BERTE BRATT
Eine Schulgeschichte aus Norwegen
Wieviel besser haben es die anderen Mädchen, denkt Pony. Sie haben schön...
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BERTE BRATT
Eine Schulgeschichte aus Norwegen
Wieviel besser haben es die anderen Mädchen, denkt Pony. Sie haben schöne Kleider, können reisen, Tennis spielen, autofahren. Aber sind sie deshalb glücklicher? Pony beginnt zu überlegen. Und ganz allmählich kommt ihr eine wunderbare Einsicht. Hat nicht sie etwas, was den anderen fehlt? Ein frohes Zuhause, Freundschaften und damit einen Reichtum, der mehr ist als alle Güter dieser Erde? So lernt sie verstehen, wo die echten Werte des Lebens liegen. Und wird selber ein Mensch, der Harmonie und Wärme ausstrahlt. Innere und äußere Werte richtig einzuschätzen – kann man das lernen? Pony ist ein anmutiges Beispiel dafür.
Berechtigte Übertragung aus dem Norwegischen von J. Madien Krog ILLUSTRATIONEN: ANTON M. KOLNBERGER.
Alle Rechte dieser deutschsprachigen Ausgabe vorbehalten für Franz Schneider Verlag, München 13, Frankfurter Ring 150 Schrift: Garamond. Druck: J. G. Weiß, München. 3281-11
Bukkeberg Es waren ihre Haare, die ihr den Namen gegeben hatten. Trotz aller Mühe gelang es Mutti nicht, den Schopf in Ordnung zu halten. Jeden Morgen flocht sie zwei feste, braune Zöpfe, band zierliche Schleifchen daran, und schickte Pony – oder Rita, wie sie damals hieß – zum Spielen. Wenn Pony nach zwei Stunden wiederkam, war die eine Schleife verlorengegangen, der Zopf hatte sich aufgelöst, und die struppigen Haare hingen ihr in die Stirn und über die Ohren. War Pony eingeladen, bürstete und kämmte Mutti die Haare, bis sie Pony wie ein glänzender Umhang über den Rücken fielen. Eine Seidenschleife hielt sie aus dem Gesicht. Aber nach einer halben Stunde war die Schleife verrutscht, die Frisur war ein Wirrwarr, und Pony sah wüst aus. Eines Tages hatte dann Mutti in ihrer Verzweiflung den ganzen Haarschopf auf dem Hinterkopf mit einem soliden Baumwollband zusammengebunden. Ein Schleifchen verbarg das Baumwollband – und siehe, das hielt! „Jetzt bist du Muttis kleines Pony“, sagte sie lächelnd, und die sechsjährige Rita fand das großartig. Sie lief zu Vati und rief: „Schau, Vati! Jetzt bin ich ein Pony!“ Der Name blieb ihr, und der Pferdeschwanz auch. Zum Glück wurde damals gerade die Pferdeschwanzfrisur modern. Und als Pony alt genug war, sich selbst die Haare zu machen, fand sie die Frisur herrlich einfach und bequem. Denn morgens hatte Pony es immer eilig. Den Pferdeschwanz zusammenzubinden war eine Sache von Sekunden – und schon rannte Pony in die Schule, mit offenem Mantel, schlenkernder Schultasche, den braunen Pferdeschwanz waagerecht in der Luft.
Pony hatte immer in Bukkeberg gewohnt, weit außerhalb der Stadt, wo sich die Füchse gute Nacht sagen. Vor vielen Jahren hatten ihre Eltern zufällig Bukkeberg „entdeckt“. Dem Vater war das Atmen in der gesunden frischen Luft so leicht gefallen wie schon lange nicht. Er hatte seinen Arzt gesprochen und dieser meinte: ja, die Luft in Bukkeberg sei bestimmt für Herrn Jessens Asthma das Richtige. Die Grundstücke waren damals billig in Bukkeberg. Ponys Eltern bauten sich ein bescheidenes Häuschen und zogen aus der Stadtwohnung, in der Herr Jessen so viele qualvolle Tage und Nächte mit Husten und Atemnot hatte erdulden müssen. Jetzt wurde es besser in der reinen Waldluft unter Tannen und Kiefern in Bukkeberg. Und dort wurde Pony geboren. Damals gab es in Bukkeberg außer ein paar Bauernhäusern und einer Hühnerfarm nur eine kleine Fabrik, eine Siedlung für die Arbeiter, einen Dorfkrämer und eine kleine Poststelle. Aber in der Stadt wurde die Wohnungsnot immer größer, die Leute mußten immer weiter weg Grundstücke suchen, und eines Tages entdeckten sie auch Bukkeberg. Da wurden Eigenheime und Einfamilienhäuser gebaut, und moderne Wohnblocks mit viel Glas, Garagen, Müllschluckern und Aufzügen. Aus dem kleinen Laden des Dorfkrämers wurde ein modernes Selbstbedienungsgeschäft, aus der Poststelle wurde ein richtiges Postamt, aus den friedlichen Wegen wurden asphaltierte Straßen mit Namenschildern und Hausnummern. Die paar alten Häuschen duckten sich klein und wie verloren zwischen die großen Neubauten aus Glas und Beton. Nach Bukkeberg kam ein Arzt, dann ein Zahnarzt, Apotheke und Friseur. Die Vorortbahn wurde verlängert, und die „Bukkeberg Station“ wurde errichtet. Aus der kleinen Dorfschule wurde eine richtige Volksschule, nach kurzer Zeit kam eine Mittelschule, und als Pony sechzehn war, wurde das Bukkeberg-Gymnasium errichtet. Die Väter am Tannenhang hatten es verlangt. Am Tannenhang standen die größten und teuersten Häuser in Bukkeberg, und nur sehr wohlhabende Leute konnten da einziehen. Alle hatten Kinder, alle verlangten eine höhere Schule – und so kam es, daß Pony an einem sonnigen Augustmorgen ganz feierlich zumute zur Schule ging: in die Obersekunda des humanistischen Zuges im BukkebergGymnasium.
Die Lateinschule „Ich will Latein lernen, so wie Vati“, hatte Pony gesagt, als sie noch klein war, und dabei war es geblieben. Jetzt wurde es ernst. Die Lateinklasse war nicht groß. Nur elf Schüler hatten Latein gewählt. Da waren Professor Loebers Tochter Stella und ihre Herzensfreundin Berit Wolf, die Latein lernen wollte, weil Stella es wollte. Da waren die Zwillinge von Schiffsreeder Römer, Daisy und Pansy. Ihre Mutter war Engländerin. Die Zwillinge waren jeden Sommer bei „Granny“ in England und sprachen Englisch genauso gut wie Norwegisch. Was hatten sie im neusprachlichen Zug zu suchen? Leider hatten sie auch nichts auf dem mathematischen Gebiet zu suchen. „Mathematik! Scheußlich!“ sagte Pansy, und so blieb ihnen nur die Lateinklasse übrig. Dann war es Margret Petersen, die sich zum größten Erstaunen ihrer Eltern für die Lateinklasse entschieden hatte. „Meinetwegen!“ sagte der Vater mit einem Achselzucken. Er ahnte nicht den Zusammenhang zwischen Margrets Lateininteresse und einem jungen Mann, der allabendlich mit seinem Motorroller vor der Gartentür aufkreuzte und der Latein lernte. Die nächste war Erika Hammer. Ihr Vater war tot, die Mutter war berufstätig, und die war es, die gesagt hatte: „Du sollst die bestmögliche Ausbildung haben, mein Kind. Ich weiß, was es bedeutet, etwas gelernt zu haben. Lerne Latein, das ist die beste Grundlage für ein Universitätsstudium!“ Von den Mädchen in der Lateinklasse kannte Pony von früher nur Ursula Becker. Ihr Vater hatte früher die Fabrik geleitet. Als sie stillgelegt wurde, hatte er eine andere Stellung in der Stadt angenommen. Aber die Familie blieb in Bukkeberg wohnen, wo sie ihr schönes Haus hatte, und das Hin- und Herfahren mit dem Auto war ja eigentlich ein Pappenstiel, meinte Ursels Vater. Das gleiche taten ja beinahe alle Bukkebergväter! Ursel landete in der Lateinklasse ihres Bruders wegen. Die Geschwister waren zusammen in die Schule gekommen. Ursel war zwar ein Jahr älter als Harald, aber als Kind war sie kränklich und man hatte sie ein Jahr zurückgestellt. Immer hatten die beiden nebeneinander gesessen und dieselben Schulbücher benutzt. Außer Harald Becker waren nur noch zwei Jungen in der Klasse: der stille, schweigsame Bernt Rywig und der sportliche, hagere Rolf
Clausen. „Wie das wohl gehen soll!“ murmelte Rolf. Er hatte die Lage gepeilt und festgestellt, daß die Mädchen in überwältigender Mehrheit waren. Pony fühlte sich sonderbar einsam. Außer Ursel und Harald Becker entdeckte sie kein einziges bekanntes Gesicht. Ob sie sich neben Ursel setzen sollte? Aber nein, die würde natürlich wieder neben Harald sitzen. Daisy und Pansy gehörten zusammen, Berit und Stella ebenso. Da setzte Erika sich gerade neben Margret. Und so stand Pony allein, und sie setzte sich auf die letzte freie Bank, wo der zweite Platz leer blieb. Aufmerksam sah sie sich in der Klasse um. Liebe Zeit, wie waren die Mädels schick! Weite, wippende Röcke, die raschelnde Petticoats verrieten, moderne, spitze Schuhe, ein paar hatten sogar lackierte Fingernägel! Pony betrachtete nachdenklich ihre eigenen braungebrannten Hände mit kurzgeschnittenen Nägeln und deutlichen Spuren von Gartenarbeit. Ihre Augen blieben an den Zwillingen hängen, und sie lächelte. So etwas an Ähnlichkeit! Sie waren ganz gleich angezogen. Na, da würde es Verwechslungen geben! Dann entdeckte sie, daß die eine ein Email-Tausendschönchen in einer Kette um den Hals trug, und die andere ein blaues Stiefmütterchen. Das war aber auch der einzige Unterschied. Pony fühlte sich unsicher. Diese Mädchen waren so anders als die von der Mittelschule. Pony kam sich hausbacken und spießig vor in ihrem schlichten Baumwollkleid und mit dem langen Pferdeschwanz. „Doch ja, ich weiß es ganz bestimmt“, rief eine Stimme hinter ihr. „Wir bekommen eine Klassenlehrerin. Mein Vater weiß es vom Direktor.“ „Ach, wie gräßlich“, antwortete eine zweite Stimme. „Und ich hatte fest damit gerechnet, einen flotten jungen Lehrer zu bekommen.“ „Vielleicht bekommen wir wenigstens in Mathematik einen Lehrer“, äußerte jemand hoffnungsvoll. Dann schwiegen sie, denn die Tür ging auf und eine blonde, junge Dame trat in das Klassenzimmer ein. Sie hatte ein schönes, klargeschnittenes Gesicht und ruhige, kluge Augen. „Guten Tag und willkommen, ihr Mädchen und Jungen. Ich bin Studienrätin Bernhard, die Klassenlehrerin dieser Liliputklasse. Nun
hoffe ich sehr auf gute Zusammenarbeit und feste Freundschaft. Zunächst müssen wir uns natürlich kennenlernen. Ich fange wohl am besten damit an, euch aufzurufen.“ Elf junge Augenpaare waren auf Fräulein Bernhard gerichtet. Elf junge Menschen betrachteten sie kritisch. So etwas schauderhaft Ernstes, dachte Berit. Schick ist sie jedenfalls nicht, fand Ursula. „Typisch Lehrerin“, flüsterte Pansy Daisy zu. Sieht mordsgescheit aus, überlegte Pony. Fräulein Bernhard rief die Namen auf, und bei jedem „ja“ sah sie den Betreffenden an, um sich jeden einzelnen einzuprägen. „Rita Jessen – stimmt das? Heißt du Rita oder ist das eine Abkürzung?“ Pony stand auf. „Es ist keine Abkürzung, ich heiße Rita.“ „Wir nennen sie aber alle Pony“, sagte Ursula laut. „Pony?“ fragte Fräulein Bernhard mit einem kleinen Lächeln. „Ein lustiger Name. Aber in der Schule wirst du wohl nicht so genannt?“ Pony lächelte zurück. „Doch, merkwürdigerweise! Ich werde nur Rita genannt, wenn mir jemand böse ist.“ „Ach, so ist das. Ich will nicht damit anfangen, dir böse zu sein. Dann wollen wir es also bei Pony belassen. Setz dich, Pony.“ Fräulein Bernhard fuhr mit dem Aufrufen fort. Ein- oder zweimal blickte sie Pony wieder an. Das junge Mädchen mit dem braungebrannten Gesicht, dem altmodischen Pferdeschwanz und dem eigentümlichen Spitznamen war als einzige aufgestanden, als die Lehrerin mit ihr sprach. Der Stundenplan wurde besprochen, dann verließ Fräulein Bernhard die Klasse. Die Schulbücher, die angeschafft werden mußten, wurden von den Fachlehrern bekanntgegeben, und dann war der erste Schultag beendet. Oben im Lehrerzimmer saß Studienrätin Bernhard im Gespräch mit ihrem älteren Kollegen Studienrat Lang. „Na, wie gefällt Ihnen Ihre Liliputklasse?“ fragte Lang. „Es ist noch zu früh, um einen endgültigen Eindruck zu gewinnen. Ehrlich gesagt: Mir kommt die ganze Klasse vor wie eine Versammlung von Mannequins.“ „Ja, wissen Sie, die meisten sind Tochter aus den reichen Familien am Tannenhang. Ich habe auch einige in meiner Klasse. Aber wer weiß, vielleicht sind sie besser, als sie aussehen.“
„Da war übrigens eine“, sagte Fräulein Bernhard etwas nachdenklich, „ein langaufgeschossenes Mädchen, das recht normal aussah. Auch gut erzogen. Sie trägt den sonderbaren Namen Pony.“ Studienrat Lang lächelte. „Ach Pony! Ja, das ist ein nettes, intelligentes Mädchen. Gut angeschrieben beim Lehrerkollegium, obwohl sie manchmal ein faules kleines Biest ist. Sie hat etwas Entwaffnendes. Vielleicht liegt es an ihren guten Manieren.“ „Sie hat sicher ein gutes Elternhaus“, meinte Fräulein Bernhard. Studienrat Lang nickte. „Das kann man wohl sagen. Gut, wenn auch sehr bescheiden. Ihren Vater habe ich ein paar Mal getroffen, er ist einer der intelligentesten Menschen, die ich kennengelernt habe. Aber er ist krank, hat seinen Beruf aufgeben müssen, und jetzt muß die Familie mit der Rente auskommen und mit dem, was eine kleine Hühnerhaltung und Kaninchenzucht einbringt. Frau Jessen ist unermüdlich, sie arbeitet Tag und Nacht für die Familie. Ja, sie haben nur dieses eine Kind.“ Fräulein Bernhard schaute nachdenklich drein. „Es wird schwer sein für Pony, sich unter all diesen reichen Mädchen zu behaupten.“ „Ja, und es verstimmt mich etwas, wenn ich mir vorstelle, daß diese Clique vom Tannenhang hier an unserer Schule tonangebend werden könnte“, sagte Herr Lang und runzelte die Stirn. „Pony hat sicher mehr Intelligenz und Kultur als viele von diesen Angebern. Aber was bedeuten Sechzehnjährigen schon diese Dinge verglichen mit…“ „… verglichen mit Petticoats, Nagellack und eigenen Autos“, sagte Fräulein Bernhard lächelnd. Pony ging mit Erika Hammer nach Hause. Beide hatten denselben Weg. Erika wohnte Föhrenweg 2 und Pony in Nummer 44. „Wohnst du schon lange hier?“ fragte Pony. „Nein, erst seit ein paar Wochen. Kam gerade recht zum Schulanfang. Ich kenne hier keine Seele.“ „Und ich habe mein ganzes Leben in Bukkeberg gewohnt“, sagte Pony. „Du kennst aber auch nicht viele in unserer Klasse, soweit ich sehen konnte.“ „Ja, das stimmt. Ich glaube, fast die ganze Klasse ist hier neu.
Die ich kenne, sind entweder im neusprachlichen Zug oder in anderen Schulen.“ „Eigentlich komisch. Da sitzt man nun und kennt keinen.“ „Das geht bald vorüber“, sagte Pony lächelnd. „Du hast doch wenigstens einen Banknachbar, ich habe nicht einmal das.“ „Ein reiner Zufall, daß ich neben Margret landete. Hör mal, fährst du mit in die Stadt, Schulbücher kaufen? Heute nachmittag?“ „Klar, ich komme gern mit.“ „Dann schauen wir bei Mutti herein und holen sie ab. Wir können mit ihr heimfahren.“ „Wieso fahren?“ fragte Pony. „Nun, wir haben ein kleines Auto, das mußte Mutti ja haben, als wir hier in die Wildnis zogen. Ich habe keinen Vater mehr. Bei uns ist Mutti das Familienoberhaupt.“ „Hast du Geschwister?“ „Einen Bruder an der Handelshochschule in Bergen. Feiner Kerl, wenn ich das selber sagen darf. Praktisch mit so einem älteren Bruder. Der hat Freunde, und so hat man immer Kavaliere. Hast du welche? Brüder, meine ich?“ Pony schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich habe einen Vater.“ „Du Glückspilz“, seufzte Erika. „Du mußt mich nicht mißverstehen. Mutter und ich haben es großartig zusammen, wir verstehen uns ausgezeichnet. Wenn sie nur mehr Zeit hätte!“ „Was tut denn deine Mutter?“ wollte Pony wissen. „Sie hat einen Schönheitssalon. Gesichts- und Fußpflege. Maniküre, na, eben alles, was dazugehört. Feine Sache, weißt du. Fünf Damen außer Mutti. Bestellung für die Behandlung bis zu einem Monat im voraus. Du hast es ja noch nicht nötig, aber wenn deine Mutter mal eine Gesichtsmassage haben möchte, melde ich sie gern an, Mutti richtet es dann schon ein.“ Ein sonderbarer Ausdruck erschien auf Ponys Gesicht, eine Mischung aus Wehmut und Zärtlichkeit, mit einem kleinen Tropfen Bitterkeit vermischt. „Danke, ich glaube nicht, daß das in Frage kommt.“ „Sag das nicht. Auch wenn das Gesicht deiner Mutter noch so glatt und fein ist, es kommt doch die Zeit. Man sollte frühzeitig damit anfangen, sagt Mutti. Vorbeugen ist leichter als Heilen.“ Erika schwatzte weiter, Pony schwieg. Dann waren sie an Erikas Gartentür angekommen.
„Wie schön ihr hier wohnt“, sagte Pony. Sie kannte das Haus. Es hatte früher zur Fabrik gehört, jetzt war es modernisiert und frisch gestrichen. Ein hübscher Garten war angelegt worden. „Nicht wahr? Na, gar so toll ist es nun auch nicht, aber recht gemütlich. Keine Ahnung, wie es augenblicklich im Wohnzimmer aussieht. Wir sind heute morgen mit einer Affengeschwindigkeit abgebraust, und die Perle erscheint erst morgen. Ein andermal kommst du mit herein, nicht wahr? Nehmen wir heute die Bahn um halb drei?“ „Geht in Ordnung. Wir treffen uns fünf Minuten vorher an der Haltestelle.“ „Okay, Pony.“ Den Rest des Weges ging Pony in tiefe Gedanken versunken. Wir haben ein kleines Auto… wenn deine Mutter Gesichtsmassage haben möchte… feine Sache… fünf Damen außer Mutti…! Und Erika trug ein Kleid, das aussah, als käme es aus einem Pariser Modeheft. Pony merkte nicht, daß ihr ein kleiner Seufzer entschlüpfte… Mutti winkte ihr aus dem Küchenfenster zu und empfing sie an der Tür. „Du bist schon da, Kind? Wie fühlst du dich denn als Gymnasiastin?“ Pony lachte. „Vorderhand genau wie vorher. Wir haben heute erst mal die Lehrer kennengelernt.“ „Wer ist denn dein Klassenlehrer?“ „Eine neue Studienrätin. Fräulein Bernhard heißt sie. Sieht nett aus.“ „Das freut mich. Geh leise, Pony, Vater schläft. Er hat heute nacht schlecht geschlafen.“ Pony nickte. Sie betrachtete einen Augenblick aufmerksam das Gesicht ihrer Mutter. Auch sie hätte sicherlich einen Extraschlaf gebrauchen können. Wenn Vati eine schlechte Nacht hatte, lag sie ebenfalls wach. Wahrscheinlich war sie mitten in der Nacht aufgestanden und hatte Wasser gewärmt für Emser Salz. Oder sie hatte Vati Kissen in den Rücken gestopft, damit er im Bett sitzen konnte. „Wenn deine Mutter eine Gesichtsmassage haben will – “ Nein, Mutters Falten ließen sich nicht wegmassieren. Schlaflose Nächte, Kummer und Geldsorgen, ständige Krankenpflege lange Jahre durch und ohne Ferien hatten Spuren in ihr Gesicht gezeichnet und ihr
Haar ergrauen lassen. Plötzlich ging Pony auf die Mutter zu und umarmte sie. „Musch“, sagte sie. Die Mutter lächelte. „Musch“ war Ponys Babysprache, so hatte sie sie in ihrer frühesten Kindheit gerufen. „Hast du die Kaninchen versorgt, Mutti?“ „Ich hab’ es noch nicht geschafft, bin eben erst mit dem Staubwischen fertig geworden. Könntest du es wohl tun?“ „Klar.“ Pony holte das Kaninchenfutter aus der Kellerecke und ging zu den Ställen auf der Rückseite des Hauses. Während sie ausmistete, fütterte und die Trinknäpfe auswusch, grübelte sie weiter nach. Dieses Staub wischen! Es gab gewiß kein Haus in der ganzen Welt, in dem so gründlich Staub gewischt wurde wie in ihrem. Trotz der ständigen Geldnöte hatten sie den besten Staubsauger, der überhaupt aufzutreiben war. Denn der Vater war gegen Staub überempfindlich. Deshalb wirkten auch die Zimmer so kahl. Vorhänge, Teppiche und Kissen gab es kaum, alles, was Staub sammelte, mußte vermieden werden. Gemütlicher wurde es nicht dadurch. Wenn aber Gemütlichkeit mit schweren Anfällen von Atemnot bezahlt werden mußte, blieb ja keine andere Wahl. Pony warf schnell einen Blick in Mutters „Kaninchenbuch“. Aha, es war höchste Zeit, für Schneeweißchen einen Nistkasten bereitzustellen. Sie mußte in den nächsten Tagen Junge bekommen. Pony legte feines, trockenes Heu in den Nistkasten und stellte ihn dem großen, trächtigen Weibchen in den Stall. Dann baute sie ein paar Laufställe um und war fertig. Als sie wieder ins Haus kam, war Vater aufgestanden. Sein blasses, feines Gesicht hatte einen müden Zug. Aber die Augen leuchteten jung und wach unter der Stirn mit dem weißen Haar. „Vati, hör mal, ich muß in die Stadt und Schulbücher kaufen.“ „Ja, Kind, ich weiß. Laß einmal sehen… Hast du die Liste bei dir?“ Pony holte den Zettel hervor. „Ja, man bekommt nichts geschenkt im Leben“, lächelte der Vater. Er kramte im Schreibtisch und holte einen Umschlag aus einer Lade. „Schulbücher“ stand darauf in seiner klaren, ordentlichen Schrift. „Hoffentlich reicht das. Wenn du alle Bücher gebraucht bekommst, müßte es eigentlich genug sein.“ In der Mittelschule hatte Pony immer gebrauchte Bücher gekauft.
Jetzt biß sie sich plötzlich auf die Lippe, und eine helle Röte schoß ihr in die Wangen. Vater merkte, daß irgend etwas nicht stimmte. „Was ist denn los?“ fragte er. „Hast du noch irgend etwas auf dem Herzen?“ „Nein… das heißt, doch… es ist nur… Ich will mit einem Mädchen zusammen aus unserer Klasse Schulbücher kaufen und da…“ „… und da ist es dir unangenehm, daß du gebrauchte kaufen willst, nicht wahr?“ „Ja, weil die anderen alle so reich sind und schick. Erikas Mutter hat ein Auto und… und…“ „Ja, mein Kind, es gibt eben Unterschiede. Aber Pony, ich sagte schon: Umsonst bekommt man nichts im Leben. Du sollst eine gute Ausbildung haben, nicht wahr? Und diese kleine Unannehmlichkeit, gebrauchte Bücher zu kaufen und offen zuzugeben, daß wir sparen müssen, ist eben ein Preis, den du dafür bezahlst. Hast du wirklich nicht den Mut, geradeheraus zu sagen: Ich kaufe immer gebrauchte Bücher? Ist das wirklich so schwer?“ Ponys Lippen zitterten plötzlich. „Wenn du die anderen Mädchen gesehen hättest, Vati! Du sagst, wir müssen bezahlen, für alles was wir lernen. Aber ich möchte gerne wissen, was die eigentlich bezahlen. Die haben doch alles, Autos, Villen und schöne Kleider!“ „Glaube mir“, antwortete der Vater mit seiner ruhigen, leisen Stimme. „Sie müssen auch bezahlen. Du wirst es vielleicht noch merken, wenn du sie einmal näher kennengelernt hast.“ Pony nahm den Umschlag mit dem Geld und murmelte: „Danke.“ Sie wußte nicht, warum ihr mit einemmal Tränen in den Augen standen.
