Die Zeitpiraten
von PETER TERRID
Die Hauptpersonen des Romans;
Don Slayter und Demeter Carol Washington — Chefs der ...
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Die Zeitpiraten
von PETER TERRID
Die Hauptpersonen des Romans;
Don Slayter und Demeter Carol Washington — Chefs der Zeitschwadron.
Tovar Bistarc, Inky und Joshua Slocum — Agenten der Time-squad.
William Chadwick — Ein junger Mann des Jahres 1692.
Valcarcel — Ein Unheimlicher.
1. Ich schnappte nach Luft; der Hieb in die Magengrube war ein Volltreffer gewesen. Mein Gegner zeigte ein zufriedenes Grinsen. Von den klassischen asiatischen Kampfsportarten und Techniken der Selbstverteidigung hatte er noch nie etwas gehört, trotzdem verstand er es ausgezeichnet, sich seiner Haut zu wehren. Immerhin hatte er sechs Jahre des mörderischsten Krieges durchgestanden, der jemals auf dem Erdball gewütet hatte. Anastasius Immekeppel war mit der Wehrmacht des sogenannten Großdeutschen Reiches durch alle Landschaften Europas gezogen, er kannte Norwegen und Italien, die Pripjet-Sümpfe und die Küste der Normandie. Stets hatte er es verstanden, aus der jeweiligen Lage das Beste für sich herauszuholen. Er war ein ausgesprochenes Naturtalent, wenn es ans Improvisieren ging. Und er verstand zu kämpfen. Oft genug hatte er sich seiner Haut wehren müssen. Ich fand langsam wieder zu mir und setzte einen Hebelgriff an. Das Manöver, mit dem sich Inky meiner Attacke entzog, stand in keinem Lehrbuch und wurde nirgendwo trainiert - aber es funktionierte. Ein Schuh krachte gegen mein Schienbein, und während ich genug damit zu tun hatte, den aufzuckenden Schmerz zu verdauen, landete Inky zwei harte Schwinger an meinem Kinn. Eine klassische Dublette, die mich schlagartig in das Reich der Träume schickte. Ich kam zu mir, als Inky mir die Wange tätschelte. Sein Gesicht zeigte Besorgnis. „Tut mir leid, Tovar“, sagte er. „Ich wollte dich nicht verletzen, aber...“ Ich nickte. Ich verstand ihn. Die Kämpfe, die er in den letzten Jahren auszutragen gehabt hatte, waren keine sportlichen Auseinandersetzungen gewesen, sondern in jedem Fall tödlicher Ernst. Inky half mir auf die Beine. Mir brummte der Schädel, aber ich bemühte mich, das nicht zu zeigen. Schließlich war ich Agent der Time-squad und hatte einen entsprechenden Ruf zu verteidigen. „Schon gut“, wehrte ich ab und schlug ihm auf die Schulter. Inky war ein hochgewachsener, hagerer Bursche mit einer keineswegs aufsehenerregenden Muskulatur. Nur wenige wußten, daß er sportlich in Hochform war. Was ihm an Quantität zu fehlen schien, machte er durch Qualität jederzeit mehr als wett. Gemeinsam suchten wir die Umkleideräume auf. Nach dem letzten, fast Selbstmörderischen Kommandounternehmen, das uns in die Dschungel Südamerikas verschlagen hatte, war uns Urlaub bewilligt worden.
Urlaub, das hieß bei der Time-squad Training, Training und nochmals Training. Sportliche
Übungen gehörten dazu, mnemotechnische Übungen und seit einigen Monaten historische
Schulungen, die jeder Universität zur Ehre gereicht hätten. Ein pausenloses Studium aller
modernen und klassischen Sprachen war fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden.
So hart die Time-squad uns auch forderte, sie sorgte auch für einen Ausgleich. In den wenigen
freien Stunden, die uns verblieben, konnten wir alle Annehmlichkeiten genießen, die San
Francisco zu bieten hatte. Unsere Bezahlung war in jeder Beziehung erstklassig, und der Chef
der Time-squad in San Francisco, Don Slayter, ließ uns jede Freiheit.
„Gefällt es dir bei uns?“ erkundigte ich mich bei Inky.
Inky war damit beschäftigt, sein Haar zu trocknen. Seine Frisur war schon früher erstaunlich
modern gewesen, ein wuscheliges Etwas, das weder Kamm noch Friseur brauchte, Inky ließ
sich Zeit mit seiner Antwort.
Ich konnte verstehen, daß es ihm schwerfiel, auf diese Frage schnell und präzise zu antworten.
Wir schrieben das Jahr 2378, Inky war vor mehr als vierhundert Jahren geboren worden.
Seither hatte sich einiges verändert, und das nicht nur auf technischem Gebiet. Inky nickte.
„Doch“, erklärte er grinsend. „Es gefällt mir. Die Mädchen sind hübsch, die Getränke kühl
und naß, was will der Mensch mehr?“
Einstweilen gab ich mich mit dieser ausweichenden Antwort zufrieden.
„Wollen wir zusammen essen? Ich schlage Fishermarn’s Wharf vor!“
„Hört sich gut an. Was gibt es dort?“
„Fische und jede Form von Meeresgetier, hervorragend zubereitet.“ „Einverstanden!“
* „In einem Punkt haben sich die USA sehr zu ihrem Vorteil verändert“, erklärte Inky, nachdem er sich mit der Serviette die Lippen abgetupft hatte. „Eure Küche hat gewaltig an Reiz gewonnen, und die kalifornischen Weine sind manchmal sogar entschieden besser als europäische Kreszenzen.“ „Es freut mich, daß Sie sich so gut eingelebt haben“, sagte eine Stimme, die ich nur zu gut kannte. Don Slayter war an unseren Tisch getreten und lächelte uns freundlich an. Ich wechselte einen Blick mit Inky. Unser verehrter Chef war kein großer Freund guten Essens, er zog Arbeit vor. Daß er sich in dieses Spezialitätenrestaurant verirrt hatte, bedeutete bestimmt nichts Gutes. Wenn er sich hier sehen ließ, dann hatte er etwas vor - und zwar mit uns. Slayter zog einen Stuhl heran und setzte sich zu uns. Er lächelte wohlwollend. „Nun“, sagte Inky gedehnt. „Es wird natürlich etwas dauern, bis ich mich in diesem Zeitalter wirklich heimisch fühle.“ Slayters Lächeln wurde noch breiter, während mein Unbehagen stieg. „Dann wird es Sie sicherlich freuen, wenn ich Ihnen verrate, daß Sie bald wieder in vergangenen Gefilden weilen dürfen.“ „Aha!“ sagten Inky und ich gleichzeitig. „Es geht also wieder los. Wohin diesmal?“ Slayter bestellte einen Whisky und wartete, bis der Kellner sich entfernt hatte. „Sie wissen, daß wir die Gefangenen des Zeit-Camps im Amazonasdschungel befragt haben.“ Wir nickten. Ich erinnerte mich nur zu gut an diesen Einsatz. Der geheimnisvolle Gegner der Time-squad hatte dort ein Lager eingerichtet, in dem Verschleppte aus vielen Jahrhunderten zu Einzelkämpfern ausgebildet werden sollten. Wir hatten das Lager zerstört und bei dieser Gelegenheit die Verschleppten in unsere Zeit mitgenommen. Einige waren inzwischen in ihre eigene Zeit zurückgekehrt, die meisten aber hatten sich dafür entschieden, in unserer Zeit zu bleiben. Ich konnte das verstehen. Was hatte es für einen jungen Mann für einen Sinn, der aus den Schlachten des Ersten Weltkrieges verschleppt worden war, in seine Zeit zurückzukehren. Selbst wenn man seine Rückkehr auf ein Datum nach dem Ende des Krieges festlegte, wäre
dieser Mann höchstwahrscheinlich wenige Jahre später erneut in den Krieg geschickt worden.
„Bei diesen Befragungen ist herausgekommen, daß unser Gegner noch einen weiteren
Stützpunkt in unserer Vergangenheit angelegt hat. Wir planen ein Unternehmen, das diesen
Stützpunkt zum Ziel hat.“
„Wann und wo liegt dieser Stützpunkt?“ fragte ich sofort.
Slayter nannte nur einen Namen.
Port Royal! * Port Royal war eine Hafenstadt und lag an der Küste Jamaikas - jedenfalls bis zum 7. Juni 1692. An diesem Tag war die gesamte Stadt, offenbar aufgrund eines Erdbebens, vom Meer verschlungen worden. Port Royal war in seiner Zeit der Hauptschlupfwinkel der karibischen Piraten, Freibeuter, Buccaneers oder Korsaren, wie immer man die Seeräuber bezeichnen wollte, die im siebzehnten Jahrhundert die Karibik unsicher gemacht hatten. Port Royal war ihr beliebtester Treffpunkt gewesen, eine Stadt mit annähernd fünftausend Einwohnern, die den Seeräubern alles bot, was ihr Herz erfreuen konnte. Port Royal mußte eine Lasterhöhle ohnegleichen gewesen sein. Diese Stadt war unser Ziel, ein Ort, an dem es von Freudenmädchen und ihren Kunden wimmelte - Mördern, Räubern, Betrügern, Halsabschneidern jeglicher Spielart. In eine Stadt zu reisen, in der die eine Hälfte der Einwohnerschaft an den Galgen und die andere Hälfte auf Lebenszeit in Ketten gehört hatte, war ein ausgesprochen zweischneidiges Vergnügen. Unsere Gesichter verrieten Slayter überdeutlich, was wir von dieser Angelegenheit hielten. „Nun, die Herren? Was sagen Sie dazu? Die Time-squad spendiert Ihnen einen Ausflug in die Karibik. Prachtvolles Wetter, romantische Landschaften, feurige Mädchen was wollen Sie noch?“ „Ein Messer im Rücken ist eine ausgesprochen unromantische Angelegenheit“, bemerkte Inky trocken. „Sollen wir nur beobachten?“ Slayter schüttelte den Kopf. „Was haben wir davon, zuzusehen, wie der Strick gedreht wird, an dem wir aufgeknüpft werden sollen?“ fragte er provozierend. „Wir müssen den Stützpunkt zerstören, vor allem die Zeitmaschine, die dort stehen wird!“ „Zwei Mann?“ erkundigte sich Inky skeptisch. „Gegen einen Stützpunkt?“ Slayter lächelte besänftigend. „Nicht zwei Mann“, versicherte er uns. „Wir schicken einen ganzen Stoßtrupp. Sie werden überrascht sein!“ „Später“, wehrte ich ab. „Für den Augenblick sind wir mit Überraschungen hinreichend versorgt.“ Slayters Lächeln bekam einen geradezu infam zu nennenden Anstrich. „Diese Unternehmung wird in der Zentrale der Time-squad gestartet werden!“ * Sie war immer noch so atemberaubend attraktiv, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sie, das war Demeter Carol Washington, die Chefin der Time-squad. Sie empfing uns mit der gleichen kühlen Unbeteiligtheit, mit der sie uns nach dem letzten Einsatz verabschiedet hatte. Der Blick, mit dem sie uns musterte, erinnerte fatal an das kalte Interesse, mit dem ein Schlachter das Gewicht des aufgetriebenen Viehs taxiert. „Ich freue mich, Sie zu sehen“, begrüßte sie uns. Inky setzte sein charmantes Lächeln auf,
aber die Grimasse verpuffte wirkungslos. „Hat Slayter Ihnen gesagt, worum es geht?“ Inky und ich nickten brav. „Einzelheiten hat er uns aber nicht berichtet. Er sprach von einem kompletten Stoßtrupp.“ „Das trifft zu“, bestätigte D. C. „Wir haben für diesen Einsatz sechzig Mann abgestellt.“ Ich pfiff durch die Zähne. Die Time-squad war zweifelsfrei eine der wirkungsvollsten Polizeitruppen, die jemals auf der Erde existiert hatten, aber sie hatte sich von jeher dadurch ausgezeichnet, daß sie mehr Wert auf Qualität denn Quantität gelegt hatte. Die Don Slayter unterstellte Abteilung von San Francisco verfügte über nicht mehr als einen Spezialagenten und acht Beobachter. Wenn D. C. einen Trupp von sechzig Mann losschickte, bedeutete das einen Großeinsatz, wie ihn die Time-squad bisher noch nicht erlebt hatte. „Sie wollen alle diese Männer...“ „... und Frauen“, fügte D. C. trocken ein. „... in die Vergangenheit nach Port Royal schicken? Körperlich?“ D. C. nickte. „Sie brauchen keine Angst zu haben, Tovar. Sie werden der Leiter dieser Operation sein.“ Demeter Carol griff in eine Schublade ihres Schreibtisches und förderte ein Abzeichen zutage. „Für Sie, Mr. Immekeppel. Damit sind Sie zum Mitarbeiter der Time-squad ernannt!“ Inky strahlte über das ganze Gesicht. Bislang war er nicht mehr gewesen als ein gern geduldeter Gast, jetzt aber gehörte er zu uns. Stolz befestigte er das Abzeichen an seiner Brust und betrachtete das Symbol: eine pechschwarze Sanduhr, durch die goldfarbener Sand rieselte. Davor kreuzten sich ein Schwert und ein modernes Lasergewehr. Darüber waren drei Buchstaben zu lesen: TIC. Das Time-Intelligence-Corps war das jüngste Kind der Time squad, eine Spezialabteilung, die über Waffen verfügte und erheblich erweiterte Exekutivrechte besaß. Ihre Aufgabe bestand darin, jenen geheimnisvollen Gegner zu bekämpfen, der - wie die Time-squad - über Zeitmaschinen verfügte, sie aber nicht dazu verwendete, Verbrecher zu bekämpfen, sondern gegen die Menschheit zu arbeiten. „Der Zweck der Operation ist denkbar einfach“, setzte D. C. ihren Vortrag fort. „Wenn der Gegner im alten Port Royal ein Zeit-Camp unterhält, befindet sich dort auch eine funktionsfähige Zeitmaschine. Ihre Aufgabe wird darin bestehen, sich dieser Zeitmaschine zu bemächtigen, sie genauestens zu studieren und die gewonnenen Erkenntnisse uns zu übermitteln.“ Mir fiel auf, daß sie mit keinem Wort erwähnte, daß wir aus dieser Zeit in die Gegenwart zurückkehren sollten. Waren wir vielleicht schon etwa abgeschrieben? „Wo werden wir herauskommen?“ „Kommen Sie mit“, bestimmte Demeter Carol Washington. Sie ging voran. * Die Zentrale der Time-squad lag in einem weitgestreckten Talkessel in den Rocky Mountains, mitten im Indianerstaat. Trotz der schlechten Erfahrungen, die die Ureinwohner Amerikas mit ihren weißen Entdeckern hatten machen müssen, hatten sie sich dazu bereit erklärt, die Anlage auf ihrem Territorium zu dulden. Zum Ausgleich war eine kleine Sonderabteilung der Time-squad seit Jahren damit beschäftigt, die Geschichte der verschiedenen Stämme bis ins Detail zu klären. Keine leichte Aufgabe, denn diese Geschichte bestand in den letzten Jahrhunderten fast ohne Ausnahme aus Vertragsbruch, Betrug und zahllosen Metzeleien. Ich glaubte, D. C. würde das Verwaltungsgebäude im Osten des Talkessels verlassen, um zu der Zeitmaschine zu gelangen, die im Zentrum des Tales stand. Meine Verwunderung wuchs, als sie statt dessen einen Antigravschacht benutzte, der uns tief unter den massiven Felsboden brachte. „Wir haben, in den letzten Jahren sehr viel gebaut“, erklärte uns die Chefin der Time-squad.
„Um dem Gegner die Arbeit zu erschweren, haben wir die neue Zeitmaschine unter die Erde verlegt.“ „Eine neue Zeitmaschine?“ fragte ich verblüfft. „Eine mit...?“ „Ohne“, unterbrach mich D. C. „Den Trick des Gegners kennen wir immer noch nicht. Wir wissen, daß eine Zeitmaschine gewaltige Mengen Energie benötigt, soviel Energie, daß sie ohne einen Fusionsreaktor nicht zu gebrauchen ist. Unser Gegner hat offenbar ein Verfahren gefunden, von einem zentralen Punkt aus eine energetische Kopplung zu seinen anderen Zeitmaschinen herzustellen. Die Zeit-Stationen im Amazonasdschungel und in Port Royal werden von einer noch unbekannten Zentrale aus mit Energie beliefert. Nur so ist zu erklären, daß der Gegner an diesen Stellen ohne einen Reaktor ausgekommen ist.“ Ich nickte betroffen. Natürlich, das war der Haken. Ein Reaktor in der Größe, wie sie für den Betrieb einer Zeitmaschine erforderlich war, ließ sich nicht so einfach verstecken wie eine Zeitmaschine, die in jedem normalen Wohnhaus Platz gehabt hätte. Ohne diese Energiezufuhr aber war eine Zeitmaschine nichts weiter als ein Spielzeug. Was diese Tatsachen für unser Unternehmen bedeuteten, lag auf der Hand. Wenn unser Gegner Wind von der Angelegenheit bekam, brauchte er nur die Energiezufuhr für die Maschine in Port Royal zu sperren - dann waren wir abgeschnitten. Auch die Time-squad hätte uns dann nicht mehr helfen können. Rasch rekapitulierte ich mein Wissen über das ausgehende siebzehnte Jahrhundert. Die Medizin war damals unglaublich rückständig gewesen, teilweise sogar hinter den Stand ein Jahrtausend zuvor zurückgefallen. Von Technologie ließ sich nur in’ beschränktem Umfang reden, Wirtschaftspolitik im heutigen Sinn gab es nicht. Dies war die Zeit gewesen, in der die Spanier Jahr für Jahr Tonnen von Gold und Silber aus den Gruben von Potosi nach Europa geschafft hatten. Das Ergebnis war eine Inflation in Gold gewesen, die halb Europa zugrunde gewirtschaftet hatte. Woher hätten die Menschen dieser Zeit wissen sollen, daß selbst die größte Menge Gold wertlos war, wenn es keine Waren gab, die man dafür hätte kaufen können? Der Antigravschacht endete nach meiner Schätzung mehr als zweihundert Meter unter dem Erdboden. Zweihundert Meter! Was hatte die Time-squad bauen lassen, daß eine derartige Tiefe nötig geworden war? „Sie werden eine Überraschung erleben“, versprach D. C.
2. Demeter Carol Washington hatte nicht übertrieben. Es war eine Überraschung geworden, die
uns fast die Sprache verschlagen hatte.
Die Time-squad hatte eine neue Zeitmaschine gebaut, eine Anlage, die groß genug war, ein
mehrstöckiges Haus durch die Zeit reisen zu lassen.
Auf der riesigen Transportplatte stand allerdings kein Haus.
Ich schluckte.
„Damit sollen wir... ?“ brachte ich mühsam über die Lippen. D. C. nickte freundlich.
Gemeint war ein Schiff, ein altmodisches Segelschiff, ganz aus Holz gebaut. Langsam schlich
ich um den Segler herum.
Ich verstand nicht genug von derlei Dingen, aber ich verstand, daß man offenbar große Mühe
darauf verwendet hatte, ein Schiff zu bauen, das der Zeit entsprach, in die wir reisen sollten.
Es handelte sich um eine Fregatte. Ob das die richtige Bezeichnung war, wußte ich nicht,
jedenfalls sah das Schiff so aus, wie ich mir eine Fregatte vorstellte. Sie besaß zwei
Geschützdecks, drei Masten und eine Unzahl von Segeln. Der Besan war lateingetakelt, was
dem Schiff ein höchst befremdliches Aussehen gab. Was mich noch mehr irritierte, war ein
unentwirrbar erscheinendes Durcheinander von Seilen. Leinen liefen von den Mastspitzen zum Deck, von Rah zu Rah, kreuz und quer über das ganze Schiff. Wer sich in diesem Wirrwarr zurechtfand, mußte ein Gedächtnisakrobat erster Klasse sein. Das Schiff war knapp fünfzig Meter lang, die Masten lagen an Deck. Die Breite mochte etwa zwanzig Meter betragen, den Tiefgang konnte ich nicht abschätzen. Vergeblich hielt ich nach Schlingerkielen Ausschau oder nach modernen Rettungsinseln - erst nach einiger Zeit wurde mir klar, daß Schlingerkiele damals noch nicht erfunden waren. Rettungsinseln moderner Bauart hätten uns ebenfalls wenig geholfen - die Satelliten, die den Radarreflektor einer solchen Insel auf den Meter genau anmessen konnten, waren damals noch gar nicht erfunden. „Ein feines Schiff!“ freute sich Inky. Er war vierhundert Jahre jünger als ich, vielleicht erklärte sich daraus seine Begeisterung, die ich überhaupt nicht teilen konnte. „Sind alle Einzelteile original?“ wollte Inky wissen. Don Slayter übernahm die Aufgabe, uns die Details zu erklären. „Das Holz ist beste Eiche, allerdings mit einem Kunststoffkern, der die Festigkeit von Stahl hat. Die Segel bestehen aus Kunstfasern, aber nicht aus den besten, die wir haben es würde Verdacht erregen, wenn nicht wenigstens ein Segel bei einem Sturm in Fetzen ginge. Wir haben dafür gesorgt, daß fast alles um einige Güteklassen besser ist als das Material, das im siebzehnten Jahrhundert zur Verfügung stand. Auf erste Qualität mußten wir aber aus Gründen der Tarnung verzichten.“ „In diesem Kasten sollen wir sechzig Mann unterbringen?“ fragte ich entgeistert. „Warum nicht?“ erkundigte sich D. C. „Für damalige Verhältnisse haben Ihre Männer genug Platz. Man kann die Unterkünfte fast schon als komfortabel ansehen.“ Ich hatte keine Lust, mit diesem Seelenverkäufer eine Reise in die Vergangenheit anzutreten, und ich fand auch das Argument, das mich von dieser Aufgabe befreien würde. „Ich kann damit überhaupt nicht umgehen“, erklärte ich wahrheitsgemäß. „Ich weiß nicht einmal, wo Backbord und Steuerbord ist.“ „Backbord ist links“, konterte Inky trocken. „Dort, wo das Herz backt, wie es in der Fachsprache heißt.“ „Wir haben für das Unternehmen auch einen seemännischen Kommandanten“, fegte Demeter Carol meinen Einwand hinweg. „Sie werden sie rechtzeitig kennenlernen.“ „Sie? Wissen Sie nicht, daß Frauen an Bord Unglück bringen?“ Inky kicherte unterdrückt. „Mir will scheinen, als sei es wesentlich unglücklicher, eine längere Seereise ohne Frauen an Bord anzutreten. Wann sollen wir aufbrechen, Chefin?“ D. C. lächelte freundlich. „Morgen!“ * Ich fand keinen Schlaf in dieser Nacht. Zu sehr beschäftigten mich die Probleme, die mit diesem Einsatz zusammenhingen. Zum ersten Mal würde ein Team der Time-squad körperlich durch die Zeit reisen. Von dieser Einbahnstraße gab es keine Rückkehr, jedenfalls nicht über die Anlagen der Time-squad. Wenn wir die Maschine des Gegners nicht erobern und für uns nutzbar machen konnten, waren wir in der Zeit abgeschnitten. Dieses Risiko ließ sich noch halbwegs verarbeiten. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß die Time-squad in ihrem Kampf gegen den unbekannten Gegner eines Tages doch einen entscheidenden Fortschritt machte - dann konnte man uns sehr wohl zurückholen. Unter Umständen war dies erst in einigen Jahren, vielleicht gar Jahrzehnten möglich. Uns Abgeschnittenen konnte das gleichgültig sein. Besaß die Time-squad erst die Möglichkeit der kontrollierten körperlichen Zeitreise, konnten uns unsere Freunde zu jedem beliebigen Zeitpunkt retten.
