFAHRT 31 5, W INCHESTER. Sie waren bereits in Virginia und fuhren auf dem 1-81 nach Süden. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hinfuhren, aber sie war bereit, eine Menge Geld darauf zu setzen, dass es nicht die FBI-Zentrale war. Brock saß am Steuer und aß Kartoffelchips aus einer Großpackung und hörte eine Wiederholung der Rush Limbaugh Show. Selbst sein Hinterkopf war hässlich mit den rosafarbenen Flecken unter den Haaren und hinter den Ohren. Sie schloss einen Moment lang die Augen und rief sich das kalte Lächeln auf dem Gesicht des Agenten ins Gedächtnis, nachdem er Gloria Mitchell erschossen und seine Pistole auf Jonah und Karen gerichtet hatte. Dann schlug sie die Augen wieder auf und starrte ihn an, richtete all ihre schweigende Wut auf den hässlichen Mistkerl. Du bist tot, flüsterte sie in ihren Knebel. Bevor das hier vorbei ist, bringe ich dich um. Entrüstet schlug Lucille mit der Faust gegen eine der großen durchsichtigen Kugeln im Versuchslabor der Abteilung für Virtuelle Kampf-Simulation. Nachdem ein Team von Computerexperten des Verteidigungsministeriums sechzehn Stunden damit verbracht hatte, die Server und Terminals des Labors auseinanderzunehmen, waren die Herren gerade zu dem Schluss gekommen, dass die in der Kriegsspiel-Software gespeicherten Daten unwiederbringlich verloren waren. Es war jetzt acht Uhr morgens, und Lucille war so wütend, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Die Army hatte die Suche nach den Verdächtigen gründlich vermasselt; nachdem er sie vom Stützpunkt hatte entkommen lassen, hatte der Standort 238 kommandant zwei Stunden gewartet, bevor er die Staatspolizei in Georgia und Alabama alarmiert hatte. Die Delta Force hatte Kontrollpunkte an einigen der größeren Highways eingerichtet, die aus Columbus herausführten, aber mindestens die Hälfte der Straßen in der Umgebung waren unbewacht geblieben. In Wahrheit sah es schlicht und einfach so aus, dass sie nicht genug Soldaten hatten. Die Army hatte so viele Soldaten in den Irak geschickt, dass sie nicht mal mehr ihren eigenen Hinterhof verteidigen konnte.
Lucille wandte sich von den Kugeln ab und ließ sich in einen Sessel fallen. Während die Computerexperten des Pentagon ihre Sachen zusammenpackten, grub sie tief in ihrer Hosentasche und fand eine Packung Zigaretten. Glücklicherweise waren noch zwei Kippen darin. Sie zog eine hervor und begann nach ihrem Zippo zu suchen, konnte es aber weder in ihrer Hose noch in ihrer Jacke finden. Herrgott noch mal, was zum Teufel ist mit dem Ding passiert? Es war ihr Lieblingsfeuerzeug. »Verdammt noch mal!«, rief sie, und die Computerexperten zuckten zusammen. Sie wollte sich gerade entschuldigen, als Agent Crawford in das Labor kam, der so arrogant wie immer aussah. Er marschierte bis zu ihrem Sessel und beugte sich vor, um ihr ins Ohr flüstern zu können. »Es tut mir leid, dass ich Sie unterbreche, Ma'am, aber ich habe etwas aus Washington.« Lucille runzelte die Stirn. »Was ist denn jetzt? Möchte der Verteidigungsminister, dass das Marine Corps den Fall übernimmt?« Crawford hielt ein digitales Aufnahmegerät im Taschenformat hoch. »Jemand hat eine Nachricht auf Ihre Mailbox in der Zentrale gesprochen. Einer von den Kollegen in der Verwaltung hat sie an mich weitergeschickt.« Sie richtete sich in ihrem Sessel auf. »Sind sie wieder gesichtet worden? Hat jemand einen der Verdächtigen erkannt?« 239 »Nein, viel besser.« Grinsend wies er den Weg zu einem Raum, der an das Büro angrenzte. »Gehen wir nach nebenan, damit ich es Ihnen vorspielen kann.« Lucille sprang auf und folgte Crawford. Frische Energie durchpulste ihre müden Glieder. Crawford schloss die Tür zu dem Büro. »Ich nehme an, Sie werden die Stimme wiedererkennen«, sagte er. Er drückte einen Knopf an dem digitalen Aufnahmegerät, und nach ein paar Sekunden begann es, die Nachricht abzuspielen. Hallo, Lucy. Hier spricht David Swift. Ich entnehme den Zeitungen, dass Sie auf der Suche nach mir sind. Ich vermute, Sie wollen das Gespräch fortsetzen, das wir in New York begonnen haben. Ich bin in den vergangenen beiden Tagen ziemlich beschäftigt gewesen, aber ich glaube, ich kann Ihnen heute Morgen ein bisschen Zeit einräumen. Ich habe mein Handy eingeschaltet, damit Sie mich finden können. Ich habe nur eine Bitte: Bringen Sie keine Soldaten mit. Falls ich einen Hubschrauber oder einen Humvee sehe, werde ich das Päckchen pulverisieren, das ich in Fort Benning mitgenommen habe. Ich bin bereit zur Zusammenarbeit, aber ich will keine schießwütigen Elitesoldaten sehen, die ihre Waffen auf mich richten. Verstehen wir uns? SECHZEHN
D
ie Gebirgskette der Great Smokies verdankte ihren Namen den
Wasserdämpfen, die von ihren mit Bäumen bedeckten Hängen aufstiegen.
Verbunden mit den vom Kiefernwald verströmten Kohlenwasserstoffen verdichtete sich der Dampf normalerweise zu einem rauchigen blauen Dunst, der die zerklüftete Landschaft einhüllte. Aber an diesem Morgen hatte eine steife Brise den Nebel vertrieben, und David konnte meilenweit sonnenbestrahlte Hügel und Täler sehen, die sich wie eine große, krumpelige Decke bis zum Horizont erstreckten. Er stand auf dem Gipfel des Haw Knob und schaute auf eine einspurige Landstraße hinab, die sich über den steilen Osthang wand, ungefähr sechshundert Fuß weiter unten. Bislang waren noch keine schwarzen Geländewagen auf der Straße zu sehen gewesen, aber es war noch früh. Das FBI brauchte ein wenig Zeit, um die GPS-Koordinaten seines Mobiltelefons zu erhalten, die zum nächsten Funkturm gesendet worden waren, als er das Ding eingeschaltet hatte. Und dann mussten die Agenten natürlich ihren Angriffsplan formulieren und ihre Einsatzteams zusammenstellen. Vom Gipfel aus hatte David einen ausgezeichneten Blick auf den Weg, den die Agenten höchstwahrscheinlich nehmen würden, einen Pfad, der ungefähr eine halbe Meile weiter südlich an der Landstraße seinen Anfang nahm. Er würde die Männer lange, bevor sie eintrafen, kommen sehen. Graddick hatte seinen Kombi auf einer unbefestigten Straße ein paar Meilen weiter westlich abgestellt. Er hatte sie 240 zum Haw Knob geführt und plante, sich zu seinem Wagen zurückzuziehen, bevor die Agenten zuschlugen, aber jetzt, da der Zeitpunkt näher rückte, schien er ungern aufzubrechen. Er stand vor Michael, bedeckte mit seinen großen Händen den Kopf des Jungen und murmelte unverständliche Worte, vermutlich einen Segen. Die Batterien in Michaels Gameboy hatten schließlich vor ein paar Stunden ihren Geist aufgegeben, aber der Teenager hatte diese Wendung der Dinge mit Gleichmut akzeptiert, und es schien ihm deswegen sogar besser zu gehen: Er machte einen wacheren Eindruck als sonst, wandte sich hierher und dorthin, völlig unbeeindruckt von dem Umstand, dass seine Mutter nicht mehr bei ihnen war. Zwischenzeitlich schaute Monique David besorgt an und wartete darauf, dass er das Kommando gab. Obwohl sie den Laptop bereits entsorgt hatten, indem sie seine zertrümmerten Einzelteile in den Tellico River warfen, besaß sie immer noch den USB-Stick. David hatte sich den größten Teil der vergangenen Nacht mit der Entscheidung herumgequält. Die Einheitliche Feldtheorie war eine der größten Errungenschaften der Wissenschaft, und ihre Gleichungen zu vernichten, schien ein Akt der Willkür zu sein, ein Verbrechen gegen die Menschheit. Aber Elizabeths Verschwinden hatte ihnen klargemacht, dass sie sich nicht für immer verstecken konnten. Früher oder später würde irgendetwas anderes schiefgehen, und die Soldaten würden sie finden. Dann hätte das Pentagon die einheitliche Theorie, und nichts auf der Welt würde sie daran hindern, sie einzusetzen.
Innerhalb weniger Jahre würde die Army Vorrichtungen bauen, mit denen man sterile Teilchen in die zusätzlichen Dimensionen abschießen und jedes Terroristenversteck im Nahen Osten zerstören könnte. Die Generäle wären vielleicht in der Lage, die Theorie eine Zeit lang für sich zu behalten, ihre neue Geheimwaffe im Kampf gegen den Terror. Aber keine Waffe kann lange geheim blei 241
ben. Irgendwann würde sich das Wissen bis nach Peking und Moskau und Islamabad verbreiten, und die Saat für die Vernichtung der Welt wäre gelegt. Nein, das konnte David nicht zulassen. Er musste das Dr. Kleinman gegebene Versprechen brechen und die letzten Spuren der Theorie eliminieren. Bis jetzt hatte er sich diesem unwiderruflichen Schritt widersetzt, aber er konnte ihn nicht länger aufschieben. Er trat zu einer gezackten grauen, halbkreisförmigen Felsnase, die aus dem Gipfel herausragte wie eine riesige Tiara. Er griff über den Felsvorsprung und hob einen losen Brocken Quarzgestein mit einem sich verjüngenden Ende auf, der in seine Hand passte. Ein Steinwerkzeug, dachte er, etwas, das ein prähistorischer Höhlenbewohner hätte benutzen können. Dann wandte er sich an Monique: »Okay, ich bin so weit.« Sie kam zu ihm und legte den USB-Stick auf den Felsvorsprung, der nahezu flach war. Ihr Gesicht war angespannt, fast starr. Sie presste die Lippen so fest zusammen, dass David sich einbildete, sie versuche, nicht zu schreien. Es musste entsetzlich für sie sein, genau das aufzugeben, nach dem sie fast ihr ganzes Leben lang gesucht hatte. Und trotzdem war es ihre Entscheidung. Falls Einstein persönlich fünfzig Jahre in die Zukunft und den schrecklichen Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts hätte sehen können, würde er genau das Gleiche getan haben. David hob den schweren Stein. Als er ihn über dem USB-Stick in der Schwebe hielt, schaute er noch einmal auf die blendend grünen Berge um sie herum, gekrümmt und gebogen in unzähligen Formen wie die Knitterfalten der Raumzeit. Dann schwang er den Arm nach unten und schmetterte den Stein so fest er konnte gegen den silbernen Zylinder. Das Plastikgehäuse zersprang, und die Platine darin zerbrach in ein Dutzend Stücke. David zielte mit dem zweiten Hieb direkt auf den Speicherchip, und das Silikon zerfiel in Hunderte von schwarzen Splittern, von denen jeder so klein 241 war wie eine Bleistiftspitze. Er hieb weiter auf das Ding ein, bis der Chip zu Staub geworden war und die ihn umgebenden Stifte, Schaltungen und Kondensatoren in ein Haschee von Metallflöckchen verwandelt worden waren. Dann schaufelte er den Schrott in seine Hand und warf ihn über den Rand des östlichen Abhangs vom Haw Knob. Der starke Wind ergriff den Staub und verstreute ihn über dem Kiefernwald.
Monique zwang sich zu einem Lächeln. »Das wäre das. Zurück zum Reißbrett.« David schleuderte den Stein den Abhang hinunter und ergriff ihre Hand. Ganz plötzlich überkam ihn eine seltsame Mischung aus Gefühlen, eine Kombination von Traurigkeit und Mitleid, Dankbarkeit und Erleichterung. Er wollte Monique für alles danken, was sie getan hatte, dafür, dass sie mehr als tausend Meilen an seiner Seite zurückgelegt hatte, dass sie ihn x-mal gerettet hatte. Aber anstatt die Worte auszusprechen, hob er impulsiv ihre Hand an die Lippen und küsste die braune Haut zwischen ihren Knöcheln. Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu, überrascht, aber nicht verärgert. Dann entdeckte sie etwas über Davids Schulter, und wieder machte sich Anspannung in ihrem Gesicht bemerkbar. Er drehte sich um und sah einen Konvoi von schwarzen Geländewagen aus südöstlicher Richtung auf der Landstraße näher kommen. Er trat von dem Abhang zurück und zog Monique hinter die Felsnase. »Kommt hier herüber!«, rief er Graddick zu, der Michael sofort in den Schatten des Felsvorsprungs zerrte. Graddick kniete sich auf die Erde, lugte über den Vorsprung und machte ein finsteres Gesicht. »Das scharlachrote Tier!«, zischte er. »Voller Abscheulichkeiten!« Die Wagen wurden langsamer, als sie sich dem Beginn des Kletterpfads näherten. Die Agenten hatten offenbar die topografischen Karten studiert und herausgefunden, auf welchem Weg man den Gipfel am schnellsten erreichen konnte. 242 Davids Plan war es, in ihrem Versteck zu bleiben, während das Einsatzteam auf dem Pfad näher kam, damit die FBI-Männer nicht in Versuchung kämen, aufs Geratewohl auf sie zu schießen; sobald die Agenten in Hörweite wären, würde er durch einen Schrei ihren Aufenthaltsort bekannt geben. Dann würde der Anführer des Teams sie vermutlich auffordern, langsam mit erhobenen Händen herauszukommen. Es schien ihm die sicherste Methode, sich zu ergeben. Natürlich wären die Agenten nicht besonders glücklich, wenn sie vom Schicksal der einheitlichen Theorie erführen. Aber daran war nichts zu ändern. Während die Geländewagen an der Straßenböschung abgestellt wurden, wandte sich David an Graddick. Er erkannte mit einiger Verspätung, dass er den Vornamen des Mannes nicht erfahren hatte. »Ah, Bruder? Es wird Zeit, dass Sie aufbrechen.« Voller Wut starrte Graddick auf die Geländewagen. Die Wagentüren öffneten sich eine nach der anderen, und die Männer in den grauen Anzügen strömten heraus. »Ja, sie sind so zahlreich wie der Sand des Meeres«, rezitierte er. »Aber das Feuer wird vom Himmel herabfallen und sie verzehren!« David begann, sich Sorgen zu machen. Es gab keinen guten Grund für Graddick, noch länger dazubleiben. Das FBI kannte seinen Namen nicht. Wenn er jetzt ginge, konnte er ungeschoren davonkommen. »Hören Sie mal, Bruder. Wir
müssen Caesar geben, was des Caesars ist. Aber Ihr Platz ist die Wildnis, verstehen Sie? Sie müssen jetzt gehen.« Der Mann schnitt eine Grimasse. Er wünschte sich vermutlich, er hätte noch ein paar Klapperschlangen, die er auf die Agenten werfen könnte. Aber einen Augenblick später ließ er seine Hand auf Davids Schulter fallen. »Ich werde gehen, aber nicht weit. Falls es irgendwelche Schwierigkeiten gibt, komme ich zurück.« 243 Bevor er ging, hob er seine Hand an Davids Stirn und sprach noch einen unverständlichen Segen. Dann drehte er sich um, flitzte den westlichen Hang von Haw Knob hinunter und verschwand in den dichten Schatten unter den Kiefernzweigen. Die FBI-Agenten marschierten inzwischen im Gänsemarsch den Wanderweg hoch. Der Pfad war steil und felsig, sodass einige Männer genötigt waren, auf allen vieren zu klettern. David schätzte, dass sie noch zehn Minuten entfernt waren. Er duckte sich hinter den Vorsprung und schaute nach Michael, der in aller Ruhe die parallelen Brechungen in dem Felsgesims studierte und sich der herannahenden Gefahr gar nicht bewusst war. Um ehrlich zu sein, machte sich David jedoch mehr Sorgen um Monique. Weil sie die Expertin in theoretischer Physik war, würden die Agenten sie am schärfsten verhören. Er ergriff wieder ihre Hand und drückte sie. »Sie werden uns für die Verhöre trennen. Vielleicht werde ich dich eine Zeit lang nicht sehen.« Sie lächelte und sah ihn verschmitzt an. »Ach, da wäre ich mir nicht so sicher. Vielleicht laufen wir uns in Guantänamo über den Weg. Ich hab gehört, die Strände dort sollen schön sein.« »Hab keine Angst vor ihnen, Monique. Sie befolgen nur ihre Befehle. Sie werden nicht...« Sie lehnte sich gegen ihn und drückte ihm den Zeigefinger auf die Lippen. »Schhh, hör auf, dir Sorgen zu machen, okay? Sie können mir nicht wehtun, weil ich nichts zu sagen habe. Ich hab die Gleichungen schon wieder vergessen.« Er glaubte ihr nicht. »Das kannst du deinem Friseur erzählen.« »Das ist die Wahrheit. Ich bin immer schon gut darin gewesen, Dinge zu vergessen.« Ihre Miene wurde ernst. »Ich bin an einem der beschissensten Orte in Amerika aufgewachsen, an einem Ort, der dich normalerweise fürs Leben zeich 243 net. Aber ich hab das alles vergessen, und jetzt bin ich Professorin in Princeton. Vergessen kann ganz nützlich sein.« »Aber gestern Abend hast du ...« »Ich kann mich nicht mal mehr an den Titel des Artikels erinnern. Irgendwas mit Untersuchung? Ich weiß noch, dass er deutsch war, aber mehr auch nicht.« Michael unterbrach seine Prüfung der Gesteinsformation und drehte sich zu Monique um. »>Neue Untersuchung über die Einheitliche Feldtheorie<«, sagte er in fehlerlosem Deutsch.
