Alexandra Cordes
Die zweite Frau
Inhaltsangabe Seit wenigen Tagen ist Lisa Karlsberg mit Jürgen, einem um zwanzig Jah...
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Alexandra Cordes
Die zweite Frau
Inhaltsangabe Seit wenigen Tagen ist Lisa Karlsberg mit Jürgen, einem um zwanzig Jahre älteren Rechtsanwalt, verheiratet. Aus erster Ehe mit der Schauspielerin Cora Carlson hat er drei fast erwachsene Kinder, mit denen das Paar gerade eine neue Villa im Herzen von Schwabing bezogen hat. Doch bereits in den ersten Tagen überziehen Wolken das junge Glück: Wegen eines unseligen Vertrages, den Jürgen für Lisas Vater ausgearbeitet hat, gerät er an den Rand des Ruins. Die Kinder stellen das Paar vor fast unlösbaren Probleme – und auch sonst droht Gefahr. Doch Lisa nimmt mit dem verzweifelten Mut der Liebe und mit ungeahnten Kräften den Kampf auf um ihre so vielversprechend begonnene Ehe und das Glück ihrer Familie.
Sonderausgabe des Lingen Verlages, Köln mit Genehmigung des Schneekluth Verlags, München © 1981 by Franz Schneekluth Verlag, München Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln und Bercker Graphischer Betrieb GmbH, Kevelaer Schutzumschlag: Roberto Patelli Printed in West Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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D
er Raum roch noch nach Farbe und frischen Tapeten, aber die Möbel standen schon an ihrem Platz, die sie gemeinsam ausgesucht hatten. Da war das breite französische Bett mit der pflaumenfarbenen Wollspreite, in Samt gefaßt – Jürgen konnte nicht unter Daunen schlafen –, dazu blaßblaue Seidenlaken, schon für die Nacht aufgedeckt. Lisa saß ganz still, betrachtete das Bett im Spiegel, die Lampen dazu, schimmernde Kristalleuchten. Sie ging zum Schrank und öffnete ihn, im gleichen Moment ging innen das Licht an. Ihre Kleider waren eingeräumt, ihre Wäsche lag gestapelt, die Schuhe standen in einer Reihe. Lisa spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog; mit einemmal kamen ihr die Kleider und die Schuhe ärmlich vor, abgetragen, obwohl sie ausnahmslos nahezu neu waren. Ich habe Angst, dachte sie, alles ist hier so perfekt, das ist es. Sie drehte sich um, lief zum Ankleidetisch zurück. Ein silbernes Kamm- und Bürstenbesteck lag da, mit ihrem Monogramm, daneben Flakons mit französischem Parfüm. Jürgen hatte an alles gedacht, eine Schale aus Alabaster enthielt Puder, eine andere Talkum. Er hatte sich sogar ihr Gesichtswasser gemerkt und ihre Lotion für die Hände. Dazu Lippenstifte und Nagellack in den Farben, die sie liebte und die er mochte. Ich wünschte, Mami könnte das sehen, dachte sie, vielleicht wür1
de sie dann anders denken. Ihre Mutter hatte sie vor dieser Heirat gewarnt. Jürgen ist zwanzig Jahre älter als du, du wirfst dich weg! Und dazu drei Kinder! Er braucht nur eine bessere Haushälterin. Das Telefon auf dem rechten Nachttisch surrte. »Ja, bitte?« »Bist du fertig, Liebes?« »Entschuldige«, ihre Stimme klang heiser, sie hörte es selbst. »Ich habe noch gar nicht angefangen, mich umzuziehen. Es ist alles noch so neu, so fremd.« Er lachte leise, zärtlich, sie hörte es ganz genau. »Laß dir Zeit. Nur – in einer halben Stunde kommen die Kinder, und ich hätte gern noch ein Glas vorher in Ruhe mit dir getrunken.« »Ich bin in fünf Minuten unten.« »Ich liebe dich«, sagte er. Sie mußte sich auch daran gewöhnen. In ihrem Elternhaus war nie offen über Gefühle gesprochen worden; nicht ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie gesehen, daß ihre Eltern Zärtlichkeiten getauscht hätten. Lisa lief ins Bad, warf den Frotteemantel ab und duschte. Sie war dankbar für ihre klare, glatte Haut, sie brauchte kein Make-up, nur ein bißchen Puder auf die Nase, und die Lippen nachgezogen. Sie schlüpfte in frische Wäsche, zog einen cremefarbenen Jerseyanzug an, er war ganz schlicht. Sie band nur den breiten Gürtel aus gehämmertem Gold um, Jürgens erstes Geschenk an sie. Er hatte einen Klienten in einer Erbschaftsangelegenheit in Jerusalem vertreten müssen und ihr den Gürtel aus dem alten Soukh mitgebracht. Lisa bürstete ihr Haar aus, es war dunkelbraun und sehr kräftig. Sie trug es seitlich gescheitelt, schulterlang. Fertig. Genau sechs Minuten. Sie wußte, Jürgen haßte es, zu warten. 2
Ich bin in den zweiundzwanzig Jahren meiner ersten Ehe nicht ein einziges Mal pünktlich in ein Kino, in ein Theater oder zu einer anderen Verabredung gekommen – hatte er einmal gesagt, es war der erste und einzige Kommentar zu seiner ersten Ehe geblieben. Lisa warf noch einen Blick in den großen Ankleidespiegel. Ihre Augen wirkten viel dunkler als sonst, auch ein bißchen umschattet, aber das kam von der Aufregung. Vor fünf Tagen geheiratet, eine Blitzhochzeitsreise nach Lissabon. Das RITZ, die Avenida da Liberdada, der Rossio mit seinen lebendigen Straßencafes, dabei war es schon mitten im Dezember. Sie hatten gegrillte Sardinen gegessen und Vinho Verda getrunken und eine Nacht in der Altstadt, der Alfama, beim Fado verbracht. Und jetzt war der erste Abend in ihrem eigenen Haus, in ihrem neuen Heim angebrochen. Jürgen legte gerade Holzscheite in den Kamin nach, als Lisa die Wohnhalle betrat. Der Flammenschein zuckte über sein Gesicht, es war gebräunt und schmal, sein Haar war schon fast weiß. »Hallo«, sagte sie leise. Er drehte sich sofort zu ihr um. Sie sah ihm in die Augen. Er lächelte. Sie lief zu ihm, und er nahm sie in die Arme. »Du siehst wunderschön aus«, sagte er leise, »und du riechst so gut. Und du bist die pünktlichste Frau, die ich kenne.« »Wovon das letzte das Wichtigste ist.« Sie lachten beide. Er ließ sie sanft los. »Was willst du trinken, Lisa?« »Un Porto Blanco Seco«, ahmte sie das helle Organ des jungen Kellners nach, der sie im RITZ immer bedient hatte. »A votre service, Madame.« 3
Jürgen reichte ihr das Glas, sie prosteten sich stumm zu. »War alles in Ordnung, oben?« fragte er, nachdem sie getrunken und es sich in den breiten alten Ledersesseln, die sie auf einer Auktion erstanden hatten, bequem machten. »Danke ja. Noch ein bißchen fremd und neu, aber sonst –« »Ich glaube, das Haus wird uns Freude machen«, er blickte sich um. Für ihn war es genauso neu wie für sie. »Es ist gut konstruiert. Keine klappernden Türen, keine ratternden Fenster. Nur Grete beschwert sich, daß sich die Gerüche in der Küche zu lange halten. Wir werden einen Absauger installieren lassen.« »Und im Bad müssen wir doch Vorhänge anbringen.« »Suchst du sie aus?« »Ja, gern.« »Wenn du Lust hast, nehme ich dich morgen gleich mit in die Stadt, wenn ich ins Büro fahre. Oder ist halb neun für dich zu früh?« »Natürlich nicht«, sagte sie lächelnd, »du vergißt, ich war eine berufstätige Frau.« »Ich vergesse es gern, weil du noch so kindlich wirkst. Weißt du, daß du heute abend keinen Tag älter als achtzehn aussiehst?« Es gab ihr immer einen seltsamen Stich, wenn er hervorhob, wie jung sie aussah. Hoffentlich finden seine Kinder das nicht auch, dachte sie. Peter war schließlich schon zwanzig. Lydia achtzehn, knappe zehn Jahre jünger als sie selbst. »Wann kommen die Kinder« – sie hatte unwillkürlich vor dem ›die‹ gezögert. Er schaute auf die Uhr. »Wenn die Lufthansa ausnahmsweise mal pünktlich war, müßten sie schon auf dem Weg hierher sein. Bin gespannt, wie ihnen London gefallen hat.« Er hatte Peter und Lydia während des Umzugs in das neue Haus 4
am Rand von Schwabing, der Hochzeit und ihrer eigenen kurzen Reise nach England geschickt – wie er sagte. Aber Lisa vermutete, daß die Kinder darauf bestanden hatten. »Und – Horst?« fragte sie. Jürgen ergriff ihre Hand, er betrachtete ihre unlackierten Fingernägel, begann dann, ihre Hand zu streicheln. »Ich hoffe, es verletzt dich nicht«, sagte er, »aber Cora wollte ihn noch eine Woche länger bei sich behalten.« »Nein, natürlich nicht«, sagte sie schnell. »Cora hat gerade eine Pause zwischen zwei Engagements und daher –« Jürgen verstummte. »Es verletzt dich doch nicht?« wiederholte er hastig. »Es hat wirklich nichts mit dir – mit uns zu tun.« »Gibst du mir bitte noch einen Schluck Porto?« fragte Lisa. »Ja, sicher.« Er sprang sichtlich erleichtert auf. Er bot ihr eine Zigarette an, obwohl er selbst seit drei Jahren das Rauchen aufgegeben hatte und es auch nicht sehr gern an ihr sah. »Vielleicht sollte ich mir die Zimmer der Kinder noch einmal ansehen«, fragte sie, »ob auch alles wirklich in Ordnung ist?« »Nein, laß nur, Grete hat das schon getan. Auf Grete kannst du dich wirklich verlassen, weißt du.« Grete war das einzige, was sie aus seiner ersten Ehe übernommen hatten. Es war ein reiner Akt der Vernunft gewesen, denn Grete versorgte seit fünfzehn Jahren die Familie – und wo fand man heute so etwas noch? »Hör zu«, Jürgen zog Lisa zu sich hoch, er legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich weiß, es ist nicht leicht für dich, vor allem, weil du die Kinder noch gar nicht kennst. Aber hab' keine Angst. Ich werde immer auf deiner Seite sein. Ich bin so froh, daß ich mit dir noch einmal neu anfangen darf, glaubst du mir das?« Sie nickte stumm. Er zog sie mit zum Fenster. Draußen, auf der Terrasse, brannten die schmiedeeisernen Later5
nen. Der Schnee glitzerte weiß und unberührt. »Wir beide sind hier zu Hause. Das wollen wir nie vergessen.« Er hatte Angst wie sie, er war unsicher wie sie, und Lisa fühlte sich ihm sehr nahe, vielleicht näher als jemals zuvor. »Ich glaube, da kommt ein Wagen«, sagte sie, noch ehe das Scheinwerferlicht über den Garten wischte. »Ja, du hast recht. Bleib nur, Grete macht auf.« Der Wagen bog in die Einfahrt, hielt, der Motor tuckerte leise. Sie hörten Gretes schnellen Schritt in der Diele, das Öffnen der Haustür. Dann das Gewirr der jungen Stimmen, die Begrüßung. Die Doppeltür zur Wohnhalle sprang auf, und die beiden standen da; Bruder und Schwester, er mit nachtschwarzem, fast bläulich schimmerndem Haar, sie hellblond. Beide in Fellwesten, beide in Jeans, beide in kniehohen Stiefeln. »Hello«, riefen sie wie aus einem Mund. »Guten Abend«, sagte Jürgen Karlsbad. »Paps!« Das Mädchen flog auf ihn zu, umarmte ihn, bedeckte sein Gesicht mit vielen kleinen Küssen. »London war super! Tollste Idee, die du je hattest.« Der Junge trat zögernd näher, Lisa spürte, wie sie unter seinem forschenden Blick errötete. Sie versuchte zu lächeln, sie wußte nicht, ob es ihr gelang. »Du bist also Lisa? Ich darf dich doch so nennen?« Er sprach leise, zögernd, hatte eine gute Stimme. Er nahm ihre Hand, lächelte. »Vater hat uns viel von dir erzählt, aber ich habe nicht gewußt –« er verstummte, jetzt errötete er. »Ich freue mich, wirklich.« Er ließ ihre Hand schnell los, als habe er zuviel oder zuwenig oder ganz einfach das Falsche gesagt. »Ich freue mich auch, Peter«, sagte Lisa, »dein Vater hat mir auch viel von euch erzählt.« Sie bezog absichtlich Lydia mit ein. »Hattet ihr einen guten Flug?« »Ja, danke.« 6
»Keinen Nebel?« »Ach, diese blöden Sicherheitsbestimmungen«, rief Lydia. »Neben mir saß eine Type, der hatte einen Aktenkoffer mit doppeltem Boden. Den haben sie überhaupt nicht gefunden, die Bullen!« »Lydia, möchtest du nicht endlich Lisa begrüßen?« fragte ihr Vater. »Aber ja, natürlich! Guten Abend, Lisa!« Grüne Augen unter hochgewölbten ausrasierten Brauen, wie es wieder Mode war, sahen sie an – ohne jeden Ausdruck. Und dann lachte das junge Mädchen seinen Vater wieder an. »Paps, ich hab' einen riesigen Durst, gibst du mir einen Orangensaft mit Campari, bitte?« »Gute Idee, Kind. Lisa, das wird dir schmecken. Peter, sag doch rasch Grete in der Küche Bescheid, wir brauchen frischgepreßten Orangensaft.« »Laßt mich das tun«, sagte Lisa, »ich will sowieso mal nach dem Essen schauen.« Sie ging schnell hinaus, ehe Jürgen etwas erwiderte. Beim Schließen der Tür hörte sie Lydia sagen: »Gar nicht so übel, deine Neue –« Lisas Gesicht brannte, ihre Hände zitterten. Das waren also die Kinder. Peter hatte sie auf Anhieb gemocht, das hatte sie sofort gespürt. Aber Lydia – das würde schwer werden, sehr schwer. Lisa betrat die Küche. Grete hackte Petersilie. Auf dem Herd schimmerten Kupferkasserollen, die Lisa in einem übermütigen Anfall gekauft hatte; sündhaft teuer waren sie gewesen, aber schon seit langem ihr heimlicher Traum. Mein Mann möchte – das lag ihr schon auf der Zunge, aber sie sagte statt dessen: »Grete, wir brauchen frisch gepreßten Orangensaft, bitte.« »Noch vor dem Essen?« fragte Grete mürrisch. »Ja, die Kinder möchten es gern, sie haben Durst.« Lisa trat zum 7
Herd, sie hob einen der Deckel, schnupperte. »Das riecht ja ganz vorzüglich. Hase in Rotwein?« »Ja, aber ich komme mit den neumodischen Töpfen überhaupt nicht zurecht!« »Es sind ganz alte Töpfe«, sagte Lisa. »In Frankreich gebraucht man nur sie.« »Dacht ich's mir doch, was Ausländisches«, murrte Grete. Sie war eine kleine, untersetzte Frau. Ihr graues Haar war in einem so straffen Knoten zurückgefaßt, daß die Kopfhaut durchschimmerte. Sie machte keine Anstalten, den Orangensaft auszupressen, und so tat Lisa es selbst. Sie tranken den Orangensaft mit Campari auf Eis in der Wohnhalle. Der Alkohol löste deutlich ein wenig die Spannung, die über ihnen allen lag. Beim Essen unterhielten sie sich über London, das Lisa ebenfalls kannte; sie war einmal mit ihrem Vater zu einer Ballettwoche dort gewesen. Nach dem Essen kehrten sie alle vor den Kamin zurück, Jürgen legte Holzscheite nach, Grete brachte den Kaffee, Peter schenkte Cognac ein. Lydia ging zum Fernseher, schaltete ihn an. »Muß das heute abend sein?« fragte Jürgen. Lydia überhörte es. Sie wandte nur langsam den Kopf und sah Lisa an. Ein winziges undeutbares Lächeln lag um ihre geschwungenen Lippen. Es ist ein hochmütiger Mund, dachte Lisa, aber natürlich behielt sie das für sich. Die Stimme klang zuerst auf, es war eine melodische dunkle Stimme: »Du hättest es mir früher sagen sollen, früher, noch vor ein paar Jahren wäre es leichter gewesen, dich zu verlassen...« Ein Gesicht blendete ein, das Gesicht einer wunderschönen, alternden Frau, das Gesicht einer großen Schauspielerin. Das Gesicht 8
von Cora Carlson – oder Cora Karlsbad. »Mami«, flüsterte Lydia, und noch einmal schluchzend, »Mami!« Sie begann haltlos zu weinen und lief aus dem Raum. Jürgen war mit wenigen Schritten beim Fernsehapparat; schaltete ihn ab. »Entschuldige, Lisa«, sagte er, »ich bin sicher, Lydia hat nichts davon gewußt.« »Ich bin sicher, sie hat davon gewußt«, sagte Peter und stellte hart seine Kaffeetasse auf den Tisch. »Sie ist eine ebenso gute Schauspielerin wie ihre Mutter.« »Peter!« »Wobei wir mittendrin in unserem ewigen Familienzwist wären«, sagte der junge Mann. Er ging zu Lisa, berührte ihren Arm. »Setz dich doch. Möchtest du deinen Kaffee jetzt?« »Ja, danke«, murmelte sie verwirrt. Jürgen kam zu ihr herüber. »Ich entschuldige mich für Lydia. Und ich werde veranlassen, daß sie es auch noch selbst tut.« »Bravo«, sagte Peter, »das sind ja ganz neue Töne.« »Bist du nicht müde von der Reise?« fragte sein Vater scharf. »Ja, da hast du eigentlich recht.« Peter lächelte, beugte sich herab, nahm Lisas Hand, küßte sie. »Gute Nacht. Und gute Träume. Du weißt ja, was man in der ersten Nacht in einem neuen Haus träumt, geht in Erfüllung. – Gute Nacht, Vater«, damit ging er. Leise, wie selbstverständlich. »Du warst hart mit ihm«, sagte Lisa. »Ich glaube, er hat es nur gut gemeint.« Jürgen setzte sich neben sie, legte den Arm hinter ihr auf die Lehne der Couch, aber er berührte Lisa nicht. »Vielleicht hättest du die Kinder doch vorher kennenlernen sollen? Vielleicht hättest du dich dann doch eines Besseren besonnen, gewiß zur Freude deiner Mutter... statt mich zu heiraten?« Es klang 9
ironisch, aber auch verletzt. »Wir beide sind übereingekommen, daß wir uns durch nichts und niemanden beeinflussen lassen wollen«, sagte Lisa ruhig. »Weder durch deine Kinder noch durch meine Mutter. Und schon gar nicht durch irgendwelche Fremden.« »Ja, verzeih, du hast recht.« Seine Hand packte ihre Schulter. »Wir wollen es nie vergessen, hörst du?« »Ich werde es nicht vergessen!« »Ich brauche dich so«, sagte er, »du weißt ja gar nicht, wie sehr ich dich brauche.« Peter Karlsbad schloß die Tür zum Zimmer seiner Schwester und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Auf dem zebrafellgedeckten Bett hockte Lydia im Schneidersitz. Sie lackierte ihre Fingernägel dunkelrot. Sie sah nicht auf. Sie ignorierte Peter, was nichts Neues für ihn war. »Du bist ein ganz gemeines, kleines Biest«, sagte er. Sie reagierte mit keinem Wimpernzucken. Sie spreizte ihre Finger, blies auf den roten Lack. »Vater liebt diese Frau, und wenn du mich fragst, wird er sehr glücklich mit ihr werden. Warum gönnst du ihm das nicht?« Lydia schaltete das Radio an, wählte eine Station, die französische Chansons brachte. »Lisa ist ein guter Mensch.« »Woher willst du das wissen?« Lydia betrachtete ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. »Das spürt man sofort. Man braucht sie nur anzuschauen.« »Sie ist Durchschnitt. Nichts weiter. Eine kleine Sekretärin, die sich Vater geangelt hat, weil er in die Wechseljahre kommt wahrscheinlich.« »Warum haßt du ihn so?« 10
»Ich hasse ihn nicht. Ich liebe Vater, und deswegen ist keine andere Frau gut genug für ihn.« »Du hast sie heute abend sehr gekränkt, beide«, sagte Peter. »Ich hoffe, es war das letztemal.« »Und wenn nicht?« »Dann kriegst du es mit mir zu tun.« Er ging hinaus, in sein Studio. Er machte kein Licht. Er setzte sich in den Sessel am Fenster, er sah hinaus in den verschneiten Garten. Zum erstenmal, solange er zurückdenken konnte, fühlte er sich zu Hause – und das, obwohl dieses Haus ganz neu war und er es an diesem Abend zum erstenmal betreten hatte. Er fühlte sich wie jemand, der lange fort war und endlich heimgekehrt ist. Lisa hatte ihm dieses Gefühl gegeben, in ihren Augen hatte er etwas gesehen, was er sein ganzes Leben lang vermißt hatte. In ihrem Zimmer nebenan kniete Lydia jetzt auf dem Bett. Sie bewegte ärgerlich ihre Hände, weil der Lack nicht trocknen wollte. Aber endlich war es soweit, und sie wählte hastig die Telefonnummer in Hamburg. Es läutete sechsmal, bis dort abgenommen wurde. »Mama, hier Lydia«, flüsterte sie atemlos. »Ich habe dich heute abend im Fernsehen gesehen. Mama, du warst wunderbar. Ganz wunderbar!« »Danke, Kind.« Die Stimme klang weich und voll wie im Fernsehen. »Wo bist du, Kind?« »Wir sind in dem neuen Haus, Mama. Die Neue ist auch da, sie ist eine ganz simple durchschnittliche Person, du hättest sehen sollen, was sie für ein Gesicht gemacht hat, als ich das Fernsehen eingeschaltet habe und du erschienst. Du –« »Das hast du getan?« unterbrach ihre Mutter sie. 11
»Aber sicher, Mama. Sie sollte sofort wissen –« »Wie konntest du, Lydia? Warum hast du das getan?« »Aber Mama, verstehst du das denn nicht? Sie sollte gleich wissen, wo ihr Platz ist. Ich will nicht, daß sie glaubt, nur weil sie jünger ist als du, nur weil sie jetzt Vaters zweite Frau ist –« »Ich bitte dich, Lydia, hör auf. Diese Frau hat mir nichts getan.« »Sie nimmt dir Vater weg!« »Nein, Kind. Du weißt doch, ich habe es dir schon erklärt, dein Vater und ich –« »Du willst also nicht, daß ich auf deiner Seite bin?« unterbrach Lydia sie. »Kind, darum geht es doch nicht. Bitte, Lydia, verrenn dich nicht in irgend etwas. Versprichst du mir das?« »Ja, Mama«, sagte Lydia leise und legte den Hörer auf. Dann weinte sie.
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isa träumte nicht in dieser Nacht, oder wenn doch – so konnte sie sich nicht daran erinnern. Sie wachte mit einem dumpfen Druck im Kopf auf und dem Gefühl totaler Erschöpfung. Das Bett neben ihr war schon leer. Eine gelbe Rose lag auf dem Kopfkissen, darunter ein Zettel. ›Ich liebe Dich, trotzdem muß ich Dich heute morgen früh allein lassen. Hatte schon zwei brandeilige Anrufe aus dem Büro. Melde mich gegen Mittag. Dein Jürgen.‹ Sie fühlte sich schuldbewußt, daß sie nicht mit ihm erwacht war, 12
ihm nicht das Frühstück gemacht hatte, Dinge, die sie sich fest vorgenommen hatte. Das Telefon summte auf dem Nachttisch. Sie nahm hastig den Hörer ab. »Ja, bitte?« »Ihr Mann«, sagte Grete, dann knackte es, und Jürgen sagte: »Guten Morgen, Lisa.« »Deine Stimme klingt so sonderbar –« »Würde es dir etwas ausmachen, zu mir ins Büro zu kommen?« »Wann?« »So bald wie möglich. Wenn du schon gefrühstückt hast –« »Ich komme sofort«, sagte sie. Eine halbe Stunde später betrat sie sein Büro in der Leopoldstraße. Tilly, seine Sekretärin, begrüßte sie überschwenglich, die beiden Stenotypistinnen mit scheuem Lächeln; es war das erstemal, daß sie als Jürgens Frau seine Kanzlei betrat. »Ihr Mann erwartet Sie schon, gnädige Frau«, sagte die rotblonde Tilly. Sie öffnete die grüngepolsterte Tür. »Tilly, wir möchten in der nächsten halben Stunde nicht gestört werden, durch keinen Anruf, gar nichts«, sagte Jürgen und kam auf Lisa zu. Er nahm ihre Hand. »Dank dir, daß du so schnell gekommen bist.« Er war blaß unter der Sonnenbräune. »Bitte, setz dich doch.« Er schob ihr den Sessel vor den Schreibtisch zurecht. Er goß für sie beide einen Sherry ein. Lisa nippte daran, obwohl sie noch nüchtern war, sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, eine Tasse Kaffee zu trinken. Jürgen trat zum Fenster, wandte ihr den Rücken zu. »Wie gut kennst du deinen Vater?« fragte er. »Ich verstehe nicht?« sagte sie verblüfft. »Wie gut bist du mit seinen Geschäftspraktiken vertraut?« »Ich war fünf Jahre lang seine Sekretärin, aber das weißt du doch.« »Ja. Und Cora war auch eine Zeitlang bei ihm unter Vertrag, be13
vor sie zu ihrem amerikanischen Agenten überwechselte.« »Jürgen, bitte, erkläre mir doch, was das alles soll?« »Es ist ganz einfach«, sagte er, »zu einfach. Dein Vater hat mich auf eine Million Schadensersatz verklagt. Und das könnte bedeuten, daß ich beruflich am Ende bin.« Lisa sah zu Jürgen auf, dem Mann, mit dem sie seit knapp einer Woche verheiratet war, den sie genau seit zwei Jahren kannte. Sein Gesicht unter dem fast weißen Haar wirkte noch schmaler als sonst, ganz straff gespannt war die Haut über den hohen Backenknochen, als zerrten unsichtbare Hände daran. Den Ausdruck seiner Augen konnte sie nicht deuten, und sie dachte instinktiv, er hat mich gefragt, wie gut ich meinen Vater kenne – aber wie gut kenne ich eigentlich ihn? Die Sprechanlage auf seinem Schreibtisch summte, die helle Stimme seiner Sekretärin sagte: »Herr Karlsbad, Ihre ...« »Keine Störung«, unterbrach er sie scharf und schaltete das Gerät ganz aus. »Entschuldige«, er lächelte Lisa flüchtig zu; heute sah man ihm seine 47 Jahre an. »Wo waren wir gerade stehengeblieben?« »Mein Vater hat dich verklagt«, fragte sie ungläubig, »auf eine Million? Aber wie kann er das? Welchen Anlaß hast du ihm gegeben, oder gibt es keinen Anlaß?« »Ich will versuchen, es dir zu erklären«, sagte Jürgen. Er nahm die kleine Karaffe mit dem Sherry auf, goß ihnen beiden nach. »Du kennst John Singer?« »Du meinst den amerikanischen Showstar?« »Ja. Dein Vater schloß vor einem Dreivierteljahr einen Vertrag mit Singer über eine Deutschlandtournee ab.« »Wirklich?« »Singer stand zum gleichen Zeitpunkt noch bei einem amerikanischen Agenten unter Vertrag. Von diesem wiederum wollte er sich trennen, falls die Europatournee unter deinem Vater ein Erfolg wür14
de. Dein Vater war natürlich sehr daran interessiert. Wegen der Vertragsausfertigung mit Singer kam er zu mir. Singer ist in New York dafür bekannt, einerseits ein Mann mit großer Disziplin zu sein, andererseits flippt er hin und wieder aus.« »Drogen?« »Nein, Alkohol. Er ist das, was man einen Quartalssäufer nennt.« »Mein Vater wußte das?« »Ja.« »Und trotzdem nahm er Singer unter Vertrag? Mein Vater haßt Leute, die von Alkohol oder sonst irgend etwas abhängig sind.« »Genau deswegen wollte dein Vater auch einen wasserdichten Vertrag mit Singer«, sagte Jürgen. »Und deswegen kam er zu mir. Wir kannten uns aus der Zeit, als Cora noch bei ihm unter Vertrag war. Er wußte außerdem, daß ich seit einigen Jahren eng mit einer amerikanischen Anwaltsfirma zusammenarbeite und also mit dem amerikanischen Recht vertraut bin. Wir prüften den mit Singer zu schließenden Vertrag auf Herz und Nieren. Wir bauten eine ExtraKlausel ein, eine Konventionalstrafe, falls Singer aus dem bekannten Grund die Tournee nicht antreten, unterbrechen oder vorzeitig abbrechen würde. Jetzt tritt er die Tournee nicht an.« Lisa meinte: »Aber dann ist Vater doch gesichert durch die Konventionalstrafe.« »Nein, eben nicht. Ich ließ nämlich eines außer acht. Falls Singer aus Gesundheitsgründen verhindert sein sollte. Und das ist er. Singer befindet sich seit vier Wochen in einer psychiatrischen Klinik, nach einem Nervenzusammenbruch.« »Aber auch dafür muß es doch eine Absicherung, eine Versicherung geben?« fragte Lisa. »Die gibt es in diesem Falle nicht. Und dein Vater hat, wie er mir schreibt – selbst erst von der Erkrankung Singers vor zehn Tagen erfahren.« 15
»Das war noch vor unserer Hochzeit. Warum hat er nicht –« Lisa verstummte. »Dein Vater hat inzwischen Singer schon einen Vorschuß von hunderttausend gezahlt«, sagte Jürgen. »Dazu kommen die diversen Vorbereitungen der Tournee, Plakate, Zeitungswerbung, Absprachen mit dem Fernsehen, Theatermieten und so weiter. Dein Vater hat gewiß echte Einbußen erlitten, nur die Höhe – eine Million –« Jürgen hob die Schultern. »Ich besitze kaum ein Drittel in bar. Und das ist die eiserne Reserve für meinen Unkostenapparat.« »Aber bist du nicht gegen eine mögliche Sache dieser Art versichert?« »Nein, Lisa. Schau, in solchen Größenordnungen wickle ich normalerweise keine Geschäfte ab.« »Aber mein Vater muß doch versichert sein? Singer ist nicht der erste Künstler, der ihn sitzenläßt, einen Vertrag bricht!« Sie stand auf. »Und mir erscheint ebenso wie dir die Höhe des Betrages unwahrscheinlich. Gut, Theatermieten, Plakate, Werbung im allgemeinen, eine Band und so weiter –« Sie trat zu Jürgen, legte ihm den Arm um die Schultern. »Kann ich den Brief lesen, den Vater dir geschrieben hat? Darf ich mit ihm sprechen?« »Ich ziehe dich wirklich ungern in diese Sache hinein –« »Ich bin froh, daß du es tust«, unterbrach sie ihn. »Ich bin froh, weil es mir wirklich das Gefühl gibt, zu dir zu gehören.« Er griff nach ihrer Hand auf seiner Schulter, drückte sie fest. »Verstehst du, wenn ich das Geld hätte, es flüssigmachen könnte. Aber das neue Haus, dann die Unterhaltszahlungen an Cora, die Erziehung der Kinder. Ich verdiene gut, aber eine solche Summe übersteigt meine Möglichkeiten.« »Ich verstehe nur eines nicht«, sagte Lisa nachdenklich, und sie begriff es wirklich nicht, »warum hat Vater nicht zuerst mit dir gesprochen? Warum hat er dich sofort verklagt?« Jürgen antwortete nicht, und sie hatte wieder das seltsame, durch 16
nichts begründete Gefühl jäher Fremdheit. Gab es etwas, das er ihr verschwieg? Verschweigen mußte? »Wenn es dir recht ist, fahre ich heute nachmittag zu meinem Vater. Ich muß mich vorher aber erst telefonisch anmelden, du weißt, Vater hält nichts von Überraschungen.« Jürgen küßte nur stumm die Innenfläche ihrer Hand. Der Teetisch war wie üblich – und das, solange Lisa denken konnte – im Wintergarten gedeckt. Hier herrschte wie stets die laue Schwüle, die den Orchideen, die ihre Mutter zog, so gut bekam. Sofia hatte sie in den Wintergarten geführt, wie einen Besuch, der zum erstenmal im Hause war; Sofia war nun zweiundsiebzig, sie sah und hörte schlecht, und manchmal schien auch ihr Geist schon ein bißchen verwirrt, denn Lisa hatte das deutliche Empfinden, daß Sofia sie gar nicht richtig erkannte. »Ich bringe den Tee sofort«, sagte Sofia und nahm das kleine Gazetuch von der Gebäckschale, in der wie immer die winzigen petit fours aus Marzipan und Zuckerschaum lagen; ihre Mutter bezog sie aus Rottach-Egern. »Die Ehe bekommt Ihnen nicht gut«, sagte Sofia plötzlich. »Sie sind blaß, Fräulein Lisa.« »Aber Sofia«, Lisa lachte. Unwillkürlich setzte sie sich auf ihren alten Platz, den niedrigen Hocker aus Rohr, zur Linken des Schaukelstuhls ihrer Mutter. »Trotzdem ist es gut, daß Sie geheiratet haben und aus dem Haus gegangen sind«, sagte Sofia. »Warum denn?« fragte Lisa, echt neugierig. »Ich weiß, was ich weiß«, sagte Sofia nur. »Ich hol' jetzt den Tee.« Lisa blieb ein bißchen verwirrt zurück. Sie suchte ihre Zigaretten in der Handtasche, hatte sie vergessen. Sie griff nur widerwillig nach denen mit dem Goldmundstück, die ihre Mutter rauchte. 17
Sie nahm ihre Puderdose aus der Handtasche und sah, daß sie wirklich blaß war. »Titi!« Ihre Mutter war mit der ihr eigenen Lautlosigkeit eingetreten, »mein armes Kleines...« Seit zwei Jahrzehnten hatte ihre Mutter sie nicht mehr so genannt. Und sie umarmte Lisa, als sei sie ein krankes, kleines Mädchen. »Tag, Mami«, sagte Lisa und schob sie sanft, aber bestimmt von sich. »Du siehst blendend aus wie immer«, fügte sie hinzu, denn ihre Mutter erwartete dieses Kompliment. »Findest du? Wirklich? Gefällt dir meine neue Frisur? Ein bißchen gewagt, oder? In meinem Alter?« »Mami, du bist nicht alt, und du wirst nie alt sein.« »Na, na«, Helen Menken schüttelte den roten Lockenkopf. »Seitdem du verheiratet bist, spüre ich die Jahre. Und vor allem, wenn ich an das Alter meines Schwiegersohnes denke.« »Bitte, fang nicht wieder davon an.« »Nein, Titi...« »Und bitte, nenn mich nicht Titi. Das hast du nicht mehr getan, seitdem ich in die Schule gekommen bin. Und seitdem ist viel Zeit vergangen.« Sofia brachte den Tee, setzte das Silbertablett klirrend nieder, auch ihre Hände waren nicht mehr sicher. »Herr Menken hat angerufen, er wird erst eine Stunde später kommen.« »Das finde ich aber gar nicht nett«, sagte Helen, »du hast doch eine Verabredung mit Vater, oder?« »Ja«, sagte Lisa. »Etwas Wichtiges?« »Ja.« »Beruflich?« »Ja.« »Willst du nicht darüber sprechen?« 18
»Ungern.« »Du bist so sonderbar«, sagte Helen und sah sie mit ihren großen glänzenden blauen Augen an. »So kalt, so abweisend? Habe ich dich etwa verletzt?« »Nein, Mutter. Nur – ich hatte in Vaters Büro angerufen, dort hatte er keine Zeit für mich. Er bat mich hierher, und jetzt wird er sich um eine Stunde verspäten. Ich weiß wirklich nicht, ob ich so lange warten soll.« »Aber du bist doch gerade erst gekommen, und ich denke, wir beide haben uns doch bestimmt viel zu erzählen? Aber, wenn du nicht magst?« »Mami, sei nicht schon wieder beleidigt. Natürlich unterhalte ich mich gern mit dir.« »Trink erst einen Tee, das beruhigt dich«, ihre Mutter reichte ihr die halbgefüllte Teetasse. »Zucker, Sahne?« »Ja, danke.« »Nun?« fragte Helen Menken dann und ließ sich in ihren Schaukelstuhl gleiten. Ihr kniekurzes Hängerkleid aus blaßgelber Rohseide raschelte. Sie schlug ihre schmalen Knie übereinander. Sie wiegte sich im Stuhl, nippte von ihrem Tee. »Nun, bist du glücklich?« »Ja«, sagte Lisa. »Wirklich?« »Ja, Mutter.« »Weißt du, wenn man ihn so sieht, deinen Mann«, ein schneller Blick aus den blauen Augen, »man könnte ihn für kalt halten.« »Er ist sehr zurückhaltend mit Fremden.« »Und wie ist er mit dir?« »Ich bin schließlich seine Frau.« Lisa lachte, sie hörte selbst, daß es verlegen klang; erst Sofia und jetzt auch ihre Mutter schienen es darauf anzulegen. »Eine Frau braucht Zärtlichkeit«, sagte Helen Menken. »Weißt du, das ist überhaupt das Wichtigste. Ich habe Zärtlichkeit bei dei19
nem Vater immer vermißt. Ist dein Mann zärtlich zu dir?« Lisa sagte: »Bitte, Mutter. Wir haben doch früher nie über solche Dinge geredet.« »Aber du bist jetzt eine erwachsene, verheiratete Frau. Früher –« Helen hob hilflos die Schultern. »Ich habe immer ein bißchen Angst vor dir gehabt, wie vor deinem Vater...« Lisa griff nach der zweiten Zigarette, obwohl sie diese Orientmischung nicht besonders mochte. »Mache ich dich nervös mit meinem Geplapper?« fragte ihre Mutter. »Offen gestanden, ja«, sagte Lisa. »Ich habe so selten jemanden, mit dem ich mich wirklich unterhalten kann. Ich bin sehr viel allein.« »Warum gehst du nicht aus? Warum triffst du dich nicht mit Freunden?« »Ach Kind, du weißt doch, wie das heutzutage ist. Jeder hat seine eigenen Probleme. Wie du auch. Was bedrückt dich denn?« »Mutter, ich möchte vorerst wirklich nur mit Vater darüber sprechen. Es ist beruflich.« »Ist dein Mann in Schwierigkeiten?« »Wie kommst du darauf?« »Nun – du scheinst mir ein bißchen verstört zu sein, und dazu deine Nervosität, du hast in den letzten zehn Minuten viermal auf die Uhr geschaut.« »Entschuldige«, sagte Lisa. Ihr Vater kam fünf Minuten später. Er steckte den Kopf zur Tür herein, sagte: »Hier ist es mir zu schwül. Komm in mein Arbeitszimmer, Lisa.« »Sehe ich dich noch, Titi?« fragte Helen und hob ihre Wange zum Kuß. »Ja, Mutter.« Lisa folgte rasch ihrem Vater. 20