Alle müssen bezahlen „Wir müssen schnell in den Salon“, sagte Erika, als sie in die Vorortbahn stiegen. „Mutti hat natürlich vergessen, mir Geld bereitzulegen. Jetzt muß ich hinauf und erst ein paar Moneten aus ihr herauslocken. Außerdem bin ich hungrig wie ein Wolf. Ich muß unbedingt in der Stadt erst ein bißchen essen, oder vielmehr eine ganze Menge.“ Erika lachte ihr frohes, sorgloses Lachen. „Ja, aber Erika, hast du nichts zu Mittag gegessen?“ „Ach, ich hatte keine Lust, mir etwas herzurichten. Außerdem sah es in der Wohnung schauderhaft aus. Ich mußte erst aufräumen, staubwischen und so weiter. Da verging die Zeit im Handumdrehen. Ich konnte gerade noch ein paar Schnitten Brot in mich hineinstopfen. Aber jetzt soll mir Mama wahrhaftig ein Schnitzel spendieren. Ich könnte im Augenblick einen ganzen Ochsen aufessen.“ Bei der nächsten Haltestelle wurde die Bahn voll. Pony stand auf, als eine ältere Dame hereinkam. Sie wurde weiter nach vorn gedrückt, weg von Erika, und hatte Muße zum Nachdenken. Also Erika war allein. Ganz allein. Sie mußte aufräumen und putzen und sich selbst ihr Mittagessen zurechtmachen. Vermutlich war das aber gar nicht so schlimm, wenn man genug Geld hatte. Wenn man wußte, daß Mutti einem dann ein Schnitzel spendieren konnte. Wenn es einen „Salon“ gab, in dem man immer Geld holen konnte. Und Erika war so munter und vergnügt. Es schien sie keineswegs zu bedrücken, wenn sie das Haus in Ordnung halten und das Mittagessen mal ausfallen lassen mußte. „Du bist ja beängstigend höflich“, sagte Erika, als sie aus der Bahn stiegen. „Fandest du wirklich, daß die Dame 50 alt und gebrechlich aussah?“ Pony lächelte. „Ach, sie war gewiß älter als meine Mutter. Ich mag nicht sitzen, wenn ältere Leute stehen. Es bedrückt mich irgendwie“, erklärte sie beinahe entschuldigend. „Du bist sicher ein schrecklich braves Mädchen, Pony“, sagte Erika. „Das glaube ja nicht“, lachte Pony. „Frage einmal meine Eltern, die werden dir etwas anderes erzählen.“
„Aber jedenfalls doch höflich“, sagte Erika. „Nun ja, aber das ist ja eigentlich kein Fehler“, lächelte Pony. Erika zog sie in einen Neubau hinein. „Agnes Hammer, Schönheitspflege“ leuchtete es in Silberbuchstaben an einer matten Glastür im zweiten Stock. „Morgen, Fräulein Espensen.“ Erika nickte einer jungen Dame im hellblauen Kittel zu. „Hat Mutti zu tun?“ „Ach du bist es, Erika. Ja, deine Mutter ist mitten in einer Behandlung. Willst du warten, oder…“ „Nein, ich brauche nur Kies! Mutter hat vergessen, das Geld für mich bereitzulegen. Es muß aber ein ganzer Haufen sein, ich will Schulbücher kaufen.“ Fräulein Espensen ging zur Kasse, während Pony stehenblieb und sich umschaute. Sie war zum ersten Mal in einem Schönheitssalon. Wie hübsch alles war! Der ganze Raum war in Blau und Silber gehalten, viele kleine Kabinen waren mit blauen Seidenvorhängen geschlossen, gedämpfte Stimmen kamen dahinter vor, elektrische Apparate surrten, auf einem Glastisch waren allerhand Flakons, Puderschachteln, Lippenstifte, Gesichtswässer und tausend andere Kleinigkeiten ausgestellt. Und im ganzen Raum herrschte ein feiner Duft von Hautcreme, guter Seife und Parfüm. „Bitte unterschreib mir die Quittung, Erika. Ich hoffe, deine Mutter wird keinen Schock bekommen.“ Erika lachte. „Ach, Mutti ist auf das Schlimmste vorbereitet, die Arme! Grüßen Sie sie und sagen Sie ihr, daß wir um fünf wieder hier sind und mit ihr heimfahren möchten. Übrigens, habt ihr nicht ein paar neue Muster da?“ „Sieh selbst nach, Erika, ich habe jetzt keine Zeit mehr. Auf mich wartet schon eine Kundin.“ Fräulein Espensen verschwand, und Erika ging ungeniert hinter den Ladentisch und öffnete eine Schublade. „Sieh mal her, Pony, das ist für dich, Zahncreme… Puder brauchst du wohl nicht? Aber hier, sieh mal, etwas für aufgesprungene Hände… und Gesichtswasser, Parfüm… noch eine Zahncreme… und was ist das? Fußbadesalz? Ja, nimm es ruhig mit.“ Erika stopfte eine Handvoll kleiner Tuben und Fläschchen in Ponys Tasche. „Aber Erika, geht das denn?“ „Klar geht das. Wir sind großzügig mit Muttis Proben. Also gehen wir!“
In der Buchhandlung mußte Pony ein paarmal schlucken, ehe sie einigermaßen natürlich sprechen konnte. „Ja, weißt du, ich gehe nämlich hinüber in die Abteilung für gebrauchte Bücher…“ Erika sah sie überrascht an. „Du, hör mal, das ist aber eine gute Idee. Daß ich nicht schon längst daran gedacht habe! Da sparen wir ja eine Masse Geld und können dafür nachher Eis essen.“ Es ging besser, als Pony gedacht hatte. Und sie war unsagbar erleichtert, weil Erika es nur für eine schlaue Idee hielt. Vielleicht hatte sie wirklich nicht begriffen, daß Pony es bitter notwendig hatte, das Geld zu sparen? Eine halbe Stunde später standen beide Mädchen wieder auf der Straße. „So“, sagte Erika, „jetzt muß ich aber erst einmal etwas zu essen bekommen. Du auch?“ „Ich nicht, ich habe doch Mittagbrot gegessen.“ „Aber irgend etwas wirst du schon noch vertragen können. Komm nur, ich lade dich wenigstens zu Kuchen ein, oder zu Eis oder auch zu beidem. Das hast du dir redlich verdient durch den schlauen Tip, den du mir gegeben hast, gebrauchte Bücher zu kaufen.“ Erikas muntere Art wirkte so selbstverständlich und unbeschwert, daß es Pony leicht fiel, ihre Einladung anzunehmen. Erika kannte sich in dem Café gut aus. Wahrscheinlich fühlte sie sich überall schnell zu Hause. Sie studierte die Speisekarte mit geübten Blicken und bestellte dann rasch ihr Schnitzel. „Ißt du oft außerhalb?“ fragte Pony. „Ziemlich oft. Immer dann, wenn ich zu faul bin, mir selbst etwas zu kochen.“ „Und deine Mutter?“ „Die ißt jeden Tag in einem Lokal. Sie nimmt sich nur eine halbe Stunde frei von ihrem Salon. Aber abends essen wir daheim zusammen. Hinterher knobeln wir immer, wer abwaschen muß. Wenn Mutti verliert, mache ich es meist trotzdem und bekomme eine Krone dafür.“ Sonderbare Gedanken gingen durch Ponys Kopf, während sie ihr Eis löffelte. Wie hatte ihr Vater am Vormittag gesagt: „Glaube mir, die bezahlen auch!“ Sie fing langsam an zu begreifen, daß Erika für alles bezahlen mußte, was sie Pony voraus hatte. Mit Einsamkeit, mit einer Mutter, die nur abends und dann abgehetzt zu Haus sein konnte. Doch die anderen in der Klasse? Daisy und Pansy, Margret mit
den rot lackierten Nägeln und Berit mit den todschicken Schuhen und dem weißen Kostüm – womit bezahlten die wohl? „Du hast es gut, du hast einen Vater“, sagte Erika plötzlich. „Was ist er eigentlich?“ „Ingenieur. Aber er mußte seine Stellung schon vor Jahren aufgeben. Er leidet sehr an Asthma und konnte nicht länger im Büro arbeiten. Die letzten fünf Jahre war er immer daheim.“ „Ach, der Ärmste“, sagte Erika. „Ist er bettlägerig?“ „Nein, er geht spazieren, wenn das Wetter gut ist. Meine Eltern sind schon vor vielen Jahren nach Bukkeberg gezogen, weil die Luft hier Vati gut tut. Er liest sehr viel und er weiß eine Menge. Manchmal schreibt er auch Artikel für Fachzeitschriften.“ „Aber deine Mutter ist doch gesund?“ „Ja, das ist noch ein Glück, sonst wäre es schlimm.“ „Wollte dein Vater, daß du auf den Gymnasialzweig gehst?“ „Ja, aber ich selbst wollte es auch. Das war bei uns zu Hause eigentlich von Anfang an selbstverständlich. Wir haben gar nicht weiter darüber reden müssen. Vati sagt, das Abitur ist die sicherste Gewähr für eine gute Allgemeinbildung. Und es ist der Ausgangspunkt für vieles, das man studieren oder lernen will.“ „Weißt du, ich fürchte mich eigentlich ein bißchen davor. Ob Latein nicht entsetzlich schwer ist? Bist du nicht auch ein bißchen bange?“ „Schon. Aber wenn es zu verwickelt wird, kann ich ja immer Vati fragen.“ „Kann dein Vater Latein?“ „Gewiß, er kann auch Griechisch, und von Mathematik und Physik versteht er natürlich schon durch seinen Beruf sehr viel.“ Pony ahnte nicht, daß in ihrer Stimme ein Ton wie ein leiser Triumph gelegen hatte. Es kam ihr auch nicht zu Bewußtsein, daß sie jetzt von etwas redete, das sie besaß und das vielleicht viel von dem aufwiegen konnte, was die anderen besaßen: die Autos, die schönen Häuser, die reichlichen Taschengelder und einen Schönheitssalon in Blau und Silber. „Hallo, Mutti, hier sind wir. Das ist eine neue Klassenkameradin von mir. Pony Jessen heißt sie.“ Eine hübsche, elegante Dame lächelte Pony an. „Guten Tag, Pony. Willst du mir im Ernst erzählen, daß du Pony heißt?“ „Nein, ich heiße Rita.“
„Aber alle nennen sie Pony, außer wenn sie böse auf sie sind“, erklärte Erika. „Bist du fertig, Mutti?“ „In fünf Minuten. Ihr könntet inzwischen die Pakete hinuntertragen. Hier ist der Autoschlüssel. Bitte, Erika, fahr den Wagen zur Hintertür. Er steht am anderen Ende des Hofes. Heute morgen bekam ich keinen anderen Platz. Packt alles ein bißchen geschickt zurecht, damit Platz für euch beide bleibt.“ Mit Paketen beladen gingen Pony und Erika auf den großen Hinterhof zu einem hübschen kleinen blauen Auto, das weit weg vom Eingang geparkt war. Erika schloß auf. „Kannst du denn schon Auto fahren?“ „Aber sicher. Ebensogut wie Mutti. Für den Führerschein bin ich allerdings noch zu jung. Aber hier auf dem Hof kann ich fahren, das ist Privatbesitz. Auf der Straße darf ich es leider nicht. Doch sobald ich achtzehn bin, mache ich meinen Führerschein. Das steht bombenfest.“ Ein eigenartiges Gefühl stieg in Ponys Herzen auf. So gut hatten es also manche! Sie konnten einfach zur Kasse hingehen und sagen: Ich brauche eine ganze Menge Geld, sie konnten auswärts essen und eine Freundin dazu einladen, ohne um Erlaubnis fragen zu müssen, sie durften Auto fahren, während andere nie Geld hatten und mit einem einfachen Pferdeschwanz herumlaufen mußten, weil der Friseur zu teuer war… „Was hast du eigentlich alles eingekauft, Mutti?“ fragte Erika, als Frau Hammer sich ans Steuer setzte. „Ist das eine ganze Aussteuer für mich oder willst du ein neues Geschäft eröffnen?“ Die Mutter lachte. „Ganz so schlimm ist es nicht. Aber durch einen Zufall hatte ich heute vormittag eine Stunde frei. Und als ich in die Stadt ging, bekam ich plötzlich einen Anfall von Kauflust. Etwas für die Küche und neue Vorhänge fürs Eßzimmer und Winterwäsche für uns beide und…“ „Und eine Dose Pfirsiche“, lachte Erika, die in den Paketen gekramt hatte. „Hm! Pfirsiche, mein Lieblingskompott“, sagte sie lächelnd zu Pony. Pony wagte nicht zu erzählen, daß sie erst ein einziges Mal in ihrem Leben Pfirsiche gegessen hatte. Frau Hammer drehte sich ein wenig nach ihr um. „Du kommst wohl noch mit zu uns hinein, Pony? Ich muß doch Erikas neue Freundin kennenlernen“, lächelte sie.
„Ja, vielen Dank.“ „Und da spendieren wir heute abend die Pfirsiche, ja, Mutti?“ „Das kannst du bestimmen. Die Dose gehört dir.“ Erika plauderte mit ihrer Mutter, erkundigte sich nach der Arbeit im Salon, erzählte das wenige, das von der Schule zu berichten war, und das kleine blaue Auto schnurrte und brummte und brachte sie nach Bukkeberg zurück. Pony war schweigsam und nachdenklich. Vor Jessens Tür hielt Frau Hammer an. Pony lief schnell mit den Büchern ins Haus und erzählte, daß Erikas Mutter sie eingeladen habe. Wie der Wind flog sie wieder zum Auto zurück, wandte sich um und winkte ihrer Mutter zu. Frau Jessen blieb einen Augenblick am Fenster stehen und sah dem Auto nach, das ihre Tochter wegführte. Plötzlich war es ihr sonderbar zumute: Führte dies Auto Pony nicht viel weiter weg, als nur bis zum Föhrenweg 2? Es führte sie in eine andere Welt… Dann schüttelte Frau Jessen das dumme Gefühl ab, lächelte ein wenig und richtete das Abendbrot für sich und ihren Mann her. Aber Pony saß mit großen Augen in einem merkwürdigen dreieckigen Lehnstuhl vor einem Nierentisch in einem hellen, großen Zimmer, mit zweierlei Tapeten und modernen Schwarz-WeißZeichnungen an den Wänden. Alles war hypermodern, hell und geräumig. „Wie hübsch Sie es hier haben“, sagte Pony. „Nett, daß du das findest“, lächelte Erika. „Weißt du, wir haben das ganze alte Gerümpel weggeworfen, als wir hierherzogen. Von oben bis unten ist hier alles neu. Komm und iß, Pony! Wir haben rasch etwas zusammengebrutzelt. Ich hoffe, es ist eßbar. Wir haben draußen in der Küche gedeckt, da essen wir nämlich immer.“ „Das tun wir meistens auch“, sagte Pony erfreut. Es war ihr irgendwie ein Trost, daß sie mit Hammers wenigstens dies gemeinsam hatten. Als Pony aber dann in die Küche kam, war dies Gefühl der Gemeinsamkeit wieder weg. Blanke, weißlackierte Schränke und Tische, ein Grill, ein Kühlschrank und Mixgerät. Abgesondert von der übrigen Küche war auf der einen Seite eine kleine Eßecke eingebaut, durch einen praktischen Tisch mit blanker schwarzer Platte vom übrigen Raum getrennt. „Wir machen es uns bequem“, erklärte Erika. „Eine Hausgehilfin haben wir ja nicht. Unsere Haushaltshilfen sind diese Dinger hier“, dabei zeigte sie auf die Küchengeräte, auf den Kühlschrank und die
Waschmaschine. Frau Hammer zog den Grill zu ihrem Platz am Tisch, und während sie sich setzten und ihr Brot strichen, briet sie im Handumdrehen drei kleine Koteletts. Erika hatte in einer Minute im Mixer einen Rohkostsalat zubereitet. Frau Hammer plauderte und Erika plauderte. Alles war so hell und leicht, sauber und sorglos, als gäbe es gar keine Schwierigkeiten und gar keinen Kummer. Da waren keine Rücksichten auf einen kranken Vater nötig. Keine Kaninchen wollten versorgt werden. Niemand saß da mit einem sorgenvollen Gesicht, weil die Butter wieder ein paar Öre teurer geworden war oder weil Holz und Kohlen langsam zu Ende gingen. Sie redeten über alles und über nichts. Erika erkundigte sich, ob im Salon der Mutter irgend etwas Besonderes vorgefallen war, und Frau Hammer erzählte lachend von einem jungen Mädchen, das sich ihre Augenbrauen herauszupfen lassen wollte, damit sie sich neue in einem hohen, interessanten Bogen malen konnte. „Habt ihr das gemacht?“ fragte Erika interessiert. „Was denkst du denn! Ich bin doch nicht dazu da, ein hübsches junges Gesicht zu verschandeln“, lachte die Mutter. „Ich habe sie weggeschickt. Sie war tief gekränkt.“ Frau Hammer streckte die Hand nach der Zuckerdose aus. Wie gut gepflegt ihre schmalen Hände waren, die spitzen Nägel sorgfältig lackiert! Und Pony sah die Hände ihrer eigenen Mutter vor sich, rauh und gerötet von Hausarbeit, vom Werkeln im Kaninchen- und Hühnerstall. Eine große Zärtlichkeit für die Mutter erfüllte sie plötzlich. Ein zitterndes Mitleid – und ein wenig Bitterkeit gegenüber dem Schicksal, das es den Eltern und auch ihr so schwer machte… Nach dem Abendessen gab Erika keine Ruhe, bevor ihre Mutter alle Einkäufe ausgepackt und hergezeigt hatte. Und wieder wunderte sich Pony darüber, daß jemand ganz einfach nur in die Stadt gehen und nach Herzenslust einkaufen konnte, mehr einkaufen, als ihre eigene Mutter während eines ganzen Jahres erstehen konnte. Sie konnte einen Anflug von Neid nicht unterdrücken. Wie wäre es wohl gewesen, wenn die drei hübschen Wäschegarnituren plötzlich ihr gehört hätten, wenn die neuen Vorhänge für ihr Zimmer bestimmt gewesen wären – bloß weil ihre Mutter plötzlich Lust zum Kaufen bekommen hätte? Sie gingen ins Wohnzimmer hinüber, setzten sich an den ulkigen kleinen Nierentisch und aßen Pfirsiche. Sie schmeckten wunderbar, unglaublich gut. Erika schaltete das Fernsehgerät ein, und sie
amüsierten sich über das Unterhaltungsprogramm. Gesprochen wurde nicht mehr. Langsam und nachdenklich ging Pony nach Hause. „Alle müssen bezahlen“, hatte Vati gesagt. Was mußte Erika entbehren? Womit hatte sie all das Schöne bezahlen müssen? Doch – etwas fehlte in ihrem Heim, etwas, das sie, Pony, besaß: Vatis ruhiges, blasses Gesicht am Abendbrottisch in der Küche. Vatis klare Augen unter dem silberweißen Haar. Vatis leise, kluge Stimme, die alle Fragen beantworten konnte. Kurz gesagt: ein Vater! Zu Hause war es dunkel und still. Die Eltern hatten sich schon zur Ruhe gelegt. Pony ging in das Wohnzimmer und machte Licht. Sie blieb stehen und sah sich um. Abgenutzte alte Möbel, die Vorhänge dünn und schmal und straff. Die Tapete war verblichen, das Zimmer wirkte kahl. Und die Kommode von der Urgroßmutter, und der altmodische, geschnitzte Bücherschrank standen da und wirkten lächerlich in einem Zeitalter, das Nierentische und Fernsehgeräte und dreieckige Sessel verlangte. Pony seufzte. Sie drehte das Licht aus und schlich still nach oben.
All die anderen in der Klasse… „Danke, das genügt, Stella. Ausgezeichnet!“ Fräulein Bernhard lächelte und schrieb „sehr gut“ ins Protokoll. Pony folgte ihr ängstlich mit den Augen. Wenn bloß nicht – wenn bloß nicht… es war nämlich eine peinliche Tatsache, daß Pony gestern ihr englisches Übungsbuch überhaupt nicht geöffnet hatte. Aber dann kam es. „Bitte, Pony, fahr fort.“ Pony fing an zu lesen, und das ging glatt. Ihre Aussprache war gut, sie stolperte nur ein einziges Mal über ein Wort. Aber als sie nachher übersetzen sollte, blieb sie alle Augenblicke hängen. Fräulein Bernhard sah sie mit einem ernsten Blick an. „Ich glaube, du hättest dich gestern etwas mehr um deine Englisch-Aufgabe kümmern können, Pony. Nun, wir werden uns dann mit der Grammatik beschäftigen. Du hast eben richtig übersetzt: Das sollte der Junge eigentlich wissen. Warum ist da für ,sollte’ das Wort ,ought’ gebraucht, und warum hast du das Wort ‚eigentlich’ eingefügt?“ „Weil es eigentlich selbstverständlich ist, daß der Junge Bescheid weiß. Daß er es nicht weiß, ist ein Versäumnis.“ „Richtig. Nun denk aber mal an unser Wort ,sollen’. Wie kann man das im Englischen sonst ausdrücken?“ „Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Zuerst das Hilfsverb ,shall’. Das verwendet man aber auch einfach für das Futurum, als Übersetzung von ,werden’. Ja, und will man dann ein Gerücht oder eine Vermutung ausdrücken, so wie z. B. ,er soll krank sein’, dann wird das Passiv von den Wortern wie ,to say’ oder ,to suppose’ verwendet – ,he is said to be ill’. Und schließlich – wenn wir mit dem ,soll’ einen Befehl oder eine Notwendigkeit ausdrücken wollen, dann gebrauchen wir ,to be’ mit Infinitiv. So wie – ja, zum Beispiel ,I am to work…’ oder… oder…“ – ein kleines Lächeln zeigte sich um Ponys Mund – „oder ,you are to forgive’!“ Die ganze Klasse lachte fröhlich los, und Fräulein Bernhard lachte mit. „Nun sag mir bloß, was fange ich jetzt mit dir an, Pony? Von deiner Aufgabe wußtest du herzlich wenig. Sobald du aber nachdenken mußt, bist du sofort auf der Höhe.“ „Ja, es macht doch Spaß, wenn man durch Nachdenken und Überlegen eine richtige Antwort finden kann. Vokabeln lernen ist
viel langweiliger.“ „So, kannst du mir vielleicht verraten, welche Note ich dir jetzt geben soll?“ „Ich finde, Sie müßten mir eigentlich zwei Noten geben. Für die Aufgabe vielleicht nur ,genügend’. Aber für Grammatik ,sehr gut’.“ „Du meinst also, daß du für die Aufgabe ‚genügend’ verdient hast?“ „Ja, das Lesen ging doch ganz gut.“ Fräulein Bernhard schmunzelte. Sie sah sich in der Klasse um. „Nun, was meint ihr anderen? Findet ihr Ponys Vorschlag auch richtig?“ „Ja, klar!“ „Ihr seid mir eine schöne Bande“, lachte Fräulein Bernhard, „hängt wie die Kletten zusammen. Also gut, Pony, ich bin einverstanden. Im Grunde hast du recht. Trotzdem bitte ich dich, in Zukunft auch ein bißchen besser deine Aufgaben zu lernen. Ich will dich nicht fragen, was du gestern abend gemacht hast, anstatt zu lernen. Das geht mich schließlich nichts an. Trotzdem meine ich, du hättest es aufschieben sollen, bis du deine Aufgaben fertig hattest. – Bernt, fahre du jetzt fort.“ Es wurde wieder ruhig in der Klasse. Wenn Bernt übersetzen mußte, gab es keine besonderen Sensationen. Er konnte seine Aufgaben immer und war unbedingt der beste Schüler der Klasse. Pony aber saß da mit vielen Gewissensbissen und… einem neuen Pulli. Dieser Pulli war schuld, daß sie ihre Aufgabe nicht gelernt hatte. Den ganzen Abend hatte sie daran gestrickt, weil sie ihn unbedingt noch fertigbekommen wollte. Das Wetter war umgeschlagen, es war kühl geworden, und ihre Mitschülerinnen liefen seit Tagen in schicken Pullis herum. Pony hatte es einfach nicht mehr ausgehalten, immer in ihrer langweiligen alten Strickjacke daneben zu sitzen. Also hatte sie eine alte Jacke ihrer Mutter aufgetrennt, die Wolle gewaschen und dann hatte sie eine Woche gestrickt, daß die Nadeln heißliefen. Sie wollte die gleiche schicke Form mit dem modernen halsfernen Rollkragen haben, wie Stella sie trug… Nun hatte sie ihn also. Wenn er auch nicht so elegant war wie der andere von Stella. Denn Stella hatte einen funkelnagelneuen Pulli aus hellgelbem Orion, und Ponys war aus dunkelblauer aufgeriffelter Wolle gestrickt… In der großen Pause saßen die Mädchen der neuen Latein-Klasse alle zusammen auf dem „Felsen“. Das war der Rest eines wirklichen
Felsens vom Bukkeberg, der beim Bau der Schule gesprengt worden war. Ein paar glatte Stufen, wo man behaglich sitzen und sein Frühstücksbrot essen konnte, waren zum Lieblingsplatz der Mädchen geworden. „Du, Pony“, sagte Erika plötzlich, „kannst du mir verraten, ob es noch ein anderes Wort als ,Watt’ gibt, das ein Maß für elektrische Spannung bedeutet?“ Erika hatte aus ihrer Tasche ein Blatt mit einem Kreuzworträtsel herausgeholt und sah die Freundin fragend an. „Watt ist doch kein Maß für elektrische Spannung“, sagte Pony, „das muß wahrscheinlich Volt heißen. Paßt das nicht?“ „Laß mich sehen… ja, natürlich… ich fand es schon sonderbar, daß man Veranda mit einem ,W schreiben sollte. Vielen Dank, Pony! Natürlich habe ich keine blasse Ahnung, worin der Unterschied zwischen Volt und Watt besteht.“ „Das ist doch gar nicht schwer: Volt bezeichnet die Stärke und Watt bezeichnet die Menge. Stell dir vor, der Strom käme wie Wasser aus dem Leitungshahn. Mit Volt könntest du die Stärke des Strahles messen und mit Watt die Wassermenge, die in die Schüssel hineinläuft.“ „Es ist geradezu rührend von dir, daß du Pony noch mehr von ihrer Weisheit auskramen läßt“, rief Margret spöttisch hinüber. „Willst du uns nicht noch einen kleinen Vortrag über Atomforschung halten, Pony?“ Pony sah Margret erschrocken an… „Es ist doch nicht so merkwürdig, daß ich zufällig etwas darüber weiß… Mein Vater ist doch Elektroingenieur“, verteidigte sie sich. „Ja, und meiner ist Großhändler, aber deswegen halte ich noch lange keine Vorträge über Geschäftsführung“, fauchte Margret. Erika versuchte zu vermitteln: „Du würdest aber sicher eine ganze Menge darüber sagen können, wenn man dich danach fragte. Ich weiß von meiner Mutter allerhand über Schönheitspflege und Stella sicher viel über Geologie, Daisy und Pansy über Schiffahrt und Berit wahrscheinlich über Jura…“ „Jura“, lachte Berit. „Daß es verboten ist, zu stehlen und zu morden, das weiß ich, aber das ist auch alles. Denkst du vielleicht, Vati unterrichtet mich abends in Jura, bloß weil er Rechtsanwalt ist?“ „Nein, ich meinte nur…“ „Du wolltest jedenfalls Ponys Angeberei entschuldigen“,
unterbrach Margret. „Sei doch nicht so ekelhaft, Margret“, sagte Ursula, „sie hat dir doch nichts getan!“ „Ich finde es aber widerwärtig, wenn sich jemand bei den Lehrern so lieb Kind macht und mit dem prahlt, was er zufällig weiß“, sagte Margret. „Nein, jetzt bist du aber wirklich boshaft“, brauste Pony auf, „ich habe schließlich nur auf das geantwortet, was man mich fragte. Weiter gar nichts.“ „Abgesehen von den Vokabeln! Da scheinst du ja nicht auf das zu antworten, was man dich fragt.“ „Willst du mir das vielleicht auch vorwerfen? Hast du vielleicht noch niemals eine Aufgabe nicht gewußt?“ „Jetzt hört aber auf“, sagte Stella. „Fräulein Bernhard redet davon, daß wir wie Kletten zusammenhalten und nun zankt ihr euch so. Und dabei wollte ich euch gerade einen gemeinsamen Radausflug für Sonntag vorschlagen. Habt ihr Lust?“ „Fein! Pfundig! Klar!“ antworteten alle begeistert. Nur Pony schwieg. „Na, und du, Pony?“ „Muß erst mal sehen. Mein Rad ist in Fetzen.“ „Dann laß es bis dahin doch noch richten.“ „Wenn das bis Sonntag möglich ist.“ „Tu, was du kannst. – Wann wollen wir starten?“ Nun war also die Radtour das Gesprächsthema. Sie redeten über das Ziel, über den Weg, über den Proviant, und keine merkte, wie schweigsam Pony mit einemmal war. Denn mit ihrem Rad war es so eine Sache. Es war seinerzeit schon alt gekauft, sehr alt sogar, und jetzt waren neue Schläuche fällig. Auch die Reifen waren ein trauriges Kapitel. Und Pony wußte nur allzu gut, daß Vatis Schreibmaschine gerade zur Reparatur war und daß er die Maschine brauchte wie das liebe Brot, wenn er seine kleinen Artikel für Fachzeitschriften schreiben wollte. Sie wußte auch, daß Mutti inzwischen Brennmaterial für den Winter bestellt hatte und daß auch dafür Geld dringend notwendig war. Am Nachmittag stieg sie also in den Keller hinunter und fing an, ihre Radschläuche wieder einmal zu flicken. Sie seufzte. Wahrscheinlich würden die Dinger trotzdem keine fünf Kilometer weit halten. Dann putzte und wienerte sie das Rad, so gut sie konnte. Es hatte lange unbenutzt dagestanden, da dauerte es eine ganze Zeit,
bis sie ein wenig Glanz darauf brachte. Es war schon spät, als sie wieder hinaufging. „Pony, kannst du die Kaninchen versorgen?“ Die Mutter stand in der Küche vor einer großen Wanne mit Wäsche. „Aber Mutti, wenn ich doch…“, Pony unterbrach sich. „Klar, ich tue es schon.“ Rasch ging sie hinaus, machte rein und fütterte. Aber heute streichelte sie dabei die Kaninchen nicht und kraulte sie nicht hinter den Ohren. Alles erledigte sie im Nu und rannte dann schnell hinauf in ihr Zimmer zu ihren Aufgaben. Norwegisch und Latein nahm sie zuerst dran. Für Fräulein Bernhards Stunden wollte sie diesmal unbedingt gut vorbereitet sein, lieber sollte Studienrat Lang seinen Kopf schütteln über ihre Mathematik, oder Fräulein Christensen sich über ihr mangelhaftes Deutsch beklagen. Kaum nahm sie sich Zeit zum Abendessen, dann lief sie sofort wieder hinauf zu den Schularbeiten, und plötzlich fiel ihr siedendheiß ein: der Aufsatz! Der norwegische Aufsatz mußte am nächsten Tag abgegeben werden. Nicht ein Wort hatte sie davon geschrieben. Rasch holte sie das Heft hervor. Von einer Ausarbeitung war keine Rede. Sie mußte sofort ins Reine schreiben. „Welche Erfindung hat nach deiner Meinung die größte Bedeutung für die Menschheit gehabt?“ so lautete das Thema. Pony dachte einen Augenblick nach. Da erinnerte sie sich an ein Gespräch mit dem Vater. Er hatte ihr damals gesagt, die Erfindung des Rades sei vielleicht die größte, die jemals gemacht wurde. Pony starrte in die Luft. Vor sich sah sie die ersten schweren scheibenförmigen Räder aus mühsam zusammengehauenem Holz. Was mochte es für die Menschen in alten Zeiten bedeutet haben, daß sie nicht mehr einen Schlitten über Stock und Stein ziehen mußten, sondern eine Karre fahren konnten! Ihre Gedanken gingen weiter zu einem Holzrad mit Speichen, zu eisenbeschlagenen Rädern, gummibeschlagenen Rädern, zu Rädern mit luftgefüllten Gummischläuchen, und sie sah Räder, Räder überall; winzig kleine Räder in Uhrwerken, schwere Stahlräder, die mächtig sausende Maschinen in Gang hielten, Mühlenräder und Wasserräder. Ihre Phantasie war in Gang gekommen. Als sie endlich zu schreiben anfing, flossen ihr die Gedanken und Sätze nur so zu. Ähnlich erging
es ihr oft. Bis zum letzten Augenblick schob sie einen Aufsatz auf, aber wenn sie dann einmal angefangen hatte, ja, da ging es wie… wie auf Rädern! Sie schrieb drauflos. Eine Seite nach der anderen. Immer wieder fiel ihr etwas ein, was noch erwähnt werden mußte. Worte kamen wie von selbst und fügten sich zu guten, glatten Sätzen zusammen. Jetzt zeigte sich wieder einmal, wie sehr sie vom Vater zu einem klaren, systematischen Denken erzogen worden war. Und als sie spät am Abend das Heft schloß, da hatte sie wieder einen von jenen Aufsätzen geschrieben, über die ihre Lehrer die Köpfe schüttelten und seufzten: Nein, diese Pony! Diese Pony! Ein faules kleines Ding ist sie schon, aber sie kann, wenn sie nur will. Und das dachte Fräulein Bernhard auch, als sie am nächsten Tag den Aufsatz las. Sie hatte eine Freistunde und nahm sich im Lehrerzimmer gleich die neu eingesammelten Hefte vor. Aufsätze korrigieren war eine Arbeit, die sie interessierte. Dabei lernte sie ihre Schüler am allerbesten kennen. Sie sah plötzlich, was unter den eleganten Kleidern und modernen Frisuren steckte. Ein paarmal schüttelte sie beim Lesen den Kopf. Wie sollte sie Margret erklären, daß das Auto nicht die wichtigste Erfindung für den Menschen war? Oder Rolf begreiflich machen, daß das Radio zwar eine große Erfindung war, aber… Dann nahm sie das Heft von Bernt Rywig in die Hand. Er hatte über die Buchdruckerkunst geschrieben. Ein gescheiter Junge, der Bernt, der jüngste in der Klasse, aber absolut Nummer eins, wenn es um Wissen und Intelligenz ging. Es war ein Vergnügen, seinen Aufsatz zu lesen, und auch ein Vergnügen, ihm ein klares „Sehr gut“ zu geben. Dann kam Ponys Aufsatz dran. Fräulein Bernhard seufzte ein wenig. Sie mochte Pony gern, aber ihre Schrift um so weniger. Pony schmierte drauflos, die Seiten waren mit Klecksen und Korrekturen geschmückt, aber, aber… Ein merkwürdiges Mädchen! Der Aufsatz war nicht nur gut, er war in einem ausgezeichneten Stil geschrieben, mit richtig gewählten Ausdrücken, so unglaublich erwachsen. Erwachsen, ja das war das richtige Wort. Pony würde doch nicht etwa…? Nein, Fräulein Bernhard konnte sich einfach nicht denken, daß Pony schwindelte und daß sie sich von jemand hatte helfen lassen. Aber andererseits… dieser Aufsatz…? Es läutete zur Pause. Die anderen Lehrer kamen für ein paar Minuten in das Zimmer.