David starrte den Jungen an. Woher kannte er den Titel von Einsteins Artikel? »Was hast du gesagt?« »>Neue Untersuchung über die Einheitliche Feldtheorie<«, wiederholte er. Dann drehte er sich wieder zu dem Felsvorsprung um und setzte seine Inspektion der Brechungsmuster fort. Monique hob die Hand zum Mund und schaute David an. Sie dachten beide an das Gleiche. Gestern Nacht hatte Michael keinen Blick auf den Laptop geworfen, also musste er den Titel woanders gesehen haben. David packte den Jungen an den Schultern. Er versuchte sanft zu sein, aber seine Hände zitterten. »Michael, wo hast du diese Wörter gesehen?« Der Junge hörte die Angst in Davids Stimme. Seine Augen wichen nach links aus, um jeden Blickkontakt zu vermeiden. David musste an die mentalen Meisterleistungen des Teenagers denken, wie er sich ganze Telefonbücher eingeprägt hatte. Herr im Himmel, dachte er, wie viel wusste der Knabe wohl? »Bitte, Michael, das ist wichtig. Hast du die Datei gelesen, während du Warfighter gespielt hast?« Michaels Wangen färbten sich rosa, aber er antwortete nicht. David griff ein wenig fester zu. »Hör mir zu! Hast du die Datei mal von dem Server runtergeladen? Vielleicht vor langer Zeit, als du noch bei deiner Mutter gewohnt hast?« 244 Er schüttelte den Kopf in kurzen Zuckungen, als wenn er vor Kälte zitterte. »Es war ein sicherer Platz! Hans hat mir gesagt, es wäre ein sicherer Platz!« »Wie viel davon hast du gelesen? Wie viel, Michael?« »Ich hab's nicht gelesen!«, schrie er. »Ich hab's geschrieben! Ich hab alles hingeschrieben und dann auf den Server getan! Hans hat mir gesagt, es wäre ein sicherer Platz!« »Was? Ich dachte, Kleinman hätte die Theorie dort untergebracht.« »Nein, er hat dafür gesorgt, dass ich sie auswendig lerne! Und lass mich jetzt los!« Der Junge versuchte sich aus seinem Griff herauszuwinden, aber David hielt ihn fest. »Was meinst du? Hast du die ganze Theorie auswendig gelernt?« »Lass mich in Ruhe! Ich muss dir gar nichts sagen, wenn du den Schlüssel nicht hast!« Dann befreite er seinen Arm mit einem kräftigen Ruck aus Davids Griff und boxte ihn in den Bauch. Es war ein guter, kräftiger Schlag, so fest, dass David nach Luft schnappte, das Gleichgewicht verlor und auf dem Rücken landete. Der breite blaue Himmel schien sich um ihn zu drehen. Und wie er da auf der nackten Erde lag, zog eine Reihe von Zahlen langsam vor seinen Augen vorbei. Es waren die sechzehn Ziffern, die Dr. Kleinman auf seinem Sterbebett geflüstert hatte, die Sequenz, die er den »Schlüssel« genannt hatte. Die ersten zwölf waren die Koordinaten des Robotics Institute an der Carnegie Mellon; die letzten vier waren der Nebenanschluss von Professor Guptas Büro. Aber David erinnerte sich jetzt,
dass der Nebenanschluss nicht Guptas Telefon war - es war die Nummer für den Empfangsbereich, den Schreibtisch, an dem Michael gesessen hatte. Die Wahrheit traf David wie ein Keulenschlag. Kleinmans Zahlenfolge wies nicht auf Amil Gupta hin. Sie wies auf Michael hin. 245 David lag mehrere Sekunden bewegungslos da. Monique beugte sich über ihn und schüttelte ihn am Arm. »Hey? Alles in Ordnung?« Er nickte. Während er noch gegen seine Benommenheit ankämpfte, kroch er zu dem Felsvorsprung zurück und schaute über den Rand. Die Agenten waren nur noch ein paar hundert Meter entfernt und eilten das letzte Stück des Pfads hoch. Wahrscheinlich hatten sie Michaels Schrei gehört und beeilten sich nun, um festzustellen, was er zu bedeuten hatte. Der Teenager hockte vor dem Felsvorsprung und starrte auf den Boden. David berührte ihn nicht. Stattdessen wandte er die gleiche Technik an, die Elizabeth benutzt hatte, um von dem Jungen Telefonnummern zu bekommen: Er schnalzte unter Michaels Nase mit den Fingern. Dann sagte David die Zahlen auf, die Dr. Kleinman ihm mitgegeben hatte: »Vier, null ... zwei, sechs ... drei, sechs ... sieben, neun ... fünf, sechs ... vier, vier ... sieben, acht, null, null.« Michael schaute hoch. Seine Wangen waren immer noch rosafarben, aber seine Augen waren ruhig. >»Neue Untersuchung über die Einheitliche Feldtheorie<«, begann er. »Die allgemeine Relativitätstheorie war bisher in erster Linie eine rationelle Theorie der Gravitation und der metrischen Eigenschaft des Raums ...« Es war der Text von Einsteins Artikel, gesprochen in einem deutschen Akzent, der genauso klang wie der von Dr. Kleinman. Der alte Physiker hatte ein äußerst raffiniertes Versteck gefunden. Michael konnte problemlos die ganze Theorie auswendig lernen, aber anders als ein Wissenschaftler wäre er nie der Versuchung ausgesetzt, an den Formeln zu arbeiten oder mit Kollegen darüber zu sprechen, weil er kein einziges Wort oder Symbol davon verstand. Und unter normalen Umständen käme niemand im Traum auf die Idee, im Kopf eines autistischen Teenagers nach den Glei 245
chungen zu suchen. Aber jetzt waren die Umstände alles andere als normal. David packte Monique am Arm. »Hörst du das? Er kennt die ganze verdammte Theorie! Falls die FBI-Typen uns erwischen, werden sie den Jungen verhören, und sie werden todsicher rausfinden, dass er irgendwas versteckt.« Während Michael damit fortfuhr, die Theorie herunterzurasseln, hörte David ein Geräusch, das ihm bekannt vorkam. Er spähte wieder über den Rand des Felsvorsprungs und sah ein Paar Blackhawk-Hubschrauber über der Landstraße schweben. Er spürte, wie ihn Panik ergriff, holte sein Handy aus der Tasche und warf es auf den Boden. Dann zog er Monique und Michael auf die Beine. »Kommt mit!«, rief er. »Wir müssen machen, dass wir hier wegkommen!«
Dieser gottverdammte Colonel Tarkington, dachte Lucille, während sie den Pfad hochrannte. Der Kommandant der Delta Force hatte versprochen, seine Soldaten in Reserve zu halten, aber jetzt waren zwei Hubschrauber über dem Horizont aufgetaucht und waren von jedem im Umkreis von fünf Meilen gar nicht zu übersehen, sodass ihr Team zum Gipfel des Haw Knob sprinten musste, bevor die Verdächtigen verscheucht wurden. Das letzte Stück des Pfads war eine steile, glitschige Rutschbahn, aber Lucille stürmte hoch, ohne sich die Knöchel zu brechen, und kam zu einem großen grauen Felsvorsprung, der mitten in einer mit Gras bewachsenen Lichtung stand. Ein Dutzend ihrer Agenten schwärmten nach links und nach rechts aus und zielten mit ihren Glocks in alle möglichen Richtungen. Mit ihrer eigenen Pistole in den Händen schlich sich Lucille an den Rand des Felsvorsprungs. Niemand versteckte sich dahinter. Dann ließ sie ihre Blicke über den westlichen Abhang des Bergs gleiten und entdeckte drei Gestalten zwischen den Kiefern. 246 »Sofort stehen bleiben!«, schrie sie, aber natürlich blieben die drei nicht stehen. Sie drehte sich zu ihren Agenten um und zeigte auf den Wald. »Los, lauft hinterher! Sie sind direkt vor uns!« Die jungen Männer rasten den Hang hinunter, doppelt so schnell wie Lucille. Das Gefühl bevorstehender Erleichterung erfüllte sie: So oder so läge dieser Auftrag bald hinter ihr. Aber als das Einsatzteam den Waldrand erreichte, stieß Agent Jaworsky plötzlich einen Schrei aus und stolperte zu Boden. Die anderen Männer blieben abrupt stehen. Einen Augenblick später sah Lucille, wie ein faustgroßer Stein aus Richtung der Bäume durch die Luft flog und Agent Keller an der Stirn traf. »Passt auf!«, schrie sie. »Da steckt jemand in den Bäumen.« Die Agenten kauerten sich ins Gras und schössen wie wild los - planlos und ungezielt. Die Schüsse hallten von dem Abhang wider, und Kiefernnadeln fielen haufenweise von den Zweigen, aber abgesehen davon sah Lucille nichts, was sich im Wald bewegte. Scheiße, dachte sie, das ist lächerlich! Das ganze Einsatzteam steckte fest, weil irgendjemand zwei Steine geworfen hatte! Sie schrie: »Feuer einstellen!«, aber bei dem Lärm konnte niemand sie hören, und deshalb rannte sie über die Lichtung. Bevor sie allerdings ihre Männer erreichten kamen die Hubschrauber der Delta Force über den Hügel. Die Blackhawks flogen niedrig, in einer Höhe von nur etwa zwanzig Fuß, über die Lichtung. Beide Hubschrauber nahmen eine Position über den am Boden kauernden Agenten ein und richteten sich parallel zum Waldrand aus. Dann eröffneten die Richtschützen mit ihren Maschinengewehren M-240 das Feuer. Das Sperrfeuer, dessen Kugeln Äste von den Kiefern trennten und Rinde von den Stämmen sprengten, dauerte 246
ungefähr eine Minute. Die Agenten auf der Lichtung warfen sich bäuchlings zu Boden und hielten sich die Ohren zu. Lucille tastete nach ihrem Sprechfunkgerät, aber sie wusste, es war hoffnungslos: Die Idioten waren nicht mehr aufzuhalten. Schließlich sah sie, wie ein großer Körper aus einem der Bäume fiel. Er prallte gegen einen unteren Ast und landete mit einem Plumps auf dem Waldboden. Die Maschinengewehre verstummten, und die Agenten liefen auf einen schweren, bärtigen Mann zu, dessen Brust von den Acht-Millimeter-Geschossen aufgerissen worden war. Lucille schüttelte den Kopf. Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war. Monique verlor David und Michael kurz nach Beginn der Schießerei aus den Augen. Während die Glocks hinter ihr dröhnten und die Kugeln über ihren Kopf pfiffen, rannte sie blindlings den bewaldeten Abhang hinunter, sprang über Wurzeln, Steinhaufen und kleine Hügel und vergaß alles andere, außer der Notwendigkeit, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Trupp der FBI-Agenten zu bringen. Sie duckte sich unter den Kiefernzweigen und rutschte durch Haufen toter Nadeln. Als sie an einen flachen Bach am Fuße des Abhangs stieß, platschte sie mitten durch und stürmte am gegenüberliegenden Ufer hoch. Sie lief so lange weiter, wie sie die Schusswaffen hören konnte, angetrieben von einem Instinkt, den sie lange vergessen zu haben glaubte, eine Lektion, die ihre Mutter sie gelehrt hatte, als sie ein Mädchen in Anacostia gewesen war: Wenn du Schüsse hörst, Süße, bringst du besser deinen Arsch in Sicherheit. Nach einer Zeit, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, hörte das Schießen auf. In dem Moment bemerkte Monique, dass sie allein war. Der Wald war auf allen Seiten menschenleer. Sie joggte die nächste Anhöhe hinauf und entschied sich dabei für die Richtung, in der sie David und Michael vermu 247 tete, aber als sie schließlich den Kamm erreichte, sah sie nur eine unbefestigte Straße vor sich und die beiden Hubschrauber über dem Wald hinter ihr. Sie waren fast eine Meile entfernt, aber das schnelle Schlagen ihrer Rotorblätter war immer noch ziemlich laut. Monique suchte sich schnell eine bessere Deckung, und als sie wieder bergab stolperte, hörte sie ein anderes Geräusch auf ihrer rechten Seite, ein entferntes, aber vertrautes Geschrei. Es war Michael. Monique sprintete in Richtung seiner widerhallenden Schreie, wobei sie inständig hoffte, dass er nicht verletzt war. Sie konnte unmöglich sagen, wie weit weg er war, aber angesichts der verstrichenen Zeit rechnete sie damit, dass es weniger als eine halbe Meile sein müsse. Sie sprang über ein weiteres Bachbett und brach durch ein Dickicht, das von Kudzu überwuchert war. Dann spürte sie ohne jede Warnung einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Alles verschwamm vor ihren Augen, und sie fiel zu Boden. Kurz bevor sie das Bewusstsein verlor, sah sie zwei Männer neben sich aufragen. Der eine war ein großer Glatzkopf, der eine Tarnanzugshose anhatte und eine Uzi im Arm hielt.
Der andere war Professor Gupta. Simon hatte immer daran geglaubt, seines Glückes Schmied zu sein. Als Gupta in der Nacht zuvor von seiner Tochter angerufen worden war, hatten sich Simon und der Professor sofort auf den Weg zu den Great Smokies gemacht und Elizabeth abgeholt. Als Gegenleistung für ein kleines Fläschchen Metamphetamin zeigte sie ihnen, wo Swift und Reynolds ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Leider waren die Flüchtigen schon wieder aufgebrochen, in der gerechtfertigten Annahme, dass Elizabeth ihren Aufenthaltsort preisgeben würde. Aber Simon vermutete, dass sie noch in der Nähe waren. Am Morgen hatte er sich mit Agent Brock getroffen und 248 ihn angewiesen, die Notfrequenz auf seinem FBI-Funkgerät einzuschalten. Als sie die Funksprüche über den geplanten Angriff auf den Haw Knob mithörten, fuhren sie direkt zu dem Berg. Sie parkten ihre Fahrzeuge auf einer unbefestigten Straße und liefen auf den Gipfel zu, als Gupta seinen Enkel schreien hörte. Der Professor verkündete, das Schicksal sei auf ihrer Seite, aber Simon wusste es besser. Er hatte sich schon die ganze Zeit darum gekümmert, dass die Dinge eine glückliche Wendung nahmen, und jetzt winkte ihm die verdiente Belohnung. Nachdem er Reynolds ausgeknockt hatte, zerrte er ihren Körper zu der unbefestigten Straße. Gupta hinkte neben ihm her und plapperte immer noch über das Schicksal. Brock war eine knappe halbe Meile weiter im Norden und verfolgte Swift und den schreienden Teenager. Als Simon bei dem Pick-up ankam, band er Reynolds' Hände und Füße geschickt mit einem Elektrokabel zusammen. Elizabeth lag schon gefesselt, geknebelt und apathisch auf dem Rücksitz. Sie begann sich zu winden, als Simon Reynolds neben sie bugsierte, und ihr Gestrampel riss die betäubte Physikerin aus ihrer Bewusstlosigkeit. Reynolds schlug die Augen auf, und dann begann sie ihrerseits ebenfalls zu strampeln. »Ihr Arsche!«, schrie sie. »Lasst mich hier raus!« Simon runzelte die Stirn. Er hatte keine Zeit, ihr einen Knebel anzulegen; er musste so schnell wie möglich nach Norden fahren, damit er Brock helfen konnte, die anderen abzufangen. Er klemmte sich hinters Lenkrad und steckte den Schlüssel ins Zündschloss. Gupta saß auf dem Beifahrersitz. Als Simon den Motor anließ, schaute der Professor über seine Schulter auf die beiden sich windenden Frauen. »Es tut mir leid, dass Sie so beengt liegen müssen, Dr. Reynolds, aber bis wir Sie in den Van umladen können, müssen Sie sich den Rücksitz mit meiner Tochter teilen.« 248
Reynolds hörte auf, sich gegen ihre Fesseln zu wehren, und starrte ihn fassungslos an. »Herrgott noch mal, was machen Sie denn hier? Ich dachte, die FBI-Männer hätten Sie erwischt!«
»Nein, sie waren zu langsam. Mein Partner ist zuerst bei mir eingetroffen.« Er zeigte auf Simon. »Aber er ist einer der Terroristen! Er ist der kahle Hurensohn mit dem gelben Ferrari!« Gupta schüttelte den Kopf. »Das war ein Missverständnis. Simon ist kein Terrorist, er ist mein Mitarbeiter. Er hat den Auftrag, das Gleiche zu tun, was Sie auch getan haben, Dr. Reynolds - mir dabei helfen, die Einheitliche Feldtheorie zu finden.« Reynolds antwortete zunächst nicht. Im Pick-up war es still, während Simon über die unbefestigte Straße fuhr, die derart viele Kurven und tiefe Furchen hatte, dass er kaum zehn Meilen pro Stunde fahren konnte. Als sie wieder sprach, zitterte ihre Stimme. »Warum tun Sie das, Professor? Wissen Sie nicht, was passieren kann, wenn ...« »Ja, ja, das weiß ich seit Jahren. Was ich nicht wusste, waren die genauen Terme der Gleichungen, die für den Prozess entscheidend sind. Aber da wir jetzt die Theorie haben, können wir zum nächsten Schritt übergehen. Wir können endlich das Geschenk des Herrn Doktor auspacken und es die Welt verändern lassen.« »Aber wir haben die Theorie nicht mehr! Wir haben den USB-Stick zerstört, und das war die einzige Kopie.« »Das stimmt nicht, wir haben sie doch. Wir hatten sie die ganze Zeit schon, aber ich war zu dumm, es zu erkennen. Michael hat die Gleichungen auswendig gelernt, nicht wahr?« Reynolds antwortete nicht, aber ihr Gesicht verriet sie. Gupta lächelte. »Vor mehreren Jahren habe ich Hans gefragt, was er im Fall seines Todes mit der Theorie tun würde. Er wollte es mir natürlich nicht sagen, aber nachdem ich ihn ein biss 249
chen bearbeitet hatte, sagte er: >Keine Sorge, Amil, sie bleibt in der Familie.< Damals nahm ich an, er hätte die Familie der Physiker gemeint, die Gemeinschaft der Naturwissenschaftler. Die Wahrheit habe ich erst gestern begriffen, als ich sah, dass es eine Kopie der Theorie im Warfighter gab.« Er lehnte sich auf seinem Sitz zurück und legte sein verletztes Bein auf das Armaturenbrett. »Ich wusste, dass Hans sie dort nicht abgelegt hätte. Er war Pazifist. Die Theorie des Herrn Doktor in einem Kriegsspiel zu speichern, wäre für ihn undenkbar gewesen. Aber Michael spielt schrecklich gern Warfighter, und er macht auch schrecklich gern Kopien von allem, was er auswendig lernt. Deshalb hat er auch all die Telefonbücher auf den Computer übertragen, erinnern Sie sich? Und außerdem ist er auch noch ein Mitglied der Familie. Sowohl meiner Familie als auch der vom Herrn Doktor.« Reynolds sagte nichts. Verzweiflung machte sich in ihr breit. Aber Simon wandte sich einen Moment lang von der gefährlichen Straße ab und starrte den Professor an. »Was wollen Sie damit sagen? War der alte Jude etwa Ihr Vater?«
Gupta lachte leise in sich hinein. »Machen Sie sich bitte nicht lächerlich. Sehe ich etwa dem Herrn Doktor ähnlich? Nein, die Verwandtschaft bestand auf der Seite meiner Frau.« Simon hatte keine Zeit, weitere Fragen zu stellen. Im nächsten Augenblick kam er um eine Kurve und sah Brocks Fahrzeug vor sich, der alte Dodge-Van, der früher Dr. Milo Jenkins gehört hatte. Simon hielt neben dem anderen Wagen an und stellte fest, dass der Fahrersitz leer war; offensichtlich war Brock ausgestiegen, um Swift und den Teenager zu Fuß zu verfolgen. Als Simon sein Fenster herunterließ, konnte er die Schreie des Jungen ziemlich klar hören. David konnte Michael nicht dazu bringen, mit dem Schreien aufzuhören. Er hatte damit angefangen, als die FBI-Agen 250 ten das Feuer eröffneten, und er hatte in gewissen Abständen auch weiterhin lange, gequälte Schreie ausgestoßen, während sie beide durch den Wald rannten. Nach jedem schrillen Schrei holte der Junge hektisch Luft und brach auf einer Bahn durch das Unterholz, die so gerade war wie die einer Gewehrkugel. David hatte große Mühe, Boden wiedergutzumachen, und jeder Atemzug tat ihm weh. Nach ein paar Minuten verstummte der Lärm der Schusswaffen, und Michael wurde etwas langsamer, aber die Schreie kamen weiterhin aus der Kehle des Teenagers, jeder genauso lang und laut wie der davor. Nach der Position der Sonne zu urteilen, vermutete David, dass sie sich in nordwestlicher Richtung bewegten. Er hatte Monique aus den Augen verloren, aber er hielt weiter nach ihr Ausschau. Er machte sich Sorgen, dass die FBILeute keine Schwierigkeiten hätten, sie anhand von Michaels Schreien zu finden, denn obwohl die Agenten offenbar am Waldrand stehen geblieben waren, würden sie früher oder später die Verfolgung fortsetzen. In einem verzweifelten Zwischenspurt schloss David zu dem Jungen auf und ergriff seinen Ellbogen. »Michael«, keuchte er. »Du musst... mit dem ... Schreien ... aufhören. Jeder ... kann dich ... hören.« Der Teenager schüttelte Michaels Hand ab und stieß einen weiteren Schrei aus. David legte ihm die Hand auf den Mund, aber der Junge drückte ihn weg und rannte über einen Höhenkamm. Er lief in eine enge Schlucht mit steilen Felshängen auf beiden Seiten und einem klaren Bächlein in der Mitte. An den Felshängen hallten Michaels Schreie wider, wodurch sie noch lauter wurden. Obwohl David an der Grenze seines Durchhaltevermögens angelangt war, warf er sich den Abhang hinunter und packte Michael von hinten. Er bedeckte den Mund des Jungen, versuchte ihn am Schreien zu hindern, aber Michael rammte ihm einen Ellbogen in 2 50
die Puppen. David stolperte nach hinten und landete in dem Schlamm am Rand des Bachs. Herr im Himmel, dachte er, was zum Teufel soll ich nur machen?
Und während er noch verzweifelt den Kopf schüttelte, schaute er bachabwärts und erblickte einen Mann im grauen Anzug. David erstarrte. Das war keiner der Agenten aus dem Einsatzteam. Obwohl der Mann rund hundert Meter weiter südlich stand, erkannte David ihn sofort, weil sein Gesicht immer noch große, dunkle Blutergüsse aufwies. Es war der abtrünnige Agent, der Mann, der sie vor zwei Tagen in West Virginia zu entführen versucht hatte. Nur trug er jetzt eine Uzi anstelle einer Glock. David schnappte sich Michaels Hand und begann in die entgegengesetzte Richtung zu rennen. Zunächst leistete Michael Widerstand, aber als sie einen Feuerstoß aus der Maschinenpistole hörten, übernahm der Teenager die Führung. Sie kämpften sich durch ein Dickicht, das ihnen ein bisschen Deckung gab, aber nach einer Weile merkte David, dass er einen Fehler gemacht hatte. Während sie nach Norden liefen, wurden die Felshänge auf beiden Seiten höher, und bald schon entpuppte sich die Schlucht als Sackgasse. Sie standen in einer Senke, in einem geschlossenen Canyon, der auf drei Seiten von Felswänden umstellt war; unmittelbar vor ihnen war eine dritte Klippe aufgetaucht, zu steil, um an ihr hochzuklettern. In heller Aufregung untersuchte David die Felswand. Direkt über sich entdeckte er eine waagerechte Spalte, die wie ein riesiger Mund aussah. Die Öffnung hatte etwa die Größe der Windschutzscheibe eines Autos, aber der Riss war dunkel und schien tief in die Klippe hineinzugehen. Eine Kalksteinhöhle, dachte er. Graddick hatte gesagt, davon gäbe es viele in der Umgebung. David kletterte so schnell er konnte zu dem Spalt und zog Michael hoch. Während der Junge nach hinten in den tiefsten Teil des Felsspalte kroch, blieb David 251 vorn auf dem Bauch liegen und schaute aus der Öffnung. Er griff in die Gesäßtasche seiner Hose und nahm seine Pistole heraus, die er dem Agenten abgenommen hatte, der jetzt Jagd auf sie machte. Michael schrie immer noch, und obwohl die Höhle das Geräusch dämpfte, drang einiges davon nach draußen. Nach ungefähr einer Minute sah David den Agenten näher kommen. Offenbar versuchte er herauszufinden, woher die Schreie kamen. Er war etwa zwanzig Fuß tiefer, sodass er noch nicht in den Felsspalt sehen konnte, aber er kam immer näher. David stützte die Glock auf dem Rand der Spalte ab und zielte auf den Boden vor dem Agenten. Dann schoss er. Der Mann wirbelte herum und rannte in das Dickicht zurück. Nach ein paar Sekunden begann er, mit seiner Uzi auf die Klippe zu schießen, aber die Geschosse prallten am Fels ab. David befand sich im Innern eines natürlichen Bunkers, eine ideale Verteidigungsposition. So konnte er diesen Dreckskerl stundenlang in Schach halten. Die echten FBI-Agenten würden schließlich mit mehreren Regimentern Soldaten in der Gegend auftauchen; sobald sie nahe genug wären, würde David noch einmal schießen, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Dann würden er und Michael sich den Männern von der
Bundesregierung ergeben. Das waren trübe Aussichten, aber hundertmal besser, als sich in die Hände der Terroristen zu begeben. Nach einer Weile ließen Michaels Schreie nach. David spähte über den Rand der Felsspalte und sah, dass der Agent immer noch in dem Dickicht hockte. Und dann erblickte er einen anderen Mann, einen Glatzkopf, der neben dem Bach in der Mitte der Schlucht stand. Er trug eine Tarnanzugshose und ein schwarzes TShirt. Mit seiner rechten Hand schwang er ein Bowie-Messer und mit seiner linken hatte er einen Jungen im Genick gepackt, der sich verzweifelt wand. Die Szene, die sich ihm bot, war derart seltsam, dass David mehrere Se252 künden brauchte, das Kind zu erkennen. Der Schmerz, der sich daraufhin in seiner Brust ausbreitete, war so stark, dass er seine Pistole fallen ließ und sich ans Herz griff. »Dr. Swift?«, rief der kahlköpfige Mann. »Ihr Sohn möchte Sie sehen.« SIEBZEHN
D
as Merkwürdigste am Vizepräsidenten, dachte Lucille, war, dass er wie ein
Kommunist aussah. Er hatte den gewölbten Brustkorb, den fliehenden Haaransatz und den schlecht sitzenden Anzug eines Sowjetkommissars. Ihr war diese Ähnlichkeit nie aufgefallen, wenn sie den Mann bei Fernsehauftritten erlebt hatte, aber sie war schwer zu übersehen, als sie ihm jetzt in seinem Büro im Westflügel des Weißen Hauses gegenübersaß. Sein Mund war zu einem schiefen, höhnischen Lächeln verzogen, während er die Papiere auf seinem Schreibtisch überflog. »Nun denn, Agent Parker«, begann er, »ich hörte, Sie hatten heute Morgen ein kleines Problem.« Lucille nickte. Inzwischen war es ihr ziemlich egal. Sie hatte ihr Kündigungsschreiben bereits aufgesetzt. »Ich übernehme die volle Verantwortung, Sir. In der Eile, die Verdächtigen festzunehmen, haben wir es versäumt, uns angemessen mit dem Verteidigungsministerium abzusprechen.« »Was genau ist schiefgegangen? Wie konnten Ihnen die Flüchtigen durch die Lappen gehen?« »Sie sind wahrscheinlich auf einer der unbefestigten Straßen nach Westen entkommen. Die Army sollte das Gelände weiträumig absichern, aber die Soldaten sind nicht schnell genug aufmarschiert.« »Und wo stehen wir jetzt?« »Wieder ganz am Anfang, fürchte ich. Wir brauchen mehr Leute, Sir, mehr Stiefel auf dem Boden sozusagen. Wir müssen diese Mistkerle erwischen, bevor sie irgendjemandem 252 sonst erzählen können, was sie in Erfahrung gebracht haben.«
Der Vizepräsident runzelte die Stirn und zog seine blutleeren Lippen zurück. »Darum wird sich die Delta Force kümmern. Der Verteidigungsminister und ich haben beschlossen, dass die Mitwirkung des FBI an dem Einsatz nicht mehr erforderlich ist. Das hier ist von jetzt an eine rein militärische Operation.« Obwohl Lucille nichts anderes erwartet hatte, schmerzte die Entlassung trotzdem. »Bin ich deswegen hier? Damit Sie mir einen Tritt versetzen können?« Er versuchte zu lächeln, aber das klappte nicht ganz. Es wurde eher ein schiefes Grinsen daraus. »Nein, ganz und gar nicht. Ich habe einen neuen Auftrag für Sie.« Er nahm eine Ausgabe der New York Times in die Hand und zeigte auf eine Schlagzeile auf der ersten Seite: R EPORTERIN IN B ROOKLYN ERSCHOSSEN . »Wir haben ein Begrenzungsproblem. Die Times beschuldigt das FBI, eine ihrer Reporterinnen umgebracht zu haben, diejenige, die Swifts Frau Unterschlupf gewährt hat. Anscheinend haben sie ein paar Zeugen aufgetrieben, die gesagt haben, der Mörder hätte ausgesehen wie ein Agent. Das ist natürlich absurd, aber es findet einige Beachtung.« »Ich fürchte, da könnte etwas dran sein. Einer unserer Agenten wird vermisst, und es weist einiges darauf hin, dass er für die Gegenseite arbeitet. Er könnte die Reporterin erschossen haben, um an Swifts Frau ranzukommen.« Lucille hatte angenommen, der Vizepräsident würde toben, wenn er diese Neuigkeiten hörte, aber er wischte es beiseite. »Das ist irrelevant. Ich habe schon eine Pressekonferenz anberaumt. Ich möchte, dass Sie diese Beschuldigung heftig dementieren. Halten Sie sich an die Drogengeschichte. Sagen Sie, dass Ihr Team die Möglichkeit untersucht, dass Swifts Partner in dem Drogengeschäft seine Frau gekidnappt und die Reporterin getötet haben.« 253
Lucille schüttelte den Kopf. Sie hatte von diesem Blödsinn die Nase voll. »Tut mir leid, Sir, aber das kann ich nicht.« Der Vize beugte sich vor. Sein Gesicht hatte sich wieder zu dem typischen höhnischen Grinsen verzogen. »Das hier ist genauso wichtig wie die Suche nach den Verdächtigen, Parker. Wir brauchen Werkzeuge im Kampf gegen die Terroristen. Und der Kongress versucht schon, uns diese Werkzeuge wegzunehmen. Das Letzte, was wir brauchen können, ist eine Enthüllung dieser Größenordnung.« Sie seufzte und stand auf. Es war an der Zeit, zurück nach Texas zu fahren. »Ich mache mich besser auf den Weg. Ich muss noch meinen Schreibtisch ausräumen.« Der Vizepräsident erhob sich ebenfalls. »Nun ja, ich muss zugeben, dass dies eine Enttäuschung ist. Der Direktor des Bureau hat mir versichert, dass Sie eine Frau wären, die sich was zutraut.« Lucille funkelte ihn an. »Glauben Sie mir, die Enttäuschung ist auf meiner Seite.« Der Van hielt an. Weil Karens Hände hinter ihrem Rücken gefesselt worden waren, konnte sie nicht auf ihre Uhr sehen, aber sie vermutete, dass etwa sechs
Stunden vergangen waren, seit sie den Kiefernwald verlassen hatten. Zitternd bewegte sie sich näher an Jonah heran. Lieber Gott, flüsterte sie hinter ihrem Knebel, bitte, bitte, lass nicht zu, dass die Dreckskerle ihn mir wieder wegnehmen. Das letzte Mal war Karen fast wahnsinnig geworden, als man ihren Sohn mitgenommen hatte, und obwohl Brock Jonah nur zwanzig Minuten später wieder zu dem Van zurückgebracht hatte, weinte der Junge Stunden später immer noch. Brock stieg aus und ging um den Van herum. Als er die Hecktür öffnete, bekam Karen einen Hauch unangenehm feuchter Luft in die Nase und erblickte eine große dunkle Garage mit zerbrochenen Fenstern und Wänden, von denen 254 Stücke abgebröckelt waren. Sie befanden sich in einer Art verfallenem Lagerhaus, einem alten Gebäude, das schon vor Jahren aufgegeben worden war. Drei weiße Lieferwagen waren in der Nähe geparkt, und mehrere junge Männer standen neben den Fahrzeugen. Sie hatten das unverwechselbare Aussehen von Jungakademikern: mager, blass und schlecht angezogen. Sie machten große Augen, als sie Jonah und Karen und die beiden anderen gefangenen Frauen anstarrten, die allesamt gefesselt und geknebelt auf dem Boden des Vans lagen. Dann schrie Brock sie an: »Worauf zum Teufel wartet ihr noch?«, und die Studenten sprangen nach vorn. Jonah wand sich wie verrückt, als zwei von ihnen in den Van kletterten und ihn hochhoben. Karen schrie »Nein!« in ihren Knebel, und dann näherten sich ihr zwei weitere Studenten. Sie versuchte, sich zu wehren, aber sie packten sie fest und trugen sie aus dem Van quer durch die Garage. Sie näherten sich einem der Lieferwagen. Mit einer Schablone waren die Wörter F ERMI N ATIONAL A CCELERATOR L ABORATORY seitlich aufgemalt worden. Ein schlaksiger Student, der besonders ungepflegt aussah, rollte die Hecktür zum Laderaum des Lieferwagens hoch. Die beiden Studenten, die Jonah gepackt hatten, legten ihn in den Laderaum, und die beiden, die Karen trugen, taten es ihnen nach. Sie schluchzte vor Erleichterung, als die beiden sie neben ihrem Sohn absetzten. Wenigstens im Moment waren sie noch zusammen. Von ihrem Platz auf dem Boden des Laderaums aus sah sie, wie ihre beiden Mitgefangenen, die ruhige Schwarze und ihre zappelige Gefährtin, zu einem anderen Lieferwagen transportiert wurden. Diese Garage musste ein Treffpunkt sein, vermutete Karen, wo die Mistkerle ihre Fahrzeuge wechseln und sich Nachschub besorgen konnten. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen, um nach irgendwelchen Zeichen zu suchen, an denen sich erkennen ließe, wo um alles in der 254
Welt sie waren, aber sie entdeckte keine. Und dann brach Unruhe auf der anderen Seite der Garage aus. Zwei weitere Studenten standen neben einem Pickup und mühten sich damit ab, noch einen gefesselten Gefangenen wegzutragen.