Er stand schon vor dem Likörkabinett, mischte sich den ersten Whisky – es war punkt halb sechs. »Steh nicht herum, Lisa«, sagte er. »Setz dich.« Er bot ihr nichts zu trinken an, er hielt nichts davon, wenn Frauen Alkohol zu sich nahmen. Er trank zwei Schluck, sah sie über das Glas hinweg an. »Hat dein Mann dich geschickt?« »Nein«, sagte Lisa. »Ich bin gekommen, weil ich es wollte. Du hast Jürgen wegen des Singer-Vertrages verklagt. Warum konntest du nicht zuerst mit ihm darüber sprechen? Freundschaftlich?« »Ich bin nicht mit deinem Mann befreundet. Und hier handelt es sich um eine ganz klare geschäftliche Angelegenheit.« »Ich weiß, daß du das stets auseinanderhältst. Aber Jürgen ist mein Mann.« Lisa stand wieder auf, lehnte sich nur ein wenig gegen den Schreibtisch. Sie nahm damit ganz unbewußt eine Haltung ihres Vaters ein, die sie in den wenigen Fällen, da er glaubte, sich verteidigen zu müssen, an ihm bemerkt hatte. »Gib mir bitte einen Schluck zu trinken«, sagte sie, »ich habe ebensowenig wie du etwas für Mutters parfümierten Tee übrig.« Er reichte ihr einen sehr verwässerten Whisky. Lisa nippte daran. »Warum hast du nicht mit Jürgen gesprochen?« wiederholte sie. »Du weißt doch schon seit zehn Tagen, daß der Singer-Vertrag geplatzt ist.« »Ich wollte deine Hochzeit nicht stören.« »Glaubst du, Jürgen hätte mich dann nicht geheiratet?« »Was weiß ich? Du warst ja so vernarrt in ihn.« »Ich bin jetzt mit Jürgen verheiratet«, sagte Lisa. »Und ich teile seine Sorgen. Normalerweise hat er keine oder nur die üblichen. Deine Klage aber kann unter Umständen seinen Ruin bedeuten. Außerdem halte ich sie aus meiner Erfahrung als deine Sekretärin, was ich ja schließlich fünf Jahre lang war, für verfrüht und über21
höht. Erstens kann Singer vielleicht doch noch gesund werden, zweitens müßtest du erst einmal den Beweis antreten, daß dir tatsächlich ein Schaden von einer Million entsteht.« »Der Schaden ist mir schon entstanden, das kann ich schwarz auf weiß belegen, und außerdem, Singer wird nicht wieder gesund.« »Aber Jürgen ist nicht allein für die Vertragslücken verantwortlich. Du hättest sie auch bemerken müssen.« »Dein Mann hat den Vertrag abschließend begutachtet«, sagte Rudolf Menken. »Darauf habe ich mich verlassen.« »Vater, ich glaube, es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich dich um etwas bitte. Zieh die Klage zurück, besprich dich mit Jürgen. Ich bin sicher, ihr werdet gemeinsam einen Weg finden –« »Ich kann nicht zurück«, unterbrach ihr Vater sie. Er stellte hart sein Glas ab. Er sah sie an. Seine grauen Augen waren ausdruckslos. »Ich habe alles, was ich besitze, in diesen Singer-Vertrag investiert. Ich muß zu retten versuchen, was zu retten ist.« »Aber – du, der immer so vorsichtig war?« »Du hast Singer nie erlebt«, sagte er, »du weißt nicht, welch ein ungeheures Show-Talent er ist. Und nicht nur das. Er kann singen. Er stellt sie alle in den Schatten, die großen Alten wie Sinatra und Crosby, von den Jungen ganz zu schweigen. Auf meiner Tournee sollte ich ihn damit herausbringen. Auf meiner Tournee! Ein Star sollte geboren werden, verstehst du, hier in München. Und er sollte mein Geschöpf sein.« »Und alle sollten sagen in der Branche, Menken hat ihn gemacht – ist es das, Vater?« »Ja«, sagte er. Er trat zur Tür und öffnete sie. Lisa ging an ihm vorbei. Sie wartete darauf, daß er noch etwas sagen würde, irgend etwas, aber er schloß nur die Tür seines Arbeitszimmers hinter ihr. 22
Sie machte kein Licht im Flur, kannte sich zu gut aus. Der Velours verschluckte den Laut ihrer Schritte. Doch plötzlich hatte sie das Gefühl, als falle sie ins Nichts. Aber dann war sie in der Halle. Sofia stand neben der Garderobe, nahm die kurze helle Breitschwanzjacke vom Haken, Jürgens Verlobungsgeschenk. »Behüt' Sie Gott«, sagte Sofia leise, und als Lisa sie überrascht anschaute, sah sie Tränen in den alten Augen. Sie küßte die alte Frau auf die Wange. »Danke, Sofia.« Sie ging nicht mehr in den Wintergarten, verließ direkt das Haus ihrer Eltern, lief durch den verschneiten Vorgarten, hinaus auf die Straße. Erst einen Häuserblock weiter hielt ein leeres Taxi. Sie gab ihre Adresse in Schwabing an, stieg ein. Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Sie dachte, sind das meine Eltern? Meine Mutter, die kaum mit Anstand altern kann? Mein Vater, vom Ehrgeiz zerfressen? Wieso habe ich sie nie so gesehen? Wieso sind sie mir beide bis vor sechs Tagen noch wie ganz normale, durchschnittliche Eltern vorgekommen, die natürlich wie alle Menschen ihre Eigenheiten und Launen haben? Warum habe ich nicht anders mit meinem Vater reden können? Warum ihn nicht wirklich bitten können, Jürgen zu schonen? Jürgen war nicht zu Hause. Lydia, ihre Stieftochter, lag auf dem weißen, wolligen Filzteppich aus Afghanistan vor dem Kamin; ein Glas, eine Flasche Pernod und eine Karaffe mit Wasser in Reichweite. »Du mußt vorerst mit mir allein vorliebnehmen«, sagte Lydia und sah sie, den Kopf in die Hand gestützt, von der Seite an. »Tu ich gern.« Lisa setzte sich in den Sessel, der dem Feuer am 23
nächsten stand. Sie fror, obwohl das Taxi überheizt gewesen war. »Peter ist mit seiner Band unterwegs.« »Er musiziert?« fragte Lisa überrascht. »Falls du Schlagzeug und Soul dazu rechnest?« »Ja«, sagte Lisa einfach. »Grete ist beim Friseur.« »Heute? Sie hat doch erst am Donnerstag ihren freien Tag.« »Ich habe es ihr erlaubt.« »Na, schön.« »Falls es dich ärgert, tut es mir leid.« »Es ärgert mich nicht.« »Ja, und Vater ist im Conti. Du brauchst nicht auf ihn zu warten.« »Hat er mir das ausrichten lassen?« »Würde ich es sonst sagen?« Lydia sah sie mit hochgezogenen Brauen an. »Gut. Dann geh ich jetzt nach oben und ziehe mich um«, sagte Lisa. »Anschließend mach' ich uns etwas zu essen.« »Mich laß aus, ich ernähre mich lieber flüssig.« »Glaubst du, daß das gut für dich ist?« Lydia betrachtete sie spöttisch. »Stört es dich?« »Nein – es ist nur nicht sehr gesund.« »Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen.« »Und wenn ich es doch täte?« Lydia zuckte die Schultern. Sie wandte den Kopf und schaute in die Flammen. »Du kennst mich nicht. Außerdem stamme ich aus Vaters erster Ehe. Ich sehe aus wie meine Mutter.« »Und du meinst, das müßte mich stören?« fragte Lisa. Sie setzte sich wieder, diesmal auf die Sessellehne. »Tut es das nicht?« »Nein, Lydia. Als ich kaum so alt war wie du, habe ich deine 24
Mutter zum erstenmal gesehen. Sie war damals ein großer Star.« »Das ist sie auch heute noch!« »Es war ihre letzte Rolle vor ihrem Autounfall. Und sie kam zu meinem Vater in die Agentur. Sie war so schön und so klug und so – liebenswert, all das, was eine Frau sein sollte, daß sie für mich zum Vorbild wurde.« »Wie rührend«, sagte Lydia, »dann macht es dir ja auch gewiß nichts aus, daß Vater heute abend im Conti mit Mutter zusammen ist.«
3
C
ora kam mit den ihr eigenen zögernden und vielleicht daher so geschmeidigen Schritten auf ihn zu. Der Conti-Grill war voll besetzt, und die Stimmen der Gäste schallten von den Gewölben der Decke wieder. Aber jetzt, da Cora Carlson eingetreten war und den Raum durchquerte, sanken die Stimmen zu einem gedämpften Murmeln herab, verstummten ganz, und ohne daß Jürgen Karlsbad selbst seine geschiedene Frau aus den Augen ließ, wußte er, daß alle Blicke ihr folgten. Cora war so zart – wie aus Glas gesponnen und auch ein wenig spröde. Sie trug das blonde Haar in der Mitte gescheitelt und glatt. Sie trug ein schmales Nichts von einem schwarzen Kleid, das aber, wie er Cora kannte, erst nach mindestens zehn Anproben entstanden war und ein Vermögen gekostet hatte. Sie trug keinen Schmuck, nur den Smaragdring, den er ihr zu der 25
Geburt ihres jüngsten Sohnes Horst geschenkt hatte. Jürgen beugte sich über Coras Hand, ein Duft ging von ihr aus, süß und bitter zugleich, ein Parfüm, das ihr Geheimnis war; Jürgen hatte es in zweiundzwanzig Ehejahren nicht ergründen können. »Lieber Jürgen«, sagte Cora mit ihrer vollen, dunklen Stimme. »Wie schön, dich wiederzusehen.« Und er wußte, daß jetzt alle Ohren lauschten. Er schob ihr den Stuhl zurecht. Ihr Mund lächelte, es waren volle, geschwungene Lippen, ihre Augen, so kunstvoll umschattet, sahen ihn fragend an. »Du hast Zeit für mich, heute abend, wirklich?« »Ja«, sagte er nur. Er dachte daran, wie er sie zum erstenmal gesehen hatte; da hatte sie ihn das gleiche gefragt. ›Sie haben Zeit für mich?‹ Als sei es das größte Geschenk, das man ausgerechnet ihr machen könnte. Sie hatte damals die Ophelia in Düsseldorf gespielt, er war ein Jurastudent gewesen, ewig knapp bei Kasse und schon bis zur Tölpelhaftigkeit in sie verliebt. »Was möchtest du trinken?« fragte er. »Immer noch das gleiche...« Er bestellte zwei trockene Martinis, keine Cocktails, ganz einfach Dry Martini auf Eis; vor zweiundzwanzig Jahren war das gerade in Mode gewesen. Und er wußte genau, was als nächstes geschehen würde. Coras Lieblingsmelodie klang über die Stereoanlage auf. ›C'est si bon.‹ »Wie bringst du das nur fertig?« fragte er. »Was meinst du, lieber Jürgen?« fragte sie unschuldig. »Ich glaube, ich habe noch nie in einem Lokal mit dir gesessen, wo es Musik gab, in dem wir nicht ›C'est si bon‹ gehört hätten.« Sie lachte. Dann sah sie wie ein junges Mädchen aus – wie Lydia. »Pures Wunschdenken. Es ist schön, dich wiederzusehen.« Ihre 26
Augen waren schon wieder ernst. »Du sagst das, als wären Jahre seit dem letztenmal vergangen. Es ist aber exakt nur vierzehn Tage her.« »Mir kommt es viel länger vor.« Sie senkte die Lider. Jetzt sah er, daß sie silbrig gepudert waren. »Vielleicht kommt es daher, daß ich älter werde und mir jeder Tag doppelt lang vorkommt?« »Du warst gestern ausgezeichnet in deinem Fernsehspiel.« »Danke. Aber du hast es doch bestimmt gar nicht gesehen?« »Ich habe die Kritik in der Abendzeitung gelesen.« »Früher hast du nie meine Kritiken gelesen.« »Cora, warum bist du nach München gekommen? So plötzlich? Und wo ist Horst? Warum hast du ihn nicht mit heruntergebracht?« »Drei Fragen auf einmal. Du hast dich nicht geändert.« Wieder lächelte sie. »Wollen wir nicht erst auswählen. Ich möchte gern drei Austern und ein kleines Kalbssteak nature. Nur ein wenig Kräuterbutter und grüne Bohnen dazu.« Er selbst entschied sich für ein Pfeffersteak. Cora trank einen weißen, er einen roten Chateauneuf du Pape. »Ich verhandele wieder in München«, sagte sie dann. »Menken hat mir einen ausgezeichneten Vertrag angeboten.« »Ich dachte, du wolltest dich nicht wieder an einen deutschen Agenten binden?« »Ich wollte vorher mit dir darüber sprechen, da es ja sein könnte, daß es dich stört. Menken ist schließlich der Vater deiner – Frau, dein Schwiegervater.« »Es stört mich nicht«, sagte Jürgen, aber es störte ihn sehr. Ausgerechnet jetzt. Er wollte nicht, daß Cora von seinen Schwierigkeiten mit Menken erfuhr, und wie er sie kannte, würde sie das tun oder wußte schon davon. »Ich bin froh, daß es dich nicht stört«, sagte sie, »Menken ist der anständigste unter den Agenten, glaube ich. Und allein, weißt du, 27
bin ich den Verhandlungen einfach nicht mehr gewachsen. Es geht heutzutage hart her an den Theatern und in den Fernsehstudios.« »Du brauchst ja nicht zu arbeiten, wenn du nicht willst«, sagte Jürgen. Er zahlte ihr zweitausend Mark im Monat freiwillig, durch nichts verpflichtet, davon konnte sie doch gewiß leben. »Das weiß ich, und ich verdanke es dir«, sagte sie. »Aber wir haben uns schließlich scheiden lassen, weil ich zur Bühne zurück wollte, nicht wahr? Weil ich wußte, daß ich nicht beides zur gleichen Zeit sein konnte, deine Frau und eine gute Schauspielerin. Ich bin kein Mensch, der sich teilen kann.« »Du hast auch gespielt, während wir verheiratet waren.« »Ja, natürlich. Aber doch nur nebenbei. Ganz selten. Und denk an meinen Autounfall. Es wäre nie passiert, wenn ich nicht zur rechten Zeit, wenn ich nicht pünktlich zu Peters Geburtstag hätte zu Hause sein wollen.« Er sagte nichts. Er dachte daran, wie sie in jenen Wochen nach dem Unfall ihre Stimme verloren gehabt hatte. Es ist nur der Schock, hatten die Ärzte gesagt. Nur der Schock. Aber Cora hatte ihn, Jürgen – gar nicht einmal bewußt vielleicht –, dafür verantwortlich gemacht. Denn er hatte sie gebeten, zum Geburtstag des Jungen nach Hause zu kommen. Da hatte es begonnen, daß sie sich auseinanderlebten. Und daran hatte sich auch nichts geändert, als Horst ein knappes Jahr später geboren wurde. »Wo ist Horst?« fragte er noch einmal. »In Hamburg.« »Du hast ihn allein zu Hause gelassen?« »Aber nein. Er – nun«, ihre Stimme veränderte sich, wurde um ein weniges härter, »du mußt es ja sowieso erfahren. Horst liegt im Krankenhaus. Er hat ein nervöses Fieber. Die Ärzte können sich nicht erklären, woher es kommt. Sie halten eine seelische Ursache 28
für möglich.« »Wann ist es zum erstenmal aufgetreten?« fragte Jürgen und sah sie voll an. »Nach deinem Anruf, als du mir sagtest, wann du heiraten würdest.« Wieder senkte sie den Blick. »Aber wieso hat der Junge das überhaupt mitgekriegt?« »Das war meine Schuld. Ich –«, und dann sagte sie es ganz schnell, »ich habe so geweint.« Jürgen brachte eine ganze Weile lang kein Wort heraus. Er schnitt einen Bissen von seinem Steak ab, führte die Gabel zum Mund, kaute, schnitt wieder, schluckte, kaute. Ganz automatisch. »Cora, das glaube ich dir nicht«, sagte er schließlich. Er legte das Besteck auf den Teller. »Du wußtest seit langem, daß ich wieder heiraten wollte. Du wußtest, daß ich Lisa liebe. Es kann keine Überraschung gewesen sein für dich. Und selbst, wenn es eine war. Wir haben uns freundschaftlich getrennt. Wir haben uns als Freunde vor zwei Jahren scheiden lassen. Das war lange bevor ich Lisa überhaupt richtig kennenlernte.« »Daran hat sich auch nichts geändert«, sagte Cora schnell. »Ich meine, an unserer Freundschaft.« »Sogar unsere Kinder haben verstanden, warum wir uns trennten«, fügte er hinzu. »Sie wußten, daß wir im Grunde genommen zu verschieden voneinander sind. Womit ich nicht sagen will, daß ich unsere Ehe bereue. Denn das tue ich nicht. Aber wir beide wußten vor zwei Jahren, daß wir nicht mehr weiter zusammenleben konnten, und haben daraus die Konsequenzen gezogen. Daß ich die Kinder behielt, war ebenfalls in deinem Sinne.« »Du hast mit jedem Wort recht«, sagte Cora. Ihre Augen waren klar und schienen ganz offen. »Aber ich bitte dich heute, laß mir Horst. Ich bitte dich nicht um meinetwillen, ich bitte dich, weil der Junge es möchte.« 29
Jürgen lehnte sich zurück. »Deswegen wolltest du mich also sehen?« »Ja, deswegen vor allem bin ich nach München gekommen.« »Horst geht hier zur Schule. Er hat hier seine Freunde. Hier in München ist er aufgewachsen.« »Er hat mir gesagt, daß er die Schule wechseln muß, weil du umgezogen bist.« »Inzwischen nicht mehr. Lisa war und ist bereit, ihn jeden Morgen zu seiner alten Schule zu bringen und ihn mittags wieder abzuholen. Das gleiche gilt für seine Freunde.« »Würde es dich sehr verletzen, wenn ich dir sage, daß er deine zweite Frau nicht mag.« »Lisa? – Aber das ist doch ein Witz. Die beiden waren ein Herz und eine Seele an dem Nachmittag, als wir draußen in Hellabrunn waren.« »An einem einzigen Nachmittag«, sagte Cora und lächelte verzeihend, »und als der Junge noch gar nicht wußte, daß du Lisa heiraten wolltest. Für ihn ist das jetzt etwas ganz anderes.« »Also schön«, sagte Jürgen. »Er bildet sich also jetzt ein, Lisa nicht mehr zu mögen, weil ich sie geheiratet habe. Und du erklärst mir, daß er wahrscheinlich deswegen einen seelischen Schock erlitten hat. – Wenn ich einverstanden wäre, daß er von jetzt ab bei dir bleibt, was tust du, wenn du wegen Fernsehaufnahmen unterwegs sein mußt? Was tust du, wenn du auf Tournee gehst? Was tut der Junge, wenn du Abend für Abend auf einer Bühne stehst? Wer kümmert sich um ihn?« »Das ist das große Problem«, sagte Cora, »das ich selbst lösen muß.« »Du mußt dir doch schon Gedanken darüber gemacht haben?« »Das habe ich. Obwohl ich im Augenblick noch keine Lösung weiß. Aber, wenn du das gelesen hast, wirst du wissen –« Sie verstummte, nahm einen kleinen zusammengefalteten Zettel aus ihrer 30
schwarzseidenen Abendtasche. »Horst hat es geschrieben und mir für dich mitgegeben.« ›Lieber Vati‹, las er, ›bitte, sei mir nicht böse, aber ich habe erkannt, daß ich nur einen Menschen richtig liebhabe, und das ist Mutti. Bitte, sei mir nicht böse, und laß mich immer bei ihr bleiben. Dein Sohn Horst.‹ Er biß die Zähne zusammen, er sagte nichts. Was sollte er darauf noch zu sagen haben? »Es tut mir weh für dich«, sagte Cora nach einer Weile. »Ich weiß, daß du besonders an Horst hängst. Aber es ist seine Entscheidung, nicht wahr?« »Ja«, sagte Jürgen. »Es ist seine Entscheidung.« Aber konnte ein zwölfjähriges Kind schon eigene Entscheidungen treffen? Danach gab es nicht mehr viel zu reden. Sie verzichteten beide auf ein Dessert, tranken nur noch einen Kaffee. Cora sagte, daß sie müde sei, und sie sah auch erschöpft aus. Er brachte sie noch zum Fahrstuhl, dann verließ er das ContiHotel. Es schneite in dicken Flocken, die Luft war sonderbar lau. Jürgen Karlsbad ging zum Maximiliansplatz hinüber, lief über die schmalen Wege der Anlagen. Er hatte Horst verloren. Er wollte es ganz nüchtern betrachten, ganz klar und objektiv – das Kind hatte sich für seine Mutter entschieden. Er wollte es respektieren, aber er konnte es nicht. Er ballte die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten. Es tat einfach zu weh. Nie mehr das helle Lachen des Jungen zu hören, nie mehr seine plötzlichen Zärtlichkeitsausbrüche zu erleben, wenn er zu ihm gerannt kam und stumm und außer Atem die Arme um seinen Hals schlang. 31
Nie mehr sein von Wind und Sonne gerötetes Gesicht beim Segeln auf dem Tegernsee sehen. Nie mehr seine strahlende Begeisterung erleben, wenn der Knirps ihn im Tennis geschlagen hatte. Und nie mehr die Wanderungen am Sonntag durch den Wald; nur Horst hatte sie von ihm geerbt, diese direkte Liebe zur Natur. Dieses In-sich-Hineintrinken der Jahreszeiten, der Farben und Gerüche von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ein Bauer wäre besser aus ihm geworden oder ein Förster, und nicht ein Anwalt, weil es die Familientradition so vom einzigen Sohn verlangte. Jürgen Karlsbad wischte den Schnee von einer Bank, setzte sich. Die Luft roch nach den Abgasen der ewigen Wagenkette, die sich um den Platz schlang. Vati, sei nicht traurig, daß Mutti weggegangen ist, hatte Horst vor zwei Jahren gesagt, sei nicht traurig, ich bleibe ja bei dir... Und jetzt wollte er bei Cora bleiben. Ruhelos, wie Jürgen war, stand er wieder auf, lief wieder durch die Anlagen, kreuz und quer über die verschneiten Wege. Ich muß mit ihm reden, dachte er, ich kann nicht einfach so auf ihn verzichten. Aber damit stürzt du den Jungen in einen neuen Zwiespalt. Er hat sich entschieden. Du hast es schwarz auf weiß gesehen. Er hat sich für Cora entschieden. Warum, dachte Jürgen und begriff es einfach nicht, warum? Was habe ich falsch gemacht? Schließlich fuhr er nach Hause, er war lange in den kleinen Anlagen auf dem Maximiliansplatz herumgelaufen. Lisa hörte den Wagen und wie Jürgen das Haus betrat. Sie hörte die Standuhr in der Halle und zählte die Schläge, zwei Uhr. 32
Sie lag ganz still, machte kein Licht. Wenn Jürgen es wünschte, sollte er glauben, sie schliefe schon. Er war mit Cora zusammengewesen, den ganzen Abend. Sie empfand keine Neugierde und keine Eifersucht. Sie dachte nur, und wußte nicht warum, hoffentlich hat sie ihm nicht weh getan. Warum sollte Cora ihm weh tun? Jetzt, mit einemmal? Sie waren seit zwei Jahren geschieden. Und alles, was Lisa wußte, war, daß sie sich in Freundschaft getrennt hatten. Sie lag ganz still, aber nach einer Weile begann ihr Rücken zu schmerzen, und da erst bemerkte sie, wie verkrampft sie war. Sie drehte sich auf die Seite und sah die Leuchtziffern der Uhr. Schon mehr als eine halbe Stunde war seit Jürgens Heimkehr vergangen. Warum kam er nicht herauf? Sie wartete noch eine Viertelstunde, dann stand sie auf, warf den Morgenmantel über, ging hinunter. Jürgen saß vor dem Kamin, in dem die Scheite längst verglüht waren, die Fenstertür zur Terrasse war gekippt, und es war frostig kalt. Jürgen hielt ein Glas in der Hand, hob es, trank davon, und dann erst, ohne den Kopf zu wenden, fragte er: »Lisa?« »Ja?« Sie trat neben ihn. »Ich hörte dich nach Hause kommen. Ich dachte, vielleicht möchtest du noch etwas? Ich –« Er griff nach ihrer Hand, zog sie neben sich auf die Couch, legte den Arm um ihre Schultern. »Lisa, ich war mit Cora zusammen, heute abend.« »Ja?« »Ich – sie hat mir etwas gesagt, was –«, er verstummte, setzte neu an. »Horst möchte nicht zu uns zurückkommen.« Sie zuckte zusammen, und seine Hand schloß sich ganz fest um ihre Schulter. »Ist es meinetwegen?« 33
»Ja und nein. Du weißt, daß Horst dich gerne mag. Erinnerst du dich noch, als wir in Hellabrunn waren? Das war ein schöner Sonntag. Mein Gott, haben wir einen Spaß gehabt!« »Jürgen«, sagte sie, »Jürgen, bitte, was kann ich tun?« »Nichts, gar nichts. Lisa, wir müssen es durchstehen. Das ist alles.« »Jürgen, du mußt noch mal mit ihm sprechen. Jürgen, du mußt –« »Er liegt im Krankenhaus, Lisa. Er hat Fieber. Die Ärzte sagen, es ist ein Schock. Wenn ich zu ihm führe, natürlich möchte ich das, aber – so ein kleiner Mensch. Ich schade ihm doch bloß. Ich kann ihn doch nicht noch mal vor die Wahl stellen. Er hat sich entschieden, er hat es mir geschrieben.« »Jürgen, schlaf drüber. Jürgen, versuch jetzt nicht mehr daran zu denken.« Es war alles falsch, was sie sagte, sie konnte es ihm nicht erleichtern. »Nimm eine Schlaftablette«, sagte sie trotzdem, »nimm irgend etwas, damit du zur Ruhe kommst. Und morgen überlegen wir, was man tun kann.« Es fehlt nur noch, daß ich sage, morgen sieht alles ganz anders aus, dachte sie hilflos. »Ich habe übrigens Peter zugehört«, sagte sie, um ihn abzulenken. »Er hat mir Platten vorgespielt, von seiner Band. Er ist ein guter Schlagzeuger. Er ist wirklich gut, weißt du. Und die Bilder –« »Was für Bilder?« »Seine Aquarelle –« »Du willst doch nicht sagen, daß Peter malt?« »Das weißt du nicht?« Zum erstenmal sah Jürgen sie voll an. Seine Augen waren gerötet und hatten einen verletzten Ausdruck. »Nein«, sagte er nur. »Vielleicht hat Peter gedacht, er ist nicht gut genug. Weißt du, er hat einen großen Respekt vor dir. Ich meine, er –« 34
»Ich kenne meine eigenen Kinder offenbar nicht«, unterbrach Jürgen sie. »Ist das nicht komisch? Was tut Lydia, von dem ich nichts weiß? Lydia ist eine gute Schülerin, besonders in Sprachen. Sie hat noch keinen festen Freund. Bisher kommt sie abends früh nach Hause. Aber was tut sie sonst? Was tut sie beispielsweise jetzt? Schläft sie, liest sie, wovon träumt sie? Oder ist sie vielleicht gar nicht zu Hause?« »Natürlich ist sie zu Hause«, sagte Lisa. »Sie ist schon um neun Uhr schlafen gegangen. Sie ist ein ganz normales junges Mädchen. Genauso wie Peter ein ganz normaler junger Mann ist.« »Der dir als einzigem Menschen oder sogar als erstem seine Aquarelle zeigt.« »Es war ein Zufall. Wir kamen drauf zu sprechen, daß wahrscheinlich jeder Mensch irgendeine künstlerische Ader hat und man sie nur wecken muß.« »Und was für eine künstlerische Ader hast du, von der ich auch noch nichts weiß?« »Gar keine. Das ist es ja eben. Ich bin ganz simpler Durchschnitt.« Es sollte lustig klingen, aber das tat es nicht. »Gott sei Dank«, sagte Jürgen, »dann bin ich wenigstens bei dir vor Überraschungen sicher.« Er zog seinen Arm von ihren Schultern. »Na schön, dann laß uns beide mal schlafen gehen.« Sie gingen stumm nach oben. Jürgen kleidete sich im Bad aus. »Gute Nacht«, sagte sie, als er das Licht ausgeknipst hatte. »Gute Nacht, Lisa.« Sie wagte nicht, die Hand nach ihm auszustrecken. Er drehte sich unruhig hin und her, auch als er schon eingeschlafen war. Er stöhnte im Schlaf, und sie dachte daran, daß er sie nicht nach ihrem Besuch bei ihrem Vater gefragt hatte. Sie hatte nichts erreicht, ihr Vater zog die Schadensersatzklage 35
gegen Jürgen wegen des Singer-Vertrages nicht zurück. Morgen würde sie es ihm sagen müssen. Morgen war eben doch ganz gewiß kein besserer Tag. Lisa schlief nicht in dieser Nacht, aber das machte ihr nicht allzuviel aus; als sie noch bei ihren Eltern lebte, hatte sie oft nächtelang nicht schlafen können, weil ihre Mutter ihre Migräne oder Erstickungsanfälle hatte; meist, wenn ihr Vater auf Reisen war. Lisa stand ganz leise auf, als es Tag wurde. Sie ging hinunter in die Küche und bereitete das Frühstück für sie alle vor. Sie richtete einen Obstsalat an, preßte Orangensaft, sie buk die knusprigen Pfannkuchen aus der elsässischen Heimat ihrer Großmutter, die entweder mit Honig bestrichen oder mit Puderzucker bestäubt gegessen wurden. Peter kam als erster herunter, ausgeschlafen, strahlend. »Ist schon Weihnachten? Mhm –«, er schnupperte, »wie toll das riecht!« Jürgen erschien noch ein bißchen verschlafen, aber schon rasiert und nicht mehr so deprimiert. »Lisa, sag bloß, das sollen wir alles vertilgen? Das ist ja das reinste Schlaraffenland. – Aber du, sag mal, in der Küche? Hoffentlich muckt Grete nicht dagegen auf?« »Hier ist es so gemütlich.« Sie lächelte. »Die Eckbank haben wir doch extra deswegen ausgesucht. Und Grete soll mit uns frühstücken. Du hast doch nichts dagegen?« Grete kam heiser und verschnupft. »Ich hab' Fieber«, verkündete sie, und Lisa schickte sie kurz entschlossen mit einer heißen Tasse Tee ins Bett zurück. »Müssen wir auf Lydia warten?« fragte Peter. »Die Pfannkuchen fallen bestimmt in sich zusammen.« »Ich hole sie«, sagte Lisa lachend. Es war richtig gewesen, dachte sie, als sie die Treppe hinauflief. Man mußte einfach ganz normal reagieren, sich einfach nicht un36
terkriegen lassen. »Lydia!« sie klopfte an ihre Tür. »Frühstück ist fertig!« Keine Antwort. »Lydia!« Die Tür war nicht verschlossen, das Bett war unbenutzt. Auf dem Kopfkissen lag ein Zettel. ›Ihr braucht mich nicht zu suchen, ich komme nie mehr zurück.‹ »Lisa, wo bleibt ihr denn?« rief Jürgen nach einer Weile aus der Küche, und dann, »Peter, sieh doch mal nach.« Sie hörte den Jungen die Treppe heraufkommen. Sie zerknüllte den Zettel in ihrer Hand, drehte sich um, sah Peter an, lachte und sagte, »ich hab's ganz vergessen gehabt. Lydia ist ja schon in aller Herrgottsfrüh raus. Zum Reiten.« »Zum Reiten?« fragte Peter erstaunt. »Ihre erste Stunde. Sie hat sich gestern ganz überraschend dazu entschlossen.« »Lisa, du machst so ein komisches Gesicht?« »Aber was«, sie griff nach seinem Arm, »komm, wir gehen runter. Ich hab' jetzt auch einen mordsmäßigen Hunger.« Jürgen glaubte, was sie ihm sagte. »So, reiten? Ist das nicht ein bißchen kostspielig?« »Seit wann wird denn bei uns beim Essen über Geld geredet?« grinste Peter. »Wenn's nötig ist«, sagte Jürgen. Sie frühstückten. Lisa ermunterte sie zum kräftigen Zulangen, aber die Fröhlichkeit wollte nicht wieder aufkommen, mit der sie den Tag begonnen hatten. »Zum Reiten, komisch«, wiederholte Jürgen, als sie ihn nach draußen zum Wagen brachte. »Lydia hat doch immer Angst vor Pferden gehabt.« »Vielleicht will sie es gerade deswegen lernen?« »Na schön«, er küßte Lisa auf die Wange. »Kannst recht haben.« 37
»Kommst du zum Mittagessen heim?« »Ich rufe dich an.« Er sah sie an und fügte hinzu. »Du bist so hübsch heute morgen, Liebes. Ich wünschte –«, er schüttelte den Kopf. »Ich benehme mich wie ein Pennäler. Das macht deine Jugend.« Er stieg in den Wagen, sie winkte ihm noch nach, dann kehrte sie ins Haus zurück. Peter hatte den Frühstückstisch abgeräumt, war dabei zu spülen. »Aber das brauchst du doch nicht«, sagte Lisa verlegen und zugleich gerührt. »Ich habe doch den ganzen Morgen Zeit.« Er sah sie über die Schultern hinweg ein wenig spöttisch an. »Was du doch für eine schlechte Lügnerin bist, Lisa.« »Wie meinst du das?« Peter sagte zynisch: »Lydia ist durchgebrannt, oder?« Jetzt mußte sie sich setzen, jetzt trugen ihre Beine sie nicht mehr. »Ja.« »Aber warum hast du es Vater verschwiegen? Warum willst du ihn schonen? Was kannst du damit ändern?« »Ich muß Lydia suchen und finden! – Peter, du kennst doch ihre Freunde, ihre Freundinnen –« »Sie hat wenige Freunde. Dazu ist sie zu eigen.« »Aber du hilfst mir doch, sie zu suchen?« »Natürlich«, sagte er. »Aber warum hast du es Vater verschwiegen?« »Er hat genug Sorgen.« »Was für Sorgen? Wegen Mutter?« »Horst kommt nicht hierher zurück, und du weißt, wie sehr dein Vater an ihm hängt.« Peter fragte: »Wie hat sie das geschafft?« »Was meinst du?« 38
»Na, wie Mutter das fertiggebracht hat?« »Es ist nicht ihre Schuld. Horst will es so.« »Das glaube ich nicht.« Peter lachte ungläubig, und irgendwie klang es wütend. »Horst hängt so an Vater, daß er gar nicht ohne ihn sein kann. Wenn er zu Mutter sollte, hat er sich immer mit Händen und Füßen dagegen gewehrt.« »Ich kann gar nichts dazu sagen, das verstehst du sicher?« Lisa stand auf. »Ich zieh' mich schnell um, und dann müssen wir losfahren.« »Okay!« Peter räumte die Teller in den Schrank, wusch sich dann umständlich die Hände. Lisa lief hinauf ins Schlafzimmer, zog sich um. Es war kalt draußen, also gefütterte Stiefel, einen warmen Jerseyanzug. Peter trug eine Lammfelljacke und Jeans. Er ließ vor der Garage den Zweitwagen schon warmlaufen. »Du, wir haben Grete ganz vergessen, müssen wir nicht einen Arzt für sie rufen?« fragte Lisa. »Nicht nötig. Der Arzt muß erst noch erfunden werden, den Grete an sich ranläßt. Sie kuriert sich immer selbst. Früher, als wir noch Kinder waren, hat sie uns auch mit den Kräutermixturen ihrer Heimat versorgt. Scheußlich bitter, das Zeugs, aber wirksam.« »Woher stammt Grete eigentlich?« fragte Lisa. »Aus der Heide, bei Lüneburg. Ihre Mutter war schon im Elternhaus von meiner Mutter. Grete ist eine komische Person, das wirst du noch merken.« »Wohin fahren wir? Als erstes, meine ich?« fragte Lisa. »Da gibt es so einen Typ, mit dem war Lydia mal befreundet. Er haust ziemlich abenteuerlich, aber stör dich nicht daran, er ist in Ordnung.« Die abenteuerliche Behausung entpuppte sich als der ehemalige Pferdestall eines Gehöftes, gar nicht weit vom Flughafen MünchenRiem. 39
Ein baumlanger junger Mann kam ihnen entgegen, mit blondem Haar bis auf die Schultern. »Grüß dich, Peter«, sagte er und blickte Lisa mit farblosen Augen an. »Lange nicht gesehen. Was macht Lydia?« »Das wollten wir dich fragen. Ist sie während der Nacht oder heute morgen bei dir aufgetaucht?« »Nein. Aber kommt doch herein.« Sie traten in den Stall, die ehemaligen Pferdeboxen dienten dem jungen Mann als Schlafkoje, Werkstatt – er war Bildhauer – und Wohnraum. »Möchtet ihr einen Kaffee?« »Nein, danke«, sagte Lisa. »Janos, das ist übrigens Lisa, meine – die zweite Frau meines Vaters.« Der junge Mann nahm ihre Hand, betrachtete sie lange und aufmerksam. »Ihre Hände sind in Ordnung«, sagte er zu Peter. »Sie ist überhaupt in Ordnung.« Peter lachte. »Bitte, Janos«, sagte Lisa, »können Sie uns irgendwie weiterhelfen. Lydia ist durchgebrannt.« »Sie kommt zurück«, sagte Janos ungerührt. »Na schön. Dann auf bald.« Peter nahm Lisas Arm, führte sie wieder nach draußen. »Fehlanzeige«, sagte er lakonisch. »Vielleicht ist Lydia zu deiner Mutter gefahren? Sie ist sicher noch im Conti.« Lisa hatte schon die ganze Zeit über an diese Möglichkeit gedacht, aber nicht den Mut gefunden, dort anzurufen. »Im Conti ist sie nicht. Wir fahren jetzt zum Flughafen. Und sei nicht so traurig, Lisa. Es ist ja nicht deine Schuld.« »Ob Schuld oder nicht, meinetwegen ist Lydia fortgegangen.« »Du siehst das ganz falsch«, sagte Peter bestimmt. »Lydia steckt noch London in den Knochen. Sie wäre am liebsten sowieso dageblieben.« »Wegen eines Jungen?« 40
»Ja.« »Aber dein Vater glaubt –« »Natürlich glaubt er das.« Peter sah sie schnell von der Seite an. Er lächelte. »Jeder Vater glaubt das, selbst wenn seine Tochter ihn längst zum Großvater gemacht hat.« Lisa mußte trotz allem lachen. »Ach, Peter«, sagte sie, »ich bin so froh, daß du mich magst – wenigstens hab' ich den Eindruck.« Er antwortete nicht. Eine ganz feine Röte stieg in seine Wangen, die die gleiche Linie wie Jürgens hatten; aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Plötzlich waren sie beide ein bißchen verlegen. »So, da wären wir«, sagte Peter überflüssigerweise, als sie vor dem Eingang ›ABFLUG‹ hielten. Lisa stieg aus. Während Peter noch einen Parkplatz suchte, lief sie schon in die Halle. Ihr erster Blick galt der großen, schwarzen Tafel, mit den Ankunfts- und Abflugszeiten. Die grünen Abrufleuchten eines London-Flugs blinkten. Lisa lief zur Auslandssperre. »Ihren Paß bitte – Ihre Flugkarte.« Sie reichte dem Beamten ihren Paß. »Ich fliege nicht nach London, aber bitte, lassen Sie mich einen Moment durch. Meine Tochter ist wahrscheinlich auf diesem Flug gebucht, ich muß sie noch dringend sprechen.« »Das geht nicht, die Sicherheits –« »Ich bitte Sie, nur einen Moment –« »Es ist ohnehin zu spät«, sagte eine Stewardeß neben ihr. »Der London-Flug ist schon abgefertigt.« »Ja, danke«, murmelte Lisa. Peter kam ihr entgegen, nahm ihren Arm, steuerte sie zum Restaurant. Er bestellte einen Tee und einen Cognac für sie. Für sich selbst 41
ein Selterswasser. »Ich hätte die Stewardeß fragen sollen, ob Lydia ihr aufgefallen ist.« »Frauen fällt Lydia nie auf. Sie wollen sie nicht sehen. Mit Männern ist das ganz was anderes«, sagte Peter unbekümmert. »Ich laß dich jetzt ein paar Minuten allein. Drück mir die Daumen.« Lisa sah ihm nach und dachte ganz spontan, lieber Gott, ich danke dir für diesen Jungen, ich danke dir, daß er Jürgens Sohn ist. Zehn Minuten später wußten sie, daß Lydia mit der Maschine nach London geflogen war. Eine Viertelstunde später hatte Peter schon mit John telefoniert. John war ein junger Kameramann bei BBC, den Lydia und Peter in einer Diskothek im Westend kennengelernt hatten. Er versprach Peter, ihn sofort zu Hause anzurufen, wenn Lydia bei ihm auftauchte.