In der Zwischenzeit aber lebten wir außerordentlich gefährlich. Da waren nicht nur die Gefahren, die wir mit jedem Zeitgenossen zu teilen hatten - Naturkatastrophen aller Art, Seuchen und Unfälle. Da war vor allem das Risiko aufzufallen. Im Jahre 1692 war die Zeit der allenthalben lodernden Autodafes schon vorbei, aber möglich war sehr wohl, daß wir als Zauberer und Hexenmeister öffentlich verbrannt wurden. Dieses Risiko ließ sich einfach nicht abschätzen. Es gab zu viele Unwägbarkeiten, die man hätte berücksichtigen müssen. Eßgewohnheiten, Kleidungsvorschriften, Traditionen und Gebräuche waren zu bedenken. Die Spielregeln, nach denen man sich in einem Volk zu verhalten und zu bewegen hatte, setzten sich aus Hunderttausenden von Informationen zusammen, aus Vorschriften, die meist völlig unbewußt vollzogen wurden: Fachleute waren angeblich in der Lage, allein aus der Gestik zweier Menschen nicht nur zu folgern, wovon gerade gesprochen wurde - Könner brachten es auch fertig, die Sprecher als Neapolitaner, Genuesen oder Athener zu identifizieren. Welche Vorschriften hatten in der Karibik im Jahre 1692 gegolten? Die Quellenlage war erbärmlich, vor allem, wenn es um die Piraten ging. Ich wußte nicht einmal, was der genaue Unterschied zwischen Piraten, Freibeutern, Korsaren, Buccaneers, Flibustiers und anderen war. Unruhig wälzte ich mich auf dem Bett hin und her. Ich versuchte zu schlafen, aber es gelang mir nicht. Endgültig wach wurde ich, als sich Inky aufrichtete und die Beleuchtung einschaltete. Schlaftrunken sah er mich an und schüttelte den Kopf. „Gehört das in dieser Zeit zum Ritual des Einschlafens?“ fragte er halblaut. „Was?“ „Der Ringkampf, den du mit deinem Kopfkissen austrägst. Du hättest dich beobachten sollen.“ Ich begann leise zu lachen. „Ich kann nicht schlafen“, gestand ich. „Dieser Einsatz macht mir Sorgen. Es gibt so vieles, was wir nicht vorhersehen können. Vor allem stört mich, daß wir keine Fluchtmöglichkeiten haben.“ Inky zuckte mit den Schultern. „Was willst du? Hast du Fluchtmöglichkeiten aus deiner eigenen Zeit? Jedes Zeitalter auf der Erde hatte seine angenehmen und weniger angenehmen Seiten. Es kam immer darauf an, auf welcher Seite man stand. Für arme Leute war das Leben noch nie einfach oder angenehm - nicht ohne Grund ist die Geschichte eine Wissenschaft von Wohlhabenden über Wohlhabende.“ „Was habe ich davon?“ „Sollten wir in der Zeit abgeschnitten werden, können wir uns dort ein Leben einrichten. Ich wette, daß wir beide keine fünf Jahre brauchen würden, um reich, angesehen und berühmt zu werden.“ „Das würde mir nicht genügen“, widersetzte ich mich. Inky grinste boshaft. „Was willst du eigentlich? Du wirst dort jederzeit genug zu essen und zu trinken haben. Du wirst ein schönes Haus bewohnen können, du kannst jagen, reiten und fischen - und Mädchen soll es damals auch schon gegeben haben.“ „Und wie sieht es mit Kultur aus? Film, Funk, Fernsehen?“ „Die Berichte aus dieser Zeit sind angefüllt mit Klagen der Zeitgenossen, daß es noch keine achtzehn privaten TV-Kanäle pro Stadt gab“, spottete Inky. „Damals brauchte man derlei nicht.“ Ich sah auf die Uhr. Der Start des Unternehmens war für den frühen Morgen vorgesehen. Jetzt fehlten nur noch drei Stunden, und ich wußte, daß es mir bis dahin nicht mehr gelingen würde, zur Ruhe zu kommen. Wenn ich ehrlich war, mußte ich mir eingestehen, daß ich Angst hatte. Inky schien diese Gefühle nicht zu kennen. Wer jahrelang an verschiedenen Fronten eines mörderischen Krieges gekämpft hatte, entwickelte wohl sehr bald eine gewisse Kaltschnäuzigkeit, was unliebsame Überraschungen anging. Inky hatte es wesentlich einfacher als ich. Er hatte keine Familie, keine Angehörigen in unserer Zeit. Noch war er in unserem Zeitalter nicht heimisch geworden. „Es hat fast den Anschein, als würdest du dich über diesen Einsatz freuen?“ Inky nickte.
„Natürlich. Ich bin ein sehr neugieriger Mensch, und ich wollte schon immer wissen, wie es damals wirklich ausgesehen hatte - wobei es keine Rolle spielte, welches Damals gemeint ist. Das alte Rom, Athen, Ägypten in der Blüte seiner Kultur, das unbekannte China früherer Jahrhunderte - es gibt Tausende von interessanten Stellen in der Zeit. Freund, du bist zu technisch eingestellt. Wenn du an eine Zeitmaschine denkst, dann fallen dir technische Meisterleistungen ein - ich denke an die Geheimnisse der Vergangenheit, die noch immer ungelöst sind. Für mich ist Zeitreise eine ungeheuer romantische Angelegenheit - was dabei technisch geschieht, interessiert mich wenig.“ * Mit ziemlich inhaltlosem Geschwätz hatten wir die Zeit totgeschlagen, die bis zum Start des Unternehmens verblieb. Wir hatten geduscht und unsere Einsatzkleidung angezogen. Der Stoff kratzte auf der Haut, das war bereits das erste Ärgernis. In meinem Hinterkopf spukten noch alte Filmbilder herum, in denen Piraten eine wichtige Rolle gespielt hatten. Diese Freibeuter hatten sich in Seide gekleidet. Die Einsatzgruppe wartete in der großen Halle. Vierundzwanzig Männer und sechzehn Frauen, der größere Teil in meinem Alter, ein paar älter. Alle trugen Kleidung, die der Einsatzzeit angepaßt war. Die jüngeren Frauen machten teilweise recht verdrießliche Gesichter, einige hatten mit Ohnmachten zu kämpfen. Ihre Taillen waren zusammengeschnürt worden, daß sie kaum noch Luft bekamen. D. C. trat zu mir und schnupperte. Ihr schien mein Rasierwasser nicht zu gefallen. „Sie sind ein Trottel, Bistarc“, eröffnete sie mir. „Im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert
wusch man sich nicht. Haben Sie das nicht gewußt?“
Inky zuckte schuldbewußt zusammen, ich machte große Augen.
„Soll das bedeuten, daß es an Bord kein...“
„Kein Bad, keine Dusche, keine Seife. Sie haben auftragsgemäß zu stinken!“
Jetzt erst fiel mir auf, daß der Crew des Schiffes ein Duft entströmte, der kaum zu ertragen
war. Tagealter Schweiß, teilweise von ausgesprochen grob zusammengeschustertem Parfüm
überdeckt. Es konnte einem übel werden.
Ein Mann löste sich aus der Gruppe und kam näher. Er sah beeindruckend aus, sehr groß, sehr
breitschultrig, mit langem dunklem Haar und wasserblauen Augen. Er hätte in jedem
einschlägigen Film sofort die Hauptrolle übernehmen können.
„Joshua Slocum“, stellte Demeter Carol vor. „Tovar Bistarc. Slocum hat die seemännische
Leitung des Unternehmens, Bistarc wird den eigentlichen Einsatz leiten!“
Slocums Händedruck war fest und ruhig, der Mann grinste breit.
„Slocum?“ murmelte Inky nachdenklich. „Sind Sie mit dem ersten Einhandweltumsegler
verwandt?“
„Nur dem Namen nach“, gab Slocum zu. „Allerdings habe ich auch schon einhand die Welt
umsegelt.“
Ich machte große Augen. Der Mann hatte noch beide Hände, wieso also...?
„Einhand bedeutete soviel wie allein“, klärte mich Inky auf. „Fachjargon!“
Slocum verzichtete darauf, mir jedes einzelne Mitglied der Besatzung vorzustellen. Ihre
Rollen waren an der Kostümierung sofort ersichtlich. Der verwilderte Haufen stellte die
Besatzungsmitglieder dar, zwei Männer und die Frauen sollten Gefangene verkörpern, die wir
gegen Lösegeld austauschen wollten. Inky war als Steuermann vorgesehen. Mir fiel, da ich
von Seefahrt überhaupt nichts verstand, die Rolle eines einfachen Besatzungsmitglieds zu.
Das behagte mir gar nicht, war aber nicht zu vermeiden.
„Wir geben Ihnen zwei Wochen Zeit“, klärte uns D. C. Washington auf. „Wir werden Sie auf
dem mittleren Atlantik aussetzen - bis Sie die Karibik erreicht haben, dürfte die Crew
aufeinander eingespielt sein. Dann bleibt Ihnen noch eine Woche, den Auftrag zu erfüllen.
Slocum, haben Sie die Karte im Kopf?“ Der Kommandant nickte. „Sollte das Unternehmen fehlschlagen“, fuhr D. C. fort, „dann setzen Sie sich ab. Bauen Sie ein Schiff, wenn Sie dieses nicht mehr verwenden können. Versuchen Sie, Australien zu erreichen. Der Engländer James Cook wird den Kontinent 1770 entdecken...“ „Verzeihung“, warf Inky ein. „Vor Cook waren aber noch ein paar andere da - Abel Tasman beispielsweise.“ „Weiß ich“, sagte B. C. „Aber uns erschien dieser Anlaufpunkt besonders sicher. Sie werden die Botany Bay aufsuchen. Wenn alle Stricke reißen, werden wir Ihnen eine komplette Zeitmaschine dorthin schicken!“ Diese Eröffnung verschlug mir die Sprache. Eine komplette Zeitmaschine? Das lief darauf hinaus, einen vollständigen Kernfusionsreaktor in die Vergangenheit zu befördern, zusammen mit dem Personal, das diesen Reaktor zu bauen hatte. „Aber... aber...“, stotterte ich. „Ich weiß, was Sie sagen wollen, Bistarc“, kommentierte D. C. trocken. „Dieses Verfahren wird uns einige hundert Millionen Soldor kosten, und soviel sind Sie nicht wert. Auf der anderen Seite steht zu befürchten, daß der Gegner Sie erwischt und verhört. Der Schaden, der dank Ihrer Kenntnisse angerichtet werden könnte, wäre erheblich größer. Außerdem...“ Sie lächelte verhalten. Wir ahnten, worauf dieses Verfahren hinauslief. Australien war das große Rätsel der Erde. Der Kontinent hatte sich vom Rest der Welt abgeriegelt. Keiner verließ Australien, keiner kam hinein. Spione waren mit schöner Regelmäßigkeit entdeckt und sehr freundlich abgeschoben worden, bevor sie auch nur einen Krümel Information hatten sammeln können. Nicht einmal die Heerschar von Spionagesatelliten hatte herausfinden können, was sich auf dem Kontinent abspielte. Angesichts der Tatsache, daß die Australier bislang keine erkennbaren Anstalten gemacht hatten, ihrerseits bei anderen Nationen herumzuschnüffeln, hatte sich recht bald ein stillschweigend eingehaltenes Abkommen entwickelt. Jetzt aber schien die Time-squad mit ihren Mitteln in die Angelegenheit eingreifen zu wollen. Mir war nicht ganz wohl bei dem Gedanken. Auf der anderen Seite aber war der Plan, uns notfalls auf Australien aufzusammeln, der einzige, der Erfolg versprach. Nirgendwo sonst wäre es im 17. Jahrhundert möglich gewesen, den Betonfelsen eines Reaktors aus dem Boden wachsen zu lassen. Anschließend mußte der Reaktor, wenn die Station nicht länger verwendet werden sollte, gezündet werden auch das ließ sich nur dann ohne Niederschlag in den historischen Quellen bewerkstelligen, wenn man ihn auf dem Boden Australiens detonieren ließ. „Ihre Aufgabe ist bekannt; es wird Zeit, daß Sie Ihre Plätze einnehmen!“ Gehorsam kletterten wir an der Jakobsleiter in die Höhe. Die Frauen gaben dabei einige sehr undamenhafte Flüche von sich. In ihren Kleidern erwies sich das An-Bord-Kommen als ausgesprochen strapaziöse Angelegenheit. Mit ruhiger Selbstverständlichkeit übernahm Slocum das Kommando. Er gab eine Reihe von Befehlen, die Männer der Crew begaben sich auf ihre Posten. Der größte Teil hatte offenbar einschlägige Erfahrungen, jedenfalls schien ihnen der Ausdruck Großbrambrassen geläufig zu sein. „Wir sind bereit, Chef!“ gab Slocum bekannt. D. C. leckte sich die Lippen. Ich lächelte dazu. Offenbar war es ihr doch nicht ganz gleichgültig, was aus uns werden würde. Immerhin war dies der gefährlichste Auftrag, den die Time-squad bislang erhalten hatte. „Viel Glück“, wünschte uns D. C. Mit einem Handzeichen gab sie der Crew von Technikern den Auftrag zu beginnen. Wir konnten hören, wie die Generatoren anliefen. Aus den Projektoren entwickelte sich langsam das rötlich schimmernde Transportfeld, in dessen Innerem die eigentliche Zeitreise stattfinden sollte. Allmählich verstärkte sich das Feld, das Leuchten wurde stärker. Ich begann die Benommenheit zu spüren, die sich stets am
Beginn einzustellen pflegte. Eine Zeitreise begann stets wie ein Schlaf. Man verlor langsam das Bewußtsein und kam dann Sekunden später hellwach am Zielort und in der Zielzeit an. Vor meinen Augen verschwand das Bild der Zentrale. Die Reise hatte begonnen.
3. Ob der Ort richtig war, an dem wir herausgekommen waren, ließ sich nicht feststellen. Ob das Jahr stimmte, ließ sich gleichfalls nicht überprüfen. Nur eines stand nach einer Sekunde bereits fest. Der Zeitpunkt, an dem wir in der Vergangenheit rematerialisiert waren, war der denkbar falscheste. Als erstes fiel das gesamte Schiff zwei bis drei Meter frei durch die Luft und klatschte ins Wasser. Ein Wunder, daß bei diesem rabiaten Stapellauf nicht sämtliche Spanten brachen. Noch während ich mich von dem Aufprall erholte, wurde mir klar, daß wir ohne jede Vorbereitung vor ein Problem gestellt waren, dessen Ausmaß sich noch nicht abschätzen ließ. Es hätte Tag sein müssen, aber um uns herum war es finster. Gewaltige Wolkenbänke hatten den Himmel verdunkelt. Unser Schiff torkelte auf der aufgewühlten See. „Ein Sturm!“ hörte ich Inky ächzen. „Ausgerechnet jetzt!“ Ich war versucht, nach einer Notbremse zu greifen, den Befehl zur Umkehr zu geben. Aber es gab keine Umkehr. Wir mußten das Sturmtief abwettern oder ertrinken, eine andere Möglichkeit gab es nicht. „Bringt die Masten auf!“ hörte ich Slocum brüllen. Die Stimme des Mannes brachte es mühelos fertig, das Orgeln des Windes zu übertönen. Kannte sich Slocum mit solchen Unwettern aus? Ich konnte es nur hoffen. Uns stand nur ein trübes Dämmerlicht zur Verfügung. Das Schiff wälzte sich in der See, Wasser kam über, und Gischt wehte über die Decks. Dazu kam der Wind, gegen den man sich mit aller Kraft stemmen mußte, um überhaupt vorwärts kommen zu können. Auf dem Oberdeck standen noch die Gerüste, mit denen die Masten aufgerichtet werden sollten. In der Halle der Zeitmaschine war dies nicht möglich gewesen, die Decke war zu niedrig. An diesen Gestellen zerrte und riß der Wind, er brachte die hölzernen Streben zum Erzittern und versetzte das Tauwerk in Schwingungen. Eine Symphonie bedrohlicher Geräusche klang über das Deck. „Beeilt euch, Leute“, brüllte der Kommandant. „Ich lasse euch die neunschwänzige Katze schmecken, wenn ihr nicht zumacht!“ Ich war noch halb benommen von den ersten Eindrücken. Eine Sekunde lang zögerte ich noch, dann setzte ich mich in Bewegung. Ich traute es Slocum durchaus zu, dieses Mittel in Anwendung zu bringen. Von psychologisch ausgefeilten Managementmethoden hatte man in diesem Jahrhundert noch nichts gewußt. „Landratte!“ knurrte ein bärtiger Mann. Er hatte mich gerade noch rechtzeitig davor bewahrt, über Bord gespült zu werden. In der Halle der Zeitmaschine hatte das Schiff noch sehr beeindruckend ausgesehen, aber angesichts der Wassermassen, die uns umgaben, wirkte es wie ein Nichts. Ich konnte kaum glauben, daß wir eine reelle Chance haben sollten, diesen Orkan zu überstehen. „Merke es dir“, brüllte mir mein Lebensretter zu. „Eine Hand fürs Schiff, eine für dich!“ Ich nickte und kämpfte mich gegen den Wind vorwärts. Mit vereinten Kräften brachten wir es fertig, den Fockmast aufzurichten und in seine Verankerung gleiten zu lassen. Was sich im Innern der Höhlung tat, ging niemanden etwas an - die Masten wurden in einer Röhre aus holzverkleidetem Stahl mit Bajonettverschlüssen gehalten. Großmast und Besan folgten anschließend. Danach kümmerte sich eine Gruppe von Männern um das Aufbringen der Rahen, während andere das Bugspriet in ähnlicher Weise wie die Masten befestigte. Ich hatte mich vorsichtshalber der Gruppe zugesellt, die die Rahen
heißte - ich hatte keinerlei Lust am Bug herumzuturnen, der immer wieder tief in das Wasser eintauchte. Ich wußte nicht mehr genau, was. um mich herum geschah. Ich hörte, wie Slocum den Befehl gab, einen Treibanker herzustellen; gleichzeitig waren andere damit beschäftigt, das stehende und laufende Gut herzurichten. Für diese Arbeiten war ein Tag vorgesehen gewesen, jetzt zwangen uns die Umstände dazu, diese Schinderei binnen weniger Stunden zu erledigen. Unablässig bewegte sich das Schiff. Immer wieder verlor ich den Halt und rutschte über die Decksplanken. Zudem wurde mir von Minute zu Minute übler, und mit jeder Minute, die verstrich, wuchs in mir der Wunsch, daß das Schiff wegsackte und mir ein rasches Ende beschied. Ein brennender Schmerz zuckte durch meine linke Schulter. „Aufentern!“ brüllte mich ein Mann an. „Vorwärts!“ In der Hand schwang er einen unterarmlangen Strick, mit dem er mich geschlagen hatte. Die Aussicht, weitere Ermahnungen dieser Art zu empfangen, ließ mich die Seekrankheit sehr schnell vergessen. Ich taumelte zu den Wanten, benommen machte ich mich auf den Weg in die Höhe. Wenigstens lief ich dort nicht Gefahr, durchnäßt zu werden oder über Bord zu gehen. Es war höllisch schwer, an den nachgiebigen Webleinen in die Höhe zu klettern. Zum Glück waren die Männer viel zu beschäftigt, um meine Schwäche kommentieren zu können. „Bistarc!“ hörte ich eine Stimme. Ich sah nach unten. Das hätte ich besser unterlassen. Für einen kurzen Augenblick konnte ich Slocum erkennen, der ein Megaphon vor den Mund hielt und zu mir hinaufsah. Dann aber verschwand dieses Bild vor meinen Augen. Ich sah nur noch die hölzernen Decksplanken, die sich heftig bewegten. Der Wind zerrte an meinen Kleidern, und mit den Bewegungen des Schiffskörpers bewegten sich auch die Masten naturgemäß wesentlich heftiger als der Rumpf. Der Horizont tanzte vor meinen Augen, ich sah nur noch das graue Wasser mit den weißen Kronen der Gischt darauf. Mir kam es vor wie ein grauer Sirup, der seine klebrigen Arme nach uns ausstreckte, um uns zu verschlingen. „Entern Sie in den Mastkorb auf!“ rief mir Slocum zu. Ich sah in die Höhe. Dort waren Wolken zu sehen, die sich rasch bewegten, so rasch, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Es war eine finstere Wand, die zu brodeln und zu kochen schien, nicht minder bedrohlich als das Wasser. Was ein Mastkorb War, konnte ich mir nicht mehr vorstellen. Ich begriff nur, daß Slocum mich noch höher hinaufhetzen wollte. Mühsam kroch ich weiter. Ich erreichte das Eselshaupt des Großmasts, kroch durch das Mannloch und turnte weiter in die Höhe. Oben, an der Spitze des Mastes, gab es einen kleinen Korb, gerade groß genug, um einen Mann aufzunehmen. Ich folgerte, daß dieses Ding gemeint war. Mit letzter Kraft kroch ich hinein. „Was können Sie sehen?“ Ich konnte nichts sehen. Nur eine endlose, kochende See, das fahle Leuchten von Blitzen in größerer Entfernung und das unglaublich schmal erscheinende Deck unter mir. Bei jedem Schwanken des Schiffes holte der Mastkorb um mehrere Meter über. Ich saß am längeren Arm des Hebels und wurde dementsprechend bewegt. Ich mußte alle Konzentration aufbringen, um nicht den Halt zu verlieren. „Was sehen Sie?“ „Nur Wasser, mehr nicht.“ „Wie sieht die Wolkendecke aus? Irgendwelche hellen Flecke?“ „Im Westen scheint es eine Art Loch in der Wolkenwand zu geben.“ Ich riß mich zusammen und begann zu schätzen. Nach kurzer Zeit rief ich hinunter: „Wir müßten das Loch in etwas mehr als einer Stunde erreicht haben.“ „Sehr gut. Bleiben Sie, wo Sie sind!“
Was blieb mir anderes übrig? Ohne fremde Hilfe konnte ich meinen jetzigen Standort nicht verlassen, soviel stand fest. Nur ein Affe hätte es geschafft, hier wieder herauszukommen. Plötzlich überfiel mich die Erkenntnis, was es mit dem hellen Fleck im Westen auf sich hatte. Ich erinnerte mich an die vielen Satellitenaufnahmen, die ich bereits gesehen hatte. Eine solche Öffnung in einem Orkantief nannte man das Auge des Orkans. Wir waren ausgerechnet in einem Orkan herausgekommen, und das mit einem Schiff, das selbst bei bestem Wetter nur eingeschränkt als seetauglich bezeichnet werden konnte. Meine Zähne begannen zu klappern, teils vor Kälte, teils aus nackter Angst. Diese vermaledeite Seekrankheit konnte innerhalb weniger Minuten aus einem Mann einen Waschlappen machen. Ich war meiner Sache sicher. Wir hatten noch etwas mehr als eine Stunde auszuhalten, dann stand uns eine kurze Pause bevor. Im Zentrum eines Orkans waren, soviel wußte ich noch, die Wetterverhältnisse besser als an den Rändern. Dann aber mußten wir die restlichen Ausläufer des Orkantiefs hinter uns bringen. Für mich stand fest, daß wir keine Chance hatten, diese Ausläufer zu überstehen. * Ich fühlte mich wie eine Ameise auf einer Getreideähre während eines Gewitters. Dem Insekt mußten die Bewegungen der Ähre ähnlich wild und unberechenbar erscheinen, wie das ruckhafte Hin- und Hertaumeln der Mastspitze. Auf dem Deck herrschte lebhafte Tätigkeit. Ich konnte keinen Sinn in die Bewegungen bringen, mit denen die Mannschaft eine Art Spinnennetz über das gesamte Schiff zu legen schien. Seile wurden von Mast zu Mast geführt, von den Enden der Querhölzer zum Deck. Was dieses Gespinst für einen Sinn hatte, wurde mir nicht klar. Immer wieder revoltierte mein Magen und brachte meine Gedanken durcheinander. Ich brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, daß eine drei Wochen alte Wasserleiche einen erheblich lebendigeren Eindruck machen mußte als ich zur Zeit. Vor allem störte mich, daß sich niemand um mein Schicksal zu kümmern schien. Gewiß, der seemännische Leiter des Unternehmens war Joshua Slocum, doch der eigentliche Leiter war ich - ein Chef, den man ohne jegliche Gemütsregung elendiglich zugrunde gehen lassen wollte. Niemandem schien es einzufallen, mich aus meiner verzweifelten Lage zu befreien. Ich hatte mich in dem Korb so festgekeilt, wie es nur möglich war. Dennoch quälte mich die Furcht, beim nächsten Überholen des Schiffes herausgeschleudert zu werden und im Wasser zu versinken. Zwar hatten wir mittlerweile das Auge des Orkans erreicht, aber die Wellen gingen noch so hoch, daß es für einen Mann, der über Bord ging, keine Rettungsmöglichkeit mehr gab. Beklommen starrte ich auf die graugrünen Wellen hinab. Schlagartig wurde mir bewußt, daß die Gefahren, die ich bereits erlebt und überlebt hatte, gering waren, verglichen mit der steten, allgegenwärtigen Gefahr, die vom Meer ausging. Hier wurde jeder Fehler doppelt und dreifach gerächt, nicht selten hatte eine geringfügige Unaufmerksamkeit den Tod zur Folge. Und gleichzeitig wuchs in mir die Hochachtung vor den Menschen, die früher schon den Mut gehabt hatten, ihr Leben und ihr Schicksal diesem Medium anzuvertrauen. Langsam kam mir meine Furcht etwas lächerlich vor. Ich beschloß, meinen Standort zu verlassen und an Deck zurückzukehren. Sobald ich den Blick nach unten richtete, wurde mir fast wieder übel. Aus meiner Höhe schien das Deck winzig schmal, das ganze Schiff machte erneut den Eindruck größter Zerbrechlichkeit. Mit äußerster Vorsicht kletterte ich hinab. Erst als ich die Planken des Decks unter meinen Füßen fühlte, erlaubte ich mir den ersten erleichterten Seufzer. Inky kam auf mich zu. Seine Wangen zeigten ebenfalls einen merkwürdigen Schimmer, offenbar war ich nicht der einzige, der von der Übelkeit geplagt wurde.