Karens Hals zog sich zusammen - es war David. Er bäumte sich derart heftig auf, dass die Studenten loslassen mussten und er auf den Boden fiel. Karen schrie wieder hinter ihrem Knebel auf. Schließlich kam ein dritter Student den beiden ersten zu Hilfe, und sie hoben David gemeinsam hoch und trugen ihn zu dem letzten Lieferwagen. Es war spät, deutlich nach Mitternacht. Die Fahrzeuge bewegten sich langsam über eine kurvenreiche Straße vorwärts. Obwohl Monique nicht nach draußen sehen konnte, konnte sie das Rumpeln der Räder hören und die Kurven spüren. Sie nahmen wahrscheinlich die Nebenstraßen, um Straßenkontrollen auf dem Interstate Highway aus dem Weg zu gehen. Auf ihrer linken Seite standen Professor Gupta und seine Studenten um einen Computer herum, der in der gegenüberliegenden Ecke des Laderaums aufgestellt worden war. Nur ein paar Fuß entfernt saß Michael auf dem Boden und spielte wieder Warfighter auf seinem Gameboy, nachdem irgendjemand die Batterien dafür wieder aufgeladen hatte. Gupta hatte mehrere Stunden mit seinem Enkel zusammengehockt und ihm im Flüsterton Fragen nach der Einheitlichen Feldtheorie gestellt, während seine Studenten die Antworten in den Computer eingegeben hatten, aber mittlerweile hatte der Professor offensichtlich alles bekommen, was er brauchte. Er grinste den Monitor triumphierend an, bevor er sich von der Gruppe trennte und zu Monique kam. Ihr erster Impuls war, dem Dreckskerl an die Kehle zu gehen, aber sie war leider immer noch gefesselt und geknebelt. »Ich möchte, dass Sie das sehen, Dr. Reynolds«, sagte er. »Für einen Physiker ist das wie ein Traum, der wahr gewor 255
den ist.« Er drehte sich zu zwei blassen Studenten mit dicken Brillen um. »Scott, Puchard, würden Sie bitte Dr. Reynolds zu dem Terminal führen?« Die Studenten packten sie an den Schultern und den Knöcheln, trugen sie durch den Laderaum und setzten sie auf einen Klappstuhl vor dem Computerbildschirm. Gupta beugte sich über ihre Schulter. »Wir haben ein Programm entwickelt, das die Erzeugung des extra-dimensionalen Neutrinostrahls simuliert. Dank der Informationen von Jacques Bouchet und Alastair MacDonald wussten wir schon, dass wir das Tevatron benutzen konnten, um den Strahl zu generieren. Und sobald Michael uns die Feldgleichungen genannt hatte, waren wir in der Lage, die notwendigen Änderungen für den Beschleuniger zu berechnen. Jetzt können wir Probeläufe auf dem Computer fahren, damit wir wissen, wie wir vorgehen müssen, sobald wir im Fermilab sind.« Er streckte eine Hand nach der Tastatur aus, tippte auf die Enter-Taste und deutete auf den Bildschirm. »Schauen Sie genau hin. Das Erste, was Sie sehen werden, ist eine Simulation der Teilchenkollision im Tevatron.« Sie musste einfach hinschauen, sie hatte keine Wahl. Der Bildschirm zeigte ein dreidimensionales Gitterwerk, ein mit schwachen weißen, ganz leicht zitternden
Linien gezeichnetes rechteckiges Schema. Dabei handelte es sich offenbar um die Darstellung eines Vakuums, eines Bereichs leerer Raumzeit mit kleinen Quantenfluktuationen. Aber das Vakuum blieb nicht lange leer. Nach ein paar Sekunden sah sie Schwärme von Teilchen, die von der rechten und linken Seite des Bildschirms hereinströmten. »Das sind Simulationen der Proton- und Antiproton-Strahlen, die sich durch das Tevatron bewegen«, bemerkte Gupta. »Wir werden sie in konvexen Wellen pulsieren lassen, damit die Teilchen in einem perfekt kugelförmigen Muster kollidieren werden. Schauen Sie hin!« 256 Als Monique die Teilchen genauer betrachtete, sah sie, dass es sich in Wirklichkeit um winzige gefaltete Haufen handelte, die jeweils durch das Raumzeit-Gitter glitten wie ein Schlipp-stek auf einer Schnur. Im Moment des Zusammenstoßes erleuchteten die Kollisionen die Mitte des Bildschirms, und alle Knoten gingen gleichzeitig auf und verdrehten das sie umgebende Gitterwerk gewaltsam. Dann zerriss das Netz aus den weißen Linien, und ein Sperrfeuer neuer Teilchen schoss durch die entstandene Bresche. Die sterilen Neutrinos. Gupta zeigte aufgeregt auf die Teilchen. »Sehen Sie, wie sie entkommen? Die Kollisionen werden die Raumzeit so stark verzerren, dass ein Strahl steriler Neutrinos aus unserer Brane hinaus und in die Extra-Dimensionen getrieben wird. Warten Sie, ich will den Ausschnitt etwas vergrößern.« Er tippte wieder auf der Tastatur herum, und danach zeigte der Bildschirm ein zerknittertes, gewelltes Stoffstück der Raumzeit vor einem schwarzen Hintergrund. Es war die Brane unseres Universums, eingebettet in den zehndimensionalen Bulk. Der Schwärm Neutrinos brach aus einem scharfen Knick im Stoff. »Wir müssen das Experiment sehr präzise konfigurieren«, sagte er. »Der Strahl muss so ausgerichtet sein, dass er zu unserer Brane möglichst an einem Punkt zurückkehrt, der fünftausend Kilometer über Nordamerika liegt. Auf die Weise wird jeder auf dem Kontinent die Möglichkeit haben, die Explosion zu sehen.« Die Teilchen zogen eine gerade Bahn durch den Bulk und wurden heller und schneller, während sie durch die Extra Dimensionen pflügten. Der Strahl durchquerte den leeren Raum zwischen zwei Falten in der Brane und drang dann wieder in das Stück Raumzeitstoff ein, das sich verzog und erzitterte und am Punkt des Wiedereintritts weiß glühend aufleuchtete. Das war offenbar die Explosion, auf die Gupta sich bezogen hatte. Er tippte mit einem seiner langen Fingernägel gegen den Monitor. »Falls wir alles richtig machen, sollte der 256 Wiedereintritt mehrere Tausend Terajoules Energie in unserer Brane freisetzen. Das ist ungefähr das Äquivalent einer atomaren Explosion von einer Megatonne. Weil der Strahl auf einen Punkt so weit oberhalb der Atmosphäre gerichtet ist,
wird auf dem Erdboden kein Schaden entstehen. Aber es wird ein spektakulärer Anblick sein. Mehrere Minuten lang wird es strahlen wie eine neue Sonne!« Monique starrte auf den glühenden Abschnitt der Brane, der allmählich dunkler wurde, während die Energie sich in der Raumzeit auflöste. Herr im Himmel, dachte sie, warum zum Teufel tut Gupta das? Da sie die Frage nicht laut stellen konnte, drehte sie sich zu dem Professor um und kniff die Augen zusammen. Er verstand ihren Blick und nickte. »Wir müssen eine öffentliche Demonstration veranstalten, Dr. Reynolds. Falls wir einfach versuchen würden, die einheitliche Theorie zu veröffentlichen, würden die Behörden die Information unterdrücken. Die Regierung will die Theorie für sich haben, damit sie ihre Waffen im Geheimen bauen kann. Aber die Einheitliche Feldtheorie gehört nicht irgendeiner Regierung. Und sie ist viel mehr als eine Vorlage zur Herstellung neuer Waffen.« Gupta beugte sich über die Tastatur, und auf dem Bildschirm tauchte die Architekturzeichnung eines Elektrizitätswerks auf. »Indem wir die extradimensionalen Phänomene ausnutzen, könnten wir unbegrenzte Mengen Elektrizität erzeugen. Dann werden Generatoren, die Kohle verbrennen, oder Atomreaktoren nicht mehr gebraucht. Aber das ist nur der Anfang. Wir könnten die Technologie in der Medizin einsetzen, die Neutrinostrahlen so genau lenken, dass sie Krebszellen vernichten. Wir könnten die Strahlen benutzen, um Raketen zu starten und sie durch das Sonnensystem zu schicken. Wir könnten Raumschiffe sogar so stark beschleunigen, dass sie fast Lichtgeschwindigkeit erreichen!« 257
Er wandte sich von dem Bildschirm ab und schaute Monique an. »Verstehen Sie nicht, Dr. Reynolds? Wenn die Menschheit morgen früh aufwacht, wird sie die einheitliche Theorie im vollen Glanz erstrahlen sehen. Niemand wird sie mehr verbergen können!« Monique hatte genug gehört. Sie zweifelte nicht an dem, was Gupta gerade sagte. Die einheitliche Theorie war so allumfassend, dass sie mit Sicherheit zu vielen wunderbaren Erfindungen führen würde. Aber das hatte einen Preis, einen furchtbaren Preis. Sie konnte nicht damit aufhören, an diese weiß glühende Explosion in der Mitte des Computerbildschirms zu denken. Der Professor hatte gesagt, es würde eine Demonstration sein, eine großartige Ankündigung, die am Himmel geschrieben stünde, aber Monique fragte sich, was genau die Menschen unten dem entnehmen würden. Hiroshima war auch eine Demonstration gewesen. Natürlich konnte sie all das nicht mit einem Knebel im Mund zum Ausdruck bringen. Stattdessen starrte sie Gupta an und schüttelte den Kopf. Der Professor hob eine Augenbraue. »Was ist los? Haben Sie Angst?« Sie nickte heftig.
Gupta trat einen Schritt näher und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Angst kann ein lähmendes Gefühl sein, meine Liebe. Der Herr Doktor hatte auch Angst, und nun sehen Sie mal, was geschehen ist. Kleinman und die anderen haben die Einheitliche Feldtheorie ein halbes Jahrhundert versteckt. Und hat ihre Furchtsamkeit irgendjemandem geholfen? Nein, es war eine Verschwendung, eine schändliche Verschwendung. Wir müssen unsere Ängste überwinden, bevor wir in das neue Zeitalter eintreten können. Und das ist es, was ich getan habe, Dr. Reynolds. Ich habe vor nichts mehr Angst.« Der alte Mann drückte ihre Schulter, und Monique wurde 258 plötzlich von Ekel übermannt. Sie heulte hinter ihrem Knebel auf und versuchte, sich gegen Guptas Computer zu werfen. Aber der Professor packte sie, bevor sie vom Stuhl fiel. Er lächelte wieder, offensichtlich amüsiert. »Ich spüre, dass Sie Ihre Zweifel haben, aber Sie werden bald feststellen, dass ich recht habe. Die Welt wird uns als Retter feiern, sobald wir den Schleier von der Theorie reißen. Sie werden uns alles verzeihen, sobald sie sehen, dass ...« Gupta wurde durch ein statisches Rauschen unterbrochen. Er nahm ein Funkgerät aus der Schnalle an seinem Gürtel, murmelte: »Entschuldigen Sie bitte«, und ging zum anderen Ende des Laderaums. Nach etwa zwanzig Sekunden wandte er sich an seine Studenten und hob die Hände zu einer segnenden Geste. »Meine Herren, wir machen noch einen Zwischenstopp, bevor wir beim Fermilab ankommen. Wir müssen noch ein paar Sachen abholen, um das Tevatron zu modifizieren.« David saß mit dem Rücken an der Wand des Laderaums. Der Lieferwagen hatte vor fünfzehn Minuten angehalten, und die Studenten hatten ein Dutzend Holzkisten aufgeladen. Weil die Kisten fast den gesamten Platz im Laderaum einnahmen, waren die Studenten zu einem anderen Lieferwagen in dem Konvoi umgezogen, und jetzt war David allein mit dem kahlköpfigen Irren in der Tarnhose, der abwechselnd seine Uzi reinigte oder einen Schluck aus einer Flasche Wodka nahm. Zum x-ten Mal versuchte David, die Schnur zu lösen, mit der seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt worden waren. Seine Finger waren taub, aber er gab nicht auf und verdrehte die Arme, bis er spüren konnte, wie die Sehnen überdehnt und gezerrt wurden. Schweißtropfen liefen ihm die Wangen hinunter und durchnässten seinen Knebel. Während er mit der Schnur kämpfte, fixierte er den kahlköpfigen Söldner mit seinen Blicken, den Hurensohn, der Jonah ein 258 Messer an die Kehle gehalten hatte. Davids Wut erfüllte ihn mit neuer Kraft, aber nach ungefähr einer Minute schloss er die Augen. Es war seine eigene verdammte Schuld. Er hätte sich den FBI-Agenten ergeben sollen, als er Gelegenheit dazu gehabt hatte.