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er Tag verging, die Stunden dehnten sich endlos. Zum Mittagessen bereitete Lisa ein Käseomelett und grünen Salat. Sie richtete ein Tablett appetitlich her, brachte es in Gretes Zimmer. »Ich bekomme keinen Bissen runter«, sagte Grete. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist.« Ihre Wangen glühten, ihre Augen waren fiebrig. »Sie brauchen einen Arzt, Grete«, sagte Lisa. »Ach was, es wird schon so vorbeigehen.« 42
Aber Lisa rief den Arzt an; er hieß Dr. Bogenwald und wohnte zwei Straßen weiter. Er versprach, noch vor der Praxis um vier ganz bestimmt zu kommen. »Das sieht mir ganz nach Scharlach aus«, sagte er, als er Grete untersucht hatte. »In meinem Alter kriegt man keine Kinderkrankheiten mehr«, protestierte Grete. »Ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus können Ihnen nichts schaden.« Der Arzt schrieb gleich eine Überweisung, telefonierte mit der Isolierstation im Krankenhaus Rechts der Isar. »Ihr Herz gefällt mir nicht«, sagte er später zu Lisa, »scheint ziemlich angeschlagen zu sein...« Lisa half Grete, sich anzuziehen, bestellte dann ein Taxi, denn der Zweitwagen, ein kleiner Renault, war zu unbequem für die Kranke. Peter begleitete Grete ins Krankenhaus. Zum erstenmal seit dem Einzug war Lisa allein im Haus. Ruhelos wanderte sie durch die Räume; es erschien ihr kalt und leer und sehr fremd. Als das Telefon läutete und Jürgen am Apparat war, hätte sie beinahe geweint vor Erleichterung. »Du klingst so sonderbar«, sagte er. »Ist etwas Schlimmes passiert?« »Nein, nein«, murmelte sie, »es ist nur – Peter bringt Grete gerade ins Krankenhaus.« »Etwas Ernsthaftes?« »Wahrscheinlich Scharlach.« »In ihrem Alter?« »Das hat Grete offensichtlich am meisten geärgert. Ich besuche sie morgen gleich, denn der Arzt meinte, auch ihr Herz sei nicht ganz in Ordnung.« »Ist Lydia im Haus?« fragte Jürgen. 43
»Nein. – Kommst du heute abend früh?« lenkte Lisa schnell ab. »Ich habe noch einen Termin um sechs, wegen einer Erbschaftsgeschichte. So um acht denke ich.« Und dann fragte er, worauf sie die ganze Zeit schon gewartet hatte: »Du warst doch gestern bei deinem Vater?« »Ja, Jürgen. Aber leider ist es nicht gut ausgegangen. Er will die Klage nicht zurückziehen.« »Das dachte ich mir«, sagte Jürgen tonlos. »Also, bis heute abend.« »Auf Wiedersehen, Jürgen.« Sie legte den Hörer auf, und jetzt weinte sie doch. Es war einfach alles ein bißchen zu viel gewesen in den letzten Stunden. Lisa lief rasch ins Bad, als sie Peter zurückkommen hörte. Sie wusch sich das Gesicht, kämmte ihr Haar. Sie wollte nicht, daß er sie verheult sah, mutlos. Er hatte Feuer im Kamin angezündet und Tee aufgebrüht, als sie herunterkam. Er drehte an den Knöpfen des Radios, und dann erfüllte leichte, leise Musik den Raum. Er wandte sich lächelnd zu ihr um. »Alles in Ordnung mit Grete«, sagte er. »Sie findet es direkt spannend, im Krankenhaus zu sein, hat sich das gar nicht so ›sauber‹ vorgestellt!« »Du verwöhnst mich«, sagte Lisa leise, als er ihr Tee eingoß und Feuer für ihre Zigarette gab. »Ich hab's selbst gern gemütlich.« Er ließ sich mit einem Seufzer in den nächsten Sessel fallen, legte ein Bein über die Lehne, kraulte sich das dichte, schwarze Haar. Peter fragte: »Noch kein Anruf von John?« »Nein. Nur Jürgen hat angerufen.« 44
»Hast du ihm von Lydia erzählt?« »Ich hab's nicht fertiggebracht.« »Das hört sich ja an, als hättest du Angst vor Vater?« »Ich werde es ihm heute abend sagen«, wich Lisa ihm aus. »Das ist noch früh genug. Ich hoffe nur, daß wir bis dahin etwas aus London hören.« Lydia war an diesem Morgen gegen zwölf Uhr in London eingetroffen. Der Himmel spannte sich wie ein blaues Seidentuch über der Stadt, es war frostig kalt, aber es lag kein Schnee. Lydia nahm eines der hohen, schwarzen Taxis und ließ sich nach Kensington fahren. Nicht weit von den Kensington Gardens hatte John Sommer sein Apartment. Sie war schon einmal dagewesen, in der Nacht, nachdem sie ihn in der Diskothek kennengelernt hatten. Heimlich, als Peter schlief, hatte sie noch einmal das Hotel verlassen. Es war gar nichts Besonderes passiert, bei John – sie hatten Platten gehört, er hatte ihr Fotos von einer Afrika-Reise gezeigt, sie hatten zwei Whisky getrunken, und dann hatte er sie ins Hotel zurückgeschickt. Sleep well, little girl, hatte er gesagt, schlaf gut, kleines Mädchen, und er hatte auf diese lustige Art gegrinst, wie es nur blonde, sommersprossige junge Männer können, so, daß man ihnen nie böse sein mag. Sein Grinsen fiel diesmal nicht ganz so lustig aus, aber das kam wohl daher, daß er von ihrem Besuch so überrascht war. »Wo kommst du denn her?« »Aus München.« Er ließ sie in die Diele, sie zog ihre Schaffelljacke aus, hing sie auf einen altmodischen Mantelständer, wie es sie früher in kleinen Cafés gab. 45
»Um es kurz zu machen, ich bin von zu Hause ausgerissen.« Seine blauen Augen verengten sich ein bißchen, das war seine einzige Reaktion. »Na, dann komm erst mal herein und trink eine Tasse Tee.« Sie lachte. »Ach so«, sagte er, »typisch englisch, wie?« »Genau. Freust du dich, daß ich hier bin?« »Sicher – na, komm schon.« John berührte ihren Arm, schob sie in sein Studio. Vor dem Fenster lag der winterlich blanke Park. »Na, setz dich doch!« Lydia blieb stehen und dachte, ist das alles? Aber was hatte sie denn eigentlich erwartet? Daß er ihr sofort um den Hals fallen würde? »Jinny!« rief John und trat in die schmale Tür, die, wie sie wußte, zum Bad und zur Küche führte. »Tee ist gleich fertig«, rief eine helle Stimme zurück. Die junge Frau, die gleich darauf eintrat, war mindestens im sechsten Monat. Sie trug ein mit bunten Blumen bedrucktes Kleid. Schwarzes Haar fiel auf einen kleinen weißen Kragen, und ihr lebhaftes Gesicht gehörte eigentlich noch einem Schulmädchen. »Das ist meine Frau«, sagte John ein bißchen umständlich, »und das ist Lydia aus Deutschland, Jinny.« Er war verheiratet? Aber wieso denn? Seit wann denn? Lydia biß sich auf die Lippen, stand völlig ratlos und hilflos da. Und dann fing Jinny an zu lachen, John grinste – und Lydia lachte mit. Es war wirklich zu komisch. – Da hatte sie sich Hals über Kopf in John verliebt und war seinetwegen hergekommen, und jetzt war er verheiratet, und seine Frau kriegte ein Baby. Und im gleichen Moment war sie froh darüber. Im gleichen Augenblick, als sie dies dachte, wurde ihr bewußt, daß sie ja nur zu ihm geflüchtet war, enttäuscht von ihrer eigenen Mutter, schuldbewußt Lisa gegenüber, die doch eigentlich ganz in Ordnung war, gar 46
nicht so doof und einfältig, wie sie zuerst geglaubt hatte. »Ich bin blöde«, sagte sie, »Kinder, wenn ihr wüßtet, wie blöde ich bin!« Jinny schüttelte immer noch lachend den Kopf. Sie kniff John in die Wange. »Du hast mich also wieder mal verschwiegen, du Schuft!« »Hab' ich gar nicht, bloß erwähnt hab' ich dich nicht.« »Das kommt doch auf dasselbe heraus!« »Jinny, Sie können ganz beruhigt sein, John hat eigentlich meinem Bruder seine Adresse gegeben. Bloß – ich hab' das auf mich bezogen. Und um gleich alle Mißverständnisse aus dem Weg zu räumen«, fügte Lydia hinzu, »ich war schon mal hier, bei John. Wir haben Platten gehört und was getrunken, und ich hab' mich offengestanden gewundert, daß er nicht mal den Versuch gemacht hat, mich anzufassen. Aber jetzt bin ich richtig froh darüber.« »Super«, sagte Jinny, »ihr zwei seid wirklich super!« Es folgte eine sehr vergnügte Teestunde, und dann sagte John: »Lydia, von mir aus kannst du so lange bei uns bleiben, wie du willst. Tu' mir nur einen Gefallen und ruf zu Hause an. Die machen sich die größten Sorgen.« »Aber dann werde ich doch zurückgepfiffen. Und ihr müßt das verstehen, im Augenblick will ich nicht nach Hause. Mein Vater hat gerade erst wieder geheiratet, es ist alles so komisch. Ich komme mir da so überflüssig vor.« »Frag doch deine Eltern, ob du eine Weile hier bleiben kannst, und dann suchst du dir einen Job«, schlug Jinny vor. »Du kannst zwar nicht bei uns wohnen, aber ich habe eine Freundin, die braucht jemanden, der sich mit ihr die Miete teilt. Ist gar nicht weit von hier, und wir können uns so oft sehen, wie du willst.« »Wirklich?« »Na klar!« »Okay, dann ruf ich zu Hause an!« 47
München ist natürlich über Direktwahl zu erreichen, aber an diesem Nachmittag waren die Überlandleitungen ständig besetzt. Erst gegen acht Uhr abends kam die Verbindung zustande. Ihr Vater nahm das Gespräch an. »Paps?« sagte Lydia. »Ich bin in London. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, es geht mir gut. Ich bin hier bei Freunden. Und morgen suche ich mir einen Job. Bitte, bitte, laß mich noch eine Weile hierbleiben, ja?« »Ja«, sagte er, »ja, ich verstehe.« »Vati, du klingst so komisch? Bist du mir so böse?« »Du kannst während der restlichen Ferien in England bleiben«, sagte er. »Das gilt auch für Weihnachten. Ich hoffe nur, daß du darüber dein Abitur im Frühjahr nicht vergißt.« »Ja, Vati. Nein, Vati. Ich vergesse es nicht.« »Alles andere kannst du mir ja schreiben«, sagte er. »Deine Adresse zum Beispiel.« »Ja, Vati. Möchtest du vielleicht noch mit meinen Freunden sprechen, damit du auch weißt, daß hier alles wirklich in Ordnung ist?« Er zögerte einen Moment lang, dann sagte er: »Ich glaube es dir auch so. Gute Nacht, Lydia.« Jürgen Karlsbad brauchte eine ganze Weile, bis er das Zittern seiner Hände wieder unter Kontrolle hatte. Er saß an seinem Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, starrte auf die grüne, leere Platte und dachte nur, Lisa hat mich belogen. Im Wohnzimmer lachten Lisa und Peter – warum, wußte er nicht, aber es erfüllte ihn mit einem kalten Zorn. Er ging hinüber. »Laß uns allein«, sagte er zu Peter. Der Junge sah ihn verblüfft und dann verletzt an. Er folgte jedoch ohne ein Widerwort. 48
»Jürgen«, sagte Lisa, »warum gehst du so mit ihm um? Was hat er dir getan?« »Warum hast du mich belogen?« fragte er. »Warum hast du mich belogen, Lisa?« Lisa saß sehr still, sie sah ihn mit ihren großen, grauen Augen an, denen er so vertraut hatte. Begriff sie denn nicht, was sie ihm angetan hatte, indem sie ihn belog? Wußte sie nicht, wie schwer es ihm, dem Siebenundvierzigjährigen, gefallen war, ihr, der um so vieles jüngeren Frau – zwanzig Jahre waren es, um genau zu sein – überhaupt zu vertrauen? Er hatte sich in sie verliebt, auf der Silvesterparty eines Freundes vor zwei Jahren; er hätte es genausogut bei einer Affäre belassen können, schließlich war er da gerade erst von Cora geschieden. Lisa hatte es ihm auch leichtgemacht, ihn nie gedrängt. Aber er hatte Lisa geheiratet, weil er ihr vertraute – weil er glaubte, mit ihr noch einmal neu anfangen zu können. Peter und Lydia waren beinahe erwachsen, würden über kurz oder lang aus dem Haus gehen. Er lächelte bitter, Lydia hatte es ja schon getan. »Ich habe es heute morgen einfach nicht fertiggebracht«, sagte Lisa jetzt, »ich hab's einfach zu all dem anderen nicht fertiggebracht, dir auch noch die Sorge aufzubürden, daß Lydia ausgerissen ist. Außerdem hab' ich gehofft, Peter und ich könnten sie finden und wieder nach Hause holen. Wir haben bald herausgefunden, daß sie nach London geflogen ist, und wir haben den ganzen Tag auf ihren Anruf gewartet. Du mußt mir das glauben, Jürgen.« »Du verstehst dich recht gut mit Peter, was?« »Er ist dein Sohn, und ich bin froh darüber. Und dankbar.« »Es ist ja auch kein Wunder. Er ist ja kaum jünger als du. Ihr seid ja fast eine Generation.« »Jürgen, du sagst das, als passe es dir nicht?« 49
»Es paßt mir auch nicht. Warum schleicht er dauernd um dich herum? Was habt ihr zu Lachen, wenn ich nicht im Zimmer bin?« Lisa wurde sehr blaß. Sie strich sich mit einer deutlich hilflosen Geste das braune Haar aus der Stirn. »Der Gedanke, daß du erwachsene Kinder hast, war nicht einfach für mich in den letzten beiden Jahren. Meine einzige Hoffnung war, daß ich mich mit ihnen verstehen würde. Und jetzt, da es wenigstens mit Peter klappt –« »Entschuldige«, unterbrach Jürgen sie, »du hast ja recht. Natürlich. – Also, trinken wir einen Cognac zur Versöhnung und zum Abschluß?« »Ja, gern«, sagte sie. »Das klingt aber gar nicht so.« »Jürgen.« Sie stand auf und trat zu ihm. Sie hob ihr Gesicht. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Bitte, mißtraue mir nicht, du hast keinen Grund dazu.« »Tu ich doch gar nicht. Es ist nur – ich bin nervös. Die Geschichte mit deinem Vater, und dann Cora, und daß Horst nicht zurückkommt. Und jetzt noch Lydias Kurzschluß. Es ist, als hätte sich alles gegen uns verschworen, seitdem wir verheiratet sind.« »Vielleicht wäre es besser gewesen, wir hätten nicht geheiratet?« Sie nahm ihre Hände weg, trat zum Feuer, schürte die glimmenden Scheite. »Was willst du jetzt hören?« fragte er irritiert. »Nichts, Jürgen«, sagte sie. »Dann ist es ja gut.« Er schenkte für sie beide einen Cognac ein. Sie tranken stumm. »Ich bin müde«, sagte er dann. »Ich bleibe noch ein wenig auf«, sagte Lisa. »Bis das Feuer ausgeht.« »Ja dann –«, murmelte er. »Gute Nacht«, und ging. Sie setzte sich wieder vor den Kamin, aber das Feuer konnte sie 50
nicht wärmen. Als sie schließlich hinaufging, schlief Jürgen schon. Er stöhnte im Traum. Als sie beruhigend sein Gesicht berührte, waren seine Wangen naß, aber sie fand nicht den Mut, ihn in die Arme zu nehmen. Peter fand keine Ruhe. Er lag auf seinem Bett, in der Dunkelheit, rauchte und starrte vor sich hin. Als er vor zwei Jahren die Wahl gehabt hatte zwischen seinen Eltern, entschied er sich für seinen Vater, wie auch Lydia und Horst. Er liebte seinen Vater – aber es schien, als könnten sie einander nicht verstehen. Sie konnten einfach nicht miteinander reden. Warum das so war, wußte er nicht. Er hörte, daß sein Vater heraufkam, ins Schlafzimmer ging, und, viel später erst, Lisa. Das Haus wurde sehr still, und da hielt Peter es einfach nicht mehr aus. Er stand auf, nahm im Dunkeln seinen Parka. Die Wagenschlüssel steckten noch in seiner Hosentasche. Peter stieg lautlos die Treppe hinunter, verließ das Haus. Nachtfrost hatte den Schnee vereist, er knirschte unter seinen Schritten. Peter setzte den kleinen Renault aus der Garage, fuhr Richtung Leopoldstraße. Etwa eine Viertelstunde lang fuhr er ziellos herum, unter dem leuchtenden Gewaber der Lichtreklamen, schließlich fand er einen Parkplatz in einer dunklen Nebenstraße. Gleich gegenüber war eine Kneipe. Der Duft von gegrillten Hähnchen stieg ihm verführerisch in die Nase. Er war sehr hungrig, denn Lydias Anruf aus London und die Reaktion seines Vaters darauf hatte ihnen allen das Abendessen verpatzt. Die Kneipe war brechend voll, alles junge Leute in seinem Alter. 51
Peter zwängte sich durch zur Theke, wo sich die Hähnchen auf den Spießen des Elektrogrills langsam drehten. Er bestellte ein Bier und ein halbes Hähnchen. »Peter, du alte Flasche, sieht man dich auch noch mal!« sagte jemand neben ihm. Peter erkannte die Stimme, noch ehe er den Kopf wandte. »Tag, Ronny«, sagte er lustlos. Ronny fragte: »Solo hier?« »Siehst du doch.« »Was macht dein süßes Schwesterlein? Hältst du immer noch die Hand drauf?« »Das besorgt sie inzwischen selbst«, sagte Peter abweisend. Er dachte nur mit Unbehagen an die letzte Party zurück, zu der Ronny, Sohn eines Automobilhändlers und Kommilitone, ihn und Lydia in die Villa seiner Eltern eingeladen hatte. Es wurde wenig getrunken an dem Abend, aber viel gehascht. Lydia fand Ronny gar nicht so übel – offensichtlich wirkte er auf Mädchen, dieser blonde, ewig braungebrannte Kerl. Aber Peter hatte dafür gesorgt, daß Ronny nicht an Lydia herankam und umgekehrt. »Du bist immer so trübe«, sagte Ronny jetzt. »Mann, Junge, das Leben ist doch Klasse, wenn man weiß, wo's lang geht.« »Und wo geht es lang?« Peter bekam keine Antwort, denn im gleichen Moment schrie jemand: »Die Bullen kommen!« Hysterischer Lärm brach auf wie eine Eiterbeule. Die jungen Leute schoben und drängten und fielen übereinander. Es nützte ihnen nichts. Sie kamen nicht mehr raus. Nur Ronny war plötzlich verschwunden, nirgendwo mehr in dem Gewühl zu entdecken. 52
Das Mädchen hinter dem Tresen entpuppte sich als die Besitzerin der Kneipe; sie beschimpfte die Polizisten, noch ehe diese irgend jemanden irgendeiner Tat verdächtigt oder beschuldigt hatten. Vorerst ließen sie sich nur die Pässe zeigen. Peter trank sein Bier leer, zu dem gegrillten Hähnchen war er gar nicht erst gekommen. »Ihren Ausweis, bitte«, sagte ein Beamter höflich zu ihm. Peter zog seine Brieftasche, das heißt, er wollte sie ziehen und merkte erst in diesem Augenblick, daß er sie zu Hause gelassen haben mußte. »Es tut mir leid«, sagte er ruhig. »Ich habe keinen Ausweis bei mir.« »Fahren Sie einen Wagen?« »Ja.« »Dann haben Sie ja Ihren Führerschein bei sich.« »Nein, ich fürchte, auch den nicht. Ich habe meine Brieftasche zu Hause liegengelassen.« »Ihren Namen, bitte?« Der Beamte schrieb ihn sich auf. »Die Anschrift?« Peter sagte sie ihm. »Bitte, kommen Sie mit mir nach draußen.« »Ja – aber warum denn?« Mit einemmal saß ihm die Angst an der Kehle. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, aber wer hatte überhaupt schon gern mit der Polizei zu tun? »Bitte«, wiederholte der Beamte und ließ ihn vorgehen. Die Kneipenbesitzerin rief hinter ihnen her, »he – der hat sein Bier noch nicht bezahlt.« Der Beamte blieb stehen, sah Peter abwartend an. Er spürte, wie ihm vor Scham heiß und kalt wurde. Aber in der Hosentasche fand er wenigstens noch genug Kleingeld, um sein Bier zu bezahlen. Dann gingen sie nach draußen. Ein Streifenwagen stand da, zwei junge Mädchen saßen schon darin. 53
»Zeigen Sie mir Ihren Wagen«, sagte der Beamte. Peter tat es. »Ist er abgeschlossen?« fragte der Polizist. »Ja«, sagte Peter. »Würden Sie ihn bitte aufschließen?« »Hören Sie, warum denn? Was soll das?« »Bitte«, wiederholte der Beamte, er blieb auf eine gelassene Art freundlich. Achselzuckend schloß Peter den kleinen Renault auf. Der Beamte tastete die Sitze ab, vor allem die Ritzen. Peter wartete stumm, er hatte sich noch nie so hilflos, noch nie so gedemütigt gefühlt. »Haben Sie etwas gegen eine Leibesvisitation einzuwenden?« fragte der Beamte Peter dann. »Nein...« Der Beamte tastete ihn gründlich und routiniert ab. Er griff in Peters Jackentasche und zog rechts ein flaches Päckchen heraus. Auf den ersten Blick sah es aus wie eine Schachtel Zigaretten – aber im gleichen Moment wußte Peter, daß keine Zigaretten darin sein würden, weil er nämlich keine bei sich gehabt hatte. Der Beamte nahm ein flaches, grünliches Etwas aus der Schachtel, das aussah wie ein Keks. Er blickte Peter an. »Leisten Sie keinen Widerstand«, sagte er, »seien Sie vernünftig, wir müssen Sie mitnehmen.« »Aber warum denn? Was ist denn das?« Peter fuhr den Beamten an. »Reines Haschisch«, sagte der Polizist lakonisch. »Ich hab' das noch nie in meinem Leben gesehen! Das hat mir jemand in die Tasche gesteckt! Ehrenwort!« »Sicher«, sagte der Beamte. »Damit redet ihr euch dann immer heraus.« 54
»Aber es ist wahr! Ich weiß sogar, wer!« »Wer denn?« »Ein – ein – also«, er verstummte, konnte er sagen Ronald Körber? Konnte er Ronny verpfeifen, ohne sicher zu sein, daß er es wirklich gewesen war? »Jemand stand neben mir. Ein Typ, den ich vom Sehen kenne.« »So – wie sah er aus?« »Groß, blond, braungebrannt.« »Und seinen Namen wissen Sie nicht?« »Nein!« »Na, schön. Dann nehmen wir Sie mit. Ihr Wagen bleibt einstweilen hier stehen.« Auf dem Revier gab Peter seinen Namen zu Protokoll, wieder seine Adresse. Beschrieb, warum und wie er in die Kneipe geraten war. Die Beamten preßten schließlich auch Ronnys Namen aus ihm heraus, obwohl er ausdrücklich betonte, daß er nicht sicher sei, ob Ronny ihm das Rauschgift zugesteckt habe. Sie glaubten ihm schließlich, daß er nichts damit zu tun hatte, aber sie ließen ihn nicht einfach laufen. »Ihre Eltern wohnen ja nicht weit«, sagte der Polizist, der ihn festgenommen hatte. »Rufen Sie sie an. Ihre Eltern können Sie hier abholen.« Peter wußte, daß es sinnlos war, dagegen aufzumucken. Er sagte den Beamten die Telefonnummer, der Protokollführer wählte, hielt ihm dann den Hörer hin. »Wer ist denn da?« fragte Lisas leise Stimme. »Ich«, sagte Peter gepreßt. »Lisa, sag mir, von wo aus sprichst du?« »Aus der Diele. Ich war gerade im Bad, als das Telefon läutete.« »Glaubst du, daß Vater wach geworden ist?« »Nein – ich hoffe nicht. Wo bist du denn?« »Bei der Polizei. Lisa, kannst du herkommen und meinen Führer55
schein und Paß mitbringen? Mich abholen?« »Hast du einen Unfall gehabt?« »Nein, ich bin in eine Razzia geraten.« »Ich komme sofort.« »Danke, Lisa«, sagte er. Als er den Hörer auflegte, konnte er kaum noch etwas sehen, weil ihm der Schweiß von der Stirn in die Augen lief. Die Beamten auf dem Revier blieben höflich und kühl. Sie erlaubten Peter, mit Lisa nach Hause zu fahren. Sie machten ihn jedoch darauf aufmerksam, daß er sich für etwaige weitere Verhöre in den nächsten Tagen zur Verfügung halten müßte. »Mein Wagen steht noch vor der Kneipe. Du, ich glaube, ich kann jetzt aber nicht fahren«, sagte Peter mit einer so tonlosen Stimme, wie Lisa sie noch nie bei ihm gehört hatte, als sie wenig später draußen auf der Straße standen. »Dann lassen wir den Wagen einfach stehen. Komm –«, sie nahm seinen Arm, sie spürte, daß er zitterte. Als sie in Jürgens Wagen saßen, sagte Peter: »Mir ist so übel.« Er stieg wieder aus. Lisa hielt seinen Kopf, während er würgte. »Du hast nicht viel Freude an deiner neuen Familie«, sagte Peter später, als sie beinahe schon zu Hause waren. »Ach, Unsinn«, sagte sie gewollt burschikos, »was dir passiert ist, kann heutzutage jedem passieren.« »Sie haben mir nicht geglaubt.« »Die Polizisten? Aber doch! Sonst hätten sie dich gar nicht laufenlassen.« »Das haben sie nur deinetwegen getan. Du siehst so anständig aus, ich meine, du hast ihnen Respekt eingeflößt.« 56
»Peter, sie haben dich nicht für einen Hascher gehalten. Niemand könnte das. Und bestimmt nicht für einen Rauschgifthändler. Bilde es dir bloß nicht ein.« »Wirst du es Vater sagen?« »Du kannst es ihm selbst sagen, wenn du möchtest.« »Lisa, ich glaube, wenn er dich nicht geheiratet hätte, ich wäre längst nicht mehr zu Hause.« »Aber du hast mich bis vor ein paar Tagen doch noch gar nicht gekannt?« »Ich – ich war fest entschlossen, zum nächsten Semester wegzugehen.« »Willst du mir erzählen, warum?« »Ich – siehst du, ich mag meinen Vater. Aber ich kann nicht richtig mit ihm reden. Du hast das sicher schon gemerkt.« »Ja – er ist ungeduldig mit dir.« »Er – er glaubt wie die Bullen, daß ich so bin wie alle anderen.« »Das glaubt er bestimmt nicht. Sieh mal, Peter, ich hab' es mit meinen Eltern auch erlebt, in einem bestimmten Alter geht man ihnen wahrscheinlich ein bißchen auf die Nerven. Oder sie wissen einfach nicht, wie sie sich verhalten sollen. Erlauben sie einem alles, ist es falsch. Verbieten sie alles, ist es ebenso falsch oder noch schlimmer. Ich glaube, es ist gar nicht so einfach, Kinder zu haben und immer den richtigen Ton zu finden.« »Ich möchte so gerne richtig mit Vater reden können. Aber er interessiert sich einfach nicht für das, was ich gern tue. Meine Musik findet er wahrscheinlich albern, und daß ich male, hat er bis heute nicht gemerkt.« »Hat er es immer leicht gehabt in den letzten Jahren, Peter?« »Du meinst wegen Mutter?« »Ich meine überhaupt, beruflich und im alltäglichen Leben?« »Er spricht ja überhaupt nicht über seine Arbeit mit uns. Es hätte mich schon manchmal interessiert, wenn ich wußte, daß er einen 57
interessanten Fall hatte. Aber wenn ich ihn irgend etwas in dem Zusammenhang gefragt hab', hat er bloß gesagt, er will zu Hause seine Ruhe haben. Er war immer so verschlossen. Erst, seitdem er dich kennt, ist das ein bißchen anders geworden. Ich meine, in der letzten Zeit. Da war er sogar manchmal ein bißchen fröhlich. Bloß in den allerletzten Tagen wieder – na ja, du hast es ja selbst gemerkt.« »Dein Vater hat große Sorgen«, sagte Lisa, »und leider hängt das wiederum mit meinem Vater zusammen.« »Wieso?« fragte Peter überrascht. »Es ist eine berufliche Sache, eine Vertragsgeschichte, die fehlgeschlagen ist. Und dein Vater soll die Konventionalstrafe bezahlen.« »Ist es viel?« »Sehr viel.« »Das ist auch nicht schön für dich, was?« »Nein, Peter, gar nicht schön. Leider besteht auch nicht viel Hoffnung, daß es sich noch ausbügeln läßt.« Sie hatten ihr Haus erreicht, bogen in die Einfahrt. In der Diele brannte Licht, Lisa war nicht sicher, ob sie es angelassen hatte. Sie fuhr den Wagen in die Garage, schaltete die Scheinwerfer aus. »Ob Vater wach ist?« fragte Peter. »Ich weiß es nicht«, sagte Lisa. »Bitte, laß uns noch einen Moment lang einfach so hier sitzen.« »Peter, wenn er wach ist und auf –« »Bitte, nur einen Moment noch«, flüsterte er. »Bitte, Lisa.« Seine Hand tastete nach ihrer Hand. Jürgen Karlsbad war eine Stunde zuvor von dem Läuten des Telefons wach geworden. Er tastete neben sich, fand nur das leere Bett. Er wartete eine Weile, hörte schließlich Lisas leisen, eiligen Schritt im stillen Haus, dann das Klappen der Haustür. 58
Er stand schnell auf, lief zum Fenster. Er konnte nichts Genaues erkennen, nur das Licht der Scheinwerfer, als sie seinen Wagen aus der Garage fuhr. Dann die Silhouette des BMW auf der Straße, zwischen den Bäumen. Wieso fuhr sie noch mal weg, und wieso benutzte sie seinen Wagen? Er machte Licht, warf seinen Frotteemantel über. Instinktiv ging er zuerst in Peters Zimmer. Es war leer, das Bett unbenutzt. Er lief die Treppe hinunter, in die Diele. Auf dem kleinen Messingtisch, auf dem das Telefon stand, lag auch der Notizblock, auf den sie die Anrufe notierte. In Lisas Schrift stand eilig hingekritzelt: Pol. Rev. 29. Einen Moment lang stand Jürgen reglos. Aber schon da zweifelte er keine Sekunde lang, daß diese Notiz etwas mit Peter zu tun haben mußte. Jürgen lief vors Haus, glitt im Schnee aus, fluchte unterdrückt vor sich hin, weil er schmerzhaft mit dem rechten Fuß umgeknickt war. Der Zweitwagen, der kleine Renault, fehlte auch in der Garage. Jürgen kehrte ins Haus zurück. Er fror mit einemmal, dabei war es draußen gar nicht so kalt gewesen; der Schnee taute schon wieder weg. Er ging hinauf ins Schlafzimmer, kleidete sich an, so korrekt, als gelte es, einen Mandanten bei Gericht zu vertreten. Er ließ sich von der Auskunft die Telefonnummer des Reviers 29 geben, wählte sie. Er fragte direkt nach seinem Sohn. Er erhielt die Auskunft, daß Peter im Zuge einer Rauschgiftrazzia verhaftet, aber nun schon wieder entlassen worden sei. Jürgen bedankte sich kühl, er ging ins Wohnzimmer, nahm sich einen Cognac. Lydia war vor der ersten und dazu noch eingebildeten Schwierigkeit ausgerissen, die in ihrem Leben auftauchte, nämlich ihrem eigenen Unvermögen, sich mit Lisa zu arrangieren. Und nun das. 59
Peter. Rauschgift, Hasch wahrscheinlich. Sicher. Er war eben auch nicht besser und nicht anders als die meisten seiner Altersgenossen. Jürgens Enttäuschung und sein Zorn waren so groß, daß er gar nicht auf die Idee kam, er könnte Peter Unrecht tun. Und es sah Lisa wieder ähnlich, daß sie den Jungen heimlich herauspaukte, einfach zur Polizei fuhr, ohne ihn vorher zu wecken, zu unterrichten. Warum tat sie das? War er ein Krüppel, ein Kranker, von dem sie alles fernhalten mußte? Sie meint es gut, dachte er, sie will mir Kummer ersparen. Aber, indem sie mir Dinge verschweigt, ändert sie doch nichts. Vielleicht hat sie auch schon von der Klage ihres Vaters gewußt – vorher, noch bevor wir heirateten? Und mir auch das verschwiegen? Wenn ja, was für einen Grund konnte es dafür geben? Lisa war jetzt siebenundzwanzig Jahre alt. Ein bißchen scheu, ein bißchen weltfremd fast; aber gerade das hatte ihn immer an ihr angezogen. Sie war jung und schön, und eigentlich war es verwunderlich, daß sie ihn, den so viel Älteren, geheiratet hatte. Zweifel und Mißtrauen – wie gut kannte er Lisa eigentlich? Er hörte den BMW in die Auffahrt biegen. Das Scheinwerferlicht wischte über die Fenster. Jürgen sprang auf, aber dann ging er doch nicht hinaus, setzte sich wieder hin, im Dunkeln, wie zuvor. Er mußte lange warten, bis Lisa und Peter das Haus betraten. Das Licht aus der Diele – gedämpft, denn nur die Messingwandleuchten brannten, fiel bis ins Wohnzimmer. Aber nicht bis dorthin, wo Jürgen saß. Ich habe einen Logenplatz, dachte er ironisch, als die Haustür aufgeschlossen wurde, Lisa eintrat, Peter sich hinter ihr herein60
schob. Sie blickten sich beide wie schuldbewußt um, Jürgen konnte es ganz genau sehen. Lisa schloß lautlos die Haustür, lächelte dann Peter an, es war kein mütterliches Lächeln, dazu war ihr Gesicht zu mädchenhaft. Es war ein Lächeln, so dachte Jürgen, voller Zärtlichkeit. Wie jung sie noch war, sie schien nicht älter als Peter. Jetzt sah er es genau, und es erfüllte ihn mit einem Gefühl der Ohnmacht. Sie ist meinem Sohn näher als mir, dachte er. »Zieh die Schuhe aus«, sagte Lisa leise zu Peter. »Dann wird er bestimmt nicht wach.« »Gehst du noch nicht nach oben?« »Nein, ich will noch eine Zigarette rauchen.« »Ja –« Es klang zögernd. »Ich verstehe.« »Allein, Peter«, sagte sie sanft. »Ich will noch ein bißchen nachdenken.« »Ja, sicher, ich verstehe.« Peter war aus seinen Schuhen geschlüpft, hielt sie jetzt in der Hand. »Gute Nacht, Lisa«, er küßte sie auf die Wange. »Schlaf gut, Peter. Und mach dir keine Sorgen mehr.« Sie blieb stehen und schaute ihm nach, wie er auf Zehenspitzen die Treppe hinaufstieg. Und dann erst kam sie ins Wohnzimmer. Sie tastete sich im Dunkeln zum Kamin. »Du kannst ruhig Licht machen«, sagte Jürgen. Sie gab einen kleinen, erschreckten Laut von sich. Sie schaltete die alte Silberleuchte auf dem Kamin ein – und Jürgen dachte mit einem schmerzhaften Stich, wir haben sie zusammen ausgesucht. Wir haben alles in diesem Haus zusammen ausgesucht, und wofür? Habe ich mir wirklich eingebildet, mit einer so jungen Frau ein neues, zweites Leben beginnen zu können? 61
Er fühlte sich alt und verbraucht, und er dachte, wahrscheinlich sehe ich auch so aus. »Warum sitzt du hier im Dunkeln?« fragte Lisa. Sie war blaß und sehr schön. »Ich wurde wach und konnte nicht mehr einschlafen.« Lisa setzte sich ihm gegenüber. »Ich habe Peter bei der Polizei identifizieren müssen. Er hatte keinen Ausweis bei sich. Eigentlich wollte er es dir morgen früh selbst sagen.« »Seit wann hascht er?« »Wie kommst du darauf?« »Na ja, einen Unfall hat er doch nicht gehabt, oder?« »Nein, keinen Unfall. Er ist durch Zufall in die Razzia geraten.« »Zufall?« »Ja, Jürgen.« Und mit einemmal klang ihre Stimme zornig. »Warum glaubst du uns nicht? Warum –« »Uns?« fragte er. »Ja. Uns. Peter und mir. Warum mißtraust du deinem eigenen Sohn? Und mir?« »Aber ich habe doch kein Wort davon gesagt?« »Du brauchst es nicht auszusprechen. Man sieht es dir auch so an. Du hast einen Sohn, auf den du sehr stolz sein kannst.« »Warum?« »Weil er nicht so ist wie andere Jungs in seinem Alter. Weil er sich noch Gedanken macht. Weil er – weil er dein Sohn ist. Warum redest du nicht mal richtig mit ihm?« »Hat er dir das gesagt?« »Ja.« »Na schön.« Er stand auf. »Jürgen.« Jetzt klang ihre Stimme wieder weich und bittend. »Kümmere dich mehr um den Jungen.« »Ja, sicher.« 62
»Jürgen, ich meine es gut.« »Das glaube ich dir.« Sie trat zu ihm und berührte seinen Arm. »Jürgen, bitte, mißverstehe es nicht. Ich will dir nicht dreinreden in die Erziehung deiner Kinder. Ich meine nur, ich habe das Gefühl, daß Peter dich braucht.« »Sicher, er ist ja auch der einzige, der übriggeblieben ist.« »Ist es das, was dich bitter macht? Daß Lydia weg ist und Horst nicht wiederkommen soll?« »Nicht will«, korrigierte er sie. »Jürgen, mach es dir doch nicht selbst so schwer.« »Im Gegenteil, ich mache es mir leicht. Ich denke einfach nicht drüber nach. Ich lache drüber –« und er lachte wirklich. »Bist du jetzt zufrieden?« Sie sah ihn nur an. »Gute Nacht«, sagte er. »Ich muß noch arbeiten.« Damit ließ er sie stehen und ging in sein Arbeitszimmer jenseits der Diele. Lisa spürte, wie ihr Gesicht brannte. Sie öffnete und schloß die Hände ganz unbewußt, und sie dachte, er hat die gleiche Stimme wie mein Vater gehabt. Er hat genauso gesprochen wie mein Vater so oft mit meiner Mutter. Sie haben immer aneinander vorbeigeredet.