„Du siehst nicht sehr gut aus!“ grüßte er mich. „Sieh dich selbst an“, gab ich zurück. Slocum kam näher und gesellte sich zu uns. Seine Augen prüften kurz mein Aussehen, aber er verbiß sich den naheliegenden Kommentar. „Das Gröbste hätten wir geschafft“, stellte er fest. „Von nun an wird die Reise gemütlicher ausfallen.“ „Und der Orkan?“ fragte ich zurück. „Was für ein Orkan?“ erkundigte sich Slocum verwundert. „Sie meinen doch nicht etwa...“ Er begann sich vor Lachen zu schütteln. „Das war nicht einmal ein Sturm. Das war eine etwas heftigere See. Lieber Freund, Orkane sehen ganz anders aus.“ Sein Lachanfall schien kein Ende nehmen zu wollen. Auf den Gesichtern der anderen zeigten sich die ersten Anzeichen eines spöttischen Grinsens. „Also gut, kein Orkan. Man kann sich täuschen. Für mich sah es wie ein Orkan aus.“ Slocum wurde wieder ernst. „Wenn wir erst in der Karibik sind, dürfen Sie sich wirklich fürchten. Mit den Taifunen dort ist nicht zu spaßen. Dann wird es wirklich ernst. Aber Sie können beruhigt sein. Wir haben genügend gutgetarnte Schwimmkammern an Bord, um in jeder Lage sinksicher zu sein!“ Das trug wesentlich zu meiner Beruhigung bei - obwohl mir im gleichen Augenblick einfiel, daß es schon einmal ein Schiff gegeben hatte, das angeblich unsinkbar gewesen sein sollte. Noch auf ihrer Jungfernfahrt hatte die Titanic mehr als tausend Menschen mit in die Tiefe genommen. „Ich werde erst einmal ein Besteck aufnehmen“, verkündete Slocum. „Der Sturm hat uns etwas vom Kurs abgebracht.“ Er warf einen prüfenden Blick auf den Horizont. „Die Freiwache kann wegtreten!“ Ein allgemeines Seufzen antwortete ihm. Vor allem die Frauen waren sichtlich erleichtert, daß sie sich endlich ausruhen durften. In ihren altmodischen Kleidern, die sich voll Wasser gesogen hatten, war ihnen jede Arbeit doppelt schwergefallen. Schmerzlich wurde mir bewußt, daß es an Bord nur eine Person gab, die sich vor echter Arbeit und Verantwortung gedrückt hatte - mich. Slocum sah mein betroffenes Gesicht und erweiterte seinen Befehl. „Sie können das Ruder übernehmen!“ Daß damit nicht das Oberkommando über das Unternehmen gemeint war, wurde mir sofort klar. Ich löste also den Rudergänger ab. Sobald ich in die Speichen gegriffen hatte, wurde mir klar, daß meine Vorstellungen restlos falsch waren. Das Ruder schien unter meinen Händen zu leben, es entwickelte Bewegungen, die sofort gegengesteuert werden mußten. Das ganze Schiff schien förmlich zu leben, es reagierte auf jede Veränderung des Windes, auf die unterschiedlich hohen Wellen. Langsam kam mir zum Bewußtsein, daß ein solches Schiff ein Meisterwerk handwerklicher Kunst war. Jedes Teil war mit allen anderen abgestimmt worden. Die Masten hatten nicht zufällig diese Höhe, die Segel waren nicht willkürlich so angebracht worden. Die ganze Kunst bestand darin, durch raffinierte Zusammenstellung aus den Kräften, die auf das Schiff einwirkten, ein Höchstmaß an Schnelligkeit und Stabilität herauszuholen. Das Schiff lag auf Steuerbordbug hoch am Wind, der es von seinem eigentlichen Fahrtziel förmlich wegdrücken wollte. Physikalisch betrachtet, war das Problem ziemlich einfach. Der Wind drückte das Schiff in eine bestimmte Richtung, das Schiff wiederum war so gesteuert, daß es dem Wasser einen großen Widerstand bot - daraus ergab sich als Resultierende eine Kraft, die das Schiff fortbewegte. Ich wußte noch, daß man dieses Verfahren, sich sozusagen im Zickzack gegen den Wind dem gewünschten Ziel zu nähern, Kreuzen nannte. Erst jetzt wurde mir bewußt, wie wichtig diese Entdeckung für den Menschen geworden war. Erst seit es Schiffe gab, die sehr gut gegen den Wind aufkreuzen konnten, war es möglich gewesen, ferne Kontinente anzusteuern. Langsam begann ich auch zu begreifen, wieviel Raffinesse hinter dem System
steckte, die Druckkräfte des Windes so auf verschiedene Masten, Segel und Taue aufzusplittern, daß diese Kraft optimal genutzt werden konnte, ohne daß dabei Teile zu Bruch gegangen wären. Nicht ohne Grund wurden bei modernen Hochseejachten die Proportionen der einzelnen Teile von Computern berechnet. Dieses Schiff entsprach dem Stand der mathematischen Kenntnisse seiner Zeit, vermehrt um jahrhundertelange Erfahrung, deren. Ergebnisse erst viel später wissenschaftlich nachweisbar geworden waren. Dieses Schiff... Mir fiel ein, daß unser Schiff noch keinen Namen hatte. Ich wandte mich an den Kommandanten, der neben mir stand und die Tätigkeiten auf dem Deck beaufsichtigte. „Wie heißt das Schiff eigentlich?“ fragte ich Slocum. Joshuas Augen weiteten sich vor Überraschung. „Sie haben recht, es hat noch gar keinen Namen. Wollen Sie es taufen?“ „Warum nicht? Ich schlage den Namen NECHO vor. Necho war...“ „Ich weiß, wer Necho war“, bemerkte Slocum. „Kein schlechter Vorschlag. Wir werden einen entsprechenden Schriftzug anbringen lassen, sobald wir die Zeit dazu haben!“ In den nächsten Stunden fanden wir keine Zeit, das Schiff zu taufen. Die Mannschaft hatte genug damit zu tun, die NECHO durch die Ausläufer des Sturmtiefs zu steuern. Was wir kurz nach unserer Ankunft in der Vergangenheit erlebt hatten, war nur ein. Vorgeschmack dessen gewesen, was nun über uns hereinbrach. Von Steuern konnte keine Rede mehr sein. Himmel und Meer schienen zu einer homogenen dunkelgrauen Masse zusammengeflossen zu sein, in der sich kaum noch etwas erkennen ließ. Der Sturm orgelte in der Takelage und peitschte weißschäumende Gischt über die Decks. Nach wenigen Minuten waren alle an Bord bis auf die Haut durchnäßt, und diese Nässe war kalt und ließ die Finger steif werden. Zum Glück hatten wir genügend Medikamente und auch einen erfahrenen Arzt an Bord. Ich war mir sicher, daß wir in den nächsten Tagen die ersten Ausfälle in der Mannschaft haben würden. Erkältungen waren das mindeste, was wir befürchten mußten. Ich fror erbärmlich am Ruder und hatte keine Möglichkeit, mir durch heftige Bewegung Erleichterung zu verschaffen. Als ich nach vier Stunden abgelöst wurde, mußte ich meine Finger erst wieder an Bewegungen gewöhnen. Ohne den Treibanker, den Slocum vorsichtshalber hatte ausbringen lassen, wäre die NECHO wahrscheinlich abgetrieben worden. Wir hatten einfach noch nicht die Erfahrung, ein so großes Schiff in schwerem Wetter richtig zu handhaben. Der Großteil der Besatzung bestand aus erfahrenen Jachtenseglern, die genügend Erfahrung mit schlechtem Wetter gesammelt hatten - aber leider mit Schiffen, die sich entschieden leichter handhaben ließen als die NECHO. Bedrohlicher noch als das Orgeln des Sturms und das Rauschen des aufgewühlten Wassers erschienen mir die Geräusche, die das Schiff selbst machte. Ein beständiges Ächzen und Knirschen lag in der Luft; es hatte den Anschein, als wolle die NECHO in den nächsten Augenblicken auseinanderbrechen. Ich versuchte, mich so nützlich zu machen wie möglich, aber helfen konnte ich der Mannschaft nur wenig. Die Befehle, die Slocum über das Megaphon gab, bestanden zum größten Teil aus Fachausdrücken, von denen ich nicht einmal ein Zehntel verstand. Sechs Stunden lang tobte der Sturm, dann wurden die Wetterverhältnisse überraschend schnell besser. Als sich die ersten Strahlen der langsam untergehenden Sonne durch die Wolken tasteten, fühlte ich mich zwar total erschöpft, gleichzeitig aber erleichtert. Fürs erste hatten wir alle Schwierigkeiten überwunden. Mein Optimismus verflog im gleichen Augenblick, in dem eine Stimme vom Mastkorb herunter rief: „Ein Segel! Ziemlich genau an Steuerbord dwars!“
4.
Joshua Slocum murmelte einen Fluch: „Das hat uns gerade noch gefehlt“, knurrte Inky. „Was
ist das für ein Schiff, und was hat es hier zu suchen?“
„Abwarten“, befahl Slocum. „Wir werden abdrehen. Wenn wir Glück haben, folgt uns das
andere Schiff nicht!“
Er gab eine Reihe von Befehlen, die prompt und sicher ausgeführt wurden. Gespannt wartete
ich auf den Fortgang der Aktion. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.
„Fremder geht auf anderen Bug und folgt uns!“ ertönte es von oben.
Also hatte man uns bemerkt, und der fremde Kommandant hatte keine Sekunde gezögert,
sondern sofort eine Verfolgung eingeleitet. Einem plötzlichen Einfall folgend sah ich in die
Höhe.
Natürlich, wenn man den Jolly Roger gesetzt hatte, dann war es nicht verwunderlich, wenn
Jagd auf einen gemacht wurde. An der Spitze des Großmastes wehte eine der zahlreichen
Varianten der Piratenflagge aus - in unserem Fall ein weißes Skelett auf rotem Grund. Daß
der fremde Kommandant auf dieses - buchstäblich - rote Tuch in genau dieser Art und Weise
reagierte, ließ nur einen vernünftigen Schluß zu: er fühlte sich stärker, als wir, und dies, ohne
unser Schiff überhaupt richtig gesehen zu haben.
„Ein Dreidecker!“ ließ sich der Mann im Krähennest hören. „Mindestens siebzig Geschütze.
Ein Brite!“
„Was, zum Teufel, hat ein Brite hier zu suchen?“ fauchte Inky. Er sah meinen fragenden
Blick und klärte mich auf.
„Im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert war die Karibik praktisch den Spaniern
vorbehalten. Die Zeit der englischen Seeherrschaft war noch nicht gekommen. Zur Zeit sind
gerade die allerersten englischen Siedlungen auf dem Boden Nordamerikas gegründet
worden. Daß hier ein englisches Schiff auftaucht, ist ein Unding!“
„Versuche, das einmal dem Kommandanten des Gegners klarzumachen!“ schlug ich Inky vor.
Ich grinste dazu, obwohl mir eher elend zumute war. Siebzig Geschütze hatte der Gegner
aufzuweisen, dem hatten wir nur achtundvierzig Kanonen entgegenzusetzen, die, damit
verglichen, nicht mehr als Knallbüchsen waren. Artilleristisch waren wir hoffnungslos
unterlegen, zumal unser Schiff unterbemannt war. Eine derart beengte Lebensweise, wie sie
an Bord alter Kriegsschiffe unter Segel üblich gewesen war, konnte man in unserer Zeit nicht
einmal Strafgefangenen zumuten, geschweige denn hochqualifizierten Mitarbeitern der Time
squad.
Sorgenvoll sah ich Joshua Slocum an.
„Haben wir irgendwelche modernen Waffen zur Verfügung?“ wollte ich wissen.
„Lasergewehre, Handgranaten oder Ähnliches?“
Slocum schüttelte den Kopf.
„Kein Stück!“ sagte er trocken. „Wir sind echt, zumindest was unsere Waffen angeht!“
Ich unterdrückte eine Verwünschung.
Jetzt blieb uns nur noch eine Möglichkeit. Wir konnten darauf hoffen, daß die NECHO
unserem Gegner davonlaufen konnte.
Falls uns das nicht gelang...
Ich hatte nicht den Nerv, mir die Konsequenzen auszurechnen.
* Wir kannten unseren Gegner und auch das Schicksal, das uns in den nächsten Stunden erwartete. Die NECHO war nicht schneller als das englische Linienschiff DUKE OF EXE
TER. Im Gegenteil, sie war sogar ein wenig langsamer. Unaufhaltsam holte der Brite auf. In spätestens einer halben Stunde würde er uns so nahe gekommen sein, daß er seine Bugjagdgeschütze gegen uns einsetzen konnte. Diese Neunpfünder waren zwar nicht übermäßig durchschlagskräftig, dafür aber trugen sie weit und waren für ihre Treffergenauigkeit berühmt. Die NECHO hatte alle dem Wetter angepaßten Segel gesetzt. Wir wußten, daß die Masten und Segel höher belastbar waren als vergleichbares Material aus der Vergangenheit, deshalb hatten wir mehr Segel setzen können, als es einem vergleichbaren Schiff möglich gewesen wäre. Viel geholfen hatte uns diese Tatsache nicht - wir hatten lediglich erreicht, daß sich der Beginn der unvermeidlichen Auseinandersetzung um einige Stunden verschob. Viel zu tun gab es zur Zeit nicht. Ein Teil der Besatzung stand an der Reling und starrte mit gemischten Gefühlen auf den langsam näher rückenden Dreidecker. Die DUKE OF EXETER war ein herrliches Schiff, reich mit Goldstuck verziert, und sie wurde hervorragend geführt. Wären nicht einige Kanonenmündungen auf uns gerichtet gewesen, hätte man diese Wettfahrt fast genießen können. Acht Mann waren mitschiffs damit beschäftigt, unsere letzte Hoffnung zusammenzubasteln. Sie versuchten, eine Treibmine herzustellen. Schwarzpulver hatten wir genug an Bord, dazu Holz, Leinwand, Teer und Pech. Aus den Beständen der Bordapotheke hatte der Arzt einen chemischen Zünder gebastelt, der die Bombe in dem Augenblick zünden sollte, in dem der Behälter mit dem Rumpf der DUKE OF EXETER zusammenprallte. Unser Plan war simpel und ziemlich riskant, aber es war unsere einzige Chance. Wir mußten die Mine auf der dem Gegner abgewandten Seite des Schiffes zu Wasser bringen und dann so manövrieren, daß der Gegner auf unserer Spur lief. Nur dann bestand die Hoffnung, daß er mit der Mine kollidierte. Schlug dieser Plan fehl, dann konnte uns nur. noch der Himmel vor den Kanonen des weit überlegenen Briten retten. Als Ausgleich für den sturmdurchtobten Morgen lieferte uns der Himmel einen fast wolkenlosen Horizont und eine sich qualvoll lang hinziehende Dämmerung. Wenn die Dinge weiterliefen wir bisher, würde das Licht gerade ausreichen, um ein kurzes Seegefecht führen zu können. Mehr als einige Breitseiten der DUKE OF EXETER konnte die NECHO nicht überstehen. Die Männer an der Mine gaben uns ein Zeichen, sie hatten ihre Arbeit beendet. Mit äußerster Vorsicht schafften wir den Sprengkörper zur Reling. Die Mine war improvisiert, sie konnte schon bei uns an Bord losgehen, sie konnte aber auch vollständig versagen. Behutsam ließen wir den klobigen Körper an einem Seil auf die Wasseroberfläche herab. Ein Mann hatte ein scharfgeschliffenes Entermesser in der Hand. An ihm lag es, ob die Mine die NECHO oder den Gegner versenkte. In dem Augenblick, in dem die Mine die Wasseroberfläche berührte, wurde sie zwangsläufig stark gebremst. Wenn nicht genau in diesem Augenblick das Seil durchschnitten wurde, wurde die Mine nachgeschleppt und prallte gegen die Bordwand der NECHO. Durchtrennte der Mann das Seil zu früh, konnte bereits der Aufprall auf dem Wasser die Mine zünden. Die Männer stießen ein Triumphgeheul aus. Die Mine war zu Wasser gelassen. Auf diesen Augenblick hatte Joshua Slocum gewartet. In rascher Folge gab er die Befehle, die die NECHO auf einen neuen Kurs brachten. Die Besatzung reagierte schnell und sicher. Ich hatte mich an der Heckreling postiert und beobachtete gespannt, wie der Brite auf dieses Manöver reagierte. Er tat uns den Gefallen. Er ging ebenfalls auf einen anderen Bug. Die Verfolgungsjagd ging weiter, und zwar genau so, wie wir es uns wünschten. Ich versuchte die Zeit zu schätzen, die vergehen mußte, bis die DUKE OF EXETER den im Wasser treibenden Körper der Mine erreicht haben konnte. Von der Mine war nichts zu sehen, sie trieb mehr als einen Meter unter der Wasseroberfläche. Wenn sie auf den Rumpf des gegnerischen Schiffes traf... Erst in diesem Augenblick kam mir zu Bewußtsein, was wir überhaupt taten. Die Menschen
auf dem anderen Schiff kannten wir nicht. Wir hatten sie mit der leichtfertig gesetzten Piratenflagge provoziert, gewiß - aber gab uns dies das Recht, das Schiff zu versenken? Mit Sicherheit waren an Bord nicht genügend Rettungsboote, um die gesamte Besatzung aufzunehmen, und ich wußte, daß es in früheren Jahrhunderten merkwürdigerweise nur wenige Seeleute gegeben hatte, die schwimmen konnten. Mehr als die Hälfte der Crew war zum Tode verurteilt, wenn die Mine zündete. Vielleicht sank das Schiff gar so schnell, daß der Besatzung nicht einmal mehr die Zeit blieb, in die Boote zu gehen. „Hoffentlich...“, begann ich zu murmeln, verstummte aber wieder. Was half es, wenn ich jetzt zu wünschen begann, die Mine möge nicht zünden? Die Situation war verfahren. Entweder wurde die DUKE OF EXE-TER von uns vernichtet, oder die Kanon des Briten machten der NECHO und ihrer Besatzung den Garaus. Wer Glück hatte, überlebte die Kanonade vielleicht und durfte dann darauf warten, an einer Rahnock aufgehängt zu werden. Die einzigen, die echte Chancen hatten, ungeschoren davonzukommen, waren die angeblichen Gefangenen, vor allem die Frauen. Ob sie es allerdings in diesem Jahrhundert sehr anheimelnd finden würden, stand auf einem anderen Blatt. Joshua Slocum kam langsam näher. In seinem Gesicht zuckte kein Muskel. „Das Spiel ist aus“, stellte er ruhig fest. „Sie haben die Mine längst passiert, und die Bombe ist nicht hochgegangen. Bald werden sie uns erwischt haben!“ Bester Beweis für seine These war die Wasserfontäne, die neben der Bordwand der NECHO in die Höhe stieg. Erst jetzt entdeckte ich das Qualmwölkchen vor dem Bug des Briten. Der Gegner hatte den Beschuß eröffnet, einstweilen nur mit seinen weittragenden Neunpfündern. War er erst einmal so nahe heran, daß er seine größeren Kaliber einsetzen konnte, würde die ganze Angelegenheit nur noch wenige Minuten in Anspruch nehmen. Slocum sah mich ruhig an. „Die seemännische Seite dieses Unternehmens ist so gut wie beendet“, stellte er gelassen fest. Mir war fast unheimlich, mit welcher Ruhe dieser Mann die Tatsache eingestand, daß er mit seinem Latein am Ende war. Er hatte sein Bestes gegeben, es hatte nicht gereicht. „Wie sollen wir jetzt vorgehen?“ Diese Frage galt mir. Mit einem Schlag war die gesamte Verantwortung auf meine Schultern gewälzt. Was war zu tun? Eine sehr einfache Frage, auf die mir beim besten Willen keine Antwort einfallen wollte. Bedrückt starrte ich auf den näherkommenden Gegner. In regelmäßigen Abständen bellten die Jagdgeschütze auf. Noch hatten sie keinen Treffer erzielen können, aber mit jeder Minute verringerte sich der Abstand zwischen den beiden Schiffen. „Was ist mit den Beibooten?“ Slocum wiegte nachdenklich den Kopf. „Auf den beiden Booten können wir bestenfalls die Hälfte der Besatzung unterbringen. Dieser Teil allerdings könnte sich absetzen. Die Beiboote sind für das Linienschiff zu schnell und zu wendig.“ Langsam fanden sich meine Gedanken zusammen. Ein Plan begann in mir Gestalt anzunehmen, eine vage Hoffnung, wie vielleicht doch das Beste aus dieser Lage zu machen war. „Slocum, Sie lassen die beiden Beiboote zu Wasser und setzen sich mit der Hälfte der Crew ab. Der Rest, vor allem die sogenannten Gefangenen, bleibt an Bord und wird sich den Briten ergeben. Sie werden die erste Gruppe führen, ich bleibe an Bord!“ „Und anschließend?“ Diese Frage hatte ich mir auch schon gestellt. „Wir werden versuchen, irgendwie davonzukommen. Wenn uns nichts anderes übrig bleibt, werden wir uns nach Möglichkeit absetzen, bis man uns in Australien abholt.“ Slocum wiegte nachdenklich den Kopf.