Als er die Augen wieder aufschlug, sah er den kahlköpfigen Mann über sich stehen. Der Söldner hielt ihm die Flasche Wodka hin. »Entspannen Sie sich, Kamerad. Erholen Sie sich von Ihren tapferen Bemühungen.« Abgestoßen versuchte David zurückzuweichen, aber der kahlköpfige Mann hockte sich neben ihn und hielt ihm die Stoli-Flasche unter die Nase. »Kommen Sie schon, nehmen Sie einen Schluck. Sie sehen so aus, als könnten Sie einen vertragen.« David schüttelte den Kopf. Der Geruch des Wodkas widerte ihn an. »Leck mich!«, schrie er durch den Knebel, aber alles, was herauskam, war ein verzweifeltes Gurgeln. Der Söldner zuckte mit den Achseln. »Wie Sie wollen. Aber ich finde es eine Schande. Wir haben eine ganze Kiste Wodka und nicht mehr viel Zeit, ihn zu trinken.« Er grinste und nahm einen großen Schluck. Dann wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Ich heiße übrigens Simon. Ich möchte Ihnen meine Anerkennung aussprechen, Dr. Swift. Das Buch, das Sie über Einsteins Assistenten geschrieben haben, war eine große Hilfe für mich. Ich habe es ziemlich oft zurate gezogen, seit ich diesen Job angenommen habe.« David kämpfte darum, seine Wut in den Griff zu bekommen. Während er durch den übel riechenden Knebel tief Luft holte, konzentrierte er sich mit all seiner Aufmerksamkeit auf die Stimme des Killers. Obwohl er einen starken russischen Akzent hatte, beherrschte er die englische Sprache ausgezeichnet. Im Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung war er kein unbedarfter Auftragskiller. 259 Simon nahm noch einen Schluck Wodka, dann griff er in seine Hosentasche. »Die letzten paar Stunden waren ein bisschen langweilig für mich. Vor dem Zwischenstopp war ich in dem Lieferwagen des Professors, in dem, der vor uns fährt, aber er war damit beschäftigt, seinen Enkel zu befragen und seinen Studenten Anweisungen zu erteilen. Um mir die Zeit zu vertreiben, habe ich ein bisschen mit Guptas Tochter geplaudert, und ich habe etwas herausgefunden, das für Sie vielleicht von Interesse sein könnte.« Er zog einen kreisförmigen Gegenstand aus der Hose und hielt ihn in der hohlen Hand. David erkannte ihn sofort: Es war das Goldmedaillon, das Elizabeth Gupta um den Hals trug. Simon klappte es auf und starrte auf das Bild darin. »In Ihrer Branche würde man dies vermutlich als Beweisstück bezeichnen. Ein später Zusatz zu Ihrer historischen Recherche, was? Es erklärt jedenfalls ein paar Dinge.« Er drehte das Medaillon herum, sodass David das Bild sehen konnte. Es war eine alte Fotografie, ein sepiagetöntes Porträt einer Mutter mit ihrer Tochter. Die Mutter war eine Schönheit mit langen dunklen Haaren; das Mädchen war etwa sechs Jahre alt. Beide starrten ausdruckslos in die Kamera, ohne zu lächeln. »Dieses Foto ist in Belgrad vor dem Krieg gemacht worden«, erläuterte Simon. »Höchstwahrscheinlich in den späten Dreißigerjahren. Elizabeth war sich nicht
sicher, was das Datum angeht.« Er zeigte zunächst auf die Tochter. »Das hier ist Hannah, Elizabeths Mutter. Sie ist nach dem Krieg nach Amerika gekommen und hat Gupta geheiratet. Eine unglückliche Wahl.« Sein Finger bewegte sich zu der dunkelhaarigen Mutter. »Und das ist Elizabeths Großmutter. Sie ist in einem Konzentrationslager gestorben. Sie war Halbjüdin, verstehen Sie? Hier, ich zeige es Ihnen.« Er schob das Bild aus dem Medaillon heraus und drehte es um. Auf die Rückseite der Fotografie hatte jemand geschrieben Hannah und Lieserl. 260 Simon grinste erneut. »Sie erkennen den Namen wieder, nicht wahr? Ich kann Ihnen versichern, das ist kein Zufall. Elizabeth hat mir die ganze Geschichte erzählt. Ihre Großmutter war die uneheliche Tochter vom Herrn Doktor.« Unter anderen Umständen wäre David überwältigt gewesen. Für einen EinsteinBiografen war dies hier gleichbedeutend mit der Entdeckung eines neuen Planeten. Wie die meisten Historiker hatte David angenommen, dass Lieserl im Kindesalter gestorben war; jetzt wusste er, dass sie nicht nur überlebt hatte, sie hatte auch lebende Nachkommen. Aber in seinem derzeitigen Zustand empfand er keine Freude bei der Enthüllung. Sie erinnerte ihn nur noch einmal daran, wie blind er gewesen war. Simon schob das Foto wieder in das Medaillon zurück. »Nach dem Krieg erfuhr der Herr Doktor, was mit seiner Tochter passiert war. Er ließ seine Enkelin Hannah, die sich bei einer serbischen Familie versteckt hatte, nach Amerika kommen, aber er gab nie zu, in welchem Verwandtschaftsverhältnis er zu dem Mädchen stand. Wie Sie wissen, hielt der alte Mann nicht viel von familiären Beziehungen.« Er klappte das Medaillon zu und steckte es sich wieder in die Hose. »Hannah hat Gupta allerdings davon erzählt. Und Kleinman auch. Deshalb haben die beiden um sie gekämpft. Sie wollten beide die Enkelin des Herrn Doktor heiraten.« Er nahm noch einen Schluck Wodka. Er hatte bereits mehr als die Hälfte der Flasche getrunken. »Sie fragen sich wahrscheinlich, warum ich Ihnen das alles erzähle. Das liegt daran, dass Sie Historiker sind. Sie sollten die Geschichte kennen, die hinter diesem Einsatz steht. Nachdem Gupta Hannah geheiratet hatte, wurde er der Protege des Herrn Doktor, sein engster Assistent. Und als der Herr Doktor ihm anvertraute, dass er die Einheitliche Feldtheorie entdeckt hatte, nahm Gupta an, der alte Jude würde ihn in das Geheimnis einweihen. Aber der Herr Doktor muss gespürt haben, dass irgend 260 etwas mit Gupta nicht stimmte, selbst damals schon. Deshalb hat der alte Jude stattdessen die Theorie Kleinman und den anderen weitergegeben. Und das hat Gupta wahnsinnig gemacht. Er dachte, die Theorie sollte ihm gehören.« Simon begann, die Worte undeutlich zu artikulieren. David beugte sich vor und musterte den Mann sorgfältig, wobei er nach anderen Anzeichen von Schwäche
Ausschau hielt. Vielleicht würde sich ihm eine Gelegenheit bieten. Vielleicht würde der Mistkerl irgendwas Dummes tun. Der Söldner drehte sich zum vorderen Teil des Lieferwagens um. Ungefähr eine halbe Minute lang war er still und starrte die Wände des Laderaums an. Dann wandte er sich wieder an David. »Gupta plant diese Demonstration seit Jahren. Er hat Millionen Dollar in den Aufbau dieser kleinen Armee von Studenten gesteckt. Er hat sie überzeugt, dass sie die Welt retten werden, dass die Menschen anfangen werden, auf der Straße zu tanzen, sobald sie den Blitz des Neutrinostrahls am Himmel sehen.« Er machte ein angewidertes Gesicht und spuckte auf den Boden. »Können Sie glauben, dass irgendjemand auf einen solchen Blödsinn reinfallen würde? Aber Gupta glaubt es, und jetzt glauben es seine Studenten auch. Er ist ein Verrückter, verstehen Sie? Und Verrückte können sehr überzeugend sein.« Simon nahm noch einen Schluck Stoli, und dann hielt er David die Flasche erneut vor die Nase. »Hören Sie, Sie müssen einfach einen Schluck trinken. Ich bestehe darauf. Wir werden einen Trinkspruch ausbringen. Auf die morgige Demonstration. Auf Guptas neues Zeitalter der Aufklärung.« Er begann, an dem Knoten herumzufummeln, der den Knebel in Davids Mund festhielt. Der Wodka hatte seine Finger ungeschickt gemacht, aber nach einer Weile schaffte er es, das Tuch zu lösen. Das war die Gelegenheit, auf die David gewartet hatte. Sobald der Knebel entfernt war, konnte er um Hilfe schreien. Aber was versprach er sich davon? Al 261 ler Wahrscheinlichkeit nach fuhren sie durch eine verlassene Gegend, die Wälder und Felder von Kentucky oder Indiana. Schreien würde nichts bringen. Er musste mit Simon reden. Er musste den Söldner davon überzeugen, ihn freizulassen. Das war ihre einzige Chance. Davids Unterkiefer tat ihm weh, als ihm der Knebel abgenommen wurde. Er atmete die vergleichsweise frische Luft tief ein und schaute Simon in die Augen. »Und wie viel bezahlt Gupta Ihnen für Ihre Dienste?« Simon runzelte die Stirn. Eine Sekunde lang fürchtete David, dass der Söldner seine Meinung ändern und den Knebel wieder festbinden würde. »Das ist eine unhöfliche Frage, Dr. Swift. Ich habe auch nicht gefragt, wie viel Geld Sie mit Ihrem Buch verdient haben, oder?« »Das hier ist etwas anderes. Sie wissen, was passieren wird, nachdem jeder die Explosion gesehen hat. Das Pentagon wird anfangen, sein eigenes Forschungsprojekt zu betreiben und ...« »Ja, ja, ich weiß. Jede Armee in der ganzen Welt wird versuchen, diese Waffe zu entwickeln. Aber niemand wird irgendein Forschungsprojekt im Pentagon betreiben. Oder irgendwo sonst im Umkreis von Washington, D. C.« Irritiert starrte David den Söldner an. »Was? Wie meinen Sie das?«
Simons Stirn war immer noch gerunzelt, aber in seinen Augen blitzte Genugtuung auf. »Professor Guptas Demonstration wird sogar noch eindrucksvoller sein, als er erwartet. Ich werde die Orientierung des Neutrinostrahls so verändern, dass der Wiedereintritt in unser Universum im Innern des Jefferson Memorials erfolgt.« Er zeigte mit der Stoli-Flasche auf das Heck des Lieferwagens und machte ein Auge zu, als ob er am Flaschenhals entlangziele. »Nicht dass ich irgendeinen Groll gegen Thomas Jefferson hegte. Ich habe das Ziel ausgewählt, weil sein Standort entgegenkommen 262 derweise zentral ist. Die gleiche Entfernung vom Pentagon, dem Weißen Haus und dem Kongress. Alle drei werden bei der Explosion völlig verbrannt. Zusammen mit allem anderen in einem Umkreis von zehn Kilometern.« Zuerst dachte David, der Söldner machte einen Witz. Er hatte durchaus einen merkwürdigen Humor. Aber Simon wirkte nur noch entschlossener, während er sein unsichtbares Ziel anvisierte. »Wer bezahlt Sie dafür? Al-Qaida?«, fragte David. Simon schüttelte den Kopf. »Nein, das ist für mich selbst. Für meine Familie, im Grunde genommen.« »Ihre Familie?« Simon stellte die Flasche Wodka sehr langsam ab und griff wieder in seine Tasche. Diesmal zog er ein Mobiltelefon heraus. »Ja, ich hatte mal eine Familie. Gar nicht so verschieden von Ihrer Familie, Dr. Swift.« Er schaltete das Telefon ein und hielt es so hin, dass David das Display sehen konnte. Nach ein paar Sekunden erschien ein Bild: Ein Junge und ein Mädchen lächelten in den Fotoapparat. »Das sind meine Kinder. Sergej und Larissa. Sie sind vor fünf Jahren in der Argun-Schlucht im Süden Tschetscheniens gestorben. Sie haben schon mal von der Schlucht gehört, nehme ich an?« »Ja, aber ...« »Halten Sie den Mund! Halten Sie den Mund und sehen Sie hin!« Er beugte sich vor und hielt David das Handy vor die Nase. »Mein Junge Sergej war sechs Jahre alt. Er sieht Ihrem Sohn ein bisschen ähnlich, nicht wahr? Und Larissa war erst vier. Sie wurden zusammen mit ihrer Mutter bei einem Raketenangriff getötet. Eine Hellfire-Rakete, abgeschossen von einem Hubschrauber der Delta Force, der in der Nähe der tschetschenischen Grenze eingesetzt worden ist.« »Ein amerikanischer Hubschrauber? Was hat der denn da gemacht?« »Nichts Sinnvolles, das kann ich Ihnen versichern. Es war 262 ein weiterer vermasselter antiterroristischer Einsatz, bei dem mehr Frauen und Kinder umgebracht wurden als Terroristen.« Er spuckte auf den Boden. »Aber ihre Gründe sind mir ziemlich egal. Ich werde jeden eliminieren, der am Einsatz dieses Hubschraubers beteiligt war, jedes einzelne Glied in der Befehlskette. Deshalb liegt das Pentagon in meinem Zielgebiet, und die betreffenden Zivilpersonen ebenfalls. Der Präsident, der Vizepräsident und der
Verteidigungsminister.« Er klappte das Telefon zu. »Ich habe nur die eine Gelegenheit zuzuschlagen, und deshalb brauche ich eine große Sprengzone.« David wurde übel. Das war genau das, was Einstein befürchtet hatte. Und es würde in wenigen Stunden passieren. »Aber es klingt so, als wäre das, was Ihrer Familie widerfahren ist, ein Unfall gewesen. Wie können Sie ...« »Ich sagte Ihnen doch, das ist mir egal!« Er ergriff die Wodkaflasche am Hals und schwang sie wie eine Keule. »Es ist unerträglich! Es ist unverzeihlich!« »Aber Sie werden Millionen Menschen damit...« Irgendetwas Hartes knallte gegen Davids Wange. Simon hatte ihm die Flasche ins Gesicht geschlagen. David kippte zur Seite und prallte mit der Stirn gegen die Ladefläche des Lieferwagens. Er hätte das Bewusstsein verloren, aber Simon packte ihn am Kragen und zog ihn hoch. »Ja, sie werden sterben!«, schrie er. »Warum sollten sie auch leben, wenn meine Kinder tot sind? Sie werden alle sterben! Ich werde sie alle töten!« In Davids Ohren klingelte es. Aus der Wunde über seinem Wangenknochen strömte Blut, und Schwärme von grünlichen Punkten tanzten ihm vor den Augen. Alles, was er jetzt noch sehen konnte, war das wütende Gesicht des Söldners, und sogar dieses Bild verschwamm in seinem Kopf, zerschmolz zu roten, rosafarbenen und schwarzen Bächlein. Während Simon David mit einer Hand hochzog, hob er mit 263 der anderen die Flasche Stoli. Bemerkenswerterweise war sie nicht kaputt und enthielt immer noch ein paar Schlucke Wodka. Er hob sie an Davids Lippen und schüttete ihm den Alkohol in den Mund. »Auf das Ende der Welt!«, rief er. »Der Rest ist Schweigen!« Der Wodka brannte David in der Kehle und sammelte sich in seinem Magen. Als die Flasche leer war, warf Simon sie beiseite und ließ seinen Kragen los. Dann sank David zu Boden und ließ sich von der Dunkelheit überwältigen. Lucille traf am Montagmorgen ganz früh in der FBI-Zentrale ein, um nicht irgendwelchen Kollegen zu begegnen, aber als sie in ihr Büro kam, stellte sie fest, dass ihr Schreibtisch schon leergeräumt war. Ihre Akten über Kleinman, Swift, Reynolds und Gupta waren verschwunden. Ihre Ausgabe von Auf den Schultern von Riesen ebenfalls. Die einzigen Dinge, die man nicht mitgenommen hatte, waren ihre persönlichen Habseligkeiten: ihre Gehaltsstreifen, ihre Belobigungsschreiben, ein gläserner Briefbeschwerer in Form eines sechsschüssigen Revolvers und ein gerahmtes Foto, auf dem Ronald Reagan ihr die Hand schüttelte. Nun ja, dachte sie, die Kerle haben mir einen Gefallen getan. Jetzt brauche ich nicht so lange zum Packen. Sie fand einen Pappkarton und brauchte nur wenige Augenblicke, um alles darin verschwinden zu lassen. Es war erstaunlich - das ganze Zeug wog weniger als drei Kilo. Vierunddreißig Jahre lang hatte sie dem Bureau mit ihrem Herzblut gedient,
aber jetzt schien es herzlich wenig zu geben, was sie dafür aufzuweisen hatte. Ärgerlich schaute sie auf den antiquierten Computer auf ihrem Schreibtisch und die billige Plastikablage ihres Eingangsfachs. Es war unglaublich deprimierend. Und dann sah sie den Ordner im Eingangsfach liegen. Einer ihrer Kollegen aus der Nachtschicht musste ihn dort ab 264 gelegt haben, nachdem die Durchsuchung ihres Büros bereits abgeschlossen war. Mehrere Sekunden lang starrte Lucille das Ding nur an und erteilte sich im Stillen den Rat, es einfach liegen zu lassen. Aber schließlich siegte ihre Neugier. Sie nahm den Ordner in die Hand. Er enthielt eine Liste der Telefonanrufe aus jüngerer Zeit, die Professor Gupta gemacht hatte. Lucille hatte vor drei Tagen die Information von Guptas Mobilfunkbetreiber angefordert, aber die hatten sich Zeit gelassen. Die Nachweise waren äußerst spärlich - Gupta hatte sein Handy nicht oft benutzt, nur zwei oder drei Anrufe pro Tag. Während sie die Seiten durchsah, bemerkte sie allerdings etwas Ungewöhnliches. In den letzten beiden Wochen hatte er jeden Tag die gleiche Nummer angerufen. Es war weder Swifts Nummer, noch die von Reynolds oder Kleinman. Was die Sache verdächtig machte, war der Umstand, dass Gupta die Nummer immer genau um 9:30 Uhr gewählt hatte, nie eine Minute früher oder später. Lucille rief sich ins Gedächtnis, dass sie nicht mehr für den Fall zuständig war. Sie hatte ihre Pensionsformulare auch tatsächlich schon ausgefüllt. Aber sie hatte sie noch nicht eingereicht. Simon führ vorneweg, während der Konvoi auf das Osttor des Laboratoriums zuhielt. Es war fünf Uhr morgens, nur ein paar Minuten nach Tagesanbruch, und in den meisten Häusern an der Batavia Road brannte noch kein Licht. Eine einsame Frau in einer roten Shorts und weißem T-Shirt joggte an den Zufahrten und Vorgärten vorbei. Simon starrte sie einen Moment lang an und bewunderte ihre langen rotbraunen Haare. Dann kniff er sich in den Nasenrücken und gähnte. Er war immer noch ein bisschen wackelig auf den Beinen nach seinem Exzess in der Nacht zuvor. Um sich wachzumachen, griff er mit der rechten Hand in seinen Anorak und packte 264 den Schaft seiner Uzi. Der Tag der Vergeltung war gekommen. Sehr bald schon würde alles vorbei sein. Unmittelbar hinter der Kreuzung mit dem Continental Drive holperte der Wagen über eine Eisenbahnlinie, und danach weitete sich die Landschaft auf beiden Seiten der Straße. Anstelle von Vorstadthäusern und Rasenflächen bot sich Simon ein Blick auf riesige grüne Felder, einen Abschnitt jungfräulicher IllinoisPrärie. Sie befanden sich mittlerweile auf einem Stück Land, das der Bundesregierung gehörte, auf dem östlichen Rand des Laborgeländes. Vor ihnen stand ein kleines Wärterhäuschen, und darin saß eine ungeheuer dicke Frau in
einer blauen Uniform. Simon schüttelte den Kopf. Es war kaum zu glauben, dass das Laboratorium eine derart fettleibige Person für den Sicherheitsbereich einstellte. Es war eindeutig, dass niemand in dieser Einrichtung mit irgendwelchen Schwierigkeiten rechnete. Während Simon langsam seinen Lieferwagen zum Stehen brachte, hievte sich die Frau aus dem Wärterhäuschen heraus. Er lächelte sie an und händigte ihr die Papiere aus, die Professor Gupta vorbereitet hatte, ein dickes Bündel gefälschter Rechnungen und Anforderungsschreiben. »Bitte sehr, schöne Frau«, sagte er, wobei er sich anzuhören versuchte wie ein amerikanischer Lkw-Fahrer. »Wir sind heute ein bisschen früh dran.« Die Frau erwiderte das Lächeln nicht. Sie überprüfte die Papiere sorgfältig und verglich sie mit einer Liste auf ihrem Klemmbrett. »Sie stehen nicht in meinem Verzeichnis.« »Nein, aber wir haben alle Genehmigungen.« Sie setzte ihre Durchsicht der Papiere fort. Entweder konnte sie nicht schneller lesen, oder es machte ihr Spaß, ihn warten zu lassen. Schließlich hob sie ihren wuchtigen Kopf. »Okay, steigen Sie aus und machen Sie hinten die Türen auf. Und sagen Sie den Fahrern in den anderen Wagen, sie sollen auch aussteigen.« 265 Simon runzelte die Stirn. »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass alles genehmigt ist. Haben Sie die Schreiben nicht gesehen?« »Doch, schon, aber ich muss alles überprüfen, was hereinkommt. Stellen Sie einfach den Motor aus und ...« Er schnitt ihr das Wort ab, indem er ihr zwei Kugeln in den Schädel jagte. Dann ging er zur Rückseite des Lieferwagens und klopfte dreimal an die Hecktür. »Machen Sie auf, Professor!«, rief er. »Wir müssen noch etwas mitnehmen.« Einer der Studenten schob die Tür hoch und half Gupta beim Aussteigen. Der Professor schien beunruhigt zu sein, als er die Frau vom Wachpersonal auf dem Boden liegen sah. »Was ist passiert? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass niemand mehr getötet werden soll.« Simon beachtete ihn nicht und wandte sich an die Studenten. »Los, kommt her und schafft die Leiche in den Wagen!« Binnen weniger Augenblicke hatten sie die Leiche im Laderaum verstaut und das Blut vom Asphalt aufgewischt. Falls irgendjemand vorbeikäme, würde es so aussehen, als hätte die Frau einfach ihren Posten verlassen. Simon kehrte wieder auf den Fahrersitz zurück und Gupta stieg auf der Beifahrerseite ein. Der Professor warf ihm einen strengen Blick zu. »Bringen Sie bitte niemand mehr um«, sagte er. »Ich habe mit einigen der Physiker hier in den Achtziger jähren gearbeitet, als sie das Tevatron gebaut haben.« Simon legte den ersten Gang ein. Er war nicht in der Stimmung für Gespräche, und deshalb sagte er nichts. Der Konvoi setzte sich wieder in Bewegung.
»Tatsächlich war ich derjenige, der den Namen für den Teilchenbeschleuniger vorschlug«, fuhr Gupta fort.» Teva ist die Abkürzung für eine Trillion Elektronenvolt. Das ist die Spitzenenergie, die von den Protonen in dem Beschleuniger erreicht werden kann. Bei dieser Energie bewegen sie sich 266 mit 99,9999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit.« Der Professor ballte die Hände zu Fäusten, wirbelte mit einer Faust im Kreis herum und schlug dann gegen die andere, um eine Teilchenkollision zu simulieren. Er war so aufgedreht, dass er die Hände nicht stillhalten konnte. »Natürlich kann der Large Hadron Collider in der Schweiz jetzt höhere Energien erreichen. Aber das Tevatron schafft es hervorragend, die Protonen zu einem straffen Strahl zu bündeln. Deshalb ist es für unsere Zwecke gut geeignet.« Simon biss die Zähne zusammen. Er konnte dieses nervöse Geplapper nicht viel länger ertragen. »Das ist mir alles egal«, knurrte er. »Erzählen Sie mir nur etwas über den Kontrollraum. Wie viele Menschen werden dort sein?« »Keine Sorge, da wird sich nur eine Minimalbesetzung aufhalten. Höchstens fünf oder sechs Operatoren.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das liegt an all den Budgetbeschränkungen. Die Regierung will kein Geld mehr für die Physik ausgeben. Die nationalen Laboratorien sind auf private Spenden angewiesen, selbst wenn sie nur die Beschleuniger in Betrieb halten wollen.« Der alte Mann schüttelte wieder den Kopf. »Im vergangenen Jahr hat mein Robotics Institute dem Fermilab fünfundzwanzig Millionen Dollar gespendet. Ich wollte dafür sorgen, dass sie das Tevatron nicht stilllegen. Ich hatte so ein Gefühl, dass es sich als nützlich erweisen könnte.« Die Straße schwenkte nach links, und Simon erblickte ein merkwürdig geformtes Gebäude am Horizont. Es sah aus wie ein Paar riesiger Matratzen, die sich oben aneinanderlehnten. Neben dem Gebäude entdeckte er eine niedrige Böschung, die einen großen Kreis durch das Grasland zog. Gupta zeigte zunächst auf das ungewöhnliche Bauwerk. »Das ist Wilson Hall, die Zentrale des Laboratoriums. Ich hatte mal ein Büro im fünfzehnten Stock. Mit einer wunderbaren Aussicht.« Er senkte den Arm ein wenig und zeig 266 te auf die Böschung. »Unter dem kreisförmigen Grat dort verläuft der Strahlentunnel des Tevatron. Die Teilchenrennstrecke haben wir es immer genannt. Ein Ring von vier Meilen mit eintausend supraleitenden Magneten, um die Strahlen zu lenken. Protonen bewegen sich im Uhrzeigersinn, Antiprotonen in entgegengesetzter Richtung. Jeder der beiden Strahlen ist so kräftig, dass er ein Loch durch eine Ziegelsteinmauer brennen könnte.« Dann zeigte er auf ein anderes Gebäude, das näher an der Straße lag. Es war ein unauffälliges Bauwerk ohne Fenster, das ganz so aussah wie ein Lagerhaus und direkt über einem Abschnitt des Strahlentunnels lag. »Und das ist Collision Hall. Wo die Protonen
und Antiprotonen gegeneinander knallen. Wo wir die Neutrinos in die ExtraDimensionen jagen werden.« Der Professor verstummte und schaute durch die Windschutzscheibe des Lieferwagens auf das Gebäude. Simon war dankbar für die Pause und fuhr an einer Reihe zylindrischer Tanks vorbei, die alle mit den Worten G EFAHR K OMPRIMIERTES H ELIUM beschriftet waren. Dann kam er zu einem langen Wasserbecken, das vor Wilson Hall lag und die merkwürdige Silhouette widerspiegelte. »Biegen Sie hier ab und fahren Sie hinter das Gebäude«, instruierte Gupta ihn. »Der Kontrollraum liegt neben dem Proton Booster.« Der Konvoi rollte über eine Zufahrt, die an Wilson Hall vorbeiführte und auf einem Parkplatz vor einem niedrigen, u-förmigen Gebäude endete. Guptas Schätzung, was die Anzahl der im Kontrollraum anwesenden Mitarbeiter betraf, schien korrekt zu sein: Es standen weniger als ein halbes Dutzend Wagen auf dem Parkplatz. Diese Zahl würde mit Sicherheit in etwa drei Stunden wachsen, wenn der reguläre Arbeitstag begann, aber mit ein wenig Glück würden sie ihre Arbeit bis dahin erledigt haben. Simon parkte den Lieferwagen und begann, Befehle zu 267 erteilen. Eine Gruppe von Studenten lud die Kisten mit der elektronischen Ausrüstung ab, während eine andere die Geiseln zu dem Lieferwagen brachte, den Agent Brock führ. Simon hatte beschlossen, dass es am besten sei, Brock vom Kontrollraum fernzuhalten, damit er nicht dahinterkäme, was da vor sich ging. Dem ehemaligen FBI-Mann war gesagt worden, bei ihrem Auftrag handele es sich darum, radioaktives Material aus dem Labor zu stehlen. Simon schlenderte zu Brocks Lieferwagen und machte ihn auf sich aufmerksam. »Nehmen Sie die Geiseln mit zu einem sicheren Ort«, befahl er. »Ich will nicht, dass sie uns in die Quere kommen. Es gibt ungefähr einen Kilometer westlich von hier ein paar leer stehende Gebäude. Suchen Sie sich eines davon aus und rühren Sie sich die nächsten Stunden nicht von der Stelle.« Brock sah ihn streitlustig an. »Wir müssen uns unterhalten, wenn das hier vorbei ist. Sie bezahlen mir nicht genug für all die Drecksarbeit, die ich für Sie erledige.« »Keine Sorge, Sie werden schon angemessen entschädigt.« »Warum lassen wir die Geiseln überhaupt noch am Leben? Wir müssen sie früher oder später sowieso erschießen. Ich meine, alle bis auf die Tochter des Professors.« Simon beugte sich ein Stück näher zu ihm und senkte die Stimme. »Dem Professor macht es Spaß, sie am Leben zu lassen, aber mir ist es egal. Sobald Sie außer Sicht sind, können Sie mit ihnen machen, was Sie wollen.« Die Studenten hatten David neben Monique und Elizabeth abgelegt, aber sobald das Fahrzeug sich wieder bewegte, rutschte er auf dem Boden zu Karen und Jonah hinüber. Während er sich abmühte, die Distanz zu überwinden, machte
sein Sohn große Augen, und seine Exfrau begann zu weinen. Jemand hatte David wieder geknebelt, sodass er kein Wort sagen konnte; stattdessen drückte er sich einfach eng an
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Seine Familie. Von dem Wodka und dem Schlag, dem Simon ihm verpasst hatte, war ihm immer noch übel, aber gleichzeitig war er auch erleichtert. Nach ein paar Minuten blieb der Lieferwagen erneut stehen. David lauschte aufmerksam und hörte ein hartes, knirschendes Geräusch. Dann öffnete Brock die Hecktür des Lieferwagens, und David sah einen kuppelförmigen, grasbedeckten Hügel. Er war ungefähr zwanzig Fuß hoch und hatte einen Durchmesser von etwa hundert Fuß, eine künstliche Anhöhe auf einem unterirdischen Bauwerk, irgendeinem großen Keller oder Bunker. Der Lieferwagen war vor einem Eingang geparkt, den man in die Seite des Hügels gegraben hatte. Über einem Rolltor, das Brock schon aufgestemmt hatte, stand auf einem Schild:
F ERMI N ATIONAL A CCELERATOR L ABORATORY , B OOSTER N EUTRINO EXPERIMENT .