5
E
s war zwei Uhr in dieser Nacht. Helen Menken saß in ihrem kleinen Salon, der durch eine Doppeltür mit ihrem Schlafzim63
mer verbunden war. Er war ganz in zarten Goldfarben gehalten, nur die schweren Samtvorhänge hatten einen tiefen Kupferton. Kerzen brannten in den vergoldeten Porzellanleuchtern, die Rudolf ihr einmal aus Paris mitgebracht hatte. Es war fünf oder auch zehn Jahre her, er hatte damals die kleine französische Chansonette betreut. Helens Lippen wurden schmal, und ihre Augen bekamen einen harten Glanz, während sie daran dachte. Es hatte viele Frauen in seinem Leben gegeben und in ihrer Ehe – wenn sie gut gelaunt war, nannte Helen sie ›meine kleinen Schwestern‹; sie hatte aber auch böse und gemeine Ausdrücke für sie, wenn sie schlecht gelaunt war. Zwei Uhr in der Nacht, und Rudolf hatte angeblich ein Essen mit einem jungen Gitarristen? Vielleicht war es auch eine Gitarristin? Unwillkürlich verkrallten sich ihre schönen, schmalen, gepflegten Hände. Sie spürte, wie der Schmerz hinter ihrer linken Schläfe zu pochen begann, morgen würde sie wieder ihre Migräne haben. Und keine Lisa mehr, die sie bedauerte und ihr kalte Kompressen auflegte und ihr eine leichte Diät kochte, die – aber das war Helens Geheimnis – auch gut gegen die ein, zwei oder auch drei überflüssigen Pfunde war, ein Ergebnis ihrer heimlichen Schwäche für Sahnekonfekt. Lisa war nicht mehr da – und Rudolf übersah ihre Migräne, als sei sie gar nicht vorhanden. Zwei Uhr in der Nacht – und sie war allein, obwohl noch nicht alt und häßlich. Sie griff zu dem Spiegel, den sie stets in Reichweite hatte. Sie fand sich schön, sie war schön, ein Zauberwesen – so hatte Rudolf sie früher in ihren ersten Jahren genannt. Als er sie noch zu einer großen Schauspielerin machen wollte, so lange, bis sich her64
ausstellte, daß sie weder die Stimme noch die Ausdrucksfähigkeit dazu besaß. Armer Rudolf, immer war er auf der Suche nach dem großen Star, den er entdecken würde, nach dem einen Stern am Himmel des Schaugeschäfts, dessen Glanz auf ihn zurückfallen würde. Und alle, die ihn enttäuschten, haßte Rudolf Menken. »Haßt du mich?« fragte sie leise und sah sein Bild im Goldrahmen immer wieder an, das auch stets in ihrer Reichweite stand. »Du haßt mich«, sagte sie zu dem Bild, und dann griff sie zum Telefon. Sie mußte mit jemandem sprechen, sie hielt es nicht aus, stumm zu sein, allein zu sein. Zwei Uhr in der Nacht, na und? Lisa war schließlich ihre Tochter. Aber nicht Lisa, sondern die müde und daher etwas heisere Stimme von Jürgen, ihrem Schwiegersohn, antwortete ihr. »Habe ich dich geweckt?« fragte Helen sanft. »Nein, ich arbeite noch.« »Du Ärmster, so spät in der Nacht...« »Was kann ich für dich tun – Helen?« Er zögerte stets, bevor er sie beim Vornamen nannte. »Ich mußte einfach eine Stimme hören. Ich bin ganz allein. Ich – bin sehr einsam.« »Du solltest schlafen.« »Allein?« Jürgen schwieg am anderen Ende. Sie lachte leise. »Das war ein dummer Scherz einer alten Frau.« »Du bist doch nicht alt – Helen, und ich verstehe –« »Du verstehst mich?« fragte sie eifrig. »Nicht wahr, man ist manchmal einsam?« »Ja –« »Selbst die nächsten Menschen sind dann nicht nah genug. Aber ich bin froh, daß Lisa dich geheiratet hat.« 65
»Du warst nicht immer dieser Ansicht.« »Nein, das ist wahr. Verzeihst du mir?« »Aber natürlich«, sagte Jürgen. Sie hatte ein feines Ohr für Stimmen, und sie hörte genau, daß sie ihn in diesem Moment langweilte. »Jürgen, ist es richtig, daß du Ärger mit Rudolf hast?« sagte sie daher rasch. »Wie kommst du darauf?« fragte er abweisend. Also ein Treffer ins Schwarze! Helen lächelte, kuschelte sich bequemer in ihrem Sessel zurecht; aber das konnte er ja nicht sehen. »Vielleicht kann ich dir helfen?« »Ich wüßte nicht, wie«, sagte er. »Besuche mich morgen, am Nachmittag, so gegen fünf.« »Ich weiß nicht, ob das geht. Ich habe Termine.« »Um fünf also. Ich erwarte dich und freue mich.« Er würde kommen, da war sie ganz sicher. Und vielleicht tat es Rudolf ganz gut, wenn sie einmal ein bißchen gegen ihn spielte. Auf eine andere Karte setzte. Jürgen sah blendend aus. Viel besser als Rudolf. Sie mußte jetzt nur noch erfahren, was zwischen Rudolf und Jürgen stand, aber das würde ihr nicht schwerfallen. Jürgen Karlsbad verschwieg Lisa den nächtlichen Anruf ihrer Mutter. Warum er es tat, lag daran, daß er in der Frühe das Haus verließ, ehe sie erwachte, dann den ganzen Morgen über Termine bei Gericht hatte, im Cockerel-Room nur rasch ein Omelett aß, danach im Büro Post diktierte und es ihm erst zehn Minuten vor fünf wieder einfiel, daß Helen Menken ihn ja erwartete. Er fuhr mit sehr gemischten Gefühlen zu ihr. Sofia, die alte Haushälterin der Menkens, führte ihn, Unverständliches vor sich hinmurmelnd, in den Wintergarten. 66
Helen trug einen orientalischen Hausanzug in seegrüner Seide, sie wirkte darin wie ein kleines Mädchen, das zu Fasching die Abendrobe seiner Mutter angezogen hat. Er küßte ihre Hand, Helen lächelte zu ihm auf; unwillkürlich dachte er, Lisa hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihr, und wußte nicht, ob er darüber froh sein sollte. »Tee und Cognac – oder lieber einen Whisky?« »Einen dünnen, verwässerten Scotch«, sagte er, »sehr gern.« Es war ein Genuß, Helens Händen zuzuschauen, wie sie ihm den Drink bereiteten. »Nur ein Stück Eis, bitte«, sagte er. Sie trank einen Creme de Menthe. »Es geht um eine Million, nicht wahr?« fragte sie lächelnd, als sie den ersten Schluck getrunken hatten. Jürgen zuckte unwillkürlich zusammen. »Eine Menge Geld.« Helen lachte leise. »Allerdings«, sagte Jürgen. »Aber warum hast du Lisa vorgeschickt? Lisa hat noch nie ihren Vater von etwas überzeugen können.« »Ich habe sie nicht vorgeschickt.« »Jürgen«, Helen berührte seine Hand, »sei nicht so empfindlich. Schau, Lisa ist ein liebes Kind, aber manchmal doch recht einfallslos. Nein, nein, ich sollte so etwas gar nicht sagen, schließlich ist sie meine Tochter. Und du hast keine schlechte Wahl getroffen. Lisa wird deinen Kindern eine gute Mutter sein, aber sonst...« Sie hob die zarten Schultern, es konnte nichts und alles bedeuten. »Du weißt also von dem Singer-Vertrag?« lenkte Jürgen von Lisa ab. »Nicht alles. Erzähl mir den Rest.« Er berichtete ihr knapp, worum es bei diesem Vertrag ging. Ihre Augen schlossen sich halb, als genieße sie das, was er ihr erzählte, und obwohl sie sich nicht in ihrem Schaukelstuhl bewegte, war es 67
ihm, als rückte sie näher an ihn heran. Er empfand plötzlich auch die grüne Schwüle des Wintergartens als bedrückend, und er wäre am liebsten einfach aufgestanden und gegangen. Aber dann sagte sie, und sah ihn wieder voll mit diesen großen blauen Augen an: »Warum bist du nicht sofort zu mir gekommen? Natürlich kann ich dir helfen, wenn du es willst.« »Wie?« Er brachte kein weiteres Wort heraus. »Ich bin nicht arm. Rudolf und ich leben in Gütertrennung.« »Aber diese Summe –« »Warum machst du dir Gedanken darüber? Das Geld bleibt ja schließlich sogar in der Familie.« »Und welche Bedingungen stellst du?« Helen lachte leise. »Keine. Wir werden uns hin und wieder sehen. Nur hin und wieder...« »Helen –«, er hörte selbst, daß seine Stimme vor Aufregung rauh klang, »aber ich möchte – falls ich deine Hilfe annehme, es als ganz klares Geschäft betrachten. Als Darlehen. Mit Zinsen und allem, was dazugehört.« »Dann könntest du ja gleich zu deiner Bank gehen. Nein, lieber Jürgen, ich möchte dir helfen. Du bekommst nur das Geld jetzt schon, was eines Tages ohnehin Lisa zufallen würde.« »Aber dein Mann –« »Reden wir nicht von Rudolf. Ich erfahre so vieles nicht, was er tut. Und noch eines, ich möchte auch nicht, daß Lisa etwas von unserer Abmachung erfährt.« Jürgen wußte nicht mehr genau, wie und wann er das Haus der Menkens verlassen hatte. Er sah die letzte Stunde wie durch einen getrübten Zerrspiegel, während er ziellos zuerst durch die Stadt fuhr und schließlich in der Tagesbar des Conti landete. Er trank einen 68
dritten verwässerten Whisky und versuchte, mit seinen Gedanken ins reine zu kommen. Helen bot ihm Hilfe, bot ihm den Ausweg an. Aber durfte er ihn annehmen, konnte er ihn annehmen? Denn was bezweckte sie damit? Er hielt sie nicht für dumm genug, daß sie ein Verhältnis mit ihm anfangen wollte. Es wäre auch lächerlich gewesen. Die Mutter seiner Frau. Aber vielleicht sah sie sich selbst gar nicht so? Sie war schließlich drei Jahre jünger als er. Und sie war auf eine irgendwie fiebrig anmutende Weise eine sehr attraktive Frau, daran gab es keinen Zweifel. Wer wußte denn, was hinter dieser weißen Stirn unter dem goldroten Haar vor sich ging? Aber wenn er ihre Hilfe nicht annahm, bedeutete es praktisch seinen finanziellen Ruin. Er mußte Mittel flüssigmachen, die für die Altersversorgung gedacht waren, das gerade erst erworbene und zum Teil auf Hypotheken laufende Haus verkaufen, er mußte die finanziellen Zuwendungen an Cora, seine erste Frau, drastisch kürzen; das gleiche würde für Peters bisher großzügig bemessenen Monatswechsel gelten, für Lydias Taschengeld. Für Lisa und ihn selbst bedeutete es eine Mietwohnung, nur noch einen Wagen. Keine größeren Reisen mehr. Und auf die nächsten fünf, sechs Jahre hinaus schwere finanzielle Belastungen. Jürgen überschlug sein Jahreseinkommen, und was davon übrigbleiben würde, wenn er aus der Klage Menkens mit eigenen Mitteln herauszukommen versuchte. Natürlich würde Menken sie nicht voll durchbringen können – meistens pendelte sich so etwas bei zwei Drittel der geforderten Summe ein. 69
Andererseits, wenn Helen ihm jetzt half, konnte er es sozusagen als eine Vorauszahlung auf das Erbe ansehen, das Lisa ohnehin als der einzigen Tochter zufallen würde. Aber durfte er das? Jürgen fuhr nach Hause. Lisa und Peter hockten wieder vor dem Kamin zusammen, hörten wieder Schallplatten. Natürlich kam Lisa sofort auf ihn zu, lächelnd und offensichtlich froh, daß er schon nach Hause kam. »Ich muß mit dir reden«, sagte er und ging ihr voran in sein Arbeitszimmer. Er hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, sagte nur: »Setz dich bitte, und höre mir genau zu. Es ist sehr wichtig, und alles, was ich dir jetzt erzähle, bleibt unter uns. Deine Mutter hat mir in der Singer-Geschichte ihre Hilfe angeboten. Ich mußte ihr allerdings versprechen, dich nicht davon zu informieren. Wenn ich es dennoch tue, dann – weil wir schließlich miteinander verheiratet sind.« Er erklärte ihr das Für und Wider. Lisa hörte ihm zu, unterbrach ihn nicht ein einziges Mal, stellte keine einzige Frage. »Nun?« fragte er schließlich. Sie betrachtete ihre Hände, rieb sie an dem schwarzen Samt ihrer Jeans. »Es ist deine Entscheidung«, sagte sie schließlich, sehr langsam. Und irgendwie, so, als falle ihr das Sprechen schwer: »Aber wenn du meinen Rat hören willst –« »Ja, natürlich?« fragte er ungeduldig. »Nimm Mutters Angebot nicht an.« »Du mußt mir Gründe dafür nennen!« »Falls du überhaupt Zeit hast, sie anzuhören?« »Entschuldige«, murmelte er. Sie stand auf und kam zu ihm. 70
Es war sonderbar, aber sie wirkte plötzlich größer als sonst. Sie sah ihm direkt in die Augen. »Es gab vor dir schon einen anderen Mann, Jürgen. Ich habe ihn sehr gern gehabt. Daß ich dir nichts von ihm erzählt habe – nun, du hast mich nie danach gefragt. Meine Mutter hat verhindert, daß ich ihn heiratete. Meine Ehe mit dir hat sie nicht verhindern können, aber sie wird versuchen, sie zu stören. Und ich möchte lieber mit dir in einer Baracke leben, als von meiner Mutter abhängig zu sein.« »Du wirst nicht in einer Baracke leben müssen. Aber in einer Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnung.« »Ich habe dich nicht deines Geldes oder dieses Hauses wegen geheiratet.« »Hast du mich geheiratet, um von deiner Mutter wegzukommen?« »Ich habe dich geheiratet, weil ich dich hebe.« Er packte ihre Schultern und zog sie an sich. »Was wollen wir also tun?« fragte er. »Kämpfen«, sagte sie, »uns wehren. Weder meinem Vater gegenüber klein beigeben noch sonst irgendwie uns unterkriegen lassen. Wenn man nur will, kann man mit allen Schwierigkeiten fertig werden.«
6
A
m Morgen, der seiner Aussprache mit Lisa folgte, es war gleichzeitig der Tag vor Heiligabend, fuhr Jürgen Karlsbad nach Nürn71
berg. Dort lebte sein ältester und bester Freund, Anwalt wie er. Johann Pfälzer hatte sich jedoch wegen eines schmerzhaften Hüftleidens, das ihm beispielsweise jeden Gerichtstermin, wo längeres Stehen erforderlich war, zur Qual machte, und nach einer recht ansehnlichen Erbschaft aus dem Beruf zurückgezogen. Johann Pfälzer besaß ein großes, altmodisches Haus am Stadtrand von Nürnberg, in dem es von Hunden aller Art wimmelte. Als Jürgens Wagen in die Allee des Parks einbog, kam ihm eine Meute buntgescheckter Spaniels entgegen. Sie umsprangen den Wagen, kläfften und jaulten aufgeregt. »Ruhig, ihr Bestien! Macht, daß ihr wegkommt!« dröhnte die kraftvolle Stimme Johanns durch den stillen Wintermorgen. Er war oben auf der Freitreppe erschienen, ein mittelgroßer Mann, aber mit einem mächtigen Brustkasten. Er lachte über sein breites, kräftiges Gesicht, als er Jürgen erkannte. »Junge, welch eine Freude!« Er ließ seinen Stock fallen, auf den er sich gestützt hatte, packte Jürgens Hand mit seinen beiden Händen, dennoch war ihr Druck ohne Kraft. »Komm herein! Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Wieder geheiratet hast du inzwischen – wo steckt sie denn, die Angebetete? Hast du sie nicht mitgebracht?« »Morgen ist Heiligabend«, sagte Jürgen, »Lisa hat noch eine Menge im Haus zu tun.« »Lügner! Du willst sie mir bloß nicht vorführen, damit ich sie dir nicht abspenstig mache!« Johann lachte dröhnend. Als Studenten hatten sie nicht selten Mahlzeiten, möblierte Zimmer und auch hin und wieder eine Freundin geteilt – bis Cora kam. Da hatte Johann sich zurückgezogen, wie eine Schnecke in ihr Haus. »Junge, die Dame ist nichts fürs Feuer« – das war sein einziger Kommentar gewesen. Jürgen lächelte, als er daran dachte. Johann hatte nicht so ganz unrecht behalten – mit Cora konnte man nicht kämpfen, da gab man auf oder nach. Mit Lisa war das ganz anders. 72
Die beiden Männer waren mittlerweile in der Bibliothek mit den graugelackten französischen Fenstertüren und der Sammlung von altem Limoges-Porzellan angelangt, in der Johann Pfälzer seit Jahren seine meiste Zeit verbrachte. Er humpelte jetzt sehr deutlich, obwohl er es zu unterdrücken versuchte, und mit einem Seufzer ließ er sich auf der Liege vor dem Kamin nieder, zog das Bein herauf, streckte es aus. »Es macht dir immer noch zu schaffen«, sagte Jürgen. »Und ob. Was nicht alles daraus werden kann, wenn ein blödes Kindermädchen einen im zarten Alter von zwei Monaten fallen läßt.« Es sollte witzig klingen, aber es klang zornig. »Na, los doch, du kennst dich ja aus. Mach uns was zu trinken!« »So früh am Tag?« Johann wischte den Einwand mit einer ungeduldigen Handbewegung fort. »Da steht eine Flasche Bols-Kümmel, frischer Zitronensaft muß auch noch da sein. Je zur Hälfte und jede Menge Eis drauf.« »Muß das sein, ausgerechnet Kümmel-Likör?« fragte Jürgen. »Wart's ab, Junge. Probier's erst mal. Dann kannst du immer noch meckern.« Der Zitronensaft milderte die Süße des Likörs, das Gemisch schmeckte äußerst erfrischend und anregend. »Toll, was?« fragte Johann Pfälzer und leckte sich die Lippen. »Hat ein Freund von mir erfunden, so ein verrückter Schriftsteller, der allen Leuten, die ihm irgendwie nützlich sein könnten, erst mal eins vor den Latz knallt. Deswegen hat er auch noch keinen Bestseller zustande gebracht, obwohl der Kerl eine Menge kann. Lernst ihn heute abend kennen, falls du über Nacht bleibst.« Es klang polternd wie alles, was Johann von sich gab, aber doch wie eine geheime Bitte. »Okay, ich bleibe«, sagte Jürgen spontan. Ihm war nach diesem Tag mit einem alten Freund nach einem Abend unter Männern. 73
Später konnte er Lisa anrufen und es ihr erklären; schon jetzt ihres Einverständnisses gewiß. »Prima. Also, schieß los«, sagte Johann, »was hat dich sonst noch hergeführt, außer, daß du einem alten Freund mal wieder die Pfote geben wolltest?« »Ärger«, sagte Jürgen direkt. »Ich habe da eine Klage am Hals, mit der ich allein bestimmt nicht fertig werde.« »Schadensersatz?« »Genau.« »War immer meine Spezialität.« Johann Pfälzer grinste. »Weißt du noch, wie ich dem Betonkönig die drei Milliönchen für seine Mieter entsteißt habe, die er aufs Kreuz gelegt hatte? War mein letzter großer Fall. Ist auch schon fünf Jährchen her. Na, macht nichts. Und jetzt sitzt du in der Klemme?« »Ja. Ich habe das Kleingedruckte in einem Vertrag nicht genau gelesen, den ich ausgerechnet für meinen Schwiegervater aufgesetzt habe. Der Vertrag ist geplatzt, und ich hänge jetzt mit einer Million drin.« »Fein«, sagte Johann, »hast du das Machwerk mitgebracht?« »Habe ich.« »Gut, sehe ich mir nach dem Essen heute nachmittag an, wenn sich deine Äuglein vom schweren Wein geschlossen haben.« »Du willst mich wohl hier einer Alkoholkur unterziehen?« »Du hast es nötig, Junge. Siehst miserabel aus. So was Verkrampftes wie dich habe ich schon lange nicht mehr gesehen«, sagte Johann Pfälzer ernst. »Aber mach dir keine Sorgen, wir kommen schon aus der Geschichte raus.« Ob er es wollte oder nicht, Jürgen seufzte erleichtert auf. »Ich wußte ja, daß ich mich auf dich verlassen kann.« »Und ich mich auf dich«, sagte Johann. Sie sahen sich einen Moment lang stumm an, dann hoben sie beide das Glas, toasteten sich zu und tranken. 74
Und Jürgen Karlsbad dachte, das habe ich Lisa zu verdanken. Sie hat mir den Mut gegeben zu kämpfen. Sie hat mir den Mut gegeben, hierher zu kommen und mich des Rates und der Hilfe eines Freundes zu versichern – gegen ihren eigenen Vater. Etwa um die gleiche Zeit parkte Lisa ihren Wagen vor dem Hotel Conti in München. Sie zauderte eine Sekunde lang, prüfte rasch noch ihr Gesicht im Spiegel. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, nur die Lippen ein wenig nachgezogen und ein bißchen Grün auf die Lider getupft. Sie trug ein schlichtes braunes Kostüm, das seinen Schick nur durch einen sehr schönen roten Fuchskragen erhielt. Lisa betrat das Hotel, ging rechts hinüber zum Empfang, sie blickte auf die Uhr. Es war genau zwölf. »Frau Carlson erwartet mich«, sagte sie zu dem Portier. »Sehr wohl, Madame«, er lächelte. »Die gnädige Frau ist in der Halle.« Er machte eine höfliche Handbewegung zur Glastür hin, die sich automatisch öffnete und schloß. Cora Carlson saß in der hintersten Ecke am Fenster – und doch war es, als befände sie sich in der Mitte der Halle, so stark war die Anziehungskraft, die von ihr ausging. Sie war schöner als auf dem Bildschirm, sah auch jünger aus – und Lisa dachte einen erschreckten Herzschlag lang, warum hat Jürgen sich bloß von ihr scheiden lassen? Warum hat er mich geheiratet? Cora Carlson führte die Zigarette zum Mund, die Lippen umschlossen das Mundstück wie in einer Liebkosung. Mit diesen weiten, großen, unsichtbar geschminkten Augen schaute sie Lisa entgegen und begann dann sehr herzlich und gar nicht auf Wirkung bedacht zu lächeln; sie erhob sich in einer einzigen gleitenden Be75
wegung, sagte mit diesem herzlichen Lächeln: »Sie sind Lisa, nicht wahr?« »Ja, das bin ich«, murmelte Lisa und fühlte sich ungelenk und eingeschüchtert. »Oben in meinem Zimmer hätten wir es natürlich intimer gehabt«, sagte Cora, »aber ich bin beim Packen, und es war ein so scheußliches Durcheinander, daß ich es Ihnen wirklich nicht zumuten wollte. Aber setzen wir uns doch. Leisten Sie mir bei einem Tee Gesellschaft?« »Ja, gern.« Sie setzten sich einander gegenüber. Cora gab die Bestellung auf, einem zierlichen Mädchen im Dirndl, das ganz verklärt »dankeschön, Madame« hauchte. »Zigarette?« »Ja, danke«, Lisa nahm eine aus dem angebotenen flachen Weißgoldetui. Cora gab ihr auch Feuer, und dann sagte sie: »Ich wurde natürlich überrascht von Ihrem Anruf. Aber ich bin froh, daß wir uns nun kennenlernen.« »Ich bin froh, daß Sie Zeit für mich haben«, antwortete Lisa. »Aber dazu war ich viel zu neugierig auf Sie.« Cora lachte weich. »Schließlich – ich habe so viele Jahre mit Jürgen verbracht, daß es mich natürlich interessiert, wer meine Nachfolgerin ist. Und auch schon wegen meiner Kinder.« »Ich wollte mit Ihnen über Horst sprechen«, sagte Lisa rasch. »Ja?« Die geschwungenen Augenbrauen hoben sich ein wenig. »Ich habe heute beim Aufräumen gesehen, daß Jürgen schon Weihnachtsgeschenke für Horst gekauft hat. Ich – wir wissen sicher beide, wie sehr er gerade an Horst hängt. Und ich wollte Sie sehr herzlich bitten, daß er Weihnachten mit uns verbringen darf.« Cora hatte den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, während Lisa sprach, ihre silbrig gepuderten Lider verbargen jetzt ihre Augen. »Diese Entscheidung liegt nicht bei mir«, sagte sie schließlich. 76
»Sehen Sie, Horst war in den letzten zwei Wochen sehr krank. Ein Fieber – das seelische Ursachen hatte. Die Trennung von Jürgen und mir hat ihm doch mehr zu schaffen gemacht, als zu erwarten war.« »Aber er hat doch zwei Jahre lang nicht darunter gelitten?« »Nein, nach außen hin nicht«, gab Cora zu und sah Lisa wieder voll an. »Er ist ein tapferer kleiner Bursche, mit dem man auch schon richtig vernünftig reden kann. Aber als er hörte, daß mein Mann – entschuldigen Sie, daß Jürgen wieder geheiratet hat, da hat er einfach durchgedreht.« »Werden Sie über Weihnachten bei ihm in Hamburg sein?« fragte Lisa. »Ja«, sagte Cora. »Würden Sie – würde es Ihnen denn etwas ausmachen, statt in Hamburg mit Horst bei uns Weihnachten zu verbringen. Mit uns allen?« Es war wie ein Sprung in eiskaltes Wasser. »Welch eine Idee«, sagte Cora, und dann, »Sie haben weiß Gott Mut. Aber je mehr ich darüber nachdenke, die Idee ist gar nicht schlecht. Weiß Jürgen davon?« »Nein. Es würde eine Überraschung für ihn sein.« »Aber – was werden Peter und Lydia dazu sagen?« »Sie werden sich bestimmt freuen.« Cora biß sich auf die Lippen, in ihren Augen war ein nicht zu deutender Ausdruck. »Warum eigentlich nicht«, sagte sie langsam. »Jürgen und ich haben uns ja in Freundschaft getrennt, und ich habe immer gewußt, daß er nicht allein bleiben würde.« »Wenn Sie morgen aus Hamburg mit der Mittagsmaschine zurückkämen, könnte ich Sie am Flughafen abholen«, schlug Lisa vor. Das Herz klopfte ihr jetzt bis in den Hals. »Das ist lieb, aber nicht nötig. Ich kann ja ein Taxi nehmen.« »Sie kommen also?« fragte Lisa. »Ja. Ich mache nur eine Einschränkung.« Cora hob ihre zarten 77
Hände. »Horst muß gesundheitlich so in Ordnung sein, daß ihm die Reise nicht schaden kann.« »Ist er noch im Krankenhaus?« fragte Lisa. »Nein. Birke, meine alte Garderobiere hat ihn abgeholt und paßt nun auf ihn auf.« »Ich freue mich, daß Sie mit Horst zu uns kommen wollen«, sagte Lisa. »Ich hoffe, Sie wissen, wie sehr?« »Sonderbar«, Cora schüttelte lächelnd den Kopf, »ich hatte Sie mir ganz anders vorgestellt. Aber jetzt begreife ich, daß Jürgen«, sie zögerte unmerklich, »Sie braucht.« Wenig später verabschiedeten sie sich voneinander, weil Lisa noch eine Verabredung mit ihrer Mutter in einem Kosmetiksalon hatte. Cora blieb nachdenklich zurück; sie ließ sich noch einen zweiten Tee kommen, vergaß jedoch, ihn zu trinken. Lisa war nett, sehr nett, eine junge Frau, wie man sie sich als Schwester oder Freundin wünschte; sie war so klar wie ein Glas Wasser und ebensowenig kompliziert. Warum deprimiert es mich denn so? dachte Cora. Warum will ich tun, worum sie mich gebeten hat, und bin trotzdem bedrückt? Weil du weißt, daß man an eine Frau wie sie einen Mann endgültig verlieren kann, gab sie sich selbst die Antwort. Aber ich habe Jürgen schon vor zwei Jahren verloren – ich habe ihn damals freiwillig aufgegeben. Du hast aber bis heute geglaubt, daß du zu jeder Zeit zu ihm zurückkehren könntest, wenn du es nur wolltest. Cora wußte es selbst noch nicht – und hätte sie es geahnt, sie hätte es niemals zugegeben; aber an diesem Morgen, als sie die zweite Frau ihres Mannes kennenlernte, begann sie Jürgen wieder zu lieben. Sah ihn wieder so wie in jenen ersten Jahren ihrer Ehe, als sie es nicht ertrug, nur eine Nacht ohne ihn zu sein. Als sie so78
gar auf seine Freunde und seine Arbeit eifersüchtig war.
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ora flog nach Hamburg, bestellte gleichzeitig ein Rückflugticket für den Heiligabend nach München. Zu Hause, in Hamburg, in ihrer Wohnung am Jungfernstieg, kam Horst ihr entgegengelaufen. Seine Augen glänzten, seine Wangen waren gerötet. Er klammerte sich an sie, als habe er sie Monate oder gar ein Jahr lang nicht gesehen. »Er hat kein Fieber mehr«, sagte Birke, ihre alte Garderobiere, die Coras besorgten Blick bemerkte. »Er hat auch schon wieder kräftigen Appetit, der kleine Kerl. Heute morgen war ich mit ihm draußen in Hagenbeck. Und er hat nicht die Affen mit den Erdnüssen gefüttert, sondern sie allemang selbst verspeist.« »Bist du gut gewesen, Mama?« fragte Horst, als sie dann gemütlich bei einer Tasse Schokolade und Marzipangebäck, das Birke selbst gebacken hatte, in der Kuschelecke am Kamin saßen. »Was für ein Stück hast du diesmal gespielt, Mama?« »Gar keines«, sagte sie, »ich habe in München nur wegen eines neuen Fernsehspiels verhandelt.« »Warum hab' ich dich nicht sehen dürfen im Krankenhaus, Mama? Die haben einen Fernseher auf der Station, aber die Schwester Amalie hat gesagt, das Stück ist nichts für mich. Sie wollte mir auch gar nicht glauben, daß ich dein Sohn bin, weil ich doch einen anderen Namen habe.« 79
»Es war wirklich kein Stück für kleine Jungens«, sagte Cora. »Du hättest dich bloß gelangweilt.« »Aber du bist doch nicht langweilig, Mami, du bist doch schön.« Horst drückte sich eng an sie. »Ich finde, keine Frau ist so schön wie du. Bleibst du jetzt bei mir? Auch morgen, wo doch Weihnachten ist?« »Sicher bleibe ich bei dir.« »Kommt auch niemand heute abend zu Besuch?« »Niemand.« »Darf ich dann bei dir schlafen?« »Ja, Horst.« »Ach, Mami, du gehörst nur mir allein, nicht wahr, Mami?« Und es war ihr, als versenge sie seine dunkle Zärtlichkeit. Und erst abends, als er bei ihr lag, in ihrem Arm, seine heiße Wange auf ihrer Haut, fragte er leise: »Hast du auch meinen Vati gesehen?« »Ja, Horst.« »Hast du ihm auch meinen Brief gegeben?« »Ja.« »War er sehr traurig, daß ich bei dir bleiben will?« Cora erwiderte: »Ja, Horst, er war sehr traurig.« »Aber er hat doch verstanden, daß ich ihn immer noch lieb habe, oder? Und nur dich ein bißchen lieber.« »Weil er dich lieb hat, Horst, hat er es bestimmt verstanden.« »Es tut mir leid, wenn Vati traurig war«, sagte Horst. »Wenn du willst, können wir ihm eine große Freude machen«, sagte sie vorsichtig, »nämlich morgen zu ihm fliegen und Weihnachten mit ihm feiern.« »Wirklich?« Horst richtete sich im Dunkeln auf. »Ist das wirklich 80
wahr?« »Ich hab' sogar schon die Flugkarten.« »Aber – es geht doch gar nicht.« Er schluckte, und sie hörte, daß er vergeblich versuchte, nicht zu weinen. Sie zog ihn zu sich und nahm ihn fest in ihre Arme. »Alle werden da sein«, sagte sie leise, beruhigend, »Lydia und Peter. Und sie haben jetzt ein schönes, neues Haus mit einem großen Garten. Und Schnee liegt in München. Vielleicht können wir auch an einem Tag in die Berge fahren.« »Aber das geht doch alles nicht. Das ist doch alles dummes Zeug!« »Horst, Horst, wein doch nicht so.« »Aber die – die andere Frau ist doch da. Die – die Vati jetzt geheiratet hat. Ich will doch keine Stiefmutter. Die sind doch alle böse. Die sind doch ganz falsch! Die –« Cora knipste die Nachttischlampe an und schob Horst sanft, aber bestimmt von sich. Sie nahm ein Taschentuch aus der Nachttischschublade, ließ den Jungen hineinschneuzen. »So«, sagte sie, »jetzt ist es genug. Jetzt hörst du sofort auf zu weinen. Wer hat dir den Unsinn von der bösen Stiefmutter eingeredet?« »Niemand«, sagte er zu schnell und kaum hörbar. »Jemand in München, in der Schule?« »Nein.« »Hier? Dein Freund Karsten?« Horst kannte Karsten von seinen verschiedenen Besuchen bei ihr her. Er wohnte zwei Etagen unter ihnen. Karstens Vater war zum dritten oder vierten Male verheiratet. Horst schüttelte wild den Kopf. »Also doch«, sagte Cora. Horst schwieg. 81
Sie nahm sein Kinn in ihre Hand und hob seinen Kopf. »Und so etwas Dummes glaubst du? Bloß weil der Karsten es dir erzählt hat?« Horst preßte die Augen fest zu, um sie nicht anzusehen. »Dem Karsten werde ich ein paar auf seinen Hosenboden geben, wenn er noch mal einen solchen Unsinn erzählt.« »Aber – aber er hat doch Erfahrung«, schluchzte Horst. »Er hat doch schon die zweite Stiefmutter, und die sind alle gleich. Eine ist immer schlimmer als die andere. Die erste, die hat ihm nie was Warmes zu essen gemacht. Und jetzt die, die verhaut ihn immer.« »Aber Lisa tut doch so etwas nicht«, sagte Cora. »Du kennst sie doch, du bist doch schon mit ihr und Vati im Zoo in München gewesen. Na, habt ihr da etwa keinen Spaß gehabt?« »Doch. Es war ganz nett. Aber der Karsten sagt, vorher verstellen die sich immer. Nur wenn sie erst mal unter der Haube sind, dann geht es los.« »Der Karsten hat wahrscheinlich Pech mit seiner zweiten und dritten Mutter«, sagte Cora. Sie vermied absichtlich das Wort Stiefmutter. »Aber dann hat Karstens Vater eben keinen guten Geschmack. Und sieh mal, du magst mich doch. Wenn dein Vati einen schlechten Geschmack hätte, dann hätte er mich doch gar nicht erst geheiratet. Also?« »Nein, bestimmt nicht«, sagte Horst. »Aber du bist doch auch meine Mutter.« »Und du darfst Lisa ruhig gern haben. Sie wird dich schon nicht enttäuschen.« »Aber, wenn sie es tut, darf ich dann wieder zu dir kommen?« »Du darfst immer zu mir kommen«, sagte Cora. »Gut«, sagte Horst nach einer Weile, »dann hab' ich auch nichts dagegen, wenn du mich morgen nach München bringst und mich da läßt. Dann kann ich doch auch wieder in meine alte Schule gehen? Und mit Vati sonntags spazieren?« 82
»All das darfst du wieder tun«, sagte Cora, und jetzt hätte sie am liebsten geweint. Sie durfte plötzlich einfach nicht daran denken, daß der Junge in wenigen Tagen schon nicht mehr um sie sein würde. Später, als sie glaubte, daß er schon längst schliefe, kam seine Stimme noch einmal leise und scheu: »Darf ich dich noch was fragen, Mami?« »Ja, Horst?« »Bist du mir jetzt auch nicht böse, daß ich wieder von dir weggehe?« »Ich bin nur ein bißchen traurig«, sagte sie vorsichtig. »Aber das ist man ja immer, wenn man jemanden lieb hat und von ihm Abschied nimmt.« »In den Ferien komme ich wieder zu dir. In den Osterferien und auch in den großen Ferien.« »Ja, in allen Ferien.« »Gute Nacht, Mami.« »Gute Nacht, Horst.« All das wäre nicht nötig gewesen, dachte Cora, während sie mit weit offenen Augen lag und auf den nun ruhigen, gleichmäßigen Atem des Jungen lauschte. All das wäre nicht passiert, wenn nicht dieses brennende, wahnwitzige Etwas in mir wäre, daß mich fortgetrieben hat, wieder zurück auf die Bühne. Auf die Bühne, und das Licht verlöscht, und die Zuschauer sind nur noch ein einziges riesiges atmendes Geschöpf – fremd und unberechenbar –, aber dessen Beifall man braucht, an dessen Applaus man sich berauscht. Die Hitze der Scheinwerfer und immer die Angst, daß die Stimme nicht so kommt, wie sie soll, und die Panik, daß man im Text steckenbleibt und daß man hölzern wirkt. Und der Partner, der den 83
Einsatz verpatzt. Und die junge Rivalin, die mit ihrem rosigen Fleisch protzt. Aber dann der Beifall, und jedesmal erwacht sie wie aus einer Trance, wie aus einem Alptraum, wenn sie weiß, daß er ihr gilt. Und dann dieses Glück, diese atemlose Glückseligkeit, du hast es wieder geschafft. Du hast sie mitgerissen. Dir jubeln sie zu. Und noch später, wieder in der Garderobe, die Erschöpfung, die Falten ins Gesicht gezeichnet hat, wo vorher keine waren. Und die schwere Leere im ganzen Körper. Und Birke sagt: »Sie haben sich wieder mal ganz ausgepumpt. Aber gut waren Sie, Frau Carlson. Zu Füßen möcht' man sich Ihnen legen ...« Aber sie fährt allein ins Hotel, muß Schlaftabletten nehmen, um Ruhe zu finden. Am anderen Tag stehen Kostümproben und Friseur, Textproben und ein Interview mit einem scharfen, jungen Reporter von einem kritischen Magazin auf dem Programm. Und wieder am Abend ihr Name als erster – in großen schwarzen Lettern auf dem Plakat. Cora Carlson. Und dann kommt die Angst wieder und das Herzklopfen, und der Tanz auf dem Glatteis des Ehrgeizes und der Einsamkeit auf der Bühne geht von neuem los. Hat es sich dafür gelohnt, dachte Cora in dieser Nacht vor Heiligabend verwirrt, lohnt es sich dafür, daß ich den Mann, den ich liebte, die Kinder, meine eigenen Kinder, aufgegeben habe?