Er wußte so gut wie ich, welches Risiko wir eingingen, aber wir hatten tatsächlich keine andere Wahl. Die Briten würden die angeblichen Piraten kurzerhand aufknüpfen, das stand fest. Daß sie die angeblichen Gefangenen dieser Piraten nicht gehorsam nach Port Royal bringen würden, lag ebenfalls auf der Hand. Während Slocums Gruppe das Risiko einging, in zwei kleinen Schiffen den Atlantik überqueren zu müssen, lief unsere Gruppe Gefahr, von den Briten enttarnt zu werden. Wenn sich auch nur ein Besatzungsmitglied der DUKE OF EXETER an die echten Personen erinnerte, deren Identität wir übernommen hatten, wurden wir als Hochstapler verhaftet und bestraft - nach meiner Einschätzung war uns damit der Galgen sicher. Im günstigsten Fall wurden die Frauen nur gestäupt, gebrandmarkt und außer Landes gewiesen. „Wir versuchen es“, sagte Slocum schließlich. „Nur... Ich sah ihn fragend an. „Wir haben nur diese beiden Beiboote, dazu noch moderne Rettungsinseln, die man allerdings nicht finden darf. Wie wollen Sie sich den Briten ergeben, ohne dabei die NECHO zu übergeben? Wenn das Schiff von den Briten genauer untersucht wird, werden sie mit Sicherheit einiges finden, was nicht in diese Zeit paßt.“ Ich sah über die Reling auf das Wasser hinab. Es sah nicht sehr verlockend aus. „Ganz einfach“, erklärte ich. „Sie werden uns vorher über Bord werfen lassen. Vielleicht haben wir sogar Glück, daß diese Aktion die Briten so lange aufhält, daß Sie sich mit der NECHO in Sicherheit bringen können!“ Ich hätte Slocum umarmen mögen. Erst seine ruhige Frage hatte mich auf diesen Ausweg verfallen lassen. Natürlich, wenn die Briten sämtliche Gefangene aus dem Wasser fischten, verloren sie sehr viel Zeit. Sie mußten beidrehen, ein Boot zu Wasser lassen... ... mußten uns nur ertrinken lassen, dann verloren sie keine Sekunde Zeit. Ich kannte mich nicht genügend aus in der Mentalität dieser Zeit. Ich wußte nur, daß dies die Zeit gewesen war, in der Kinder wegen geringfügiger Diebstähle hingerichtet worden waren. Die Henker hatten sich an die Füße der Kinder gehängt, weil das Eigengewicht der Opfer nicht ausreichte, die Schlinge genügend zuzuziehen. Welches Gemüt mußte ein Mann haben, der an Bord eines Linienschiffs einige hundert Menschen kommandierte, deren Disziplin er nur durch die ständige Drohung mit dem Galgen oder der neunschwänzigen Katze aufrechterhalten konnte? Ob ein so gearteter Mann viele Gedanken auf ein paar im Wasser treibende Gestalten verschwenden würde? Wir mußten die Probe aufs Exempel machen, etwas anderes blieb uns nicht übrig. Es wurde höchste Zeit für uns. Eine Neunpfünderkugel, glücklicherweise zu hoch gezielt, fegte über das Deck, zerriß ein paar Webleinen und klatschte ins Wasser. Mit hastigen Worten erklärte ich der Crew meinen Plan. Die Männer und Frauen sahen zwar sehr skeptisch drein, aber sie erklärten sich mit dem Vorschlag einverstanden. An Deck entfaltete sich eine fieberhafte Tätigkeit. Während eine Gruppe damit. beschäftigt war, die Beiboote klarzumachen und ausreichende Mengen Trinkwasser und Lebensmittel heranzumannen, war eine andere Gruppe damit beschäftigt, nacheinander die Gefangenen über Bord zu werfen. Sie wählten dazu die Schiffsseite aus, die dem Gegner zugekehrt war, und nicht ohne Grund wurden zuerst jene Frauen über Bord geworfen, deren prächtige Kleidung sie sofort als Angehörige der besseren Stände auswies. Im Augenblick war diese alles andere als bequeme Kleidung der Frauen unser größter Trumpf. Welcher Kommandant konnte es sich erlauben, eine vielleicht hochadelige Frau kaltlächelnd versinken zu lassen, während er Jagd auf Piraten machte. Irgendein Besatzungsmitglied würde früher oder später plaudern, spätestens dann war der Skandal perfekt. Ich warf einen Blick auf die Sonne. Die Dämmerung war bereits weit fortgeschritten, wir brauchten gar nicht einmal viel Pech, um völlig übersehen zu werden. Ich wollte gerade den Mund öffnen, um etwas zu sagen, als ich von kräftigen Fäusten gepackt
wurde. Ehe ich Zeit zu einem entrüsteten Aufschrei fand, war ich bereits über die Reling geworfen worden. Klatschend schlug über mir das Wasser de Atlantiks zusammen. Wenige Schwimmstöße brachten mich wieder nach oben. Von meinen Leidensgefährten war nichts zu sehen. Ich erkannte nur das Heck der NECHO, das sich mit großer Geschwindigkeit entfernte. Auf der anderen Seite war der Bug der DUKE OF EXETER zu erkennen, der mit ebenso hoher Geschwindigkeit näher kam. Wenn der Kommandant nicht sehr bald den Befehl zum Beidrehen gab, mußte er den vordersten Schwimmer glatt überlaufen. Endlich schien der Kapitän der Briten ein Einsehen zu haben. Ich sah, wie die Männer auf dem Oberdeck durcheinanderquirlten, dann begann sich das Schiff langsam zu drehen. Im schwachen Dämmerlicht sah ich auch, wie ein großes Boot zu Wasser gelassen wurde. Mit affenartiger Behendigkeit turnten einige Matrosen an der Bordwand hinab. Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus. Keine Sekunde verging, und ich glaubte, der Augenblick des Weltuntergangs sei gekommen. Eine Breitseite aus mehr als dreißig Geschützen donnerte mir entgegen, und während die Kugeln über mich hinwegflogen, auf den Rumpf der NECHO zu, wehte mir eine Wolke scharfen Pulverdampfs entgegen. Der Kommandant des Briten war offenbar ein sehr entschlossener Mann, er dachte nicht daran, sich den Piraten entgehen zu lassen. Rasch wandte ich den Kopf, um nach der NECHO zu sehen. Viel erkennen konnte ich nicht, dafür waren in der Nähe des Schiffes zu viele Wassersäulen aufgestiegen, aber einige der Kugeln hatten offenbar getroffen. In den Segeln waren Löcher zu erkennen, und selbst mir fiel auf, daß sich in der Takelage der NECHO etwas geändert hatte. Das Schiff war getroffen worden, aber ich konnte nicht erkennen, welche Schäden der Beschuß am Rumpf hervorgerufen hatte. In der immer stärker werdenden Dunkelheit konnte ich von unserem Schiff bald nicht mehr viel erkennen. Um so mehr verrieten mir die Bewegungen an Deck des Briten. Die DUKE OF EXETER ging wieder auf alten Kurs, sie setzte die Verfolgung fort. Entgeistert sah ich zu, wie das Linienschiff Fahrt aufnahm, dann begann ich zu schwimmen. Meine Trainer in der Time-squad wären sehr zufrieden gewesen, hätten sie das Tempo gesehen, das ich vorlegte, um nicht unter den Bug der DUKE OF EXETER zu geraten. Es gelang mir knapp. Ich spürte einen harten, schmerzhaften Schlag an der Schulter, dann war der Rumpf des Schiffes an mir vorbeigeglitten. Aus dieser Perspektive sah es gigantisch aus.. Ich wußte nicht, wie lange ich schon im Wasser lag. Mir wurde nur plötzlich erschreckend klar, daß es dunkel geworden war. Nur für einen kurzen Augenblick hatte ich das Schiff sehen können, dann war es von der Dunkelheit verschlungen worden. Das Mondlicht reichte gerade aus, das Wasser in der näheren Umgebung erkennen zu können und das Boot, das langsam auf mich zukam. Immer wieder hoben die Männer an Bord die Riemen, hielten an und nahmen einen Schwimmer an Bord. Am Bug und am Heck des Beiboots brannten Fackeln, die den Schwimmern den Weg zeigen sollten. „Jetzt fehlt nur noch einer!“ hörte ich eine rauhe Stimme rufen. Das Englisch, das der Mann sprach, war geradezu grauenvoll. Ich begann zu ahnen, welche sprachlichen Schwierigkeiten wir haben würden - vorausgesetzt, wir kamen überhaupt dazu, in weitere Schwierigkeiten zu geraten. „Hierher!“ brüllte ich mit aller Kraft. „Hierher!“ Die Kursänderung des Bootes war kaum zu erkennen. Jetzt zielte der Bug genau auf meinen Kopf. Ich hörte das leise Quietschen, wenn sie die Riemen bewegten. „Nur die Ruhe bewahren, Sir!“ sagte ein Mann. Ich reckte die rechte Hand in die Höhe und fühlte erleichtert, wie harte, schwielige Hände nach mir griffen. Mit kräftigem Schwung wurde ich binnenbords gebracht. Ich seufzte erleichtert auf. „Ist das der letzte?“ erkundigte sich der Bootsführer, ein hochaufgeschossener junger Mann, auf den ersten Blick als Angelsachse zu erkennen. „Der letzte“, bestätigte eine matte Frauenstimme. In dem flackernden Licht erkannte ich Susan Gilmore, der hier die Rolle der Herzogin von Wharfdale zufiel. Im Augenblick machte
sie eher den Eindruck einer durchnäßten Vogelscheuche.
Einer der Ruderer reichte mir eine Decke.
„Hier, nimm! Die Nacht wird kalt werden.“
„Soll das bedeuten, daß wir die ganze Nacht in diesem schaukelnden Boot zubringen
müssen?“
Die Stimme der Herzogin verriet deutlich ihre Betroffenheit. Der Bootsführer, ein Fähnrich
von knapp mehr als sechzehn Jahren, zuckte hilflos mit den Schultern.
„Ich fürchte ja, Mylady. Der Kommandant bittet Sie durch mich, diese Mißhelligkeit zu
entschuldigen. Er meint, daß er Sie morgen mit dem Anblick der aufgeknüpften Piraten für
diese Entbehrungen wird entschädigen können.“
Unwillkürlich wandte ich den Kopf.
Irgendwo in der Finsternis trieben sich die beiden Schiffe herum. Würde es der DUKE OF
EXETER gelingen, die NECHO zu stellen? Und wenn, was wurde dann aus uns?
5. Als die Sonne über die Kimm stieg, waren wir allesamt völlig durchfroren. Die Nacht war kalt gewesen, sehr kalt sogar; und es war uns nicht gelungen, trocken zu werden. Immer wieder war Spritzwasser übergekommen. Den englischen Seeleuten schien das nichts auszumachen, wahrscheinlich waren sie an dieses Leben gewöhnt. Ich aber fror erbärmlich, und meinen Gefährten erging es nicht viel besser. Inzwischen hatten sich förmliche Fronten ergeben : auf der einen Seite standen die Gefangenen, allen voran die Herzogin von Wharfdale, die von allen Seiten mit größter Hochachtung behandelt wurde. Die zweite Gruppe wurde von mir und den anderen aufgefischten Männern gebildet. Der Fähnrich schien uns für Verbündete der Piraten zu halten, wäre es nach ihm gegangen, hätte er uns überhaupt nicht aufgefischt. Seine Haltung wurde von einigen Matrosen geteilt, der Rest sympathisierte mehr oder minder offen mit uns. Einige Blicke, die uns zugeworfen wurden, waren offenkundig neiderfüllt. Das war nicht weiter verwunderlich. Wir hatten einen Teil unserer Kleidung abgelegt, in der Hoffnung, ihn trocknen zu können. Dabei mußte den Seeleuten aufgefallen sein, daß keiner von uns zernarbte Rücken aufzuweisen hatte - von unseren Rettern hatte die Mehrzahl schon Bekanntschaft mit der neunschwänzigen Katze gemacht. Die Spuren dieser Behandlung waren nicht zu übersehen. „Junger Mann“, begann die Herzogin. „Wissen Sie vielleicht, wann die DUKE OF EXETER in dieses Gebiet zurückkehren wird? Es erscheint mir einigermaßen leichtsinnig, uns in einem offenen Boot derart lange treiben zu lassen. Würden wir Ihnen nicht unser Leben verdanken, hätte ich mich längst entschlossen, diese Rücksichtslosigkeit höheren Ortes zur Sprache zu bringen.“ Der Fähnrich wurde blaß. „Ich bin an meine Befehle gebunden, Mylady“, sagte er stockend. Ich verstand, daß der junge Mann in einer teuflischen Klemme steckte. Beschwerte sich die Herzogin über ihn, verlor er mit Sicherheit seinen Posten und konnte seine Karriere in den Wind schreiben. Fügte er sich der Herzogin, kollidierte dies mit seinen Befehlen - und das konnte ihm leicht den Strick einbringen. Und diese Verantwortung war einem Jungen aufgebürdet, der ab und zu noch Schwierigkeiten hatte, seine Stimme männlich tief klingen zu lassen. „Sir, ein Segel!“ Der Fähnrich drehte sich um und runzelte die Brauen. Unwillkürlich spähten wir in die gleiche Richtung. Der Mann am Bug des Bootes hatte richtig gesehen, ein Schiff näherte sich. Wenig später wurde ein zweites Segel sichtbar. Sorge begann mich zu quälen. Was War mit der NECHO geschehen, wo blieb die DUKE OF
EXETER?
Minuten vergingen in quälender Langsamkeit, bis sich die Konturen deutlicher abzeichneten.
Für mich gab es keinen Zweifel. Die beiden Schiffe, die genau auf uns zu steuerten, waren die
beiden Beiboote der NECHO, und wenig später wurde offenbar, daß sie voll bemannt waren.
War es zu einem Kampf zwischen der NECHO und dem Briten gekommen, konnten die
Verluste jedenfalls nicht erheblich gewesen sein.
Hilfesuchend sah sich der Fähnrich um. Außer seinem Säbel und zwei einschüssigen Pistolen
gab es keine Waffen an Bord unseres Bootes: Mit den ungefügen Riemen ließ sich bei einer
Auseinandersetzung bestimmt nicht viel anfangen.
Ich entschloß mich zum Handeln. Ehe der völlig verblüffte Fähnrich etwas unternehmen
konnte, hatte ich ihm die beiden Pistolen aus dem Gürtel gerissen und die Hähne gespannt.
Die Mündungen zeigten auf seinen Bauch.
„Teufel, was hat das zu bedeuten. Gib die Waffen zurück, oder ich lasse dir das Fleisch von
den Knochen peitschen!“
Ich kümmerte mich nicht um die Drohung, die zweifellos erst gemeint war.
„Hinsetzen!“
Der Fähnrich preßte die Lippen aufeinander und setzte sich. Sein Blick verriet mir, daß er
später mit größtem Vergnügen eigenhändig die Peitsche geschwungen hätte.
Rasch kamen die beiden Beiboote der NECHO längsseits. Ein Dutzend Gewehre richtete sich
auf die englischen Matrosen. Sie hoben die Hände.
„Slocum“, rief ich erleichtert aus. „Was ist geschehen? Wo ist die DUKE OF EXETER?“
Slocum warf mir eine Leine herüber und zuckte gleichzeitig die Schultern.
„Sie hat uns noch in der Nacht erwischt. Wir konnten gerade noch rechtzeitig in die Boote,
bevor das Feuer eröffnet wurde. Die NECHO ist versenkt.“
„Und der Brite?“
Die Frage erübrigte sich. Wenn die Crew der NECHO schon vor dem Gefecht von Bord
gegangen war, konnte der Brite nicht einmal eine Stange verloren haben. Er war ohne den
geringsten Schaden aus dem Gefecht hervorgegangen.
Wir waren keinen Schritt weitergekommen, im Gegenteil, unsere Lage hatte sich noch
verschlimmert.
„Sie müssen sofort verschwinden, Slocum“, stieß ich hervor. Nur ich wußte, wieviel
Überwindung mich dieser Befehl kostete. „Ihre Boote können dem Briten davonlaufen, wir
nicht.“
Slocum schüttelte den Kopf.
„Um einigermaßen sicher zu sein, müßten Sie die da über Bord werfen, andernfalls würden
sie Sie verraten!“
Mit einer Kopfbewegung verwies er auf die britischen Matrosen und den Fähnrich, der
kreideweiß geworden war.
„Slocum“, sagte ich beschwörend. „In jedem Augenblick kann die DUKE OF EXETER hier
auftauchen. Wir haben keine andere Chance. Ihre beiden Boote sind nicht groß genug, um uns
alle aufnehmen zu können. Also muß ein Teil von uns in diesem Boot bleiben, gleichgültig,
was passieren wird.“
In das Gesicht des Fähnrichs war die Farbe zurückgekehrt. Sein Blick wanderte von Slocum
zu mir, dann zur angeblichen Herzogin. Die besorgten Gesichter der vermeintlichen
Gefangenen ließen nur einen vernünftigen Schluß zu - wir steckten allesamt unter einer
Decke. Was das bedeutete, lag auf der Hand. Für jeden, der an Bord des britischen Bootes
blieb, wartete auf der DUKE OF EXETER der Strick, das galt auch für die Frauen. Ich
überlegte fieberhaft, aber ich fand nur einen Ausweg. Freiwillige mußten gefunden werden,
die an Bord der britischen Barkasse zurückblieben und dem sicheren Tod entgegensahen.
Wenn sich nicht genügend Freiwillige fanden, mußte das Los entscheiden.
Mein Blick fiel auf Inky, der in Slocums Boot saß und angestrengt nachdachte. Wie würde er
sich entscheiden? Meine Entscheidung stand fest. Als Kommandant des ganzen Unternehmens hatte ich die Pflicht... War ich wirklich verpflichtet, in den sicheren Tod zu gehen, um die anderen retten zu können? Warum ich? Warum nicht ein anderer? Pflicht hin, Pflicht her, ich hatte nur dieses eine Leben, und an dem hing ich. „Augenblick“, meldete sich Inky. „Tovar hat recht, sein Vorschlag ist eine Möglichkeit. Wir haben aber noch eine andere Chance, sie hat allerdings den Nachteil, daß im Fall eines Fehlschlags keiner von uns mit dem Leben davonkommt.“ „Laß hören“, forderte Slocum ihn auf. „Wir geben den Matrosen der DUKE OF EXETER ein paar von unseren Gewehren, natürlich ohne Ladung. Wir werden Gefangene darstellen, behalten aber den Rest der Waffen für uns. Für die DUKE OF EXETER wird es so aussehen, als hätte die Bootsbesatzung uns überwältigt. Wir lassen uns von der DUKE OF EXETER aufnehmen und dann schlagen wir überraschend zu. Gelingt der Plan, haben wir ein neues Schiff, schlägt er fehl...“ Es war eine teuflische Zwickmühle. Wir spielten Roulette um unser Leben. Jedes Fach, in das die Elfenbeinkugel fallen konnte, hielt ein anderes Schicksal bereit - und es sah so aus, als sei davon nur eine Position für uns günstig. Was Inky uns vorschlug, war blankes Hasardieren. Minutenlang herrschte eine beklemmende Stille. Nur das leise Geräusch des Windes war zu hören und das sanfte Plätschern, mit dem die Wellen gegen die Planken schlugen. „Augenblick mal, Sir!“ Einer der Matrosen stand auf, ein älterer Mann mit schon angegrautem Haar. Er leckte sich nervös die Lippen. „Wir haben alle mitbekommen, was Sie da vorhin gesagt haben. Wir hätten Sie wahrscheinlich ohne Zögern über Bord geworfen, wenn es um unsere Haut gegangen wäre. Und darum, also wissen Sie, vielleicht nützt es etwas, wenn wir alle mitmachen. Sie müssen uns nur versprechen, daß Sie uns irgendwo an Land setzen, wo uns keine Gefahr droht. Das Leben an Bord der EXETER ist die Hölle, Sir.“ Aus den Reihen der britischen Seeleute kam ein beifälliges Murmeln. Ich sah, daß der Unterkiefer des Fähnrichs zu zittern begann. Der Junge war am Ende seiner Fassungskraft. „Und was den Fähnrich angeht, Sir, der ist ein anständiger Kerl. Er hat uns nie so geschunden wie die anderen. Wenn Sie erlauben, Sir, werden wir ihn fesseln. Dann hat er mit der Sache nichts zu tun, er ist ja noch ein halbes Kind, Sir!“ Die Gestalt des Fähnrichs straffte sich. Er zog seinen Säbel und übergab ihn mir. „Verfügen Sie über mich, Sir!“ sagte er förmlich. „Ich glaube nicht, daß ich im Fall eines Fehlschlags imstande wäre, mit anzusehen, wie diese Männer gehängt werden.“ Über die Gesichter der Briten flog ein Lächeln. „Also gut, Fähnrich. Sie übernehmen das Kommando!“ Wir brauchten nur wenige Minuten, um unseren Plan auszuführen. Die englischen Seeleute verteilten sich auf die drei Boote und hielten uns in Schach. Ihre Gewehre und Pistolen waren geladen, dazu machten sie grimmige Gesichter; dieser Eindruck wurde allerdings des öfteren von einem deutlichen Grinsen beeinträchtigt. Die Beiboote der NECHO nahmen die britische Barkasse in Schlepp. Angeblich waren wir auf der Suche nach der DUKE OF EXETER, in Wirklichkeit versuchten wir, uns so weit wie möglich zu entfernen. Wenn wir etwas Glück hatten, konnten wir soviel Raum zwischen uns und das Linienschiff legen, daß eine Suche nach uns für die Briten aussichtslos war. Zum Glück wehte eine frische Brise, die uns rasch vorwärts brachte. Für unsere Verhältnisse machten wir sogar eine ziemlich flotte Fahrt. Aber uns wurde in diesen Stunden auch klar, daß wir selbst im günstigsten Fall noch erhebliche Probleme zu bewältigen haben würden. Wir mußten sowohl die Crew der NECHO als auch unsere neuen Freunde beköstigen und, was entschieden schwieriger war, mit Trinkwasser versorgen. Mit Nahrungsmitteln waren wir einigermaßen gut versehen. Wir hatten genug tiefgefrorene und entwässerte Kost an Bord, die
nur ins Wasser getaucht werden mußte, um genießbar zu werden. Die Tüftler der Time-squad hatten sogar ein Verfahren erfunden, das diesen Nahrungsmitteln jegliches Salz entzogen hatte - so waren die Stücke kalten Bratens nach einem kurzen Bad im Seewasser gerade richtig gewürzt. Natürlich schmeckte das Zeug ein wenig fade, typisch nach Großküche. Unsere britischen Freunde allerdings schlangen ihre Portionen mit einer Gier herunter, die deutliche Rückschlüsse auf die Qualität des Essens an Bord der DUKE OF EXETER zuließ. Der einzige von ihnen, der sich um gepflegte Tischmanieren bemüht zeigte, war der junge Fähnrich William Chadwick. Mir fiel sogar auf, daß er seine Portion mit sichtlichem Mißtrauen beäugte, bevor er zum ersten Mal zubiß. Der junge Mann war nicht auf den Kopf gefallen und machte sich seine Gedanken. Ich begann zu ahnen, daß er bald Fragen stellen würde, die äußerst schwer zu beantworten sein würden. „Teufel auch“, grunzte einer der Seeleute genießerisch. „Das schmeckt besser als Ratten!“ „Ratten?“ Die Stimme der Herzogin von Wharfdale verriet aufkeimenden Ekel. „Sicher, „Mylady“, versetzte der Fähnrich arglos. „Gut zubereitet schmecken sie besser als das ewige Salzfleisch.“ Die Herzogin drehte sich herum. Ihr Gesicht war ziemlich blaß geworden. Der Fähnrich wandte sich mir zu. „Gibt es bei Ihnen keine Ratten?“ erkundigte er sich. „Nicht eine einzige“, behauptete ich wahrheitsgemäß. Die Augen des Fähnrichs verengten sich. „Nun ja, Sie haben so etwas schließlich nicht nötig, nicht wahr?“ Er wedelte mit dem Bratenstück. „Wie wird das gemacht?“ wollte er wissen. Was sollte ich auf diese Frage antworten? Chadwick gierte geradezu nach jedem Wort, das ihm zu einer Erklärung seiner Probleme half. Wahrscheinlich reichten für einen aufgeweckten Jüngling seines Schlages bereits einige Andeutungen, um ihn auf die Fährte zu bringen - von der er dann sicherlich nicht mehr ablassen würde. Hilfesuchend sah ich mich um. „Hahmmm“, machte ich, um etwas Zeit zu gewinnen. Der Fähnrich sah mich verwundert an, dann widmete er sich wieder seinem Braten. Offenbar schien ihm diese Antwort vollauf zu genügen. Wir segelten ziemlich genau nach Westen, dem Doppelkontinent Amerika entgegen. Von der DUKE OF EXETER war weit und breit nichts zu sehen. War es möglich, daß der Kommandant nicht nur uns sondern auch die Bootsbesatzung kaltblütig geopfert hatte? Ich wußte, daß in diesem Zeitalter ein Menschenleben nicht viel wog, schon gar nicht das eines einfachen Seemanns, aber eine derartige Rücksichtslosigkeit erschien mir selbst unter diesen Umständen fast unvorstellbar. Stunde um Stunde verging. Wären die Sorgen nicht gewesen, die uns bedrückten, wir hätten an dieser Segelpartie Gefallen finden können. Der Wind blies stetig und kräftig, der Himmel war fast wolkenlos. Die Wetterbedingungen waren fast ideal zu nennen. Und keine Spur von dem britischen Linienschiff. Ich sah, daß sich die englischen Seeleute besorgte Blicke zuwarfen. Das ausgehende siebzehnte Jahrhundert hatte sich nicht gerade als eine Blütezeit exakter Wissenschaften erwiesen, und die Bewohner der Zeit waren von manchen Ängsten und Sorgen geplagt worden, die uns Neuzeitmenschen absonderlich vorkommen mußten. In der Vorstellungswelt dieser Zeit trieben Hexen und Zauberer ihr Unwesen, Meere und Gebirge wimmelten von abscheulichen Monstren, die ahnungslosen Reisenden auflauerten. Vom Klabautermann und seinen teuflischen Freunden ganz zu schweigen. Es gab eine ganze Menge handfester Gründe, warum wir von dem Linienschiff nichts sehen konnten. Die DUKE OF EXETER wäre nicht das erste Schiff der Geschichte gewesen, das
unter rätselhaften Umständen spurlos auf dem Meer verschwand. Für unsere neuen Partner allerdings wimmelte es auf den Meeren von Teufelsspuk, und die Angst davor saß sicherlich sehr tief. Zudem... Ich hatte bereits meine Erfahrungen mit übernatürlichen Kräften gehabt. Nur mit leisem Schauder dachte ich an den Zauberer Valcarcel, der mir seine Fähigkeiten mehr als eindrucksvoll bewiesen hatte. Valcarcel war eine wichtige Persönlichkeit aus den Reihen der Gegner der Time-squad, vielleicht sogar deren Anführer. Da er die Fähigkeit besaß, dank seiner Zeitmaschine nach Belieben kreuz und quer durch die Zeiten zu reisen, war es sehr wohl möglich, daß er auch jetzt seine Hand im Spiel hatte. In diesem Fall gab es außer natürlichen Umständen noch eine ganze Menge anderer Möglichkeiten, das Verschwinden der DUKE OF EXETER zu erklären. Eines stand für mich fest: trieb sich Valcarcel in dieser Zeit herum, mußten wir uns schnellstmöglichst der englischen Seeleute entledigen. Ihre Welt war mit abergläubischen Wahnvorstellungen derart durchsetzt, daß sie uns nur hinderlich sein konnten. Die Stunden verstrichen mit quälender Langsamkeit. Es war eine merkwürdige Fahrt. Die britischen Seeleute schwiegen, weil sie mit uns nichts Rechtes anzufangen wußten, und meine Freunde hielten den Mund, um nicht ungewollt Geheimnisse zu verraten. Es begann bereits zu dämmern, als sich einer der Männer plötzlich aufrichtete. „Ein Segel, genau voraus!“ schrie er aufgeregt. Ich benutzte mein Fernglas. Der Mann hatte verteufelt gute Augen. Er hatte trotz der Dämmerung den kleinen hellen Fleck am Horizont bemerkt. Die Wahrscheinlichkeit, daß sich noch ein Schiff in diesem Bereich des Mittelatlantiks herumtrieb, war sehr gering. Meine Befürchtung wurde sehr bald zur unzweifelhaften Wahrheit. Es war die DUKE OF EXETER. Unter vollen Segeln hielt sie auf uns zu. * „Nehmt eure Plätze ein!“ befahl ich hastig. „Man darf drüben keinen Verdacht schöpfen!“ Gehorsam nahmen die Seeleute die Waffen hoch und richteten sie auf uns. Wir hatten die Aufgabe, betretene Gesichter zu machen, und das fiel uns angesichts des heranjagenden Linienschiffs nicht schwer. Ich überlegte fieberhaft, wie wir vorgehen sollten. Als erstes mußten wir die Offiziere ausschalten, danach vor allem jene Unteroffiziere und Mannschaften, die genug von der Seefahrt verstanden, um die DUKE OF EXETER zur Not auch ohne Hilfe in einen rettenden Hafen zu bringen. Ein Kampf mit der gesamten Besatzung war ohne Hoffnung. Ich wußte nicht, wie viele Menschen in den Decks zusammengepfercht lebten, auf jeden Fall aber eine unüberwindbare Übermacht. Wir hatten nur dann eine Chance, wenn es uns gelang, diesen Männern zu beweisen, daß sie ohne uns verloren waren. Ein gellender Schrei riß mich aus meinen Gedanken. Ich sah hoch und blickte in das schreckensweiße Gesicht des Fähnrichs. Die Augen schienen dem jungen Mann aus dem Kopf quellen zu wollen. Hastig fuhr ich herum, und der erste Blick zeigte mir, daß es für das Entsetzen der Männer einen plausiblen Grund gab. Die DUKE OF EXETER jagte heran, aber an Deck war kein Mensch zu sehen. Dafür aber war das Schiff eingehüllt in eine schillernde, zuckende Aura. Blaugelbe Flammen tanzten auf dem Tauwerk, bildeten auf den geblähten Segeln abstrakte Figuren und formten bizarre Linien, die gegen die immer stärker einsetzende Dämmerung als Hintergrund leicht zu erkennen waren. „Wir sind verloren!“ schrie eine sich überschlagende Stimme. Einige Männer brachen in die Knie und begannen zu beten. Ich fühlte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann. An den Klabautermann glaubte ich
nicht, aber mir war klar, daß hier Kräfte am Werk waren, die nicht in unser
naturwissenschaftliches Weltbild passen wollten.