„So fleißig, Fräulein Bernhard?“ fragte Fräulein Madsen, eine ältere Kollegin. „Ja, ich… sagen Sie bitte, Fräulein Madsen, Sie hatten doch im vergangenen Jahr Pony Jessens Klasse. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Pony einen Aufsatz schreiben kann, auf den ein Erwachsener stolz sein könnte?“ Fräulein Madsen lächelte. „Aha, Sie sind jetzt an der Reihe zu staunen! Ja, doch, ich halte es durchaus für möglich. Pony ist ein merkwürdiges Mädel. Sie kann so unglaublich faul sein, daß man verzweifeln möchte, und gleichzeitig weiß sie eine ganze Menge Dinge, die sie in der Schule gar nicht gelernt haben kann. Ich glaube, es macht die Atmosphäre in ihrem Zuhause. Ihr Vater…“ Fräulein Bernhard nickte. „Ja, das sagte Studienrat Lang auch.“ „Darf ich den Aufsatz lesen?“ „Selbstverständlich, sehr gern.“ Fräulein Madsen las aufmerksam. „So ein Mädchen! Welche Note wollen Sie ihr geben?“ „Nun, ich dachte: Vorzüglich.“ „Das wäre nicht das erste Mal. In der Examensnote hat Pony auch damit abgeschlossen.“ „Wissen Sie, ich kann einfach nicht glauben, daß Pony schwindelt. Ich bin überzeugt, daß kein anderer den Aufsatz für sie geschrieben hat. Aber trotzdem…“ „Wenn Ihnen eine alte Kollegin einen Rat geben darf, Fräulein Bernhard, dann sagen Sie zu Pony kein Wort, daß Sie mißtrauisch sind. Es ist besser, einer Schülerin ein unverdientes ,Vorzüglich’ zu geben, als sie unverdient zu kränken. Lassen Sie Ihre Schüler lieber bei nächster Gelegenheit einen Klassenaufsatz schreiben, dann können Sie ja sehen, was Pony zuwege bringt, wenn sie keine Gelegenheit hat, sich helfen zu lassen.“ Fräulein Bernhard lächelte dankbar, dann schrieb sie mit roter Tinte unter den Aufsatz: Schrift: schauderhaft, Inhalt: vorzüglich. Als Pony am Sonntagmorgen ihr Rad aus dem Keller holte, fragte ihre Mutter bekümmert: „Glaubst du wirklich, daß es hält?“ Pony zuckte mit den Achseln. „Ich hoffe es; geflickt habe ich es, so gut ich konnte.“ „Aber riskierst du nicht…“ „Natürlich ist es ein Risiko. Aber es ist auch kein Vergnügen, zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen, wenn die anderen alle auf einer Radtour sind.“
Eine ganz leise Bitterkeit klang aus Ponys Stimme. Sie faltete ihren Regenmantel zusammen und band ihn auf dem Gepäckträger fest. „Du, Mutti“, sagte sie zögernd. „Ja?“ „Sag… könnte ich nicht ein bißchen Geld bekommen? Weißt du, die anderen wollen alle in ,Drei Eichen’ einkehren und…“ „Ihr hättet euch ja Proviant mitnehmen können.“ „Ja, wenn von den anderen das doch keine wollte…“ Die anderen, die anderen! Niemand von den anderen… alle die anderen in der Klasse haben… alle die anderen haben Pullis mit Rollkragen, Schultaschen aus Leder, alle die anderen dürfen… „Ja, warte ein wenig.“ Frau Jessen holte ihre Geldtasche und gab Pony ein paar Kronen. „Vielen, vielen Dank, Mutti.“ In Ponys Gesicht leuchtete es auf, als sie sich aufs Rad schwang. Sie wandte sich um und winkte der Mutter zu. Und Frau Jessen winkte zurück und überlegte, wie sie bei ihrem knappen Wirtschaftsgeld die paar Kronen einsparen könnte. Die acht jungen Mädchen radelten in den klaren Herbsttag hinaus. Sie plapperten und lachten. Pony war die fröhlichste von allen, bis – ja, bis ein scharfer Knall ertönte und das Rad wackelte. Es war gerade noch so, daß sie nicht herunterfiel. Du liebe Zeit! Das war nicht nur eine einfache Panne, das war die reinste Explosion! Der mürbe, alte Gummireifen war ein langes Stück aufgerissen. Die anderen Mädel stiegen von den Rädern und besahen sich den Schaden. „Zum Kuckuck!“ rief Pony. Das sollte recht forsch klingen. Aber es gelang ihr nicht recht, denn sie spürte einen mächtigen Kloß im Hals. „So etwas“, sagte Daisy. „Das kann man gar nicht mehr flicken.“ „Du wolltest doch dein Rad reparieren lassen“, sagte Margret. „Das habe ich vergessen und da habe ich gestern selbst mit Flicken angefangen“, murmelte Pony. „Aber in diesem Fall kann man wohl nicht behaupten, daß selbstgemacht auch gut gemacht ist.“ „Was tun wir jetzt?“ fragte Stella. „Was ihr tut? Ihr fahrt weiter und ich schiebe diese Ruine heim.“ „Soll ich mitkommen?“ fragte Erika. Jetzt wurde der Kloß im Hals so dick, daß Pony beinahe nicht reden konnte. Erika wollte ihren Sonntagsausflug opfern, um ihr Gesellschaft zu leisten! Das
war so… so… Pony schluckte verzweifelt und zwang sich zu einem Lächeln. „Du bist ein netter Kerl, Erika, aber das möchte ich nicht annehmen. Wenn ich es mir recht überlege, gibt es eine Menge, was ich heute alles tun könnte. Deshalb ist es vielleicht gar nicht schlecht, daß nichts aus dem Ausflug wird. Macht’s gut, ihr anderen. Viel Vergnügen! Das nächste Mal sorge ich dafür, daß mein Rad in Ordnung ist.“ Dann machte Pony kehrt und trabte vier Kilometer lang die sonntagsstille Landstraße zurück nach Bukkeberg, nach dem Föhrenweg 44. „Ja, aber Mädel…“, sagte Mutti. Pony schleuderte das Rad gegen die Hauswand und trocknete zum siebzehnten Mal die Augen. „Explodiert! Nichts zu machen!“ „Höre, liebes Herz…“ „Ach, laß mich!“ sagte Pony. Sie lief wie der Wind die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Ihre Mutter blieb stehen. Kleine Pony! Es war nicht leicht für sie, ganz bestimmt nicht. Welches Pech, daß sie gerade in einer Klasse mit so vielen Kindern reicher Eltern gelandet war. Pony war klug und sie war ein liebes Mädchen. Aber was zuviel ist, ist zuviel, besonders wenn man erst sechzehn und ein halbes Jahr alt ist. Frau Jessen blieb nachdenklich stehen. Mit vierzig kann man leichter verzichten, dachte sie. Aber was man mit sechzehn Schlimmes erlebt, das gräbt tiefere Spuren, das tut weher. Wenn sie es sich genau überlegte, dann konnte sie ihren alten Wintermantel ganz gut noch einen Winter tragen und bei mildem Wetter auch den Popelinmantel anziehen, vielleicht mit einer Strickjacke darunter. Und dann ging Frau Jessen ins Wohnzimmer und öffnete das oberste Fach des Schreibtisches. Obenauf lag ein Umschlag mit der Aufschrift „Wintermantel“. Daraus nahm sie einen Fünfzig-KronenSchein und ging zu Pony hinauf. Pony saß an ihrem Arbeitstisch, hatte die Hände aufgestützt und starrte vor sich hin. Als die Mutter eintrat, wandte sie nicht einmal den Kopf. „Pony, Liebling…“ „Ich weiß schon, Mutti, aber manchmal ist es eben verflixt schwer, arm zu sein.“ „Sieh mal her, Pony! Hier hast du Geld für eine richtige Radreparatur.“
Pony drehte sich mit einem Ruck um. „Aber Mutti, wieso… Ich meine, wie kannst du…“ „Ja, siehst du, ich habe eine kleine Sparsumme, von der du nichts weißt. Sie ist für den äußersten Notfall bestimmt, und das ist wohl…“ „Das ist doch kein äußerster Notfall!“ sagte Pony, aber ihre Augen leuchteten. „Doch“, lachte Frau Jessen „es ist äußerste Not – für dein Rad.“ „Ach Mutti“ – und dann hatte Frau Jessen Ponys Arme um den Hals, und die Freude in den Augen des Mädchens entschädigte Frau Jessen reichlich für den Wintermantel, den sie aufgegeben hatte. Pony ließ die Mutter los und sah auf den Geldschein hinunter. „Weißt du, Mutti, es gibt ja eine Menge Sachen, die ich nicht habe. Manchmal ist das schon arg. Aber eine Sache habe ich, oder vielmehr zwei gute Sachen…“ „Und was sind das für Sachen, wenn ich fragen darf?“ „Ich habe die besten Eltern der Welt“, sagte Pony und ihre Stimme zitterte ein wenig, aber die Augen strahlten wie Sterne.
Es ist schwer, Pony zu sein Pony genoß es, von und zur Schule mit dem Rad fahren zu können. Daß sie dabei Zeit sparte, war gut, aber es war auch so niederdrückend gewesen, den langen Weg zu Fuß gehen zu müssen, während alle anderen radelten. Pony, Erika, Berit und Ursula hatten denselben Weg, und nun fühlte sich Pony mehr in Kontakt mit ihren Kameradinnen. Daß sie nun auch radfahren konnte, machte sie ihnen gleichwertiger; in diesem Punkt wenigstens stach sie nicht von ihnen ab. Sonst gab es noch genug solcher Punkte. Kleider und Taschengeld und die Frisur und tausend andere Dinge. „Daß du dir nicht die Haare abschneiden läßt! Pferdeschwänze sind doch ganz unmodern“, sagte Berit eines Tages. Pony lächelte etwas angestrengt. „Du kennst meine Haare nicht“, sagte sie. „Du ahnst nicht, wie unmöglich die sind. Ich getraue mich einfach nicht, sie abzuschneiden, die würden nach allen Seiten herausstehen wie ein alter Kehrbesen.“ „Sie können unmöglich schlimmer sein als meine“, sagte Berit eifrig. „Wenn du willst, kann ich dir die Adresse meines Friseurs geben, er ist einfach ein Tausendkünstler. Du mußt doch zugeben, daß er meinen Struwwelkopf ganz nett zurechtgekriegt hat.“ Berit lächelte selbstsicher unter ihrer Mode-Frisur. „Ach, ich weiß nicht – “, sagte Pony unsicher. Mein Friseur, dachte sie, wie sicher, wie selbstverständlich, wie wohlhabend das klang! Erika kam ihr zu Hilfe. „Ach nein, schneide es nicht ab, Pony!“ sagte sie. „Wir wollen dich lieber ganz so haben wie du bist, und dieser Pferdeschwanz gehört nun mal unbedingt zu dir.“ Pony warf ihr einen dankbaren Blick zu. „Meinst du wirklich? Ja, ja, dann behalte ich ihn eben.“ Wenn sie bloß ahnten, wie satt sie diesen Pferdeschwanz hatte! Wie brennend sie sich eine schicke, moderne Frisur wünschte, mit einer Andeutung von Stirnfransen, ein paar lustig zerzausten Strähnen und der Andeutung eines kleinen Scheitels. Kurz gesagt: eine Frisur, die eine Menge Geld kosten würde, das sie eben absolut nicht hatte. Das war ja gerade die Schwierigkeit. Ihre Freundinnen konnten leicht sagen: „Schneide doch deine Haare ab“, oder: „Laß doch dein Rad reparieren“, oder: „Du solltest einen Petticoat unter dies Kleid
anziehen“ – sie sagten das so einfach, so selbstverständlich, als ob es keinerlei Geldsorgen in der Welt gäbe. Es fiel ihnen gar nicht ein, daß Haarschneiden und Petticoats und Radreparaturen Geld kosteten. Und Pony war noch nicht so erwachsen, so frei und überlegen, daß sie hätte sagen können: „Nein, das muß ich schön lassen, das kann ich mir nicht leisten.“ Minderwertigkeitskomplexe wuchsen in ihr, und so geschah es, daß sie versuchte, sich da zu behaupten, wo sie es vermochte. Sie war es, die auf Fragen antwortete, die an sich nichts mit den Aufgaben zu tun hatten. Was man büffeln mußte, das war nicht Ponys starke Seite. Aber bekam sie eine Sache in einer Schulstunde erklärt oder in einem abendlichen Gespräch mit Vati, dann saß es in ihr fest. Und Vati hatte immer Zeit, mit ihr zu plaudern, hatte immer Zeit, ihre Fragen zu beantworten. Es wurde bald zur Gewohnheit bei den Klassenkameradinnen, Pony zu fragen, wenn es sich um ein schwieriges Fremdwort handelte oder um eine verwickelte Kreuzwortaufgabe. Und in ihren Aufsätzen zeigte Pony oft ein Wissen und eine Fähigkeit zu logischem Denken, das ihren Jahren weit voraus war. Aber das Minderwertigkeitsgefühl war trotzdem vorhanden. Und am Nachmittag und an den Abenden saß Pony oft da und bastelte an ihren Kleidern herum, machte Dreiviertelärmel aus langen Ärmeln, einen neuen Ausschnitt an einer alten Bluse, versuchte ihre einfachen Kleidungsstücke schicker und moderner zu ändern. Das Ergebnis war nur „soso“. Pony hatte keine Nähbegabung. Aber es wirkte sich an ihren Aufgaben aus. Immer öfter kam sie nur halb vorbereitet zur Schule, und die Lehrer schüttelten die Köpfe über die schlechten Noten, die sie ihr notgedrungen geben mußten. Obwohl sie doch wußten, daß sie sehr gut konnte, wenn sie nur wollte. Es tat ihnen wirklich leid, denn alle mochten Pony gern. Trotz allem. Fräulein Bernhard öffnete den letzten Aufsatz aus dem Stoß. „Diesen Aufsatz habe ich bis zum Schluß aufgehoben“, sagte sie. „Es kommt nicht oft vor, daß man die Freude hat, ein ,Vorzüglich’ für einen norwegischen Aufsatz geben zu können. Aber diese Freude hatte ich jetzt. Ja, es ist dein Aufsatz, von dem ich spreche, Pony. Ich möchte ihn euch vorlesen. Sollte ich dabei stottern, ist es nicht mein Fehler, Ponys Handschrift ist nämlich keineswegs vorzüglich.“ Pony errötete, und Fräulein Bernhard begann zu lesen. Bernt saß
mit erhobenem Kopf da und horchte gespannt. Dann wandte er sich einen Augenblick um und nickte Pony anerkennend zu. Erika, Berit und Stella warfen erstaunte und bewundernde Blicke auf Pony, nur Margret saß mit einem kleinen spöttischen Lächeln da, und nun ließ sie auch noch ein leises verächtliches Schnaufen hören. „Sag mal, Pony“, fragte Fräulein Bernhard, als sie fertig war, „wie bist du eigentlich auf diese Gedanken mit den Rädern gekommen?“ „Ich weiß nicht – ach doch, ich weiß schon. Wir sprachen einmal daheim über große Erfindungen, und da sagte Vati, eigentlich sei die Erfindung des Rades die bedeutendste von allen. Darüber dachte ich nach und ich fand, daß Vati recht hatte – es kam dann alles ganz von selbst, als ich den Aufsatz zu schreiben begann.“ Fräulein Bernhard nickte. „Ja, dann gratuliere ich dir, Pony, und möge dieses Vorzüglich’ nicht das letzte sein, und mögest du im Mündlichen ebenso gut werden, wie du es im Schriftlichen bist.“ Pony nahm ihr Heft an sich und war glücklich. Wie sie sich darauf freute, ihren Eltern erzählen zu können. Aber die Freude war von kurzer Dauer. Sie dauerte gerade bis zur Pause, in der die acht Mädchen der Lateinklasse sich auf dem „Felsen“ lagerten. „Pony, wollen wir wetten, daß du eine Schriftstellerin wirst?“ sagte Erika. „Dein Aufsatz war tatsächlich eine Wucht.“ Margret warf den Kopf in den Nacken. „Ich danke! Wir könnten wohl alle pfundige Aufsätze schreiben, wenn wir unsere Väter zu Hilfe riefen. Ich für meinen Teil möchte lieber ein ,Genügend’ haben für einen Aufsatz, den ich wirklich selbst geschrieben habe, als ein ,Vorzüglich’ für eine Arbeit, die ein anderer gemacht hat.“ Pony fuhr auf wie von einer Nadel gestochen. „Was sagst du da, Margret? Wagst du zu behaupten, daß ich meine Aufsätze nicht selbst schreibe?“ „Behaupten? Hast du vielleicht nicht selbst erzählt, daß es dein Vater war, der…“ „Mein Vater, ja, daß er einmal mit Mutti und mir über große Erfindungen sprach. Aber das ist eine Ewigkeit her. Und wenn du denkst, daß er auch das geringste mit meinem Aufsatz zu tun hätte…“ „Es ist meine Sache, was ich denke. Gedanken sind zollfrei.“ „Dann behalte gefälligst deine Gedanken für dich, und sprich einen so schmutzigen Verdacht nicht aus!“
„Liebe Zeit, wie du hochgehst! Fühlst du dich etwa getroffen?“ Pony konnte sich nicht helfen. Sie war so wütend, daß ihr die Tränen aus den Augen kullerten. „Nein, ich fühle mich nicht getroffen! Aber ich schäme mich für dich! Ich schäme mich, daß wir ein so gemeines, ein so schäbig denkendes Mädchen in unserer Klasse haben!“ Pony schrie beinahe die letzten Worte. Sie schrie so laut, daß Fräulein Bernhard, die grade Aufsicht auf dem Schulhof führte, den Kopf wandte. Und da sah sie Pony stehen, mit geballten Fäusten und mit dicken Tränen in den Augen. Fräulein Bernhard kam auf die Gruppe zu. „Nanu, nanu, was ist denn hier los? Zankt ihr euch wie kleine Kinder?“ Alle schwiegen. Pony schnüffelte und kramte in ihrer Tasche nach dem Taschentuch. Natürlich lag das wieder in der Schulmappe. Fräulein Bernhard drückte ihr ein weißes, weiches Taschentuch in die Hand. „Hört mal her, ihr Mädchen. Ich weiß, daß es ein ungeschriebenes Gesetz unter Schülerinnen ist, nie zu petzen, und das respektiere ich. Aber ich sehe, daß hier etwas los ist, und falls ich euch helfen kann, tue ich es gern. Nun? Will jemand – nicht petzen, sondern vielleicht erzählen, worum es ging?“ Sie sahen sich gegenseitig an. Zuletzt sprach Erika. „Wir haben uns gestritten. Es ging um die Frage, ob es irgendwie unehrlich ist, daß Pony eine Idee ihres Vaters benutzt hat – ob es überhaupt ein Schwindel ist, wenn man die Gedanken eines anderen für einen Aufsatz verwendet.“ Fräulein Bernhard sah die Mädels forschend an. Viel Menschenkenntnis gehörte nicht dazu, um zu sehen, wer die Beschuldigung vorgebracht hatte. Margrets Gesicht war finster und verbissen. „Unehrlich?“ wiederholte Fräulein Bernhard. „Wie könnt ihr überhaupt auf solch einen Gedanken kommen? Gebraucht nicht jeder von uns jeden Tag Gedanken anderer Menschen? Das ist es ja grade, was man fruchtbare Zusammenarbeit nennt, das ist es ja grade, wovon wir gegenseitig etwas lernen! Da, wo unsere eigenen Gedanken nicht ausreichen, müssen wir glücklich sein, daß es große Geister gibt, die für uns denken, und uns helfen. Unehrlich wäre es gewesen, falls Pony oder sonst jemand eine Arbeit für sich ausführen ließe. Aber die Ideen darf man sich holen, wo man will. Um so mehr,
wenn eine Auffassung, die man von einem anderen Menschen gehört hat, auch die eigene Auffassung werden kann. Ja, das ist also meine Meinung.“ Sie blickte auf Ponys geschwollenes Gesicht. „Es hat doch wohl keine von euch angedeutet, daß Pony den Aufsatz nicht selbst geschrieben hat?“ Niemand antwortete. Margret blickte zu Boden und war puterrot. Jetzt wurde Fräulein Bernhards Gesicht sehr ernst. „Ich frage nicht, wer es war, ich frage überhaupt nichts. Aber du, Ursula, du bist doch mit Pony schon ein paar Jahre in dieselbe Klasse gegangen, soviel ich weiß. Wenn es sich so verhält, daß Pony einem Verdacht ausgesetzt war, kannst du ihr vielleicht helfen. Ich glaube nämlich, daß Pony immer sehr gute Aufsätze geschrieben hat. Ist es nicht so?“ Ursula nickte. „Doch. Sie hat ein paarmal ,Vorzüglich’ bekommen. Zuletzt beim Examen im Juni.“ „Das weiß ich. Und niemand kann Pony wohl verdächtigen, bei einem Examensaufsatz, der in der Schule, im Klassenzimmer und im Beisein von drei Inspektoren geschrieben wurde, Hilfe bekommen zu haben.“ Sie richtete einen ernsten Blick auf die Mädchen. „Hört zu, ihr Mädchen. Ich finde, wir haben es so nett in unserer Liliputklasse. Ihr seid so wenige, nur acht Mädchen, ihr solltet zusammenhalten und Freundinnen sein. Ihr habt keinen Grund, aufeinander neidisch zu sein. Die eine kann das besser, die andere etwas anderes. Daisy und Pansy können besser Englisch als ich. Ursula ist gut in Mathematik. Margret soll sehr begabt im Zeichnen sein, stimmt es nicht? Also, jede hat etwas, und darüber sollt ihr froh sein. Neid ist tödlich für jede Kameradschaft, und jemand der Schwindelei zu beschuldigen ist sehr häßlich, in diesem Fall sogar absolut aus der Luft gegriffen. Ich hoffe, es ist das erste und letzte Mal, daß wir so etwas erleben. So, jetzt läutet es. Macht einen dicken Strich durch diese Pause und fangt als gute Kameraden neu an.“ Fräulein Bernhard nickte und ging davon. Die Lateinklasse verließ den Felsen und ging der Treppe zu. Pony trocknete sich die Augen. Es wurde nichts mehr gesagt bis nach der Schulzeit. Margret stand an der Seite Ponys im Korridor und zog ihre Jacke an. Dann kam es: „Pony, ich weiß wahrhaftig nicht, was mit mir los war. Ich – also
ich finde, was Fräulein Bernhard sagte, war richtig. Und – also du verstehst, ernstlich habe ich ja gar nicht geglaubt, daß du – ich meine, daß dein Vater – “ Niemand konnte behaupten, daß Margret die Gabe besaß, sich präzis ausdrücken zu können. Aber Pony verstand sie trotzdem. Sie lächelte, ein kleines, unsicheres Lächeln. „In Ordnung, Margret. Wir reden nicht mehr darüber.“ Nein, sie sprachen nicht mehr davon. Aber diese Episode hatte Pony einen Dämpfer gegeben. Sie verstand, daß sie an sich halten und nicht alles auskramen sollte, was sie wußte. Denn es war wohl nicht bloß dieser Aufsatz, der Margret irritiert hatte. Es waren die vielen Gelegenheiten, bei denen Pony imstande gewesen war, ein Fremdwort zu erklären, bei denen sie etwas gewußt hatte, das die anderen nicht wußten, und Ausdrücke gebrauchte, die zu erwachsen für ihr Alter klangen. Aber gerade das war es ja, was Pony den anderen voraus hatte. Wurde ihr das genommen, hatte sie überhaupt nichts. Glaubte sie wenigstens. Es war der schulfreie Tag im Monat und es regnete zu aller Enttäuschung. Pony fuhr in die Stadt. Mutti hatte sie gebeten, ein Paket Kaninchenfelle zum Kürschner zu bringen. Sie hatte Verbindung mit einem Geschäft in der Stadt, das die Felle zu einem recht guten Preis ankaufte. Und dieses „Kaninchengeld“ war immer mehr als willkommen. Auf dem Heimweg traf Pony Berit und sie gingen von der Vorortbahn aus gemeinsam weiter. „Wenn das gut geht, geht alles gut“, sagte Berit und blickte zu der grauen Wolkendecke empor. „Sieh dir das schwarze Gespenst da an! Fraglich, ob wir heimkommen, ehe wir all das auf die Birne kriegen.“ Pony gelang es nicht, ihr Haus zu erreichen. Sie kamen gerade noch bis zu Berits Gartentür, dann ging ein wahrer Wolkenbruch über sie nieder. Berit zog Pony mit sich hinein. „Fix, ehe du bis auf die Haut naß wirst“, sagte Berit. Rasch liefen sie über den Gartenweg und kamen in eine geräumige Diele, dann in eine Garderobe mit geschliffenen Spiegeln, einer antiken Kommode und Kristalleuchten an den Wänden. „Wie wir bloß aussehen!“ lachte Berit, als sie ihr eigenes und Ponys zerzaustes Haar im Spiegel sah. „Komm, wir können uns hier