Als Brock in den Laderaum geklettert war, griff er in sein Jackett und zog ein Bowie-Messer hervor, das genauso aussah wie das, was Simon Jonah an die Kehle gesetzt hatte. Grinsend näherte sich Brock der Familie Swift. David schrie »Nein!« hinter seinem Knebel und versuchte, seinen Sohn abzuschirmen, aber mit gefesselten Händen und Füßen konnte er sich kaum aufsetzen, geschweige denn, einen Angriff abwehren. Brock stand ein paar Sekunden nur da und drehte das Messer, sodass es das Licht reflektierte. Dann beugte er sich nach unten und schnitt die Schnur durch, mit der Davids Knöchel zusammengebunden waren. »Sie werden genau das tun, was ich sage«, flüsterte er. »Andernfalls mache ich aus Ihrem Sohn Hackfleisch. Verstanden?« Brock schnitt die Schnur an Jonahs Füßen durch, bevor er das Gleiche bei Karen und Monique tat. Elizabeth, die bewusstlos in der Ecke lag, schenkte er keine Beachtung. Mit einer Hand auf der Uzi, die an einem Schultergurt hing, zerrte er die anderen auf die Füße. »Steigt aus«, befahl er. »Wir gehen in den Schuppen da.« 268 Ihre Hände waren immer noch hinter dem Rücken gefesselt, aber sie schafften es trotzdem, aus dem Laderaum herunterzusteigen und zu dem Rolltor zu marschieren. Davids Herz begann schneller zu schlagen, als sie sich dem Eingang näherten; der ehemalige Agent brachte sie offensichtlich an einen verborgenen Ort, wo er sie alle vier umbringen konnte, wenn ihm danach war. Mist, dachte David, wir müssen uns schnell etwas einfallen lassen! Aber Brock war direkt hinter Jonah und hatte die Maschinenpistole auf den Kopf des Jungen gerichtet, und David wagte nicht einmal, einen Schritt zur Seite zu machen. Sie betraten einen dunklen Raum, der nur von flackernden Leuchtdioden erhellt wurde. Brock schloss die Tür und wies sie an, weiterzugehen. Auf der anderen
Seite des Raums führte eine Wendeltreppe nach unten. David zählte dreißig Stufen, während sie in die Schwärze hinabstiegen. Dann legte Brock einen Lichtschalter um, und sie fanden sich auf einer Plattform wieder, von der man einen riesigen kugelförmigen Tank überblicken konnte. Er lag in einer Betongrube wie ein Golfball in der Metallbüchse eines Lochs, nur dass der Golfball in diesem Fall einen Durchmesser von fast vierzig Fuß hatte. Die Plattform war auf einer Höhe mit dem abgeflachten Oberteil der Stahlkugel, die mit einer kreisförmigen Platte abgedeckt war wie ein Deckel auf einem riesigen Straßenschacht. Als David auf den Tank starrte, erinnerte er sich, dass er im Scientific American etwas darüber gelesen hatte. Der Tank war Teil eines Experiments zum Studium von Neutrinos, die so schwer fassbar waren, dass die Forscher einen großen Apparat brauchten, um sie zu entdecken. Der Tank war mit einer knappen Million Liter Mineralöl gefüllt. »Setzen Sie sich!«, schrie Brock. »Mit dem Rücken an die Wand.« Das war's dann wohl, dachte David, als sie sich auf den Boden hockten. Das ist der Moment, in dem der Dreckskerl 269 zu schießen anfängt. Brock kam näher und hielt die Maschinenpistole auf sie gerichtet. Monique lehnte sich gegen David, während Karen die Augen zumachte und sich über Jonah beugte, der den Kopf im Schoß seiner Mutter vergrub. Aber anstatt zu schießen riss Brock David den Knebel aus dem Mund und warf ihn durch den Raum. »Okay, jetzt können wir loslegen«, sagte er. »Wir haben noch eine Rechnung offen.« Brock, der den Augenblick sichtlich genoss, grinste wieder. Er würde sie nicht schnell töten. Er würde das hier so lange ausdehnen wie möglich. »Machen Sie schon, Swift, fangen Sie an zu schreien«, sagte er. »Schreien Sie so laut Sie wollen. Draußen kann Sie niemand hören. Wir sind ein gutes Stück unter der Erde.« David öffnete und schloss den Mund, um die Lähmung seiner Kiefermuskeln zu beenden. Brock würde ihn wahrscheinlich nicht lange reden lassen, und deshalb musste er sich etwas beeilen. Er holte zweimal tief Luft und schaute dem abtrünnigen Agenten in die Augen. »Wissen Sie, was da am Tevatron vor sich geht? Haben Sie eine Ahnung, was sie dort drüben machen?« »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, es ist mir wirklich scheißegal.« »Das sollte es aber nicht sein, besonders wenn Sie Freunde oder Verwandte in Washington, D. C, haben. Ihr russischer Partner steht kurz davor, die Stadt in die Luft zu jagen.« Brock lachte. »Tatsächlich? Wie im Kino? Mit einem großen Atompilz?« »Nein, seine Physik ist ein bisschen neuer. Er wird die Zieleingabe von Guptas Neutrinostrahl ändern. Aber die Wirkung wird die gleiche sein. Kein Weißes Haus mehr, kein Pentagon. Keine FBI-Zentrale.« Monique fuhr zusammen und starrte David mit aufgerissenen Augen an, aber Brock lachte einfach weiter. »Warten
270 Sie, lassen Sie mich raten. Ich muss Sie freilassen, stimmt's? Weil Sie der Einzige sind, der ihn aufhalten kann. Ist es das, was Sie mir klarmachen wollen?« »Ich will Ihnen klarmachen, dass Sie nicht mehr sehr lange leben werden, wenn Ihr Partner Erfolg hat. Falls die Regierung ausgelöscht wird, wird die Army vermutlich das Land übernehmen, und der erste Punkt auf ihrer Tagesordnung wird sein, die Dreckskerle zu finden, die Washington von der Landkarte radiert haben. Falls Ihr Plan vorsah, sich über die Grenze zu schleichen und zu verschwinden - das können Sie vergessen. Man wird Sie unerbittlich jagen und aufknüpfen.« David sprach so ernst, wie er konnte, aber Brock kaufte es ihm nicht ab. Er schien sich prächtig zu amüsieren. »Und das alles geht los mit einem ... wie haben Sie das genannt? Einem neutralen Strahl?« »Einem Neutrinostrahl. Hören Sie, wenn Sie mir nicht glauben, reden Sie doch mit Professor Gupta. Fragen Sie ihn, was ...« »Ja, ja, das mache ich ganz bestimmt.« Kichernd drehte Brock sich um und schaute auf den riesigen kugelförmigen Tank. Er schlenderte zu der Abdeckung und stampfte mit dem Fuß auf die Stahlplatte. Das Dröhnen hallte von den Wänden wider. »Was ist hier drin? Noch ein paar Neutrinos?« David schüttelte den Kopf. Es war sinnlos. Brock war zu beschränkt, um das zu verstehen. »Das ist Mineralöl. Um die Teilchen aufzuspüren.« »Ohne Scheiß, Mineralöl? Warum zum Teufel nehmen sie denn das Zeug?« »Der Detektor braucht eine durchsichtige Flüssigkeit, die Kohlenstoff enthält. Wenn die Neutrinos mit den Kohlenstoffatomen zusammenstoßen, versprühen sie Lichtblitze. Aber wie Sie schon sagten, das ist ja scheißegal.« 270
»Mineralöl kann man auch noch für andere Dinge gebrauchen. Es ist ein Schmiermittel, wissen Sie?« Brock machte sich an den Klammern zu schaffen, mit denen die Metallplatte befestigt war. Nach ein paar Sekunden hatte er begriffen, wie man sie lösen konnte. Dann trat er mit dem Fuß auf einen roten Knopf, und ein Elektromotor begann zu summen. Die Platte öffnete sich wie eine Muschel, worauf ein Becken mit einer klaren Flüssigkeit von der Größe eines Whirlpools zum Vorschein kam. »Da schau sich einer das an. Damit werde ich sehr lange auskommen.« Brock kniete sich an den Rand des Beckens und tauchte eine Hand in das Mineralöl. Dann stand er auf und hielt die glänzende Hand hoch. Er starrte David an, während er die Finger aneinander rieb. »Wir haben noch eine Rechnung offen, Swift. In der Hütte in West Virginia hast du mich überrumpelt. Hast mir das Gesicht ganz schön versaut. Deshalb werde ich dich jetzt auch ein bisschen versauen.«
David hatte auf einmal einen Kloß im Hals. Einen Moment lang konnte er nicht einatmen. Er schluckte schwer. »Dann machen Sie schon«, brachte er über die Lippen. »Tun Sie nur den anderen nicht weh.« Brock starrte zunächst Karen mehrere Sekunden an, dann Monique. Das Mineralöl tropfte ihm von den Fingerspitzen. »Ganz im Gegenteil, denen werde ich auch ein bisschen weh tun.« Die Übernahme des Kontrollraums im Tevatron ging problemlos über die Bühne. Sobald Simon mit seiner Uzi durch die Tür kam, wandten sich alle Operatoren, die mit abgezehrten Gesichtern an ihren Konsolen saßen, wie ein Mann von der Reihe mit Computerbildschirmen ab und hoben die Hände über den Kopf. Während Professor Guptas Studenten ihre Plätze einnahmen, geleitete Simon die Fermilab-Mitarbeiter zu einem Lagerraum in der Nähe und schloss sie ein. 271
Er teilte vier Studenten als Wachen ein und gab jedem ein Funkgerät und eine Maschinenpistole. Zwei von ihnen bezogen ihre Position auf dem Parkplatz, während das andere Paar vor den Eingängen zum Strahlentunnel des Beschleunigers patrouillierte. Falls irgendwelche anderen Angestellte des Fermilab auftauchten, hatte Simon vor, sie abzufangen und zu der Gruppe in dem Lagerraum zu stecken. Die Behörden würden mindestens zwei oder drei Stunden keine Ahnung haben, dass irgendwas nicht stimmte, womit Gupta und seine Studenten mehr als genug Zeit hätten, das Tevatron für ihr Experiment vorzubereiten. Der Professor stand in der Mitte des Raums und dirigierte seine Studenten wie der Leiter eines Orchesters. Seine Augen streiften über das Gewirr von Schaltern, Kabeln und Bildschirmen, und ihm entging keine Anzeige und kein Messwert. Wenn irgendetwas im Besonderen seine Aufmerksamkeit erregte, stürzte er sich auf den Studenten, der die betreffende Konsole bemannte, und verlangte einen Zwischenbericht. Guptas Intensität war so stark, dass die Haut auf der Stirn und um die Augen herum gestrafft wurde und alle Anzeichen von Alter und Müdigkeit verschwanden. Simon musste zugeben, dass es eine beeindruckende Vorstellung war. Bis jetzt lief alles genau nach Plan. Nach einer Weile rief einer der Studenten: »Injektion der Protonen eingeleitet.« Der Professor erwiderte: »Ausgezeichnet!«, und schien sich etwas zu entspannen. Er blickte über die Schulter und lächelte seinen Enkel an, der in einer Ecke des Kontrollraums saß und mit seinem Gameboy spielte. Dann legte Gupta seinen Kopf in den Nacken und schaute an die Decke. Simon näherte sich ihm. »Kommen wir der Sache langsam näher?« Gupta nickte. »Ja, sehr viel näher. Wr hatten Glück mit dem Timing. Die Operatoren waren gerade dabei, eine neue 271
Ladung von Partikeln vorzubereiten, als wir eintrafen.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Bildschirmen zu. »Jetzt haben wir die notwendigen Änderungen vorgenommen und beginnen, die Protonen vom Hauptinjektor zum Tevatron-Ring zu transferieren. Wir müssen sechsunddreißig Haufen auf den Weg bringen, von denen jeder zweihundert Milliarden Protonen enthält.« »Wie lange wird das dauern?« »Ungefähr zehn Minuten. Normalerweise fügen die Operatoren die Protonenhaufen gleichmäßig in den Ring ein, aber wir müssen das Arrangement abwandeln, um das kugelförmige Kollisionsmuster zu produzieren. Wir haben auch einige der Magneten auf dem Ring modifiziert, um die angemessene Geometrie für die Protonenschwärme zu erzeugen. Das war der Zweck der Ausrüstung, die wir in den Kisten mitgebracht haben.« »Dann können Sie in zehn Minuten mit den Kollisionen anfangen?« »Nein, nachdem wir mit dem Transfer der Protonen fertig sind, müssen wir die Injektion der Antiprotonen vornehmen. Das ist der schwierigste Teil des Prozesses, deshalb dauert es vielleicht ein bisschen länger, möglicherweise zwanzig Minuten. Wir müssen aufpassen, dass wir keinen Quench verursachen.« »Einen Quench? Was ist das denn?« »Etwas, das um jeden Preis vermieden werden muss. Die Magneten, die die Teilchen steuern, sind supraleitend, was heißt, dass sie nur funktionieren, wenn sie auf zweihundert-zweiunddreißig Grad abgekühlt worden sind. Das kryogenische System des Tevatron pumpt flüssiges Helium um die Windungen, um dafür zu sorgen, dass die Magnete kalt bleiben.« Simon wurde allmählich unbehaglich zumute. Er musste an die Tanks mit dem komprimierten Helium denken, die er 272 gesehen hatte, als sie an dem Strahlentunnel vorbeifuhren. »Was kann denn da noch schiefgehen?« »Jeder Teilchenstrahl hat zehn Millionen Joule Energie. Wenn wir ihn in die falsche Richtung lenken, wird er ein Loch in das Strahlrohr reißen. Selbst wenn wir einen sehr kleinen Fehler machen, können die Teilchen einen der Magneten besprühen und das flüssige Helium darin erhitzen. Wenn die Temperatur zu hoch wird, nimmt das Helium einen gasförmigen Aggregatzustand an und bricht aus. Dann verliert der Magnet seine supraleitende Eigenschaft, und der elektrische Widerstand bringt die Windungen zum Schmelzen.« Simons Unbehagen wuchs. »Können Sie das wieder in Ordnung bringen?« »Schon möglich. Aber das würde ein paar Stunden dauern. Und noch ein paar Stunden, um den Strahl neu zu kalibrieren.« Verdammter Mist, dachte Simon. Er hätte sich denken können, dass mit dieser Operation mehr Risiken verbunden waren, als der Professor hatte durchblicken lassen. »Das hätten Sie mir früher sagen sollen. Falls die Regierung rausfindet,
dass wir hier sind, wird sie Sturmtruppen hierherschicken. Ich kann sie eine Zeit lang aufhalten, aber nicht mehrere Stunden!« Einige der Studenten hatten sich umgedreht und sahen ihn nervös an. Aber Gupta legte Simon beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir vorsichtig sein werden. Alle meine Studenten haben Erfahrung mit dem Betrieb von Teilchenbeschleunigern, und wir haben Dutzende von Simulationen auf dem Computer laufen lassen.« »Und was ist mit den Richtungsangaben für die Neutrinos? Wann werden Sie die Koordinaten für die Explosion eingeben?« 273 »Das machen wir bei der Injektion der Antiprotonen-Haufen. Die Flugbahn der Neutrinos wird von dem exakten Timing der ...« Er brach mitten im Satz ab und starrte ausdruckslos in den Raum. Er machte den Mund auf, und einen Moment lang fürchtete Simon, der alte Mann hätte einen Schlaganfall bekommen. Aber kurz darauf lächelte er wieder. »Hören Sie das?«, flüsterte er. »Können Sie es hören?« Simon lauschte. Er hörte einen tiefen, schnellen Pfeifton. »Das bedeutet, dass die Protonen in dem Strahlrohr kreisen!«, rief Gupta. »Das Signal ist am Anfang tief, und die Tonhöhe steigt, wenn der Strahl schneller wird!« Aus den Augenwinkeln des Professors traten Tränen hervor. »Was für ein herrlicher Ton! Ist es nicht wundervoll?« Simon nickte. Es klang wie ein ungewöhnlich schneller Herzschlag. Ein großer Muskel, der unmittelbar vor dem Ende noch einmal hektisch klopfte. Die Schnur schnitt tief in Davids Handgelenke. Er unternahm einen letzten, verzweifelten Versuch, seine Hände loszureißen, und verdrehte fieberhaft die Arme hinter dem Rücken, als Brock auf Karen und Jonah zuging. Die ganzen Stunden, die er im Laderaum des Lieferwagens damit verbracht hatte, gegen seine Fesseln zu kämpfen, hatten die Schnur ein paar Millimeter gelockert, aber es war nicht genug. Er schrie vor Frustration auf, als der Agent sich Karen näherte, die sich eng zusammenkrümmte, um mit ihrem Körper Jonah abzudecken. Brock beugte sich nach vorn und packte Karen im Nacken. Er wollte sie von dem Jungen wegreißen, als David aufstand und sich in ihre Richtung stürzte. Seine einzige Hoffnung war der Schwung. Er senkte die rechte Schulter und warf sich, mit dem Oberkörper parallel zum Boden, wie ein Rammbock auf den Agenten. Aber Brock sah ihn kommen. Im letzten Moment machte er einen Schritt zur Seite und streckte den Fuß aus, sodass David darüber 273
stolpern musste. Einen Augenblick lang hing David schwerelos in der Luft. Dann landete er auf dem Gesicht, weil er seinen Sturz nicht mit den Händen abfangen konnte. Seine Stirn knallte auf den Beton. Blut floss ihm aus den Nasenlöchern in den Mund. Brock lachte. »Kein schlechter Sprung für einen Trottel.«
Der Raum wurde dunkel und wirbelte um ihn herum. David verlor ein paar Sekunden lang das Bewusstsein, und als er wieder zu sich kam, sah er, wie Monique auf den Agenten zurannte. Ihr Versuch erwies sich als ebenso fruchtlos. Sobald sie in seine Reichweite kam, rammte Brock ihr seine Faust in die Brust. Sie taumelte nach hinten, und der Agent lachte wieder. Sein Gesicht hatte um die blauen Flecken herum einen hellen Rosaton angenommen, und sein Blick war triumphierend. Während er bedrohlich neben Monique stand, nahm er die Uzi in die linke Hand und schob die rechte in die Hosentasche. Es sah so aus, als würde er gleich eine andere Waffe herausziehen, ein Schnappmesser, eine Garotte oder einen Schlagring, aber Brock hielt die Hand in der Tasche und bewegte sie langsam hoch und runter. Der Dreckskerl befriedigte sich. Plötzlich drehte sich Brock um und ging zurück zu dem Tank voll Mineralöl. Diesmal ließ er die Uzi am Schultergurt hängen und tauchte beide Hände in die Flüssigkeit. »Komm schon, Swift!«, schrie er. »Hast du keinen Kampfgeist mehr? Oder willst du einfach dort sitzenbleiben und zuschauen?« David biss die Zähne zusammen. Steh auf, sagte er sich, steh auf! Er rappelte sich hoch und torkelte vorwärts, aber er schien sich jetzt wie in Zeitlupe zu bewegen. Brock wich ihm wieder seitlich aus, packte die Schnur, mit der Davids Hände zusammengebunden waren, wirbelte ihn herum und zwang ihn auf die Knie. Die Hände des Agenten waren glitschig 274 und kalt. »Das Niggerweib wird Spaß machen«, flüsterte er. »Aber nicht so viel Spaß wie deine Frau. Ich werde ihr den Knebel abnehmen, damit du sie schreien hören kannst.« Brock warf ihn zu Boden. Davids Kopf schlug ein zweites Mal auf dem Beton auf, und der Schmerz schnitt wie ein Messer in seinen Schädel. Aber er wurde nicht ohnmächtig. Er grub die Fingernägel in die Handflächen und biss sich in die Unterlippe, bis sie anfing zu bluten, setzte seine ganze Willenskraft ein, um bei Bewusstsein zu bleiben. Leicht benommen, von Übelkeit ergriffen und voll Angst sah er, wie Brock Karen von Jonah wegzog und zu dem Stahltank zerrte. Er beobachtete, wie der Agent den Knebel von Karens Mund riss, und er hörte, wie sie ein kaum hörbares Wimmern von sich gab, was er herzzerreißender fand als jeden Schrei. Der Ton trieb ihn zur Raserei. Er schlug wie wild gegen den Boden und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Und während er sich noch am Boden wand, rutschte seine rechte Hand aus der Schlinge, die Brock unabsichtlich mit Mineralöl schlüpfrig gemacht hatte. David war so überrascht, dass er ein paar Sekunden auf dem Boden liegen blieb und beide Hände hinter dem Rücken versteckte. Auf einmal war seine Benommenheit verflogen, und er konnte wieder klar denken. Er wusste, dass er zu schwach zum Kämpfen war. Falls er versuchte, Brock die Maschinenpistole zu entreißen, würde dieser ihn einfach wegstoßen und zu schießen anfangen. Er
musste den Dreckskerl kampfunfähig machen, und weil er plötzlich so einen klaren Kopf hatte, sah er auch genau, wie er das bewerkstelligen konnte. Er griff in seine Gesäßtasche und packte das Feuerzeug, das er Agent Parker entwendet hatte. David tat so, als wären seine Hände immer noch gefesselt, und kam entsprechend ungeschickt wieder hoch. Brock lächelte und ließ Karen los. »Das gefällt mir schon besser!«, krähte er, machte einen Schritt über sie und nahm Kampf275