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irke trug wie immer zur Hausarbeit ein straffgespanntes Kopftuch. Ihr Gesicht wirkte so wie das einer rundlichen Bauernmagd. Aber sie ging so vorsichtig mit dem zu spülenden Porzellan um, als sei jedes einzelne Teil unersetzlich. Weil es so gemütlich war, hatten Cora und Horst bei ihr in der Küche gefrühstückt. Es gab selbstgebackenen Weihnachtsstollen und Kakao dazu. Horst sah alle paar Minuten auf die Armbanduhr, die Cora ihm zu Weihnachten gekauft hatte und ihm heute morgen schon mit einer verschwenderischen Menge von Süßigkeiten in einem riesigen roten Pappstiefel geschenkt hatte. Er trank seinen Milchkakao so hastig, daß er sich verschluckte, und aß sein Stück Stollen in einem Tempo, als müsse er ein Wettessen gewinnen. Es war noch viel zu früh, um zum Flughafen zu fahren, aber Cora gab Horsts Drängen, »wann geht's denn endlich los?« schließlich nach. Sie verzichtete auf die Frühstückszigarette, stand auf, um in ihr Zimmer zu gehen und sich anzukleiden. Birke sagte keinen Ton dafür oder dagegen, machte nur den ganzen Morgen schon ein mürrisches Gesicht. »Was ist los?« fragte Cora, als Horst hinausrannte, um seinen Mantel und die Stiefel anzuziehen. »Nichts ist los! Ich finde mang bloß, daß Sie da 'ne große Dummheit machen. Sie tun sich doch mang bloß selbst weh.« Birke warf ihr einen schnellen ärgerlichen Blick zu. »Würde mich gar nicht wundern, wenn Sie überhaupt wieder da blieben, bei der lieben Fa85
milie und den lieben Kinderchen.« »Ach, Birke«, Cora lachte verlegen, »die Kinderchen sind inzwischen erwachsen und mein Mann zum zweiten Male verheiratet.« »Bleiben's lieber hier, ich hab' so ein dummes Gefühl.« »Hast du was geträumt, Birke?« fragte Cora hastig. »Geträumt nicht, aber so ein Gefühl. Wenn Sie mich wenigstens den Jungen hinbringen täten lassen.« »Du willst fliegen?« fragte Cora verblüfft. »Warum nicht?« fragte Birke aufsässig. »Ich hab' in der Zeitung gelesen, daß im Verhältnis viel mehr Autos verunglücken als Flugzeuge. Tun Sie mir den Gefallen, Frau Carlson, und lassen Sie mich den Jungen hinbringen.« »Falls Horst damit einverstanden ist«, sagte Cora zögernd. »Womit?« fragte Horst, der fix und fertig angezogen in der Küchentür erschien. »Birke möchte dich nach München bringen«, sagte Cora. »Ooch«, machte er, »und du?« »Ich bleibe halt hier. Birke möchte so gern einmal fliegen.« Der Junge sah mißtrauisch von ihr zu Birke und wieder zurück. »Ich weiß warum, Birke hat Angst, du kommst nicht zurück. Und dann ist sie ganz allein. – Na ja, mir soll es recht sein«, sagte er großzügig. Wie schnell er zustimmte – es tat Cora weh, und sie spürte, wie Tränen in ihre Augen schossen. Sie wandte sich rasch ab, sagte: »Na, fein. Hoffentlich habt ihr klare Sicht, damit Birke auch was vom Flugzeug aus sehen kann.« Horst kam zu ihr, schob seine Hand in ihre Hand und sah zu ihr auf. »Ich glaube, Birke hat doch recht, Mami. Wenn du mitkommst und Vati dich wieder sieht, dann will er dich doch bestimmt dabehalten. Und weil Lisa doch nett ist und er doch jetzt mit ihr verheiratet ist, geht das doch nicht, oder?« »Nein, das würde schlecht gehen.« 86
Er lächelte mit diesen riesigen dunklen Augen zu ihr auf. »Ach, Mami. Ich komme ja bald wieder, in den nächsten Ferien...« Sie nahm ihn fest in die Arme, küßte ihn auf die Augen und auf die Wangen, schob ihn dann zur Küche hinaus. Birke stand schon in Hut und Mantel und mit Schirm bewaffnet da. »Ich hab' ein Taxi bestellt, war doch recht?« »Natürlich, Birke.« »Es ist schon da!« rief Horst aufgeregt. »Bis heute abend«, sagte Birke, »und vergessen Sie nicht, Frau Carlson, heute mittag essen Sie nur die Forelle und den grünen Salat, damit Sie heute abend noch Platz für meine gefüllte Kalbsbrust haben.« »Ja, Birke, ich denke dran.« Cora schob die beiden aus der Wohnungstür. Horst rannte zum Aufzug, drückte ungeduldig auf den Fahrknopf. Als der Aufzug mit ihnen nach unten sank, kehrte Cora in die Wohnung zurück, ging zum Fenster im Wohnzimmer, beobachtete, wie sie unten in das Taxi stiegen. Horst hob noch einmal den Kopf und sah zu Cora hinauf, aber er schien sie nicht entdecken zu können, denn er winkte nicht. Eine Stunde später brachte ihr ein Bote 22 weiße Rosen – Jürgens Weihnachtsgeschenk. Jürgen Karlsbad war gelöst und heiter von seinem alten Freund Johannes Pfälzer in Nürnberg zurückgekehrt. Während er nun vor dem großen Fenster zum Garten den Baum schmückte und Lisa ihm dabei half, berichtete er ihr von dem Schlachtplan, den sie, die Klage ihres Vaters und den Singervertrag betreffend, ausgearbeitet hatten. 87
Johannes glaubte, daß Singer Ärger mit seinem amerikanischen Agenten wegen Menken bekommen hatte, dem er jetzt entgehen wollte, indem er Krankheit vorschützte. Um das herauszufinden, würden Johannes und Jürgen gleich nach Neujahr nach New York fliegen. Sollte Johannes' Annahme zutreffen, würden sie versuchen, mit Singer zu sprechen und sich zu einigen. Würde das wiederum nicht möglich sein, sollte Jürgen gegen Singer auf Einhaltung des Vertrages klagen. »Hört sich ziemlich kompliziert an«, lachte Jürgen, »aber ist es gar nicht.« Er nahm Lisa um die Schultern. »Ich bin nur froh, daß du mich überhaupt auf die Idee gebracht hast, gegen die Klage und letztlich damit auch gegen deinen Vater anzukämpfen.« »Du warst zu überrascht und verwirrt, sonst wärst du von selbst drauf gekommen«, widersprach Lisa. »Recht hast du, und jetzt wollen wir nicht mehr davon reden. Jetzt fängt für uns beide schon unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest an«, sagte er zärtlich. Er hob ihr Kinn und sah ihr in die Augen. »Ich hoffe, daß es das erste von vielen sein wird. Weil ich dich sehr, sehr lieb habe.« »Ich dich auch«, sagte Lisa leise. »Entschuldigt, ich wollte nicht stören«, sagte Peter wirklich schuldbewußt. »Tust du aber, mach die Tür hinter dir zu, und komm in fünf Minuten wieder rein!« konterte Jürgen, aber es klang nicht ärgerlich. Peter grinste und gehorchte. »So«, sagte Jürgen und nahm Lisa wieder in die Arme. Er küßte sie auf den Mund, und als Peter zum zweiten Male anklopfte, fuhren sie wieder auseinander. Sie lachten alle drei. Jürgen holte eine Flasche Sekt aus dem 88
Keller, und sie stießen miteinander an. Peter nippte nur an seinem Glas. Er rutschte auch unruhig auf dem Sessel hin und her. »Was ist los mit dir? Willst du noch mal weg?« fragte Jürgen. Peter sah unglücklich von ihm zu Lisa und zurück. »Ja –« »Er fährt zum Flughafen«, sagte Lisa fest. »Wie bitte? Hast du jemanden zu Weihnachten eingeladen?« »Er holt Lydia und Horst ab.« »Das ist doch nicht euer Ernst?« »Lydia hat gestern angerufen«, erklärte Lisa. »Ich habe ihr telefonisch das Geld für den Flug geschickt. Ich konnte dich nicht um dein Einverständnis fragen, weil du ja in Nürnberg warst. Und außerdem hat Cora angerufen und gesagt, daß Horst doch Weihnachten hier bei uns verbringen möchte.« Der erste Teil ihrer Antwort war eine klare Lüge – Lisa hatte Lydia angerufen und ziemlich hartnäckig bitten müssen, zum Heiligabend aus London nach Hause zu kommen. Der zweite Teil stimmte insofern, als Cora an diesem Morgen Lisa telefonisch von dem geänderten Plan unterrichtet hatte, daß nicht sie, sondern Birke Horst zurück nach München bringen werde. »Ihr könnt mich zwar für blöde und sentimental halten, aber ich bin einfach irrsinnig glücklich«, sagte Jürgen. »Die ganze Familie zusammen. Das ist ja fabelhaft!« Er stand auf und ging ein paar Schritte weg von ihnen, zum Fenster. Peter verschwand lautlos nach einem einverständlichen Blick mit Lisa. »Ich bin nun mal ein Mann, der an seinen Kindern hängt. Überhaupt an seiner Familie.« »Ich glaube, das ist mit ein Grund, warum ich dich so mag«, sagte Lisa lächelnd. 89
»Aber es ist doch sentimental – heutzutage...« »Mich macht es sehr froh«, sagte Lisa, »weißt du, hier bei dir habe ich zum erstenmal kennengelernt, wie das ist, wenn Menschen aneinander hängen, wenn sie zärtlich zueinander sind. Ich meine, wenn Gefühle im Spiel sind. Weißt du, wie meine Eltern in den letzten Jahren Weihnachten verbracht haben? Mein Vater in London oder Paris und meine Mutter in Kitzbühel.« »Und du?« »Zu Hause. Mit Sofia.« Jürgen kam zu Lisa und setzte sich auf ihre Sessellehne. Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich habe mich manchmal gefragt, warum du dich nicht schon früher von deinen Eltern getrennt hast? Auf eigene Füße gestellt?« »Ohne dich hätte ich nicht den Mut dazu gefunden. Ich habe mir immer noch eingebildet, meine Mutter braucht mich. Sie war häufig krank und – mein Vater hat sich nie viel darum gekümmert.« »Ich habe deiner Mutter geschrieben und für ihre angebotene Hilfe gedankt und Blumen geschickt.« »Danke«, sagte Lisa. »Und jetzt laß uns weitermachen, sonst ist der Baum nicht fertig, wenn die Kinder zurückkommen. Ich muß auch die Ente in die Röhre tun und den Salat noch vorbereiten.« »Ist das nicht alles ein bißchen viel für dich?« fragte Jürgen. »Das große Haus und die viele Arbeit –« »Im Gegenteil«, sagte sie fröhlich, »du glaubst ja nicht, wie wohl ich mich dabei fühle.« Als eine Stunde später die Kinder kamen, waren die Geschenke ausgebreitet, die Kerzen am Baum brannten, und aus der Küche roch es würzig nach der Ente à l'Orange. Lydia flog ihrem Vater um den Hals und erklärte strahlend, daß London zu Weihnachten einfach zu öde sei! Peter schnitt hinter 90
ihrem Rücken eine spöttische Grimasse. Horst machte eine ernsthafte Verbeugung vor Lisa und sagte: »Ich danke dir, daß ich Weihnachten in meinem Elternhaus verbringen darf.« »Ich freue mich sehr, daß du unsere Einladung angenommen hast«, gab Lisa im gleichen Ton zurück und schüttelte ihm die Hand. Jürgen klopfte ihm auf die Schulter, sagte: »Na, junger Mann, hast du einen guten Flug gehabt?« »Danke, ich kann nicht klagen, obwohl Birke –« Lydia prustete heraus: »Horstel, hör auf! Ich kann nicht mehr!« Sie warf sich auf die Couch. »Wer hat denn den Quatsch mit dir einstudiert?« »Birke«, sagte der Junge prompt. »Und ich finde, da ist gar nichts zum Lachen bei. Es ist einfach feines Benehmen. Obwohl es anstrengend ist, sich immer daran zu erinnern. Das muß ich zugeben.« »Na, dann vergiß es mal fürs erste, und schau dir deine Geschenke an«, lachte Jürgen. »Nein, noch nicht!« rief Peter. »Erst singen!« Und Lisa spürte, wie ihre Augen naß wurden, als die Kinder tatsächlich zu singen begannen; die jungen Stimmen mit einemmal doch gläubig, junge Menschen mit einemmal vielleicht doch – und wenn es nur für ein paar Minuten war – an das denkend, was vor zweitausend Jahren die Welt verändert hatte. Jürgen nahm ihre Hand und hielt sie sehr fest, und sie wußte dankbar, daß er das gleiche empfand wie sie. Der Anruf aus Hamburg kam abends um elf Uhr. Birke war am Apparat und verlangte mit einer tonlosen, heiseren Stimme, Jürgen zu sprechen. 91
Er lauschte eine Weile, sagte dann: »Ja; sofort morgen früh. Mit der ersten Maschine. Ja, Birke, das war doch selbstverständlich.« Lisa sah zu ihm hinüber, wie er dastand, er hatte ihr den Rücken zugekehrt, sie sah, wie müde und alt mit einemmal seine Schultern wirkten. Sie stand auf, nahm seinen Cognacschwenker, ging zu ihm, hielt ihn ihm hin. Er hob den Kopf nicht, sagte nur: »Cora hat versucht, sich umzubringen.« Er streckte seine Hand nach dem Glas aus. Seine Finger griffen daneben. Es lief wie Schüttelfrost durch seinen Körper. Sein Kopf fuhr hoch, mit einem verwunderten, entsetzten Ausdruck in den Augen. Seine Rechte fuhr zur Brust, die andere versuchte, noch das Kaminsims zu packen, dann fiel er vornüber. Lisa konnte ihn noch gerade so weit auffangen, daß er nicht voll auf den Boden schlug. »Jürgen«, flüsterte sie, »Jürgen!« Und dann schrie sie: »Peter! Peter!« Das Poltern von Schritten auf der Treppe, Peter und Lydia zur gleichen Zeit. Sie halfen Lisa, Jürgen auf das Fell vor dem Kamin zu betten. Peter telefonierte nach einem Arzt. Lydia lief ins Bad nach Kreislauftropfen. Der Arzt versprach, sofort zu kommen. Lisa kniete neben Jürgen nieder, legte vorsichtig die Arme um ihn. Horst hockte sich neben sie, ganz still. Lisa sah, wie nach einigen Minuten Jürgens Lider zitterten, sich halb öffneten. »Jürgen«, sagte sie leise, beruhigend, »der Arzt kommt sofort. Du brauchst keine Angst zu haben.«
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Aber er hatte Angst, er hatte diese panische, aushöhlende Angst, die mit der Atemnot gekommen war, mit dem Schmerz, der ihm die Rippen zusammenpreßte. Er hatte Todesangst. Er dachte es ganz klar: Todesangst. Er sah auch Lisa ganz klar, und Horst und Peter und Lydia, und er dachte: Es ist zu spät. Ich habe Lisa zu spät gefunden. Und meine Kinder zu spät erkannt. Cora, wollte er fragen, Cora – aber seine Stimme gehorchte ihm nicht. Er konnte sie nicht hören. »Der Arzt kommt sofort, bitte, hab' keine Angst, bitte Lieber, hab' keine Angst«, wiederholte Lisa. Aber die Angst stieg, die Angst war überall, in seinem Bauch, in seiner Brust und in seinem Kopf. In seinen Armen und in seinen Beinen. Lisa strich ihm übers Haar, und dann war Peter neben ihr. Auch er kniete neben ihm, und Jürgen sah in den Augen des Jungen die gleiche Angst, wie er sie empfand. Und Lydia schluchzte. »Sei doch still, Lydia, bitte sei doch still«, sagte Lisa. Dann kam der Arzt. Dr. Bogenwald. Das war gut. Ein guter, verläßlicher Mann. Jürgen schloß die Augen. Die Angst ging ein bißchen weg. Kroch lautlos zurück. Blödsinnige Angst. Hab' zu viel gegessen oder getrunken. Mir ist schlecht geworden. Bin einfach umgekippt. Kann doch jedem passieren, wie? Die Angst rutschte wieder näher. Er konnte sie nicht sehen, aber er konnte sie wieder ganz nah spüren, und er wußte, daß sie häßlich und schwarz war. Jürgen zuckte unter dem Einstich einer Injektion zusammen. Er drehte den Kopf ein bißchen, versuchte wieder, die Augen zu öff93
nen. »Lisa –« Jetzt hörte er seine eigene Stimme. Aber sie klang ganz verwaschen, ganz so, als sei er betrunken. Er versuchte es noch einmal, »Lisa –« »Ich bin ja bei dir, Lieber.« »Er wird gleich schlafen«, hörte er den Arzt noch sagen, und dann wußte er nichts mehr. Jürgen Karlsbad wurde noch in derselben Nacht in die Intensivstation Rechts der Isar gebracht. Er bekam ein Einzelzimmer, und der Professor selbst kümmerte sich um ihn. Bogenwald hatte ihn herbeitelefoniert. Lisa und Peter warteten in einem kleinen grüngestrichenen Empfangszimmer auf das Ergebnis der ersten Untersuchung. Draußen, auf dem Hof, trafen fast pausenlos sirenenheulende Ambulanzen ein. Schließlich kam Dr. Bogenwald zu ihnen. »Wir haben Glück gehabt«, sagte er. »Ihr Mann hat einen ganz flüchtigen leichten Gehirnschlag erlitten.« Peter knirschte hörbar mit den Zähnen. »Was bedeutet das?« fragte Lisa leise. »Im Augenblick äußerste Schonung.« »Ja. Und dann?« »Ich schätze, vier Wochen Klinikaufenthalt, dann ein gesünderes, normaleres Leben. Vor allem beruflich nur noch mit halber Kraft voraus.« »Aber – er wird leben?« fragte Lisa. »Ja – wenn nichts Unvorhersehbares eintritt.« Peter legte ihr den Arm um die Schultern. Erst da merkte sie, daß sie weinte. »Vor allem darf Ihr Mann keine Aufregungen haben in der nächs94
ten Zeit. Das ist oberstes Gebot.« »Dürfen wir noch einmal zu ihm, jetzt?« fragte Lisa. »Besser wäre erst morgen. Sie sehen sehr mitgenommen aus, wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen, Frau Karlsbad.« »Ja«, sagte Lisa, »ja, Sie haben gewiß recht.« Peter fuhr sie nach Hause. Der Weg schien endlos und unbekannt. Durch die weihnachtlich geschmückte Nacht. Laß ihn leben, bitte, laß Jürgen leben, es war das einzige, was Lisa denken konnte. Lydia und Horst erwarteten sie. Blaß und sehr still. »Mutter geht es besser«, sagte Lydia nur. »Birke hat eben noch mal angerufen. Mutter ist außer Gefahr. – Und Vater?« »Er wird eine Weile ausspannen müssen«, antwortete Lisa. »Er braucht jetzt viel Schonung.« Sie legte Lydia den Arm um die Schultern. »Leg dich nur wieder hin, du siehst ganz kaputt aus.« »Wir sind alle schuld«, sagte Lydia. »Wir haben uns immer auf ihn verlassen. Wir alle. Er hat immer alle Verantwortung gehabt, für Mutter und für uns.« »Laß Lisa jetzt nach oben gehen«, sagte Peter. »Sie muß ein paar Stunden Schlaf kriegen.« »Aber wer soll denn schlafen, wenn so was passiert?« begehrte Lydia auf. »Du bist vielleicht ein gefühlloser Kerl!« »Halt das, wie du willst«, sagte Peter. »Nur, einer von uns beiden muß morgen nach Hamburg fliegen, Lisa muß sich um Vater kümmern. Und Horst ist ja auch noch da.« Er nahm Horst um die Schultern und berührte Lisas Arm. »Bitte, geh jetzt nach oben. Ich mach überall das Licht aus und schau, daß alles in Ordnung ist.« »Aber wenn das Krankenhaus anruft?« »Ich nehme das Telefon mit in mein Zimmer. Ich wecke dich sofort. Und dich auch, Lydia. Also, geht schon!« Lydia wandte sich stumm um und lief die Treppe hinauf. »Gute Nacht«, sagte Lisa müde und folgte ihr. 95
Sie ging in ihr Schlafzimmer, zog sich aus, tat alles ganz mechanisch. Sie legte sich auf Jürgens Seite, so, als könnte sie da noch ein bißchen von seiner Wärme finden. Noch vor drei Stunden waren sie so glücklich gewesen. Noch vor drei Stunden war es gewesen, als könne nichts Böses mehr geschehen. Vielleicht waren wir zu glücklich, dachte Lisa selbstquälerisch. Vielleicht hatten wir es einfach nicht verdient. Peter nahm Horst mit in sein Zimmer und brachte ihn zu Bett. Der Junge sagte kein Wort, nur in seinen großen dunklen Augen flackerte die Angst. Peter gab ihm eine halbe Schlaftablette, Horst schluckte sie folgsam. »Sterben jetzt beide?« fragte Horst. »Nein«, sagte Peter. »Versprichst du's?« »Ich verspreche es«, sagte Peter.
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leich am nächsten Morgen, zwischen acht und neun Uhr früh, rief Lisa im Krankenhaus Rechts der Isar an. Sie wurde sehr rasch mit der Intensivstation verbunden und mit dem zuständigen Oberarzt. Sie erfuhr, daß Jürgen – den Umständen entsprechend – eine gute Nacht gehabt hatte. 96
Peter und Lydia standen stumm bei ihr, lauschten mit angespannten Gesichtern. »Wer hat denn meine Eisenbahn kaputtgemacht?« rief Horst da aus dem Wohnzimmer. »Mensch, komm doch mal einer her!« »Es geht Vater gut«, sagte Lisa schnell und packte die beiden, Peter und Lydia, einen Moment lang um die Schultern. »Dann kann ich ja nach Hamburg fliegen«, sagte Lydia und machte sich rasch los. »Natürlich kannst du«, antwortete Lisa. »Peter, suchst du einen Flug aus und bringst Lydia nach Riem?« »Sicher.« Aus dem Wohnzimmer war jetzt bitterliches Weinen zu hören. Lisa lief schnell zu Horst. Er saß auf dem Boden vor dem Kamin und hielt die zertretene Lokomotive in den Händen. Lisa hockte sich neben ihm nieder. »Zeig mal her«, sagte sie tröstend. »Vielleicht kann man sie wieder geradebiegen.« »So ein Blödmann«, schluchzte Horst. »So ein doofer Blödmann. So ein Mist. Peter ist draufgetreten!« Viel war nicht mehr mit der Lokomotive anzufangen, aber Lisa nahm Horst mit in die Küche und holte den Werkzeugkasten aus dem Besenschrank. Das Hantieren mit Schraubenzieher und Zangen machte dem Jungen bald mindestens so viel Spaß, als hätte er die Lokomotive noch über die Schienen sausen lassen können. Was in der Nacht zuvor geschehen war, schien er vergessen – oder verdrängt zu haben. Lydia steckte nach einer Weile den Kopf zur Tür herein, sagte: »Ich bin fertig. Wir hauen jetzt ab.« Sie trug die kurze flammendrote Pelzjacke, die Jürgen ihr zu Weihnachten geschenkt hatte und die in diesem Jahr der letzte modische Schrei war. 97
»Warte, ich möchte deiner Mutter etwas mitgeben«, bat Lisa. Sie stieg schnell die Treppe hinauf. In der Nacht noch hatte sie einen Brief an Cora geschrieben, in dem sie ihr dankte, daß sie Horst zu ihnen zurückgeschickt hatte, und in dem sie sie bat, doch nicht mutlos zu sein. Lisa las ihn nicht noch einmal, aus Angst, die Worte könnten ihr jetzt banal erscheinen und sie den Mut verlieren, ihn überhaupt Lydia mitzugeben. Sie hatte auch ein Weihnachtsgeschenk für Cora hinzugefügt – ein kostbares Parfüm, das Jürgen eigentlich ihr geschenkt hatte. »Soll ich Mutter sagen, was mit Vater los ist?« fragte Lydia. Sie steckte das Päckchen und den Brief kommentarlos in ihre Umhängetasche. »Das überlasse ich dir«, sagte Lisa. »Du wirst ja sehen, ob du es wagen darfst.« »Wann soll ich zurückkommen?« »Bleib so lange, wie deine Mutter dich braucht.« »Grüß Vater von mir. Wann fährst du ins Krankenhaus?« »Sobald Peter zurück ist. Damit er bei Horst bleibt.« »Also dann, tschüs.« »Es wird auch Zeit«, sagte Peter. Er schob Lydia vor sich her zur Tür hinaus. Lisa kehrte in die Küche zurück. »Bleibt Lydia jetzt bei meiner Mami?« fragte Horst. »Nur ein paar Tage.« »Von mir aus kann sie wegbleiben. Sie spielt ja doch nicht mehr mit mir.« »Heute hat sie wirklich keine Zeit gehabt«, erklärte Lisa. »Vati ist noch immer krank, nicht?« »Ja«, gab sie zu. »Aber er wird bald wieder gesund.« »Wenn mein Vati nicht mehr aus dem Krankenhaus kommt, kriege ich dann auch noch einen Stiefvater?« »Bestimmt nicht«, sagte Lisa und zwang sich, heiter zu lachen, 98
»denn Vati wird bald wieder gesund.« »Woher weißt du das? Du bist doch kein Doktor.« »Aber der Doktor, der ihn behandelt, hat es mir gesagt.« »Ach so.« Lisa spülte das Frühstücksgeschirr. »Wo ist eigentlich Grete?« fragte Horst. »Auch im Krankenhaus.« Er fing an zu lachen. »Was ist denn daran so komisch?« fragte Lisa ein bißchen irritiert. Horst fragte: »Warum machst du nicht hier ein Krankenhaus auf? Wenn du so eine weiße Haube anziehst und einen weißen Kittel, siehst du bestimmt wie eine Krankenschwester aus. Lydia findet das auch!« »So?« fragte Lisa sonderbar hilflos unter dem Blick der dunklen, lachenden Augen. »Sie meint auch, du hättest Vati gerade noch gefehlt.« »Vielleicht hat sie recht«, sagte Lisa und nahm es jetzt wirklich von der komischen Seite. »Na ja, solange er krank ist, kann er dich dann bestimmt gut gebrauchen«, meinte Horst abschließend. Er nahm pfeifend die halbwegs reparierte Lokomotive mit und verschwand im Wohnzimmer. Lisa ließ sich auf die Eckbank fallen und lachte, bis ihr die Tränen kamen, aber ein bißchen Hysterie war schon dabei. Jürgen war wach, als Lisa um elf Uhr, wie es der Professor erlaubt hatte, sein Zimmer betrat. Ein Weihnachtsstrauß stand auf dem Tisch, ein goldener Stern hing vor dem Fenster. Lisa legte ihre Rosen, an einem Automaten in der City gezogen, auf den Nachttisch, sie ließen schon ein bißchen welk die Köpfe 99
hängen. Sie hatte den kurzen braunen Persianerpaletot angezogen, der Jürgens Weihnachtsüberraschung für sie gewesen war, und darunter das schlichte, cremefarbene Jerseykleid, das er so liebte. »Guten Morgen, Lieber«, sagte sie leise. Sie beugte sich über ihn und küßte ihn auf den Mund. Seine Lippen waren spröde und kalt. »Du siehst gut aus«, sie lächelte ihn an, »schon viel besser.« »Mach mir nichts vor«, sagte seine kranke, verwaschene Stimme. »Es hat mich ganz schön erwischt. Ich kann den rechten Arm nicht bewegen. Und du hörst ja selbst, was mit meiner Stimme los ist.« »Jürgen«, sie griff nach seiner kranken, rechten Hand, drückte sie. »Das geht alles vorbei. Der Professor ist ganz sicher.« »Na klar, du redest schon wie die Heilsarmee.« »Du bist der zweite, der mich heute dafür hält. Horst fand das auch.« »Weiß er –« »Er weiß, daß du krank bist. Man kann gar nichts vor ihm geheimhalten.« »Ist ja auch nicht nötig. Er wird ja bald genug sehen, was mit seinem Vater los ist.« Jürgen drehte das Gesicht zur Wand. »Wenn ich Glück hab', kann ich noch Spazierengehen. Segeln und Tennis ist nicht mehr drin.« »Im Gegenteil, du wirst dir mehr Zeit nehmen dafür. Du wirst wieder ganz gesund. Der Professor hat es gesagt.« »Ja, Lisa.« Es klang resigniert und so, als sage er es nur, um ihr einen Gefallen zu tun. Sie streichelte seine linke Hand, zwang sich, nicht auf die rechte zu sehen, die er nicht mehr bewegen konnte und die so leblos wirkte. »Kannst du dir vorstellen, daß man mit solch einer Stimme noch Plädoyers halten kann? Das Gericht wird mich wegen Trunkenheit 100
verwarnen.« »Auch das gibt sich wieder, Jürgen. Bestimmt.« »Glaubst du?« »Doktor Bogenwald hat mir versichert, daß es nur ein ganz, ganz flüchtiger Gehirnschlag war.« »Ein Anwalt, der einen Hau weg hat. Fein, was?« »Jürgen, jetzt hör aber auf! Sieh mich an, bitte.« Er wandte widerwillig den Kopf, seine Augen wichen ihr aus. »Du redest dich in etwas hinein, und das ist nicht gut. Du mußt daran glauben, daß du wieder gesund wirst.« »Na klar, der Glaube versetzt Berge.« »Für jemand, der, wie du meinst, einen Hau weg hat, bist du aber ganz schön schlagfertig.« Zum erstenmal glitt so etwas wie ein Lächeln in seine Augen. Aber es war sofort wieder verschwunden, und sie sah nur mehr die Depression darin, die Angst. »Es darf niemand etwas davon erfahren, hörst du?« verlangte er. »Du – du mußt dir da was einfallen lassen – wie lange muß ich hierbleiben?« »Zwei oder drei Wochen.« Dr. Bogenwald und der Professor hatten gesagt, mindestens vier, aber es war immer noch früh genug, wenn Jürgen das im Laufe der nächsten Tage erfuhr. »Na schön, zwei Wochen, das geht gerade.« Seine Stimme bekam ein bißchen mehr Festigkeit. »Im Büro kannst du sagen, daß ich eine schwere Grippe über Weihnachten bekommen habe und in die Berge gefahren bin.« »Eben. Das ist doch alles ganz einfach.« »Aber, wenn das mit meiner Stimme bleibt und mit meinem Arm –« »Es wird nicht bleiben. Du sprichst jetzt schon fester als zu Anfang, eben.« »Wirklich?« 101
»Ja, Lieber.« »Drück noch mal meine rechte Hand.« Sie tat es. »Ich glaube, ich hab' ein bißchen was gespürt«, sagte er eifrig. »Na, siehst du.« »Kommst du mich jeden Tag besuchen?« »So oft du willst.« Er nickte. »Das ist gut.« Aber dann verdüsterten sich seine Augen wieder, und er fragte: »Was ist mit Cora?« »Wir haben heute morgen gleich mit Birke telefoniert. Cora ist außer Gefahr. Es war wohl auch nicht so schlimm, wie es zuerst aussah.« »Willst du damit sagen, daß Cora nur Theater gemacht hat?« »Nein, natürlich nicht.« »Das würde Cora auch nie tun.« »Ich hatte es auch nicht so gemeint. Wirklich nicht, Jürgen.« »Aber sie ist jetzt ganz allein in Hamburg.« »Birke und Lydia sind bei ihr.« »Lydia?« »Sie ist zu ihr geflogen.« »Das ist gut. Cora ist wirklich einsam, weißt du. Ich hab's gemerkt, als wir im Conti waren. Zweiundzwanzig Jahre lassen sich eben nicht von heute auf morgen auslöschen.« Lisa sagte nichts, was sollte sie auch schon darauf antworten? »Ich will dir nicht weh tun«, sagte Jürgen. »Aber, wenn man so daliegt und über alles nachdenkt... Ich habe alles, und Cora hat nichts.« »Cora hat ihren Beruf«, sagte Lisa behutsam. »Ja – aber der macht sie letzten Endes kaputt.« »Du solltest jetzt eigentlich nur daran denken, wieder gesund zu werden«, lenkte Lisa ab. 102
»Sicher«, sagte Jürgen, und selbst mit seiner kranken, verwaschenen Stimme klang es sarkastisch. »Hat Peter dich hergebracht?« »Ja. Aber er ist sofort zu Horst zurückgefahren.« »Dein treuer Page, wie?« »Du bist schon wieder ganz schön bissig.« »Ach, Lisa, ich bin einfach durcheinander.« »Die Kinder lassen dich grüßen.« »Danke.« Wieder wandte er das Gesicht zur Wand. »Möchtest du schlafen?« fragte Lisa. »Ja, ich bin müde«, sagte Jürgen. Er ließ ihre Hand los. Sie blieb noch einen Moment lang sitzen, zögerte, wußte wirklich nicht, was sie tun sollte. Nach einer Weile stand sie auf, sagte: »Auf Wiedersehen, Jürgen«, bekam keine Antwort, kein einziges Wort, und ging hinaus. Lisa stand draußen auf dem Krankenhausflur, der sich endlos zu dehnen schien, grau und weiß – nur ganz weit hinten war ein Fenster, durch das dünnes Winterlicht fiel. Eine Schwester trat aus einer Tür, sah sie neugierig und gleichgültig zugleich an, ging geschäftig davon. Irgendwo klingelte ein Telefon, irgendwo spielte ein Radio Weihnachtsmusik. Hinter sich hörte Lisa Stimmen, drehte sich um, sah einen Pulk weißgekleideter Ärzte. Erst da ging sie ins Treppenhaus, zum Aufzug. Unten in der Halle kam Peter rasch auf sie zu. »Du bist noch hier?« fragte Lisa überrascht. »Ich hatte einfach keine Ruhe. Wie geht es ihm?« »Gut. Den Umständen entsprechend.« »Du bist so blaß.« »Das macht das Licht.« »Aber du frierst ja.« Peter legte den Arm um sie. Lisa schüttelte nur stumm den Kopf. 103
Draußen im Wagen schaltete Peter die Heizung auf volle Touren. Er fuhr langsam, als sei sie eine Kranke, die er vor jeder Erschütterung bewahren müßte. »Vater war wahrscheinlich deprimiert«, sagte Peter. »Sehr.« »Ist ja auch klar. Aber du darfst es dir nicht so zu Herzen nehmen.« »Tu ich ja auch gar nicht.« »Wirst sehen, in ein paar Tagen sieht wieder alles ganz anders aus.« »Natürlich, Peter.« »Wenn ich was tun kann –« »Du tust schon so viel«, sagte sie dankbar. Aber dann, fast gegen ihren Willen, fügte sie hinzu: »Vielleicht kannst du mir noch eine Antwort geben. In den letzten Tagen ist so viel passiert, ich komme einfach nicht mehr klar, ich meine, ich kann einfach nicht mehr logisch denken. Glaubst du, daß es falsch war, daß dein Vater und ich geheiratet haben? Ich meine, es war ja nicht nötig. Heutzutage braucht man ja nicht unbedingt zu heiraten. Aber er wollte es. Seit er das Haus im Sommer gefunden hatte, ich meine, da hat er mich ständig gedrängt. Ich hatte Angst davor. Vor der Ehe. Ich hatte Angst vor euch. Und dann hab' ich gedacht, ich darf nicht feige sein. Schließlich nehme ich ja niemandem etwas weg, deiner Mutter nicht und euch nicht. Aber vielleicht wären deine Eltern doch wieder zusammengekommen? Und ich fühle mich jetzt wie ein Eindringling, der ungefragt und ungewollt aufgetaucht ist.« »Du bist ganz schön aus den Latschen, wie?« fragte Peter, und sie hörte genau, er tat es gewollt burschikos. »Aber ich will dir die Antwort geben. Man braucht dich und meinen Vater bloß zu sehen und weiß, daß ihr zusammengehört. Und wenn ich dir noch einen überflüssigen Rat geben darf, laß dir von niemandem etwas anderes einreden.« 104
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u hättest Lisa nur sehen sollen«, sagte Lydia am späten Nachmittag in Hamburg. Sie hockte am Fußende von Coras breitem französischen Bett. Sie hatte die Schuhe ausgezogen und lackierte ihre Zehennägel mit rotem Perlmuttlack. »Lisa war total aufgelöst heute morgen. Weißt du, sie ist ein Typ, der unbedingt Make-up braucht, um überhaupt nach was auszusehen – und wenn sie dann noch nervös oder aufgeregt ist, dann kriegt sie so rote Flecken im Gesicht und am Hals. Und wie eine Henne hat sie uns betüttert. Oder wie 'ne alte Jungfer. Na ja, war sie ja auch, mit siebenundzwanzig erst zu heiraten. Ich begreife einfach nicht, wie Vati überhaupt auf sie reingefallen ist –« »Du bist eine richtige Giftnudel«, unterbrach Cora sie. Aus ihrem Mund klang das so komisch, daß Lydia sie verblüfft anstarrte und dann zu lachen anfing. Aber Cora blieb ernst. »Sag mal, was denkst du dir eigentlich dabei. Was hat Lisa dir eigentlich getan?« »Mir nichts! Aber Mami, die reine Tatsache, daß Vati sie geheiratet hat, macht sie –« »Zu einem roten Tuch für dich«, sagte Cora gelassen. Sie verschränkte ihre Hände im Nacken. »So, und jetzt tu mir einen Gefallen und hör auf, mit dem Nagellack rumzuschmieren, ich möchte mal vernünftig mit dir reden.« »Wie du meinst«, erwiderte Lydia pikiert und schraubte die Nagellackflasche so zu, daß der Perlmuttgriff abbrach. Sie warf ihr Haar in den Nacken. 105
»Hol mir bitte einen Zitronensaft aus der Küche, und ein paar Zigaretten darfst du mir auch mitbringen«, sagte Cora. »Aber Mami, du darfst doch nicht rauchen!« »Ich bin nicht krank, Lydia.« »Aber –« »Wenn Birke gestern abend durchgedreht hat, nur weil ich ein paar Schlaftabletten genommen habe und sie mich nicht gleich wachgekriegt hat, als sie aus München zurückkam, so ist das schlimm genug. Mach du jetzt nicht auch noch Theater!« »Aber der Arzt –« »Lydia, der Arzt hat annehmen müssen, ich hätte eine ganze Rolle Evipan genommen, aber es waren nur noch zwei drin. Und mehr hab' ich nicht genommen.« »Aber sie haben dir doch den Magen ausgepumpt.« »Was ich dir übrigens nie wünschen würde. Und sie haben mich heute morgen sofort wieder nach Hause fahren lassen. Weißt du, was man sonst mit tatsächlich Selbstmordverdächtigen tut? Die steckt man zuerst mal für ein paar Tage in die Psychiatrische. Und wo bin ich – hier in meinem Bett! Also, jetzt sei brav, Lydia, und geh und hol mir was zu trinken und ein paar Zigaretten.« Lydia verzog mürrisch das Gesicht, aber diesmal gehorchte sie wenigstens sofort. Gar nicht so einfach, dachte Cora seufzend, eine solche Tochter zu haben. »So«, sagte sie dann, als Lydia zurückkam, »und jetzt werde ich dir etwas erklären, zum ersten –, aber auch zum letztenmal. Und danach möchte ich kein böses Wort mehr von dir über Lisa hören.« Sie trank durstig von der Zitrone. Birke hatte viel Zucker hineingetan, so, wie sie es liebte; wahrscheinlich aus lauter Schuldbewußtsein und bestimmt gegen den strikten Diätplan, dessen Einhaltung Birke sonst mit Argusaugen überwachte. »Erstens hat dein Vater Lisa kennengelernt, als wir schon geschie106
den waren. Zweitens, Lydia, ist dein Vater kein Mann, der auf die Dauer allein leben kann. Drittens hat er Lisa aufrichtig gern. Viertens: Du und Peter werdet über kurz oder lang aus dem Hause gehen. Zurück bleibt Horst. Und der braucht eine Mutter, die sich voll und ganz um ihn kümmert. Ich könnte das nicht. Nicht mit meinem Beruf. Und obwohl ich es versucht habe und es deinem Vater und euch zuliebe gerne getan hätte, konnte ich auf die Dauer nicht aufs Theater verzichten. Ich habe Lisa kennengelernt.« »Was? Das ist doch nicht wahr!« rief Lydia überrascht. »Unterbrich mich jetzt bitte nicht«, verwies Cora sie. »Lisa hat mich sogar gebeten, mit euch Weihnachten zu feiern. Und wenn Birke mich nicht mit ihren dummen Vorahnungen davon abgehalten hätte, hätte ich es wahrscheinlich auch getan.« »Aber das wäre ja eine irre Situation gewesen!« »Vielleicht, und wahrscheinlich war es besser, daß ich nicht bei euch war. Aber darum geht es jetzt gar nicht. Wichtig ist, Lisa ist ein sehr nettes Mädchen. Eine sehr liebenswerte junge Frau. Und du tätest gut daran, dich an sie zu gewöhnen. Sie ist nämlich kein Trottel, für den du sie zu halten scheinst. Sie weiß bestimmt ganz genau, was sie will. Und wenn du ihr dabei in die Quere kommst – das ist zwar deine Sache, aber ich könnte mir denken, daß du dann ganz schön zurückstecken müßtest.« »Ich will Lisa ja gar nicht in die Quere kommen. Sie ist uns in die Quere gekommen! Wir waren ja schließlich früher da.« »Du scheinst mir nicht richtig zugehört zu haben«, sagte Cora. »Doch, das hab' ich, Mami. Aber das alles hat doch nichts damit zu tun, daß Vati eine Frau geheiratet hat, die ihn einfach nicht wert ist.« »Auf die du heute eifersüchtig bist, wie du auf mich eifersüchtig warst?« sagte Cora. »Das ist nämlich die Wahrheit.« Langsam stieg Röte in Lydias Gesicht. Sie schien es selbst zu spüren, denn sie senkte rasch den Kopf, das blonde, weiche Haar fiel 107
über ihre Wangen. »Du warst knapp ein Jahr alt, da hast du dir die Lungen aus dem Leib geschrien, wenn dein Vater dir keinen Gutenachtkuß gab. Du warst drei Jahre alt, da bekamst du Fieber, wenn er mit mir abends mal ausgehen wollte. Und als du zehn warst, bist du von zu Hause fortgelaufen, weil du glaubtest, Vater habe Horst lieber als dich. Und als ich dich gefunden habe, im Handler-Forst, hast du dich mit Händen und Füßen gesträubt und geschrien, mein Vati soll kommen, mein Vati soll kommen.« Coras Stimme war immer leiser geworden. Ganz leise sagte sie jetzt: »Denk darüber nach, bitte. Denk einmal über all das nach.« Eine Weile war es sehr still, dann warf Lydia den Kopf in den Nacken, die Tränen liefen ihr über die Wangen, ihr Mund zitterte. »Jaja, ja, das ist alles wahr! Ja, ich hab' ihn so lieb! Aber du weißt ja gar nicht, was letzte Nacht noch passiert ist!« Cora schwieg. »Vati hat einen Gehirnschlag gehabt. Und Lisa ist schuld daran. Sie ganz allein!« Cora sah ihre Tochter an, dieses schöne, junge Mädchen von achtzehn Jahren, von dem sie immer geglaubt hatte, daß es anders sei als die Mädchen seiner Generation, mit denen Cora gemeinhin am Theater zu tun hatte. Cora hatte gehofft, daß Lydia empfindsamer, ehrlicher und einfach fairer sein würde. Hatten Jürgen und sie ihre Kinder denn nicht zur Fairneß, zur Ehrlichkeit erzogen und – was eigentlich noch viel wichtiger war – zu Geschmack? »Was du eben über Lisa gesagt hast, war geschmacklos«, sagte Cora. Sie mußte sich beherrschen, um ihren Zorn nicht zu sehr zu zeigen. »Wie kannst du Lisa dafür verantwortlich machen, daß dein Vater einen Gehirnschlag erlitten hat?« Und während Cora dies noch sagte, traf sie erst die Schwere dessen, was da offensichtlich mit Jürgen passiert war; erst da begriff sie, was es für ihn bedeuten mußte. 108
Jürgen ist doch erst Siebenundvierzig. Jürgen ist doch noch ein junger Mann. Er ist doch in den besten Jahren. »Ein Gehirnschlag, mein Gott –« Lydia saß am Fußende von Coras Bett und weinte hemmungslos. »Wie schwer krank ist Jürgen? Los, antworte!« verlangte Cora nervös. »Er – er ist rechtsseitig gelähmt, und seine Stimme – Papa kann nicht mehr richtig reden...« Cora schloß einen Moment lang die Augen. Ihre Hände, die sie im Nacken verschränkt hatte, verkrampften sich unwillkürlich. »Hat Lisa gesagt, daß du mich davon unterrichten solltest?« »Nein! Eben nicht! Und das beweist doch –« »Das beweist gar nichts«, unterbrach Cora ihre Tochter. Sie schlug die Bettdecke zurück, schwang die Füße auf den Boden. Sie ging ohne ein weiteres Wort ins Bad. Es war mit dunkelblauen, florentinischen Fliesen gekachelt. Coras Gesicht im Spiegel wirkte vor dem mattglänzenden dunklen Hintergrund kreidegrau. Sie würde mehr Make-up benutzen müssen als sonst, und Rouge für die Wangen. Selbst jetzt, in einem solchen Moment, in einer solchen Situation, kleidete sie sich wählerisch und mit Bedacht – ein schlichtes blaues Kostüm, eine weiße, strenge Seidenbluse. Cora steckte ihr Haar auf, ebenfalls sehr streng – Lydia beobachtete sie reglos und stumm. Cora rief nach Birke. »Pack mir einen kleinen Übernachtkoffer.« »Sie wollen verreisen?« fragte Birke verblüfft. »Ja, Birke«, erwiderte Cora in einem Ton, der keine weiteren Fragen duldete. »Nach München?« stammelte Lydia. Cora sah sie an. »Natürlich.« »Aber ich? Was soll ich dann tun?« 109
»Du bleibst hier, bei Birke«, sagte Cora kühl, »du bist in einer Verfassung, in der du weder deinem Vater noch sonst irgendwem eine Hilfe sein kannst.« Lydia rannte aus dem Schlafzimmer, schlug die Tür hinter sich zu. »War das nötig?« fragte Birke. »Sie wissen doch, wie sehr das Kind an seinem Vater hängt –« »Du weißt es also schon, daß mein Mann – daß Jürgen krank ist?« »Ja, sicher«, murmelte Birke. »Um so besser«, sagte Cora, »Lydia bleibt also bei dir. Und sorg dafür, daß sie keine Dummheiten macht.« »Schön, wenn Sie meinen –« »Herrgott noch mal! Ja, ich meine es!« Ungeduldig packte Cora ihren Koffer selbst. Die Abendmaschine nach München war ausgebucht, Cora rief einen befreundeten Kollegen vom Theater an. Sie hatte Glück, er war zu Hause. »Hallo, Cora! Fröhliche Weihnachten!« Job Lohmar klang schon ein wenig angeheitert; aber schließlich war es der erste Weihnachtsfeiertag, und es ging schon auf den Abend zu. Für Job Lohmar war das eine willkommene Gelegenheit, Freunde zu bewirten, ein Faß aufzumachen, wie er es nannte. »Kommst du rüber, Schatz?« fragte er. »Nein, danke, ich möchte mir nur deinen Wagen ausleihen.« »Gern, Kindchen. Aber du mußt ihn dir schon selbst abholen –« »Tu ich. Nehme mir ein Taxi, bin in einer Viertelstunde bei dir.« Lydia hatte sich in das Gästezimmer eingeschlossen. Sie wollte allein sein. Birke verabschiedete Cora mürrisch und mißbilligend.