in Ordnung bringen.“ Wieder öffnete sie eine Tür, diesmal zu einem Waschraum mit zartgrünen Fliesen, einem Handwaschbecken und kleinen rosa Gasthandtüchern in einem hübschen Metallkorb an der Wand. Auf einer niedrigen Konsole lagen Bürsten und allerlei Toilettesachen in Rosa, und auf dem Waschbecken ein großes, duftendes rosa Seifenstück. Vor den Fenstern hingen leichte, kleingeblümte Vorhänge in Apfelgrün und Rosa. Etwas so Hübsches hatte Pony noch nie gesehen. Dann gingen sie weiter, zurück durch die Diele in ein riesengroßes Zimmer mit breiten Glastüren auf eine Terrasse. Und im Zimmer dudelte ein Radio Tanzmusik. Eine gertenschlanke junge Dame stoppte mieten in einem Tanzschritt, als die Mädchen hereinkamen. „Hallo, Lilli. Das ist Pony, eine aus meiner Klasse. Ich mußte sie vor diesem Unwetter retten, sonst wäre sie ertrunken. Wir sind schrecklich verfroren; ich muß Hilde bitten, etwas Warmes für uns zu organisieren. Willst du auch etwas haben? Tee oder sowas?“ „Bist du verrückt? Denk an die Kalorien. Tag, Pony, nett dich zu treffen. Berit hat schon von dir erzählt.“ Pony grüßte etwas unsicher. Wer in aller Welt war bloß diese Lilli? „Ich wußte nicht, daß Berit eine erwachsene Schwester hat“, sagte Pony etwas unsicher. Berit brach in ein schallendes Gelächter aus. „Damit hast du dir eine Freundschaft für Zeit und Ewigkeit erworben!“ lachte sie. „Es ist ja Muttis Traum, für meine Schwester gehalten zu werden. Ja, sie ist nämlich meine Mutter, verstehst du.“ Pony riß erstaunt die Augen auf. „Nein sowas – nie hätte ich gedacht – “ Lilli lächelte erfreut. „Schönen Dank, Pony. Das mit der Schwester ist das netteste, das ich seit langem gehört habe. Da hat man doch wenigstens etwas für alle Bemühungen. Übrigens, Berit, wenn ich es mir überlege, kannst du Hilde bitten, mir auch eine Tasse Tee zu bringen, aber nur Tee, ohne etwas dazu. Tatsache ist, daß ich 270 Gramm abgenommen habe, also – “ „Was du nicht sagst! Ach nein, ach nein, was für ein Glück!“ lachte Berit. „O.k. – du sollst Tee haben, Lilli. Bist du sicher, daß Sacharintabletten nicht dick machen?“ Damit ging Berit, gefolgt von Pony, in die Küche. Und wieder mußte Pony staunen über eine wunderbare, ganz
moderne Küche, beinahe noch vollkommener als die in Erikas Heim. Die Hausgehilfin bekam Bescheid und Berit bat sie, den Tee in das Herrenzimmer zu bringen. „Dann kann Lilli das Zimmer allein für ihre Gymnastik haben“, sagte Berit erklärend zu Pony. „Du, warum nennst du deine Mutter eigentlich Lilli?“ fragte Pony. „Sie kann es nicht ausstehen, wenn ich sie Mutter nenne. Da fühlt sie sich so alt“, sagte Berit mit der selbstverständlichsten Miene der Welt. „Manchmal necke ich sie und sage, ich werde mit achtzehn heiraten und mit neunzehn ein Baby kriegen, so daß sie Großmutter sein wird, wenn sie zweiundvierzig ist, und dann wird sie beinahe hysterisch. Aber tatsächlich sieht sie ja aus wie 25, findest du nicht?“ „Doch“, sagte Pony leise. Und dann gingen ihre Gedanken wieder einmal heim, zu ihrer eigenen Mutter. Sie war nur ein Jahr älter als Frau Wolf. Nur ein Jahr älter als diese überraschende Frau, die allein auf dem Parkett tanzte, mitten am Vormittag, die, wie es schien, für ihre Schlankheit und ihr jugendliches Aussehen lebte und es nicht ausstehen konnte, Mutter genannt zu werden. Was hatte ihre Mutter ihr einmal gesagt? Pony hatte gefragt, warum sie als kleines Kind nicht gelernt hatte, Mama zu sagen wie die meisten Kinder. Mutti und Vati hatten nie anders als eben Mutti und Vati für sie geheißen. Mutti hatte gelächelt, ihr gutes warmes Lächeln, und ihr gesagt: „Glaubst du, ich würde freiwillig auf den schönsten Namen in der Welt verzichten?“ Arme Mutter von Berit! Die Arme hatte an dem schönsten Namen der Welt keine Freude. - Im Herrenzimmer spielte auch ein Radio – nein, tatsächlich, es war ein Tonbandgerät. Ein Junge saß tief vergraben in einem Ledersessel und hörte sich das Geheul eines Jazzorchesters an. Er machte keine Anstalten aufzustehen, als die beiden hereinkamen, er nickte nur so ein bißchen und winkte lässig mit der Hand. „Das ist Otto, mein Bruder. Also nicht mein Vater“, lachte Berit. „Hallo, Otto, das ist Pony, eine Schulfreundin von mir. Kannst du dir nichts besseres vornehmen, als hier bei deiner Spieldose zu sitzen?“ „Was soll man denn anfangen bei diesem scheußlichen Wetter?“ murmelte Otto. Er blieb im Sessel sitzen, machte keine Anstalten, die Musik zu dämpfen, und sie schien Berit auch nicht zu stören. Sie schwätzte drauflos und dieses Geplapper störte auch Ottos
Musikgenuß nicht. Und als Hilde kam und einen Teewagen hereinrollte, gab es außer Pony niemand, der dieses Gemisch aus Jazz, Gerede und Tassengeklirr störend fand. Als Otto die Kuchenplatte erblickte, wollte er auch Tee haben. Und dann kam „Lilli“. Das Tonband lief, ebenso das Geschwätz, und Otto nahm sich als erster Zucker und Zitrone; er trank Tee mit dem Mund voller Kuchen, und als er endlich etwas sagte, geschah das auch mit vollem Mund. Pony war still. Sie saß mit großen erstaunten Augen da. Dann kam Hilde mit einer großen Schachtel in die Tür. „Da ist das Kleid, gnädige Frau, eben angekommen!“ Frau Wolf sprang auf. „Himmel, bin ich gespannt! Schau, daß du ‘rauskommst, Otto, ich muß das sofort probieren.“ Endlich stellte Otto seine Katzenmusik ab, stopfte noch ein Stück Kuchen in den Mund und zog mit seinem Tonbandgerät ab. Frau Wolf riß Schnur und Papier zur Seite, eine Menge Seidenpapier flog auf den Fußboden, und hervor kam etwas, das Pony wie eine weiße Wolke und sonst nichts erschien. „Das Turnierkleid“, erklärte Berit. „Turnier?“ Pony verstand nicht. „Ja, Lilli und Vati werden nächste Woche an der norwegischen Meisterschaft teilnehmen, weißt du, die sind nämlich Asse im Tanzen… Das sieht aber schick aus, Lilli. Zieh es doch gleich mal an. Soll ich die Schuhe holen?“ „Ja, tu das. Links in der Garderobe, bringe alle drei Paar.“ Frau Wolf zog sich schon Pulli und Rock aus, Strümpfe und Hüfthalter folgten, und nun stand sie einen Augenblick da in etwas Winzigem, Weißem, einem Hauch von Nylon und Spitzen, und dann glitt die wogende Wolke über ihre schlanke Gestalt. Pony hatte noch nie so etwas gesehen. Mit zitternden Händen half sie Frau Wolf, einen unsichtbaren weißen Reißverschluß zuzumachen. Und dann kam Berit mit einer Schachtel, die drei paar Abendschuhe enthielt, mit den höchsten und dünnsten Absätzen, die Pony je gesehen hatte. „Na?“ sagte Frau Wolf und schwang sich rundum. „Sitzt es?“ „Todschick, Lill. Einfach atemberaubend. Nicht wahr, Pony?“ „Phantastisch“, sagte Pony, und es war genau das, was sie meinte. „Weißt du, wieviel Tüll in so einem Kleid ist?“ sagte Berit. „75
Meter! Ja, tatsächlich, ob du es glaubst oder nicht.“ Pony lernte in diesen Minuten eine ganze Menge. Daß ein Turnierkleid aus unzähligen Lagen weißen Tülls besteht, daß man keine Strümpfe anzieht, daß man zwei, drei Paar Schuhe haben muß, damit man zwischen den Tänzen wechseln kann, und daß die Schuhe dünne Sohlen aus Wildleder haben, damit man auf dem blanken Parkett nicht ausrutscht. Aber sie dachte auch an etwas anderes. Daß ein Zehntel des Stoffes zu einem eleganten Kleid für sie selbst genügt hätte, so ein Tanzkleid, wie sie es sich so brennend wünschte. Und Frau Wolf plauderte von früheren Meisterschaftskonkurrenzen, und sie zeigte Silberpokale, berichtete von Turnieren im Ausland, bei denen sie und ihr Mann im Wettbewerb mit englischen, deutschen, belgischen und französischen Paaren getanzt hatten. Schließlich zog sie mit ihrem Kleid, den Schuhen, den Strümpfen und dem Hüfthalter in den Händen in ihr Schlafzimmer, um sich wieder zurechtzumachen. Die beiden Mädchen blieben bei ihren Tassen halbkalten Tees sitzen. „Weißt du, wem deine Mutter ähnlich sieht?“ fragte Pony. „Sich selber“, lachte Berit. Pony lächelte ein wenig. „Ja, und außerdem der Kaiserin Elisabeth.“ „Habe nicht die Ehre.“ „Ich auch nicht, denn sie starb 1898. Elisabeth von Österreich also.“ „Oh, jetzt weiß ich. Sissi! Ich habe den Film mit Romy Schneider gesehen. Wieso sieht Lilli ihr ähnlich?“ „Sie war auch so unwahrscheinlich schlank und so schön.“ „Lilli wäre geplatzt vor Stolz, wenn sie das gehört hätte.“ „Und sie paßte genauso auf ihre Diät auf, wie deine Mutter es tut. Sie wog sich jeden Morgen.“ „Lilli tut das sicher auch am Abend, wenn ich sie recht kenne.“ „Und sie war ebenso leidenschaftlich aufs Reiten versessen, wie deine Mutter es aufs Tanzen ist.“ „Wieso weißt du denn das alles von dieser Elisabeth?“ „Ich habe gerade eine Biographie über sie gelesen.“ Berit lachte ein bißchen. „Du bist ulkig, Pony. Andere Leute würden sagen: Ich habe ein Buch über sie gelesen, du sagst: eine Biographie! Klingt so feierlich.“ Pony errötete.
„Ja, aber das war nicht nur ein Buch, sondern eben eine Biographie, nicht nur ein erdichtetes Buch, sondern eine autenti – ich meine eine wahre Biographie.“ „Ja, das stimmt sicher, es ist nur, daß es sich so schrecklich fein anhört. Übrigens wäre es sicher nett, dieses Buch – Verzeihung – diese Biographie zu lesen. Ich kann mich so gut an den Film erinnern, der war eine Wucht. Hast du das Buch?“ „Ja, das heißt, Mutti hat es. Ich kann es dir gern borgen.“ „Fein. Bring es doch mal mit in die Schule.“ Pony warf einen Blick aus dem Fenster. „Es hat aufgehört zu regnen, ich muß heimgehen. Mutti weiß nicht, wo ich geblieben bin.“ Als Pony zur Gartentür hinausging, wandte sie sich einen Augenblick um. Vom Haus her hörte man einen flotten Mambo und Frau Wolfs schlanke Gestalt bewegte sich in Tanzschritten hinter den Vorhängen der Glastüre. 75 Meter Stoff in einem Kleid. Drei Paar Schuhe, um einen Abend zu tanzen. Ins Ausland reisen, um einen Pokal zu gewinnen oder vielleicht bloß zuzusehen, wie andere ihn gewannen. Jaja, es gab schon welche, die lachen konnten. Aber trotzdem senkte sich ein tiefer Friede über Pony, als sie über die regennassen Wege heimwärts ging. Natürlich hatte ihr vieles imponiert, mächtig imponiert: das schöne Heim Berits, das Tüllkleid, das Tonbandgerät, alles zusammen – aber sie konnte sich nicht genug über Frau Wolf wundern, die ruhig zusah, wie sich ihr fünfzehnjähriger Sohn zuerst bediente, mit vollem Mund redete und nicht aufstand, wenn Gäste das Zimmer betraten. Dann war Pony daheim angekommen. Mutti war bei einem verspäteten Frühstücksaufwasch. Der mußte oft warten, denn Staubwischen und Kaninchenversorgung gingen vor. Pony ergriff ein Küchentuch und begann abzutrocknen. Dabei erzählte sie mit erstaunten runden Augen von dem Besuch bei Berit. „Mutti, was würdest du sagen, wenn ich dich plötzlich Christine riefe?“ fragte sie. „Du meine Güte!“ lachte Frau Jessen, „da würde ich mich schrecklich betrogen fühlen. Wenn der einzige Mensch auf der Welt, der das Recht hat, mich Mutti zu nennen, es nicht täte!“ Frau Jessen sah die Tochter nachdenklich an, dann fügte sie
hinzu: „Aber du weißt, Pony, es gibt heutzutage viele Kinder, die die Eltern mit Vornamen anreden. Denk an deine eigenen Kusinen…“ „Ja, das stimmt schon. Aber wenn sie Tante Charlotte ,Lottchen’ nennen, dann klingt es nur lustig und liebevoll – und Tante Charlotte hat es doch nicht selbst eingeführt, weil sie krampfhaft jung bleiben will, und sie findet es ja herrlich, wenn die beiden Kleinen ,Omi’ sagen – du, Mutti, vielleicht werde ich auch einmal heiraten und Kinder kriegen!“ „Ja, das hoffe ich doch wirklich, Pony!“ „Möchtest du gern Großmutter werden?“ „Na, und ob! Was das betrifft, darfst du von mir aus zwölf Kinder in die Welt setzen. Aber im Augenblick habe ich nicht zwölf Enkel, sondern sechs neugeborene Kaninchen zu versorgen. Tust du ihnen die Milch hin, Pony?“ Pony ging. Und während sie mit den Kaninchen herumpusselte, überlegte sie, daß sie trotz allem auf gar keinen Fall mit Berit tauschen möchte. Das Haus, den Wohlstand, das Radio, den Fernseher, den reizenden Waschraum und die Diele mit den Bildern, ja. Aber müßte sie dazu auch „Lilli“ mit in Kauf nehmen und sie als Mutter akzeptieren, nein – nie im Leben! Was hatte Vater damals an ihrem ersten Gymnasialschultag gesagt? „Alle müssen bezahlen“, hatte er gesagt. Berit hatte schicke Kleider und ein funkelnagelneues Rad, und ein sorgloses Dasein. Aber was sie dafür bezahlen mußte, das war – ja, das war einfach ein Wucherpreis des Schicksals, dachte Pony. Denn hier, wo sie allein vor dem Kaninchenstall stand, wagte sie es, in richtigen, „erwachsenen“ Worten zu denken, wie sie es sich vor ihren Freundinnen nicht mehr getraute. Aber… ein solches Wohnzimmer zu haben wie die Wolfs und eine solche Küche – und so ein Rauchzimmer… Pony war in diesem Augenblick genau das, was man „eine Beute sich widersprechender Gefühle“ nennt. Und mit diesen sich widersprechenden Gefühlen ergriff sie die Milchschale, schloß den Kaninchenkäfig und ging ins Haus.
Armes Mauerblümchen Ursula hatte zu ihrem siebzehnten Geburtstag alle Schulfreundinnen eingeladen. Pony ging wie im Fieber herum. Sie hörte, wie die anderen sich überlegten, welches von ihren Kleidern sie anziehen würden, wann sie zum Friseur gehen wollten. Väter oder Brüder wollten sie zu Ursula fahren. Sie brauchten nicht zu Fuß zu gehen, mit den feinen Schuhen in einem Beutel. Niemand brauchte das – außer Pony. Erika kam in der Pause auf sie zu. „Bitte, Pony: einige Kleinigkeiten für dich. Ich habe im Salon wieder einmal Proben stibitzt.“ Es waren winzig kleine Proben von Puder, Lippenstift, Hautcreme und Nagellack. „Tausend Dank, Erika, du bist wirklich…“ „… eine richtige Diebin“, ergänzte Erika ungerührt. „Schließlich sind die Proben ja zum Ausprobieren da.“ „Was soll ich nur anziehen?“ fragte Pony ihre Mutter ganz unglücklich. „Du hast doch dein weißes Konfirmationskleid, Pony. Wenn wir die Ärmel herausnehmen, es etwas ausschneiden…“ Pony rümpfte die Nase. Das Konfirmationskleid! „Du solltest nur wissen, was die anderen haben; die würden sich schief lachen, wenn sie das Wort Konfirmationskleid nur hörten.“ Frau Jessen wollte schon heftig antworten. Dieses „Was alle anderen haben“ fing an, ihr auf die Nerven zu gehen. Aber dann sah sie Ponys unglückliches kleines Gesicht und beherrschte sich. Das Mädel hatte es nicht leicht. Darüber war sie sich im klaren. Pony kramte im Kleiderschrank und in den Koffern. Schließlich hielt sie einen hellblauen Chiffonschal in der Hand. „Was ist denn das, Mutti?“ „Ach das? Nein, daß der überhaupt noch existiert! Weißt du, wann ich den bekommen habe, Pony? Zu deiner Taufe. Da hatten wir eine Gesellschaft und Vati brachte ihn mir…“ „Mutti, kann ich den… du brauchst ihn doch nicht… kann ich…“ „Ja, ja, nimm ihn nur, wenn du etwas damit anfangen kannst.“ Und dann saß Pony drei Nachmittage hintereinander im Zimmer und versuchte, ihr Konfirmationskleid in ein Tanzkleid zu verwandeln. Sie hatte in einem Schaufenster ein Kleid gesehen… der
Halsausschnitt hatte einen weichen Schal, der den Rücken hinunter hing. Aus den abgeschnittenen Kleiderärmeln versuchte sie, eine Abendtasche zu zaubern, und sie redete sich selbst ein, daß alles recht schick wirkte. Daß sie an diesen Nachmittagen kein Schulbuch öffnete, war klar. Und wenn sie sich in der Schule auch einigermaßen durchschlängelte, die Lehrer schüttelten doch die Köpfe. Dafür war das Konfirmationskleid zum Tanzkleid geworden, mit blauen, flatternden Chiffonfahnen am Rücken. Vati gab ihr Geld für den Friseur, ohne daß sie darum gebeten hatte. Und sie kam mit einer Haarpracht heim, die sie behutsam mit einem Netz und Kopftuch beschützte. Sie wagte kaum, sich zu rühren, aus Angst, die Pracht könnte verdorben werden. Am Abend kleidete sie sich sorgfältig an, dann zeigte sie sich den Eltern. „Nein, aber Pony! Bist du das wirklich?“ fragte Vati. Sein Blick hing entsetzt an Ponys Händen. Die treuherzig kurzgeschnittenen Nägel waren flammendrot lackiert. Pony hatte keine Übung in solchen kosmetischen Dingen, das merkte man gleich. Und ihr Haar! „Ich verstehe natürlich nicht viel davon“, sagte Vater, „aber solltest du dein Haar nicht lieber etwas glätten?“ „Aber nein, das soll doch gerade so sein“, erklärte Pony eifrig. „Hast du dich im Spiegel besehen?“ „Und ob! Das Zerzauste ist gerade das Schicke dabei.“ Vati schüttelte den Kopf. Er warf einen Blick auf die blauen Chiffonfahnen, sagte aber nichts. Mutti sagte auch nicht viel. Sie erinnerte sich an Ponys Konfirmationstag vor einem Jahr. Pony in ihrem netten, einfachen weißen Kleid, mit dem Haar, das von dem jungen reinen Gesicht so zurückgestrichen war, daß es voll zu seinem Recht kam. Aber natürlich… man konnte eine Konfirmandin nicht mit einer Balldame vergleichen. Und wenn sich Pony darüber freute, „wie alle anderen“ auszusehen, dann… Die Eltern sahen einander mit einem etwas wehmütigen Blick an. „Jaja“, sagte Ingenieur Jessen. Seine Frau strich ihm über das silberweiße Haar. Wie so oft verstanden sie einander ohne Worte. Pony huschte unter die überdachte Tür des Konsumvereins. Da stand sie geschützt. Aus ihrem Täschchen holte sie einen kleinen Spiegel und den Lippenstift hervor. Mit bebender Hand malte sie
sich ein großes, brennendrotes Schnäuzchen, so wie es Brigitte Bardot hatte. Und dann ging sie weiter. Vorsichtig, um keine Schmutzspritzer auf die Strümpfe zu bekommen. Die weißen Schuhe hatte sie in einem Plastikbeutel am Arm. Sie seufzte ein wenig. Doch ja, Vati und Mutti waren natürlich die allerbesten, und sie hatte sie von Herzen lieb. Aber – Himmel wie altmodisch sie doch waren! Manchmal verstanden sie rein gar nichts. Ein Auto kam hinter ihr her und stoppte. Beim Vorbeifahren hatte Pony gesehen, daß es Frau Hammers Wagen war. Erika öffnete die Wagentür. „Hallo, Pony, hopp herein.“ Pony lächelte dankbar. Nun brauchte sie nicht die einzige zu sein, die zu Fuß ankam. Nett von Erika und ihrer Mutter, sie mitzunehmen. Nett? Ja, gewiß war es nett. Aber plötzlich stieg ein ohnmächtiger großer Zorn in Pony empor. Immer war sie abhängig von der Nettigkeit anderer. Immer mußte sie sich in einer Dankbarkeitsschuld fühlen. Warum konnte sie nicht einmal diejenige sein, die nett sein durfte, anderen half, diejenige, die etwas für andere tun konnte? Warum mußte ausgerechnet sie sich immer dankbar fühlen für Dinge, die andere als Selbstverständlichkeit bekamen und für die zu danken ihnen nicht einfiel? Eine rührende Dankbarkeit gegenüber Mutti für einen alten Schal. Eine überraschte Dankbarkeit gegenüber Vati für das Friseurgeld. Eine demütige Dankbarkeit gegenüber Erika für ein paar Kosmetikproben und für einen Platz im Auto. Es dauerte nur einen Augenblick, dann war Pony wieder sie selbst. Sie sagte „Tausend Dank“ zu Frau Hammer, und zusammen mit Erika betrat sie Fabrikdirektor Beckers erleuchtete Villa. In Ursulas Zimmer schwirrte es von Jungmädchenstimmen. Da oben legten sie ihre Mäntel ab und machten sich zurecht. Pony sah sich um. Und plötzlich war ihr Kleid nicht länger schick. Es war ungeschickt und hausgeschneidert und lächerlich mit den blauen Fahnen auf dem Rücken. Mit einemmal bereute Pony es bitter, daß sie nicht Muttis Rat gefolgt war, bloß die Ärmel herauszunehmen. Es wäre nicht so schlimm gewesen, auffallend einfach zu erscheinen. Es war tausendmal schlimmer, auffallend und talmi-elegant zu wirken. Pony war unglücklich, sie fühlte sich elend und häßlich und lächerlich, als sie die Treppe hinunterging und Ursulas Eltern
begrüßte. Unten stand eine Gruppe junger Männer. Pony hatte gehofft, einige Jungen vom Bukkeberg zu treffen, die mit ihr zur Schule gegangen waren. Aber Ursula hatte die Söhne von Geschäftsfreunden eingeladen, Seglerbekanntschaften oder Tennisfreunde. Pony kannte keinen von ihnen. Der Abend wurde ein Alptraum für Pony. Den Namen ihres Tischherrn verstand sie nicht. Er versuchte, vom Tennis zu reden, aber Pony spielte nicht Tennis. In ihrer Verfassung brachte sie es auch nicht fertig, zu sagen: „Aber ich fahre Rad, schwimme und laufe Ski.“ Sie murmelte nur leise: „Nein, leider“, als der junge Mann sie nach dem Tennis fragte. Da drehte er sich nach der anderen Seite um und sprach mit Stella. Die kannte er schon von früher. Und Pony saß da mit ihrer Strubbelfrisur und ihren Chiffonfahnen und einem blutrot bemalten Mund und war dem Weinen nahe. Um sie herum wurde gesprochen, gelacht, gefragt und geantwortet. Sie hörte von Filmen, die sie nicht kannte, von Städten und Ländern, in denen sie nicht gewesen war, von Sportarten, die sie nicht trieb, von Fernsehprogrammen, die ihr fremd waren. Niemand sprach von Dingen, die sie verstand. Niemand redete über Kunst und Literatur, von den Sternen der Milchstraße oder von großen Erfindungen, von nichts, wofür Vati und Mutti sich interessierten und wovon an den stillen, gemütlichen Abenden zu Hause gesprochen wurde. So kam es, daß Pony das Schlimmste erlebte, was ein junges Mädchen erleben kann: sie wurde ein Mauerblümchen. Ihr Tischherr tanzte einen einzigen Pflichttanz mit ihr. Harald Becker erbarmte sich zweimal. Er war kleiner als sie, und sie kam sich linkisch und lächerlich neben ihm vor. Niemand kümmerte sich um sie. Pony schlich sich unbemerkt in Ursulas Zimmer und versuchte, ein wenig Ordnung in ihre zerzausten Haare zu bringen. Sie versuchte auch, ihre Chiffonfahnen etwas weniger auffallend anzuordnen. Leise ging sie wieder hinunter. Unten saßen sie inzwischen an kleinen Tischen. Lachen und Geplauder schlugen ihr entgegen. Erika holte sie an einen Ecktisch zu einer fröhlichen Gruppe. Sie erzählte von Ponys phantastischen Aufsätzen und daß sie sicher einmal eine große Schriftstellerin werden würde, aber ihre Worte fanden keinen Widerhall. Für die anderen war Pony nur ein langweiliges, linkisches Mädel in einem unmöglichen Kleid. Sie wußte selbst nicht, wie sie diesen Abend überstand. Es war