Unwillkürlich flüsterte ich einen Namen: „Valcarcel!“
6. „Auf Psychologie verstehen sie sich, das muß man ihnen lassen!“ Inkys ‘ halblaute Bemerkung brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Aller Logik und Verstandeskraft zum Trotz hatte mich das Bild des Schiffes in seinen Bann geschlagen. Ein Blick genügte, um mir zu zeigen, daß wir mit den Seeleuten nicht rechnen konnten. Sie waren halb irre vor Angst und Entsetzen. Ich gab unseren Freunden ein Zeichen, wenig später waren die Engländer entwaffnet. Wie notwendig diese Maßnahme war, erwies sich, als Slocum die nötigen Befehle für ein Anlegemanöver erteilte. Die Engländer hoben beschwörend die Hände und flehten uns förmlich an, die Finger von dem Gespensterschiff zu lassen. Auch die Mündungen unserer Waffen, die auf ihre Köpfe zielten, brachten sie nicht zur Besinnung. Zwei Männer sprangen sogar über Bord und versuchten davonzuschwimmen. Wir konnten sie nicht zurückhalten. Mit geschickten Ruderbewegungen brachte Slocum unsere Boote längsseits. Er enterte als erster auf, dann folgte Inky. Ich schloß mich den beiden an. Das Manöver war nicht ungefährlich. Die Schiffe bewegten sich heftig, und wenn ich nicht aufpaßte, konnte ich mir leicht zwischen den Bordwänden die Beine abquetschen lassen. Langsam turnten wir in die Höhe. Sobald ich die Reling erreicht hatte, schwang ich mich darüber hinweg und ließ mich auf die Decksplanken fallen. Ich rollte ab und griff sofort zu meiner Waffe. Diese Bewegung war überflüssig. Es gab keine auf uns gerichteten Musketen. Das Deck war verlassen. Auf dem Deck herrschte eine unwirkliche, gespenstische Beleuchtung, wie von defekten Leuchtröhren. Slocum beugte sich über die Reling. „Aufpassen, wir drehen bei!“. Rasch eilte er zum Ruder und begann das hölzerne Speichenrad zu drehen. Währenddessen waren Inky und ich damit beschäftigt, die Schoten zu kappen. Ziemlich rasch kam das Linienschiff zum Stillstand. „Ihr könnt aufentern!“ rief Slocum. Die Öffnung des Megaphontrichters, den er in der Nähe des Ruders gefunden hatte, zielte auf die Boote. „Hier ist alles verlassen!“ Zwar hatten wir die Batteriedecks noch nicht untersucht, aber ich wußte, daß Slocums Prognose stimmte. Auf diesem Geisterschiff würden es Menschen dieser Zeit niemals lange aushalten. Das Schiff war verlassen, soviel stand fest. Die Frage war, woher die seltsamen Phänomene stammten, die die Besatzung des Schiffes vertrieben hatte. Vertrieben? Ich ließ meinen Blick über das Deck schweifen. Die DUKE OF EXETER war nicht verlassen worden. Es fehlte nur die Barkasse, die außenbords trieb. Die anderen Boote waren noch an Deck. Abgesehen davon hätten sie ohnehin nicht dazu ausgereicht, die gesamte Besatzung der DUKE OF EXETER aufzunehmen. Was war mit den Männern geschehen? Wo waren die Kanoniere, die Maate, Offiziere und der Kommandant? Auf dem Deck waren die Taue sauber aufgeschlossen, jeder Belegnagel saß an seinem Platz, die Karronaden auf dem Achterdeck waren seefest gezurrt. Alles sah aus, als habe die Besatzung das Schiff aufgeräumt und sei dann von Bord gegangen, um die
Hafenkneipen unsicher machen zu können. Ich schluckte nervös. Wohin waren diese Männer verschwunden? Die Antwort erhielt ich Sekunden später. Das irrlichternde Leuchten auf dem Tauwerk begann sich zu ändern. Die kleinen, blaugelben Flammen krochen langsam an den Tauen in die Höhe, vereinigten sich an den Mastspitzen und stiegen weiter auf. Innerhalb weniger Augenblicke bildeten sie ein riesiges, irrlichterndes V über dem Schiff, dann verschwand das Zeichen schlagartig. Zurück blieben das Entsetzensgeheul der Seeleute und ein penetranter Geruch nach Schwefel. Inky warf einen Blick auf die Boote. Kopfschüttelnd stellte er fest: „Keine Aussicht, die Kerle an Bord zu bringen. Für sie ist der Teufel persönlich an Bord gewesen!“ Ich nickte bekümmert. Zusammen mit der Besatzung der britischen Barkasse hätten wir das Linienschiff vielleicht übernehmen können, ohne sie nicht. Wir hatten keine andere Wahl, wir mußten auf die DUKE OF EXETER verzichten. Was uns zu tun blieb, war lediglich unsere Lebensmittel- und Wasservorräte aus den Beständen des Linienschiffs zu ergänzen. Nur unsere Leute fanden sich zu dieser Arbeit bereit. Die Engländer hockten mit käseweißen Gesichtern in den Booten und wagten nicht einmal, das Gespensterschiff anzusehen. Einzig der Fähnrich konnte seinen Aberglauben überwinden und kam an Bord, um beim Umladen zu helfen. „Was sollen wir mit dem Schiff machen?“ erkundigte ich mich bei Slocum. Er zuckte mit den Schultern. „Wir müssen das Schiff versenken“, murmelte er. „So leid es mir tut, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Es stellt eine Gefahr für die Schiffahrt dar, vor allem auf psychologischem Gebiet. Sie kennen ja das alte Märchen vom Fliegenden Holländer.“ „Vielleicht ist das hier der Fliegende Holländer?“ wandte ich ein. „Wenn wir das Schiff versenken, entsteht vielleicht ein Zeit-Paradoxon.“ „Dies hier ist ein englisches Schiff, und die Sage vom Fliegenden Holländer ist...“ Unwillkürlich stockte er, und ich wußte auch, warum. Er hatte sagen wollen „älter“, aber das stimmte nicht - jedenfalls nicht aus der Perspektive des ausgehenden siebzehnten Jahrhunderts. Die Sage mußte erst noch entstehen. „Diese vermaledeiten Zeitreisen bringen die ganze Grammatik durcheinander“, kommentierte ich sarkastisch. „Geben Sie sich keine Mühe, ich weiß, was Sie sagen wollten. Also gut, wir werden das Schiff versenken. Wie?“ Slocum biß sich auf die Lippen. „Übernehmen Sie diese Aufgabe. Ich kann es nicht!“ Ich sah ihn verwundert an, dann begriff ich. Slocum war ein alter Blauwassersegler, er sah in einem Segelschiff nicht eine Transportmöglichkeit, sondern sehr viel mehr. Für ihn war die mutwillige Versenkung dieses prächtigen alten Schiffes emotionell mindestens gleichwertig mit dem Einschläfern eines liebgewordenen Haustiers. Ich brauchte nur eine Sekunde, um festzustellen, wie ich der DUKE OF EXETER den Garaus machen würde. Das Schiff bestand aus Holz und starrte förmlich von Teer und Farben, die allesamt leicht entzündlich waren. Zudem lagerten in den Pulverkammern sicherlich einige Tonnen Schwarzpulver. Es mußte möglich sein, das Schiff mit einem einzigen Streichholz in Brand zu setzen. Natürlich hätte ich das Schiff auch anbohren können, aber ein seltsames Gefühl hielt mich davon ab. Es erschien mir nicht fair dem Schiff gegenüber, es so dem Element auszuliefern, dem es erfolgreich getrotzt hatte. Ich wartete, bis alle die DUKE OF EXETER verlassen hatten, dann ging ich in die Kabine des Kapitäns. Im Kartenfach lagen die aufgerollten Seekarten, auf einem Tisch einige navigatorische Instrumente, die unglaublich primitiv anmuteten. Am Kopfende der
Kommandantenkoje lag ein dickes Buch mit leicht vergilbten Blättern.
Es kostete mich einige Mühe, den Stuhl des Kapitäns zu zerlegen und die Trümmer
zusammenzulegen. Zerfetzte Seekarten ergänzten die Feuerstelle. Meine Vermutung
bestätigte sich. Ich brauchte wirklich nur ein einziges Streichholz, um das Feuer anzustecken.
Sobald ich sicher war, daß die Flammen nicht mehr ersticken konnten, griff ich nach dem
Buch und rannte an Deck. Zwei Minuten brauchte ich, um in mein Boot zurückzukehren,
danach legten wir sofort ab.
„Was haben Sie denn mitgenommen?“ fragte mich Slocum und deutete auf das Buch.
„Ein Andenken“, sagte ich grinsend. „Ich weiß nicht, was darinsteht, vielleicht Kochrezepte.“
Inky warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Wie kann man nur so verfressen sein?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Besser, man leidet an unbezwingbarer Eßlust als an unbezwingbarer Mordlust.“
Mit diesen Worten verstaute ich das Buch im Boot, dort, wo es vor Spritzwasser sicher war.
Wir hatten uns bereits mehr als eine Seemeile von dem Linienschiff entfernt, als sich die
ersten Anzeichen des Brandes bemerkbar machten. Über dem Deck begann die Luft zu
flimmern, dann stiegen die ersten Qualmwolken in die Luft.
„Ich wette, daß das Schiff nicht sinkt“, murmelte einer der Briten. „Ein Schiff, dessen Kapitän
der Teufel war, kann gar nicht sinken.“
Ein allgemeines Nicken bestätigte, daß die Mehrzahl seiner Kameraden ähnlich dachte.
Dann waren die ersten Flammen zu sehen. Gegen den fast nachtdunklen Himmel stiegen sie
an den Masten empor. Binnen weniger Sekunden verzehrten sie die Segel. Einer der
Engländer stöhnte angsterfüllt auf.
Es war ein gespenstischer Anblick, das brennende Schiff gegen den finsteren Hintergrund zu
sehen. Genaugenommen hatten wir überhaupt nicht die Zeit dazu, aber fast automatisch
sorgten die Männer dafür, daß unsere Boote beidrehten. Niemand sprach ein Wort, alle
starrten wie gebannt zu dem nun lichterloh brennenden Schiff hinüber.
In einer grelleuchtenden Explosion flog das Schiff in die Luft. Der Brand hatte sich bis in die
Pulverkammer durchgefressen. Ein blendender Feuerschein zuckte über das Wasser und
erleuchtete die Szenerie.
Die Zeitspanne, in der der Widerschein der Explosion die Qualmwolke über der DUKE OF
EXETER erleuchtete, konnte nur in Bruchteilen von Sekunden ausgedrückt werden, aber mir
genügte dieser winzige Augenblick.
Leichenblaß fuhr ich herum, meine Augen suchten Inky. Der ehemalige Gefangene des Zeit-
Camps im Amazonasdschungel sah ebenso entsetzt drein wie ich. Von allen Anwesenden
kannten nur zwei Menschen - Inky und ich - das Gesicht, das für einen kurzen Augenblick aus
Feuer und Rauch gebildet worden war und höhnisch zu uns herübergegrinst hatte.
Dieses Gesicht konnte keiner vergessen, der es einmal gesehen hatte. Zum zweiten Mal an
diesem Tag murmelte ich den Namen: „Valcarcel!“
Inky nickte automatisch. Ich sah, daß seine Hände zitterten. Mir erging es nicht viel besser.
Der Schock saß tief. Inky und ich wußten nun, daß wir es mit einem Gegner zu tun hatten,
dessen Gefährlichkeit gar nicht hoch genug eingeschätzt werden konnte.
Zum Glück war es bereits sehr dunkel geworden. Die Besatzungen der drei Boote hatten zwar
ebenfalls das Dämonengesicht in der Explosion gesehen, aber sie konnten mit diesem Gesicht
nichts verbinden. Sie hatten einfach Angst vor dem Unbegreiflichen, nur Inky und ich
wußten, was uns erwartete. Dieses Wissen machte die Sache für uns in keiner Weise
einfacher.
* Wenigstens hatten wir mit dem Wetter Glück. Stunde um Stunde, Tag um Tag trieb uns der
Passat den amerikanischen Landmassen näher. Bei Tag und Nacht war die Sicht fast immer hervorragend gewesen, es hatte keinen Sturm gegeben, nur einmal einen Regenschauer, den wir dazu ausgenutzt hatten, unsere Frischwasservorräte zu ergänzen. Trotzdem war diese Fahrt kein ungetrübtes Vergnügen. Die Boote waren überfüllt, und uns alle quälte eine kaum erträgliche Langeweile. Der Vorrat an Witzen und Anekdoten war bereits nach einigen Stunden aufgezehrt gewesen; die unvermeidlichen Schauergeschichten hatte keiner zu erzählen gewagt, dafür waren die Eindrücke der letzten Tage noch zu frisch. Also wurde mit mürrischer Verdrossenheit geschwiegen. Zum Ausgleich war die Disziplin geradezu hervorragend. Unsere Leute wußten, was sie zu tun hatten, sie arbeiteten für ein außerordentlich wichtiges Ziel, und den englischen Seeleuten war die gnadenlose Disziplin an Bord der DUKE OF EXETER so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie jeden Befehl prompt und ohne Murren befolgten. Leider gab es wenig zu befehlen. Eine Art von Beschäftigungstherapie hätte uns sicherlich gutgetan, aber es gab sehr wenig zu tun. Die Stimmung besserte sich etwas, als die ersten Anzeichen zu erkennen waren, daß Land ganz in der Nähe sein mußte. Zweige, die auf dem Wasser schaukelten, Möwen, die um unsere Köpfe kreisten, und einmal trieb eine abgebrochene Stenge eines Schiffes an uns vorüber. Als sich Landsicht abzuzeichnen begann, entstand sehr langsam eine Unruhe unter der Besatzung, die sich unmerklich, aber unaufhaltsam steigerte. Keiner wagte etwas zu sagen, erst als ein Ausguck mit gellender Stimme verkündete: „Land in Sicht!“ wandte sich der englische Fähnrich an mich. „Sir“, fragte er respektvoll. „Wären Sie so gütig, mich in Ihre Pläne einzuweihen, soweit sie meine Männer und mich betreffen?“ „Was wollen Sie wissen?“ fragte ich zurück, um Zeit zu gewinnen. „Nach meiner Schätzung gehört die Küste voraus zu Jamaika. Wollen Sie dort landen?“ Ich nickte. „Was wird dann aus uns?“ Ich brauchte einige Zeit, um mir eine Antwort zu überlegen. Endlich, nach Minuten eines langsam bedrohlich werdenden Schweigens, fiel mir etwas ein. „Wir werden die Küste ansteuern und landen. Dann stehen Ihnen zwei Möglichkeiten offen. Sie können die Barkasse übernehmen und sich damit selbständig machen. Sie können versuchen, sich zur nächsten britischen Ansiedlung durchzuschlagen, Sie können in spanische Dienste treten und dergleichen mehr. Es gibt da einige Möglichkeiten, sich durchzuschlagen. Ob Sie versuchen wollen, nach England zurückzukehren, stelle ich in Ihr Ermessen.“ Zusammen mit mir warf der Fähnrich einen Blick auf seine Untergebenen. Er wußte so gut wie ich, was ich mit dieser Bemerkung meinte. Die Seeleute mochten brave Kerle sein, aber es erschien mir ausgeschlossen, daß sie für den Rest ihrer Tage den Mund halten würden. Früher oder später würde einer zu reden beginnen, vermutlich unter Alkoholeinfluß. Geschah dies, würden sich die Männer wieder treffen - am Tyburn, um dort nacheinander oder gemeinschaftlich aufgeknüpft zu werden. Nach dem Verlust der DUKE OF EXETER war den Männern, wenn ihnen ihr Leben etwas galt, die Rückkehr nach England verschlossen, desgleichen vermutlich der Weg in die nordamerikanischen Besitzungen Englands. Was die spanischen Besitzungen anging, lag der Sachverhalt nicht wesentlich besser. Zwar waren mehr als hundert Jahre vergangen, seit die Engländer in den Reihen der glorreichen Armada gewütet hatten wie die Wölfe in einer Schafherde, aber freundlich waren die Beziehungen zwischen Spanien und England keineswegs. Natürlich gab es andere Möglichkeiten außer diesen beiden. Aber wahrend ich noch überlegte, wurde mir klar, daß sich diese Möglichkeiten von selbst verboten. Wenn die Briten sich einfach davonstahlen und - buchstäblich - in der Weltgeschichte umhersegelten, konnte das Paradoxa zur Folge haben, die sich nicht mehr korrigieren ließen. Die Kenntnisse, die beispielsweise der Fähnrich haben mußte, was die Herstellung von Kanonen und
Schießpulver anging, hätten in Asien oder Afrika Veränderungen in der bekannten Geschichte hervorrufen können, die unsere Gegenwart völlig auf den Kopf gestellt hätten. Ich versuchte, mir eine dieser Veränderungen vorzustellen: Gesetzt den Fall, der Fähnrich und seine Männer wären weitergekommen nach Nordamerika, nach Texas und dann landeinwärts. Was wäre geschehen, wären die amerikanischen Siedler spätestens am Mississippi nicht auf technisch unterlegene Wilde gestoßen, sondern auf organisierte Indianerstaaten, die sich auf Pferdezucht und Feuerwaffenherstellung verstanden? Was wäre geschehen, hätte das von Menschen überquellende Europa seinen Überschuß nicht auf Kosten der Urbevölkerung nach Amerika schicken können? Es war nicht auszumalen. Die Frage des Fähnrichs unterbrach meinen Gedankengang. „Was wäre die zweite Möglichkeit, Sir?“ „Sie schließen sich uns an, ohne zu wissen, wer wir wirklich sind und was wir wollen.“ Es war ein Köder, den ich dem Fähnrich hinwarf. Ich behauptete nicht, daß es für den Fähnrich und seine Männer lohnend sei, wenn sie sich uns anschlössen. Ich bot ihnen diese Möglichkeit lediglich an, und aus meiner Formulierung mußte der Fähnrich als logisch denkender Mensch folgern, daß wir auch weiterhin das Sagen haben würden. Ich spekulierte darauf, daß die Männer eine Ungewisse, abenteuerliche Zukunft einem voraussehbaren wenig angenehmen Schicksal vorziehen würden. Ich hatte mich nicht geirrt. Über die Züge des Fähnrichs, flog ein Lächeln, seine Männer stießen sich untereinander an und grinsten breit. „Wir sind dabei“, versicherte einer der Seeleute. „Ich habe dieses Leben schon lange satt, und, wissen Sie, Sir, hier an Bord gibt’s ja noch nicht einmal eine neunschwänzige Katze. Wir bleiben bei Ihnen!“ Ich warf einen fragenden Blick zu Slocum hinüber; der zuckte mit den Schultern. „Was wollen Sie von mir, jetzt sind Sie der Kommandant“, schien diese Geste besagen zu wollen. Ein leises Knirschen war zu hören, als mein Boot auf den feinkörnigen Sand des Strandes lief. Slocum hatte recht. Der seemännische Teil des Abenteuers war ausgestanden. Für den Rest der Aktion trug ich das Kommando und auch die Verantwortung. Achtundsechzig Männer und sechzehn Frauen, deren Leben jetzt von meiner Umsicht, und Geschicklichkeit abhing. Ich sah nach oben. Die Sonne stand hoch, die Mittagszeit war nicht mehr fern. „Können Sie unsere Position feststellen?“ fragte ich Slocum. „Ich werde es versuchen“, versprach er. Zu unserer Ausrüstung gehörte nicht nur ein moderner Sextant und die notwendigen Nautischen Handbücher. Wir verfügten auch über eine Sammlung von Seekarten, die in dieser Perfektion erst durch Satellitenaufnahmen möglich geworden waren. Der größte Teil der Daten auf diesen Karten war in einer Spezialfarbe gedruckt worden, die nur bei ultraviolettem Licht erkennbar wurde. Eine dazu passende winzige UV-Lampe schleppte Slocum als Amulett mit sich herum. Nach zehn Minuten wußten wir Bescheid. Wir waren an der Ostküste Jamaikas gelandet, unser Ziel lag im Westen der Insel. Uns stand also die Aufgabe bevor, entweder die Insel per Boot zu umrunden, oder aber uns durch das Binnenland bis zur gegenüberliegenden Küste durchzuschlagen. Ich rekapitulierte meine Kenntnisse über die Insel. Entdeckt hatten sie die Spanier. Auf deren Konto ging auch die erste Besiedlung und die anschließende Ausrottung der Eingeborenen. Inzwischen war die Insel von den Engländern erobert worden, die ihren Gouverneur in Kingston Harbour eingesetzt hatten. In Sichtweite dieser Stadt lag das wirkliche politische Zentrum Jamaikas - Port Royal. Der Gouverneur hatte nicht viel zu sagen, die Machthaber waren die Piraten. Diese Tatsache gab für meine Entscheidung den Ausschlag. Die See wurde von den Piraten beherrscht, das Land von den Briten. Die Piraten waren mächtig, die Engländer waren es nicht. Wir würden über Land marschieren.