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rst als Cora eine halbe Stunde später hinter dem Steuer des weißen Alfa Romeo saß, kam ihr zum Bewußtsein, daß dies das erstemal seit all den Jahren, seit genau dreizehn Jahren war – daß sie wieder selbst einen Wagen fahren würde. Seit ihrem Unfall. Und sie dachte an die lange, nebelige Landstraße, aus der Bäume jäh wie schwarze Riesen wuchsen. Sie hatte den Laster zu spät gesehen, die roten Rückleuchten überhaupt nicht –. An den Aufprall konnte sie sich nicht erinnern. Sie war in einen feurigen Krater gestürzt, aus dem sie Tage später erst an den Rand des Bewußtseins zurückgeschwemmt wurde. Cora schaltete die Zündung ein, löste die Handbremse. Ihre Knie zitterten. Nimm dich zusammen, dachte sie, verflucht noch mal, nimm dich zusammen. Sie fuhr langsam, vorsichtig an. Die erste Kurve nahm sie in einem weitausholenden, unsicheren Bogen, die Hände um das Lenkrad gekrampft. Noch ehe sie die Autobahn erreichte, die von Hamburg nach Süden führt, mußte sie rechts ranfahren, anhalten. Ihr Gesicht war naß vom Angstschweiß. Ihre Rückenmuskeln waren so verspannt, daß es bis in die Schultern und Oberarme schmerzte. Ihre Beine zitterten unkontrollierbar. Cora zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich zurück, saß dann reglos, mit geschlossenen Augen. Ich darf Jürgen nicht im Stich lassen, dachte sie, es kann sein, daß er mich jetzt braucht. Ich muß es 111
bis nach München schaffen, ich muß einfach. Und plötzlich kam eine seltsame, fast gefühllose Ruhe über sie – und Cora wußte, daß sie es schaffen würde. Irgendwie mußte es ihr gelingen, wie alles, was man wirklich wollte. Sie fuhr genau dreizehn Stunden bis München. Jürgen Karlsbad wurde wach und glaubte, daß er träume. Er sah Coras Gesicht über sich, die großen, weiten, hellen Augen, den blassen ungeschminkten Mund. Es war das Gesicht der ganz jungen Cora – der Cora von vor zweiundzwanzig Jahren, der Cora mit dem blassen Elfenhaar. Und auch ihre Stimme klang wieder so wie damals, unsicher, weich, bittend. »Juju«, so hatte sie ihn damals genannt, »Juju, hörst du mich?« Er nickte nur, sagen konnte er nichts. Und dann kam ihre Hand – ganz kühl, ganz zart, eine Berührung wie ein Windhauch an einem heißen Sommerabend. Er drehte den Kopf und schmiegte seine Wange in ihre Hand. »Du wirst wieder gesund, bald, Juju, und dann wird alles gut. – Ich darf heute nicht lange bleiben«, und als sie spürte, wie er zusammenzuckte, »es ist schon sehr spät, aber morgen komme ich wieder.« »Jeden Tag?« fragte er. »Jeden Tag«, versprach sie. Und auch ihr Lächeln war wie damals, so einfach, so zärtlich. »Sag es noch mal«, bat er. Und sie flüsterte, »Juju...« Später, als Jürgen allein war, das Licht wieder aus, nur der Mond 112
stand im Fenster, fahlweiß, abnehmend, ein schiefes Rund, dachte er, man kann zweiundzwanzig Jahre nicht auslöschen. Man kann nicht so tun, als habe es sie nie gegeben. Zweiundzwanzig Jahre sind ein Drittel Menschenleben. Mit Cora war ich jung, mit Cora fing alles an. Mein Gott, jene ersten Jahre in Düsseldorf – Cora als blutjunge Schauspielerin, ich als Student, und dann als Referendar. Wir gingen immer in die Altstadt zu Moritz, zum Essen; zu Reibekuchen mit Apfelkraut und einem Düsselalt reichte es bei ihm immer. Und Cora aß so gerne Linsensuppe. Dieses zarte Elfengeschöpf, wie gesponnen aus Glas, aß am liebsten Linsensuppe. Selbst Moritz schmunzelte. Der ewig brummige, dicke Moritz. Und unsere Nächte, zuerst in meiner Bude oder unten am Rhein – im Sommer auf den Wiesen. Damals floß der Rhein noch klar und silbrig durch die Nacht. Da war kein Gestank von Chemikalien und Dieselöl. Die Schleppkähne tuckerten weit draußen vorbei. In jenem ersten Sommer schlugen sie abends ihr Zelt auf am Flußufer, auf dem weißen, noch sauberen Sand, und Cora zauberte die besten Steaks, die er jemals aß, auf dem kleinen Lagerfeuer, das er nach Pfadfindermanier aufgeschichtet hatte. Das war die Zeit ihrer großen Zukunftspläne gewesen; er war fest davon überzeugt, daß er ein berühmter Strafverteidiger und sie ein Weltstar würde. Natürlich wollten sie heiraten, mindestens drei Kinder haben, dazu ein großes, weißes Haus, viele Hunde und Katzen und später auch Pferde. Die Welt, das Leben, Ruhm und Liebe schienen greifbar nahe. Cora träumte von den Bühnen in Paris, Rom, London und New York. Sie sah sich als Heldin in ›Endstation Sehnsucht‹ und in ›Die Katze auf dem heißen Blechdach‹. Cora bekam ihre große Chance in ›Blick zurück im Zorn‹, 113
einem modernen Stück von einem jungen englischen Autor namens John Osborne. Die Kritik verglich Cora begeistert mit der großen Elisabeth Bergner. Und in der Nacht der Premiere kam sie zu ihm, nach der Feier mit dem Ensemble; er schlief schon, und mit einemmal war sie da, lag bei ihm, schmiegte sich an ihn und weinte, glücklich und verzweifelt zugleich. »Halt mich fest«, flüsterte sie, »halt mich ganz fest, Juju. Ich will nicht von dir fort. Nie von dir fort. Hörst du, niemals.« In den Wochen darauf steckte er im Examen, seine Mutter in Koblenz starb. Er sah Cora kaum, und wenn er sie sah, wirkte sie müde und abwesend und fern. Er fragte: »Was ist, Cora? Was ist los mit dir? Bitte, sag es. Gehst du fort? Cora, verläßt du mich?« Sie schüttelte den Kopf, sagte leise und tonlos: »Nein, Juju.« Dann kam sein vierundzwanzigster Geburtstag. Er arbeitete damals, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, in einer Tuchfabrik; seit dem Tode seiner Mutter war auch der schmale Monatswechsel, den sie von ihrer Pension abzweigte, ausgeblieben. An jenem Geburtstagsabend erwartete Cora ihn in seiner Bude mit einer Flasche französischen Champagner und einer Riesendose Kaviar. »Bist du verrückt geworden?« Das war seine erste Reaktion. Und Cora lächelte auf diese ferne, ein wenig traurige Weise, die sie in den letzten Wochen so unerreichbar für ihn scheinen ließ. »Willst du nicht mit mir feiern, daß ich bei dir bleibe, Juju?« fragte sie leise. Und dann sagte sie ihm, daß sie schwanger sei und daß sie deswegen das Angebot eines bekannten Theateragenten namens Rudolf Menken ausgeschlagen habe, nach München zu gehen. Am Tag darauf bestellten sie das Aufgebot. Sie hatten Glück, fanden zwei Wochen später sogar eine winzige 114
möblierte Wohnung, die in ihr Haushaltsbudget paßte. Je mehr man Cora ansah, daß sie ein Kind erwartete, um so schöner wurde sie für Jürgen. Sie spielte noch – immer noch den Erfolg jenes Jahres – ›Blick zurück im Zorn‹. Und obwohl Cora sehr zart sei, so meinte der Arzt, habe sie eine eiserne Konstitution, das Theaterspielen könne ihr nicht schaden. Dann, im fünften Monat, brach Cora nach der Vorstellung zusammen. Kollegen – denn Jürgen war nicht da, er arbeitete in Nachtschicht bei Mannesmann – brachten Cora ins Krankenhaus. Sie hatte eine Fehlgeburt. Er besuchte sie jeden Tag. Saß stundenlang an ihrem Bett, hielt ihre Hände. Zum erstenmal in seinem Leben machte er Schulden, lieh sich Geld von Studienfreunden und sogar von Coras Garderobiere Birke, um Cora Blumen zu schenken – vor allem ihre geliebten, weißen Rosen, dazu Parfüm und Bücher und teures exotisches Obst. »Sei nicht böse mit mir, Juju«, sagte sie, als sie kein Fieber mehr hatte, »wir werden noch mindestens drei Kinder bekommen.« Cora kam nach vier Wochen aus dem Krankenhaus und war schöner und fremder für ihn denn je. In den Nächten, wenn er sie in seinen Armen hielt, lag er nun oft stundenlang wach. Er hatte Angst zu schlafen, hatte Angst aufzuwachen und allein zu sein, von ihr verlassen. Woher diese Angst kam, wußte er nicht. Sie war einfach da, und er konnte nicht mit Cora darüber sprechen. Aber dann, ein Jahr später, bekam er das Angebot nach München, als Sozius in eine angesehene Anwaltsfirma einzutreten. Menken steckte dahinter – Lisas Vater. Das erfuhr er später. Menken wollte Cora unbedingt in München haben. »Du nimmst es doch an?« fragte Cora eifrig. Er zögerte – er hatte auch ein Angebot aus Hamburg, das ihm 115
eigentlich mehr zusagte. Aber Cora bat: »Ich möchte nach München«, und damit war es entschieden. Ihre erste Wohnung in München, Cora richtete sie modern und gewagt ein. Cora kochte auch, fantasievolle Mahlzeiten, bei denen er sich oft nach deftiger Kost sehnte; die Zeiten von Reibekuchen und Linsensuppe waren endgültig vorbei. Seit ihrer Fehlgeburt mußte Cora auf ihr Gewicht achten. Sie spielte nun vorwiegend in Zimmertheatern. Dort kam – wie Menken sagte – ihre schauspielerische Ausdruckskraft am besten zur Wirkung. Außerdem waren in jenen Jahren Zimmertheater ›in‹. Und dann kam wieder ein Angebot, diesmal für Cora. Es war eine ganz große Sache – »die Chance«, wie Menken sagte, der damals sehr viel in Coras Leben zu sagen hatte –, ein Angebot aus Hollywood. Und wieder war Cora schwanger, und diesmal schrie sie Jürgen an: »Du hast es so gewollt! Es ist deine Schuld! Du gönnst mir meine Karriere nicht!« Sie sprachen wochenlang nur das Nötigste miteinander. Er ging jedesmal aus dem Zimmer, wenn sie Menken erwähnte. Er haßte schon den Namen. Und dann – ganz plötzlich – wurde Menken nicht mehr erwähnt; Menken hatte den Vertrag mit Cora gelöst, weil sie schwanger war. Zumindest nahm Jürgen das damals an, genau erfuhr er es nie. Cora war wie umgewandelt – zurück kam die Zärtlichkeit ihrer ersten Wochen, Monate. Peter wurde geboren und zwei Jahre später Lydia. Lydia, die vom ersten Tag an nur seine Tochter war. Denn nun spielte Cora wieder. Cora ging auch auf Tournee. Als Lydia Scharlach bekam und Keuchhusten, war Cora nicht da. Es schien bald, als sei Cora nie da. Lydia wurde sein Kind, sein zweites, winziges weibliches Ich; in 116
gewisser Weise ersetzte sie ihm Cora. Dann hatte Cora ihren Unfall, und dann, nach einem Jahr, wurde noch Horst geboren; sie beide, Cora und er, waren sich insgeheim darüber im klaren, daß dieses letzte Kind ihre Ehe wieder kitten sollte, dahin zurückführen, wo sie begonnen hatte. Und sie blieben noch zehn Jahre zusammen, wegen der Kinder. Aber es war zu spät – auf dem langen Weg ihrer ersten zwölf Jahre hatten sie alles verloren, was sie miteinander verband. Wann und wie es genau geschah, hätte er nicht zu sagen vermocht – nicht in jenen Jahren und nicht in dieser Nacht. Menken hatte gewiß viel damit zu tun gehabt. Ausgerechnet Rudolf Menken, der dazu noch Lisas Vater war. »Ich wundere mich, daß wir nichts von deiner Mutter gehört haben«, sagte Lisa zu Peter. Es war am Nachmittag des zweiten Weihnachtstages. Sie schaute aus dem Fenster in den Garten. Über Nacht hatte der warme Wind, der von den Bergen fällt und den die Münchner Föhn nennen, den Schnee fortgeleckt. Die braune Erde, die Bäume, die Sträucher sahen aus, als sei schon der Frühling angebrochen. Peter und Lisa warteten auf Johann Pfälzer, der sich für diesen Nachmittag angesagt hatte. »Und auch von Lydia nichts«, setzte Lisa hinzu. Sie wandte sich zu Peter um. Er legte den Goya-Bildband, in dem er geblättert hatte, aus der Hand; es war Lisas Weihnachtsgeschenk für ihn. »Wenn du mich fragst, ist meine Mutter in München.« Peter sah sie nachdenklich und, wie ihr schien, ein bißchen mitleidig an. »Aber dann hätte sie sich doch bestimmt telefonisch gemeldet. Und Jürgen – sie hätte doch sicher deinen Vater besucht?« »Möchtest du, daß ich in Hamburg anrufe?« fragte Peter. »Nein, lieber nicht«, sagte Lisa schnell. »Es könnte zu sehr nach Schnüffeln aussehen. Wie fandest du deinen Vater übrigens heute?« 117
»Gestern ging es ihm besser. Ich glaube, er hatte etwas Fieber. Hast du den Arzt gesehen?« fragte Peter. »Nein. Jürgen schlief, als ich heute früh bei ihm war.« »Mit mir hat er sich heute mittag ziemlich lebhaft über alte Zeiten unterhalten.« »Peter – du sagst das so komisch?« »Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was du tust, Lisa?« Sie sah ihn überrascht und fragend an. Er schwang seine langen Beine von der Sessellehne, richtete sich auf. »Daß du dich in Vaters berufliche Schwierigkeiten mischst.« »Aber das muß ich doch, solange er sich nicht selbst darum kümmern kann.« »Ich will dir nicht dreinreden, Lisa. Aber an deiner Stelle täte ich es nicht.« Horst kam hereingestürmt: »Mein Fahrrad ist kaputt! Peter, mach es mal schnell ganz!« Peter stöhnte, aber er folgte seinem kleinen Bruder nach draußen vors Haus. Lisa sah den beiden nach, dann kehrte sie zum Fenster zurück. Rabenkrähen stolzierten hinten über den Rasen, hackten mit ihren großen Schnäbeln in das bräunliche Wintergras, das dennoch seinen ersten Schimmer von frischem Grün zu haben schien. Ist es wirklich falsch, was ich tue? dachte Lisa. Wenn ich mich jetzt um die Singer-Affäre kümmere? Schließlich hat mein eigener Vater Jürgen auf eine Million Mark Schadensersatz verklagt. Solange Jürgen krank ist und damit wehrlos, muß ich für ihn einspringen, oder nicht? Wer konnte ihr eine Antwort darauf geben? Johann Pfälzer tat es kurz darauf, nachdem er Lisa mit dieser dröh118
nenden Stimme, die in ihren Untertönen so weich war, begrüßt, sich nach Jürgens Befinden erkundigt und in sehr kurzer Zeit zwei doppelstöckige Cognacs getrunken hatte. Seinen Augen sah man an, daß er regelmäßig trank, und trotzdem hatte Lisa sofort Vertrauen zu ihm. »Natürlich könnte Jürgen wütend sein, daß Sie für ihn irgendwelche beruflichen Schwierigkeiten in Ordnung bringen«, sagte Johann, »aber die Hauptsache ist, daß Sie dabei erfolgreich sind. Außerdem tun Sie es ja nicht allein. Sie tun es mit mir zusammen. Und Jürgen hatte sich ja schon dazu entschlossen, mit mir nach New York zu fliegen. Wir können keine vier oder sechs Wochen warten, bis er aus dem Krankenhaus kommt, weil wir nicht wissen, ob er dann überhaupt schon reisefähig ist. Außerdem, der erste Gerichtstermin ist für den 9. Februar anberaumt. Wir müssen eine Gegendarstellung beziehungsweise eine Gegenklage vorher eingebracht haben.« Pfälzer spielte mit seinem leeren Cognacglas, Lisa schenkte ihm nach, den Tee und das Gebäck rührte er nicht an. »Nehmen Sie mich mit nach New York?« fragte sie. »Wenn Sie gut Englisch sprechen, ja«, er lachte. »Denn was Sprachen angeht, bin ich ein hoffnungsloser Versager.« Lisa erwiderte: »Ich spreche Englisch ziemlich fließend.« »Wichtig ist, daß ihnen auch juristische Ausdrücke vertraut sind. Ein entsprechendes Nachschlagewerk habe ich Ihnen gleich mitgebracht, da können Sie ein bißchen drin rumschnüffeln.« Lisa lachte dankbar. »Sie denken an alles, Johann. – Darf ich Sie überhaupt so nennen?« fragte sie schnell hinterher. »Aber sicher. Es ist mir ein Vergnügen.« Sie planten ihren Flug nach New York sogleich nach Neujahr mit einer Direktmaschine von München aus. »Zwei Tage in New York dürften genügen, wenn wir bis dahin wissen, wo Singer zu finden ist«, meinte Pfälzer. 119
»Aber ich denke, er ist in einer Klinik?« »Eben nicht. War er auch nicht. Am Heiligabend hatte er seinen letzten Auftritt in Las Vegas, seitdem ist er verschwunden in Richtung New York. Dort besitzt er ein Appartement. Aber aufgetaucht ist er da noch nicht. Nun, wir haben ja noch ein paar Tage Zeit...« »Ich könnte versuchen, es über meinen Vater herauszufinden«, schlug Lisa vor. »Nur nicht«, Johannes Pfälzer hob warnend die Hand. »Am besten, Sie reden mit niemandem darüber, schon gar nicht mit Ihrem Vater.« »Sie haben natürlich recht«, sagte Lisa. »Schon die Idee war dumm von mir.« Sie kamen überein, daß Lisa die Flugscheine und die Hotelreservierungen in New York besorgen sollte und sie sich am Dienstag, dem 2. Januar, in München auf dem Flughafen treffen würden – die genauen Termine wollten sie dem Abflug entsprechend noch telefonisch verabreden. Später, als Johann Pfälzer wieder nach Nürnberg gefahren war – er chauffierte seinen großen alten Rolls-Royce nicht selbst, hatte einen Chauffeur, einen kleinen, unscheinbaren Mann, dessen Gesicht man schon wieder vergessen hatte, noch ehe er sich abwandte –, sprach Lisa mit Peter über ihre endgültige Vereinbarung mit Johann. »Wie lange werdet ihr weg sein?« fragte Peter. »Wenn alles gutgeht, vier Tage – längstens eine Woche. Und du mußt mir eines versprechen, Peter«, bat Lisa, »dein Vater darf nicht erfahren, wo ich bin, hörst du?« Jürgen Karlsbad erfuhr es nicht durch Peter, er erfuhr es durch Lydia.
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ydia Karlsbad kehrte am Silvestertag nach München zurück. Im Morgengrauen stand sie vor der Haustür und klingelte. Lisa fuhr aus dem Schlaf hoch, stürzte nach unten – ihr erster Gedanke war, irgend etwas sei mit Jürgen passiert; das Klingeln hatte sie für das Läuten des Telefons gehalten. »Darf ich hereinkommen?« fragte Lydia mit niedergeschlagenen Augen. »Aber natürlich, was für eine Frage?« Lisa lachte nervös. »Na, komm schon«, sie zog das junge Mädchen in die Diele. »Ich mach uns sofort einen Kaffee.« Sie lief ihr in die Küche voran. Grete, die langjährige Haushälterin der Karlsbads, war am Tag zuvor aus dem Krankenhaus entlassen worden; sie erschien jetzt in ihrem Morgenmantel aus grauem Flanell, einen dicken Schal um den Hals gewunden. »Kann ich was tun?« fragte sie halb mürrisch, halb neugierig wegen Lydias plötzlicher Rückkehr. »Nein, danke, ich mach uns nur einen Kaffee«, sagte Lisa, »bitte, Grete, legen Sie sich wieder hin.« »Na schön, wenn es sein soll...« Grete schlurfte wieder in ihr Zimmer zurück. »Sie sieht noch schlecht aus«, sagte Lydia. »Aber sie wollte unbedingt nach Hause. Der Arzt hat es unter der Bedingung erlaubt, daß sie noch mindestens eine Woche im Bett bleibt.« »Und jetzt hast du den ganzen Haushaltskram am Hals?« Es klang schadenfroh, aber als Lisa das Mädchen ansah, war nichts davon in dem zarten Gesicht zu lesen. 121
»Es macht mir nichts aus«, sagte sie leichthin, »Peter und ich wechseln uns im Kochen ab. Jeder macht sein eigenes Zimmer, weil ich ja den halben Tag im Krankenhaus bin.« Lydia fragte: »Wann fährst du immer ins Krankenhaus?« »Morgens. Dein Vater braucht noch sehr viel Ruhe, und nachmittags ist er immer sehr müde.« »Bekommt er viel Besuch?« Das klang sonderbar lauernd. »Peter besucht ihn, und sein alter Freund, Johann Pfälzer, war bei ihm. Sonst niemand, dein Vater möchte, daß niemand sonst von seiner Erkrankung erfährt.« »Wie geht es ihm?« »Besser. Er kann die rechte Hand schon wieder recht gut bewegen. Auch seine Stimme ist klarer geworden. Die Ärzte sind sehr zufrieden.« »Glaubst du, daß er wieder ganz gesund wird?« »Bestimmt. – Und wie geht es deiner Mutter?« »Danke, gut«, sagte Lydia nur. Lisa hatte den Kaffee aufgebrüht und goß ihn nun in die Tassen, sie setzte sich Lydia gegenüber an den Küchentisch. »Ich hatte eigentlich gehofft, daß du mal anrufen würdest, während du in Hamburg warst?« »Warum?« »Nun, deine Mutter war schließlich auch krank.« »Es war kein Selbstmordversuch, wenn du das meinst. Birke hat bloß übertrieben.« »Um so besser«, sagte Lisa. »Ich bin froh darüber.« »Warum?« »Lydia, wie kannst du so etwas fragen? Ein Selbstmordversuch ist schließlich kein – also nicht gerade etwas Normales. Und es hätte mir leid getan für deine Mutter, wenn ihr irgend etwas passiert wäre.« 122
»Du kennst sie doch gar nicht. Es geht dich doch gar nichts an.« »Doch, Lydia, es geht mich sehr viel an. Sie ist deine Mutter, und sie war mit deinem Vater zwanzig Jahre verheiratet.« »Ich finde, das ist Gefühlsduselei.« »Mag sein«, sagte Lisa. Sie trank ihren Kaffee. »Möchtest du etwas essen? Oder dich erst noch eine Stunde hinlegen? Du siehst müde aus. Bist du mit dem Nachtzug gekommen?« »Ich bin mit dem Zug gekommen, wie denn sonst? Zu Fuß?« »Ich habe keine Lust, mich mit dir in diesem Ton zu unterhalten«, sagte Lisa ruhig. Sie stand auf und ging zur Tür. »Ich lege mich noch eine Stunde hin.« »Du bist dicker geworden«, sagte Lydia hinter ihr her, »und du siehst käsig aus.« Lisa biß die Zähne zusammen und ging stumm hinaus. Aber in ihrem Schlafzimmer trat sie vor den Ankleidespiegel. Sie prüfte ihr Gesicht. Sie war blaß – aber käsig? Und zugenommen? Sie stellte sich im Bad auf die Waage, kein Gramm! Warum sagte Lydia so etwas? Warum wollte das junge Mädchen sie unbedingt verletzen? Lisa schüttelte den Kopf, sie wurde aus Lydia nicht klug. Oder vielleicht doch? Du bist Jürgens zweite Frau, sagte sie zu sich selbst, ihre Stiefmutter, vergiß das nicht. Peter hat es dir einfach gemacht, er hat dich sofort akzeptiert. Bei Horst wird es vielleicht etwas länger dauern. Aber Lydia ist ohnehin in einem schwierigen Alter, denk daran, wie du selbst mit achtzehn warst – Aber ich war nicht bösartig wie sie. Ja, denk es ruhig, sie ist bösartig. Lisa kehrte ins Schlafzimmer zurück, blieb verblüfft stehen. In ihrem Bett lag Horst, nur sein dunkles Wuschelhaar war zu sehen, 123
und als sie auf Zehenspitzen näherkam, riskierte er ein Auge. »Bist du böse?« »Spielst du Verstecken?« fragte sie lächelnd zurück. »Mir war kalt«, murmelte er, »und da hab' ich gedacht – außerdem ist Wochenende, und am Wochenende durfte ich immer in das Bett meiner Eltern.« Er rückte zur Seite und machte Lisa Platz. Sie schlüpfte zu ihm unter die Bettdecke. Er rutschte noch ein bißchen weiter weg, und sie hörte, wie er ganz vorsichtig und wie abwartend atmete. »Ich denke, dir ist kalt?« sagte sie leise und zog ihn ganz vorsichtig ein bißchen näher zu sich heran, »mir nämlich auch.« »Richtig kalt? So wie meine Füße?« Seine Zehen berührten tastend ihre Wade. »Du mußt die Füße gegeneinander reiben, dann werden sie ganz schnell warm.« Er rückte noch ein bißchen näher und rieb seine Füße gegeneinander. »Du hast recht«, sagte er, und es klang so erstaunt, als sei das eine ganz große Entdeckung. »Willst du eine Tasse Kakao haben, im Bett?« fragte Lisa immer noch leise; ihr war, als dürfe sie nicht laut sprechen, um das Wunder nicht zu zerstören, was hier geschah. »Mhm«, machte Horst, »das wäre ganz toll dufte.« »Okay«, sagte sie, glitt wieder aus dem Bett, packte die Decke fest um ihn. Seine Augen lächelten jetzt, ganz strahlend und tief. »Kommst du auch bestimmt wieder? Und erzählst du mir dann was, irgendein tolles Abenteuer? Aber Tiere müssen drin vorkommen, am liebsten wilde, so welche wie in Afrika. Warst du schon mal in Afrika?« »Ja«, sagte sie, »auf einer kurzen Fotosafari.« »Wirklich? Wo? In der Serengeti?« 124
»Nein, im Aboseli-Tierpark.« »Ist das nicht ein großer Zoo?« fragte er enttäuscht. »Aber nein, das ist ein großes Gelände, in dem nur keine Tiere gejagt werden dürfen. Sie sind dort geschützt, verstehst du?« »Ja, das hab' ich schon im Fernsehen gesehen. Und was ist dann passiert? Hat dich ein Löwe angegriffen?« »Kein Löwe, aber ein Nashorn.« »Wirklich?« fragte er atemlos. »Ja, es war eine Nashornmutter mit ihrem Kalb. Sie hatte Angst vor dem Landrover, in dem ich saß, und da hat sie das Auto angegriffen, und ihr Horn hat eine tiefe Beule in den einen Kotflügel gestoßen.« »Toll!« sagte Horst. »Menschenskind, das ist wirklich toll! Und weiter?« »Jetzt mach' ich dir erst deine Tasse Kakao, und dann erzähl' ich weiter.« »Oh ja, bitte«, sagte er glücklich, »und mach ganz schnell, hörst du? Komm bald wieder, bitte.« Ihre Augen waren naß, und sie wandte sich rasch ab. »Ich glaube, ich mag' dich schon richtig gern«, sagte Horst, und sie dachte danke, danke, nur dieses eine Wort. Später am Tag, nachdem Lydia ihren Vater besucht hatte, schien auch sie zugänglicher zu sein. Und Lisa erzählte ihr, um ihr Vertrauen zu gewinnen, von ihrer geplanten Reise nach Amerika. »Ich finde es sehr anständig, daß du das tust«, sagte Lydia. Zum erstenmal klang es offen und frei. Und als in dieser Nacht das alte Jahr in das neue glitt – Lisa feierte 125
so ganz still mit den Kindern, bei einem Glas Eierpunsch vor dem flackernden Kaminfeuer –, dachte sie mit Hoffnung und neuem Mut an die Wochen und Monate, die vor ihnen allen lagen. »Wie geht es Lisa?« fragte Jürgen am Morgen des dritten Januar; Lydia besuchte ihn wie schon am Tag zuvor. »Wie soll es ihr gehen? Gut, nehme ich an.« Sie küßte ihn auf den Mund, »und dir, Paps?« »Besser.« Er grinste. »Unkraut vergeht nicht.« Wenn die Kinder ihn besuchten, zwang er sich zu diesem Optimismus; es fiel ihm nicht immer leicht. »War Mutter gestern nachmittag wieder bei dir?« fragte Lydia. »Ja, warum?« fragte er zögernd zurück. Wieso wußte sie überhaupt, daß Cora in München war und ihn jeden Nachmittag besuchte? »Sie liebt dich immer noch.« »Natürlich mögen wir uns noch«, sagte er zurechtweisend. »Naja, Lisa hat ja für alles Verständnis, was bleibt ihr auch anderes übrig.« »Du hast einen recht losen Mund, mein Kind.« »Verzeih, Paps, bitte«, sagte Lydia sofort schuldbewußt. »Ich wünschte wirklich, du würdest dich besser mit Lisa verstehen«, sagte er. »Ich gebe mir ja Mühe, aber wir sind zu verschieden, Paps. Sieh mal, sie mischt sich in alles ein. Alles will sie besser wissen. Sieh mal, von deinem Beruf versteht sie doch zum Beispiel gar nichts – und dann, du und Mutter, ihr habt uns immer so frei erzogen.« »Was hast du da mit meinem Beruf gemeint?« »Ach, nichts Besonderes Paps«, die langen dunklen Wimpern senkten sich, verbargen den Ausdruck ihrer Augen; Lydia sah jetzt wie ein Kind aus – unschuldig und so sanft und blond. 126
»War Lisa im Büro? Weiß mein Büro, was mit mir los ist?« »Nein, Paps, das heißt, ich weiß es nicht so genau. Ich bin ja erst seit ein paar Tagen wieder hier. Aber Onkel Johann war da, und Lisa hat ihm gesagt, er soll für dich einspringen.« »Das hat Lisa getan? Aber ich habe ihr es doch eindeutig verboten –« »Bitte, Paps, bitte, reg dich nicht auf«, Lydias weiche Hände streichelten sein Gesicht. »Ruf sie an, sofort. Ich will, daß Lisa mir sofort sagt, was sie mit ihm verabredet hat!« »Aber sie ist doch gar nicht da.« »Wieso nicht? Ich denke, sie hat eine Erkältung?« Er schob Lydias Hände weg, packte ihr Kinn. »Was ist los zu Hause? Was soll diese Geheimniskrämerei? Es hat keinen Zweck, mich zu belügen!« »Ach, Paps, ich wollte es dir doch gar nicht sagen. Du mußt mir erst versprechen, dich nicht aufzuregen. Versprichst du es mir?« »Jetzt hör endlich auf! Ich bin kein Krüppel –« Jürgen Karlsbad verstummte, er spürte, wie sein Herzschlag stolperte. Er legte sich zurück, die Brust wurde ihm ganz eng, und es war ihm, als sei sie plötzlich mit heißem Wasser gefüllt. »Lisa ist nach New York geflogen«, sagte Lydia, »um diese SingerGeschichte in Ordnung zu bringen.« Jürgen Karlsbad hörte es und hörte es doch nicht. Er drehte vorsichtig den Kopf zur Wand, er atmete ebenso vorsichtig. Er fürchtete sich, daß die Angst wiederkommen würde, die Angst vor den Schmerzen und vor dem Tod und vor dem Nichts. Sie belauerte ihn, er konnte ihren häßlichen Atem riechen, die Hitze und die Kälte spüren, die von ihr ausgingen. »Paps, bitte, lieber, lieber Paps, was ist denn mit dir?« »Nichts«, murmelte er, »nichts.« Und das Sprechen fiel ihm wieder schwer. Er hörte schnelle Schritte und das Schlagen einer Tür, und andere 127
Schritte und dann Stimmen, hastige, unterdrückte Stimmen, er konnte kein Wort verstehen. Da war dieser Nebel, immer dichter und grauer, und diese Kälte, vor der er sich so gefürchtet hatte. Jemand machte sich an seiner Brust zu schaffen, etwas Schweres legte sich auf ihn, so schwer – viel zu schwer, es preßte ihm den Atem aus den Lungen. Und so erlitt Jürgen Karlsbad den zweiten Gehirnschlag.