ihr eine unsagbare Erleichterung, als er zu Ende war. Sie wurde im Auto von einem der jungen Männer mitgenommen. Sie saßen dicht zusammengepreßt; sie und Erika und Stella und zwei von den Burschen, deren Namen sie nicht kannte. Pony wurde zuerst abgesetzt, und es war ihr eine Erleichterung, aus dem Auto zu kommen und über den Gartenweg in ihr stilles Haus zu gehen. Und als sie sich in ihr Zimmer geschlichen hatte, war es ihr eine unsagbare Wohltat, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Dann kam es, wie es kommen mußte: Pony bekam von der Schule einen Brief mit heim. Sie wußte, was er enthielt: eine Beschwerde über versäumte Aufgaben, über schlechte Noten, über Rückgang auf der ganzen Linie. Ihre guten Aufsätze konnten nicht über die schlechten Resultate in Latein und Geschichte, in Mathematik, Englisch und Chemie hinweghelfen. Der Brief brannte ihr in der Tasche. Es graute ihr so schrecklich davor, ihn Vati geben zu müssen. – Es war Nieselregen und Nebel, ein Wetter, das genau zu Ponys Stimmung paßte. Sie ging langsam heimwärts und hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nicht so elend gefühlt. Schon diese paar Tage nach dem Tanzabend, diese Tage, da die Freundinnen sie gewissermaßen mitleidig betrachtet hatten, als sie untereinander so viel von diesem festlichen Abend redeten und wie großartig sie sich amüsiert hatten… und die getreue Erika hatte versucht, das Gespräch auf andere Dinge zu lenken. Merkwürdig, daß das Mitleid der gutherzigen Erika das allerschlimmste für Pony war. Manchmal kam es ihr vor, als ob sie Erika verabscheute. Ach, sie verabscheute alles und alle! Am meisten jedoch das Mitleid. So ging sie im Nieselregen heimwärts, die Wege waren vom Regen so aufgeweicht, daß das Radfahren unmöglich wurde. Der Brief lag wie Blei in ihrer Tasche. Zu Hause nahm die Mutter sie in Empfang, blaß und müde nach einer durchwachten Nacht. Pony verstand. Nebel war das Schlimmste für Vati. Jetzt saß er im Bett, gestützt durch ein schräges Brett und Kissen, und seine Brust ging wie ein Orgelwerk. Nein, es mochte gehen, wie es wollte. Nicht um alles würde sie Vati gerade jetzt den Brief geben. Es vergingen einige Tage. Der Nebel lichtete sich, und Kälte setzte ein. Vati war für diesmal über das Schlimmste hinweg. Aber
der Brief lag in Ponys Schublade verborgen, und es wurde immer schwieriger, ihn abzugeben. Sie versuchte jetzt mit ehrlichem Willen, ihre Aufgaben zu machen, das Versäumte einzuholen. Aber sie entdeckte zu ihrem Schrecken, daß es furchtbar viel war, was sie versäumt hatte. In Latein hatte sie schreckliche Lücken, und die Chemie war Chinesisch für sie. Fräulein Bernhard sah Pony manchmal forschend an. Das Mädel hatte sich sehr verändert. Pony und Erika gingen zusammen von der Schule heim. Pony war schweigsam, sie mußte sich mächtig zusammennehmen, um auf die munteren Bemerkungen der Freundin zu antworten. Sie waren an Föhrenweg 2 angekommen und Pony wollte eben „Wiedersehen“ sagen, als Erika plötzlich rief: „Ach Pony, richtig! Brauchst du zufällig einen Orlonpulli? Mutti bekam gestern einen in einem Amerikapaket. Todschick, sage ich dir, aber zu groß sowohl für Mutti als auch für mich, du weißt, wir sind beide sozusagen Taschenausgaben. Aber du trägst doch bestimmt Größe 42, oder? Wir ahnen nicht, was wir sonst mit dem Ding anfangen sollen!“ Pony unterbrach sie. Ihre Wangen waren flammendrot: „Nein, tausend Dank! Es ist ja zu rührend von dir, aber ich brauche keine Wohltätigkeit, weder von dir noch von deiner Mutter, daß du es weißt!“ Das Weinen saß Pony im Hals, sie machte kehrt und stürzte davon, weg von der Freundin, die stehenblieb und ihr mit großen, erschrockenen Augen nachsah. Erika war ein gutes und vernünftiges Menschenkind, mit gesundem Verstand, fröhlich und geradezu und frei von Komplexen, vielleicht ein bißchen oberflächlich, aber dabei eine herzensgute kleine Seele. Sie hatte sich nie mit psychologischen Studien abgegeben, und jetzt ahnte sie nicht, was in Pony vorging, war dies eine Art zu antworten, wenn man ein Geschenk angeboten bekam? Erika runzelte die Stirn, zog ihren Schlüssel hervor und betrat die stille Wohnung, wo schöne Möbel, weiche Teppiche und ein Kühlschrank mit gutem Essen auf sie warteten – aber auch ein Staubtuch, eine Abwaschbürste und viele Stunden stiller Einsamkeit. Nie in ihrem Leben hatte sich Pony so elend gefühlt. In der Schule war alles schiefgegangen. Sie hatte ehrlich versucht, ihre Aufgaben zu machen, aber der Gedanke an den
schrecklichen Brief in der Schublade hatte sie so bedrückt, daß sie sich nicht auf das konzentrieren konnte, was sie las. Und sie war sowohl in Latein als in Englisch abgehört worden. Sie mußte den Brief abgeben. Sie war genötigt, Vati und Mutti diesen Kummer zu machen. Aber es graute ihr – es graute ihr wie einem kleinen Kind, das Angst hat, Strafe zu kriegen. Es graute ihr vor Vatis verwunderten, enttäuschten Augen, vor Muttis betrübtem Blick. Wenn sie nur gewußt hätte, was in dem Brief stand! Und wenn Fräulein Bernhard bloß nicht fragte, ob sie ihn abgegeben hatte! Und zu alledem kam noch diese Sache mit Erika. Ach, warum hatte sie so häßlich geantwortet? Die gute Erika, sie war doch immer diejenige, die für Pony eintrat, die ihr immer half, auf eine ganz natürliche kameradschaftliche Art. Pony verstand selber nicht, warum sie so scheußlich gewesen war. Sie hatte so ein Gefühl der Demütigung bei dem Gedanken, noch mehr von Erika entgegennehmen zu müssen. „Du ißt ja gar nichts“, sagte Mutti beim Mittagessen. „Ist dir nicht wohl?“ „Ach doch – ich habe bloß etwas Kopfschmerzen. Es war so warm im Klassenzimmer.“ „Mach einen Spaziergang nach Tisch“, sagte Vati. „Du brauchst frische Luft. Ich finde, du siehst in letzter Zeit recht blaß aus.“ Pony lächelte ein kleines, mühsames Lächeln. Ja, sie würde nach Tisch ausgehen. Spornstreichs zu Erika wollte sie gehen und sie um Verzeihung bitten. Pony vermochte nicht, etwas unerledigt zu lassen, was es gegenüber einem anderen Menschen zu bereinigen galt. Sie mußte an etwas denken, das Mutti einmal gesagt hatte: „Hast du einen Ärger mit einem anderen Menschen gehabt, so ist es eine Erleichterung zu wissen, daß du im Unrecht warst. Denn derjenige, der unrecht hat, hat es auch in seiner Macht, es wieder gutzumachen. Es ist viel schwieriger, wenn man selbst recht hat und also nicht um Verzeihung bitten kann.“ Diese Schwierigkeit bestand für Pony nicht. Sie holte ihr Rad und fuhr trotz matschiger Straßen das kleine Stück zu Erika. Dann stand sie vor der Tür und zögerte, zu klingeln, aber das mußte, das sollte sein! Sie klingelte. Es dauerte einige Augenblicke, dann hörte sie
rasche Schritte, und Erika öffnete, mit einem Staubtuch in der Hand. „Ach… du bist es, Pony…?“ Pony schluckte. „Ja, ich wollte nur… ich komme, um…“, sie stotterte, hilflos und ratlos, sie, die kluge Pony, die sonst immer die richtigen Worte fand. Dann reichte sie ihr die Hand: „Verzeih mir, Erika!“ Erika nahm ihre Hand und zog sie zu sich herein. Sie lachte ein bißchen. „Du bist ein komischer Kerl, Pony. Was zum Kuckuck war denn heute mittag in dich gefahren? Na ja, Schwamm drüber, alle Menschen sind mal schlechter Laune. Jedenfalls ist es pfundig von dir, zu kommen und um Verzeihung zu bitten. Das hätte ich nie fertiggebracht. Willst du eine Tasse Tee haben?“ „Tausend Dank, Erika, aber ich habe keine Zeit. Ich bin nur rasch zu dir hergeradelt, weil ich es nicht aushalten konnte, mit dir verkracht zu sein.“ „Ach was, verkracht!“ lachte Erika. „Sieh her, ich wußte doch, daß Mutti eine Pralinenschachtel hatte, fünf sind noch drin, ein Stück für dich und eins für mich, und drei müssen wir wohl aus Anständigkeit liegenlassen. Nein, nimm das längliche, da ist Ananas drin. Du, willst du…“ „Na was denn? Getraust du dich nicht weiter zu reden?“ fragte Pony, der plötzlich viel leichter ums Herz war. „Nein, wahrhaftig, ich getraue mich nicht. Das heißt… ich könnte ja fragen, ob du Lust hast, den Pulli wenigstens anzusehen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, lief Erika in das Schlafzimmer und kam gleich darauf wieder zurück mit einem molligen, weichen, pastellblauen Pulli. „Nein, wie ist der entzückend“, platzte Pony heraus. „Nicht wahr! Aber leider für Mutti und mich ganz unbrauchbar, also, wenn du…“ Es war nicht Erikas ausgezeichnetes Argument, das den Ausschlag gab, es war der Ausdruck in ihren Augen. Der gute, offene Blick, in dem eine ängstliche Frage lag. Pony streckte die Hand aus und Erika reichte ihr den Pulli. Und plötzlich schlang Pony die Arme um den Hals der Freundin. „Erika, du bist der beste Kamerad der Welt, und ich bin der größte Esel der Welt.“ „Na und? Esel sind doch reizende Tiere“, lachte Erika. „Himmel ja, da pfeift der Flötenkessel!“
Ein durchdringendes Pfeifen ertönte, und Erika stürzte in die Küche. „Du, ich muß jetzt tatsächlich etwas tun, aber willst du…“ „Nein, ich muß meine Aufgaben machen, Erika, und gleich abbrausen. Aber hör mal, du… du erzählst doch niemand, daß…“ „Du spinnst wohl? Warum sollte ich denn irgendwem irgendwas erzählen? Übrigens brauchst du gar keine Hemmungen zu haben, heißt es nicht so? Du solltest nur wissen, wie viele Sachen ich geschenkt bekommen oder von Tanten und anderen wohltätigen Seelen geerbt habe, als ich noch klein war.“ „Hast du!“ „Habe ich. Ja, wirklich. Du glaubst doch nicht, daß: Muttis Salon schon immer so eine Goldgrube gewesen ist? Ich kann dir flüstern, daß sie wie ein Neger geschuftet hat, ehe sie so weit gekommen ist. Und dabei sollte doch mein Bruder studieren, und wir sollten ordentlich aussehen, und die Miete war unverschämt hoch, na und so weiter. Wenn ich da bei jedem geschenkten Pulli Komplexe bekommen hätte, wäre wohl schon längst ein Komplex aus Komplexen aus mir geworden. Es ist doch ganz einfach, Pony. Ich habe etwas, das für mich unnütz ist, aber du kannst es gebrauchen, also bekommst du es. Wenn du einen Pulli hättest, den du nicht brauchen könntest, hättest du ihn mir sicher gern gegeben. Oder?“ „Ja, darauf kannst du Gift nehmen“, sagte Pony. „Danke, es geht auch ohne Gift. Mußt du wirklich gehen? Ach, Quatsch, Pony, komm, wir mopsen jede noch eine Praline, Mutti sagt sicher kein Wort darüber. Guck, hier ist eine mit Nougat.“ Pony war es viel, viel leichter ums Herz, als sie heimwärtsradelte, mit dem Pulli auf dem Gepäckträger. Und dann nahm sie ihr Herz in die Hände und beschloß, jetzt, sofort, augenblicklich Vati den verflixten Brief zu geben. Sie würde Schelte bekommen und die würden wohl verdient sein – aber dann, dann war es wenigstens überstanden.
Lehrerin und Schülerin Pony ging direkt in ihr Zimmer, schloß die Schublade auf und nahm den Brief hervor. Sie sah ihn nicht an, wollte sich selbst keine Zeit zum Bedenken geben. Sie steckte ihn in die Tasche und ging rasch und zielbewußt die Treppe hinunter. „Vati, ich habe… oh…“ Die Eltern waren nicht allein. Sie hatten einen Besuch bei sich. Einen Besuch mit einem freundlich lächelnden Gesicht, der Pony zunickte. Es war Fräulein Bernhard. Mutter wandte den Kopf froh und erfreut. „Da bist du ja, Pony. Wie nett, daß du gerade kommst, wo wir lieben Besuch haben.“ Pony reichte die Hand und knickste. Sie hatte Herzklopfen. Jetzt verstand sie gar nichts mehr. Wenn Fräulein Bernhard kam, mußte es sich um etwas Ernsthaftes handeln, vermutlich um diesen Brief, auf den Vati nicht reagiert hatte. Aber wie ging es dann zu, daß die Eltern so erfreut aussahen? „Wie geht es mit deinen Kopfschmerzen?“ fragte Vati. „Die sind weg, glücklicherweise.“ „Siehst du, ich sagte doch, du brauchtest frische Luft.“ „Du wunderst dich, daß ich hier bin“, sagte Fräulein Bernhard, und ihre Stimme war ruhig und freundlich. „Ich war auf einem Spaziergang. Ich brauchte nämlich auch frische Luft, und da kam ich in diese Gegend. Plötzlich hatte ich dann große Lust, deine Eltern zu begrüßen, Pony. Und da nahm ich mir also die Freiheit zu klingeln.“ „Ja und schönen Dank dafür, daß Sie es getan haben“, sagte Frau Jessen warm. „Ich finde es schade, daß so wenig Kontakt zwischen der Schule und den Eltern besteht. Sie können also glauben, daß wir Ihren Besuch sehr zu schätzen wissen. Sie trinken doch eine Tasse Kaffee mit uns, Fräulein Bernhard?“ Ohne Antwort abzuwarten, stand Frau Jessen auf und ging in die Küche. Der Vater blickte von der Lehrerin auf die Tochter und lächelte. „Nun, Fräulein Bernhard, wie geht es denn mit diesem Faulpelz in der Schule? Benimmt sie sich ordentlich?“ „Ja, was das Benehmen betrifft, ist sie die beste in der Klasse“, lächelte Fräulein Bernhard. „Aber – sie könnte vielleicht ihren Aufgaben etwas mehr Zeit widmen. Oder was meinst du selbst, Pony?“ „Ja, da haben wir die alte Geschichte“, lächelte Ingenieur Jessen.
„So ist es immer gewesen. Sie kann sehr gut, wenn sie nur will, wissen Sie, und wenn das Examen herankommt, kniet sie sich richtig hinein und büffelt, und ihre Aufsätze sind ja gut, soviel ich weiß, aber…“ „Ja, genauso ist es“, sagte Fräulein Bernhard. „Sie kann, wenn sie nur will. Also du mußt jetzt einfach etwas mehr wollen, Pony, du könntest nämlich die Beste in der Klasse sein, wenn du dich zusammennehmen würdest. Jaja, Pony, es wird schon gehen; paß nur auf, daß keine Lücken entstehen, die sind immer schwierig zu stopfen. – Aber nein, liebe Frau Jessen, Sie sollen sich doch nicht so viele Umstände machen.“ „Wir wollen es uns nur etwas gemütlich machen“, sagte Frau Jessen mit ihrer guten, ruhigen Stimme. Sie legte ein Tuch auf den Tisch und stellte ihre schönsten Tassen darauf. „Und wie gefällt es Ihnen in Bukkeberg, Fräulein Bernhard?“ fragte der Vater. „Haben Sie eine nette Wohnung gefunden?“ „Ich fühle mich hier sehr wohl“, sagte Fräulein Bernhard. „Ich mag meine Arbeit gern, und das ist das Wichtigste. Und ich habe die Jugend gern.“ Da lachte Vater. „Die Jugend!“ sagte er. „Sie sind doch selbst so jung, daß Sie für eine Ihrer Schülerinnen gelten könnten.“ „Tausend Dank“, lächelte Fräulein Bernhard. „Aber ich bin immerhin schon achtundzwanzig. Ja, mit der Wohnung habe ich rechtes Glück gehabt. Ich wohne in der Mansardenwohnung im Hause von Kaufmann Nilsen.“ „So, ja, da wohnen Sie wirklich hübsch“, sagte Frau Jessen. „Das Haus ist ja neu und modern, und…“ „Ja, mit Zentralheizung und Warmwasser – und dann habe ich auch die schönste Aussicht von meinen Fenstern, oben unterm Dach, in Sperlingslust“, sagte Fräulein Bernhard. „Doch ja, ich habe in jeder Hinsicht Glück gehabt. Und wenn es mir nur gelingt, etwas Wissen in diese Räuberbande einzuhämmern, habe ich mir nichts weiteres zu wünschen.“ „Sie finden es also nicht zu einsam hier?“ fragte Frau Jessen und reichte die Kuchenplatte. „Einsam?“, wiederholte Fräulein Bernhard nachdenklich. „Ich weiß nicht. Erstens bin ich es gewöhnt, einsam zu sein, ich verlor meine Eltern zeitig, und zweitens brauchte ich gar nicht einsam zu sein, wenn ich nicht wollte. Meine Kollegen sind nett, wir kommen ab und zu zusammen. Aber es ist so, daß ich die Einsamkeit einfach
liebe. Jeder Mensch muß ab und zu allein sein. Irgendein weiser Mann hat mal gesagt: ,In unseren Tagen ist die Einsamkeit entweder eine Strafe oder ein Luxus. Für mich ist sie ein Luxus, den ich mir glücklicherweise erlauben kann.“ Der Vater nickte. „Alexis Carrol“, sagte er. „Ja, richtig, der hat das gesagt. Und es stimmt, nicht wahr?“ „Und ob es stimmt“, sagte Herr Jessen. „Es ist der Mangel an Einsamkeit, es sind der Lärm und die Unruhe, Radio, Kino und Fernsehen, die uns ruinieren, die uns die Zeit stehlen, die wir im Alleinsein mit uns selbst brauchen sollten. Aber mißverstehen Sie mich nicht, ich meine, daß sowohl Radio als Fernsehen und die anderen modernen Erfindungen uns viel Positives geben können, aber wenn man es damit übertreibt…“ Fräulein Bernhard nickte eifrig zustimmend. „Ja, so ist es. Wenn das Radio den ganzen Tag lang dudelt, das Fernsehen den ganzen Abend lang flimmert, wenn man keinen Sonntagsspaziergang in der Natur machen kann, ohne von kreischenden Kofferradios gestört zu werden.“ „Ja, da ist es wirklich kein Wunder, wenn die Menschen nervös werden“, stimmte der Vater zu. Pony lauschte dem Gespräch. Sie mußte plötzlich an Berits Heim denken. Das Radio ging den ganzen Vormittag mit voller Lautstärke, und Ottos Tonbandgerät heulte ständig Jazz, während die Unterhaltung weiterging. Ob sie wohl dort in dem Haus still und friedlich bei einer Tasse Kaffee sitzen könnten so wie hier? Ob sie sich ruhig von vernünftigen Dingen unterhalten könnten? Oder drehte sich alles nur um die Chancen bei einem neuen Tanzturnier? Pony merkte, wie sehr ihre Eltern Fräulein Bernhard mochten, und sie sah auch, daß es Fräulein Bernhard wie allen Menschen ging, die mit Vati zusammenkamen: Sie war fasziniert von seinem ruhigen, intelligenten Blick, seiner leisen, klugen Stimme und der selbstverständlichen, stillen Freundlichkeit. Es war deutlich zu merken, daß sich Fräulein Bernhard direkt einen Ruck geben mußte, um aufzubrechen. Die Eltern baten sie herzlich und eindringlich, den Besuch zu wiederholen, und alle drei folgten ihr ins Vorzimmer. Fräulein Bernhard wandte sich an Pony: „Kommst du noch ein Stück mit, Pony?“ „Ja, schrecklich gern. Ich wollte gerade darum bitten, daß ich…“
Sie wandten sich am Gartenzaun um und winkten Frau Jessen zu, die aus dem Küchenfenster schaute. Als sie außer Sehweite gekommen waren, hielt Pony inne. „Fräulein Bernhard, tausend Dank, weil Sie… Sie…“ „Weil ich das nicht gesagt habe, weswegen ich eigentlich gekommen war“, ergänzte Fräulein Bernhard. „So, Pony, jetzt müssen wir die Sache unter uns klarstellen. Warum hast du deinem Vater den Brief nicht gegeben?“ Fräulein Bernhard war jetzt ernst, beinahe streng in der Stimme. Pony schluckte. „Weil Vati gerade an dem Tag einen Asthmaanfall hatte. Es ging ihm so schlecht – und da brachte ich es nicht über mich – “ Fräulein Bernhard nickte. „Das kann ich verstehen. Aber später?“ „Ja, ich wollte es ja tun, jeden Tag wollte ich es und dann wurde es schwieriger und immer schwieriger.“ „Und wo ist der Brief jetzt?“ Pony steckte die Hand in die Tasche. „Hier“, sagte sie und reichte ihn hin. Fräulein Bernhard nahm ihn, wandte ihn um. Er zeigte keine Merkmale unbefugten Öffnens. „Gut“, sagte sie kurz und riß den Brief mehrmals entzwei. Die Stücke gab sie an Pony zurück. „Jetzt kannst du sie selbst in den Ofen stecken, ich habe Zentralheizung.“ „Fräulein Bernhard, warum sagten Sie den Eltern nicht, daß ich… daß ich…“ „Daß du ein ganz schrecklicher Faulpelz bist?“ ergänzte Fräulein Bernhard den Satz. „Ja, warum habe ich es eigentlich nicht gesagt? Ich wollte es nämlich sagen, deshalb war ich gekommen, es war kein Zufall, der mich nach dem Föhrenweg führte, sondern ich ging nach reiflicher Überlegung hin. Aber da kam deine Mutter und machte mir auf. So liebenswert und ahnungslos sie freute sich so aufrichtig über meinen Besuch. Und dann traf ich deinen Vater. Er lächelte mir zu, und ein solches Lächeln, Pony… und dann seine Augen und das Gesicht, das von so vielen Leiden erzählte und von so viel Geduld… also ich konnte einfach nicht. Dich hätte ich am liebsten prügeln mögen, ehrlich gesagt, aber deinen guten prächtigen Eltern – nein, ich brachte es nicht über mich, ihnen weh zu tun.“ „Wenn Sie es nur tun würden“, flüsterte Pony. „Tun, was?“ „Mich prügeln.“ Da mußte Fräulein Bernhard lachen, trotz allem. „Ich glaube, ich werde mich darauf beschränken, dich geistig zu
verprügeln“, sagte sie. „Es ist ein Skandal mit dir, Pony. Du bist so begabt, es fällt dir so leicht, zu lernen, und dabei bist du so schlecht in der Schule, daß die Lehrer darüber reden. Ich wartete bis zum Äußersten, ehe ich deinem Vater diesen Brief schrieb, aber schließlich mußte ich etwas unternehmen – und nun – ja, nun weißt du, wie es damit gegangen ist. Jetzt sind wir genau ebensoweit.“ „Nein“, sagte Pony leise. „Wir sind viel weiter.“ „Was meinst du damit?“ „Ich meine, jetzt kommt es nur darauf an, ob ich mich zusammennehmen will. Und das will ich, Fräulein Bernhard. Ich will es wirklich. Ich werde nie vergessen, was Sie heute für mich getan haben… daß Sie so reizend zu den Eltern waren und sie geschont haben.“ „Ja, wir waren wohl beide darauf aus, sie zu schonen“, sagte Fräulein Bernhard, halb ironisch, halb lächelnd. „Aber hör zu, Pony, jetzt wollen wir sehen, daß wir mit der ganzen Sache fertig werden. Du hast mich schrecklich enttäuscht. Und dabei warst du diejenige, die ich von der ganzen Klasse am liebsten mochte.“ Da blieb Pony mit offenem Mund stehen. „War ich?“ „Ja, das warst du. Du warst nett und wohlerzogen. Wenn du nur wüßtest, wie wohltuend es ist, gut erzogene junge Menschen zu treffen. Höfliche junge Mädchen! Ihr, die ihr Wohlerzogenheit und Höflichkeit und Sicherheit besitzt, habt doch die beste Grundlage, euer Leben aufzubauen. Ihr seid überall beliebt, alle haben Lust, nett und entgegenkommend gegen euch zu sein. Siehst du, all das sah ich, ich sah, daß du aus einem sehr guten Heim kommst, ich freute mich über dein rasches Denkvermögen, ja, denn dumm bist du bestimmt nicht, Pony – und darum war ich so schrecklich enttäuscht, als du dich als faul erwiesest, so faul, daß du tatsächlich die ganze Klasse behinderst.“ Jetzt stürzten Pony die Tränen aus den Augen. „Nun, nun“, sagte Fräulein Bernhard, „trockne deine Augen, wir müssen einen anderen Ort finden, wo du ungestört heulen kannst. Es geht nicht an, mitten auf dem Weg zu weinen. Ja, ich weiß keinen anderen Ausweg, als daß wir zu mir gehen, ich fürchte wir brauchen eine ruhigere Umgebung für unser Gespräch.“ Ein Fußweg ging vom Föhrenweg zur Rückseite von Kaufmann Nilsens Haus. Pony, die Bukkeberg in- und auswendig kannte, ging voran. Der Pfad war schmal, sie gingen im Gänsemarsch und konnten nicht miteinander sprechen.