Stellung ein. »Dann komm mal ran, großer Held! Mal sehen, was du auf die Beine stellst.« Diesmal rannte er nicht. Er taumelte vorwärts, bis er direkt vor dem Agenten stand. Brock schüttelte enttäuscht den Kopf. »Du siehst gar nicht gut aus, weißt du das? Du siehst aus wie ...« David drehte das Feuersteinrädchen an dem Zippo und stieß Brock das Feuerzeug ins Gesicht. Der Agent hob unwillkürlich die Arme, um den Schlag abzuwehren, und seine beiden öligen Hände fingen Feuer. Mit all seiner verbliebenen Kraft packte David Brock an der Taille und begann ihn nach hinten zu stoßen. Der Agent wedelte wie wild mit den Händen, aber das fachte die Flammen nur noch stärker an. David zählte zwei Schritte, drei Schritte, vier. Dann schob er Brock in den Tank mit dem Mineralöl. Sobald Brocks Hände die Oberfläche berührten, breiteten sich die Flammen im ganzen Becken aus. Aber auch ohne das Feuer hätte der Agent keine Chance gehabt. Er versank in der Flüssigkeit wie ein Stein und verschwand sofort. Der Signalton im Kontrollraum hörte sich nicht mehr wie ein Herzschlag an. Die Tonhöhe war stetig gestiegen, bis sich schließlich jeder Pfeifton wie ein schriller unmenschlicher Schrei anhörte. Es klang wie ein Alarm, eine automatische Warnung bei einem mechanischen Betriebsschaden, aber Professor Gupta schien nicht beunruhigt zu sein. Er schaute abermals zur Decke hoch, und als er sich wieder zu Simon umdrehte, lag ein ekstatisches Lächeln auf seinem Gesicht. »Der Strahl ist stark«, verkündete er. »Das kann ich nur an dem Signalton erkennen. Alle Protonen sind in dem Ring.« Wundervoll, dachte Simon. Jetzt bringen wir den Job zu Ende. »Heißt das, wir sind bereit, die Zielkoordinaten einzugeben?« 275 »Ja, das ist der nächste Schritt. Dann werden wir die Antiprotonen in den Beschleuniger laden.« Der Professor ging zu der Konsole, vor der Richard Chan und Scott Krinsky saßen, die blassen, bebrillten Physiker vom Oak Ridge National Laboratory. Aber bevor Gupta den Männern irgendwelche Anweisungen geben konnte, packte Simon den Professor am Arm und richtete die Uzi auf seine Stirn. »Warten Sie
einen Moment. Wir müssen eine kleine Änderung vornehmen. Ich habe einen neuen Satz Koordinaten für die Explosion.« Gupta starrte ihn verständnislos an. »Was machen Sie da? Lassen Sie mich los!« Richard, Scott und all die anderen Studenten drehten sich zu ihnen um. Mehrere erhoben sich von ihren Sitzen, als sie sahen, was los war, aber Simon machte sich keine Sorgen. Außer ihm war keiner in dem Raum bewaffnet. »Falls Sie Wert darauflegen, dass Ihr Professor am Leben bleibt, schlage ich vor, dass Sie sich hinsetzen«, sagte er ruhig. Um seinen Vorschlag zu unterstreichen, drückte er die Mündung der Uzi gegen Guptas Schläfe. Die Studenten ließen sich gehorsam auf ihre Sitze nieder. ACHTZEHN
W
arum rufen Sie mich an? Sie arbeiten nicht mehr für mich.«
Lucille erkannte die Stimme des FBI-Direktors kaum wieder. Er knurrte sie aus dem Hörer ihres Telefons an. »Sir«, begann sie noch mal, »ich habe ein paar neue ...« »Nein, ich will nichts davon hören! Sie sind jetzt im Ruhestand. Geben Sie Ihre Waffe und Ihr Abzeichen ab und verlassen Sie das Gebäude.« »Bitte, Sir, hören Sie zu! Ich habe eine Mobiltelefonnummer identifiziert, die vielleicht zu einem der ...« »Nein, Sie hören zu! Ich habe gerade Ihretwegen meinen Job verloren! Der Vizepräsident hat schon meinen Nachfolger berufen und seinen Namen an Fox News weitergegeben!« Sie atmete tief durch. Die einzige Möglichkeit, ihn zum Zuhören zu bewegen, war, schnell draufloszureden. »Dieser Verdächtige könnte mit Amil Gupta zusammenarbeiten. Seine Telefonnummer ist auf ein Pseudonym angemeldet, einen Mr. George Osmond. Falsche Identität, falsche Adresse. Laut Auskunft der Mobiltelefongesellschaft hat er sein Handy in den letzten zwei Wochen einmal pro Tag eingeschaltet, um einen Anruf von Gupta entgegenzunehmen, und es dann sofort wieder ausgestellt. Aber ich glaube, Mr. Osmond hat gerade einen Fehler begangen. Um ein Uhr heute Morgen hat er das Telefon eingeschaltet und es nicht mehr ausgestellt, und seitdem können wir seine Position verfolgen.« 276
»Wissen Sie was, Lucy? Das ist nicht mehr mein Problem. Ab heute Nachmittag bin ich wieder im privaten Sektor.« »Ich habe die GPS-Daten von dem Mobilfunkbetreiber. Es sieht so aus, als wäre der Verdächtige auf Nebenstraßen nach Batavia, Illinois, gefahren. Und da ist er auch jetzt, im Fermi National ...« »Hören Sie, warum erzählen Sie mir das alles? Sie sollten mit dem Verteidigungsministerium reden. Die haben jetzt das Kommando.«
»Das hab ich versucht, Sir, aber sie wollen nicht auf mich hören! Diese Idioten in der DIA sagen immer, sie brauchen keine Unterstützung!« »Na ja, dann lassen Sie sie doch hängen! Die sollen alle zum Teufel gehen!« »Sir, wenn Sie nur ...« »Nein, ich habe die Nase voll! Scheiß auf das Pentagon, Scheiß auf das Weiße Haus, Scheiß auf die ganze Regierung!« »Aber Sie müssen doch nur ...« Sie hörte ein Klicken. Der Direktor des FBI hatte einfach aufgelegt. David führte Karen, Jonah und Monique aus dem unterirdischen Labor hinaus zurück zu dem Lieferwagen. Obwohl das Sprinkler-System des Labors das Feuer in dem Mineralöltank bereits gelöscht hatte, wollten sie immer noch so schnell wie möglich da unten raus. Sobald sie draußen waren, band David ihnen die Handfesseln auf. Karen und Jonah fielen ihm weinend in die Arme, aber Monique rannte in das Labor zurück. »Warte einen Moment!«, rief David. »Wo willst du denn hin?« »Wir müssen ein Telefon finden! Sie haben uns die Handys abgenommen!« 277
David löste sich sanft von seiner Exfrau und seinem Sohn und ging zum Eingang des Labors zurück. Monique lief quer durch den Raum und suchte zwischen den langen Reihen von Computern nach einem Telefon. »Herrgott noch mal!«, rief sie. »Wo ist denn hier das Telefon? Sie haben hier Geräte im Wert von einer Million Dollar, aber nicht ein einziges verdammtes Telefon!« David blieb an der Tür stehen, weil es ihm widerstrebte, hineinzugehen. »Komm mit«, drängte er. »Dieser russische Dreckskerl kann jeden Moment Verstärkung schicken.« Monique schüttelte den Kopf. »Wir müssen zuerst um Hilfe rufen. Gupta hat alle Vorbereitungen für den Raumzeitbruch getroffen. Wenn sie jetzt Washington anvisieren, werden sie - wow, was ist das denn?« Sie zeigte auf eine metallene Schalttafel an der Wand, nicht allzu weit vom Eingang entfernt. »Ist das eine Gegensprechanlage?« Wider besseres Wissen trat David in den Raum, um die Tafel näher in Augenschein zu nehmen. Das sah tatsächlich wie eine Gegensprechanlage aus: Es gab eine Reihe farbiger Knöpfe unter dem Sprechgitter eines Lautsprechers. Die Knöpfe waren beschildert: K ONTROLLRAUM , B OOSTER , H AUPTINJEKTOR , T EVATRON und K OLLISIONSRAUM . »Drück nicht auf den Knopf für den Kontrollraum«, warnte David. »Da ist Gupta wahrscheinlich jetzt.« »Vielleicht kommen wir an ein Büro ran, das sie noch nicht übernommen haben. Wenn wir einen der Ingenieure des Tevatron erreichen können, können wir ihn möglicherweise überzeugen, den Strom für den Beschleuniger abzuschalten.« Sie studierte einen Moment lang die Reihe der Knöpfe, bevor sie auf den drückte, der mit T EVATRON beschriftet war. »Hallo? Hallo?«
Niemand antwortete. Aber als David sein Ohr der Schalttafel zuneigte, hörte er einen schnellen, schrillen Pfeifton. »Mist«, flüsterte Monique. »Ich kenne das Signal.« Sie 278
griff nach seinem Arm, um sich abzustützen. »Die Strahlen sind fast fertig.« »Was? Was haben ... ?« »Keine Zeit, keine Zeit!« Sie ging zum Ausgang und zog ihn mit sich. »Wir haben noch zehn Minuten, höchstens fünfzehn!« Sie rannte zu dem Lieferwagen und versuchte, die Tür auf der Fahrerseite aufzumachen. Doch sie war abgeschlossen. Die Schlüssel waren wahrscheinlich immer noch in Brocks Hose am Boden des Tanks voll Mineralöl. »Verdammt!«, schrie sie. »Wir müssen laufen!« »Wohin? Wohin müssen wir laufen?« »Zum Strahlentunnel! Es geht hier entlang!« Während Monique in Richtung Süden losrannte, auf den Tevatron-Ring zu, lief David zu Karen, die neben Jonah auf dem Boden kniete. Die beiden allein zu lassen machte David eine Heidenangst, aber was in dem Beschleuniger vor sich ging, war noch erschreckender. »Wir müssen uns trennen«, sagte er. »Du und Jonah, ihr solltet hier so schnell wie möglich verschwinden.« Er zeigte auf einen Streifen Asphalt, der ungefähr zweihundert Meter weiter im Norden lag. »Geht zu dieser Straße und wendet euch nach links. Falls ihr jemand vom Sicherheitsdienst oder von der Polizei seht, sagt ihnen, es gäbe ein Feuer im Strahlentunnel und sie müssten den Strom abschalten. Kriegst du das hin?« Karen nickte. David war erstaunt, wie ruhig sie war. Sie nahm seine Hand und drückte sie, dann schob sie ihn in Richtung des Strahlentunnels. »Geh schon, David«, sagte sie. »Bevor es zu spät ist.« Simon befand sich in einem Dilemma. Er hatte gerade versucht, Brock auf dem Funkgerät zu erreichen, aber der antwortete nicht. Auch drei weitere Versuche verliefen ergebnislos - er hatte nichts als statisches Rauschen gehört. Es 278 war schwer vorstellbar, dass ein mit einer Maschinenpistole bewaffneter Mann von einer Handvoll gefesselter und geknebelter Gefangener überwältigt werden könnte. Aber es machte ganz den Eindruck. Simon hatte immer noch seine Uzi auf Professor Gupta gerichtet, und die Studenten im Kontrollraum überwachten weiterhin das Tevatron und korrigierten gehorsam die Protonen- und Antiprotonenstrahlen, sodass sie den neuen Zielkoordinaten entsprachen. In ungefähr zehn Minuten wären die Teilchenstrahlen bereit, und nach weiteren zwei Minuten zusätzlicher Beschleunigung würden die Kollisionen beginnen. Aber falls Swift und Reynolds dem FBI-Mann tatsächlich entkommen waren, standen die Chancen nicht schlecht, dass sie sich zu dem Strahlentunnel begeben und versuchen würden, das
Experiment zum Scheitern zu bringen. Simon musste sich jetzt entscheiden, ob er sich auf die Suche nach ihnen machen oder im Kontrollraum bleiben sollte. Nachdem er das mehrere Sekunden erwogen hatte, rammte er Gupta seine Uzi gegen den Schädel und schob ihn vorwärts. Der alte Mann war so erschrocken, dass er kaum aufstehen konnte. Simon packte ihn am Genick und wandte sich an die Studenten. »Professor Gupta und ich werden das Experiment an einem anderen Ort beobachten, der nicht sehr weit entfernt ist. Ich erwarte von Ihnen allen, dass Sie die Anweisungen befolgen, die ich Ihnen erteilt habe. Wenn die Demonstration schiefgeht, habe ich vor, Ihren Professor auf denkbar schmerzhafte Weise umzubringen. Und dann komme ich hierher zurück und bringe jeden von Ihnen um.« Die Studenten nickten und drehten sich wieder zu ihren Bildschirmen um. Sie waren schwach, verängstigt und leicht einzuschüchtern, und Simon zweifelte nicht daran, dass sie sich seinen Anordnungen fügen würden. Er ging in den hinteren Teil des Kontrollraums und öffnete das Schränkchen, in dem die Schlüssel zu den Toren hingen, durch die man 279
Zutritt zum Strahlentunnel hatte. Der Enkel des Professors starrte sie einen Moment lang verständnislos an. Dann senkte er den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gameboy zu, während Simon den Professor zur Tür hinauszerrte. Bis zum Tevatron war es eine halbe Meile. David und Monique rannten zunächst auf einer gepflasterten Straße und liefen dann quer über ein schlammiges Feld. Bald konnten sie den grasbewachsenen Kamm sehen, der oberhalb des Strahlentunnels verlief, und einen niedrigen Bau aus Schlackesteinen mit einem Maschendrahttor anstelle einer Tür am Eingang. In der Nähe waren keine Fahrzeuge geparkt, und es war niemand zu sehen. Monique zeigte auf das Bauwerk. »Das ist einer der Tunneleingänge. Der im Abschnitt F-Zwei.« »Mist«, keuchte David. »Das Tor ist vermutlich abgeschlossen. Wie zum Teufel sollen wir da reinkommen?« »Mit Feueräxten«, erwiderte sie. »Die sind an jedem dieser Zugänge, wenn es im Tunnel einen Notfall geben sollte. Ich erinnere mich, sie beim letzten Mal gesehen zu haben, als ich hier an einem Experiment arbeitete.« »Was ist mit den Bedienungsfeldern, um die Strahlen abzuschalten? Erinnerst du dich, wo die sind?« »Es gibt einige manuelle Schalter innerhalb des Tunnels, aber die hat Gupta wahrscheinlich außer Funktion gesetzt. Ich wette, das war eines der ersten Dinge, die er erledigt hat.« Mit einem Endspurt erreichten sie den Schlackestein-Bau und machten schnell den Brandschutz-Kasten ausfindig, der an einer Außenwand angebracht war. Monique riss die Axt aus der Halterung und lief zum Eingang des Gebäudes.
Durch das Maschendraht-Tor sah David eine Treppe, die in den Tunnel hinunterführte. Er packte Monique am Ellbogen. 280 »Warte mal einen Moment! Wie willst du den Beschleuniger stilllegen, wenn die Schalter nicht mehr funktionieren?« Monique hielt die Axt hoch. »Mit dem Ding hier. Ein glatter Schlag durch das Strahlrohr müsste eigentlich reichen.« »Aber wenn der Strahl in Betrieb ist, werden die Protonen überallhin verspritzt! Du wirst völlig verstrahlt werden!« Sie nickte grimmig. »Deshalb bleibst du hier oben und bewachst den Eingang. Es hat keinen Sinn, dass wir beide verseucht werden.« David packte ihren Ellbogen fester. »Lass mich das machen. Ich gehe an deiner Stelle runter.« Sie schaute ihn stirnrunzelnd an, als hätte er gerade etwas absolut Bescheuertes gesagt. »Das ist lächerlich. Du hast einen Jungen, eine Familie. Ich habe niemanden. Es ist eine einfache Rechnung.« Mit einem Ruck befreite sie ihren Arm aus seinem Griff und stellte sich breitbeinig vor das Tor. »Nein, warte mal! Vielleicht können wir ...« Sie hob die Axt über ihren Kopf und wollte sie gerade auf das Vorhängeschloss des Tors niedersausen lassen, als sie von einer Kugel getroffen wurde. Sie stieß ein überraschtes »Ahhhh!« aus und ließ die Axt fallen. David packte sie an den Schultern und zog sie schnell um die Ecke des Gebäudes. »Herrgott noch mal!«, schrie er. »Monique!« Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Sie umklammerte Davids Oberarm, während er sie auf den Boden legte und ihr Hemd hochzog. An der linken Seite ihres Unterleibs war die Eintrittswunde, und auf der rechten war die Kugel ausgetreten. Aus beiden Wunden strömte Blut. »Scheiße!«, keuchte sie. »Was ist denn passiert?« Er spähte um die Ecke. In einer Entfernung von ungefähr fünfzig Metern entdeckte er ein Paar von Guptas Studenten, die sich an die Wand eines anderen Baus drückten. Obwohl sie beide Maschinenpistolen trugen, standen die Studenten wie festgewurzelt da, offensichtlich völlig durcheinander von 280
ihrer ersten Erfahrung mit der Bedienung von Schusswaffen. Einer von ihnen sprach in ein Funkgerät. David wandte sich wieder an Monique. »Da sind zwei Figuren, aber gleich kommen noch mehr«, berichtete er. Er kniete sich neben sie, schob ihr einen Arm unter den Rücken und den anderen unter die Knie. »Ich bringe dich hier weg.« Aber sie schrie auf, als er sie anzuheben versuchte, und noch mehr Blut floss aus ihrer Austrittswunde und durchtränkte seine Hose. »Leg mich hin, leg mich hin!«, stöhnte sie. »Du wirst es selbst tun müssen. Es gibt noch einen Zugang eine halbe Meile weiter südlich.«
»Ich kann nicht...« »Wir haben keine Zeit zum Diskutieren! Nimm einfach die Axt und geh!« Simon schloss Professor Gupta in einem kleinen Lagerraum in Collision Hall ein. Sobald sie außer Hörweite des Kontrollraums waren, hätte er den alten Mann problemlos umbringen können, aber er war der Ansicht, es sei passender, wenn der Professor die Ergebnisse seines Experiments miterlebte. Als Simon Collision Hall gerade verlassen wollte, empfing er einen Funkspruch von den beiden Studenten, denen er den Auftrag erteilt hatte, am Strahlentunnel entlang Patrouille zu gehen. Drei Minuten später traf Simon dort ein. Die Studenten standen etwa zehn Meter von Reynolds entfernt und hielten beide nervös ihre Maschinenpistolen auf sie gerichtet, obwohl sie offensichtlich nicht in der Lage war, das Feuer zu erwidern. Sie lag in einer Blutlache auf dem Rücken, immer noch am Leben, aber sehr geschwächt. »War sie allein?«, fragte Simon. »Haben Sie noch jemand gesehen?« Der dicke Student schüttelte den Kopf, aber der dünne 281
schien nicht recht zu wissen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und schob sich die Brille auf der Nase nach oben. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie von jemand um die Ecke gezogen wurde, nachdem Gary auf sie geschossen hatte. Aber ich habe nicht genau sehen können, wie er aussah.« »In welche Richtung ist er gegangen?«, hakte Simon nach. »Ich weiß nicht, ich hab ihn nicht noch mal gesehen. Ich war damit beschäftigt, Sie mit dem Funkgerät zu erreichen, und als wir ...« Simon zog den Abzug durch und brachte den Studenten zum Schweigen. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und erschoss den Dicken ebenfalls. Die beiden waren nicht zu gebrauchen. Jetzt lief Swift frei herum, rannte vermutlich zu einem anderen Tunneleingang, und Simon hatte keine Ahnung, welchen Punkt auf dem sechs Kilometer langen Ring er sich vornehmen sollte. Außer sich vor Wut trat er auf das Gesicht des ersten Studenten und zerbrach die Brille der Leiche. Da gab die verwundete Frau ein Stöhnen von sich, ein kehliges, abgehacktes »Daaaaaavid«. Ihre Augen waren geschlossen, aber sie war immer noch bei Bewusstsein. Vielleicht weiß sie, wo Swift ist, dachte Simon. Er zog sein Kampfmesser aus der Scheide. Wenn man jemandem größtmögliche Schmerzen zufügen wollte, fing man am besten mit den Fingern an. Karen konnte ihr Glück kaum fassen. Als sie mit Jonah die Straße entlang rannte, die David ihr gezeigt hatte, sah sie drei Feuerwehrautos und einen rot-weißen Jeep auf sie zufahren. Sie wedelte mit den Armen, um sie zum Anhalten zu bringen. Die Lastwagen rasten mit gellenden Sirenen an ihr vorbei, aber der Jeep, auf dessen Fahrertür die Wörter F ERMILAB F IRE C HIEF standen, hielt neben ihr an. Ein Mann mit schüt 281
terem Haar und einem fröhlichen runden Gesicht lehnte sich aus dem Fenster. »Kann ich Ihnen helfen, Ma'am?« Sie brauchte einen Moment, um zu Atem zu kommen. »Da ist ein Feuer ausgebrochen! Im Strahlentunnel! Sie müssen den Strom abschalten!« Der Chef der Feuerwehr, der sich nicht so leicht erschüttern ließ, lächelte. »Na, na, immer mit der Ruhe. Wir haben eine Meldung bekommen, dass im NeutrinoDetektor das Sprinklersystem aktiviert wurde. Da fahren die Lkws jetzt hin.« »Nein, nein, das Feuer ist schon wieder gelöscht! Sie müssen stattdessen zum Strahlentunnel fahren! Sie müssen den Strom abschalten, bevor alles in die Luft fliegt.« Der Feuerwehrchef musterte Karen von Kopf bis Fuß und warf einen Blick auf Jonah, der immer noch weinte. »Entschuldigen Sie, Ma'am, aber haben Sie einen Besucherausweis für das Fermilab?«, fragte er schließlich. »Nein! Man hat uns in einem Lieferwagen hierhergebracht!« »Sie können das Laborgelände leider nicht ohne Ausweis betreten. Sie müssen ...« »Herrgott noch mal! Eine Bande von Terroristen reißt hier das Regiment an sich, und Sie machen sich Sorgen um einen verdammten Besucherausweis?« Das Lächeln des Mannes erstarb. Er schob den Schalthebel des Jeeps in die Parkstellung und öffnete seine Tür. »Sie verstoßen gegen das Gesetz, Ma'am. Ich glaube, Sie kommen besser mit...« Karen packte Jonah an der Hand und lief los. David rannte durch eine Gruppe von Eichen, die ihm ein wenig Deckung boten, während er dem gekrümmten Verlauf der Böschung über dem Strahlentunnel folgte. Er schaute nicht zurück zu der Stelle, wo er Monique liegen gelassen 282 hatte. Er hatte schon eine halbe Meile zurückgelegt, sodass er sie wahrscheinlich ohnehin nicht mehr hätte sehen können, weigerte sich aber trotzdem, sich nach ihr umzudrehen. Abgesehen von dem Strahlrohr musste er alles aus seinem Kopf verdrängen. Mit der Feueraxt in der Hand sprintete er auf den Eingang E-Null zu, auf ein Gebäude, das genauso aussah wie das, welches er gerade verlassen hatte. Ein sperriger gelber Elektrowagen war neben dem Bau geparkt; er wurde vermutlich dazu benutzt, Wartungsarbeiter oder Ausrüstungsgegenstände von einem Tunnelzugang zum nächsten zu transportieren, aber an diesem Morgen war noch niemand an der Arbeit. Alles, was er hörte, war das Zwitschern der Vögel und ein tiefes Summen, das von der Treppe herkam, die hinunter zum Strahlentunnel führte. Er untersuchte das Tor oben vor der Treppe. Es war mit einer Kette und einem Master-Schloss gesichert, aber die Kette war billig und nicht sonderlich solide. David packte den Griff der Axt, als handelte es sich um einen Baseballschläger, und machte ein paar Übungsschwünge. Dann holte er weit aus und ließ die