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ydia lief, sie lief, so schnell sie konnte. Sie achtete nicht auf das Aufsehen, das sie erregte, ein junges Mädchen, das mit langflatterndem blondem Haar über die Straße hetzte. Eine Hupe schrillte, Bremsen kreischten, Lydia geriet fast unter einen Wagen. Sie rannte gegen einen Mann, der hielt ihren Arm fest. »He, was ist denn?« Sie riß sich los, lief weiter. War aus dem Krankenhaus geflüchtet, war fortgelaufen, bevor der Arzt fragen konnte, was sie getan hatte. Ich habe ihn umgebracht, dachte sie, ich habe meinen eigenen Vater umgebracht. Das Entsetzen trieb sie weiter. Aber wohin, wohin? Der Instinkt lenkte sie zum Hotel Conti, in dem ihre Mutter wie stets abgestiegen war. Cora war nicht in ihrem Zimmer, der Portier sah Lydia mitleidig 128
und fragend an: »Können wir Ihnen helfen? Ist etwas passiert?« »Ja«, flüsterte sie, »ja, ich – es ist, ich brauche Geld, ein Unfall, eine alte Frau, ich muß ihr helfen –« »Aber wo denn? Bitte, gnä's Fräulein, dürfen wir –« »Geben Sie mir zweihundert Mark. Schreiben Sie's auf die Rechnung meiner Mutter. Ich erklär' dann alles später.« »Ja, selbstverständlich, ja, bitte –« Sie unterschrieb die Quittung, stand wieder draußen. Wohin jetzt? Weg aus München. Aber wohin? Jean-Pierre. Von Jean-Pierre wußte niemand etwas. Weder ihr Vater noch ihre Mutter. Nicht einmal Peter, obwohl sie ihn durch ihn kennengelernt hatte. Jean-Pierre in Paris. Drei Jahre war es her, sie fünfzehn Jahre, er zwanzig, ›ma petite fille‹ hatte er sie immer genannt, ›mein kleines Mädchen‹, im letzten, gemeinsamen Familienurlaub in der Camargue war es gewesen. Heimlich hatte sie sich abends in die Diskothek ›Chez Luc‹ gewagt – wenn ihre Eltern sie längst schlafend glaubten. Und einmal, da waren sie unten am Strand gewesen, in der Nacht, und da hatte sie plötzlich Angst bekommen und war Jean-Pierre weggelaufen. Am nächsten Tag war er mit seinen Eltern abgereist, aber sie hatte seine Adresse, und er hatte gesagt: »Wenn du nach Paris kommst«, mit seinem dunklen Lachen, »denk dran, ich warte auf dich.« Jean-Pierre, ein junger Mann, den sie seit drei Jahren nicht gesehen, dem sie nie geschrieben, von dem sie kein Wort mehr gehört hatte, schien ihr nun die einzige Rettung. Sie rief ihn vom Postamt im Bahnhof aus an. Er erkannte ihre Stimme nicht, sie stotterte und schämte sich ihres schlechten Französisch, auch an ihren Namen konnte er sich nicht erinnern. Aber dann, als sie sagte, in der Camargue und in Arles, die Diskothek 129
›Chez Luc‹, da lachte er wieder dieses dunkle Lachen und sagte: »Ah, c'est ma petite fille...« Lydia sagte: »Jean-Pierre, ich habe meinen Vater getötet. Jean-Pierre, du mußt mir helfen!« Er war einen Moment lang ganz still, dann fragte er: »Wo bist du überhaupt?« »In München.« Er wechselte ins Deutsche über. »Ich bin nur noch einen Tag in Paris. Morgen fahre ich nach Cologne, ich studiere in Köln. Hast du ein Papier? Schreib dir meine Adresse auf.« Sie schrieb sich die Adresse auf. »Da fahr hin. Es sind meine Freunde dort. Hast du Geld?« »Ja, Jean-Pierre. Kommst du wirklich morgen?« »Jaja«, es klang ungeduldig. »Jean-Pierre, läßt du mich nicht im Stich?« »Bis morgen«, sagte er nur. Lydia fuhr mit dem nächsten Zug nach Köln. Die Adresse, die JeanPierre ihr gegeben hatte, war leicht zu finden. Er wohnte mit drei Freunden zusammen in einem riesengroßen Zimmer, das ein ausgebauter Dachboden war. Die Freunde gaben ihr Jean-Pierres Bett, das nur eine Matratze mit Decke und Kopfkissen war; sie fragten nicht viel, sie beachteten Lydia kaum. Sie tranken Cola und spielten Karten, und sie alle rauchten. Einer von den Jungen übergab sich plötzlich, auch das beachteten seine Freunde nicht. Lydia suchte ein Scheuertuch und einen Eimer, fand beides in einer winzigen, schmutzigen Kammer, die ihnen als Waschgelegenheit diente. Am Abend kamen drei Mädchen, auch sie beachteten Lydia nicht weiter. Sie hörten Schallplatten mit den Jungen, und irgendwann 130
fing eines der Mädchen an, sich auszuziehen. Lydia machte sich auf Jean-Pierres Matratze ganz klein, angezogen wie sie war. Sie kroch unter die Decke und zog sie sich über den Kopf. Sie wollte nicht hören und nicht sehen, was in dem großen Raum vor sich ging, in dem es nach Schmutz und nach dem schweren Aroma der Zigaretten roch. Lydia schlief sogar bald ein, weil sie so müde und erschöpft war. Sie hatte wirre Träume, und einmal schreckte sie mit einem Schrei hoch, weil ihr war, als habe einer der Jungen nach ihr gegriffen. Aber sie alle lagen auf ihren Lagern, und im Halbdunkel konnte Lydia sehen, daß sie alle stoned waren. Sie rauchten Hasch, jetzt war es ihr ganz klar. Sie waren alle süchtig. Aber am schlimmsten von allen war Jean-Pierre dran. Lydia erkannte ihn kaum wieder, als er am nächsten Tag kam. Seine Gesichtshaut war gelblich, und viel zu frühe Falten hatten sich von der Nase zum Mund herabgekerbt. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Er nannte sie ›mein kleines Mädchen‹ und schien sich zu freuen, daß sie da war – und erst da kam ihr das Ungeheuerliche zum Bewußtsein, daß er gar nichts weiter wissen wollte, warum sie hier war, daß es ihm völlig egal war, was sie getan hatte, ihrem eigenen Vater angetan hatte. »Wir können nicht hierbleiben«, sagte sie, als seine Freunde wieder anfingen, Karten zu spielen, Cola zu trinken und zu rauchen; hin und wieder ging einer von ihnen hinaus, und Lydia war fast sicher, daß sie sich auch Rauschgift spritzten. »Jean-Pierre, du bist krank.« Er hatte sich gleich auf sein Bett geworfen, immer wieder bedeckte sich sein Gesicht mit Schweiß, kaum daß er es abgewischt hatte. »Jean-Pierre, du bist krank, und du kannst nicht hierbleiben.« Er lächelte. »Ich weiß, ma petite.« 131
»Jean-Pierre, du mußt etwas tun, für dich tun. Hörst du?« »Ja, ma petite.« Sie packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn. »Du brauchst einen Arzt. Du mußt eine Kur machen. Du mußt eine Entziehungskur machen.« »Ja, mein kleines Mädchen.« Lydia weinte vor Entsetzen und Hilflosigkeit, als er ein kleines silbriges Injektionsetui auspackte und sich eine Spritze setzte. Danach lag er mit halb geschlossenen Augen lächelnd da – und er sah so häßlich aus, so häßlich. Lydia packte ihn wieder und schüttelte ihn verzweifelt, fühlte sich plötzlich verantwortlich für ihn, als sei er ihr Bruder, als sei er der einzige Mensch, den sie auf dieser Welt habe, als habe sie ihr ganzes Leben und nicht nur heimliche Stunden in einem Urlaub in der Camargue mit ihm verbracht. »Laß ihn in Ruhe«, sagte einer seiner Freunde und zog Lydia von Jean-Pierre fort, »du störst ihn nur.« »Aber er bringt sich doch um«, schrie Lydia die drei teilnahmslosen jungen Kerle an, »Jean-Pierre bringt sich um! Ihr alle bringt euch mit eurem verdammten Rauschgift um!« Sie zuckten bloß die Schultern. »Na und?« sagte einer von ihnen. »Wen stört's? Ist uns doch egal!« Und da wurde Lydia plötzlich ganz ruhig. Stand da in diesem großen, schmutzigen Raum – sah all diese Häßlichkeit überdeutlich, wurde in diesem Moment erwachsen, auch wenn es ihr nicht bewußt war. Sie ging zu Jean-Pierres Bett zurück. Sie nahm seine Schultertasche aus Segeltuch, die da lag, sie zog das Etui mit der Spritze heraus und zertrat es. Sie fand Zigaretten, ein bräunliches Pulver in einer Streichholzschachtel, fand zwei Ampullen, zertrat all das in den Glasscherben der Spritze. Dann setzte sie sich neben Jean-Pierre und wartete darauf, daß er 132
wieder aufwachen würde. Sie mußte ihn vom Rauschgift abbringen, das wußte sie jetzt. Das würde ihre Sühne sein, das mußte ihre Sühne sein – ein Menschenleben gegen ein anderes retten. Und nur wenn ihr das gelang, würde sie nach Hause zurückkehren. Erst dann.
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inger war ein mittelgroßer, sehr schlanker Mann mit den lautlosen, geschmeidigen Bewegungen einer Katze. Er trug das dunkelbraune Haar nackenlang. Er trug einen sandfarbenen Anzug aus dünnem Antilopenleder, seine Hände waren mager und nervig, und seine Augen waren von einem gelblichen Grün, was Lisa wiederum an eine Raubkatze denken ließ. Sie hatten zwei Tage in New York gebraucht, bis sie Singer fanden, und das war auch nur einem Zufall zu verdanken; Johann Pfälzer und sie hatten sich über Singer in einem Taxi unterhalten, das sie zu seiner Wohnung bringen sollte, und der Chauffeur hatte plötzlich gesagt: »Ich habe ihn eben erst gefahren. Zu Luigi's, das ist das neue italienische Restaurant an der Ecke Vierzigste Straße.« Und hier waren sie nun, Springer saß ihnen gegenüber, trank seinen fünften Grappa – den die Italiener auch ›das Wasser des Lebens‹ nennen, einen scharfgebrannten Schnaps aus Weinbeeren. Er hatte sich mit einem zerstreuten Lächeln angehört, was sie zu sagen hatten – über den Vertrag, den er gebrochen hatte, über die Schadensersatzklage, die Lisas Vater daraufhin gegen Jürgen erho133
ben hatte. »Sorry«, sagte er schließlich, »ich kann Ihnen nicht helfen.« »Sie müssen«, sagte Lisa, »es geht um das Leben meines Mannes und um seine Existenz.« Singer sah sie eine Weile an, mit diesen undurchdringlichen Katzenaugen. Schließlich sagte er: »Es geht auch um mein Leben, Mrs. Karlsbad. Und da ist sich jeder selbst der Nächste.« »Dann werden wir Sie verklagen«, sagte Johann Pfälzer, »auf Erfüllung des Vertrages.« »Das wird Ihnen nichts nützen«, Singer lachte heiser, und danach klang auch seine Stimme heiser, »einem toten Mann kann man nicht in die Tasche greifen.« Er stand abrupt auf. »Kommen Sie mit.« John Singers Unterschlupf, wie er es selbst spöttisch nannte, lag am Rande jenes Viertels von New York, in das sich schon seit einem Jahrzehnt kaum mehr ein Weißer traute – am Rande von Harlem. Verwahrloste Kinder aller Rassen spielten vor verwahrlosten Häusern, deren Eigentümer sich nur einmal im Monat hierher wagten, um die Mieten zu kassieren für Wohnungen, die diesen Namen längst nicht mehr verdienten. Schmutz und Gestank und darüber der bleigraue Himmel und der Lärm der Riesenstadt, der gegen die Häuserzeilen brandete, daß man meinte, sie müßten davon zusammenstürzen – das war die KINGS MEWS. Lisa hielt sich nah neben Johann Pfälzer. Er hatte ihren Arm genommen, als sie die vier abgewetzten Steinstufen zu der Haustür hinaufstiegen, die schief in ihren Angeln hing. Singer stieß sie ganz auf, das Licht funktionierte nicht im Flur, sie gingen eine knarrende Treppe hinauf; eine Katze huschte an ihnen 134
vorbei, ein neugeborenes Junges im Maul. Die Wohnungstür in der ersten Etage besaß zwei Sicherheitsschlösser, sie wirkte dazu, als verberge sich hinter dem Holzfurnier eine Platte aus Stahl. In der Diele surrte eine Klimaanlage, es war hier angenehm, wenn auch auf eine sterile Weise, kühl. Es roch nach exotischen Räucherstäbchen. Singer führte sie in einen großen Raum ohne Fenster – auch hier herrschte dieser exotische Geruch, auch hier summte die Klimaanlage. Der Raum war in dunklen schweren Rot- und Grüntönen gehalten; Lisa mußte an ein Beerdigungsinstitut denken, unwillkürlich schauerte sie. Johann Pfälzer nickte ihr kaum merklich beruhigend zu. »Setzen Sie sich doch«, sagte Singer – sie nahmen in der halbrunden Polsterecke Platz. Singer brachte von der Bar eine Flasche Grappa, Rotwein und Orangenlikör. Er bot Zigaretten an, rauchte selbst gierig, hustete schon nach dem ersten Zug. Es war ein häßlicher, pfeifender Husten, der sein Gesicht unter der Anstrengung des Atemholens noch blasser machte, bis es wachsig aussah. »Sie sind die ersten und die letzten, die meinen Schlupfwinkel kennenlernen«, sagte er, als er wieder sprechen konnte, »ich habe keine Freunde mehr, und wenn man zum fünften Mal verheiratet war, dann hat man auch keine Frauen mehr.« Er sah sie mit diesen tiefliegenden Augen an, in denen kein Glanz, in denen nichts mehr war. »Ist Ihnen nicht aufgefallen, daß ich bei Luigi bezahlen mußte? Früher war's ihm eine Ehre, wenn ich seinen Laden überhaupt besuchte. Aber er weiß, daß ich fertig bin. Weg vom Fenster. Luigi weiß, wie ein Italiener aussieht, der stirbt. Er weiß, daß man einem toten Mann nichts mehr aus der Tasche holen kann.« 135
»Mr. Singer –«, begann Johann, aber Singer unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Nennen Sie mich John, oder Jonny, wie in alten Zeiten, wie? Ich weiß, das klingt alles so melodramatisch, aber das ganze Leben ist ein verfluchtes Melodrama. Mal ist man ganz oben, mal ganz unten. Und ich bin jetzt unten. Hier kann ich mich kaputtsaufen. Hier kann ich die ganze Bude kaputtschlagen, und niemand schert sich drum.« »Sie sind krank«, sagte Lisa. Er sah sie an. Er zuckte die Schultern. »Sie können nicht mehr singen, und deswegen verkriechen Sie sich hier. Aber dagegen hilft auch kein Alkohol.« »Ich habe Kehlkopfkrebs«, sagte Singer. Darauf gab es nichts zu sagen, gar nichts. John Singer warf sein Grappa-Glas durchs Zimmer, es zersplitterte an der Wand. Er griff zur Flasche mit dem ätzenden italienischen Schnaps, setzte sie an den Mund. Johann Pfälzer war mit einer raschen Bewegung hoch, die man weder seiner Körperschwere noch seinem Hüftleiden zugetraut hätte. Er nahm Singer die Flasche ab. »Hören Sie auf zu trinken«, sagte er, »das nützt wirklich nichts. Das hat noch nie ein Problem gelöst.« Singer starrte ihn an, er saß geduckt da, wie auf dem Sprung, und einen Moment lang dachte Lisa entsetzt, er werde Johann angreifen. Aber dann lachte er nur wieder dieses häßliche Lachen, das ihn so schmerzen mußte. »Sie saufen doch selbst, Mister, seh's Ihren Augen doch an. Sie wissen doch selbst, daß die Flasche der einzige Ausweg ist. Der letzte Freund.« »Okay, zugegeben«, sagte Johann, »aber davon haben Sie mich jetzt gründlich kuriert.« Er wandte sich an Lisa: »Hier muß es irgendwo eine Küche geben. Machen Sie uns einen Kaffee, Lisa? Ganz stark, ja?« 136
Sie stand schnell auf, Singer sagte: »In der Diele, erste Tür rechts.« Während sie in der Küche den Kaffee aufbrühte, hörte sie die beiden reden, das langsame, holprige Englisch von Johann, das schnelle, mit italienischen Worten gemischte von Singer. Als sie in den großen Raum zurückkehrte, saßen die beiden Männer über den Kopien des Vertrages, den Singer mit ihrem Vater geschlossen hatte. Sie servierte ihnen stumm den Kaffee, lauschte ihrem Gespräch. Johann war zäh, Singer gab schließlich zu, den Vertrag geschlossen zu haben, wohl wissend, daß er ihn nicht erfüllen konnte, um durch Vorschüsse von ihrem Vater noch einmal großes Geld zu kassieren; in Las Vegas war er zuletzt in einem drittklassigen Nachtklub aufgetreten, und selbst da hatte ihn das Publikum ausgepfiffen. Er war nicht nur gesundheitlich, sondern auch finanziell am Ende. Er hatte Schulden von mehr als einer Million Dollar. Tatsächlich hatte Rudolf Menken ihm schon hohe Vorschüsse gezahlt, aber das wiederum hatte sein amerikanischer Agent spitzgekriegt und den Löwenanteil kassiert. Es stimmte schon, was Singer eingangs gesagt hatte, er war total am Ende. »All das kann meinem Mann nicht helfen«, sagte Lisa schließlich. »Es geht um die fehlende Gesundheitsklausel im Vertrag, Mr. Singer – John, die mein Mann übersehen hat. Sie müssen einfach nach Europa kommen, Sie müssen ein einziges Mal nur in München auftreten, verstehen Sie. Wenn Sie dann nicht weitersingen können, wenn Sie dann zusammenklappen, ist die Situation eine ganz andere. Dann liegt die Verantwortung bei meinem Vater und seiner Versicherung, aber nicht mehr bei meinem Mann.« »Oder Sie müssen offiziell zugeben, daß Sie den Vertrag unter falschen Voraussetzungen geschlossen haben, wohl wissend, daß Sie ihn niemals einhalten konnten. Dann allerdings wird Menken Sie 137
auf Schadensersatz verklagen«, ergänzte Pfälzer. »Aber Sie müssen uns helfen, bitte, verstehen Sie doch?« sagte Lisa. Singer antwortete eine Weile lang nicht, er versuchte wieder zu rauchen, und wieder schüttelte ihn dieser entsetzliche Husten. »Okay«, sagte er dann, »Sie kriegen die eidesstattliche Erklärung. Das ist wahrscheinlich das Einfachste.« Er blickte Lisa an. »Sie sind zum erstenmal verheiratet, was?« Sie nickte stumm. »Ihr Mann kann sich glücklich schätzen. Von mir haben die Weiber immer nur Geld gewollt und den verdammten Glanz des Showbusineß. Verdammte Weiber, ja, Mrs. Karlsbad, die meisten Weiber sind Hyänen«, er lachte heiser. Und dann sagte er: »Sie kriegen die eidesstattliche Erklärung morgen früh von mir, Collins und Sean sind meine Anwälte. Ich habe nur noch eine Bedingung an Sie beide, Sie verraten niemandem, daß ich hier zu finden bin, niemandem, o.k.?« Am nächsten Morgen um elf erhielten sie in ihrem Hotel einen Anruf der Anwaltsfirma Collins und Sean in Manhattan, Central Parc South; eine Stunde später nahmen sie dort die eidesstattliche Erklärung von John Singer in Empfang, den Vertrag mit Menken unter falschen Voraussetzungen geschlossen zu haben. Auf ihrem Rückflug nach München am nächsten Tag lasen sie in der Abendzeitung, daß der Showstar John Singer in einem italienischen Restaurant, bei Luigi's, einem Erstickungsanfall erlegen war. Lisa sah zum Fenster der Boeing 474 hinaus, sie fühlte sich sehr deprimiert. Johann berührte ihre Hand. »Ihm konnte niemand mehr helfen«, sagte er nur. Johann Pfälzer trank auf dem ganzen Rückflug nur Tee und Selterswasser. 138
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s war gut, wieder zu Hause zu sein. Peter hatte sie am Flughafen abgeholt, Horst sprang ihr vor dem Haus entgegen. »Da bist du ja wieder«, er umarmte sie strahlend, als wäre sie wochenlang weggewesen. »Hast du mir was mitgebracht?« »Natürlich!« Sie packte die Geschenke aus, noch schnell auf dem Kennedy Airport vor dem Abflug besorgt – für Peter eine 8-mmKamera, für Horst ein Fernglas, das er sich seit langem für seine Wanderungen mit seinem Vater gewünscht hatte, für Lydia einen wunderschönen Seidenpullover in einem zarten Violett, für Grete ein Paar indianisch bestickte Hausschuhe, mit Lammfell gefüttert. Grete schnüffelte gerührt, fand es eine Verschwendung, zog die Hausschuhe aber sofort an. Nur Lydia war nicht da. »Wo ist sie?« fragte Lisa. »Unterwegs«, sagte Peter einsilbig. Erst später, als Horst im Bett und Grete wegen des Krimis im Fernsehen in ihr Zimmer verschwunden war und sie allein vor dem Kamin saßen, sagte Peter: »Lydia ist wieder mal verschwunden. Bitte, reg dich nicht auf, aber niemand weiß, wo sie ist.« »Und was war diesmal der Grund?« fragte Lisa, so ruhig sie es vermochte. »Vater hat einen Rückfall gehabt, Lydia muß ihn ausgelöst haben. Wahrscheinlich durch dummes Gerede. Er weiß, daß du in Amerika warst, sie hat es ihm gesagt.« »Ging es ihm sehr schlecht?« »Ja, Lisa, aber er ist schon wieder über den Berg. Und irgendwie scheint er sich jetzt noch mehr anzustrengen, wieder gesund zu 139
werden. Er ist natürlich sauer auf dich, er wollte natürlich nicht, daß du für ihn irgendwelche Kohlen aus dem Feuer holst.« »Hat man mich eben deswegen nicht zu ihm durchgestellt? Hat er Anweisung gegeben, daß er mich nicht sprechen will?« »Bestimmt nicht. Er hat sicher schon geschlafen, wie die Schwester sagte. Ich war übrigens den ganzen Morgen bei ihm, denn nachmittags besucht Cora ihn ja.« »Cora?« Lisa dachte verwundert, wie vieles in so wenigen Tagen passieren konnte. »Ich finde, du solltest es wissen, damit du dich dagegen wehren kannst«, sagte Peter. »Ich glaube, sie will Vater wieder rumkriegen. Unterschätz sie nicht. Wehr dich!« »Wie? Und außerdem, warum? Sie hat ein Recht darauf.« »Nein, Lisa. Meine Mutter hat meinen Vater schließlich verlassen. Sie wollte zurück zum Theater. Das Theater war ihr letzten Endes wichtiger als Vater und wir Kinder.« »Sie hatten sich auseinandergelebt, Peter. Das kommt vor und ist im Grunde genommen nichts Besonderes. Ich finde es sogar sehr mutig, daß deine Eltern die Scheidung gewagt haben, nach all den Jahren.« »Warum nimmst du Cora in Schutz?« »Aber ich nehme sie nicht in Schutz, ich versuche nur, sie zu verstehen.« »Ich will nicht, daß du leidest«, stieß Peter hervor. »Du bist so anständig. Dir kann man leicht was antun, und du wehrst dich nicht mal.« Er ballte seine Hände zu Fäusten. Sie sah ihn erschreckt an. »Peter!« »Ja, ich weiß, ich bin nur ein dummer Junge. Ich weiß ja, ich –« er biß sich auf die Lippen. »Entschuldige, Lisa, ich geh' besser schlafen. Und übrigens, ich geh' demnächst zum Studium nach Brüssel. Ist schon beschlossen.« Sein Mund zuckte, lächeln konnte 140
er nicht, und sie nickte nur stumm. Dann war Lisa allein, und es tat weh, daß Peter unglücklich war. Es tat weh, daran zu denken, daß Jürgen jeden Nachmittag mit seiner ersten Frau verbracht hatte, seit er im Krankenhaus war. Es tat weh zu wissen, daß er Cora vielleicht wieder näher gekommen war, vielleicht zu ihr zurückgefunden hatte. Aber ich will ihn nicht verlieren, dachte Lisa. Ich will nicht wieder allein sein. War sie nicht schon jetzt allein? In diesem Haus, das sie doch kaum erst bezogen hatten – kaum einen Monat verheiratet und schon allein. Wenn Jürgen wieder gesund ist, müssen wir miteinander fortfahren, nur wir beide, nur Jürgen und ich, dachte sie. Wir müssen uns die Zeit nehmen, für uns allein. Am nächsten Morgen konnte Lisa es kaum erwarten, zu ihm zu fahren. Sie kaufte Blumen, kaufte ein Buch, von dem sie hoffte, daß es ihn interessieren und ablenken würde, nahm ihm die silbernen Manschettenknöpfe mit, die sie für ihn in New York gekauft hatte, handgetriebenes Silber aus Mexiko. Der Oberarzt fing sie im Flur der Station ab; Jürgen war inzwischen auf die Privatabteilung von Prof. Meixner verlegt worden – einer Kapazität auf dem Gebiet der Neurologie. Der junge Oberarzt wirkte nervös und unsicher – sie sah, wie er sich einen Ruck gab, um zur Sache zu kommen. »Sie müssen verstehen«, sagte er, »Ihr Mann befindet sich in einem sehr labilen nervlichen Zustand, demzufolge möchte er Sie nicht sehen.« Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Lisa brachte kein Wort heraus, spürte nur, wie ihre Wangen zu brennen begannen. »Wir beobachten eine solche Reaktion sehr häufig im Zusammen141
hang mit engsten Familienangehörigen, vor allem auch bei Patienten im Alter Ihres Mannes, die – wenn ich das so sagen darf – mit einer wesentlich jüngeren Frau verheiratet sind.« »Ich verstehe«, murmelte Lisa. »Sie sollten es sich nicht zu Herzen nehmen, gnädige Frau.« »Nein, natürlich nicht.« Sie schaute auf die Geschenke, die Blumen, die sie Jürgen hatte bringen wollen. »Wenn Sie es wünschen, bringe ich diese Dinge jetzt direkt zu Ihrem Mann. Wenn Sie einen Moment lang warten möchten – vielleicht ändert er auch seine – mh – Einstellung?« Lisa nickte nur, sie starrte auf ihre Hände. Sie wußte nicht, wieviel Zeit verging, bis der Arzt in den Flur zurückkam, er berührte flüchtig ihre Schulter. »Sie müssen viel Geduld mit Ihrem Mann haben.« Sie sah zu ihm auf. »Er will mich nicht sehen?« Der junge Arzt schüttelte stumm den Kopf. »Es tut mir leid, daß Sie sich meinetwegen Mühe gemacht haben.« »Aber ganz im Gegenteil, das war doch selbstverständlich –«, er sprach mit ihr, als sei sie die Kranke. Unten im Wagen weinte Lisa, es brachte ihr keine Erleichterung. Zum erstenmal in ihrem Leben wußte sie nicht mehr weiter. Sie hatte das Gefühl, am Ende eines langen, vergeblichen Weges angelangt zu sein. »Wenn der Mensch die Hoffnung verliert, den Glauben daran, daß sein Leben einen Sinn hat, ist er verloren. Und den Sinn des Lebens, die Hoffnung, kann jeder Mensch nur in sich selbst suchen...« Lisa Karlsbad hörte normalerweise nie dem ›Wort zum Sonntag‹ 142
zu, aber diesmal lauschte sie, und es war ihr, als sei jedes einzelne Wort für sie bestimmt. Sie sah das schmale, bärtige Gesicht des jungen Geistlichen, der aus dem Fernen Osten kam, dort wo Krieg herrschte, seit mehr als dreißig Jahren schon. Man sah ihm die Strapazen noch an, und man spürte sein verzweifeltes Bemühen, seinen eigenen Worten zu glauben. Seit mehr als einer Woche war Lisa mutlos gewesen, seit mehr als einer Woche war sie durch die Tage gegangen, ohne sie bewußt zu erleben, Tage, die nie wieder zurückzuholen waren, für immer vergangen. Und nun war es halb elf Uhr an diesem stillen Samstagabend – Peter war mit Freunden in einem Konzert, Grete besuchte eine Bekannte draußen in Grünwald, Horst schlief längst – und Lisa las die Briefe wieder, die sie an Jürgen ins Krankenhaus geschrieben und dann doch nicht abgesandt hatte. Sie dachte an Peters Worte: Du mußt kämpfen, du darfst dir nicht alles gefallen lassen. Sie ging zum Telefon und rief Cora im Hotel Conti an. »Ja, bitte?« kam die weiche, so ausdrucksvolle Stimme wie von sehr weit her. »Ich bin es, Lisa.« »Lisa –«, und nach einem winzigen Zögern, »wie ich mich freue. Wieder aus Amerika zurück?« »Das wissen Sie gewiß längst«, sagte Lisa ruhig. Der Anflug eines verlegenen Lachens klang auf und dann: »Ja, Sie haben recht. Ich weiß es längst. Wann sehen wir uns? Wir müssen uns bald sehen.« »Das finde ich auch. Ich würde mich freuen, wenn Sie zu mir kämen. Heute abend noch.« »Heute abend – gut, ich komme.« Lisa legte mit einem leisen, erlösten Lachen den Hörer auf. Sie sah sich in dem halbdunklen, nur von der Stehlampe und 143
dem Silberleuchter auf dem Kamin erhellten Raum um. Sah ihn seit Tagen zum erstenmal wieder mit Bewußtsein, ließ ihren Blick wie eine Liebkosung über all die Dinge gleiten, die sie und Jürgen vor gar nicht langer Zeit gemeinsam ausgesucht hatten, vor dem Beginn ihrer Ehe. Und sie hörte wieder seine Stimme wie damals: Ich möchte ganz von neuem mit dir anfangen. Wieder ein junger Mann sein, der die Frau, die er liebt, endlich heiraten darf. Ich möchte einfach – ganz hoffnungslos romantisch sein, begreifst du das? Und sie hatten beide glücklich gelacht. Lisa lief ins Schlafzimmer und nahm sein Bild im Silberrahmen in ihre Hände, vertiefte sich in sein Gesicht, in die hellen, klaren Augen, in die Linie des Mundes. Und ich war mutlos, dachte sie, wollte schon bei den ersten Schwierigkeiten aufgeben? Wie dumm von mir. Wie dumm ich doch war. Andere helle, sehr kühle Augen betrachteten Cora Carlson, als sie sehr langsam den Telefonhörer auflegte. Ihr blasses, blondes Haar fiel über ihre Wangen und verbarg den Ausdruck ihres Gesichts. »Es war deine Tochter, Rudolf«, sagte sie schließlich, ohne sich umzuwenden. »Überrascht dich das?« fragte Menken spöttisch. Er griff zu seinem Glas, das einen sehr verwässerten Whisky enthielt, wie es seine Gewohnheit war. »Hast du geglaubt, daß Lisa so leicht aufgibt? Schließlich ist sie mit Jürgen verheiratet.« Cora wandte sich um. »Nein, dafür ist sie zu sehr deine Tochter. Auch wenn es ihr selbst nicht bewußt ist. Was sie will, setzt sie durch, nicht wahr?« »Und du?« fragte er. »Was wirst du jetzt tun?« 144
»Ich fahre zu Lisa.« »Soll ich dich bringen?« »Ich nehme lieber ein Taxi, danke. Ich möchte nachdenken.« Ein unbewußtes Lächeln glitt um ihren Mund. Für Rudolf Menken war sie die schönste Frau, die er kannte, die er je gekannt hatte. »Wann bekomme ich deine Antwort?« Er stand auf, griff nach Hut und Mantel. »Es ist eine große Rolle, Cora. Vielleicht die Rolle deines Lebens.« »Bald, Rudolf«, sagte sie. »Ich rufe dich an.« Er nahm ihre Hand und küßte das zarte, blasse Gelenk. »Ich warte darauf, Cora, das weißt du.« Und so trafen sie an diesem Abend noch einmal zusammen, zwei Frauen, die denselben Mann liebten. Cora Carlson, die zweiundzwanzig Jahre mit Jürgen Karlsbad zusammengelebt hatte, sich dann scheiden ließ, um zur Bühne zurückzukehren – und Lisa, die um zwanzig Jahre jünger war, seine zweite Frau. Beide schön, beide klug – und beide fair. Cora lächelte, als sie dachte, so würde man uns in einem Exposé zum dritten Akt eines Stückes beschreiben. Sie hatte ihr schönstes Kostüm angezogen, aus weichem, schwarzem Breitschwanzpersianer mit einem hohen schwarzen Fuchskragen. Lisa empfing sie in einem himbeerfarbenen Hausanzug aus grobgesponnener Seide. Um ihre schlanke Taille lag ein breiter Gürtel aus gehämmertem Gold. Sie standen sich gegenüber, auf der Schwelle des neuen Hauses, das Jürgen für seine zweite Ehe gekauft hatte. Und dann taten beide Frauen das, was gewiß nicht in der Regie-Anweisung vorgesehen gewesen wäre – sie begannen herzlich zu 145
lachen. »Komm herein«, sagte Lisa, und das Du kam ihr ganz leicht, ganz ungezwungen von den Lippen; es klang auch keineswegs plumpvertraulich, sondern einfach freundschaftlich. Vor dem Kamin in der Wohnhalle legte Cora ihre Pelzjacke ab, sie trug darunter eine dünne, muschelfarbene Bluse. Mit einem Seufzer des Behagens ließ sie sich in einen der tiefen Sessel gleiten, streifte die Pumps von den schmalen Füßen. »Obwohl dein Vater als mein Agent mir jeglichen Alkohol verbietet, hab' ich jetzt Lust auf einen richtigen großen Cognac.« »Mein Vater? Ist er schon wieder hinter dir her?« fragte Lisa, die das Verlangte in vorgewärmte Schwenker schenkte. »Und ob! Die Rolle meines Lebens –« Cora ahmte vollendet die kühle Stimme von Rudolf Menken nach. »Aber es kann sogar sein, daß er recht hat«, fügte sie ernster und ein bißchen nachdenklich hinzu. »Es ist ein ganz neues Stück, von einer Frau für eine Frau geschrieben. ›Wechseljahre‹ ist der Titel. Und das paßt auf mich.« Sie lachte leise. »Ich bin mitten drin. Komisches Gefühl, kann ich dir sagen. Aber wir wollen nicht von mir reden, sondern von Jürgen. Und von Lydia. Du weißt ja, daß sie mal wieder verschwunden ist.« »Ja, ich habe inzwischen die Polizei eingeschaltet.« »Obwohl das kaum etwas nützen wird. Lydia ist schlau. Und sie weiß, daß sie diesmal nur zurückkommen darf, wenn sie vernünftig geworden ist. – Auf dein Wohl, Lisa«, Cora hob ihr Glas, nahm einen kräftigen Schluck. »Ich höre, du hast Glück gehabt in Amerika?« »Ja«, sagte Lisa nur. »Jürgen hat es mir erzählt. Und er wußte nicht, ob er irrsinnig glücklich sein sollte oder stocksauer. Er ist nämlich wahnsinnig stolz, weißt du. Das ist dein großes Problem. Nicht ich, nicht Lydia, sondern sein Stolz. Ihn mußt du überwinden, nicht brechen. Aber beugen. Und weil du ihn liebst, wird es dir auch gelingen.« 146
Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt. Es war schon nach Mitternacht. Sie tranken nun Tee, und Cora hatte eine Schallplatte aufgelegt, die alten Lieder der Dietrich aus dem Blauen Engel und ihrer ersten Zeit in Amerika; es waren die einzigen Erinnerungsstücke, die Jürgen aus seiner ersten Ehe mit in seine zweite genommen hatte. »Aber ich liebe die Lieder nicht aus diesem Grund«, sagte Cora, und Lisa glaubte es ihr. Sie saßen sich ganz entspannt und gelöst gegenüber. Zwei Frauen, die nun keine Geheimnisse mehr voreinander hatten. »Ich gebe zu«, sagte Cora, »eine Weile lang, ein paar Tage lang war der Gedanke verführerisch für mich, ich könnte zu Jürgen zurückkehren. Aber das lag wohl daran, daß es während der Feiertage war. Da denkt man zurück an die anderen Weihnachten und die vergangenen Silvester, man wird sentimental und glaubt, so vieles versäumt zu haben. Wahrscheinlich hat man es auch, denk nur an die guten Vorsätze, die man jedes Jahr faßt und von denen man dann nur einen Bruchteil einhält. Dazu war Jürgen krank und hilflos, und vor mir brauchte er es nicht zu verbergen. Vor mir brauchte er sich nicht als der starke Held aufzuspielen wie vor dir, der so viel jüngeren Frau. Natürlich ist das Unsinn, aber Männer denken nun einmal so.« Cora lachte. »Und ich fühlte mich geschmeichelt, glaubte, das alles sei eben Schicksal, unausweichlich. Ich bildete es mir nur ein und merkte es spätestens, als dein Vater vor drei Tagen zurückkam. Du weißt ja, deine Eltern waren über die Feiertage auf den Bahamas.« »Ich weiß«, Lisa nickte. »Zum erstenmal gemeinsamer Urlaub seit Jahren, meine Mutter war vollkommen aufgelöst, als sie mich anrief, um es mir zu sagen. Seither hab' ich nichts mehr gehört.« »Es war offenbar kein voller Erfolg«, sagte Cora. »Obwohl dein Vater ja nie über Privates spricht. Komisch, beispielsweise hab' ich jahrelang nicht gewußt, daß er überhaupt Kinder hatte, daß du sei147