Erst als sie in einem behaglichen kleinen Zimmer mit schrägen Wänden, einfachen hübschen Möbeln und einigen guten Bildern saßen, erst da sprach Fräulein Bernhard erneut. „Weißt du, Pony, eigentlich bin ich dir gegenüber in einer verflixt schwierigen Lage. Ich bin nicht dumm genug, um nicht zu begreifen, daß hinter diesem auffallenden Rückschritt in deinen Schulleistungen etwas stecken muß. Aber siehst du, wenn es etwas rein Privates ist, habe ich kein Recht, dich auszufragen. Ich will dir nur sagen: Solltest du – nicht eine Lehrerin, aber einen Menschen brauchen, der älter ist als du, sagen wir, eine ältere Freundin, jemand, mit dem du dich aussprechen könntest, dann bin ich bereit. Ich habe dich gern, Pony, und – “ Pony schluckte. „Haben Sie mich denn… immer noch gern?“ „Ja, merkwürdigerweise habe ich das!“ Jetzt lächelte Fräulein Bernhard, warm und ehrlich. „So, Pony, ich bin fertig mit meiner Strafpredigt. Jetzt kannst du reden, wenn du willst.“ Pony biß sich auf die Lippen, blickte zu Boden. Dann sagte sie etwas angestrengt: „Es… es ist so schrecklich alles zusammen, so bedrückend, denn ich bin die einzige in der Klasse, die… die…“ „Die nicht aus einem reichen Haus kommt, meinst du?“ sagte Fräulein Bernhard mit ruhiger Offenheit. „Ja“, flüsterte Pony. „Siehst du, Pony, ich verstehe gut, daß das schwierig sein kann. Aber sollte das die Ursache sein, daß du die Schlechteste in der Klasse bist, abgesehen von den Aufsätzen? Du kannst doch wohl deine Aufgaben machen, selbst wenn du pekuniär schlechter gestellt bist als die anderen?“ „Ja, doch, es ist nur, daß…“ „Daß du Probleme hast, die deine Gedanken beschäftigen, daß sie dich von den Schularbeiten ablenken?“ „Ja“, flüsterte Pony. Fräulein Bernhard schwieg eine Weile. „Hör mal, kleine Pony. Denk dir nun, du könntest einfach drauflosreden, ohne Hemmungen, ohne dich zu schämen. Wenn du mir nun die Gelegenheit gäbest, dir zu helfen, sofern ich kann? Ich glaube, ich könnte es.“ Pony begegnete dem Blick der Lehrerin, und dann kamen ihr wieder die Tränen. Und plötzlich brach es los; wie ein Sturzbach kamen die Worte, halberstickt von Tränen, unlogisch und unzusammenhängend, aber es kam alles auf einmal.
„Ja, wenn alle anderen ins Kino gehen, kann ich es nicht. Sie reden von Filmen, und ich bin die einzige, die sie nicht gesehen hat. Sie reden von Tennis, vom Fernsehprogramm, und sie bekommen neue Kleider, so viel sie wollen. Sie haben eine Menge Taschengeld, und wir waren bei einem Tanzabend bei Ursula und niemand tanzte mit mir, denn mein Kleid war so gräßlich, und wenn ich etwas sage, behaupten sie, ich prahle, und… und…“ „… und wenn du einen guten Aufsatz schreibst, deuten sie an, daß du ihn nicht selbst geschrieben hast“, sagte Fräulein Bernhard ruhig. Ihre Stimme war gut und mild, und sie sah mit einem liebevollen Blick auf die unglückliche kleine Gestalt, die ihr gegenüber saß und schluchzte. „Es ist natürlich nicht leicht, Pony“, sagte sie ruhig. „Aber siehst du, jeder Mensch auf der Welt hat das seine. Und von den unzähligen Sorgen, die es gibt, ist tatsächlich die, wenig Geld zu haben, die geringste. Pony, denk mal, wenn du einen Vater hättest, der trinkt, oder du hättest ein ungemütliches unharmonisches Heim, oder einen Vater mit Managerkrankheit, oder eine Mutter, die…“ „… die bloß tanzen und sich jung halten möchte und nicht Mutter genannt werden will“, sagte Pony. „Wie kommst du denn auf diese Gedanken?“ fragte Fräulein Bernhard und lächelte ein wenig. „Weil die Mutter von… ich weiß von einer Mutter, die so ist, eine, die nur daran denkt, schlank zu bleiben und Preise bei Tanzturnieren zu gewinnen.“ Fräulein Bernhard lächelte. Sie hatte die Namen von Berits Eltern in den Zeitungen in Verbindung mit der norwegischen Meisterschaft im Tanz gesehen. Es gefiel ihr, daß Pony taktvoll genug war, die Namen nicht zu nennen. „Ja, siehst du, Pony, du hast so unendlich viel, das die wenigsten sonst haben. In deinem Heim ist eine Atmosphäre von Harmonie und Kultur, und du hast die bezauberndsten Eltern, die ich je getroffen habe. Was sind Fernsehgeräte und Tanzkleider und Taschengeld – verglichen damit? Du hast noch etwas anderes, Pony, etwas, das du von deinem Vater geerbt hast, ja, von deiner Mutter auch. Du hast einen sehr klaren Kopf, und du hast eine überraschend gute Allgemeinbildung, ich meine ein Wissen, das nicht durchaus mit Schulfächern zu tun hat, ein Wissen, das man nur in einem guten, kultivierten Heim erwerben kann. Es dürfte für dich leichter sein als für die meisten, Pony, ich meine – leichter in der Schule. Weißt du,
ich denke da an eine Schulkameradin von mir. Sie kam aus sehr einfachen Verhältnissen, ihre Eltern waren rechtschaffene Leute, aber absolut nicht das, was man kultiviert nennt. Sie hatte in ihrem Heim nie ein Wort in einer fremden Sprache gehört, nie etwas anderes gelernt, als was sie in der Schule lernte, nie gelernt logisch und sozusagen aktiv zu denken. Wie die dann in der Schule schuftete, und wie ich sie bewunderte, als sie es schaffte! Sie ging von der Schule mit einem guten Examen, doch ohne irgendeinem anderen Wissen als nur gerade dem trockenen Schulpensum. Aber du, Pony! Denke mal nach, was dein Elternhaus dir gegeben hat. Du hast einen Vater, den du sicher um alles fragen kannst.“ Pony nickte eifrig zustimmend. „Und ich bin sicher, daß die Gespräche, die bei euch zu Hause geführt werden, sehr fördernd und positiv sind.“ Pony stimmte erneut zu. „Es ist schrecklich traurig mit der Krankheit deines Vaters. Aber gerade diese bedauerlichen Umstände geben ihm etwas, das den meisten anderen Vätern fehlt. Die geben ihm Zeit! Er hat sicher immer Zeit für dich, nicht wahr?“ „Ja“, sagte Pony, und es lag ein heller Schein in ihren Augen. „Siehst du, und alles das sind so große Werte, daß deine Sorgen im Vergleich dazu lächerlich klein sind. Ich ahne allmählich, daß du deine Nachmittage auf deine Kleider verwendet hast, stimmt es? Ja, siehst du! Und du hast versucht zu lernen, während deine Gedanken um ein Tanzkleid kreisten, das du nicht hattest. Und wie solltest du es fertigbringen, den Schein aufrechtzuerhalten, und eine unbeschwerte Sorglosigkeit gegenüber den anderen? Das ging dir im Kopf herum, und so konntest du das, was du lernen solltest, nicht auffassen. Stimmt das auch?“ Pony nickte wiederum zustimmend. „Aber jetzt machen wir einen neuen Start, Pony! Deine Noten sehen derart aus, daß du von morgen an lauter ,Sehr gut’ haben mußt, wenn dein Zeugnis nicht skandalös werden soll. Du kannst es schon noch schaffen, wenn du wie ein Neger schuftest.“ „Ich werde arbeiten wie ein ganzes Negerdorf.“ „Und noch etwas, Pony. Wenn die pekuniäre Lage etwas problematisch ist, findest du, daß es dann so eine Ehrensache ist, das zu verheimlichen? Würde es nicht viel einfacher sein, geradeheraus zu sagen: Das kann ich mir nicht leisten?“ „Ja, das hört sich einfach genug an, aber das ist es eben nicht“, sagte Pony.
„Nein, nein, ich verstehe das im Grunde auch. Schließlich seid ihr ja erst sechzehn Jahre, und da sieht manches anders aus als mit dreißig.“ „Und wenn ich das täte“, sagte Pony nachdenklich, „dann würde ich ihnen leid tun, und das will ich nicht.“ „Nein, auch das verstehe ich. Aber weißt du, da kommt es ganz darauf an, wie du das sagst. Ob du dabei so froh und munter bist, daß es den anderen gar nicht einfällt, dich zu bemitleiden. Was sagtest du doch vorhin? Daß du bei der Tanzerei ein ,gräßliches’ Kleid anhattest? Wie wäre es, wenn du bei der nächsten Gelegenheit, falls ihr mal von Nähkünsten sprecht,… wenn du da lachend sagen könntest: Nein, ich glaube, das lasse ich lieber! Denkt doch an das greuliche Ding, das ich zu dem Tanzabend zusammengeschustert hatte. Wenn du das fertig brächtest, Pony, über dich selbst zu lachen und die anderen zum Mitlachen zu bringen, gutmütig dir gerade ins Gesicht zu lachen…“ „… statt hinter meinem Rücken zu lachen“, ergänzte Pony. Sie blieb in tiefen Gedanken sitzen. Schließlich blickte sie auf. „Sie sind mächtig klug, Fräulein Bernhard“, sagte sie unumwunden. „Wenn ich nun sagte: Danke, gleichfalls?“ lächelte Fräulein Bernhard. „Du hast einen hellen Kopf, Pony, gebrauche ihn! Und noch etwas. Diese deine Schwierigkeit ist nun mal da. Die läßt sich einfach nicht wegerklären. Und was einmal ist, damit muß man sich abfinden. Wenn du lahm wärest, oder ein Muttermal auf der Nase hättest, oder ein grünes und ein braunes Auge, müßtest du dich auch damit abfinden, – alle diese drei Dinge sind viel schlimmer als die Schwierigkeit, mit der du zu kämpfen hast. Falls die anderen mit Sticheleien kommen, wenn du dein Wissen auskramst, ich meine, das was du dir in deinem Heim angeeignet hast, ja, ich kann mir denken, daß das vorkommt, dann bringe es doch mit etwas Humor und ein wenig Selbstironie vor. Dann wird es schon keine Sticheleien geben, im Gegenteil – sie werden dich gern mögen.“ Pony blickte Fräulein Bernhard ernsthaft an. „Ich bin richtig froh, daß ich den Brief nicht abgegeben habe“, sagte sie. „Denn hätte ich es getan, wären Sie heute nicht zu uns gekommen, und wir hätten nicht diese Unterhaltung geführt. Ja und ich hätte auch nicht diese phantastische Hilfe von Ihnen bekommen, Fräulein Bernhard. Wissen Sie, jetzt freue ich mich geradezu darauf, meine Aufgaben zu machen!“
Margret „Nun, Pony“, sagte Vater, als sie zum Abendessen herunterkam, „hast du so lange an deinen Hausaufgaben gesessen?“ „Ja“, sagte Pony, „jetzt habe ich erst richtig angefangen, zu lernen, weißt du.“ „Na, das ist ja gut. Und wie geht es damit?“ „Im großen und ganzen tadellos… nur Mathematik, die begreife ich einfach nicht. Kannst du mir bei der schrecklichen Arithmetik nicht ein bißchen helfen?“ „Bring nachher deine Bücher“, sagte der Vater ruhig. „Es wäre ja sonderbar, wenn wir dir nicht das bißchen Mathematik einhämmern könnten. Und wie steht es mit der Chemie? Kannst du dich damit befreunden?“ „Nein, wir sind Feinde“, lachte Pony, „unbedingt Feinde! Wenn du also die Verständigung zwischen uns fördern könntest…“ „Ich werde versuchen. Noch was?“ „Nein, ich glaube nicht“, sagte Pony. „In Latein geht es gut. Wir haben in der Schule ein paar Stunden lang wiederholt und da konnte ich meine Lücken ausfüllen.“ „So, du hattest also Lücken?“ „Leider ja, du wirst es schon merken, wenn mein Zeugnis kommt. Aber es geht wieder aufwärts, Vati, ganz bestimmt. Und die Weihnachtsvorprüfung soll gut ausfallen, das verspreche ich dir.“ Der Vater nickte und lächelte fein. Er sagte nichts; aber er ahnte, daß hinter Ponys neuem Lerneifer Fräulein Bernhards Besuch stand. Nach dem Abendessen erklärte er Pony die Gleichungen zweiten Grades. Sie hörte aufmerksam zu, fragte, wenn sie etwas nicht verstand, und der Vater erklärte geduldig weiter. Ob die anderen in der Klasse es wohl auch so gut hatten? dachte Pony plötzlich. Ob Daisy und Pansy und Margret und Berit wohl auch ihre Väter um Hilfe bitten konnten? Stella hatte gewiß diese Möglichkeit. Ihr Vater war Professor in Geologie und verstand sicher auch etwas von Mathematik. Aber Berit mußte sicher selber schuften, während die Eltern tanzten und Otto von seinen Tonbändern Jazz spielte. Die Lehrer machten große Augen, wenn Pony aufgerufen wurde. Die richtigen Antworten schossen aus ihr heraus, und wenn sie etwas außerhalb der eigentlichen Aufgaben gefragt wurde, da saß sie
niemals fest. Langsam aber sicher sammelten sich eine Reihe von ,Sehr gut’ im Protokoll für sie. Aber das war auch nötig. Es war sehr nötig. Es war nun gewissermaßen Ruhe über Pony gekommen. Die Ruhe, die aus einem guten Gewissen kommt und von der Erledigung aller Pflichten. Aber der Alltag hatte seine Probleme. Oft war es furchtbar schwer, den Kopf hochzuhalten und alles mit einem Lächeln zu ertragen. Die Klassenkameraden waren, im ganzen gesehen, ganz ordentlich. Erika war großartig, wie immer, die anderen waren gewöhnliche junge Mädchen, ganz nett, ganz amüsant, im Grunde gute Kameraden. Mit einer Ausnahme: Margret konnte die Sticheleien immer noch nicht lassen, sie war mürrisch und in schlechter Laune, und in der Schule ging es auffallend bergab mit ihr. Und dabei war sie in den ersten Wochen die Fröhlichste von allen in der Schule gewesen! Sie, die sich mit brennendem Interesse auf Latein gestürzt hatte! Und nun? Es hatte damals begonnen, als Pony Erika bei einem Kreuzworträtsel geholfen und den Unterschied zwischen Watt und Volt erklärt hatte. Da war plötzlich bei Margret die schlechte Laune und der Neid hervorgebrochen, und seither kam sie immer wieder mit spitzen Bemerkungen. „Denk mal, wie genial von dir, daß du das weißt! – Ja, manche kramen gern alles aus, was sie wissen. – Paß nur auf, Pony, daß du nicht deine Muttersprache vergißt, vor lauter Fremdworten!“ Pony lernte zu schweigen und zu tun, als ob sie es nicht hörte. Vielleicht hatte Margret mit irgend etwas zu kämpfen, vielleicht ging es ihr in irgendeiner Weise schlecht, selbst wenn sie plötzlich in einem Sealmantel auftrat und vornehm wohnte und der Vater das teuerste Auto in Bukkeberg besaß. Denn es gab viel größere Sorgen als die, wenig Geld zu haben, hatte Fräulein Bernhard gesagt. Vielleicht hatte Margret so einen Kummer. Man konnte nie wissen. Und Pony hob den Kopf und lächelte, wenn sie an all das Gute dachte, das sie hatte. Sie zwang sich, es zu tun. Sie traf Fräulein Bernhard eines Tages in einem Geschäft. Sie gingen zusammen hinaus, blieben eine Weile stehen und unterhielten sich. „Nun, Pony? Jetzt geht es besser, nicht wahr?“
„Viel besser“, sagte Pony. „Manchmal ist es schon noch ein bißchen schwierig, aber dann denke ich daran, was Sie gesagt haben, daß man lernen soll, über sich selber zu lachen. Das tue ich schon, vorderhand muß das Lachen freilich erst durch den Kopf gehen, ehe ich es zustandebringe. Doch wer weiß, eines Tages kommt es vielleicht ganz spontan.“ „Du mit deinen Fremdworten“, lächelte Fräulein Bernhard. „Ja, aber…“ sagte Pony entschuldigend, „wenn uns auf Norwegisch ein Wort fehlt, ist es doch gut, daß es internationale Ausdrücke gibt. Sonst müßte ich einen ganzen langen Satz gebrauchen, um auszudrücken, was ich meine.“ „Ich kritisiere dich ja gar nicht“, sagte Fräulein Bernhard, „ich habe nur ein Faktum konstatiert.“ Da lachte Pony von einem Ohr zum anderen. „Fräulein Bernhard, warum konstatieren Sie ein Faktum? Warum stellen Sie nicht eine Tatsache fest?“ „Weil du mich ansteckst, du schreckliches Kind!“ lachte Fräulein Bernhard. „Scher dich heim und ein bißchen plötzlich. Wenn wir hier noch länger stehenbleiben, endet es damit, daß ich dir im Betragen ,Nicht zufriedenstellend’ gebe.“ „Dazu haben Sie kein Recht, Fräulein Bernhard, die Note für Betragen gilt bloß für mein Benehmen in der Schule.“ Pony lachte aus vollem Hals. Dasselbe tat Fräulein Bernhard. Sie schüttelte resigniert den Kopf, dann gingen sie lächelnd ihrer Wege. An einem Novembertag stand Pony in dicken Stiefeln und einem alten Mantel und reinigte die Kaninchenställe. Es waren glücklicherweise nicht mehr so viele; sie hatten neulich geschlachtet und nur die Zuchttiere behalten. Pony blies in ihre kalten Finger und setzte einen großen Kaninchenbock in einen leeren Käfig, damit sie seinen Stall gründlich säubern konnte. „Hallo, Pony!“ Pony sah auf und Erstaunen malte sich in ihrem Gesicht. Auf der anderen Seite des Zaunes, auf dem Pfad hinter dem Hause, stand Margret. „Hallo, Margret, gehst du spazieren?“ „Ja… ich… ich…“ „Zum Spazierengehen ist das Wetter aber grauslich“, sagte Pony. Sie versuchte zu reden, als ob sie sich gar nicht über Margrets
plötzliches Auftauchen wunderte – ausgerechnet Margret! „Sind das Kaninchen, die du da versorgst?“ „Ja, ich miste gerade aus.“ „Kaninchen sind drollige Tiere“, sagte Margret. „Darf ich hereinkommen und sie mir ansehen?“ „Klar, komm nur“, sagte Pony. „Wir haben jetzt nur die fünf Großen. Im Sommer ist es viel lustiger. Da wimmelt es von süßen, kleinen Kaninchen.“ Margret steckte eine Hand zu dem großen Kaninchen hinein und strich ihm vorsichtig über den Rücken. „Fertig mit den Aufgaben, Margret?“ „Nein, doch ich mag nicht.“ „Das sagst du so, aber du mußt doch!“ „Nein, ich muß gar nicht.“ Einen Augenblick starrte Margret wie versunken auf die Schüssel mit Kaninchenfutter, dann platzte sie los: „Ich höre auf mit der Schule.“ Pony ließ vor Erstaunen die Schaufel fallen. „Ja aber, Margret, warum denn mit einemmal?“ „Ich mag nicht mehr. Was soll mir das blöde Latein? Ich möchte viel lieber zeichnen oder ins Ausland reisen.“ „Aber Margret, es ist doch schade, wenn du die Schule einfach sausen läßt, nachdem du einmal damit angefangen hast. Es ist doch gut, wenn man das Abitur hat. Du kannst nie wissen, ob du es nicht einmal brauchst. Im Anfang hattest du doch so große Lust.“ Margret schnüffelte mit einemmal verdächtig, riß dann ihr Taschentuch heraus und trocknete sich die Augen. „Im Anfang ja, damals hatte mich Ronald beschwatzt und…“ „Ronald? Ist das dein Freund? Der mit dem Motorroller?“ Margret nickte. „Ja… und hat denn Ronald seine Meinung geändert?“ Margret schluckte… und nickte dann. „Kann man wohl sagen. Nämlich seine Meinung über mich. Es ist Schluß. Er hat sich drin in der Stadt ein Mädel angelacht. Die kann bestimmt kein Latein, das kann ich dir flüstern. Sie ist Mannequin.“ „Aber Margret, willst du jetzt Ronald vielleicht den Triumph lassen, daß du nur seinetwegen aufs Gymnasium gegangen bist? Wäre es dir angenehm, wenn er sagte: Ach, ja, diese Kleine da, die Margret, die war so verschossen in mich, daß sie meinetwegen sogar in die Lateinschule ging. Als ich ihr dann den Laufpaß gab, da gab sie prompt dem Gymnasium auch den Laufpaß. – Nein, weißt du,
Margret, zeig ihm lieber, daß du auf ihn pfeifst und daß du aufs Gymnasium gehst, weil du etwas lernen willst.“ Margret sah Pony aus verweinten Augen an. Plötzlich tat sie Pony schrecklich leid. „So habe ich es noch gar nicht angesehen, Pony. Aber es bleibt sich gleich. Ich habe so viel versäumt, das weißt du.“ Pony setzte das Kaninchen in seinen eigenen Stall, schloß energisch die Tür und wandte sich nach Margret um. „Sei doch kein Frosch, Margret! Komm mit mir ins Haus, wir lesen zusammen die Lateinaufgabe. Ich weiß genau, wie es ist, wenn man zurückgefallen ist. Aber ich weiß es ebenso genau, daß man sehr schön alles wieder aufholen kann. Komm nur!“ Einen Augenblick lang fuhr es Pony durch den Sinn: Was wird Margret denken, wenn sie unser kleines Zimmer sieht? Den schmalen kleinen Flur, das ganze bescheidene Haus? Aber dann erinnerte sie sich an Fräulein Bernhards kluge Worte. Sie richtete sich auf und zog Margret mit sich in die Tür. „Komm, ich hänge deinen Pelz auf.“ Während sie den Pelz über den Kleiderbügel hängte, begriff sie plötzlich: Jetzt war die Gelegenheit, das durchzuführen, was Fräulein Bernhard ihr geraten hatte. Sie lachte: „Wer hätte gedacht, daß unserem kleinen Vorzimmer die Ehre widerfahren würde, einen solch schönen Pelz zu beherbergen!“ sagte sie. Ihre Stimme klang munter und unbeschwert. „Komm herein, Margret! Mutti ist in der Stadt und Vati hält seine Mittagsruhe. Wir können also im Wohnzimmer bleiben. Ich hole nur schnell die Bücher herunter.“ „Nicht so eilig, Pony! Ich muß erst alles ein bißchen überlegen. Weißt du, es ist ja nicht allein mit der Aufgabe für morgen getan. Ich verstehe keinen Deut von all dem, was wir in den letzten Wochen behandelt haben. Wenn ich bloß in meinen Kopf bekommen könnte, was Supinum und Gerundium bedeutet… Nein, Pony, ich eigne mich einfach nicht für Latein.“ „Unsinn“, sagte Pony energisch, „du bist nicht die Spur dümmer als die anderen in der Klasse. Denk bloß an deinen verflossenen Ronald, gönne ihm doch den Triumph nicht. Wenn du ihn mal triffst, dann mußt du ein paar Worte einfließen lassen, daß es dir in der Schule glänzend geht, daß du Latein interessant findest. Warte einen Augenblick, ich bin gleich wieder da, Margret!“ Pony lief hinaus und schloß geräuschlos die Tür hinter sich. Margret blieb sitzen. Es
wunderte sie ein bißchen, daß sie Pony nicht die Treppe hinaufgehen hörte. Wie still es hier war im Grunde wunderbar still. Margret sah sich in dem kleinen Zimmer um. Eigentlich reizte es sie zum Lächeln, aber es wurde nichts Rechtes daraus. Es herrschte ein guter Friede in dieser einfachen Umgebung. Margret wußte nicht, woher es kam, aber sie fühlte sich hier wohl, merkwürdig wohl. Da war Pony wieder. Sie kam so geräuschlos, wie sie gegangen war. „Hör mal, ich mache uns rasch eine Tasse Kaffee. Trinkst du Kaffee?“ „Ja, danke, wenn er nicht zu stark ist.“ „Ich ebenso.“ Ein Gedanke durchfuhr Pony: Ob wir wohl ein wenig Kuchen im Haus haben? Für gewöhnlich hatten sie welchen, denn ihre Hühner legten ja immer Eier, und damit hat man schon das wichtigste für einen Kuchen. Wieder wandte Pony das an, was sie gelernt hatte. „Ich habe tatsächlich keine Ahnung, ob wir etwas zum Kaffee da haben, Margret, aber ich werde in Muttis Büchsen schnüffeln.“ Margret kam mit in die Küche. Es gab Pony einen kleinen Stich. Nicht, daß es in der Küche unordentlich und schmutzig ausgesehen hätte, aber sie war schon lange nicht gemalt worden, und primitiv war sie auch. Nun, daran war nichts zu ändern, jetzt hatte sie Margret hereingebeten, und etwas in Pony lehnte sich dagegen auf, sich ihres Heimes zu schämen. Pony machte also Kaffee und sie hatte Glück: es lag tatsächlich ein halber Napfkuchen in der Trommel. „Wie gemütlich ihr es habt“, sagte Margret, als sie im Zimmer am Fenstertisch beim Kaffee saßen. „Gemütlich? Findest du das wirklich? Weißt du, wir könnten es viel gemütlicher haben, aber Vati ist Asthmatiker und überempfindlich gegen Staub, darum können wir nichts haben, was als Staubfänger wirkt, Kissen und Vorhänge und dergleichen.“ „Ach so, deshalb also“, sagte Margret, ohne zu ahnen, daß diese Bemerkung nicht eben taktvoll war. Es knirschte auf der Treppe, langsame Schritte näherten sich. „Ach, das ist Vati!“ sagte Pony erfreut. Margret blickte sie an, schaute auf sie mit erstaunten Augen. Dann stand Ingenieur Jessen in der Tür und lächelte, als er den Besuch erblickte.
„Sieh mal an, Pony, hast du Besuch? Das ist aber nett.“ „Ja, das ist eine Klassenkameradin von mir, Margret Petersen. Und dies ist mein Vater, Margret.“ Margret stand nicht auf. Erst als Herr Jessen ganz zum Tisch und ihrem Stuhl hingekommen war, lüftete sie sich ein wenig in die Höhe, nahm die entgegengestreckte Hand und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. Und da geschah das Merkwürdige, daß Pony sich schämte, nicht über ihr ärmliches kleines Haus, sondern über die Freundin, die so wenig Erziehung besaß. Aber Vati ließ sich nichts anmerken. „Möchtest du Kaffee haben, Vati?“ „Ja, danke, wenn noch ein Schluck in der Kanne ist.“ „Eine Menge. Frisch gemacht“, versicherte Pony, lief hinaus, holte noch eine Tasse und einen Teller und zog einen weiteren Stuhl an den Tisch. „So, du heißt Petersen“, sagte Herr Jessen. „Warte mal, da wohnst du am Tannenhang, nicht wahr?“ „Ja“, sagte Margret, „wir haben seit Juni da gewohnt.“ „Ach so! Ja, Bukkeberg ist ein schöner Fleck zum Wohnen. Pony hat ihr ganzes Leben hier gewohnt. Du bist also auch eine Lateinerin wie Pony?“ „Ja, das heißt…“ Pony fiel ein. „Es ist nämlich so, Margret hat plötzlich Minderwertigkeitsgefühle bekommen. Sie glaubt, daß sie dem Latein nicht gewachsen ist. Aber Vati, du kannst ihr doch sicher erklären, was Gerundium und Supinum eigentlich sind, nicht wahr?“ Der Vater lächelte. „Doch, das sollte ich wohl noch fertig bringen, wenn Margret Hilfe braucht.“ „Ich auch, Vati. Es würde sicher auch für mich gut sein, das zu repetieren.“ Also begann Herr Jessen zu erklären, ruhig und klar und einleuchtend. „Fragt nur ruhig, wenn ihr etwas nicht versteht“, warf er dazwischen. Margret bat ihn, einen Satz zu wiederholen, und er tat es, sorgsam, ohne im geringsten ungeduldig zu werden. Und als er sie zum Schluß bat, Beispiele für angewandtes Gerundium zu geben, brachte es Margret fertig, einige lateinische Worte zusammenzukriegen, die bewiesen, daß sie verstanden hatte.