7. „Von hier aus sieht es ganz gemütlich aus“, murmelte Inky. „Fast schon romantisch.“ Wir lagen auf dem Boden und betrachteten die beiden Ortschaften von der Hügelkette aus. Im Vergleich zu Port Royal wirkte Kingston ausgesprochen ärmlich und heruntergekommen. Es war früher Abend, daher ließen sich die beiden Siedlungen gut voneinander unterscheiden. Die braven Engländer gingen früh zu Bett, also war ihr Bereich schon ziemlich dunkel. Für die Piraten fing der Tag gerade erst richtig an, folglich brannten auf allen Straßen Port Royals die Fackeln und Öllaternen. Wir hatten keinerlei Schwierigkeiten gehabt, wenn man von einer acht Köpfe starken Patrouille absah, die uns hatte aufhalten wollen. Daumendicke Stricke an den Handgelenken und ein großzügiges Trinkgeld an die einheimische Bevölkerung hatte uns die Gewißheit verschafft, daß die acht Männer uns in den nächsten Wochen nicht mehr gefährlich werden konnte. Vor uns lag Port Royal, das Babylon der Karibik, zur Zeit wahrscheinlich der wildeste, wüsteste und gefährlichste Ort der bekannten Welt. Nirgendwo sonst ging es so farbig zu, wurde derart geschlemmt und gepraßt; hier zählte nur das Vergnügen - zumindest für die Führungsschicht. Für die Opfer dieses Amüsierbetriebes mußte Port Royal eine Vorstufe der Hölle darstellen. Ich drehte mich etwas herum und betrachtete die Schar unserer Mitstreiter. Die. meisten Augen glänzten in fieberhafter Erregung, lediglich die Frauen machten betretene Gesichter, und ich konnte verstehen, warum. „Also los!“ stieß ich hervor. Wir standen auf. Der zweite Teil des Abenteuers begann. Wir marschierten ohne Ordnung den vom Mondlicht beschienenen Pfad hinunter, der sich auf Port Royal zuschlängelte. Die Frauen waren gefesselt und mußten in der Mitte marschieren, von den Männern sorgfältig bewacht. Zwei Männer schleppten eine kleine eisenbeschlagene Holzkiste. Der Inhalt dieser Truhe würde unser Auftreten unterstützen und uns den Ruf erfolgreicher Seeräuber sichern. Der Inhalt war knapp zweihundert Soldor wert, aber die Piraten von Port Royal konnten noch nicht wissen, daß man Rubine und andere Steine synthetisch herstellen konnte. Was sie für Diamanten halten würden, war in Wirklichkeit nichts weiter als Spezialglas. In der augenblicklichen Gegenwart allerdings schleppten wir einen geradezu märchenhaften Schatz mit uns herum, dazu kam noch der Wert unserer Gefangenen. Von den sechzehn Frauen hatten wir zehn in den internationalen Hochadel befördert und zu Gräfinnen, Herzoginnen und Baroninnen aus allen europäischen Ländern ernannt. Den anderen Frauen waren Dienstbotenrollen zugefallen, sie spielten Kammerzofen oder Kindermädchen. Auf diese Frauen mußten wir besonders achten. Die adligen Damen konnten reiches Lösegeld bringen und waren daher einigermaßen sicher. Man würde sie gut behandeln. Die anderen Frauen aber hatten nur, brutal gesprochen, eine Art erotischen Materialwert, und das konnte für sie gerade in dieser Stadt sehr gefährlich werden. Die Bewohner Port Royals hatten sich noch nie durch besonders rücksichtsvollen Umgang mit Frauen ausgezeichnet. Im Notfall konnten sich die Frauen natürlich wirkungsvoll zur Wehr setzen, aber es mußte selbstverständlich Aufsehen erregen, wenn eine Frau einen scheinbar haushoch überlegenen Mann mit Judogriffen oder Karateschlägen außer Gefecht setzte. Der Wind kam von der See und drückte die Gerüche der Stadt zu uns herüber. Unwillkürlich begann ich zu schnuppern. Ich roch harzigen Rauch, eine intensive Ausdünstung nach Schweiß und einen erheblichen
Anteil hochprozentigen Alkohol. Dazwischen mischte sich Bratengeruch und der betäubende
Duft der einheimischen Flora. Die Männer begannen breit zu grinsen.
„Freut euch nicht zu früh“, warnte ich meine Begleiter. „Wir können uns nicht erlauben,
sofort ein großes Besäufnis zu starten. Und noch eins, laßt die Finger von den Mädchen.
Keine Weibergeschichten. Fähnrich, Sie haften mir für lhre Männer!“
Ein unterdrücktes Kichern erklang, und der Fähnrich lief rot an. Ich unterdrückte einen Fluch.
Man mußte höllisch aufpassen in dieser Zeit. Ich war einmal mehr von den Verhältnissen in
meiner Zeit ausgegangen, und in der Gegenwart war es nicht üblich, daß sechzehnjährige
Knaben erwachsene Männer befehligten. Wahrscheinlich hatten einige der Briten sogar
Familien. In jedem Fall hatte ich unglücklicherweise dem Fähnrich den Befehl gegeben,
etwas zu verhindern, von dem er keine Ahnung hatte. Zudem hatte ich ihn in eine
schauerliche Verlegenheit gebracht, das war nicht zu übersehen.
„Und ich werde aufpassen“, warf Inky ein, „daß unserem Fähnrich kein Unheil geschieht.“
Er hatte sehr rasch meinen Fehler erkannt und ohne Zögern ausgebügelt. Ich warf ihm einen
dankbaren Blick zu.
Eines der Stadttore kam in Sicht, ein dunkles Mauerwerk, aus massiven Felsbrocken
zusammengefügt.
Das Tor war offen, und im Eingang erkannte ich eine Wache, die die Passanten kontrollierte
soweit ihr Rausch das überhaupt zuließ.
Einer der Männer hatte ein Holzbein, das seinen Gang zu einem bedrohlichen Schlingern
werden ließ, als er auf uns zutaumelte.
„Woher des Weges?“ fragte er mit. schwerer Zunge. „Und wohin?“
Ich hatte große Lust, mir mit dem Trunkenbold einen Spaß zu machen, aber ich unterdrückte
diesen Wunsch.
„Wir wollen in die Stadt, Alter“, sagte ich. „Unsere Beute versaufen!“ Diese Motivation
schien dem Wächter plausibel. Er grinste breit und entblößte dabei eine Zahnreihe, in der die
schwärzlich verfärbten Zahnstummel kaum von den zahlreichen Löchern zu unterscheiden
waren.
„Hat es sich gelohnt?“ wollte er wissen. Diesmal war es an mir zu grinsen.
Einer seiner Helfer trat näher. Dieser Mann war noch nicht volltrunken, und sein Gesicht
verriet Mißtrauen.
„Habt ihr die da vielleicht im Landesinnern erbeutet?“ fragte er. Seine Kopfbewegung verriet,
daß mit denen da die Frauen gemeint waren.
„Ich bin nicht von Sinnen“, gab ich sofort zurück. „Wir sind an der Ostküste gestrandet und
mußten uns zu Fuß bis hierhin durchschlagen.“
„Dein Glück“, knurrte die Wache. „Zwar ist der Gouverneur der Engländer ein ausgemachter
Trottel, aber wir dürfen ihn nicht zu sehr reizen.“
Ich griff in die Tasche und holte ein paar Münzen hervor. Jedem der Posten drückte ich eines
der Goldstücke in die Hand. Das Gold selbst war echt, nur die Prägung war modern. Mir wäre
es nicht im Traum eingefallen, diesen Halunken echte Dublonen in die Hand zu drücken,
deren Seltenheitswert weit über dem Materialwert lag.
„Ihr könnt passieren“, erklärte uns der Alte. „Macht das Tor auf!“
Ächzend und kreischend bewegte sich das Gitter in die Höhe. Ich nutzte die Zeit, um den
Alten noch ein wenig auszuhorchen.
„Wir sind zum ersten Mal in Port Royal. Wo können wir wohnen? Kennst du ein gutes
Gasthaus?“
„Das wird von der Dicke deines Beutels abhängen, Freund“, sagte der Alte. „Wenn du
entsprechend zahlst, wirst du überall Quartier finden. Allerdings würde ich nicht versuchen,
Morgan aus seiner Unterkunft drängen zu wollen.“
Er grinste wieder. Die Zahnstummel sahen scheußlich aus.
Morgan war also in der Stadt, von allen Freibeutern der Karibik der Blutigste und Wildeste.
Wo andere zehn Tote zurückließen, mußten es bei Morgan Hunderte sein.
„Ich werde versuchen, mich nicht über ihn zu ärgern“, versprach ich.
Das Tor war offen, wir konnten passieren.
* Ich hatte es mir ähnlich vorgestellt, aber meine Phantasie wurde von der Wirklichkeit weit übertroffen. Gewiß, die Häuser mit ihren gekalkten Wänden sahen romantisch aus, fast gemütlich, aber die Abfallhaufen ließen diesen. Eindruck rasch verschwinden. Die Straßen waren nicht gepflastert, aber es gab an den Rändern der Wege Vertiefungen. In diesen Gräben strömte der flüssige Abfall der Stadt dem Meer entgegen. Dementsprechend war die Ausdünstung. Gründlich mit Wasser und Seife bearbeitet, hätten auch die Einwohner einen erheblich angenehmeren Anblick geboten. Vor allem hätten sie saubere Kleidung gebraucht. Was ich zu sehen bekam, waren entweder brokatene Gewänder, die von Schmutz und Essensresten starrten, oder aber brüchige Lumpen, die längst jede frühere Form und Farbe eingebüßt hatten. Vor allem war ich erstaunt, in der Stadt auch Kinder zu finden. Die jüngeren liefen völlig nackt durch die Gassen, die etwas älteren Knaben hatten sich mit Lendenschurzen begnügt. Wie sie es fertigbrachten, in diesen Lumpen nicht nur ihren Körper unterzubringen, sondern auch die Beute ihrer unglaublich dreisten Taschendiebereien, war mir ein Rätsel. Die ganze Stadt war gezeichnet von Gewalt - und dem Elend, das solcher Gewalt auf dem Fuß zu folgen pflegt. Wer hier zu bestimmen hatte, war auf den ersten Blick ersichtlich. Laut singend torkelten schwerbewaffnete Männer durch die Straßen, und wehe dem, der sich ihnen in den Weg zu stellen wagte. Kinder wurden mit Fußtritten davongeschleudert, die Frauen suchten fluchtartig das Weite, wenn sie nicht versuchten, sich den Piraten anzubieten. Die ganze Stadt glich einem riesigen Amüsierbetrieb, ähnlich den Amüsiervierteln moderner Städte. Der Unterschied bestand hier darin, daß die Verhältnisse ungleich primitiver waren und es zudem überhaupt keine Ordnungsmacht gab. Während wir uns langsam durch die Stadt bewegten, auf der Suche nach einem Quartier, hatten wir ausreichend Zeit, uns mit den Verhältnissen vertraut zu machen. Eines war uns bereits nach kurzer Zeit klargeworden: wer hier überleben wollte, durfte keine Hemmungen kennen. Port Royal kannte nur drei Bevölkerungsschichten: die Piraten, die die Herren der Stadt waren und hier nachholten, was sie auf ihren Beutezügen zu entbehren gehabt hatten. Für Geld ließ sich in Port Royal alles arrangieren, dafür sorgten die ständigen Bewohner, die Geschäftemacher. Was übrig blieb, war das Heer der Geschundenen und Sklaven, verschleppt aus aller Herren Länder, völlig recht- und hilflos. Für diese Menschen gab es nur einen Ausweg, wenn sie überleben wollten - sie mußten sich nach oben durchschlagen. Langsam begriff ich, warum sich der Gegner der Time-squad ausgerechnet Port Royal als Rekrutierungsbasis ausgesucht hatte. Einen roheren, zügelloseren Menschenschlag als diesen würde man auf der Erde anderswo vergeblich suchen. Einzig die marodierenden Landsknechtshaufen des Dreißigjährigen Krieges konnten hier vielleicht noch mithalten. Ich hatte seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen, und als mir aus einem größeren Haus Bratenduft entgegenwehte, war mein Entschluß gefaßt. Im Gegensatz zu den meisten Häusern, die überwiegend aus luftgetrockneten Lehmziegeln oder aus Holz bestanden, war dieses Gebäude aus Stein gebaut. Es sah solide aus und war, gemessen an den Verhältnissen dieser Stadt, sogar einigermaßen sauber. „Wir werden hier Quartier nehmen“, sagte ich laut. Ich teilte unsere Streitmacht in einige Gruppen auf, die in den umliegenden Gebäuden einkehren sollten. Über die Folgen dieser Entscheidung machte ich mir keine Illusionen. Schon seit einiger Zeit war mir aufgefallen, wie vor allem die Seeleute hinter den Mädchen
herschielten, die in jedem Winkel ihre Dienste wohlfeil anboten. Inky stieß mich an. „Das ist die beste Gelgenheit, die Briten loszuwerden“, murmelte er. „Gib ihnen genügend Geld, und sie werden in den nächsten Tagen in den Kneipen und Bordellen spurlos verschwinden.“ Ich sah ihn vorwurfsvoll an. „Keine Sorge“, sagte er leise. „Ich meine nicht, daß man sie umbringen wird. Aber sie gehören in diese Zeit und kennen die Sitten und Gebräuche. Sie wird weder der Dreck stören noch das Ungeziefer. Sie können sich ihrer Haut wehren und können sich in diese Gesellschaft eingliedern. Uns würden sie nur hindern.“ Ich sah ein, daß er recht hatte, also sorgte ich dafür, daß die Briten unter sich blieben. Lediglich den Fähnrich beorderte ich zu meiner Gruppe, die die angeblichen Gefangenen zu bewachen hatten. Eine halbe Minute, nachdem ich das Geld verteilt hatte, waren die Männer verschwunden. Die Frauen rückten enger zusammen. Im Eingang des Gasthauses hatten sich einige verwegen aussehende Männer aufgebaut, die die Frauen mit Blicken förmlich auszogen. Ich setzte mich in Bewegung, Inky ging an meiner Seite. „Was wollt ihr?“ fuhr mich der Anführer der Piraten an, ein hünenhafter Mann mit einem schweren Goldring im linken Ohrläppchen. „Wir suchen Quartier, gab ich freundlich zur Antwort. „Sind hier noch Zimmer frei.“ „Zimmer und auch Betten“, bekam ich zurück. „Vor allem Betten!“ Der Seitenblick auf die Frauen und das dröhnende Gelächter seiner Kumpane machte deutlich, wie er diese Bemerkung meinte. Ich wollte ihn sanft zur Seite schieben. „Macht Platz“, forderte ich ihn auf. „Wie wäre es mit einem Wegzoll, Bruder?“ fragte mich der Anführer. „Ich habe auch schon eine Idee, wie dieser Wegzoll aussehen soll.“ Er warf einen Blick auf Susan Gilmore, die angebliche Herzogin von Wharfdale. Susan war eine selbstbewußte junge Frau, dennoch wurde sie ein wenig blaß. „Das trifft sich gut, Freund“, sagte ich lächelnd. „Wir wollten gerade diesen Wegzoll bezahlen.“ Der Pirat war ein viel zu erfahrener Kämpfer, um nicht zu wissen, wie meine Worte gemeint waren. Er trat einen halben Schritt zurück und griff nach dem Messer in seinem Gürtel. Ehe er dazu kam, die Waffe zu ziehen, landete bereits meine Fußspitze in seiner Magengrube. Der Tritt traf genau auf den Solarplexus, damit war dieser Angreifer fürs erste ausgeschaltet. Neben mir erklang ein dumpfes Stöhnen, dann sank ein massiger Körper zu Boden. Inky hatte seinen Widersacher ebenfalls niedergeschlagen. Die Schlägerei war nur kurz. Gegen die trainierten Männer der Time-squad hatten die Piraten keine Chancen, vor allem nicht, weil sie schon hoffnungslos betrunken waren. Wir kämpften fast geräuschlos und mit der Perfektion, die man uns in den Trainingslagern der Time-squad beigebracht hatte. Nach drei Minuten lagen siebzehn Piraten auf dem lehmigen Boden und rührten sich nicht mehr. Die Zuschauer, die sich in wenigen Augenblicken haufenweise eingefunden hatten, wichen sicherheitshalber einige Schritte zurück. Ich sah mich um. Ausfälle hatte es nicht gegeben. Nur ein Mann hatte, eine unbedeutende Schnittwunde davongetragen. Die Männer machten Gesichter, die ein leises Bedauern ausdrückten. Wäre es nach ihnen gegangen, hätten wir uns nach weiteren Gegnern umsehen können. Unwillkürlich sah ich mich nach Polizei um, der man die Raufbolde hätte übergeben können, aber von einer organisierten Ordnungsmacht konnte in Port Royal natürlich keine Rede sein. Noch während ich mich umsah, trat ein bärtiger Mann näher. Er war etwas kleiner als ich, und was ich in seinen Gesichtszügen sehen konnte, ließ auf einen verschlagenen, rücksichtslosen Charakter schließen. „Was habt Ihr mit den Burschen vor?“ erkundigte er sich vorsichtig. Ich zuckte mit den Schultern.
„Wollt Ihr sie selbst an Bord nehmen, oder wollt Ihr sie verkaufen? Ich wäre bereit, ein hübsches Sümmchen zu zahlen!“ Inky sah mich entgeistert an, als ich zustimmend nickte. Kurze Zeit später war mein Beutel prall gefüllt, und aus irgendeinem Versteck im Dunkel der Straßen kam ein Fuhrwerk angerollt. Die besinnungslosen Piraten wurden aufgeladen und abtransportiert. „Bist du wahnsinnig geworden?“ zischte Inky. „Das ist Menschenhandel!“ „Ich weiß“, sagte ich ruhig und ging auf das Portal des Gasthauses zu. Mir war gerade noch rechtzeitig eingefallen, daß diese Stadt zum Tode verurteilt war. Die Mehrzahl ihrer Bewohner würde beim Untergang der Stadt umkommen. Gewiß, es war absurd, ausgerechnet diese Banditen zu retten - sie würden vielleicht an Bord eines Schiffes sein, wenn die Stadt versank. Aber es lag nicht in meiner Macht auszuwählen, wer überleben durfte und wer mit der Stadt unterzugehen hatte. In diesem Fall hatte mir der Zufall eine Möglichkeit in die Hand gespielt, und ich hatte diese Möglichkeit genutzt. Ob es richtig war, ausgerechnet diese Piraten zu retten? Es gab genug andere in der Stadt, die zu retten moralisch wesentlich weniger anzweifelbar gewesen wäre. Aus dem Gasthaus schlug mir Tabaksrauch und Lärm und eine geradezu atemberaubende Dunstwolke entgegen. Der Wirt schien über die Vorgänge am Eingang informiert worden zu sein, er beeilte sich, uns mit tiefen Bücklingen willkommen zu heißen. Die Bücklinge strengten ihn sichtlich an. Er sah aus wie eine rosafarbene, aufgeblähte Kanonenkugel, an die man ähnlich rundliche Gliedmaßen angeklebt hatte. Der ungeheure Leibesumfang des Mannes flößte mir Respekt ein, aber auch eine Portion Mißtrauen. Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Meinung war ich nämlich durchaus nicht der Ansicht, daß ein dicker Wirt ein gutes Zeichen für jeden Gast sei. Auf wessen Kosten mochte sich der Wirt derart gemästet haben? „Ihr sucht Quartier, Herr?“ fragte der Wirt katzbuckelnd. „Antonio Gonzales, Euer Gnaden untertänigster Diener! Nennt mir Eure Wünsche, sie werden sofort erfüllt.“ „Ich brauche Räume für meine Männer und einige Zimmer mit starken, sicheren Schlössern für... meine Gäste!“ Über das feiste Gesicht des Wirtes flog ein Lächeln, das mir gar nicht gefallen wollte. Er hatte sofort verstanden, was ich mit dem Wort Gäste gemeint hatte. „Im Keller...“, begann er, aber ich fiel ihm sofort ins Wort. „Meine Gäste werden nicht im Keller untergebracht. Ich lege Wert darauf, sie in meiner Nähe zu haben.“ Der Wirt grinste verständnisvoll. „Ich kann den Wunsch Euer Gnaden sehr gut verstehen“, beeilte er sich zu versichern. „Ich werde zusehen, was sich machen läßt. Darf ich derweil ein Mahl auftragen lassen?“ „Einverstanden“, stimmte ich zu. „Aber... !“ „Ja, Herr?“ „Gepanschter Wein und schlechtes Essen versetzen mich in eine äußerst ungnädige Gemütsverfassung. Bedenkt das, wenn Ihr in den Weinkeller hinabsteigt!“ Ich warf Gonzales den kleinen Lederbeutel zu, in dem der Erlös meines Menschenhandels steckte. „Wenn die Summe erschöpft ist, meldet Euch wieder bei mir!“ Ich ging voran und hatte den Genuß, den Wirt völlig fassungslos zu sehen. Daß ein Gast vorab bezahlte, schien ihm noch nicht untergekommen zu sein. Prustend und schnaufend stieg er die wenigen steinernen Stufen in den eigentlichen Schankraum hinab. Während ich mich umsah, verschwand er im Hintergrund, um meine Wünsche erfüllen zu können. Ich ahnte, daß er nun einige andere Gäste, deren Beutel nicht so gewichtig war wie der meine, rüde hinauskomplimentieren würde.
8.
In der Gaststube war es einigermaßen ruhig. Der Abend war noch nicht weit genug fortgeschritten, um die Gäste in den erwünschten Zustand lärmender Ausgelassenheit zu bringen. Zudem hatte unser Erscheinen allgemein Aufsehen erregt. Noch klangen mir die wüsten Flüche und Beschimpfungen im Ohr, mit denen sich unsere Vormieter verabschiedet hatten. Zu meinem Erstaunen waren die Zimmer tatsächlich einigermaßen sauber und weitgehend ungezieferfrei. Den Rest des zudringlichen Insektenvolks erledigten wir mit Desinfektionsmittel und Räucherschwefel. Der Duft nach Schwefel, der uns umwehte, als wir zum Abendessen in die Gaststube gingen, verstärkte noch die Wirkung unseres Auftritts. Wir aßen schweigend und tranken dazu einen faden Rotwein. Wenn dieser Trank das Beste darstellte, was der Wirt zu bieten hatte, mochte ich seinen Standardwein lieber gar nicht erst kosten - er hätte mir die Kehle verätzt. Die Fischsuppe allerdings war vorzüglich, dazu gab es Riesenmengen an gebratenem Fleisch. Mit der Zeit wurde es lauter. Die Gäste sahen, daß wir friedlich aßen, und setzten ihre Unterhaltung fort. Um uns kümmerten sie sich nicht. Das änderte sich erst, als ich dem Wirt mit der Hand ein Zeichen gab, das in allen Gaststuben der Welt zu jeder Zeit verstanden wurde. Der Wirt nickte diensteifrig und fragte gleichfalls in Zeichensprache zurück. Ich nickte, und das Gesicht des Wirtes verwandelte sich in eine Grimasse behaglichen Entzückens. Das hatte er vermutlich noch nicht erlebt, daß ein Fremder eine Runde für alle gab - und das mit dem besten Wein, den der Wirt zu bieten hatte. Am schnellsten fand sich Inky mit der Situation zurecht. Er suchte gar nicht erst nach Messer und Gabel, er nahm sich das erste beste Stück Fleisch, spießte es auf sein Entermesser und kaute daran herum. Die fettigen Finger wischte er sich am Hosenbein ab, und ihn störte auch nicht, daß ihm der Wein aus dem Mundwinkel auf die Hose tropfte. Schließlich grunzte er behaglich, machte es sich in seinem hölzernen Sessel bequem und legte die Füße auf den Tisch. Während er mit der rechten Hand nach Essenresten zwischen seinen Zähnen fahndete, winkte er mit der Linken eines der Mädchen heran, die unablässig Wein nachfüllten. Das Mädchen, eine üppige, dunkelhaarige Schönheit, füllte sofort nach und protestierte nicht, als Inky sie einfach auf seinen Schoß zog und vergnügt umarmte. Es vergingen nur wenige Minuten, dann hatte die Stimmung in der Gaststätte - „Zum Goldenen Belegnagel“ nannte sich das Etablissement - jenes Ausmaß erreicht, das hier üblich zu sein schien. Stapel von Goldmünzen wanderten auf Spieltischen hin und her, der Wein floß in Strömen, und zwischen dem heiseren Lachen der Männer waren immer wieder quiekende Schreie der Serviermädchen zu hören. Inky schmuste ungeniert mit seiner Beute herum - nur ich merkte, daß das Mädchen ihm dabei katzengewand die Beutel leerte -, und meine Freunde machten Anstalten, es ihm gleichzutun, als sich ein Mann unserem Tisch näherte. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, daß unser Fähnrich Chadwick erbleichte. Also war der Unbekannte ein Engländer und offenbar kein unwichtiger Mann. „Sir Humbert Phelps“, stellte sich der Mann vor. „Sie sind heute erst in Port Royal angekommen?“ „Allerdings“, antwortete ich. Phelps warf einen flüchtigen Blick auf Chadwick, der vor Angst fast vom Stuhl gefallen wäre, dann wandte er sich wieder mir zu. „Zu Schiff sind Sie nicht gekommen“, stellte Phelps fest. Ich bedeutete ihn, an unserem Tisch Platz zu nehmen. Ein weiteres Handzeichen genügte, um einen Becher Wein vor ihm auf dem Tisch auftauchen zu lassen. „Ich hätte das Einlaufen sehen müssen.“ „Wir hatten einen kleinen Unfall“, erklärte ich zurückhaltend. „Womit kann ich Ihnen dienen?“
Phelps nahm einen Schluck aus dem Becher und verzog das Gesicht.
„Nun“, sagte er gedehnt. „Ich dachte, daß Sie vielleicht einen Geschäftspartner brauchen
könnten. Ich habe hervorragende Beziehungen zum Gouverneur. Wenn Sie Wertsachen
abzustoßen haben, wenn Sie ein neues Schiff brauchen sollten - vielleicht kann ich Ihnen
dabei behilflich sein.“
Hinter der höflichen Maske verbarg sich ein ausgekochter Schurke. Bei dem Wort
Wertsachen schielte er so auffällig nach oben, daß ich sofort wußte, was er damit meinte.
Offenbar hatte er gegen Menschenhandel mit seinen Landsleuten wenig einzuwenden
vorausgesetzt, er selbst verdiente genug daran.