ne Tochter warst. Nun ja, aber du kennst ihn ja und wie verschlossen er ist. Er kam also zu mir ins Conti und gab mir das Stück zu lesen. ›Wechseljahre‹. Und es ist wirklich gut geschrieben. Und in Berlin soll die Uraufführung sein. Er hat mich auch schon mit dem Regisseur zusammengebracht. Ich kenne ihn von früher, habe in Düsseldorf unter ihm gearbeitet. Also lange Rede, kurzer Sinn, noch habe ich nicht zugesagt, die Rolle zu spielen. Aber ich werde es auf alle Fälle tun. Ich wollte schon längst wieder mal nach Berlin. Und dann winkt eine neue Geschichte im Fernsehen, in Wien.« »Hast du Jürgen schon davon erzählt?« »Ja, heute.« Cora beugte sich vor und zündete sich eine Zigarette an. »Wie nahm er es denn auf?« fragte Lisa und konnte nicht verhindern, daß ihre Stimme drängend klang. »Er war erleichtert.« »Was?« fragte Lisa ungläubig. »Was hat er denn gesagt?« »Willst du es wörtlich hören?« Cora lächelte. Lisa nickte. »Er meinte, die Katze läßt das Mausen nie. Und dann hat er mir erklärt, daß er mit dir wegfahren will. Sofort, wenn er aus dem Krankenhaus kommt. Aber erst, versteht sich, will er wieder ganz in Ordnung sein, topfit. Ich habe ihm eine Höhensonne geschenkt. Die benutzt er jetzt eifrig.« Lisa sagte entsetzt: »Das klingt ja, als spielte er nur krank?« »So ist es leider nicht«, sagte Cora wieder ernst. »Es bestand schon Gefahr für ihn, nach dem zweiten Rückschlag, während du in Amerika warst. Aber wenn er sich an die ärztlichen Anweisungen hält, geht bestimmt alles gut.« »Johann Pfälzer hat mir versprochen, daß er Jürgen im ersten halben Jahr auch beruflich in der Kanzlei entlasten will.« »Wie geht's ihm denn? Trinkt er noch so viel?« fragte Cora. 148
»Ich glaube, das Zusammentreffen mit Singer hat ihm einen heilsamen Schock versetzt, weil Singer sich buchstäblich zu Tode getrunken und geraucht hat.« »Grüß Johann von mir, wenn du ihn wiedersiehst.« »Bestimmt. Aber Cora, was soll ich jetzt tun? Ich kann doch nicht einfach Jürgens Krankenzimmer stürmen?« »Schreib ihm, schreib ihm jeden Tag. Er liebt Briefe. Und schick ihm Blumen. Unterrichte ihn von allem, was hier vorgeht. Schreib ihm Anekdötchen von Horst und Schusseligkeiten von Grete. Und wie es Frühling im Garten wird und die Bäume blühen, was dir halt so einfällt.« »Was willst du denn hier?« unterbrach eine wütende Stimme sie, die sie beide in der ersten Sekunde nicht erkannten. Beide Frauen fuhren aus ihren Sesseln hoch. »Peter!« Lisa faßte sich als erste. »Ja, steh doch nicht so da!« »Ich bin kein Geist«, sagte Cora lachend. »Warum bist du hier?« Peter lief auf sie zu, blieb nahe vor ihr stehen. »Was fällt dir ein?« Er starrte seine Mutter an, und dann packte er sie bei den Oberarmen, und es lag Verzweiflung und Ohnmacht zugleich in dieser Geste. »Ich will nicht, daß du Lisa was antust. Ich will, daß du dich endlich raushältst!« »Peter!« Lisa zog ihn energisch von Cora zurück, die erschreckt den Ausbruch über sich hatte ergehen lassen. »Du verstehst alles falsch. Peter, sieh mich an.« Lisa zwang ihn, sie anzusehen. »Cora ist hier, weil wir uns ausgesprochen haben. Wir verstehen uns gut. Wir haben über Jürgen gesprochen. Sie hat mir sehr geholfen. Sie ist sofort gekommen, als ich sie heute abend gerufen habe.« »Und warum war sie jeden Tag bei ihm, Händchenhalten?« »Weil dein Vater mich für eine Zeitlang gebraucht hat«, sagte Cora ruhig. »Aber das ist jetzt vorbei. Und es war gewiß das letztemal.« 149
Mit einer sehr müden Bewegung griff sie nach der Jacke ihres Kostüms, zog sie langsam an. Sie kehrte auf flachen Strumpffüßen zu ihrem Sessel zurück, klaubte ihre Pumps darunter hervor, schlüpfte hinein. »Es ist Zeit, daß ich nach Hause fahre«, sagte sie einfach. »Cora, bleib noch einen Moment«, bat Lisa. Und dann zu Peter gewandt: »Nun sag schon was. Es muß dir doch leid tun, was du eben getan hast. Cora ist deine Mutter.« »Es tut mir leid«, sagte er zögernd. Er ging zu Cora und griff nach ihrer Hand. »Es tut mir wirklich leid, Mutter, wenn ich dich mißverstanden habe.« »Ist schon in Ordnung«, wehrte sie leise ab. »Ich hab mich ganz schrecklich blöde benommen.« Lisa ging lautlos hinaus in die Diele. »Sie ist viel zu nett, als daß man ihr etwas Böses antun könnte«, sagte Cora. »Lisa ist eine Frau, die man zur Freundin hat, nie zur Feindin.« »Aber sie ist Vaters zweite Frau – und du mußt doch eifersüchtig sein. Wenigstens nahm ich das an?« »Ich war es, eine kurze Zeitlang. Aber ich bin es nicht mehr. Und ich geh' wieder fort. Du weißt doch, das Theater. – Es läßt mich eben niemals los. Vielleicht wird es auch in deinem Leben einmal etwas geben, was dich nicht losläßt.« »Die Malerei –«, stieß Peter hervor. »Und warum machst du sie nicht zu deinem Beruf? Hab doch den Mut dazu!« »Aber Vater –« »Du wirst ihn verändert finden, wenn er aus dem Krankenhaus kommt, verständnisvoller und weicher. Sag ihm, was du tun willst, und er wird dir bestimmt keine Steine in den Weg legen.« »Ich habe nie gewußt, daß man so mit dir reden kann«, sagte Peter verwundert. 150
»Wann immer du Lust dazu hast, besuche mich.« Cora lächelte. »Lisa wird wissen, wo ich zu finden bin.« »Wieso Lisa?« »Ich werde wieder bei ihrem Vater unter Vertrag sein.« »Bei dem Kerl? Der seinen eigenen Schwiegersohn eine Schadensersatzklage an den Hals gehängt hat?« »Geschäft ist Geschäft für Rudolf Menken. Und jeder Mensch hat seine Fehler.« Sie berührte Peters Arm. »Aber jetzt hab' ich wirklich genug geredet für heute abend. Jetzt muß ich nach Hause. Ins Bett. Ich bin hundemüde. Sei so lieb und ruf mir ein Taxi.« Eine Viertelstunde später fuhr Cora Carlson zurück in ihr Hotel. Der wohltemperierte Raum, weiche Teppiche unter den Füßen, geschmackvolle Drucke an den Wänden, dezente Vorhänge und Tapeten – und das alles war dennoch so unpersönlich. Aber das ist mein Zuhause, dachte Cora, während sie vor dem Spiegel saß und sich abschminkte. Das einzige Zuhause, das ich mir zwischen dem Theaterspielen leisten kann. Kein Heim, keine Familie, eine Schauspielerin darf ihre Gefühle niemals daran verschwenden, das hatte Menken erst an diesem Tag gesagt und sie mit seinen kühlen, hellen Augen angesehen, die wie im Fieber glühten, wenn sie auf der Bühne stand. Helen Menken saß in ihrem mit zartgelben Laken bedeckten Bett. Sie hielt ein Buch auf den Knien, den letzten großen Roman von Ernest Hemingway. Sie las ihn in Englisch, sie las auch ihre Lieblingsautoren Francois Mauriac und die Colette in Französisch. Sie war eben so erzogen worden. In einem Schweizer Internat. Sie hatte Klavier spielen gelernt, und Petit-Point-Stickerei, Glasmalerei und französische Küche. 151
Es war lange her und in jener Zeit, als Wirtschaftskrisen zwischen den beiden Weltkriegen Europa durchbeutelten und schließlich auch ihren Vater um sein Vermögen brachten. Aber sie hatte Glück gehabt. Sie hatte den jungen Leutnant Rudolf Menken kennengelernt, aus guter und wohlhabender Familie, Großgrundbesitzer in Ostpreußen. Sie hatte ihn geheiratet, weil er die passende Partie war. Und weil er ihr – so nannte man das damals noch – zu Füßen lag. Helen lächelte, als sie daran dachte. Es hatte ihr geschmeichelt, und sie hatte es sich mit einem spöttischen Lächeln gefallen lassen, wenn er sie seine schöne Helena nannte. Sie hatten während des Krieges geheiratet, sie natürlich ganz in Weiß, im geerbten Brüsseler Spitzenkleid ihrer Mutter. Und ein Jahr lang war sie durch die Birkenwälder seines väterlichen Gutes kutschiert und geritten, entlang der Seen, unter dem Gelb und Grün der Wälder. Dann war die Flucht gekommen, daran dachte sie nicht allzugern zurück, und Lisas Geburt. Rudolf war vermißt und kam erst drei Jahre später aus russischer Gefangenschaft zurück. Der Krieg und die Gefangenschaft hatten ihn verändert. Er wollte alles Versäumte nachholen. Er ging zur Bühne, als könnte er so seinem hungrigen Selbst entfliehen, wenn er in fremde Gestalten schlüpfte. Er hatte keinen Erfolg. Seine Stimme war zu hoch, nahm grelle Töne an, schrille, wenn er auf der Bühne stand. Armer Rudolf, dachte Helen, und seither war er als Agent auf der Suche nach dem einen großen Star, dessen Abglanz auch ihn treffen würde. Selbst sie hatte er dazu machen wollen, aber es nur geschafft, daß sie ein paar – wie sie fand – dümmliche Rollen in Heimatfilmen jener Zeit spielen durfte. Und selbst Rudolf hatte bald 152
eingesehen, daß dies sie nicht weiterbrachte. Sie sah auf die Uhr, als unten die Haustür klappte. Es war kurz nach zwei. Helen griff schnell zu ihrem Handspiegel, prüfte ihr Gesicht, glättete ihr Haar. Sie wartete mit klopfendem Herzen. Wartete immer mit klopfendem Herzen. Lauschte den Schritten, die sich ihrem Zimmer näherten. Sie verlangsamten sich vor ihrer Tür und gingen weiter. Helen drehte den Kopf aus dem Lichtkreis ihrer Nachttischlampe, als dürften nicht einmal ihre vier Wände ihre Tränen sehen. Am anderen Morgen beim Frühstück sagte Rudolf ihr, daß er Cora Carlson wieder unter Vertrag genommen habe. Seine Augen glänzten, seine Stimme klang lebhaft wie lange nicht mehr. Helen beglückwünschte ihn, wie er es erwartete. Früher hatte stets er getan, was sie erwartete, heute war es genau umgekehrt. »Ich möchte, daß du mich zur Premiere nach Berlin begleitest«, sagte er. »Wirklich?« Die Überraschung machte sie atemlos. Das hatte er noch nie gesagt; noch nie war er bereit gewesen, die Freude über einen Erfolg mit ihr zu teilen. »Laß dir etwas Hübsches einfallen, ein Kleid, das zu deinen Smaragden paßt«, sagte er lächelnd. Sie nickte glücklich. Er berührte ihre Hand mit seinen Fingerspitzen. »Die Bahamas waren keine besonders gute Idee von mir, zu viel Trubel. Aber wie wäre es, wenn wir einen Urlaub in Südfrankreich machen. Sofort nach der Premiere?« »Aber – willst du denn dann nicht erst die Kritiken abwarten?« Darauf antwortete er nicht. 153
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s war ein heißer Frühling, der jäh von einem Tag zum anderen anbrach. Schon Ende Februar. Der Himmel wölbte sich blau und klar über der Domstadt am Rhein – was heutzutage besonders dort so selten geworden ist; die Sonne spiegelte sich im braunbrakigen Wasser des Flusses, gab ihm trügerischen goldenen Glanz. Nicht weit von der Endstation der Rhein-Uferbahn hatte sich an diesem frühen Morgen eine aufgeregte kleine Menschenmenge versammelt. Auf dem Asphalt, nahe dem eisernen Ufergitter, lag ein junger Mann, das Wasser floß noch aus seinen Kleidern, Blue jeans und ein besticktes Leinenhemd aus dem Vorderen Orient. Seine Augen waren nur halb geschlossen, sein Gesicht hob sich blaß vom nassen Gewirr des dunklen Haares ab. Hin und wieder lief ein krampfhaftes Zucken durch seinen mageren Körper, dann bäumte er sich auf und lag still. »Ein Fixer«, sagte jemand aus der Menge. »Er lebt noch«, flüsterte Lydia Karlsbad und drückte Jean-Pierres Arm. »Sieh doch, sein Mund hat sich bewegt. Wenn doch bloß der Arzt schon da wäre.« »Laß uns gehen«, flüsterte Jean-Pierre zurück. Er wandte sich ab und taumelte ein bißchen. »Aber wir müssen doch hierbleiben, als Zeugen. Schließlich hast du ihn doch gerettet!« »Ich erkälte mich noch«, Jean-Pierres Zähne schlugen aufeinander wie im Schüttelfrost; das war nur natürlich, denn seine Hosenbeine waren bis zu den Knien naß, Schuhe aufgeweicht, und sein Pullover war auch auf dem Rücken naß, weil er den jungen Mann heraufge154
schleppt hatte. Lydia wandte sich an einen älteren Herrn, der neben ihr stand und wie es schien, sehr nachdenklich auf den jungen Mann herabschaute. »Bitte, falls Zeugenaussagen notwendig sind, ich meine, wenn der Unfallwagen kommt, wir wohnen gleich dort drüben.« »Ja, ist in Ordnung, ich werd' Bescheid sagen.« Der alte Herr nickte ihr zu. Lydia sagte ihm ihre genaue Adresse und ihren Namen. Der alte Herr notierte es sich in einem kleinen schwarzen Kalender. Lydia dankte ihm, nahm Jean-Pierres Hand, und gemeinsam liefen sie über die Straße zu ihrem Haus. Die beiden möblierten Zimmer, die sie vor gut einem Monat hier gefunden hatten, lagen auch unter dem Dach; sie waren hell, nicht sehr groß, gut zu heizen und freundlich eingerichtet. Außerdem war die Miete, gemessen an dem, was man heute normalerweise zahlen mußte, sogar noch niedrig. Und hier in diesen beiden kleinen hellen Zimmern war das Wunder geschehen, um das Lydia gekämpft und gerungen hatte, in endlos scheinenden, verzweifelten Tagen und Nächten. Am Anfang hatte nur ihre Entschlossenheit gestanden, Jean-Pierre – zu dem sie sich geflüchtet hatte, weil sie glaubte, ihrem Vater gegenüber versagt und sich die Chance eines normalen Zusammenlebens mit ihm und seiner zweiten Frau verscherzt zu haben – von seiner Sucht zu befreien. Am Anfang war nur das Wissen gewesen, daß es in den seltensten Fällen gelingt. Notwendig sind ärztliche Betreuung, der eigene Mut des Süchtigen, dem Gift zu entsagen, und die Hilfe der Menschen, die ihm am nächsten stehen. All das wußte Lydia, hatte es nachgelesen, hatte sich in einer Beratungsstelle zur Bekämpfung von Suchtgefahr unterrichten lassen. Sie hatte auch ganz in der Nähe ihrer Wohnung einen Arzt gefunden, der allerdings zuerst zu einem Klinik-Aufenthalt für Jean155
Pierre riet. »Wer soll das bezahlen?« hatte Lydia gefragt. »Und Pierre ist Franzose. Wahrscheinlich würde man ihn einfach sofort nach Paris abschieben. Und bestimmt würde er dort wieder Rauschgift nehmen. Er hat niemanden, der sich wirklich um ihn kümmert.« Der Arzt erklärte sich bereit, Jean-Pierre über die einzelnen Stadien seiner Entziehung hinweg zu betreuen. Es waren die Stadien der Angstträume, aus denen er schreiend erwachte, die Stadien jäher Wutausbrüche, die er nicht kontrollieren konnte, der Angst zu sterben, zu ersticken, zu erblinden, der Angst, wahnsinnig zu werden. Jean-Pierre konnte fast zwei Wochen lang nichts essen, kaum Flüssigkeit bei sich behalten. Er bekam hohes Fieber. Er bekam Ausschlag. Klagte über Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und wand sich in Krämpfen. Ein-, zweimal war Lydia nahe daran hinauszulaufen, hinüber zum Bahnhof, in dessen düsteren Hallen der Rauschgifthandel blühte, nur um Jean-Pierre zu erlösen. Sie tat es nicht. Hielt durch, war ihm Beispiel und Trost. Und ganz langsam, nahezu unmerklich zuerst – hatte die Besserung, die Wandlung, das Wunder eingesetzt. Seit zwei Wochen lebte Jean-Pierre wieder, seit zwei Wochen machten sie jeden Morgen in der Frühe, bevor sie beide zur Arbeit gingen – er in die Uni, sie in das Schallplattengeschäft, wo sie eine Anstellung gefunden hatte – ihren Spaziergang am Rhein entlang. »Du hast mich gerettet«, sagte Jean-Pierre an diesem Morgen nach dem bedrückenden Erlebnis unten am Rhein. »Ohne dich wäre ich längst nicht mehr.« Er hatte sich schon umgezogen, sah wieder so adrett wie früher aus, wie in jenen Ferien, als sie ihn in Südfrankreich kennengelernt hatte. Und sein Gesicht trug nicht mehr die Male der Sucht, sondern 156
eine gesunde erste Sonnenbräune. Nahe stand er vor ihr, sah Lydia lange, stumm an. Dann hob er ganz langsam die Hände, legte sie um ihr Gesicht. Er küßte sie zum erstenmal, wie ein Mann eine Frau küßt. Lisa kam an diesem Morgen gerade aus dem Bad, ein Frotteetuch um das nasse, frischgewaschene Haar gewunden, in ihrem alten Morgenmantel, noch aus ihrer Jungmädchenzeit. Eigentlich hatte sie ihn zuhinterst in den Schrank verbannt. Er war aus hellblauem Cordsamt und schon ziemlich verblaßt und abgeschabt; aber irgendwann hatte sie ihn in den letzten Wochen wieder hervorgekramt. Vielleicht, weil er sie an unbeschwerte Tage erinnerte. Sie war barfuß, und als es an der Tür klingelte, lief sie, wie sie war, hinunter; sie glaubte, es sei Grete, die vom Einkaufen zurückkäme. Aber da stand Jürgen, Unsicherheit in den Augen, ein hilfloses Lächeln huschte ganz schnell um seinen Mund. Und dann hielten sie sich umklammert, ganz stumm, sie zitterten beide. Er murmelte ihren Namen, und er sagte: »Ich wollte es allein schaffen. Ich mußte es mir beweisen. Verstehst du?« Und sie sagte: »Sieh mich nicht an, ich bin so häßlich, überhaupt nicht zurechtgemacht. Wenn ich bloß gewußt hätte, daß du heute schon kommst. Einen Tag früher.« »Ich hab's nicht mehr ausgehalten, Lisa, ich wär' sonst verrückt geworden.« Sie streichelte sein Gesicht, seine Augen, seinen Mund, sie konnte es nicht glauben, daß er endlich, endlich wieder da war. »Komm«, sagte er, »komm.« Und sie gingen hinauf, in ihr Schlafzimmer. Er schloß die Tür ab, aber die Vorhänge ließ er auf, und er sagte: »Komm her, ich will dich ansehen. Mein Gott, ich habe dich so 157
lange nicht gesehen.«
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m Tag nach seiner Heimkehr aus dem Krankenhaus fuhr Lisa Jürgen zum erstenmal wieder in seine Kanzlei. Sie hatte vorher dort angerufen und es angekündigt; nun schmückte seinen Schreibtisch eine große Schale, üppig gefüllt mit blauen Iris, weißen Freesien und zartrosa Nelken. Eine Flasche französischen Champagners schimmerte frostig grün in einem Silberkübel, Kristallschalen standen bereit. Jürgens Sekretärin und die beiden Stenotypistinnen hatten sich besonders schick gemacht, und selbst Johann Pfälzer trug zur Feier des Tages eine Krawatte, in einem schreienden Rot wie ein Fanal. Ein Glas Champagner war Jürgen schon wieder erlaubt – wie alles, was er mit Maßen tat. Ein maßvolles ruhiges Leben in Zukunft – dann durfte er seine Erkrankung nur als Warnschuß betrachten; so hatten es die Ärzte erklärt. Jürgens Augen hatten einen tiefen glücklichen Glanz, während sie ihm alle zuprosteten. Seine Stimme klang bewegt, als er ihnen antwortete: »Es ist gut zu wissen, daß man Freunde hat, und ihr alle wart meine Freunde während der letzten Wochen. Ich freue mich jetzt wieder auf die Arbeit. Und ich hoffe, daß wir alle wieder ganz normal miteinander leben können.« Dann zog Jürgen sich zu einer kurzen Arbeitsbesprechung mit 158
Johann Pfälzer zurück, Lisa machte ein paar notwendige Einkäufe in der City auf der Kaufinger Straße. Anschließend fuhren sie und Jürgen zu Horsts Gymnasium, um ihn abzuholen. Sie hatten ihm einen Nachmittag draußen im Tierpark Hellabrunn versprochen. Und es wurden so erholsame Stunden, daß Lisa sich noch oft in späteren Jahren mit tiefer Dankbarkeit daran erinnern sollte. Sie wanderten unter den Bäumen, die noch kahl vom Winter waren und doch schon erstes Grün ahnen ließen. Die Sonne schien und Vogelrufe triumphierten über den ewigen Lärm der Stadt, der sogar bis hierher schwappte. Sie tranken Tee in einem Pavillon, Horst verschwendete ein Vermögen – sein gesamtes erspartes Taschengeld, was immerhin fünfundzwanzig Mark ausmachte – auf Erdnüsse und Bananen für die nimmersatten Bewohner des Affenfelsens. Sie verweilten lange am Giraffengehege und bei den Elefanten. Und Jürgen sagte: »Eines Tages werden wir eine Safari machen, in Afrika, zu den letzten Tierparadiesen, die es auf unserer engen Welt noch gibt.« Er kaufte ein reichbebildertes Buch für Horst auf der Heimfahrt; die Erinnerungen eines jungen Afrikaforschers, der noch um die Jahrhundertwende die berühmten Wanderungen der Springböcke in Südafrika erlebt hatte, Herden, die Millionen Tiere zählten. Und besonders eine Szene wollte Horst wieder und wieder hören, als er schon im Bett lag, die Wangen noch von der freudigen Aufregung des Nachmittags gerötet, die Augen glänzend, überwach, obwohl er sie nur noch mit Mühe offenhielt. »War es wirklich wie eine Springflut, Vati, wie ein riesiges Meer aus braunseidenen Fellen von einem Horizont zum anderen?« Und er sagte: »Das will ich eines Tages erleben, Vati. Ich will ein Mann werden, der Tiere rettet. Der für die wilden Tiere lebt. Ein Tierforscher!« 159
»Womit Horsts berufliche Zukunft auch fürs erste entschieden wäre«, sagte Jürgen lächelnd beim Abendbrot, als er Lisa davon berichtete. Peter saß bei ihnen, einsilbig, sehr in sich gekehrt, wie schon die ganze Zeit, seit sein Vater aus dem Krankenhaus gekommen war. »Ich gehe nächste Woche nach Brüssel«, sagte er plötzlich. »Nach Brüssel?« Jürgen sah ihn überrascht an. »Aber wieso?« »Ich möchte umsatteln«, Peter sah auf. Seine Augen hatten einen entschlossenen Ausdruck. »Darf ich wissen worauf?« Zum erstenmal wieder klang Jürgens Stimme gereizt und nur mühsam beherrscht. Lisa berührte seine Hand. »Du weißt doch, daß Peter malt.« »Ja, das weiß ich, obwohl er es bisher nie für nötig gehalten hat, mir auch nur eines seiner Bilder zu zeigen.« »Ich möchte dich nicht kränken, Vater«, sagte Peter. »Aber ich habe bisher immer den Eindruck gehabt, daß es dich gar nicht interessiert. – Wenn ich umsattele, brauchst du auch mein Studium nicht mehr zu bezahlen. Ich werde mir einen Job suchen«, fügte er hastig hinzu. »Was für einen Job?« fragte Jürgen. »In einer Tuchfabrik. In Brüssel. Ein Freund von mir arbeitet schon dort. In der Weberei. Er verdient gut. Außerdem sind die Mieten in Brüssel billig, man findet leicht ein gutes Zimmer, und essen kann ich ja in der Mensa.« »Du hast dir schon alles recht gut überlegt«, sagte Jürgen. Es klang nicht bitter, auch nicht sarkastisch. Es war eine einfache Feststellung. Lisa spürte, wie ihr Herz wieder zu seinem normalen Rhythmus fand. »Bitte, schau dir Peters Bilder an, dann wirst du es verstehen«, sagte sie. »Gut«, Jürgen erhob sich. Peter blickte zu seinem Vater auf und dann zu Lisa, und da war 160
mit einemmal ein Leuchten in den Augen des Jungen, wie sie es noch nie gesehen hatte. »Wirklich? Ja, bitte«, Peter stotterte vor Aufregung. Er lief ihnen voran, hinauf in sein Zimmer. Aus dem eingebauten Kleiderschrank zog er die Mappen hervor; so lange Jahre sein Geheimnis. Nur Lisa hatte er sie einmal gezeigt, als dem ersten und einzigen Menschen. Er breitete die Blätter auf dem Bett, dem Tisch und dem Boden aus. Porträts waren darunter, Gesichter aus der Menge – die einem auffallen, die man sieht und wieder vergißt – hier waren sie festgehalten; der lachend zurückgeworfene Kopf eines jungen Mädchens; das schmale Gesicht eines Mannes mit der Angst und der Unsicherheit unserer Tage in den Augen und um den Mund; das Gesicht der alten Frau unter dem Kopftuch, einer Bäuerin auf dem Markt, weiß und ein bißchen listig. Kinder und Tiere hatte er gemalt. Und Landschaften seiner Fantasie, die in blassen und doch irgendwie leuchtenden Farben schwelgten. Jürgen stand stumm davor. Er verstand nicht viel von Malerei. Und er traute seinem eigenen Urteil nicht, ob das, was er sah, einmalig war, etwas Neues, etwas Großes. Er blickte Lisa an, und er las in ihren Augen das gleiche, was er empfand. »Es gefällt mir sehr gut, Junge«, sagte er da langsam und verlegen, weil ihm keine bessere Formulierung einfiel. »Ja, ich glaube, du hast recht, wenn du dich daran versuchen willst.« Peter flüsterte nur. »Wirklich?« »Ja, Junge«, sagte Jürgen, »verdammt noch mal, ja. Du mußt ma161
len! Ich habe nur eine Bitte, mach noch deine zwei Semester Textil, dann hast du einen abgeschlossenen Beruf als Ingenieur. Und dann studierst du Malerei. Aber dann mußt du nach Paris gehen und nach London. Dann mußt du die beste Ausbildung bekommen, die es gibt. Und mach dir keine Sorgen über das Finanzielle. Ich bin ja kein Krüppel mehr und auch noch kein alter Mann.« Damit drehte er sich um und ging hinaus. Und sie beide, Peter und Lisa, wußten, er mußte jetzt allein sein, denn auch eine solche Freude konnte ein Schock sein. Peter stand schmal und mit blassem Gesicht da. Er biß sich auf die Lippen, und seine Augen waren naß. »Lisa«, flüsterte er, »Lisa, ist es wirklich wahr?« Sie nickte stumm, sagen konnte sie auch nichts. Und dann kam er zu ihr und lehnte einen Moment lang seine Stirn gegen ihre Schulter. »Ich habe nie gewußt, daß man so glücklich sein kann.« Jürgen saß lange in seinem Arbeitszimmer, allein – mit den Bildern seiner Erinnerung, mit den Bildern seiner Zukunft. Einen Sohn zu haben, der etwas Großes schuf – noch unausgereift natürlich, aber eines Tages konnte das Werk eines Meisters daraus werden. Cora gehabt zu haben und nun mit Lisa zu leben, Lisa zu lieben. In Frieden, in Zufriedenheit. Und die beiden anderen Kinder, Horst – und Lydia. An Lydia zu denken schmerzte. Weil er nicht wußte, wo sie war. Weil er nicht wußte, was aus ihr geworden war – werden würde. Lydia, das schwierigste der Kinder. Zu unstabil, zu gefühlsbetont. Hoffentlich ging sie nicht daran zugrunde, hoffentlich fand sie den Weg, den sie suchte.
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Jürgen ging zu Lisa. Sie lag schon im Bett. Aber sie war noch wach. Er setzte sich zu ihr, nahm ihre Hand mit den kurzen kindlichunlackierten Nägeln, und legte seine Lippen in die weiche Innenfläche. »Ich bin so glücklich«, sagte er, »mit dir.« »Du hast Peter so glücklich gemacht«, sagte sie. »Mein Sohn, ein Maler! Ich kann es noch kaum glauben.« »Du wirst deine Entscheidung nie zu bereuen haben.« »Nein. – Und du?« fragte er. »Ich bin so dankbar, dir und allen. Für alles.« »Nur Lydia –« »Wir müssen mit ihr Geduld haben.« »Wenn wir wenigstens wüßten, wo sie ist.« »Sie wird sich melden.« »Du hast – auch Vertrauen zu ihr, Lisa?« »Ja, Jürgen«, sagte sie fest. Seit ein paar Tagen war Lydia unruhig, seit ein paar Tagen war sie nervös und gereizt. Sie versuchte, es Jean-Pierre nicht merken zu lassen, vor allem weil sie selbst nicht wußte, woher ihre Unruhe kam. Aber er merkte es, und am Samstagmorgen, bei ihrem gewohnten Spaziergang entlang des Kölner Rheinufers, blieb er plötzlich stehen und sagte: »Hör zu, wir fahren heute noch nach München.« »Bist du verrückt?« Sie spürte, wie ihr Herz stolperte, und mit einemmal konnte sie gar nicht mehr richtig atmen. »Warum?« »Ich will mich deinen Eltern vorstellen. Und dann, du mußt endlich dein Abi machen. Denn ohne Abi heirate ich dich nicht.« »Du bist verrückt!« »Willst du mich nicht heiraten?« 163
»Ich weiß es nicht«, stammelte Lydia verwirrt. Und dann, »ja, doch, sicher!« »Na also«, sagte Jean-Pierre befriedigt. Er griff wieder nach ihrer Hand, schob sie wieder in seine Jackentasche wie üblich und ging weiter, als sei nichts geschehen. »Hör mal, hast du das wirklich ernst gemeint?« fragte Lydia nach einer Weile. »Sicher. Ich bin doch wieder okay. Ich werde auch nicht mehr rückfällig, da brauchst du keine Angst zu haben. Ich will richtig leben. Und da gehörst du dazu.« »Aber du – du brauchst es nicht aus Dankbarkeit zu tun, ich meine, wegen der letzten Wochen.« »Blödmann!« sagte er. »Ich hab' dich lieb, das weißt du doch. Und ich will auch, daß alles seine Ordnung hat. Ich will, daß deine Eltern einverstanden sind.« »Und deine? In Paris?« »Die interessiert das sowieso nicht. Da genügt eine Postkarte.« Sie gingen zum Bahnhof und lösten ihre Fahrkarten für den nächsten Zug nach München. Mit der Unbekümmertheit ihrer Generation verzichteten sie auf Gepäck und irgendwelche Reisevorbereitungen. Und so trafen sie am Samstagabend, kurz vor acht Uhr, bei Lydias Eltern ein. »Lydia ist wieder da!« brüllte Horst durchs ganze Haus, der ihr geöffnet hatte. »Und einen Knilch hat sie auch mitgebracht!« Das trug ihm einen Knuffer von Lydia ein, dem er aber geschickt auswich. Aus der Küche kam Grete gelaufen, hochrot im Gesicht. »Das Kind ist wieder da! Ja, Gott sei Dank! Das Kindchen!« Peter polterte die Treppe hinunter, grinste. »Na endlich, du alte 164
Ziege!« Aus dem Schlafzimmer kamen Lisa und Jürgen, die sich gerade fürs Konzert umgekleidet hatten. Daraus wurde jetzt natürlich nichts mehr. Lydia stand einen Moment lang wie gebannt, dann flog sie ihnen entgegen, erst umarmte sie ihren Vater, dann umarmte sie auch Lisa. Und erst jetzt wußte sie, wie sehr sie Heimweh gehabt hatte in den letzten Tagen, ja Wochen schon. »Ihr seid mir nicht böse, wirklich nicht?« schluchzte sie. »Wir sind froh, daß du wieder da bist«, sagte Lisa. »Gut siehst du aus, Kind!« sagte Jürgen erleichtert. »Und das ist Jean-Pierre –« Lydia zog ihn zu ihrem Vater. »Jean-Pierre und ich, wir wollen heiraten, wenn ich mein Abi gemacht habe und er sein Examen!« »Na, da kommt ja mal wieder alles auf einmal«, sagte Grete. Und plötzlich begann sie herzzerbrechend zu weinen. »Das ist ja wie im Kino. Alles auf einmal!« Alle anderen lachten. Horst raste in den Keller und schleppte gleich drei Flaschen Sekt herauf. »Wer hat dir denn das erlaubt, junger Mann«, protestierte Jürgen gespielt streng. »Wir müssen doch jetzt Verlobung feiern«, sagte Horst. »Mann, ich bin nur froh, wenn Lydia endlich unter der Haube ist!«
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V
iolette Maischatten fielen in die Straßen der Millionenstadt, der Abend steckte seine Lichter an. Die Nacht der Premiere begann. ›Wechseljahre‹ – violette Schrift auf weißem Grund, und in großen, schwarzen Lettern ihr Name. CORA CARLSON Überall auf dem Ku-Damm konnte man die Plakate sehen, an jeder Litfaßsäule. Aufgeregt wie ein junges Mädchen hatte Cora Lisa beim letzten Telefonat davon berichtet und vor Freude geweint. Nun waren im Hilton für die Familie Karlsbad vier Zimmer reserviert, in denen jetzt, eine Stunde vor Theaterbeginn, das reinste Tohuwabohu herrschte. Die Jungs, Jean-Pierre und Peter, waren zwischen Rasieren und Duschen in eine Grundsatzdiskussion über Jazz vertieft, untermalt von lautstarker Pop-Musik aus dem Radio. Horst raste von einem Zimmer ins andere und suchte seine schwarzen Schuhe, um sie schließlich in Lydias Koffer zu finden, und kein Mensch wußte, wie sie da hineingekommen waren. Lydia heulte, als sie feststellte, daß an ihrem schwarzen Samtanzug ein Knopf fehlte. Jürgen hatte die Premierenkarten zu Hause vergessen und telefonierte mit dem Theater, um sicherzustellen, daß sie überhaupt eingelassen wurden; denn die Premiere war seit Wochen ausverkauft. Dazu war es zu heiß in den Zimmern, die Fenster ließen sich jedoch wegen der Klimaanlage nicht öffnen. Cora rief Lisa an und klagte nervös, aber mit einer glockenklaren 166
Stimme, daß sie unsagbar heiser sei und ganz gewiß kein Wort sprechen könnte. Die Blumen für Cora – 23 weiße Rosen – wurden statt ins Theater zu den Karlsbads gebracht und mußten wieder umdirigiert werden. Endlich, zwanzig Minuten vor Vorstellungsbeginn, nachdem auch sämtliche Smokingschleifen endlich gebunden waren und Peter meckerte, daß sein Hemd jetzt schon durchgeschwitzt sei, konnte Lisa ins Bad verschwinden. Sie fühlte sich wie ausgehöhlt von all der Aufregung, aber gleichzeitig auch so, als habe sie einen leichten Schwips. Wahrscheinlich sah sie aus wie ein gerupftes Huhn, aber der Spiegel belehrte sie eines Besseren. Ihre Augen leuchteten, ihre Haut war klar und rosig überhaucht. Sie brauchte keine Maskara, kein Make-up. Sie bürstete ihr Haar, schlüpfte rasch in das schlichte cremeweiße Abendkleid. Jürgen kam herein und legte ihr ein Armband um, schwarze und weiße Perlen miteinander verflochten. Er nahm sie in die Arme und sagte: »Verrate mir nur eines, wer hat überhaupt die Wahnsinnsidee gehabt, daß wir alle zur Premiere kommen sollten? Du oder Cora? Das ist bei Gott die letzte Reise, die ich je mit all unseren Kindern mache!« »Cora und ich«, konterte Lisa lächelnd. »Schließlich muß Cora doch ihren zukünftigen Schwiegersohn kennenlernen, oder nicht?« »Ihr seid beide verrückt«, sagte Jürgen lachend. »Aber es macht Spaß! Ich komme mir vor, als wäre ich mit euch beiden verheiratet!« »Untersteh dich«, warnte Lisa. »Wehe, wenn ich mal eifersüchtig werde!« »Ich glaube, das haben wir hinter uns. Beide. Weißt du, daß ich sogar auf Peter eifersüchtig war?« murmelte er in ihr Haar. »Mh«, machte sie und küßte ihn rasch auf den Mund. 167
»Wir müssen abhauen!« brüllte Horst vor der Badezimmertür und trommelte mit den Fäusten dagegen, als sei mindestens ein Feuer im Hotel ausgebrochen. Lydia verkündete dann manierlicher, daß das Taxi schon warte. Eine Viertelstunde später hob sich der Vorhang zu dem Ein-Personen-Stück ›Wechseljahre‹. Für Cora hob sich der Vorhang zu einer dunklen, warmen Höhle, in der Herzen schlugen, Ohren lauschten, Augen schauten und sich schon nach der ersten Szene die Hände regten, zu einem Beifall, wie ihn sich jeder Schauspieler einmal, nur ein einziges Mal in seinem Leben wünscht. Und diesmal galt er ihr. Ihr ganz allein. CORA CARLSON. So, wie Rudolf Menken es vorausgesagt hatte. Er hatte weißen Flieder gesandt, nur mit einer Karte. Zur Premiere war er nicht gekommen. Er als einziger nicht. Sie hatte nicht nach seinen Gründen gefragt, und sie dachte auch jetzt nur flüchtig an ihn. Aber sie suchte nach den Gesichtern ihrer Familie; von Lisa, ja, Lisa zuerst, und dann von Jürgen und den Kindern. Cora sah sie nicht, aber sie spürte ihre Anwesenheit. Eine ganze Familie, an der sie immer, und das gab ihr alle Sicherheit, das gab ihr alle Kraft, teilhaben durfte. Im Wechsel der Jahre war die erste Frau zur Freundin und die zweite zur Geliebten geworden. Jürgen griff nach Lisas Hand und hielt sie, bis auch der letzte Vorhang fiel.
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