Schneide auf die dünnen Kettenglieder hinuntersausen. Der Aufprall tat ihm in den Handgelenken weh, und er hätte die Axt fast losgelassen, aber als er einen Blick auf die Kette warf, sah er, dass er sie glatt durchtrennt hatte. Er öffnete das Tor und eilte die Treppe hinunter. An ihrem Fuß musste er allerdings anhalten - ein weiteres verschlossenes Tor blockierte den Zugang zum Tunnel. Durch die Stangen des Tors konnte er das Strahlrohr sehen, das lang, leicht gekrümmt und silbergrau ungefähr einen Fuß über dem Tunnelboden verlief. Auch darüber hatte er im Scientific American gelesen. Die supraleitenden Magneten umschlossen den größten Teil des Rohrs; sie waren über die gesamte Länge an ihm aufgereiht wie Perlen an einer riesigen Kette, nur dass 283
jeder Magnet rund zwanzig Fuß lang und wie ein Sarg geformt war. Die Magneten sorgten dafür, dass die Protonen und Antiprotonen nicht aus der Reihe tanzten, sondern sich in gebündelten Strahlen innerhalb des Stahlrohrs bewegten. Und dieselben Magneten würden die Strahlen zusammenziehen und die Apokalypse auslösen, wenn ein Schalter umgelegt würde. David hob erneut seine Axt, aber das zweite Tor war ein härteres Hindernis als das erste. Es war mit zwei Riegeln verschlossen, die vom Torpfosten ausgingen. Als er mit der Axt darauf einschlug, entstand nicht mal eine Delle. Er versuchte es stattdessen mit einem Schlag gegen die Mitte des Tors, aber die Stangen klapperten nur. Das Problem bestand zum Teil darin, dass der Raum am unteren Treppenabsatz zu beengt war - er konnte einfach nicht richtig ausholen. Frustriert hackte er wieder auf die Riegel ein, und diesmal brach der Axtstiel oben durch. Voller Wut schlug David mit dem abgebrochenen Stiel gegen das Tor. Er war keinen Steinwurf von dem Strahlrohr entfernt, aber er konnte nicht näher herankommen. Da ihm nichts Besseres einfiel, rannte David die Treppe wieder hoch. Er konnte zwar wahrscheinlich irgendwo auf dem Gelände noch eine Feueraxt finden, wusste aber, dass sie ihm nicht viel nützen würde. Wenn er eine halbe Stunde auf das Tor einhämmern könnte, würde er es vielleicht schaffen, eine Bresche hineinzuschlagen, aber er hatte bestenfalls ein paar Minuten. Als er nach draußen kam, schaute er sich hektisch nach einer Art Erlösung um - einem Schlüssel, einer Metallsäge, einem Stab Dynamit. Und dann blieb sein Blick an dem Elektrowagen hängen. Zum Glück startete der Motor des Wagens auf Knopfdruck. David setzte sich hinter das Steuer und lenkte das Fahrzeug zum Tunneleingang, der aussah, als sei er gerade breit genug. Er trat das Gaspedal durch und beschleunig 283
te. Dann sprang er hinaus und sah zu, wie das Fahrzeug die Treppe hinunterstürzte. Der Krach war ungeheuer laut, sodass Davids Hoffnungen beflügelt wurden. Er lief die Treppe hinunter und sah, dass der gelbe Wagen schräg auf einem Gewirr von verbogenen Metallstangen saß. Das Vorderteil des Fahrzeugs befand sich im
Tunnel, während das Heck knapp außerhalb des Tors war. Die Hinterräder drehten sich wie verrückt in der Luft - der Motor lief noch, und das Gaspedal hatte sich offenbar verklemmt -, aber David schaffte es, sich an dem Fahrgestell vorbeizuzwängen und durch die Bresche zu klettern. Er ließ sich auf den Betonboden des Tunnels hinab, der mit Glassplittern von den Scheinwerfern des Wagens übersät war. Das Strahlrohr schien jedoch unbeschädigt zu sein. Ein paar Fuß entfernt fand David einen Schaltkasten an der Wand. Er murmelte ein rasches Gebet, öffnete den Kasten und legte den manuellen Notschalter um. Aber es passierte nichts. Die lange Reihe der supraleitenden Magneten summte weiter. Gupta hatte die Notschalter deaktiviert, ganz wie Monique vorhergesagt hatte, David hob ein Stück Schrott von dem Unfall auf, eine schwere Stahlstange, die durch die Wucht des Aufpralls aus dem Tor gerissen worden war. Er sah keine andere Möglichkeit. Es wäre unmöglich, einen der supraleitenden Magneten kaputtzumachen - die Windungen waren in dicke Stahlsäulen eingelassen -, und die Stromkabel für den Beschleuniger waren an der gewölbten Decke des Tunnels verlegt worden, außerhalb seiner Reichweite. Nein, die einzige Möglichkeit, das Tevatron abzuschalten, bestand darin, das Strahlrohr zu zertrümmern. Er musste hart genug darauf eindreschen, um den Strom der Teilchen zu unterbrechen, die daraufhin in seinen Körper eindringen würden wie eine Billion winziger Pfeile. Davids Augen begannen zu brennen. Nun ja, dachte er, wenigstens wird es schnell gehen. 284 Er rieb sich die Augen und flüsterte: »Tschüss, Jonah.« Dann holte er mit der Stahlstange aus. Aber als er zu einem Abschnitt des Strahlrohrs trat, der zwischen zwei Magneten verlief, bemerkte er ein anderes, direkt darüber liegendes Rohr, das mit den schwarzen Buchstaben HE beschriftet worden war. Das war das Rohr, mit dem das ultrakalte flüssige Helium zu den Magneten transportiert wurde. Das Helium war es, was den Magneten ihre Supraleitfähigkeit verlieh -es senkte die Temperatur ihrer Titanwindungen bis zu dem Punkt, an dem sie die Elektrizität ohne jeden Widerstand leiten konnten. Und während David das Ding anstarrte, begriff er, dass es noch eine Möglichkeit gab, die Teilchenstrahlen anzuhalten. Er zielte nun auf das Heliumrohr. Er musste nur ein kleines Loch hineinschlagen. Sobald das flüssige Helium der Luft ausgesetzt war, würde es sich in ein Gas verwandeln und entweichen; dann würden die Magneten zu heiß werden, und das Tevatron würde sich automatisch abschalten. David schlug mit der Stange so fest zu, wie er konnte, und traf das Rohr direkt auf dem schwarzen HE. Durch den ganzen Tunnel hallte ein durchdringendes Klirren. Der Schlag hatte eine zollbreite Beule in das Rohr gemacht - gut, aber nicht gut genug. Er traf das Rohr noch einmal an der gleichen Stelle, wodurch die Beule breiter und tiefer wurde. Ein weiterer Schlag müsste reichen, dachte er, als er wieder mit der Stahlstange
ausholte. Dann riss ihm jemand die Stange aus den Händen und zog ihn von dem Strahlrohr weg. Davids Kopf knallte gegen die Betonwand des Tunnels. Er sah seinen Angreifer nicht, aber als er zu Boden sank, hörte er eine vertraute Stimme. »Hallo, Dr. Swift. Ihre Kollegin Dr. Reynolds war so freundlich, mir zu sagen, wo Sie sind. Und ich musste ihr nur zwei Finger abnehmen.« 285 »Nein, Ma'am, es ist gar nichts los hier. Nur ein weiterer schöner Tag am Fermilab. Vierundzwanzig Grad und kein Wölkchen am Himmel.« Adam Ronca, der Leiter des Sicherheitsdiensts am Fermilab, hatte eine joviale Stimme. Während Lucille ihm am Telefon zuhörte, stellte sie sich vor, wie er aussah: untersetzt, rotes Gesicht, mittleren Alters. Ein gelassener Typ, der einen nicht besonders anstrengenden Job gefunden hatte. »Was ist mit Ihren Berichten?«, fragte sie. »Sind Ihnen in den letzten Stunden irgendwelche ungewöhnlichen Vorfälle zu Ohren gekommen?« »Nun, dann wollen wir mal sehen.« Er legte eine Pause ein, raschelte mit ein paar Papieren. »Um vier Uhr zwölf sah die Wache am Westtor eine Bewegung am Waldrand. Ein Fuchs, wie sich dann herausstellte. Und um sechs Uhr achtundzwanzig hat sich die Feuerwehr um einen Alarm im Neutrino-Detektor gekümmert.« »Ein Alarm?« »Hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten. Sie haben dort Probleme mit der Sprinkler-Anlage. Das verflixte Ding geht immer wieder ...« Statisches Rauschen unterbrach ihn. »Ah, entschuldigen Sie bitte, Agent Parker. Der Chef der Feuerwehr versucht mich über Funk zu erreichen.« Lucille rief: »Moment mal!«, aber er hatte sie bereits auf Wartestellung geschaltet. Fast eine Minute lang trommelte sie mit den Fingernägeln auf ihrer Schreibtischplatte und starrte auf die Unterlagen für George Osmonds Mobiltelefon. Das Fermilab war kein geeignetes Terroristenziel - es wurden keine Waffen in dem Labor entwickelt, und es gab sehr wenig radioaktives Material. Aber vielleicht war Mr. Os-mond an etwas anderem interessiert. Endlich kam Ronca wieder an den Apparat. »Tut mir leid, Ma'am. Der Feuerwehrchef brauchte meine Hilfe in einer anderen Sache. Was war noch mal Ihr ...« 285
»Warum brauchte er Ihre Hilfe?« »Ach, er hat zwei Leute auf dem Gelände entdeckt, die dort nichts zu suchen hatten. Eine verrückte Frau mit ihrem Jungen. Das passiert häufiger, als man denkt.« Lucille packte den Telefonhörer fester. Sie dachte an Swifts Exfrau und ihren Sohn, die vor zwei Tagen verschwunden waren. »Ist die Frau Mitte dreißig, blond, ungefähr eins zweiundsiebzig? Mit einem sieben Jahre alten Jungen?«
»Hey, woher wissen Sie ...« »Hören Sie gut zu, Ronca. Bei Ihnen ist vielleicht ein Angriff von Terroristen im Gange. Sie müssen das Laborgelände absperren.« »Wow, Moment mal. Ich kann nicht...« »Hören Sie, ich kenne den FBI-Direktor vom Büro in Chicago. Ich sage ihm Bescheid, dass er ein paar Agenten rüberschickt. Sorgen Sie nur dafür, dass niemand das Gelände verlässt!« Professor Gupta wusste genau, wo er war. Der kleine Lagerraum, in den Simon ihn eingesperrt hatte, lag nicht sehr weit von dem Beschleuniger-Detektor entfernt, dem Kronjuwel des Fermilab. Wie er da mit dem Rücken an der Wand saß, konnte er das tiefe Summen der Anlage hören und die Vibrationen im Boden fühlen. Der Detektor war wie ein riesiges Rad geformt, mehr als zehn Meter hoch, und das Strahlrohr befand sich in der Position, in der bei einem Rad die Achse säße. Die Protonen und Antiprotonen würden genau in der Mitte des Rads miteinander zusammenstoßen, an einem Punkt, der von Instrumenten in konzentrischen Ringen umgeben war - Driftkammern, Kalorimeter, Teilchenzähler. Während des normalen Betriebs des Tevatron verfolgten diese Instrumente die Flugbahnen der verschiedenen Quarks, Mesonen und Photonen, die bei den Kollisionen unter hoher Energie herausgeschleu 286
dert wurden. Aber heute würden keine Teilchen vom Mittelpunkt des Rads nach außen fliegen. Stattdessen würden die Kollisionen ein Loch in unser Universum reißen und es den sterilen Neutrinos gestatten, in die Extra-Dimensionen jenseits des Universums zu entkommen, und kein Instrument auf dem ganzen Planeten würde ihr Vorhandensein registrieren, bis sie plötzlich wieder in unsere Raumzeit hineinbrächen. Gupta hatte mitgehört, welche neuen Zielkoordinaten Simon seinen Studenten angegeben hatte, sodass er eine ziemlich genaue Vorstellung davon hatte, wo sich die Wiedereintrittsstelle befand. Das war annähernd tausend Kilometer weiter östlich. Irgendwo an der Ostküste. Der Professor senkte den Kopf und starrte auf den Boden. Es war nicht seine Schuld. Er hatte nicht beabsichtigt, irgendjemandem wehzutun. Natürlich hatte er von Anfang an gewusst, dass das Unternehmen möglicherweise einige Opfer fordern würde. Es war ihm klar gewesen, dass Simon vielleicht ein bisschen Druck auf Kleinman, Bouchet und MacDonald ausüben müsste, um ihnen die Einheitliche Feldtheorie zu entlocken. Aber das war unvermeidlich gewesen. Sobald die Gleichungen in seiner Hand gewesen waren, hatte Gupta versucht, alle gewalttätigen Aktionen zu vermeiden, die ein schlechtes Licht auf seine Demonstration geworfen hätten. Ihm konnte nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass seine Anweisungen nicht richtig ausgeführt wurden. Das Problem war einfach menschliche Perversität. Der russische Söldner hatte ihn die ganze Zeit hinters Licht geführt.
Während Gupta in der Dunkelheit saß, hörte er ein neues Geräusch, ein entferntes Brummen. Das war der Ton des RF-Systems, das jetzt ein oszillierendes Radiofrequenz-Feld erzeugte, um die Protonen und Antiprotonen zu beschleunigen. Jedes Mal, wenn die Teilchen ihre Runde durch den Ring zogen, fünfzigtausendmal pro Sekunde, gab ihnen das RF-Feld einen neuen Schub. In weniger als zwei Minuten wür 287
den die Protonen- und Antiprotonenschwärme ihre höchste Energie erreichen, und die supraleitenden Magneten würden die Strahlen aufeinander richten. Der Professor hob den Kopf und lauschte aufmerksam. Er wäre vielleicht nicht in der Lage, den Riss in der Raumzeit zu hören, aber er würde schon bald wissen, ob das Experiment geklappt hatte. David lag mit dem Rücken auf dem Boden des Strahlentunnels. Simon ragte über ihm auf und stellte ihm einen Fuß auf die Brust, was das Atmen für ihn schwierig und das Aufstehen unmöglich machte. Halb benommen und keuchend packte David den Lederstiefel und versuchte, ihn von seinem Brustkorb wegzuschieben, aber der Mann verlagerte nur noch mehr von seinem Gewicht auf David und erhöhte den Druck. Außerdem richtete er auch noch seine Maschinenpistole auf Davids Stirn, schien jedoch keine große Lust zu haben, damit zu schießen. Vielleicht befürchtete er, dass ein Querschläger das Strahlrohr treffen könne. Oder er wollte sich einfach an Davids Niederlage weiden. Als er den Absatz seines Stiefels in Davids Brustbein bohrte, wurde das Summen der supraleitenden Magneten lauter, und der Boden des Tunnels begann zu vibrieren. »Hören Sie das?«, fragte Simon und verzog sein schweißbedecktes Gesicht zu einem Grinsen. »Das ist die letzte Beschleunigung. Nur noch zwei Minuten.« David wand sich, strampelte mit den Füßen und schlug mit den Fäusten gegen Simons Bein, aber dem Mistkerl war dadurch nicht beizukommen - er blieb einfach stehen. Wie er sein Opfer, das er am Boden festgenagelt hatte, mit offenem Mund anstarrte, sah er aus wie ein Mann, den die Leidenschaft gepackt hatte. Nach einer Weile ließ Davids Kraft nach. Sein Kopf pochte, und aus den Wunden in seinem Gesicht sickerte Blut. Inzwischen weinte er, weinte vor Schmer 287 zen und aus Verzweiflung. Es war seine Schuld, die ganze verdammte Geschichte, vom Anfang bis zum Ende. Er hatte gedacht, er könnte einen flüchtigen Blick auf die Theorie von Allem werfen, ohne unter irgendwelchen Konsequenzen zu leiden, und jetzt wurde er für diese Sünde bestraft, für seinen Stolz, sein voreiliges Unterfangen, Gottes Gedanken lesen zu wollen. Simon nickte. »Das tut weh, nicht wahr? Und Sie haben es erst ein paar Sekunden gefühlt. Stellen Sie sich vor, wie es ist, mehrere Jahre damit zu leben.« Trotz des Drucks auf seiner Brust brachte David es fertig, etwas Luft in die Lunge zu saugen. Auch wenn es völlig hoffnungslos war, würde er den Kampf
gegen diesen Dreckskerl nicht aufgeben. »Arschloch!«, keuchte er. »Verdammter Feigling.« Der Söldner lachte leise. »Sie können mir die Laune nicht verderben, Dr. Swift. Ich bin jetzt glücklich, zum ersten Mal seit fünf Jahren. Ich hab getan, was meine Kinder sich von mir gewünscht haben.« Er warf einen Blick auf das Strahlrohr. »Ja, was sie sich gewünscht haben.« David schüttelte den Kopf. »Sie sind ja völlig verrückt!« »Vielleicht bin ich das, vielleicht bin ich das.« Sein Mund stand offen, und seine Zunge hing regelrecht obszön über der Unterlippe. »Aber ich hab's trotzdem gemacht. Wie Samson bei den Philistern. Ich werde die Säulen ihres Hauses zum Einsturz bringen und es über ihren Köpfen zusammenbrechen lassen.« Simon ballte die freie Hand zu einer Faust. Er wandte sich einen Moment von David ab und starrte die Tunnelwand an. »Niemand wird an meinem Grab lachen«, murmelte er. »Kein Gelächter, kein Mitleid. Nichts als ...« Ihm versagte die Stimme. Er blinzelte ein paarmal und kniff sich in den Nasenrücken. Dann fiel ihm wieder ein, was er hatte sagen wollen, und er funkelte David böse an, verstärkte den 288 Druck seines Absatzes. »Nichts als Schweigen! Der Rest ist Schweigen!« David spürte einen Ruck in seiner Brust, aber es lag nicht an Simons Stiefel. Er musterte das Gesicht seines Widersachers. Der Mann sah schläfrig aus. Sein Unterkiefer war schlaff, und seine Lider hingen auf Halbmast. Dann schaute David auf das Rohr mit dem flüssigen Helium, das er aufzuschlagen versucht hatte. Der verbeulte Abschnitt war noch intakt, aber an einem Anschlussstück mehrere Fuß weiter links war das Rohr leicht verbogen. Es machte den Eindruck, als könnte dort eine kleine undichte Stelle entstanden sein -nicht genug, um die Magneten zu überhitzen, aber vielleicht genug, um etwas von dem Sauerstoff im Tunnel zu verdrängen. Und weil Helium das zweideichteste Element war, würde es sich schneller im oberen Teil des Tunnels ausbreiten als unten in Bodennähe. Simon blinzelte abermals. »Was machen Sie da? Wo starren Sie hin?« Er streckte den rechten Arm aus, senkte die Uzi, bis ihre Mündung nur noch ein kleines Stück von Davids Stirn entfernt war. »Ich sollte Sie jetzt erschießen! Ich sollte Sie in die Hölle schicken!« Der Söldner atmete schnell. Das war eines der Symptome von Sauerstoffentzug. Ein anderes war der Verlust der Muskelkoordination. David hielt die Hände hoch, als wolle er sich ergeben. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance. »Nein, nicht schießen!«, schrie er. »Bitte nicht!« Simon verzog verächtlich die Lippen. »Du erbärmlicher Wurm! Du ...« David wartete, bis Simon erneut blinzelte. Dann schlug er ihm mit dem rechten Arm die Maschinenpistole aus der Hand. Als die Uzi über den Boden rutschte, verlagerte Simon sein Gewicht von dem Fuß, mit dem er David die Brust
zusammendrückte, auf den anderen. David packte den Stiefel mit beiden Händen und zog daran wie an einem Korken 289 zieher, sodass Simon das Gleichgewicht verlor und zu Boden krachte. Die Maschinenpistole, dachte David. Ich muss die Waffe in die Hand bekommen. Er hatte nur noch wenige Sekunden. Er stand auf, blieb aber gebückt, damit er nicht zu viel Helium einatmete. Er brauchte einen Augenblick, bis er die Uzi entdeckt hatte, die ungefähr zwanzig Fuß weiter unter das Strahlrohr gerutscht war. Er wollte zu ihr laufen, aber er hatte zu lange gewartet. Bevor er drei Schritte machen konnte, hatte Simon ihn eingeholt und an der Taille gepackt. Der Söldner warf ihn gegen die Wand und eilte zu der Uzi. Einen Moment starrte David ihm nur entsetzt hinterher. Dann drehte er sich um und rannte in die entgegengesetzte Richtung, zurück zum Tunneleingang. Es war eine instinktive Reaktion, da ihn nur noch der Gedanke an Flucht beherrschte, aber er durfte nicht fliehen, solange er den Beschleuniger nicht stillgelegt hatte. Während Simon sich hinkniete und nach seiner Uzi griff, schaute David sich hektisch im Abfall am Tor nach etwas Schwerem um, das er auf das Strahlrohr werfen könnte. Dann fiel sein Blick auf den Elektrowagen. Er war halbwegs durch die Bresche gedrungen, und sein Chassis befand sich in einem unsicheren Gleichgewicht auf dem zusammengedrückten Tor, während die Hinterräder immer noch von dem Motor angetrieben wurden. Als David nach dem Wagen griff, hörte er Schritte hinter sich. Simon kam mit seiner Uzi durch den Tunnel gerannt. Er zog allerdings den Abzug nicht durch aus der Entfernung zu schießen war wegen der Gefahr von Querschlägern zu riskant. Damit schenkte er David kostbare Sekunden. Er packte das Vorderteil des gelben Gefährts und zog mit aller Kraft daran. Aber es rührte sich nicht. Der Wagen war schwer, mindestens zweihundert Kilo, und sein Fahrgestell ruhte auf einem Haufen verdrehten Metalls. David zog noch 289
einmal daran, aber es half nichts. Das verdammte Ding steckte fest. Als Simon nur noch wenige Schritte entfernt war, hob er die Uzi und zielte. David stieß ein animalisches Brüllen aus, einen Schrei voller Empörung. Der Söldner schoss, aber David bückte sich, um noch ein letztes Mal an dem Ding zu ziehen, und die Kugeln zischten über seinen Kopf. Und im gleichen Moment fügte sich der Wagen endlich seinem Willen und rutschte in den Tunnel. Sobald seine Hinterräder den Boden berührten, bockte das Fahrzeug wie ein Hengst. Simon senkte seine Waffe abrupt und stürzte auf den Wagen zu, um das Lenkrad zu ergreifen, aber im letzten Moment rutschte er mit einem Stiefel auf einer Glasscherbe aus. Er fiel direkt vor das Gefährt, das auf das Strahlrohr zuschoss.