„Man könnte darüber sprechen“, bemerkte ich. „Allerdings scheint mir dies nicht der rechte
Platz dafür zu sein.“
„Das sehe ich ein“, erklärte Phelps, verbindlich lächelnd. Den Wein rührte er nicht mehr an.
„Ich schlage Ihnen ein Treffen vor, an einem sicheren und verschwiegenen Ort. Kennen Sie
die Schreckensbucht?“
„Nein. Worin besteht der Schrecken?“
„Abergläubisches Gerede der Eingeborenen. Angeblich gibt es dort allerhand Teufelsspuk,
Lichter, die unter Wasser leuchten, geheimnisvolle Gestalten in schwarzer Kleidung, die
silberne Körbe auf dem Rücken tragen und mit den Meergeistern reden können. Die Bucht
liegt einige Meilen östlich von Port Royal. Die Eingeborenen meiden den Ort, weil sie sich
fürchten. Dort werden wir völlig unbeobachtet verhandeln können.“
Phelps versuchte gewinnend zu lächeln. Der Versuch mißlang.
„Wenn Sie um Ihre Sicherheit fürchten, können Sie ja einige Ihrer Männer mitbringen. Ich
werde allein kommen. Sie erlauben, daß ich mich zurückziehe?“
Er stand auf und verbeugte sich höflich.
„Ich habe ganz vergessen...“, sagte er zögernd.
„Jean Lafitte“, stellte ich mich vor. Der Engländer bedankte sich mit einer angedeuteten
Verbeugung, dann verschwand er.
Der Name Lafitte war der erste, der mir eingefallen war. Er hatte den Vorzug, daß es einen
Piraten dieses Namens tatsächlich gegeben hatte allerdings mehr als ein Jahrhundert später.
So war ich sicher davor, daß vielleicht der echte Träger eines Namens, den ich mir angemaßt
hatte, plötzlich auftauchte und Schwierigkeiten machte.
Wir blieben noch etwas mehr als zwei Stunden in der Gaststube. Inky fand einige Dumme, die
mit ihm spielten und dabei genug verloren, um den Verlust auszugleichen, den das Mädchen
ihm beigebracht hatte. Dann zogen wir uns auf unsere Zimmer zurück.
Sobald sich die schwere hölzerne Tür hinter uns geschlossen hatte, wandte ich mich an Inky.
„Was hältst du von der Sache?“
Inky zuckte mit den Schultern.
„Es hörte sich an, als sei Kapitän Nemo in der Nähe“, kommentierte er trocken. „Da es diesen
Herrn gar nicht gibt, muß etwas anderes für den angeblichen Teufelsspuk verantwortlich sein.
Ich tippe auf unsere speziellen Freunde.“
Ich nickte. Zu dem gleichen Schluß war auch ich gekommen. Woher sollten die Eingeborenen
wissen, daß es Unterwasserscheinwerfer gab, Taucheranzüge und Sauerstoffflaschen?
„Was schlägst du vor?“
„Wir beide sehen uns die Sache an. Wenn etwas an der Sache ist, alarmieren wir den Rest der
Gruppe!“
In der Aufregung hatte ich völlig vergessen, daß ich meine- Kammer nicht nur mit Inky
sondern auch mit dem Fähnrich teilen mußte. Ich überlegte nicht lange. Früher oder später
mußten wir den jungen Mann ohnehin aufklären, warum nicht jetzt? Zudem erschien es mir
besser, ihn als Boten mitzunehmen. Dann konnte er notfalls den Rest der Mannschaf t
alarmieren.
„Einverstanden, Sie können mitkommen!“
Der Junge strahlte. Ob er ahnte, daß dieses Abenteuer für ihn lebensgefährlich werden konnte? Wir warteten noch zwei Stunden, dann machten wir uns auf den Weg. In den Straßen von Port Royal herrschte noch reges Leben. In dieser Stadt waren die normalen Tageszeiten praktisch außer Kraft gesetzt ein Grund mehr, warum Zeitgenossen die Stadt als Inbegriff des Lasters und der Ausschweifung betrachtet hatten. Die Wachen am Stadttor, die bei unserem Eintreffen schon angetrunken gewesen waren, lagen jetzt in den Nischen am Tor und schliefen ihren Rausch aus. Niemand hielt uns auf, als wir die Stadt verließen. In flottem Tempo marschierten wir nach Osten, an der Küste entlang. Die Nacht war klar, und der Mond erleuchtete die Szenerie. Langsam begriff ich, warum viele Besucher der Karibik diese Inselwelt als zweites Paradies gepriesen hatten. Die Landschaft mußte auf naturverbundene Betrachter hinreißend wirken. Wenige Jahrhunderte später war es mit diesem Idyll vorbei gewesen. Im 20. Jahrhundert war Jamaika nur noch unter zwei Gesichtspunkten gesehen worden - einmal als Ferieninsel für die, die sich einen so teuren Urlaub leisten konnten, zum anderen als Rohstoffquelle für Bauxit, aus dem man Aluminium machte. Der größte Teil der Bevölkerung war damals total verarmt gewesen und lebte am Rand des Existenzminimums. Anno 2014 hatten die Eingeborenen rebelliert. Für mich und meine Freunde war auch dies längst Vergangenheit. Nach neunzig Minuten hatten wir die Schreckensbucht erreicht. Auf den ersten Blick sah sie alles andere als erschreckend aus. Wir sahen den feinkörnigen weißen Sandstrand im Mondlicht glänzen, wir sahen die kleinen Schaumkronen der Wellen, die gegen die Küste schlugen, dazwischen ab und zu den dunklen Schemen eines Fischkörpers. Ich hatte größte Lust, meine verschwitzten Kleider abzulegen und ein erfrischendes Bad zu nehmen. Das Wasser sah verlockend aus. „Deckung!“ flüsterte Inky. Sofort warfen wir uns auf den Boden und robbten vorwärts, bis wir hinter Felsblöcken angelangt waren. Vorsichtig spähte ich über meine Deckung. Der Engländer hatte nicht gelogen. Es gab Teufelsspuk in der Schreckensbucht. Aus dem leichtbewegten Wasser grinste uns ein Totenschädel an. Für mich war es einfach zu erkennen, daß jemand einige hundert Leuchtkörper in dieser Form zusammengestellt hatte, aber an den Reaktionen des Fähnrichs konnte ich ablesen, was ein Zeitgenosse von diesem Spuk halten mußte. Der Fähnrich war kreideweiß geworden, er übergab sich. „Wenn hier nicht unsere Freunde am Werk sind...“, murmelte Inky. Der Gegner ließ es bei dieser psychologischen Maßnahme nicht bewenden. Aus dem Boden zwischen unserer Deckung und dem Strand begann plötzlich Dampf zu quellen. Der Wind drückte die Schwaden zu uns herüber, und nach kurzer Zeit waren wir völlig davon eingehüllt. „Der Teufel selbst“, murmelte Chadwick jammernd. „Wir sind verloren, niemand kann uns jetzt noch retten!“ Er fiel auf die Knie und begann zu beten. Ob diese Maßnahme gegen einen echten Teufel half, stand auf einem anderen Blatt - gegen Lichterketten und Dampfgeneratoren war sie unwirksam. Der Gestank nach Pech und Schwefel war penetrant und reizte unsere Lungen. Ich stieß den Fähnrich an. „Los, rennen Sie zur Stadt zurück und trommeln Sie unsere Leute zusammen. Sie sollen alle kommen, alle! Auch die Frauen. Geben Sie Slocum das Stichwort Zeit-Piraten. Er wird wissen, was damit gemeint ist!“ Chadwick hatte alle Mühe, die Beherrschung nicht zu verlieren. Zum ersten Mal, seit wir uns kennengelernt hatten, machte sich die gnadenlose Disziplin bemerkbar, wie sie an Bord englischer Kriegsschiffe üblich war. Chadwick wiederholte meinen Befehl, dann machte er sich auf den Weg! Ich sah ihm an, daß er froh war, diesem Höllenspuk entrinnen zu können. „Wir werden uns die Sache etwas näher ansehen“, schlug ich Inky vor, sobald Chadwick
außer Sichtweite war. Inky nickte. Vorsichtig robbten wir über den Boden. Ein leises Zischen verriet uns, wo die Düsen steckten, aus denen die übelriechenden Schwaden quollen. Ich versuchte mich zu erinnern, was ich gesehen hatte, bevor uns der Dampf die Sicht genommen hatte. Rechter Hand reichte eine breite Spur von Felstrümmern aller Größe bis dicht an den Strand heran. Dort konnten wir Deckung finden. Ich verwünschte mich, daß ich keine Waffe mitgenommen hatte. Das Entermesser in meinem Gürtel würde sicherlich nicht viel wert sein. Ich ahnte, daß unser Gegner mit modernsten Geräten ausgerüstet sein würde, mit Laserhandwaffen, Narko-Nadlern, Handgranaten und was sich menschlicher Erfindungsgeist sonst noch hatte einfallen lassen, um seinesgleichen das Leben zur Hölle zu machen. Ich schnappte erleichtert nach Luft, als wir endlich die Düsenreihe überwunden hatten. Nach dem penetranten Gestank, der Brechreiz verursachte, war es eine Wohltat, die klare Luft von der See. einzuatmen. Die Felsbrocken gaben uns genügend Sichtschutz. Zudem konnten wir darauf vertrauen, daß niemand damit rechnete, daß sich jemand durch diese schreckerregende Sperre wagte. Den Zeitgenossen hätte ich sehen mögen, der sich weiterwagte, wenn ihm aus dem Wasser ein Totenkopf entgegenleuchtete, dessen Umrisse zudem vom Spiel der Wellen beständig verändert wurde. „Kampfschwimmer!“ murmelte Inky. Mit diesem einen Wort ließ sich präzise umschreiben, was sich unseren Augen darbot. Ich zählte mindestens dreißig Männer in Taucheranzügen. Wenn mich meine Augen nicht trogen, dann war die Haut dieser Anzüge fischschuppenartig besetzt - ein Zeichen dafür, daß die Anzüge erst vor kurzer Zeit gefertigt worden waren. Zwei hochgewachsene Männer führten das Kommando über die Gruppe der Taucher. Offenbar hatten wir das zweischneidige Vergnügen, einer Ausbildungsstunde des Gegners zusehen zu dürfen. Die Männer machten Turnübungen, um die Glieder geschmeidig zu halten. Ein Dauerlauf auf der Stelle schloß sich an. Währenddessen betrachtete ich die Ausrüstung der Männer. Am rechten Unterschenkel und am linken Unterarm saß je ein Tauchermesser. An den Handgelenken erkannte ich moderne Taucheruhren, komplizierte Geräte, die nicht nur die Zeit maßen, sondern auch noch andere Funktionen übernehmen konnten. Je nach Qualität konnten sie d’. e verbliebene Menge Atemluft berechnen und den Taucher informieren, wann seine Reserven angegriffen werden mußten. Die teureren Geräte waren mit Kleinstcomputern versehen, die genau nachrechneten, wie weit und wie tief der Taucher geschwommen war. Sie errechneten nicht nur nach dem System der Trägheitsnavigation seinen exakten Standort, sie ermittelten auch - entsprechend den vorher eingegebenen physiologischen Daten des Tauchers -, wieviel Zeit und Atemluft der Taucher brauchte, um sicher auftauchen zu können. Sie gaben dem Träger rechtzeitig ein Signal, das ihm anzeigte, wann er mit dem Auftauchen zu, beginnen hatte. Sie sorgten dafür, daß er die vorgeschriebenen Pausen unter Wasser einhielt, die der Körper zum Druckausgleich brauchte. Wer ein solches Gerät am Arm trug, mußte schon ein ausgemachter Narr sein, wenn er unter Wasser ertrank. Aus meiner Position heraus konnte ich nicht erkennen, welches Modell von den Männern verwendet wurde, aber ich war mir ziemlich sicher, daß sie die modernste Ausgabe trugen, die der Markt zu bieten hatte. Das ließ sich auch aus den Tauchflaschen folgern, die sie zu einem Haufen zusammengelegt hatten. Die Verdickungen am oberen Ende der Flaschen bewiesen, daß es sich um Geräte handelte, die sich bei jedem Kontakt mit Atemluft sofort neu aufluden. Flaschen dieser Art waren praktisch narrensicher; der Taucher brauchte nur für fünf Minuten aufzutauchen, dann waren seine Flaschen wieder für einen einstündigen Aufenthalt unter der Wasseroberfläche
gefüllt. „Junge, Junge“, knurrte Inky, der sich mit ähnlichen Überlegungen herumschlug. „Unsere Leute könnten nicht besser ausgerüstet sein.“ Ich nickte düster. Das Ausrüstungsmaterial wurde vervollständigt von halbautomatischen Harpunengewehren. Diese fast zwei Meter langen Waffen verfeuerten acht Harpunen pro Minute, deren Spitzen mit Infrarotsensoren versehen waren. Jede Harpune verfügte über ein kleines, aber ungeheuer leistungsfähiges Drucklufttriebwerk, das nach den Impulsen des Sensors gesteuert wurde. Mit diesen Geschossen konnte jedes beliebige Ziel bis auf zweitausend Meter Entfernung getroffen werden. Die Harpunen, die wir sehen konnten, hatten leicht verdickte Köpfe - sie trugen also eine kleine Sprengladung ins Ziel, gerade stark genug, um einen Menschen in Stücke zu reißen oder einem Segelschiff ein ausreichend großes Loch in den Rumpf zu schießen. Die Streitmacht, deren Training wir zusahen, war mühelos imstande, die berühmte Seeschlacht von Trafalgar zu schlagen und zu gewinnen. Plötzlich begannen die Männer auf uns zuzulaufen. Sofort preßten wir unsere Köpfe auf den Boden. „Schneller!“ hörten sie eine rauhe Männerstimme brüllen. „Bewegt euch!“ Wir hörten den Sand unter den Füßen der Läufer knirschen. „Und das Ganze noch einmal. Zurück, aber ein bißchen schneller!“ Diesmal hörten wir das Knirschen nicht. Wir hörten nur unsere eigenen, erleichterten Seufzer. „Was nun?“ fragte Inky leise. Was sollte ich dazu sagen? „Psst!“ erklang es hinter mir. Ich fuhr herum und erkannte Susan Gilmore. Sie trug nicht länger die lästige Kostümierung der Herzogin von Wahrfdale. Sie war in den Einsatzanzug geschlüpft, der sich in verschiedenen Teilen ihres Kostüms verborgen hatte. In der Eile, in der sie die Stücke der Montur aus ihren Verstecken geholt und mit selbstklebenden Säumen zusammengeheftet hatte, waren einige Nähte vernascht. „Hier!“ sagte sie leise und drückte mir einen Nadler in die Hand. Die zweite Waffe gab sie an Inky weiter. „Hat Chadwick alle erreicht?“ fragte ich flüsternd, mit einem Auge zum Strand schielend. Susan nickte. „Er hat zwar fürchterliche Angst“, berichtete sie lächelnd, „aber er ist mitgekommen. Die anderen Engländer haben sich verkrümelt. Unsere Leute sind vollzählig hier versammelt!“ Ich atmete erleichtert auf. Daß die Engländer nicht mehr aufzutreiben waren, wunderte mich nicht. Ich wußte zwar, daß sie in Port Royal in größter Lebensgefahr schwebten, aber ich konnte nicht wissen, in welche Gefahr wir uns nun begeben mußten. „Übrigens“, sagte Susan sehr leise. „Wissen Sie eigentlich, was für ein Datum wir schreiben?“ Unwillkürlich hob ich den rechten Arm, aber dort saß natürlich keine Uhr mit Datumsanzeiger. Inky begriff schneller als ich, wie Susan ihre Frage meinte. „Siebter Juni 1692“, sagte er heiser. Susan nickte. Port Royal hatte nur noch wenige Stunden zu leben.
9. Ich wußte, daß die Zeit jetzt drängte, uns förmlich auf den Nägeln brannte. In den Aufregungen der letzten Tage hatte ich den wichtigen Termin völlig vergessen. Unser ganzer Zeitplan war durcheinandergeraten, und das Unternehmen Zeit-Piraten stand kurz vor einem geradezu klassischen Fehlschlag.
Uns blieben nur noch einige Stunden - oder Australien!
„Ausschwärmen“, befahl ich. „Macht eure Nadler schußfertig. Ich werde als erster schießen.
Sobald der erste Mann umfällt, eröffnet ihr das Feuer. Zielt möglichst auf Hals und Füße. Ich
weiß nicht, ob die Narko-Nadler durch die Taucheranzüge schlagen können.“
„Verstanden!“ bestätigte Susan, dann verschwand sie in der Dunkelheit.
Inky überprüfte das Magazin seiner Waffe und nickte zufrieden. Die Kammern waren gefüllt,
die Technik funktionierte einwandfrei. Auch meine Waffe wies keine Mängel auf.
Wir warteten fünf Minuten lang, dann erst konnten wir sicher sein, daß unsere Leute ihre
Stellungen bezogen hatten. Langsam richtete ich mich auf.
„Ich nehme den Linken“, flüsterte Inky. Ich grinste leicht. Er hatte das gleiche gedacht wie
ich - als erstes mußten wir die beiden Ausbilder ausschalten.
„Also los!“ sagte ich und hob meine Waffe.
Ein leises, kaum hörbares Pfeifen erklang, als die erste Nadel den Lauf verließ. Ich gab so
schnell wie möglich acht Schüsse ab, erst auf die Füße, dann auf den Körper, zum Schluß auf
den Hals. Auf das Gesicht zu zielen, wagte ich nicht, obwohl dieser helle Fleck sich gegen die
dunklen Monturen besonders deutlich abhob. Die Männer waren Opfer des Gegners, und
solange es nicht unumgänglich war, mußten wir sie schonen. Ein Schuß auf das Gesicht hätte
den Getroffenen leicht erblinden lassen können.
Es erwies sich, daß es gar nicht nötig war, zu so rabiaten Mitteln zu greifen. Die beiden
Kommandeure stürzten wie vom Blitz getroffen um, und bevor sich ihre Untergebenen an
diesen Anblick gewöhnt hatten, brach über sie ein Hagel von Geschossen herein. In weniger
als einer Minute lagen die Männer am Boden und rührten sich nicht mehr.
Ich rannte zu den Gestürzten hinüber Unsere Leute brachen wie eine Gespensterarmee aus
den Nebelschwaden hervor, stumm und schwarzgekleidet.
„Die Nadeln schlagen durch“, stellte Inky fest. Er deutete auf einen Mann, der ein sehr
erstauntes Gesicht zeigte und tief betäubt war. Er war von zwei Nadeln am Oberarm getroffen
worden.
„Um so besser“, murmelte ich. „Los, Leute! Zieht den Bewußtlosen die Tauchanzüge aus und
legt sie an!“
„Wir haben nicht genug Anzüge für alle“, mahnte mich Inky.
„Das weiß ich. Wir werden welche beschaffen“, antwortete ich hastig. Woher ich diese
Zuversicht bezog, wußte ich selbst nicht. Ich wußte nur, daß wir uns sehr beeilen mußten.
Die Dämmerung zog nur sehr langsam herauf. Der Himmel über uns bekam eine bleigraue
Farbe. Am Horizont zogen dichte Wolkenbänke auf.
Ich streifte dem vor mir liegenden Mann den Anzug ab und schlüpfte hinein. Das dehnbare
Material saß wir eine zweite Haut. Fähnrich Chadwick kam heran und riß die Augen auf.
„Unser Bootsmann!“ sagte er völlig verblüfft.
Jetzt wußten wir auch, wohin die Mannschaft der DUKE OF EXETER verschwunden war.
Offenbar war der Gegner nicht zimperlich, wenn es darum ging, Nachwuchs für seine Reihen
zu rekrutieren.
„Schafft die Betäubten weg und versteckt euch“, befahl ich Susan. Sie hatte das Kommando
über die Zurückbleibenden übernommen. „Wir werden versuchen, das Versteck zu finden, in
dem diese Männer leben. Ich vermute, daß wir dort weitere Anzüge beschaffen können. Wir
schicken dann ein paar Männer mit Ausrüstung hoch.“ „Wir werden warten!“ versprach
Susan. „Beeilt euch, bitte!“
Es hätte des Blickes nach oben auf den sich bedrohlich verfärbenden Himmel nicht bedurft,
um mich zur Eile zu treiben. Ich ging als erster ins Wasser.
Das Meer war angenehm kühl, und nach kurzer Zeit hatte ich mich an die Ausrüstung
gewöhnt. Die Suche nach dem Versteck konnte beginnen.
*
„Slayter, laufen Sie nicht wie ein aufgescheuchter Hase hin und her!“ Demeter Carol Washington sprach ruhig und freundlich. Wenn sie auch unter Nervenanspannung stand, ließ sie das jedenfalls nicht merken. Don Slayter, verantwortlich für die Time-squad in San Francisco, setzte seinen unruhigen Marsch fort. „Bistarc und seine Männer haben sich immer noch nicht gerührt“, stellte er fest und ballte die Fäuste. „Wollen Sie nicht endlich etwas unternehmen?“ „Was, bitte?“ fragte D. C. zurück. „Sind Sie der Chef der Time-squad oder bin ich es?“ fauchte Slayter. Zum hundertsten Male an diesem Tag sah er auf die beiden Uhren. Die eine zeigte die augenblickliche Ortszeit an, die andere verfolgte die Realzeit des Einsatzes. Nach dieser Uhr war es früher Morgen: 7. Juni 1692, 7:13 Uhr Ortszeit. „Mittags wird von Port Royal nur noch der Name vorhanden sein“, stellte Slayter fest. „Und
kein Zeichen von Bistarc.“
„Er wird sich melden“, versprach Washington, D. C. , selbstsicher. Sie lächelte. „Ich weiß es
ganz genau!“
„Und woher beziehen Sie diese Sicherheit?“ blaffte Slayter.
„Ich habe mich mit seinem Freund Inky zum Dinner verabredet“, erklärte D. C. freundlich.
„Wenn ihn das nicht beflügelt, was dann?“
* Wo war der Eingang zu suchen? Daß es ein Versteck gab, lag auf der Hand. Die Taucher waren schließlich nicht vom Himmel gefallen. Vom Land kamen sie ebenfalls nicht, dann hätten wir ihre Spuren gefunden. Sie waren aus dem Wasser gekommen. Inky schwamm an meiner Seite. Er machte Handzeichen. Ich folgte seiner Bewegung. Inky deutete auf den Totenschädel. Jetzt, da das Licht nicht mehr von den Wellen gebrochen wurde, waren die Konturen klar zu erkennen, auch die Leuchtkörper und ihre Befestigungen. Inkys Finger deutete auf das Gebiß des Schädels, das uns in kaltem Licht entgegenbleckte. Ich gab ein zustimmendes Zeichen. Wenn ich mich in die Gedankengänge des Gegners versetzte, war dieser Trick einleuchtend. Er paßte zu der gruseligen Atmosphäre, die in der Schreckensbucht kultiviert wurde. Inky bildete die Spitze unserer Gruppe. Ich informierte die anderen Männer durch Handzeichen. Sie setzten sich in Bewegung. Wie ein Schwärm großer, aber ziemlich häßlicher Fische glitten wir auf das Gebiß zu. Inky formte aus Daumen und Zeigefinger einen Ring und hielt ihn triumphierend in die Höhe. Seine Vermutung war also richtig gewesen. Vorsichtig näherten wir uns der Öffnung. Zwischen den grell leuchtenden Zähnen hingen große Tangbüschel, die den gespenstischen Eindruck noch verstärkten. In den Augenhöhlen trieben sich Schwärme bunter Fische herum. Wer dieses Zeichen angelegt hatte, kannte sich in der Psyche seiner Gegner erstaunlich gut aus. Obwohl ich genau wußte, wie dieses Zeichen funktionierte, konnte ich nicht vermeiden, daß es mir kalt den Rücken hinunterlief. Inky schaltete einen Handscheinwerfer an. Im Licht der Lampe war zu erkennen, daß einige Meter unterhalb der Gebißreihen der Rand der Vertiefung nicht mehr rauh, uneben und bewachsen war. Ich sah sauber bearbeitete Wände, die in die Tiefe führten. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, wir hatten das Versteck gefunden. Nacheinander schwebten wir in die Höhlung. Die Röhre, in der wir langsam abwärts sanken, war groß genug, daß zwei Männer nebeneinander schwimmen konnten. Ich hielt meinen Nadler schußbereit in der Hand.