„Siehst du, so einfach ist es im Grunde“, sagte Herr Jessen. „Ich dachte, Mathematik und sowas seien Ihre Fächer“, sagte Margret, „denn Sie sind doch Ingenieur, und Pony hat mir erzählt, daß Sie ihr bei der Mathematik helfen. Und nun können Sie auch Latein!“ „Das kommt davon, daß ich in meiner Jugend so wankelmütig war“, lächelte Jessen. „Erst wollte ich Jura studieren, deshalb machte ich mein Abitur mit Latein. Und dann beschloß ich Ingenieur zu werden, da mußte ich noch Mathematik und Physik zusätzlich absolvieren.“ „Ein Glück für mich“, lachte Pony. „Vati kann mir praktisch mit allem helfen außer in Handarbeiten. Übrigens helfen, Vati! Du solltest wohl nicht einen unwiderstehlichen Drang verspüren, auch die Mathematikaufgaben mit uns durchzugehen?“ „Ich zerspringe fast vor Ungeduld danach!“ lachte der Vater. „Du errätst meine heimlichsten Wünsche.“ „Uff, du nimmst mich auf den Arm“, lachte Pony. „Aber nun geschieht es dir recht, jetzt geben wir keine Ruhe, ehe wir die Mathematikaufgabe bis zu ,sehr gut' können. Nicht wahr, Margret?“ Also lernten sie Mathematik, und nichts störte sie dabei, nichts lenkte die Aufmerksamkeit ab. Gesegneter Friede und Stille herrschten in dem kleinen Raum, in dem ein weißhaariger Mann und zwei junge Mädchen über die Bücher gebeugt saßen. „Es ist so leicht zu verstehen, wenn Sie es erklären, Herr Jessen“, sagte Margret. „Vielleicht ist die Mathematik im Grunde gar nicht so gräßlich.“ „Gräßlich?“ lächelte Ponys Vater. „Sag mal, Margret, hast du Musik gern?“ „Musik? Doch, ja.“ „Weißt du, was ein großer Musiker mir einmal gesagt hat? Eine Fuge von Bach, sagte er, ist ebenso schön wie höhere Mathematik. Beide bestehen aus absolut reinen Harmonien. Vielleicht verstehst du das nicht sofort, aber wenn du älter bist und mehr Musik gehört und mehr Mathematik gelernt hast, da wirst du es vielleicht verstehen.“ „Haben Sie auch Musik gern?“ „Ja, sehr.“ „Ich frage bloß, weil Sie das Radio nicht eingeschaltet haben. Zu Hause bei uns ist es beständig an.“ „Siehst du, gerade weil ich Musik liebe, ist nicht eingeschaltet.
Jetzt reden wir ja, und da können wir nicht Musik hören. Und wenn wir Musik hören, können wir nicht reden, das würde doch eine Geringschätzung gegenüber der Kunst sein. Denk dir, daß ein Werk gespielt wird, das vielleicht sozusagen mit dem Herzblut des Musikers komponiert worden ist, und wir sollten dasitzen, mit einem halben Ohr lauschen und davon sprechen, daß die Butterpreise gestiegen sind, oder der Straßenbahnverkehr am Vormittag unterbrochen war, und stellt euch vor! – auf die Marmelade ist Schimmel gekommen.“ Margret brach in Gelächter aus. Es war urkomisch, wie Herr Jessen das sagte, aber gleichzeitig war es einleuchtend, richtig. „Daran hat wohl bei uns daheim noch niemand gedacht“, sagte Margret. „Ich glaube, Vati könnte ohne Radiomusik nicht leben.“ „Nun ja, manche sind so und manche anders“, sagte Herr Jessen. „Die Menschen sind eben verschieden, und es wird sicher manche geben, die uns hier im Haus für Sonderlinge halten.“ „Nein!“ sagte Margret plötzlich laut und bestimmt. „Ihr hier im Hause seid alle furchtbar nett.“ „Kann ich das schriftlich haben?“ lachte Pony. „Hallo, da kommt Mutti!“ Die Tür ging und Pony lief ins Vorzimmer. Und als Frau Jessen das Zimmer betrat, war es, als sei Margret plötzlich etwas eingefallen. Mit einem Satz sprang sie vom Stuhl auf und grüßte sehr manierlich. „Ich muß wohl sehen heimzukommen“, sagte sie etwas zögernd. „Bin ich es, die dich verscheucht?“ lächelte Frau Jessen. „Setz dich doch wieder hin, Margret, willst du nicht mit uns zu Abend essen? Oder sorgen sie sich zu Hause, wenn du nicht kommst?“ „Nein, keine Spur“, sagte Margret. „Vati und Mutti sind beide heute abend aus.“ „Und mit den Aufgaben seid ihr fertig? Nun, dann kannst du doch in aller Ruhe bei uns bleiben, Margret.“ Ein Lächeln leuchtete in Margrets Gesicht auf. „Ja, tausend Dank.“ Und dann saß das reiche Mädchen vom Tannenhang, das einen Pelz und elegante Kleider hatte und in Bukkebergs teuerstem Auto fuhr und in der teuersten Wohnung wohnte – sie saß in der Küche der Familie Jessen am Tisch und aß mit größtem Appetit eine Schnitte nach der anderen, Schwarzbrot mit Leberwurst, mit hartgekochten Eiern und Tomaten. „Es schmeckt himmlisch!“ sagte sie entschuldigend, als sie sich
die vierte Schnitte nahm. „Das ist das Netteste, das man einer Gastgeberin sagen kann“, lächelte Frau Jessen. „Was soll ich dir reichen, Margret? Tomaten, oder vielleicht Marmelade?“ „Kann ich noch von der Leberwurst bekommen?“ bat Margret. „Die schmeckt viel, viel besser als unsere zu Hause!“ „Fremdes Essen schmeckt immer besser“, sagte Frau Jessen. „Und diese Leberwurst ist die einfachste auf der Welt. Sie ist aus Kaninchenleber gemacht.“ „Aus Ka-Ka-Kaninchenleber?“ „Genau. Wir haben vorige Woche geschlachtet, und da mache ich dann immer Leberwurst.“ „Kaninchen scheinen wundervolle Tiere zu sein“, sagte Margret und biß tüchtig in ihr Brot hinein. „Die Kaninchen sollen lange leben!“ „Unlogisch, Margret“, lachte Pony. „Je länger sie leben, je länger mußt du auf deine Wurst warten!“ Es herrschte eine stille Gemütlichkeit unter der Küchenlampe. Muntere Worte, ein fröhlicher, vertraulicher Ton. Margret saß da und wunderte sich. Es war, als hätte sich etwas in ihr gelöst, sie wußte selbst nicht, was es war – sie wußte nur, daß es so schön war, hier zu sitzen, so schön, bei diesen Menschen zu sein – es war irgendwie ein unsagbar friedlicher Winkel in einer unruhigen Welt. Und dann mit einemmal begriff sie, was es war. Bei diesem fröhlichen Gespräch stellte niemand eine persönliche Frage. Keine einzige Frage außer dem ganz Alltäglichen. Niemand war neugierig, niemand erwartete, daß sie etwas über sich selbst erzählen sollte. Auch über Dritte wurde nicht gesprochen. Nichts davon, daß Herr Soundso dicht vor dem Konkurs steht, oder daß Frau Dingsda wegen einer gefährlichen Krankheit operiert werden mußte, man sagt, es soll Krebs sein, nein, ich habe gehört, es ist Tuberkulose, ach wo, eine Leberkrankheit ist es, und habt ihr gehört, daß das Kind von Frau X nicht normal sein soll? Nichts von alledem. Absolut gar nichts. Nicht etwa, daß die Gespräche nur gelehrt und wissenschaftlich gewesen wären – keineswegs. Frau Jessen erzählte, daß sie in der Stadt eine neue reizende Blumenausstellung gesehen habe, und damit kam die Unterhaltung auf Orchideen, und von da auf Südamerika. Vielleicht interessierte sich Margret nicht für alles, worüber gesprochen wurde, aber sie empfand ein solches
Wohlbehagen beim Anhören dieser warmen freundlichen Stimmen. Ohne daß sie sich klar darüber wurde, war es genau das, was sie brauchte. Dank Ponys Vater konnte sie den morgigen Schulstunden mit Ruhe entgegensehen. Wenn sie drankam, gut, sie konnte ihre Aufgaben. Und diese Sache mit Ronald, das war gewissermaßen nicht mehr so schrecklich traurig und niederschmetternd. Es gab ja schließlich noch andere nette Sachen auf der Welt als Studenten mit Motorrollern. Zum Beispiel nette Schulfreundinnen, die man besuchen konnte. Nein, Margret wußte selbst nicht, was eigentlich in ihr vorging. Sie wußte bloß, daß sie sich sehr wohl fühlte, und daß es geradezu schwer war, aufzubrechen. Und ihr kleines verwirrtes Herz wurde richtig warm, als Ponys Eltern sie herzlich einluden, bald wiederzukommen. Ja, Ponys Vater sagte sogar: „Wenn du ein anderes Mal etwas Hilfe brauchen solltest, Margret, du weißt, ich habe immer Zeit.“ Und Margret ging heim zum Tannenhang an diesem Novemberabend und hatte ein sonderbares, unklares Gefühl, daß in ihrem Inneren nun Ordnung herrschte, sie fühlte sich sozusagen seelisch reingewaschen.
„Wir Lateiner!“ „Morgen, Pony, war nett bei dir gestern, so gemütlich.“ Die Klassenkameradinnen spitzten die Ohren. Was in aller Welt – ausgerechnet Margret, die Pony immer im Nacken gesessen hatte – Margret, die Pony vor Ärger zum Weinen gebracht, ausgerechnet sie rief diese Worte über das ganze Klassenzimmer, als Pony eintrat! Pony lächelte zurück. „Es war sehr nett, daß du kamst, Margret.“ Da platzte Daisy heraus. „Du meine Güte, jetzt geht Ostern die Welt unter. Seit wann seid ihr denn solche Herzensfreunde?“ „Seit gestern“, sagte Margret. „Ich dachte, ihr seid verfeindet“, meinte Pansy. „Da mußt du eben deine Meinung ändern“, sagte Pony. Dann kam Fräulein Bernhard, und der Schultag begann. In der großen Pause schielte Margret auf Ponys Frühstücksbrote, als sie diese auspackte. „Sag mal, Pony, hast du Leberwurst auf den Broten?“ „Ich glaube schon – doch, zwei Stück.“ „Willst du mit mir tauschen? Magst du Schinken? Oder lieber Schweizer Käse?“ Ja, Pony tauschte gern. Und Margret erzählte, daß Ponys Mutter die beste Leberwurst der Welt machte. „Na, du bist mir ja eine tolle Rübe“, sagte Erika halb im Spaß und halb im Ernst. „Margret ladest du ein, aber mich hast du noch nie gebeten.“ „Margret kam von selbst“, erklärte Pony. „Und das war furchtbar nett“, beeilte sie sich hinzuzufügen. „Komm du nur, wann immer du willst, Erika, meine Eltern sind begeistert, wenn mich Freundinnen besuchen.“ Stella sah Pony aufmerksam an. „Findet deine Mutter nie, daß das lästig sein kann?“ „Lästig? Nein. Jedenfalls hat sie noch nie so etwas gesagt. Als ich klein war, brachte ich so viele mit heim, daß das Haus ständig voll war.“ „Aber jetzt tust du das nicht mehr?“ Pony überlegte ein Weilchen. „Weißt du, jetzt ist das anders. Damals hatte ich Spielkameraden, die ich immer gekannt habe. Kinder von Arbeitern und Angestellten aus der Fabrik und dergleichen. Jetzt sind wir ja eine ganz neue Clique, sozusagen noch nicht so – aufeinander eingespielt. Abgesehen von Ursula kannte ich ja keine von euch, ich konnte da
nicht einfach sagen: ,Kommt doch heute nachmittag zu mir’, ehe ich euch richtig kannte. Und schließlich kanntet ihr mich ja auch nicht.“ „Doch, ich“, lachte Erika. „Du warst schon am selben Tag, als wir uns kennenlernten, bei mir.“ „Ja, das stimmt, das war ich.“ „Wir anderen“, sagte Stella mit einer Falte auf der Stirn, „ehrlich gesagt, das ist mir nie eingefallen. Aber im Grunde… ja, es ist also nur dies: Wenn Vati zu Hause ist, soll es bei uns am liebsten so still sein wie in einem Museum. Und Mutti hat ständig so viel zu tun, daß…“ Die anderen nickten. Es war eine bekannte Sache, daß die energische und intelligente Frau des Professors Loeber die treibende Kraft in Vereinen und Wohltätigkeitsveranstaltungen war, außerdem war sie auch aktiv im politischen Leben. „Zu mir könnt ihr gern kommen“, sagte Erika. „Wenn ihr nur nicht zu viele Umstände erwartet. Ich kann mich bis zu Tee mit Kuchen strecken, aber das ist alles.“ „Das wird sicher bei mir auch alles sein“, sagte Berit. „Tee ist das einzige, von dem ich mit Sicherheit weiß, daß wir ihn im Hause haben, außer Süßstofftabletten und Abmagerungspillen.“ „Pfui, Berit“, sagte Pony. „Na ja, es ist nicht so schlimm gemeint, wie es sich anhört“, sagte Berit. „Du weißt, ich necke Mutti immer mit ihrem Schlankheitsfimmel. Kommt nur, wir können auf meinem Zimmer sein, und ihr sollt auch Kuchen zum Tee haben, das verspreche ich euch.“ Es zeigte sich, daß dieses Pausengespräch tatsächlich der Anfang eines eifrigen Beisammenseins außerhalb der Schulstunden wurde. Sie waren ja recht isoliert, diese Mädel von Bukkeberg, sie waren auf sich selbst und aufeinander angewiesen, und nachdem sie sich einige scharfe Kanten abgeschliffen hatten, zeigte es sich, daß sie richtig gute Freundinnen wurden. Daß Stella und Berit beste Freundinnen waren, und daß es etwas Besonderes mit Pony und Erika war, wußten alle. Daisy und Pansy hatten einander, und nach und nach entwickelte sich eine Art von Extrafreundschaft zwischen Ursula und Margret. Aber das hinderte nicht, daß Margret nach wie vor manchmal bei Pony vorbeiguckte und etwas Nachhilfe von Herrn Jessen bekam – sowie Brote mit Leberwurst von Ponys Mutter.
„Sonderbar mit Margret“, sagte Frau Jessen eines Tages. „Mir scheint, daß am Anfang so eine Art Kriegszustand zwischen euch war. Hast du eigentlich verstanden, warum sie damals kam? Ich meine, das erste Mal?“ „Nein, darüber habe ich selbst oft nachgedacht. Sie war an diesem Tag besonders niedergedrückt und brauchte jemand, um sich auszusprechen. Aber daß sie nun ausgerechnet mich dazu wählte!“ Pony verstand es nicht, bis sie einmal zu Besuch in Margrets Heim war. Die Eltern waren nicht zu Hause. Pony und Margret saßen in dem schönen großen Wohnzimmer, von dem aus man den ganzen Bukkeberg überblickte. Margret hatte den Filmapparat hervorgeholt, die Gardinen vorgezogen und zeigte Pony Filme vom letzten Sommer. Sie hatten damals eine Autotour durch Schweden, Dänemark, Deutschland und Frankreich gemacht. „Hast du ein Glück!“ sagte Pony mit einem Seufzer. „Wie man es nimmt“, sagte Margret. „Manchmal glaube ich, daß du mehr Glück hast. Nanu, da kommt jemand! Ob das Mama ist?“ Es war wirklich Frau Petersen. „Du bist schon zurück?“ fragte Margret ohne besondere Freude in der Stimme. „Ich dachte, du wärest im Klub?“ „War ich auch. Dann kam plötzlich eine Verwandte von außerhalb und wir gingen eher auseinander. Soso, du bist also Pony Jessen. Margret hat schon von dir erzählt. Ihr wohnt doch in dem kleinen Haus, ganz oben am Föhrenweg, nicht wahr? Aber hör mal, da seid ihr doch die nächsten Nachbarn vom alten Fräulein Langeby? Ach, die Ärmste!“ „Wieso die Ärmste?“ sagte Pony verwundert. „Es geht ihr doch gut. Ich habe sie mein ganzes Leben lang gekannt, sie ist immer sehr freundlich.“ „Ja, aber… nach dieser fürchterlichen Geschichte mit ihrem Neffen… er soll ja Wechsel gefälscht haben und dann nach Australien geschickt worden sein. Denk doch nur, was für ein Skandal! Ich möchte wissen, ob Fräulein Langeby immer noch an den Schulden abbezahlt. Ich sehe da immer noch sehr spät Licht bei ihr, vielleicht arbeitet sie bis lange in die Nacht. Tut sie das?“ „Das weiß ich nicht, Frau Petersen“, sagte Pony. „Können Sie das von hier aus erkennen? Sie wohnen doch weit weg?“ „Ach, mit einem Fernglas kann man jedes einzelne Haus vom Tannenhang aus erkennen“, sagte Frau Petersen, und dann plapperte sie weiter: „Nein, weißt du was, Margret, du erinnerst dich doch an
Familie Nikolai, die zwei Häuser von uns entfernt in der Stadt wohnten? Denke dir, Frau Nikolai ist ins Krankenhaus gekommen, es heißt, es ist etwas mit dem Herzen, aber alle wissen, daß es die Nerven sind. Kein Wunder bei dem Mann, der so viel trinkt, und die Kinder sind zur Großmutter nach Bergen gekommen. – Habt ihr beide Schulaufgaben gemacht? Ich hörte, daß dein Vater Margret geholfen hat, das ist ja nett, wenn Margret nun absolut diesen Lateinblödsinn lernen will. Ich finde ja, das muß sterbenslangweilig sein. Denk mal, daß dein Vater Latein kann, er ist doch Ingenieur…“ „Das eine schließt das andere ja nicht aus“, sagte Pony und war mit einemmal sehr erwachsen und kühl in ihrem Tonfall. Frau Petersen sah sie einen Augenblick etwas unsicher an. Dann wandte sie sich an die Tochter. „Von wem war der Brief, den du heute bekommen hast, Margret?“ „Von Merete.“ „Laß mich sehen.“ Widerspruchslos nahm Margret aus ihrer Handtasche einen geöffneten Brief und reichte ihn ihrer Mutter. Pony machte große Augen. Ehe ihre Eltern darum bitten würden, die Briefe anderer zu lesen – ja, eher würde der Mond vom Himmel fallen. „Merete ist ein Mädchen, das ich im Sommer in Dänemark kennengelernt habe“, erklärte Margret. Frau Petersen kicherte. „Sie schreibt wirklich gut. Nein, das mußt du lesen, Pony.“ Sie reichte Pony den Brief. „Danke, lieber nicht“, sagte Pony. „Du willst nicht?“ „Nein, danke.“ „Ja aber, Margret, du hast doch nichts dagegen?“ „Nein, von mir aus gern“, sagte Margret und zuckte die Achseln, doch Pony nahm den Brief weiterhin nicht entgegen. „Ich lese nicht die Briefe anderer Leute, außer ich habe dazu die Erlaubnis des Absenders“, sagte sie, und ihre Stimme war höflich, aber unverkennbar bestimmt. „Wenn ich selbst einen Brief an eine Freundin schreibe, hätte ich es auch nicht gern, daß andere ihn lesen.“ „Meine Güte“, sagte Frau Petersen, „sollte eine Mutter nicht das Recht haben zu…“ „Das ist nur meine eigene Auffassung, Frau Petersen“, sagte Pony. „Jeder muß ja nach seinem eigenen Gewissen handeln. Margret, ich glaube, ich muß jetzt heimgehen, es ist schon spät. Vielen Dank, daß du mir den Film gezeigt hast, der war pfundig.“ Pony stand auf, sagte höflich Lebewohl zu Margrets Mutter und
ging zur Tür. Margret folgte ihr hinaus. „Du mußt Mama nicht ernst nehmen“, sagte Margret, „sie ist nun mal so. Manchmal öffnet sie sogar meine Briefe.“ „Das würde mir aber gar nicht gefallen“, rief Pony empört. Margret zuckte die Achseln. „Ist alles Gewohnheit.“ Sie lächelte ein wenig gezwungen. „Aber sollte ich einmal Liebesbriefe bekommen, dann lasse ich sie an dich schicken, Pony.“ Pony lächelte etwas matt und zog sich den Mantel an. Sie hatte schon die Tür geöffnet, die Kälte von draußen schlug ihr entgegen. Da hörte sie hinter sich Margrets Stimme. „Pony… niemand vertraue ich so wie dir. Und ich könnte mich selbst ins Gesicht schlagen, weil ich oft so ekelhaft zu dir gewesen bin. Schönen Dank, daß du gekommen bist.“ Pony wanderte heimwärts, die Hände in den Taschen begraben. Was hatte Vati gesagt? „Alle müssen bezahlen.“ Ja, alle bezahlten. Und Margret, die Ärmste, Margret mit Auto und Pelzmantel und Filmapparat und Auslandsreisen, Margret bezahlte am meisten von allen. Pony nickte vor sich hin. Jetzt verstand sie, warum Margret damals am Abend gekommen war. Ratlos und hilflos und unglücklich, wie sie war. Daheim hatte sie niemand, mit dem sie reden konnte. Und vielleicht – vielleicht verstand sie in ihrer Not, daß Pony diejenige war, auf die man sich verlassen konnte. Ponys Herz wurde warm für Margret. Arme Margret. Eine Sache stand klar vor Pony: Sie durfte Margret niemals enttäuschen. Als sie heimkam, ging sie zu ihrer Mutter hin, die am Nähtisch saß und eine Jacke stopfte. Pony stand hinter ihrem Stuhl, beugte sich vor und legte ihre Wange an die ihrer Mutter. „Na, du kleine Schmuserin“, lächelte Frau Jessen. Sie hob die Hand und strich über Ponys Haar. „Ich bin so froh, daß du bist, wie du bist“, sagte Pony. Weiter sagte sie nichts, und Frau Jessen fragte auch nicht. Erstens hatte sie es überhaupt nicht mit dem Fragen und zweitens brauchte sie es auch nicht. Sie verstand, ohne zu fragen. „Sind deine Eltern nicht daheim?“ fragte Erika. Sie war eines Nachmittags auf einen Sprung zu Pony gekommen, und die beiden saßen allein im Zimmer.