David sprang über die Trümmer des Tors und rollte sich zur Seite hinter eine Betonmauer. Dann gab es einen weißen Lichtblitz und einen ohrenbetäubenden Knall. Professor Gupta vernahm ein gedämpftes »Popp«. Einen Augenblick später legte sich das Summen der supraleitenden Magneten. Innerhalb weniger Sekunden machte sich Stille über Collision Hall breit. Das Tevatron war abgeschaltet. Gupta hockte in der Ecke des Lagerraums und konnte sein Herz pochen hören. Er schloss die Augen und sah eine zerknitterte, sich wellende Platte, die gleiche Platte, die in der von ihm geschaffenen Computersimulation erschienen war. Er sah, wie sich ein Schwärm steriler Neutrinos von der Platte löste und zwischen ihren Falten hindurchschoss wie eine Billion weiß glühender Kohlestückchen. Und dann brach er zusammen und sah nichts als Schwärze. Geweckt wurde er von den schrillen Schreien seiner Studenten. Sie waren ziemlich nahe und riefen mit angstvollen Stimmen: »Professor! Professor!« Gupta zwang sich vom 290
Boden hoch, kroch zur Tür des Lagerraums und schlug mit der Faust dagegen. Die Stimmen kamen näher. »Professor? Sind Sie das?« Jemand fand den Schlüssel und machte die Tür auf. Die ersten, die Gupta sah, waren Richard Chan und Scott Krinsky, die in den kleinen Raum geeilt kamen und sich neben ihn hinknieten. Die anderen folgten ihnen und drängten sich in dem Raum zusammen. Guptas Mund war so trocken, dass er kaum sprechen konnte. »Richard«, krächzte er. »Was ist passiert?« Richards Wangen waren tränenüberströmt. »Professor!«, schluchzte er. »Wir dachten, Sie wären tot!« Mit geradezu kindlicher Hingabe schlang er seine Arme um Gupta. Der Professor entzog sich ihm. »Was ist passiert?«, wiederholte er, diesmal lauter. Scott, dem die Brille schief auf der Nase saß, trat vor. Eine Maschinenpistole hing an einem Riemen von seiner Schulter herab. »Wir waren dabei, Simons Anweisungen zu befolgen, aber ein paar Sekunden vor dem Zusammenstoß gab es eine Explosion in dem E-Null-Abschnitt des Strahlentunnels.« »Dann hat es gar keine Kollisionen gegeben? Keinen Riss in der Raumzeit?« »Nein, die Explosion hat das Strahlrohr zerrissen, und das Tevatron hat sich abgeschaltet.« Gupta spürte eine warme Welle der Erleichterung. Dem Himmel sei Dank. »Nachdem das Tevatron den Betrieb eingestellt hatte, haben wir angefangen nach Ihnen zu suchen«, fügte Scott hinzu. »Wir hatten Angst, dass Simon Sie umbringen würde, wie er angekündigt hatte.« Er biss sich auf die Unterlippe. »Er hat Gary und Jeremy umgebracht. Wir haben ihre Leichen vor dem Tunneleingang im Abschnitt F-Zwei gefunden. Ich habe mir eine ihrer Uzis genommen.« Gupta starrte auf die hässliche schwarze Schusswaffe. »Wo 290
ist Michael?« Er schaute an Scott und Richard vorbei und suchte nach dem Gesicht seines Enkels. »Ist er nicht mit Ihnen gekommen?« Sie guckten sich nervös gegenseitig an. »Ah, nein«, antwortete Scott. »Ich hab ihn nicht gesehen, seit wir den Kontrollraum verlassen haben.« Der Professor schüttelte den Kopf. Seine Studenten standen um ihn herum wie eine Gruppe hilfloser Kinder. Sie hatten ihn schmählich im Stich gelassen, und jetzt warteten sie darauf, dass er ihnen verzieh und ihnen die nächsten Anweisungen erteilte. Guptas Zorn auf sie verlieh ihm neue Kräfte. Er streckte Scott die Hand entgegen. »Helfen Sie mir hoch«, befahl er. »Und geben Sie mir diese Waffe.« Augenblicklich half Scott ihm auf die Beine und übergab ihm die Uzi. Gupta drückte sie gegen die Hüfte, als er den Lagerraum verließ. »Okay, wir gehen jetzt zurück zum Kontrollraum«, verkündete er. »Wir werden Michael finden und das Experiment neu beginnen.« Richard starrte ihn bestürzt an. »Aber das Strahlrohr ist ernsthaft beschädigt! Die Messwerte haben gezeigt, dass einige der Magneten nicht mehr funktionieren!« Gupta tat diesen Einwand mit einer Handbewegung ab. »Wir können den Schaden reparieren. Wir haben die ganze Ausrüstung, die dafür nötig ist.« Er marschierte durch Collision Hall zu einem der Ausgänge, während seine Studenten besorgt hinter ihm her zockelten. Es war nicht zu spät für einen zweiten Versuch. Es würde vielleicht mehrere Stunden dauern, bis das Strahlrohr repariert war, aber mit ein bisschen Glück konnten sie am Ende des Tages einen weiteren Teilchenvorrat akkumulieren. Diesmal würden sie die ursprünglichen Zielkoordinaten für die Neutrinos eingeben, fünftausend Kilometer über Nordamerika. Die Explosion würde ihre herrlichen Strahlen genau zur Abenddämmerung am Himmel ausbreiten. 291 Als sie nach draußen traten, holte Scott ihn ein und ergriff sanft seinen Ellbogen. »Es gibt noch ein Problem, Professor«, sagte er. »Der Sicherheitsdienst des Labors weiß, dass wir hier sind. Wir haben vorhin drei Wächter in Pachtung des Kontrollraums gehen sehen.« Gupta lief weiter mit großen Schritten quer über einen Parkplatz auf die Böschung zu, die über dem Strahlentunnel verlief. »Das spielt keine Rolle. Wir werden unser Schicksal erfüllen. Wir werden der Welt ein neues Gesicht geben.« »Aber die Wächter haben Schusswaffen! Und es kommen noch mehr!« »Ich hab doch gesagt, das spielt keine Rolle. Die Menschheit hat seit mehr als einem halben Jahrhundert darauf gewartet. Die Einheitliche Feldtheorie kann nicht länger verborgen bleiben.« Scott packte Guptas Ellbogen fester. »Professor, bitte hören Sie zu! Wir müssen hier verschwinden, bevor sie uns verhaften!« Der Professor schüttelte Scotts Hand ab und hob die Uzi, richtete die Mündung auf Scotts Brust. Die anderen Studenten blieben voller Verblüffung abrupt
stehen. Diese Schwachköpfe! Konnten sie nicht sehen, was getan werden musste? »Ich erschieße jeden, der versucht mich aufzuhalten!«, schrie er. »Nichts auf der Welt kann mich jetzt aufhalten!« Scott hob die Hände, aber er wich nicht zurück. Stattdessen machte er einen Schritt nach vorn. »Bitte, seien Sie vernünftig, Professor. Vielleicht können wir es irgendwann noch mal versuchen, aber im Moment müssen wir ...« Gupta brachte ihn zum Schweigen, indem er abdrückte. Dann erschoss er Richard, der nach hinten auf den Asphalt kippte. Die anderen standen einfach nur da und machten große Augen. Sie liefen nicht davon. Außer sich vor Wut über ihre Dummheit schoss der Professor immer weiter, strich mit der Maschinenpistole über ihre verblüfften Gesichter. Sie 292
zuckten wie Marionetten, während sie starben. Gupta feuerte noch ein paar zusätzliche Schüsse ab, um dafür zu sorgen, dass sie alle tot waren. Sie waren ohnehin wertlos, jedes Wort an sie war verschwendet. Er würde allein zurückgehen und sein Schicksal erfüllen. Er marschierte neben der Böschung auf Wilson Hall zu, aber jetzt fuhr ein schwarzer Geländewagen von der Straße runter und drei Männer in grauen Anzügen sprangen heraus. Sie duckten sich hinter das Fahrzeug, zielten mit ihren Pistolen auf ihn und riefen unverständliches Zeug. Noch mehr Dummheit, dachte der Professor. Heute gab es einen unerschöpflichen Vorrat davon. Verärgert drehte Gupta sich um und hob seine Uzi, aber bevor er den Abzug durchziehen konnte, sah er einen gelben Mündungsblitz aus einer ihrer Pistolen. Ein Neun-Millimeter-Geschoss raste durch die Luft, fast so gerade wie ein Hochenergie-Proton, allerdings nicht annähernd so schnell. Die Kollision zersplitterte Guptas Schädel, wobei Teilchen von Haut, Blut und Knochen herausgeschleudert wurden. Und dann riss sich der Geist des Professors aus unserem Universum los und verschmolz mit dem wolkenlosen Himmel. Ein Krankenwagen und ein Feuerwehrauto standen im Leerlauf neben dem Tunneleingang im Abschnitt F-Zwei. David beschleunigte seine Schritte und humpelte so schnell er konnte auf das Gebäude zu. Nach der Explosion in dem Strahlentunnel war er ohnmächtig geworden und hatte deshalb keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, seit er Monique verlassen hatte. Zwanzig Minuten? Dreißig? Er musste an die schrecklichen Wunden in ihrem Bauch denken, an all das Blut. Er hoffte inständig, dass die Sanitäter rechtzeitig bei ihr eingetroffen waren. Als er noch etwa zwanzig Meter entfernt war, sah er einen 292 menschlichen Körper auf dem Boden liegen, der mit einem Tuch bedeckt war. Zwei Feuerwehrmänner in voller Montur standen daneben und schauten auf die Leiche hinab. David kam stolpernd zum Stehen, seine Beine zitterten. Um seine Brust schien sich ein eiserner Ring zu legen, als er eine zweite zugedeckte Leiche
ein Stück weiter links entdeckte. Und dann sah er noch weiter links zwei Sanitäter in blauen Overalls eine Tragbahre in den Krankenwagen schieben. Er erhaschte einen Blick auf ein braunes Gesicht mit einer Sauerstoffmaske über dem Mund. »Monique!«, schrie er und sprang auf die Rolltrage zu. Sie war am Leben! Ein dritter Sanitäter, ein hochgewachsener Junge mit schwarzem Schnurrbart, trat ihm in den Weg, bevor er den Krankenwagen erreichte. »Hey, immer mit der Ruhe, Kumpel!«, sagte er, packte ihn am Arm und schaute ihn von oben bis unten an. »Was ist mit Ihnen passiert?« David deutete auf Monique. Ein breiter Streifen Verbandsmull war um ihre Taille gewickelt. Eine ihrer Hände war ebenfalls bandagiert. »Wie geht es ihr? Wird sie wieder gesund?« »Keine Angst, ihr Zustand ist stabil. Sie hat eine Menge Blut verloren, aber sie wird es überleben. Und die Chirurgen können die abgetrennten Finger wieder annähen.« Mit offenkundiger Sorge starrte er auf die klaffenden Wunden an Davids Stirn. »Es sieht so aus, als könnten Sie auch Hilfe gebrauchen.« David verkrampfte sich, machte einen Schritt zurück und befreite seinen Arm aus dem Griff des Sanitäters. Er war derart besorgt um Monique gewesen, dass er ganz vergessen hatte, was er selbst gerade durchgemacht hatte. Er hatte sich zwar hinter eine Betonmauer gerollt, bevor das Strahlrohr zertrümmert worden war, aber er wusste auch, dass Hochenergie-Protonen alle möglichen gefährlichen sekundären Teilchen erzeugen konnten. »Fassen Sie mich besser nicht 293 an«, warnte er. »Da ich im Strahlentunnel war, könnte ich verseucht sein.« Der Schnurrbart des Jungen zuckte. Er wich zurück und wandte sich an einen der Feuerwehrmänner, die neben den Leichen standen. »Alex! Ich brauche eine Strahlenmessung, schnell!« Der Mann kam mit einem Geigerzähler herbeigeeilt, einer dicken Metallröhre, die mit einem Monitor im Taschenformat verbunden war. Falls David dem Teilchenschauer aus dem Strahlrohr ausgesetzt gewesen war, würde der Zähler radioaktives Material an seinen Kleidungsstücken oder seiner Haut entdecken. Er hielt den Atem an, während der Feuerwehrmann die Röhre vor ihm herumschwenkte, wobei er ein kompliziertes Muster von seinem Kopf bis zu seinen Füßen nachzeichnete. Schließlich schaute der Mann hoch. »Nichts feststellbar«, berichtete er. »Sie sind sauber.« David pfiff erleichtert durch die Zähne. Vielleicht hatte er ein wenig radioaktive Strahlung absorbiert, aber es war nicht genug, um ihn zu töten. Gott sei Dank für den Schutz, den Beton gewährte. »Sie sollten einen Wagen zu dem Tunneleingang E-Null schicken«, sagte er zu dem Feuerwehrmann. »Der Abschnitt des Tunnels muss abgesichert werden. Dort unten gibt es noch ein Opfer. Viel ist allerdings nicht mehr von ihm übrig.«
Aex schüttelte den Kopf. »Herr im Himmel! Was ist nur hier los heute Morgen? Wir haben Leute, die sich gegenseitig mit Uzis erschießen, wir haben einen verrückten Teenager, der einen Anfall bekommt, und jetzt sagen Sie, dass es noch eine Leiche im ...« »Moment mal. Ein Teenager?« »Ja, irgendein Wahnsinniger, der auf dem Parkplatz vor dem Kontrollraum rumschreit und alle Geräte in den Lastwagen kaputtschlägt und ... Hey, wo wollen Sie denn hin?« 294 David rannte los. Während die Feuerwehrmänner hinter ihm her riefen und nach ihren Funkgeräten griffen, lief er an dem Schlackestein-Bau vorbei. Das war die letzte Etappe seiner Reise, die letzten fünfhundert Meter. Er war jetzt allein und so erschöpft, dass er kurz vor dem Zusammenbruch stand, aber er hatte gerade noch genug Kraft, sich an der leicht geschwungenen Böschung entlang an dem Main Injector und der Antiproton Source, dem Booster und dem Accumulator vorbeizukämpfen, bis er den großflächigen Komplex erreichte, in dem sich der Kontrollraum des Tevatron befand. Er stürmte auf den Parkplatz, wo Guptas Lieferwagen standen. Zuerst bemerkte er die schwarzen Suburbans, die an beiden Ausfahrten postiert waren, um zu verhindern, dass irgendjemand wegfuhr. Dann erblickte er zu seiner großen Freude Karen und Jonah, die auf der Kühlerhaube eines der Geländewagen saßen. Zwei FBI-Agenten standen daneben und boten Jonah einen Frühstücksriegel und Karen einen Becher Wasser an. Diese Agenten machten einen bemerkenswert zahmen Eindruck; keiner von beiden zog seine Waffe, als David auf sie zulief. Einer von ihnen lächelte sogar, als Jonah von der Kühlerhaube rutschte und in Davids Arme sprang. Nachdem die Agenten gewartet hatten, bis Vater und Sohn ihre Umarmung beendeten, nahmen sie David nun beiseite und tasteten ihn ab. Dann kam ihr Vorgesetzter, ein fröhlicher, grauhaariger Gentleman mit einer Notre-Dame-Anstecknadel im Revers, zu ihm und schüttelte ihm die Hand. »Ich bin Agent Cowley«, verkündete er. »Wie geht es Ihnen, Dr. Swift?« David schaute ihn misstrauisch an. Warum zum Teufel war der Mann so nett zu ihm? »Mir geht's gut.« »Ihre Exfrau hat uns schon erzählt, was Sie alles durchgemacht haben. Sie haben sehr viel Glück gehabt.« Dann wur 294 de der Agent ernst und sprach leiser. »Leider sind fast alle anderen tot. Professor Gupta und all seine Studenten. Es war ein richtiges Blutbad.« »Dann wissen Sie über Gupta Bescheid? Und was er tun wollte?« »Nun ja, schon, in gewisser Weise. Agent Parker hat mich auf dem Weg hierher informiert. Allerdings haben wir immer noch ein paar Fragen. Wir würden es
sehr begrüßen, wenn Sie mit in unser Büro kommen und uns dabei helfen könnten, die Lücken zu füllen. Nachdem wir Sie verbunden haben, meine ich.« Der Agent lächelte wie ein Großvater und drückte Davids Schulter. Er ließ sich davon natürlich nicht hereinlegen; das FBI war immer noch hinter der gleichen Sache her. Diese falsche Höflichkeit war nur eine andere Taktik. Ihre früheren Versuche hatten nichts gebracht, also versuchten sie jetzt etwas Neues. David erwiderte sein Lächeln. »Okay, kann ich machen. Aber zuerst würde ich gern Michael sehen.« »Michael? Sie meinen Professor Guptas Enkel?« »Ja, ich möchte sehen, wie es ihm geht. Er ist Autist, wie Sie sicher wissen.« Agent Cowley dachte einen Moment darüber nach. »Natürlich können Sie ihn sehen. Der Junge ist allerdings nicht sehr gesprächig. Er hat wie verrückt geschrien, als wir ihn gefunden haben, aber jetzt will er kein Wort mehr sagen.« Der Agent legte David eine Hand auf den Rücken und führte ihn zu einem von Guptas Lieferwagen. Als sie näher kamen, sah David einen Haufen zerstörter Computergeräte, die aussahen, als hätte sie jemand hinten aus dem Laderaum geworfen. Die FBI-Agenten hatten das Gebiet mit gelbem Tatortband abgesperrt, aber es schien unwahrscheinlich, dass sie in der Lage wären, aus dem Schrott irgendwas Brauchbares zu retten. Alle Computer, die Gupta benutzt hatte, um 295 den Bruch der Raumzeit zu simulieren, waren aufgerissen worden, um die Festplatten entfernen zu können. Glänzende Splitter der gläsernen Festplatten waren auf dem Parkplatz verstreut. Michael stand unmittelbar außerhalb der Absperrung und wurde von zwei weiteren Agenten flankiert. Er trug die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt, aber das schien ihm nichts auszumachen. Er grinste den Haufen mit den zertrümmerten Rechnern an, als handele es sich um ein Geburtstagsgeschenk. David hatte den Jungen noch nie so glücklich gesehen. Cowley gab den Agenten, die Michael bewachten, ein Zeichen, und sie traten ein Stück von ihm zurück. »Hier ist er, Dr. Swift. Er hat ein ganz schönes Chaos angerichtet, aber jetzt hat er sich beruhigt.« David starrte die beschädigten Platinen, Chips und Disketten, die zumindest eine kurze Zeit lang die Einheitliche Feldtheorie enthalten hatten, verwundert an. Jetzt begriff er, dass er Michael ernsthaft unterschätzt hatte. Obwohl der Junge auf die Schliche seines Großvaters hereingefallen war, würde er dem FBI die Theorie nie preisgeben, egal wie oft sie ihn verhören würden, da war David sich ganz sicher. Immerhin war er Einsteins Urenkel. Genau wie Hans Kleinman das Versprechen gehalten hatte, das er dem Herrn Doktor gegeben hatte, würde Michael das Versprechen halten, das er Hans gegeben hatte. David lächelte den Jungen an und zeigte auf den Schrotthaufen. »Michael, hast du das angerichtet?«
Der Teenager beugte sich nach vorn und kam mit den Lippen nah an Davids Ohr. »Das musste ich tun«, flüsterte er. »Es war kein sicherer Ort.« EPILOG
An einem warmen Samstagnachmittag im Oktober konnte man sich kaum einen besseren Ort zum Spielen vorstellen als den Schulhof an der Seventyseventh Street West. Innerhalb eines asphaltierten Rechtecks warfen sich ungefähr zwei Dutzend Jungs Footbälle zu, dribbelten mit Basketbällen, schwangen Lacrosseschläger und schlenzten Hockeybälle. Ihre Eltern saßen zum größten Teil auf den Parkbänken am Rand, lasen Zeitungen oder aßen Grillhähnchen von dem Imbiss auf der anderen Straßenseite. Aber David stand mitten auf dem Schulhof, genau im Zentrum des Geschehens, und spielte mit Jonah und Michael Baseball. David holte aus und warf den Ball hoch in die Luft. Jonah schnappte ihn mit seinem Handschuh und warf den Ball dann zu Michael, der ihn aufnahm und zurück zu David feuerte. Der Ball machte ein zufriedenstellendes Klatschen in seinem Baseballhandschuh. Nicht schlecht, dachte er. Die Jungen hatten seit August an jedem Wochenende Baseball gespielt, und die Übung machte sich bezahlt. Wenn man irgendein Spiel lange genug trainiert, dachte er, wird man einfach zwangsläufig gut darin. Dasselbe galt auch für Schach, Klavier und Physik. Karen saß mit Ricardo, ihrem neuen Freund, auf einer der Parkbänke. Ricardo war Bassist in einer Jazzband, die in mehreren kleinen Clubs in Manhattan auftrat. Der Typ hatte lange Haare in der Manier von Jesus Christus, nie Socken an und praktisch keinen Penny in der Tasche, aber Karen war verrückt nach ihm. Und um die Wahrheit zu sagen, David 296 mochte Ricardo sehr viel mehr als ihren alten Freund, den Anwalt Amory Soundso. Monique saß auf einer Nachbarbank und las die New York Times. Sie und Michael kamen ziemlich regelmäßig in die Stadt, seitdem man ihr das Sorgerecht für den Teenager zugesprochen hatte. Monique hatte den Jungen während der zwei Wochen, die sie im Medizinischen Zentrum der Universität von Chicago zur Behandlung ihrer Schusswunde und der Verstümmelung ihrer Hand verbracht hatte, ziemlich liebgewonnen. Das FBI hatte David und Michael gestattet, sie jeden Tag zu besuchen; erst nach und nach gaben die Agenten die Hoffnung auf, ihnen ein paar Informationen zu entlocken. Als das Bureau schließlich resignierte, versuchte das FBI Michael in die Obhut seiner Mutter zu entlassen, aber Beth Gupta wollte ihn nicht zu sich nehmen. Nach zwei Wochen im FBIGewahrsam konnte sie es nicht erwarten, zurück an den Victory Drive zu kommen. Deshalb sprach die Leiterin der FBI-Spezialeinheit - Lucille Parker, dieselbe Frau, die David verhört hatte - die für alle überraschende Empfehlung aus, der Junge könne bei Monique in Princeton wohnen.
David warf noch einen hohen Ball zu Jonah. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr begriff er, wie glücklich sie waren. Agent Parker hätte sie noch Monate festhalten und mit täglichen Vernehmungen mürbe machen können, aber stattdessen ließ sie Milde walten. David gewann den Eindruck, als bereue sie die ganze Geschichte und wolle sie einfach zum Abschluss bringen. Aber vielleicht hatte sie auch die Risiken erkannt, die ein zu gründliches Nachbohren mit sich brachte. Angesichts des Beweismaterials am Fermilab hatte sie wahrscheinlich vermutet, dass Einsteins Theorie einem Irren in die Hände gefallen war, der beinahe eine Katastrophe angerichtet hatte. Die Tatsache, dass weder David noch Monique auch nur ein Wort über die Theorie sagen wollten, war ein 297 klares Indiz dafür, wie gefährlich sie war. Und vielleicht war Agent Parker ja zu demselben Schluss gekommen, zu dem Einstein ein halbes Jahrhundert vorher gelangt war: dass die Theorie von Allem nicht enthüllt werden durfte. Sogar der Regierung konnte man sie nicht anvertrauen. Während der Baseball ein weiteres Mal die Runde machte, warf David einen Blick auf die Parkbank und stellte fest, dass Karen und Ricardo aufbrachen. Sie gingen zu einem von Ricardos Gigs Downtown; Jonah würde die Nacht in Davids Wohnung verbringen. Karen winkte zum Abschied, warf Jonah einen Kuss zu und erinnerte ihn pantomimisch daran, sich die Zähne zu putzen. Und dann, unmittelbar bevor sie losgingen, beugte sie sich vor, um Monique einen Kuss zu geben. Für David war das die erstaunlichste Entwicklung überhaupt, dass seine Exfrau und seine neue Lebensgefährtin enge Freundinnen geworden waren. Der schreckliche Vorfall am Fermilab hatte die beiden Frauen einander näher gebracht, und mittlerweile gab Karen Monique Ratschläge, wie sie am besten mit Davids diversen Neurosen fertig wurde. Die Welt war in der Tat ein merkwürdiger und wundersamer Ort. »Hey, Dad!«, schrie Jonah. »Jetzt wirf schon endlich den Ball!« David hatte geistesabwesend die Nähte auf dem Baseball abgetastet. Er warf ihn in hohem Bogen zu Jonah und zog seinen Handschuh aus. »Spiel eine Weile mit Michael, okay? Ich muss eine Pause einlegen.« Er ging zu Moniques Bank. Sie las irgendeinen Artikel in der Zeitung und zog vor Konzentration die Augenbrauen zusammen. David setzte sich neben sie und warf einen Blick auf die Titelseite. V ERTEIDIGUNGSMINISTER TRITT ZURÜCK lautete die dickste Schlagzeile. Und direkt darunter in einer kleineren Type: V IZEPRÄSIDENT LOBT SEINE B ILANZ . »Liest du über den Rücktritt des Verteidigungsminis 297 ters?«, fragte David. »Wir haben das Ende seiner Rede in Fort Benning mitbekommen, erinnerst du dich?«
Monique schüttelte den Kopf. Sie breitete die Zeitung aus und zeigte auf einen anderen Artikel. Die Überschrift lautete: P HYSIKER ENTDECKEN NEUES T EILCHEN . »Ich kenne diese Wissenschaftler«, erklärte sie. »Sie arbeiten am Large Hadron Collider in Genf und haben ein Boson mit einer Restmasse von zweihundertsechsunddreißig Billionen Elektronenvolt gefunden.« »Und was bedeutet das?« »Den Standardtheorien zufolge dürfte dieses neue Teilchen nicht existieren. Aber die einheitliche Theorie sagt es voraus. Einstein hat es vorausgesagt.« »Ich verstehe immer noch ...« »Es ist ein Anhaltspunkt, David. Und wenn Physiker Anhaltspunkte sehen, fangen sie an zu theoretisieren.« Sie faltete die Zeitung zusammen und warf sie beiseite. Auf ihrer Stirn erschienen Sorgenfalten. »Nach ein paar weiteren Entdeckungen wie der hier fangen sie an, es sich zusammenzureimen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis jemand dahinterkommt.« »Meinst du die einheitliche Theorie? Wird jemand sie wiederentdecken?« Sie nickte. »Sie sind schon ziemlich nahe dran. Nach allem, was wir wissen, könnte irgendein Doktorand in Princeton oder Harvard in diesem Moment an den Gleichungen arbeiten.« David ergriff ihre Hand. Es gab nichts mehr, was er tun konnte. Im Augenblick war das Geheimnis des Herrn Doktor in Michaels Kopf sicher, aber all ihre Vorsichtsmaßnahmen wären umsonst, wenn ein anderer Physiker die Theorie entdecken und veröffentlichen würde. Von dem Tag an bliebe ihnen nur noch die Hoffnung. David lief ein Schauer über den Rücken, während er da neben Monique saß und auf den 298 Schulhof voll spielender Kinder starrte. Alles ist so flüchtig, dachte er. Es konnte in einem Augenblick verschwunden sein. Dann ließ er seine Hand zu Moniques Bauch wandern und spreizte die Finger über dem weichen Baumwollstoff ihrer Bluse. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte. »Es ist noch zu früh, um irgendwas zu fühlen. Sie wird erst im vierten oder fünften Monat anfangen zu treten.« David erwiderte ihr Lächeln. »Wieso sagst du immer wieder >sie Bist du dir denn sicher, dass es ein Mädchen wird?« Monique zuckte mit den Achseln. »Es ist nur so ein Gefühl. Letzte Nacht habe ich geträumt, dass wir sie aus dem Krankenhaus mit nach Hause nehmen. Ich habe sie in den Wagen gesetzt, sie in ihrem Kindersitz festgeschnallt, und auf einmal fing sie an zu reden. Sie hat sich mir regelrecht vorgestellt. Sie hat gesagt, sie hieße Lieserl.« »Mensch, das ist ja ziemlich ausgefallen.« Er rieb ihren Bauch direkt über dem Nabel. »Ist das also der Name, den du ihr geben willst? Lieserl? Oder Albert, falls es ein Junge wird?«
Sie verzog das Gesicht. »Bist du verrückt? Das Letzte, was die Welt braucht, ist ein neuer Einstein.« David lachte, und obwohl er wusste, dass es absolut unmöglich war, hätte er schwören können, gefühlt zu haben, wie sich etwas unter seiner Hand bewegte.