Unter Wasser nutzte die Waffe wenig. Die Nadeln wurden vom Wasser so stark abgebremst, daß sie einige Meter vor dem Lauf zu Boden sanken. Erst in Luft konnte diese Waffe sinnvoll sein. Ich zweifelte jedoch nicht daran, daß in dem unterirdischen Stützpunkt des Gegners normale Bedingungen herrschten. Dort konnte ich mich auf die Waffe verlassen. Das Seewasser konnte der Waffe nichts anhaben. Die Röhre führte schräg nach unten. In etwas mehr als zwanzig Meter Tiefe knickte sie ab und führte auf die Küste zu. Wir legten weitere zwanzig Meter zurück, dann merkten wir, daß die Röhre langsam wieder anstieg. Dieser Zugang zum Versteck war nur mit modernen Gerätschaften möglich. Kein Taucher hätte es fertiggebracht, so lange die Luft anzuhalten. Der Gegner hatte an alles gedacht, schien es. Inky schaltete den Scheinwerfer aus und deutete nach oben. Über uns wurde es hell. Offenbar hatten wir das Versteck erreicht. Nach meiner Schätzung hatten wir die Küstenlinie längst überschritten. Die Tauchröhre führte nun senkrecht in die Höhe. Wir warteten, bis wir unsere Streitmacht beisammen hatten, dann stiegen wir auf, die Nadler schußbereit. Ich steckte als erster meinen Kopf über die Wasserfläche, und einen Sekundenbruchteil später krümmte ich den Zeigefinger meiner rechten Hand. Der Posten am Rand des Wasserbeckens zuckte zusammen und griff sich an den Nacken. Noch während er diese Bewegung ausführte, gaben seine Knie nach. Mit einem leisen Gurgeln fiel er auf den Boden, und wenig später lag der zweite Posten auf ihm. Inky hatte ihn ausgeschaltet. So schnell und so leise wie möglich zogen wir uns in die Höhe. Der Raum bildete ein langgezogenes Rechteck und war knapp vier Meter hoch. Die Lampen an der Decke beleuchteten das Wasserbecken und den breiten Felsrand, der das Becken einrahmte. Zwei Minuten später hatten wir unsere Männer auf diesem Felsband versammelt. Ich schätzte, daß wir für die Aktion bisher etwas mehr als eine halbe Stunde gebraucht hatten. Wenn der Rest sich ähnlich schnell abwickeln ließ... Von der Schleusenkammer führten zwei Türen tiefer in die Anlage. Hinter der ersten Tür entdeckten wir zwei Männer, die wir rasch ausschalteten. Inky grinste triumphierend, als er die Reihen von Tauchanzügen sah, die in diesem Raum gelagert wurden. Ich teilte zehn Männer ein, die genügend Anzüge zusammentrugen und sich daran machten, an Land zurückzukehren. „Sollen wir warten?“ fragte Inky unruhig. Ich sah ihm an, daß er vor Abenteuerlust förmlich brannte. Ich überlegte kurz. Zwanzig Männer standen uns zur Verfügung. Da unsere Freunde nicht mehr nach dem Eingang dieses Unterwasserverstecks zu suchen brauchten, würden sie uns ziemlich bald erreicht haben - in schätzungsweise vierzig Minuten. Aber bis zu ihrem Eintreffen konnte viel geschehen. „Wir greifen an“, entschied ich. Es hatte wenig Sinn zu warten, bis irgend jemand uns entdeckte und Alarm schlug. Mit etwas Glück konnte es uns gelingen, den Gegner derart zu verwirren, daß er zu einer koordinierten Abwehr nicht mehr fähig war. „Dann vorwärts“, murmelte Inky. Wir nahmen die zweite Tür. Dahinter war ein langer Gang zu sehen, bei dessen Anblick mir alles andere als wohl wurde. Dieser Schlauch ließ sich im Nu zu einer Falle umfunktionieren, aus der wir nicht mehr herauskamen. „Wie spät mag es sein?“ fragte ich Inky leise. „Zu spät, als daß wir noch eine andere Möglichkeit hätten“, gab er trocken zurück. Glücklicherweise stießen wir auf keinen Widerstand. Schwierigkeiten tauchten erst auf, als wir einen Kreuzweg erreicht hatten. Mißmutig betrachtete ich die Felswände, dann kam mir die Erleuchtung. Es gab an dieser Kreuzung keinerlei Wegweiser. Das ließ nur den einen Schluß zu, daß diese Anlage nicht allzu groß war. Zum anderen war mir eingefallen, daß es in diesem unterirdischen Labyrinth notwendigerweise eine Energieversorgung geben mußte. Eingedenk
der Tatsache, daß auch der Transport von Energie Kosten verursacht, suchte ich unter dem System von Düsen im Erdboden nach einer Anlage, von der aus die Nebeldüsen beschickt wurden. Die Nadler jederzeit schußbereit, drangen wir weiter vor. Erst als wir hinter einer eisernen Tür Maschinenlärm hören konnten, machten wir halt. Ich wartete, bis die Männer aufgerückt waren, dann stieß ich die Tür mit einem kräftigen Tritt weit auf. Vier Männer saßen vor einem wandbedeckenden Instrumentenpaneel. Sie kamen nicht mehr dazu, ihre Waffen zu ziehen. Noch bevor ihre Hände die Kolben ihrer Laser berühren konnten, hatten unsere Narko-Nadeln bereits ihre Wirkung getan. Nacheinander sanken die Männer zu Boden. Ich wußte nach einem kurzen Rundblick, daß wir das Herzstück der Anlage erreicht hatten. Wir sahen die Generatoren, mit denen der elektrische Strom für das Totenkopfzeichen erzeugt wurde, wir fanden auch die Zuleitungen für das System der Nebeldüsen. Technisch war die Anlage perfekt und offenkundig dazu gedacht, über einen längeren Zeitraum hinweg zu funktionieren. Als erstes schalteten wir das Düsensystem aus, dann stellten wir die Totenkopfanlage ein wenig um. Aus dem regelmäßigen Blinken, das wir in die Maschinerie einprogrammierten, mußten unsere Freunde folgern können, daß wir erfolgreich gewesen waren. Neben den uns vertrauten Anlagen sahen wir auch etliche Maschinen, deren Sinn und Bedeutung einstweilen unklar blieb. Wir hatten kleine Kameras mitgeschleppt, mit denen wir die Maschinen fotografierten, aber diese Bilder würden für die Wissenschaftler der Time squad wenig Wert haben. Ich wollte gerade den Befehl geben, die Verkleidungen abzumontieren, damit wir einen Blick in das Innenleben werfen konnte - da hörte ich hinter mir Inky entsetzt aufstöhnen. Ich fuhr herum. „Valcarcel!“ rief ich erschreckt. Es war tatsächlich Valcarcel, ich erkannte ihn auf den ersten Blick. Diese schlanke, fast hagere Gestalt, eingehüllt in einen bodenlangen Umhang aus dunkelblauem, seidenartigem Material, war unverkennbar. Auf der Brust des Umhangs war ‘ eine Sieben mit gelber Seide aufgestickt. Der Schädel des Mannes war fast kahl, die wenigen verbliebenen Haare schimmerten weiß. Man hätte ihn für einen etwas exotisch gekleideten, freundlichen älteren Herrn halten können, wären nicht die Augen gewesen. Sie lagen tief in den Höhlen und funkelten uns bedrohlich an, den Lichtern eines sprungbereiten Raubtiers ähnlich. „Stehenbleiben“, befahl er. Seine Stimme war ruhig und gelassen. Daß einige Männer ihre Waffen auf ihn gerichtet hatten, schien ihn nicht zu stören. Ich riß den Waffenarm in die Höhe und feuerte. In rascher Folge verließen die betäubenden Nadeln den Lauf und schlugen in den Körper des Mannes ein. Ich hatte auf Dauerfeuer gestellt, und ich nahm den Finger nicht eher vom Abzug, bis das Magazin leergeschossen war. Valcarcel grinste tückisch, mehr geschah nicht. Die Nadeln hatten entweder seinen Körper nicht erreicht, oder aber er war völlig unempfindlich für das Betäubungsmittel. Mit einer Salve, wie ich sie verfeuert hatte, hätte ich eine Elefantenherde auf den Boden zwingen können - nicht aber Valcarcel. „Sieh an“, murmelte Valcarcel. „Tovar Bistarc. Und einer der Herren aus dem Amazonasdschungel. Ist euch die Lust am Herumschnüffeln immer noch nicht vergangen?“ Meine Nackenhaare stellten sich auf, während er sprach. Diese eiskalte Ruhe war beängstigend. „Folgen Sie mir!“ forderte er uns auf. Ich hatte nicht die mindeste Lust, diesem Befehl Folge zu leisten, aber ich setzte einen Fuß vor den anderen. Es war, als gehöre mein Körper nicht mehr mir selbst. Unwillkürlich dachte ich an das Dschungelcamp im Amazonas zurück, an den lähmenden Schrecken, den die bloße
Nennung des Namens Valcarcel auslösen konnte. Er hatte nichts von seiner fast dämonischen Ausstrahlung verloren, im Gegenteil - wenn ich die stumpfen Gesichter meiner Gefährten betrachtete, schien es mir, als sei gegen die geistigen Waffen dieses Mannes mit keiner Technik der Welt etwas auszurichten. Gehorsam wie Aufziehpuppen trotteten wir hinter Valcarcel her. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sich nach uns umzudrehen. Er wußte, daß wir ihm gehorchen mußten. Und ich fand kein Mittel, diesen Bann zu brechen. Ich ahnte, daß am Ende dieses Marsches etwas stehen würde, was dem ziemlich nahekam, was ich mir unter der Hölle vorstellte - ein Schrecken, der jede Faser des Körpers ergriff, jeden einzelnen Nerv zu quälen schien und kein Ende kannte. Schon der bloße Gedanke daran, was uns bevorstand, ließ mich in fast panische Angst verfallen, und mit jedem Meter, den wir zurücklegten, schwoll diese Angst an. Ein satanischer Kreisschluß: ich hatte Angst vor dem, was auf mich wartete, und weil ich Angst hatte, konnte ich dieses Schicksal nicht abwenden. Dieses Bewußtsein wiederum verstärkte die Furcht vor dem, was Valcarcel mit uns anstellen würde, wenn er sich intensiv mit jedem von uns befaßte. Wir erreichten eine Halle, einen kuppelartig gewölbten Felsendom. Wie bei dem Schleusenbecken zog sich auch hier ein breites Felsband an der Wand entlang, auf dem mehrere Männer bequem nebeneinander gehen konnten. Ein Geländer gab es nicht. Dafür gab es Nischen, und in jeder Nische stand eine steinerne Figur. Götzen der Vorzeit, Dämonen, die früher die Eingeborenen mit Angst und Schrecken erfüllt hatten. Auch jetzt taten sie ihre Wirkung. Ich kannte die Namen dieser Götzen nicht, aber ich wußte, daß jener darunter war, zu dessen Ehren man Menschen bei lebendigem Leib das zuckende Herz herausriß, um es auf einem Altar zu verbrennen. Ich erkannte auch die Gestalt des Gottes wieder, zu dessen Ehren die Azteken alljährlich einem besonders hübschen Mädchen lebend die Haut abzogen, um die Statue des Götzen damit verkleiden zu können. Schreckensbilder aus allen Jahrhunderten blickten höhnisch grinsend auf uns herab, geflügelte Schlangen, deren gespaltene Zungen sich hin und her bewegten, riesige Kiefer mit mörderischen Zähnen, von denen Geifer herabtropfte. Der Anblick dieser Scheußlichkeiten war schon erschreckend genug, aber er war nichts im Vergleich zu dem sicheren Empfinden, daß diese Götzen keine Spukgestalten waren. Ich war sicher, daß hinter diesen steinernen Figuren Leben pulste, ein Leben, dessen Schrecklichkeit und Ungeheuerlichkeit meine Vorstellungskraft überstieg. Valcarcel blieb stehen. Er drehte sich um. „Tavar Bistarc!“ rief er. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte mich aus der Gruppe lösen und vortreten. Ich hatte völlig die Kontrolle über mich verloren. Valvarcel schritt weiter, und ich folgte ihm. Meine Freunde blieben hinter mir zurück. Sie blieben im Bann der steinernen Götzen, sie mußten den Anblick des Bodens ertragen. Es war kein Fels dort zu sehen, nur eine amorphe, bläulich schimmernde Masse, die sich unausgesetzt bewegte, zuckte und Blasen bildete. Wenn diese Masse lebte, dann war es die scheußlichste Kreatur, die ich je gesehen hatte. Willenlos folgte ich Valcarcel, bis er in einem kleinen Raum anhielt. Die Wände waren mit Samt ausgeschlagen. Das Rot frisch vergossenen Blutes war die Farbe des Samtes, und der Leuchtkörper an der Decke strahlte in dem gleichen Raubtiergelb, das mir aus Valcarcels Augen entgegenschlug, als er sich umdrehte und mich fixierte. Ich konnte den Anblick dieser Augen kaum ertragen, aber ich schaffte es nicht, die Augen zu schließen. Wie feurige Pfeile fraßen sich seine Augen in meinen Schädel und schienen mir das Gehirn zusammendrücken zu wollen. „Ganz beachtlich“, murmelte Valcarcel. Er sprach so ruhig und gleichmütig, als handele es sich um ein wissenschaftliches Experiment für Kleinkinder. „Wir wollen sehen, wie dir das bekommt“, sagte er freundlich. Aus einem Wandschrank, dessen Schnitzereien den Statuen in der Felsenhalle in nichts nachstanden, holte er einen Klumpen eines wachsartigen Materials hervor.
Ich wußte sofort, was mir bevorstand. VOODOO! Natürlich waren die Berichte über diesen Zauberkult Ammenmärchen, aber unter den langen, dünnen Fingern Valcarcels schien jeder Aberglaube zur schreckerregenden Wirklichkeit zu werden. Valcarcel lächelte freundlich. Er stellte das Wachs auf einen Tisch und hob beide Hände. Eine Aureole begann das Wachs einzuhüllen, eine grünliche Korona, in deren Bereich sich das Wachs zu verformen begann. Kein Glied von Valcarcels Körper berührte das Wachs, und doch veränderte es sich, bildete eine Gestalt, deren Konturen immer deutlicher wurden. Zwischen Valcarcel und mir stand der niedrige Tisch, das Gesicht der sich langsam bildenden Statue war mir zugekehrt. Von Sekunde zu Sekunde wurden die Züge dieses Gesichts deutlicher. Valcarcel formte auf seine Weise ein wächsernes Abbild von mir. Nase und Mund bildeten sich, Augen entstanden, und aus den entsprechenden Stellen des Rumpfes wuchsen Gliedmaßen hervor. Die Oberfläche der Statuette begann sich zu verändern und bekam Farbe. „Das genügt“, murmelte Valcarcel und ließ die Hände sinken. Die Aureole erlosch, und ich sah die Statuette an. Der Hals war gut herausgebildet, und unter der Oberfläche dieses Halses bewegte sich etwas. Blut, oder eine Flüssigkeit, die diese Rolle übernommen hatte, pulste durch mein Abbild. Ich wollte mich nach vorne werfen, mein Abbild vernichten, aber ich konnte kein Glied rühren. Ich brachte nicht einmal einen Schrei über die Lippen. Valcarcel schien Freude daran zu empfinden, mich zu quälen. Mit umständlicher Langsamkeit förderte er aus seinem Gewand eine lange silberne Nadel zum Vorschein. Schlimmer noch als das war sein Lächeln, in dem sich seine ganze Überlegenheit widerspiegelte. Mit der Spitze der Nadel berührte er die rechte Schulter der Statue, und im gleichen Augenblick fühlte ich, wie meine Schulter förmlich zu Eis gefror. Ein kurzer, schneidender Schmerz zuckte in mir hoch und entriß mir ein Stöhnen. „Rede, Bursche! Was hast du hier zu suchen?“ Blitzartig zuckte die Erkenntnis in mir hoch. Ganz und gar hatte mich Valcarcel nicht in der Hand. Er mußte Druck anwenden, um mir meine Geheimnisse entreißen zu können. Es gab also eine Chance, ihm zu widerstehen. Es kostete mich alle Kraft, den Wunsch zurückzudrängen, Valcarcel alles zu erzählen, aber ich schaffte es. Die Spitze der Nadel bewegte sich auf den Bauch der Statuette zu. Valcarcel schüttelte, wie bedauernd, den Kopf, dann stach er zu. Ich schrie auf. Der Schmerz, der in meinen Eingeweiden wühlte, war kaum zu ertragen. Ich warf beide Hände nach vorn, um sie um meinen Leib zu schlingen - eine automatische Geste. Jeder, der Magenschmerzen hat, versucht den Magen mit den Händen zu schützen. Allerdings versucht dabei nicht jeder, noch in der Bewegung nach seiner Waffe zu greifen. Ich konnte das ruckartige Vorschnellen nicht verhindern, ich konnte auch die Waffe nicht festhalten. Aber sie erfüllte mir den Wunsch, den ich seit einigen Sekunden gehegt hatte. Sie flog in die Höhe. Mit einem häßlichen Geräusch traf sie Valcarcel an der Stirn. Der Mann riß erstaunt die Augen auf, dann sank er langsam in sich zusammen. Plötzlich konnte ich mich wieder bewegen, und ich nutzte jede Sekunde. Lange würde Valcarcels Betäubung nicht anhalten, dafür war der Wurf nicht kraftvoll genug gewesen. Ich warf mich nach vorn, griff mit beiden Händen nach der zusammensackenden Gestalt auf der anderen Seite. Ein dünner, harter Gegenstand tauchte zwischen meinen Fingern auf, die Nadel. Ich griff danach, mehr instinktiv als bewußt, dann rammte ich die Spitze in Valcarcels Körper. Ein grauenvoller Schrei hallte durch den Raum und wurde von einem unsichtbaren Echo
wiederholt. Ich spürte, wie sich Valcarcels Körper unter meinen Händen zu verhärten begann.
Es fühlte sich an, als würde er versteinern. Mit dumpfem Poltern stürzte der Körper auf den
Boden.
Krampfhaft schnappte ich nach Luft.
In meinen Eingeweiden klang der Schmerz noch nach, aber das Bewußtsein, diese Schlacht
gewonnen zu haben, half mir, meine Besinnung wiederzufinden. Ich ging um den Tisch
herum.
In Valcarcels Augen stand Erstaunen geschrieben, aber keine Spur von Angst oder Entsetzen.
Sein Körper war steinhart, auch das Gewand schien versteinert zu sein. Ich fuhr herum.
Meine Statuette war verschwunden, auf dem Tisch lag nur ein langsam auseinanderfließender
Wachsklumpen, von dem gelbliche Schwaden aufstiegen. Sehr vorsichtig berührte ich die
Reste mit einem Finger. Ich spürte nichts.
Ich brauchte eine Waffe. Nach kurzem Suchen hatte ich einen Laser gefunden, dann rannte
ich in den Felsendom zurück.
* Meine Freunde standen noch immer wie festgewurzelt auf dem Felsband. Starr blickten sie auf die amorphe Masse auf dem Boden der Halle. Auf der anderen Seite tauchte eine Gestalt auf, und ich hob die Waffe. Ich ließ sie wieder sinken. Ich hatte Susan erkannt. Also war der Rest unserer Truppe angelangt. „Alles in Ordnung?“ rief ich hinüber. „Keine Ausfälle“, gab Susan zurück. „Und was ist...“ Sie deutete auf die regungslosen Gefährten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich den Männern helfen konnte, nur eine blitzartig aufkeimende Idee. Ich stellte den Laser auf Dauerfeuer und richtete die Mündung auf den Boden. Bereits nach dem ersten Schuß schrien unsere Freunde auf, nach dem zweiten Treffer kam Leben in sie. Sie hatten haßverzerrte Gesichter, als sie ihre Waffen zogen und Schuß auf Schuß abgaben. Das amorphe Wesen auf dem Boden zuckte und zappelte, dann begann es sich in seine Bestandteile aufzulösen. Ein Schrei gellte durch den Felsendom, dann war es plötzlich still. In diese Stille hinein erklang ein dumpfes Grollen. „Port Royal!“ schrie Inky auf. „Die Stadt versinkt!“ Von diesem Augenblick an zählten wir die Zeit nach Sekundenbruchteilen. Wir wußten, daß wir so schnell wie möglich verschwinden mußten. Es war natürlich möglich, daß diese Anlage vom Untergang der Stadt nicht betroffen war, aber dieses Risiko wollte keiner von uns eingehen. Wir fanden die Zeitmaschine in der Nähe von Valcarcels Unterkunft. Sie war betriebsbereit. Ich sah zwar, daß sie mit einigen Zusatzeinrichtungen versehen war, deren Bedeutung ich nicht kannte, aber wir hatten nicht die Zeit, uns darum zu kümmern. Vier unserer Freunde machten sich in aller Eile daran, die Zeitmaschine zu justieren. Währenddessen schleppten wir anderen alle Männer heran, die wir in den unterirdischen Räumen gefunden hatten. Die Besinnungslosen einfach zurückzulassen, wäre glatter Mord gewesen. Wir arbeiteten mit fieberhafter Hast, während unter unseren Füßen der Boden zitterte und bebte. Die erste Gruppe ging auf die Reise in die Zukunft, in die Gegenwart, die unsere Rettung war. *
„Sagen Sie einmal, Bistarc. Halten Sie die Time-squad eigentlich für eine Sonderabteilung der Einwanderungsbehörde?“ Slayters Stimme hatte einen gereizten Unterton. Ich war gerade erst aus der Zeitmaschine herausgekommen und noch ein wenig verwirrt. Meine Füße waren naß. Der letzten Gruppe hatte das Wasser bereits die Füße umspült, als die Reise endlich beginnen konnte. „Ich verstehe Sie nicht ganz, Chef!“ wehrte ich mich. „Erst tauchen Sie unberechtigterweise in unserer Zeit auf. Dann schleppen Sie diesen ewig grinsenden Inky samt Freunden hierher, und jetzt kommen Sie schon wieder mit ungebetenen Besuchern an. Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, was Sie damit anrichten?“ Ich machte eine abwehrende Geste. „Die Time-squad wird doch wohl genug Geld haben, die Leute durchzubringen!“ „Um Geld geht es dabei gar nicht“, fauchte Slayter. „Diese Leute sind für uns einfach nicht vorhanden. Sie haben keine Geburtsurkunden, keine Personalausweise, keinen festen Wohnsitz, keine Sozialversicherungsnummer, keinen Rentenanspruch. Was, glauben Sie, werde ich zu hören bekommen, wenn ich dem Einwohnermeldeamt erneut klarmachen muß, daß bei uns Personen aufgetaucht sind, deren Identität nicht nachweisbar ist. Offiziell sind diese Männer gar nicht vorhanden!“ Ich zuckte mit den Schultern. „Was kümmern Sie Personen, die nicht vorhanden sind. Nicht vorhandene Personen können auch nur nicht vorhandenen Ärger bereiten. Über einen unserer Gäste können Sie sich doch wohl freuen, oder?“ „Von wem reden Sie?“ „Von unserem Freund Valcarcel. Sie müssen ihn sehr sicher einsperren, am besten in einen luftdichten Raum, sonst entwischt er Ihnen!“ „Ich verstehe Sie nicht ganz, Tovar“, mischte sich D. C. ein. „Wollen Sie behaupten, daß Sie Valcarcel in die Zeitmaschine gesteckt haben?“ Ich sah sie verdutzt an. „Natürlich“, erklärte ich heftig. „Er muß unmittelbar vor mir angekommen sein.“ Inky sah mich traurig an. „Nach mir bist du gekommen - und sonst niemand“, sagte er betroffen. Ich suchte nach einem Stuhl. Mit eigenen Händen hatte ich mühsam den steifen Körper auf die Platte gewuchtet. Irgendwo auf der Strecke zwischen Vergangenheit und Zukunft war dieser Körper verschwunden. Bei dem bloßen Gedanken daran wurden mir die Knie weich. „Ist diesem Kerl denn überhaupt nicht beizukommen?“ schimpfte ich. „Wir haben immerhin einige Andenken an ihn“, versuchte Inky mich zu trösten. „Nur dein Buch haben wir leider in der Eile vergessen.“ „Buch?“ fragte Slayter neugierig. Er liebte Bücher, besonders ganz alte. „Was für ein Buch?“ „Ein völlig wertloser Schmöker“, erklärte ich ihm. „Absolut uninteressant. In Latein geschrieben.“ „Eine Bibel vielleicht?“ fragte Slayter, nun sichtlich erregt. „Das wird’s gewesen sein“, stimmte ich zu. „Gedruckt, nicht handgeschrieben? Achtundvierzig Zeilen pro Seite?“ forschte Slayter mit hochrotem Kopf weiter. „Ich glaube ja. Von einem gewissen Guttental.“ „Gutenberg, Gutenberg“, schrie Slayter auf. „Dieser hirnrissige Mensch läßt eine echte Gutenbergbibel zurück. Es ist nicht zu glauben.“ Slayter schien einem Schlaganfall nahe. Ich versuchte ihn zu beruhigen. „Selbst wenn dieses Buch von diesem Gutenberg ist, war es wertlos“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Wie kommen Sie auf die Idee?“ fragte Slayter schwach. Ich zuckte mit den Schultern. „Irgend jemand hat an jeder freien Stelle herumgekritzelt. Luther hieß der Bursche, Martin
Luther. Sagt Ihnen das etwas? He, Chef, warum sind Sie so blaß?“
ENDE