„Doch, Vati sitzt oben und schreibt einen Artikel für das Technische Wochenblatt, und Mutti ist in der Küche beim Kuchenbacken – hoffe ich jedenfalls“, lächelte Pony. „Glaubst du nicht, daß sie bald fertig sind? Es ist so urgemütlich, wenn sie mit uns zusammen sind.“ „Ich werde fragen“, sagte Pony. Sie lief die Treppen hinauf, und das Herz schlug ihr vor Freude. Sie fühlte so deutlich, daß dies etwas Einzigartiges war. Bei Berit würde niemand nach den Eltern fragen, da waren sie froh, wenn sie ungestört in Berits Zimmer sitzen konnten. Und bei Stella – ja, deren Eltern waren sehr liebenswürdig, aber sie lebten in ihrer eigenen Welt und hatten wenig Kontakt mit der Tochter, und schon gar nicht mit deren Freundinnen. Daisys Eltern waren munter und amüsant, aber der Vater hatte den Kopf immer voll mit Geschäften, die Mutter mit ihrem Bridgeklub und unzähligen anderen Dingen. Und hier, bei ihr daheim, fragten sie nach Mutti und Vati. Pony ging zu ihrem Vater hinein. „Störe ich dich sehr, Vati?“ „Ach nein. Etwas auf dem Herzen? Ich dachte, du hättest Besuch?“ „Habe ich auch. Aber Erika fragt nach dir und Mutti.“ „Wirklich? Na, das ist ja schmeichelhaft. Hat sie vielleicht auch Lernprobleme?“ „Nicht, daß ich wüßte. Aber Vati, ich habe ihr versprochen, daß sie deine Stereoskopbilder sehen kann, und die mußt du erklären, weißt du.“ „Na schön. Ich dachte, ihr wolltet am liebsten ungestört sein. Aber ich komme schon. Nimm den Kasten mit, der steht da in der Ecke.“ Unten fanden sie Erika in der Küche. Sie saß auf dem Küchentisch, plauderte mit Frau Jessen und probierte die frischgebackenen Kuchen. Etwas später saßen sie an dem runden Tisch im Zimmer, Herr Jessen öffnete den Kasten mit den Bildern – und dann klingelte es an der Tür. Es war Margret. „Wie herrlich es hier duftet“, platzte sie heraus. „Ja, den Duft hast du wohl hinauf bis zum Tannenhang gespürt“, lachte Pony. „Der ist es wohl, der dich hergelockt hat? Komm herein, Margret, wir sitzen gerade und sehen Vatis Stereoskopbilder an.“
Margret grüßte Ponys Eltern wie eine alte Vertraute, und zog einen Stuhl zum Tisch hin. Sie rief laut vor Begeisterung, als sie das Stereoskop vor Augen bekam. „Nein, sowas Wunderbares – die Menschen sehen ja wie lebendig aus und die Gebirge im Hintergrund liegen ja eine Ewigkeit weit weg.“ „Ja, die liegen leider wirklich ein Ewigkeit weit weg“, lächelte Herr Jessen, – „in mehr als einem Sinn.“ „Wo ist das Bild denn her, Herr Jessen?“ „Aus der Schweiz. Ich nahm diese Bilder vor dreißig Jahren auf, als ich in Zürich studierte.“ „Haben Sie in der Schweiz studiert? Ist es wahr, daß es ein so schönes Land ist?“ fragte Margret eifrig. „Doch, das ist es. Und außerdem ein Land, in dem meine dummen Lungen sich anständig aufführen,“ sagte Ponys Vater. „Hier ist ein Bild aus dem Engadin, das ist im Grunde mein Stolz, siehst du das Tier da?“ „Ist das eine Katze, die Männchen macht?“ fragte Margret. Jessen lachte. „Nein, das ist ein Murmeltier, aufgenommen im Gebirge, in achtzehnhundert Meter Höhe. Es war ein unglaublicher Glückszufall, daß ich es so aus der Nähe bekam.“ Die Mädchen stritten sich beinahe um das Stereoskop. Die beiden verwöhnten Teenager mit Filmapparat und Fernsehen, überfüttert mit Bildern aller Art, sie jubelten über die dreißig Jahre alten Fotos, die sie sich durch ein altmodisches Stereoskop besahen. „Fotografieren Sie jetzt nicht mehr, Herr Jessen?“ fragte Erika. „Ach, nur sehr wenig in den letzten Jahren. Es sind ganz altmodische Sachen, die ich habe, von meinem Vater geerbt. Eine große und unhandliche Kamera. Seht her, das hier ist Lausanne.“ „Dorthin wollten mich meine Eltern eigentlich schicken“, sagte Margret, „aber ich wollte lieber hier aufs Gymnasium. Dort hätte ich in einer Töchterschule sein sollen.“ „Ja, davon gibt es genug da unten“, sagte Herr Jessen. „Sieh her, da hast du eines“, ein neues Bild wurde in das Stereoskop gesteckt, und Margret schaute es an. „Das sieht aus wie eine ganze Schulklasse und alle in Uniform, sowas! Gehen die in der Schweiz immer in Uniform zur Schule?“ „Nein, das glaube ich kaum, aber in dieser Schule war es so üblich. Es sah drollig aus, wie all diese Mädels marschiert kamen,
mit einer Lehrerin vorn und einer hinten. Darum habe ich sie geknipst.“ Jetzt war Erika an der Reihe zu gucken. „Irgendwie sehen diese Uniformen nett aus“, sagte sie. „Mutter sagt immer, es ist eine Schande, daß wir keine Schulschürzen gebrauchen, ich bin nämlich ein Ferkel und bekleckere mich dauernd.“ Herr Jessen lächelte. „Das erinnert mich an die Mädchen in meiner Gymnasiumklasse. Die nähten sich ganz gleiche blaue Schürzen, mit den Anfangsbuchstaben des Namens auf dem Ärmel und einem lateinischen Sprichwort darunter. Es waren nicht mehr als sechs Mädchen in meiner Klasse, und das war bestimmt eine hübsche Art, ihre Zusammengehörigkeit zu zeigen!“ Erikas Augen leuchteten. „Kinder, ist das eine Idee! Wollen wir das auch machen? Ja keine altmodischen Schürzen – aber Kittel, dreiviertellang, aus Perlon oder Dralon – bügelfrei…“ „Mit schicken, großen Taschen…“ „So wie die jungen Mädchen bei deiner Mutter haben, Erika…“ „Mit kleinen Stehkragen…“ „Ich will aber keine Anfangsbuchstaben sticken!“ erklärte Pony. „Ich werde Margret bitten, mir ein Pony zu zeichnen!“ „Und da zeichne ich für mich eine Margerite!“ „Und für mich eine Erika!“ „Und Daisy und Pansy haben ja schon ihre Kennzeichen - Daisy bedeutet ja Tausendschönchen und Pansy Stiefmütterchen!“ Pony schlug sich auf die Stirn. „Wenn ich nicht der größte Dummkopf in Bukkeberg bin! Daran habe ich nie gedacht, daß diese Blumen ihre Namen bedeuten! Ich dachte, sie trügen die Blumen um den Hals, damit man sie auseinanderkennt!“ „Deshalb natürlich auch“, sagte Erika. „Wen haben wir noch? Berit – ja, die muß ihren Nachnamen gebrauchen, du kannst doch bestimmt ein molliges kleines Wolfjunges zeichnen, Margret?“ „Und was mit Ursula? Was in aller Welt finden wir für sie?“ „Ich denke, du bist Lateinerin, Pony?“ lächelte der Vater. „Urs bedeutet Bär, Ursula wird wohl Bärin bedeuten!“ „Und Stella bedeutet Stern!“ rief Margret. „Aber das mit den lateinischen Sprichwörtern – da müssen Sie uns helfen, Herr Jessen!“ „Wie gesagt – seid Ihr nicht Lateiner?“ widerholte Ingenieur
Jessen schmunzelnd. „Aber Vati, doch erst seit 3 Monaten! Bitte, bitte, Vati – es gibt doch so viele Sprichwörter aus dem Lateinischen –,Die Kunst ist lang, das Leben kurz’ – oder ,Irren ist menschlich’ – das will ich übrigens für mich haben – und ,Alles mit Maß’ und – und – ach, wie heißt es doch gleich, das mit dem Vaterland…“ „Ubi bene, ibi patria“, sagte der Vater. „Das müßtest du eigentlich selbst übersetzen können, die Worte habt ihr gelernt!“ Die Mädchen dachten mit gerunzelter Stirn nach. „Oh, ich weiß!“ rief Erika. „Ubi – wo – bene – gut – ibi – dort – patria – Vaterland! Wo es gut ist, ist das Vaterland!“ „Richtig, Erika, eins ‘rauf!“ lächelte Herr Jessen. Er saß schon da und schrieb lateinische Sprichwörter auf, und die Übersetzung dazu. Sie plauderten und lachten und rissen einander die Worte vom Munde weg. Und dann kam Frau Jessen mit Tee und frischgebackenen Kuchen, und endlich wandten sie sich wieder den Bildern zu. Herr Jessen erklärte geduldig, und die Mädchen horchten. „Was Sie alles wissen!“ sagte Erika. „Nichts, was dir zu imponieren braucht, Erika“, sagte Herr Jessen. „In den letzten Jahren hatte ich so unendlich viel Zeit. Ich konnte lesen, was ich wollte, alles, worauf ich Lust hatte… Ich tauge ja nicht mehr viel.“ „Sie sagten aber vorhin, daß Sie in der Schweiz gesund waren“, meinte Margret. „Ja, das war ich auch. Weißt du, in der Schweiz gibt es Städte und Dörfer in fünfzehn- oder sogar sechzehnhundert Meter Höhe. Wenn ich so hoch hinauf komme, dann geht es mir gut.“ „Ja, in Norwegen haben wir doch auch hohe Berge?“ sagte Erika. „Aber keine Arbeitsmöglichkeit dort oben“, lächelte Herr Jessen. „Oder meinst du, ich sollte mich mit einem netten kleinen Geschäft auf dem Gipfel von Glittertind niederlassen?“ Er lächelte, und die anderen lächelten mit. Pony jedoch schnitt seine Frage ins Herz. Ach, wenn sie nur eine Million gewinnen könnte, dann würde sie Vati in die Schweiz schicken, zu den Bergen, die er liebte. In die dünne reine Luft, zu den steilen Abhängen, wo Gemsen und Steinböcke kletterten und kleine, flinke Murmeltiere sprangen… wo der Steinadler schwebte, schwarz und majestätisch über den Gipfeln. Vati setzte neue Bilder in das Stereoskop und die Mädchen konnten sich gar nicht sattsehen. Pony hob die Augen und
begegnete dem Blick des Vaters, und plötzlich ergriff sie unter dem Tisch seine Hand. Sie drückte sie einen Augenblick lang fest, dann stand sie rasch auf und ging unter einem Vorwand in die Küche. Als sie wieder hereinkam, war sie ganz ruhig und lächelte. Die Idee mit den „Lateinerkitteln“ brachte die Klasse in helle Begeisterung. Pfundig! Super! Dufte! Margret mußte in allen Pausen zeichnen, nicht nur die Stickvorlagen für Blumen, Sterne und Tiere, sondern auch Entwürfe für den Schnitt der Kittel. Über die Farbe einigten sie sich schnell. Ein zartes Blau würde ihnen allen gut stehen. Und dann fuhren sie alle acht eines Nachmittags in die Stadt und kauften den Stoff, und am folgenden Tag surrte die elektrische Nähmaschine bei Erika. Acht junge Mädchen lachten und plauderten, schnitten und nähten, und die gemeinsame Arbeit brachte sie näher aneinander, nie war die Kameradschaft so groß und echt gewesen wie jetzt… Fräulein Bernhard lächelte bis zu den Ohren, als sie eines Morgens in die Klasse kam und die acht jungen Mädchen in netten Kitteln fand, mit Abzeichen und lateinischen Sprichwörtern auf dem linken Ärmel. Sie besah sich jedes einzelne Sprichwort, nickte zustimmend zu Margrets „Die Kunst ist lang, das Leben kurz“ und lachte hell auf, als sie zu Pony kam. „Du trägst die Verteidigung auf dem Ärmel, wie ich sehe!“ lachte sie. „Es stimmt schon, daß Irren menschlich ist, hoffentlich wirst du es aber nicht allzu oft gebrauchen!“ Die Mädchen von dem neusprachlichen Zug machten große Augen. Und eines Tages tauchten sie in grünen Kitteln auf, mit Shakespeare-Zitaten auf dem Ärmel. Aber in Ponys Klasse brach eines Tages ein wahrer Jubel los. In der ersten Stunde sollten sie Latein haben. Die Tür ging auf, und da kam Fräulein Bernhard. Jung und hübsch und gepflegt wie immer – und in einem schicken, hellblauen Kittel, mit großen Taschen. Alle Disziplin war vergessen. Die Mädchen schrien auf, stürzten von ihren Bänken auf die Lehrerin zu. Der Kittel wurde befühlt und bewundert, und acht Paar Augen starrten auf Fräulein Bernhards linken Arm. Und dann erhob sich ein Gelächter, daß die Wände wackelten. Auf dem Ärmel war der Kopf eines St.-Bernhard-Hundes
gestickt, und darunter stand in zierlichen Buchstaben: „Cave canem.“ „Achtung vor dem Hund!“ schrien sie im Chor. „Ach, Fräulein Bernhard, deswegen haben Sie uns gestern dieses Sprichwort gelehrt!“ „Fräulein Bernhard, Sie sind die Allerbeste!“ „Ein richtiger Kamerad!“ „Prima! Pfundig! Dufte!“ Die Lehrerin sah lächelnd von der einen zur anderen. „Ihr findet also nicht, daß es eine unzulässige Einmischung in die Angelegenheiten der Klasse ist?“ lächelte sie. „Einmischung! Wie können Sie das bloß denken!“ rief Stella. „Sie sind unbedingt die Beste!“ sagte Ursula. „Sie gehören doch mit zur Klasse!“ sagte Erika warm. „Und unzulässig – Sie sind wohl verrückt!“ rief Pony. Aber im gleichen Augenblick verschlug es ihr den Atem, und sie wurde glühend rot. „Verzeihung, Fräulein Bernhard – bitte – ich meinte es nicht – ich meinte es wirklich nicht – es ist mir nur so ‘rausgerutscht – bitte, entschuldigen Sie!“ Fräulein Bernhard lachte hellauf. „Und das mußte ausgerechnet dir passieren, du höfliche Pony!“ lachte sie. „Doch ja, ich werde dir verzeihen, Pony. Du weißt: ,Irren ist menschlich!’“
Ponys Opfer Der Winter ging zu Ende. Der Schnee schmolz am Tannenhang und lief in kleinen Rinnsalen nach Bukkeberg hinunter. Die Sonne bekam immer größere Macht, die Wege waren schmutzig und aufgeweicht, und die Schuljugend trabte in hohen Gummistiefeln in die Schule. Pony ging ihren Schulweg mit gutem Gewissen. Gestern hatte sie ihr Zeugnis bekommen, und das war so, daß sie es Vater mit Freude zur Unterschrift vorlegen konnte. Ja, das Wunder war geschehen: Pony war nun die Beste in der Klasse, neben Bernt Rywig. Und sie ging jetzt herzlich gern in die Schule. Sie hatte Fräulein Bernhard gern, die Schulstunden und die Klassenkameraden. Alles sah nun heller aus als vor einem halben Jahr. Der schreckliche Tanzabend bei Ursula lag weit zurück. Zu Weihnachten war sie bei Stella auf einer großen Gesellschaft gewesen. Sie hatte die blauen Chiffonfahnen von ihrem Kleid heruntergetrennt, Mutti hatte es gefärbt und ihr geholfen, es etwas herzurichten. So erschien dann Pony auf der Gesellschaft in einem hellgrünen Kleid, ihr hübsches klares Gesicht war ohne Schminke und Puder, und ihr Pferdeschwanz war frisch gewaschen und glänzte. Sie war einfacher gekleidet als die anderen, aber sie hatte ihre anmutige Sicherheit, ihr freies, fröhliches Wesen, sie war eben sie selber, ein nettes junges Ding, von dem die Eltern ihrer Freundinnen sagten: „Die kleine Jessen ist wirklich ein reizendes junges Mädchen.“ Und die Jungens tanzten genausoviel mit ihr wie mit den anderen. Pony war auch bei den Freundinnen beliebt. „Pony fragt einen nie aus“, sagte Margret, „und ihre Eltern tun das auch nicht.“ „Pony ist ein pfundiger Kamerad“, sagten Daisy und Pansy. „Ponys Mutter ist die netteste Mutter, die ich kenne“, sagte Berit mit einem kleinen Seufzer. „Denk mal, so einen Vater zu haben wie Pony“, sagte Erika und es lag Sehnsucht in ihrer Stimme. Nicht, daß Ponys Dasein von Schwierigkeiten frei gewesen wäre. Es war nicht zu vermeiden, daß die auftauchten. Pony hatte eine so
unbändige Lust, Tennis zu spielen, so wie Ursula, oder in Tanzstunden zu gehen wie Berit und Stella, oder zu reiten wie Daisy und Pansy. Oder auch Auto zu fahren wie Erika – sie solle im Mai ihren Führerschein machen, erzählte sie froh, sobald sie achtzehn war. Erika war die älteste in der Klasse. Aber all das kostete Geld, und Pony dachte gar nicht daran, ihre Eltern darum zu bitten. Für Reiten und Tennis und zum Autofahren reichten Herrn Jessens Einkünfte nicht, selbst wenn er es jetzt in pekuniärer Hinsicht leichter hatte. Pony lächelte beim Gedanken an den Tag, da Vater den Brief von einer großen technischen Zeitschrift bekam. Einer seiner Artikel hatte ziemliches Aufsehen erweckt und war auch in mehrere Sprachen übersetzt worden. Daraufhin wurde ihm eine Stellung als fester Mitarbeiter angeboten. „Was wirst du denn mit all dem Geld machen, Vati?“ fragte Pony. Der Vater lächelte. „Ja, das will ich dir genau sagen, junge Dame. Das Wichtigste sind zunächst einmal die Sommerferien! Für dich und mich, aber vor allem für Mutti. Ferien in einem Hochgebirgsgasthof, wo ich wie ein normaler Mensch frei atmen kann, und wo es Mutti mal vergönnt ist, sich an einen gedeckten Tisch zu setzen, ohne einen Finger zu rühren. Bist du damit einverstanden?“ „Na, und ob ich damit einverstanden bin!“ rief Pony. „Und du sollst auch mal ordentliche Ferien haben“, fuhr der Vater fort. „Du warst die letzten Monate sehr brav, Pony. Wenn du auf der Schule so weitermachst, verdienst du richtige Ferien.“ „Erika hat von einer Radtour die Küste entlang gesprochen“, sagte Pony. „Großartig. Ist es nicht gut, daß wir Geld auf der Bank haben für alles, was du unterwegs brauchst? Taschengeld und Geld zum Übernachten und …“ „Und einen neuen Badeanzug“, bat Pony. „Nun, wir werden sehen. Aber die Hauptsache sind jedenfalls die Sommerferien. Einverstanden?“ Ja, Pony war einverstanden. Sommerferien, dachte Pony, obgleich sie sich jetzt brennend ein Paar neue, moderne Schuhe wünschte. Sommerferien dachte sie, und sagte nichts von einem neuen Regenmantel, den sie eigentlich gebraucht hätte. Sommerferien, dachte Pony und stopfte ihre Handschuhe, statt
um Geld für ein Paar neue zu bitten. Es war ja noch ein Glück, daß diese gesegneten Schulkittel sie, was Kleidung betraf, mit ihren Klassenkameradinnen auf gleichen Fuß gestellt hatten. Die Zeit verging. Ostern stand vor der Tür. Die anderen aus der Klasse fuhren ins Gebirge. Alle, nur Pony nicht. Pony war auch nur ein Mensch. Ein kleines Menschenkind von knapp siebzehn Jahren. Und ihr Herz brannte vor Sehnsucht, wenn sie an weiße Gebirgshänge dachte, an Hüttenleben, an überfüllte Osterzüge und fröhliche Ferienstimmung. Die anderen würden alle sonnenverbrannt zurückkommen und von ihren Ferienerlebnissen erzählen, während sie selbst… nun ja, das war wieder einer der Fälle, wo es eben doch schwierig war, Pony zu sein! „Ich muß mit dir reden“, sagte Erika am Morgen in der ersten Pause. Sie hakte sich bei Pony ein und zog sie in eine Ecke des Schulhofes. „Mutti läßt dich fragen, ob du Lust hast, Ostern mit uns ins Gebirge zu fahren.“ Ponys Herz überschlug sich beinahe. „Oh, Erika… nein, hör mal… spinnst du? Erika!“ „Eigentlich wollten wir in ein Hotel“, erklärte Erika. „Wir hatten schon Zimmer bestellt. Aber dann wurden wir von meiner Taufpatin eingeladen. Sie hat eine Hütte im Gebirge. Sie telefonierte gestern und lud uns ein. Dabei sagte sie, wenn ich eine Freundin mitbringen wollte, wäre das sehr nett…“ „Und da hast du mich gewählt“, rief Pony. „Klar, wen sollte ich sonst aussuchen?“ sagte Erika. „Das ist also eine Einladung. Du brauchst nichts anderes zu bezahlen als die Fahrt, und die ist nicht teuer. Du kommst doch mit?“ „Nächstens fragst du mich noch, ob ich in den siebenten Himmel mitkommen will“, lachte Pony. „Ach Erika, ich bin so glücklich! Du bist die Allerbeste!“ „Du auch“, lachte Erika. Pony begriff nicht, wie sie es schaffte, an diesem Schultag wenigstens etwas aufmerksam zu sein. Nach Schluß rannte sie schleunigst heim, um den Eltern alles brühwarm zu berichten. Wie die sich mit ihr freuen würden. „Mutti, jetzt hör mal zu… Aber was ist denn hier los?“ Pony blieb der Mund vor Erstaunen offenstehen. Überall im Zimmer lagen Kleider herum. Muttis graues Kostüm, die beiden Pullis, ein Rock und auch das gute Kleid, daneben etwas Wäsche. „Nicht wahr, jetzt fällst du beinahe vom Stengel?“ lachte die
Mutter. „Kannst du dir gar nicht vorstellen, was hier los ist? Ich werde verreisen!“ „Ver… verreisen? Ja, wohin denn?“ „Nach Mjölfjell zu Tante Luise.“ „Zu Tante Luise?“ „Ja, heute morgen bekam ich einen Brief von ihr. Sie will zu Ostern ein paar von unseren alten Klassenkameradinnen zusammentrommeln. Vati freut sich wie ein Kind für mich. Er behauptet, daß er sich mit dir zusammen eine Woche lang behelfen kann. Ach, Pony, du lachst bestimmt über deine alte Mutter. Aber weißt du, ich freue mich ganz schrecklich. Und borgst du mir vielleicht deine Skihosen und deine Skistiefel? Ich ahne freilich nicht, ob ich überhaupt noch auf den Skiern stehen kann. Ich bin ja zwanzig Jahre lang nicht mehr gelaufen.“ Mutti war auf einmal um zehn Jahre jünger. Ihre Augen leuchteten froh und jung, ihr Gesicht strahlte. Pony schluckte. Sie ging zur Mutter, legte ihr den Arm um den Hals und versteckte ihr Gesicht. „Wie schön für dich, und du… brauchst es sicher.“ Frau Jessen lächelte ein wenig. „Das stimmt allerdings. Vati behauptet, ich sei schon während der letzten zehn Jahre reif für Ferien gewesen. Ponylein, übernimmst du es also, für Vati zu sorgen? Vor allem gut staubzuwischen? Ich werde für die ganze Zeit einkaufen und euch eine Speisekarte aufstellen. Findest du es sehr schlimm, daß ich euch so im Stich lasse?“ „Nein, Mutti“, sagte Pony leise, „das fehlte ja gerade noch“, fügte sie hinzu. Damit ging sie zur Tür. Sie mußte fort, Mutti durfte ihr Gesicht nicht sehen. Sie mußte erst diesen schrecklichen Klumpen im Hals los werden. „Wo willst du denn hin, Pony?“ „Auf den Boden die Skihose und die Stiefel holen.“ „Aber Liebes, so eilt es doch nicht. Ich wollte nur schon meine Kleider nachsehen, ob nicht etwas davon zur Reinigung muß.“ „Vielleicht muß die Skihose auch gereinigt werden“, sagte Pony, und dann konnte sie endlich die Tür hinter sich schließen. Sie schluckte krampfhaft, als sie die Treppe hinaufstieg. Sie biß sich in die Lippen, und sie fühlte, wie ihr Kinn zitterte. Oben auf dem Boden konnte sie niemand hören. Und jetzt ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Die Enttäuschung brannte in ihr. Noch
nie in ihrem Leben hatte sie sich auf etwas so gefreut wie auf diese Ostertour, und nun… Aber das konnte sie Mutti natürlich nicht sagen. Durfte sie nicht sagen. Mutti war zweiundvierzig, sie selbst noch nicht ganz siebzehn. Sie hatte noch viele Möglichkeiten in der Zukunft, Osterferien zu machen. Ja, Ponys Überlegungen waren so richtig und logisch. Sie sagte sich selbst, wie schön es war, daß Mutti diese Ferien bekam. Und trotzdem flossen und flossen die Tränen, während sie halb blind nach der Skihose kramte. Über eins war sie sich klar: Sie durfte Mutti niemals erzählen, daß sie selbst auf Ostertour im Gebirge hätte sein sollen. Denn wenn Mutti dies erfuhr, würde sie gleich Tante Luise absagen. Oder wenn sie sich doch zur Reise überreden ließ, würde sie jeden Tag daran denken, daß Pony ihre Tour der Mutter zuliebe geopfert hatte. Und daß beide wegfuhren und Vati allein ließen, das war ausgeschlossen. Nein, es gab keine Wahl. Wie sagte Vati immer? „In das Unabänderliche muß man sich fügen.“ Ja, dies war eben nicht zu ändern, Mutti sollte ihre Ferien haben. Vor allem mußte Erika sofort Bescheid bekommen. Pony trocknete die Augen und putzte sich die Nase gründlich. Sie mußte mit dieser Enttäuschung fertig werden. Einen Augenblick lang überlegte sie noch, ob sie nicht doch Vati fragen sollte? Nein, nein, damit würde Mutti niemals einverstanden sein. Dann würde sie selbst zu Hause bleiben und Pony auf die Reise schicken. Pony fand die Skihose, nahm die Stiefel von dem Haken, an dem sie seit der letzten Skitour gehangen hatten, und ging ruhig zur Mutter zurück. „Aber Pony, wie siehst du denn aus? Hast du geweint?“ fragte Mutti. „Geweint? Aber nein! Oben auf dem Boden ist mir etwas in die Augen geflogen… deshalb hat es so lange gedauert.“ „Ach ja, das tut weh. Hast du es herausbekommen? Spüle die Augen mit Borwasser. Du findest es im Badezimmerschränkchen.“ Pony ging, kühlte sich die Augen, wusch das Gesicht und kämmte die Haare. Als sie wieder ins Zimmer kam, war sie ganz ruhig. Nun galt es nur, Erika so rasch wie möglich Bescheid zu geben. Sonst kam sie vielleicht angefahren und erzählte von ihrem Reiseplan.
„Du, Mutti, meine Skihose muß wirklich gereinigt werden. Ich laufe schnell und bringe sie weg. Es ist doch noch Zeit bis zum Mittagessen?“ „Ja, wir essen heute etwas später…“ „Fein, je eher ich die Hose hinbringe, desto besser. In der Reinigung haben sie vor Ostern sicher eine Menge zu tun.“ Pony packte die Hose ein und lief rasch zur Tür hinaus, spornstreichs zu Erika. „Na, wo brennt es denn?“ lachte Erika, als sie aufmachte. „Du bist ja ganz außer Atem. Was haben sie zu Hause bei dir gesagt?“ „Erika, hör zu. Ich… ich kann nicht mitkommen!“ „Du kannst nicht? Was für ein Unsinn! Du willst doch nicht sagen, daß deine Eltern es nicht erlauben?“ „Nein, Erika, das ist es nicht. Aber Mutti ist von einer alten Schulfreundin zu einer Ostertour eingeladen worden, und sie freut sich so schrecklich. Ich habe daheim kein Wort von deiner Einladung gesagt, Erika, und ich komme, um dich zu bitten, daß du auch nichts sagst. Denn sonst würde Mutti wahrscheinlich ihre Reise meinetwegen aufgeben, und das darf sie nicht, sie hat es so sehr nötig, mal einige Tage auszuruhen, sie hatte viele Jahre keine Ferien…“ Ponys Worte überstürzten sich, sie war ganz atemlos. „Nein, weißt du!“ sagte Erika. „So wie du dich gefreut hast – und ich habe mich auch gefreut…“ Da wurde Pony mit einemmal ganz ruhig und erklärte: „Verstehst du nicht, Erika, wenn ich fortführe und Mutti daheim bleiben müßte, da würde ich keine Freude an der Tour haben. Ich hätte die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen. Und wenn Mutti von dieser Einladung wüßte und ich sie doch dazu brächte zu reisen, dann würde sie ein schlechtes Gewissen haben. Das ist doch sonnenklar, Erika?“ Erika sah die Freundin ernsthaft an. „Du bist ein feiner Kerl, Pony“, sagte sie leise. Dann fügte sie hinzu: „Im Grunde kann ich es ja gut verstehen. Wenn man solche Eltern hat wie du, ja, dann kann man schon mal ein Opfer für sie bringen.“ „Es ist auch an der Zeit, daß ich das mal tue, nach allem, was sie für mich geopfert haben“, sagte Pony, und jetzt klang ihre Stimme fast wieder froh. Denn während sie mit Erika sprach, die Lage für sie klarstellte, tat sie das auch für sich selbst. „Sag mal, Erika, hast du jemand von dieser Einladung erzählt?
Vielleicht jemand aus der Klasse?“ „Keiner Seele. Das bleibt ein Geheimnis, ich werde es auch Mutti erklären. Klar, daß deine Eltern nichts davon wissen dürfen. Aber – jetzt fällt mir ein, ich habe es Fräulein Bernhard erzählt, als ich sie beim Kaufmann traf.“ „Da muß ich rasch zu ihr hin“, sagte Pony. „Wiederschaun, Erika, wir reden noch drüber.“ Und Pony rannte, so rasch sie konnte, den kleinen Pfad zu Kaufmann Nilsens Haus. Fräulein Bernhard stand in ihrer zierlichen kleinen Puppenküche und schälte Kartoffeln. „Nun, Pony? Was ist denn los?“ Ponys Worte überstürzten sich. „Ja, Sie müssen so gut sein und meinen Eltern nichts davon erzählen, daß ich auf einer Ostertour hätte sein sollen. Das dürfen sie nicht wissen, denn Mutti will verreisen und sie freut sich so, und ich soll inzwischen für Vati sorgen – ja, das war alles. Versprechen Sie, daß Sie keiner Seele erzählen werden, daß Erika mich eingeladen hatte!“ „Stop, Pony, stop! Laß mich wiederholen, habe ich dich richtig verstanden? Deine Mutter soll verreisen und du sollst inzwischen deinen Vater versorgen, darum hast du Erikas Einladung ausgeschlagen, und deine Eltern sollen nicht wissen, daß du diese Chance hattest, ins Gebirge zu fahren. War es so?“ „Ja, genau. Ich muß laufen, Fräulein Bernhard, entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich hatte solche Angst, daß Sie zufällig Mutti oder Vati treffen und ihnen erzählen könnten…“ „Ich verstehe. Mein Mund ist mit sieben Siegeln verschlossen.“ „Ja, dann laufe ich. Sonst begreift Mutti nicht, wo ich geblieben bin.“ Plötzlich legte Fräulein Bernhard die Arme um Pony und drückte sie zärtlich an sich. „Ich mag dich so schrecklich gern, Pony“, sagte Fräulein Bernhard. „Und in diesem Falle bewundere ich dich, um es geradeheraus zu sagen. So, und jetzt lauf heim.“ In Ponys Heim bedeutete eine Reise eine kolossale Angelegenheit. Es war nicht so wie bei Berit, wo es plötzlich hieß: „Mutti und Vati sind zu einem internationalen Tanzturnier nach Holland gereist“, oder wie bei Margret, die mitten zwischen zwei Sätzen sagen konnte: „Vater ist gestern nach England geflogen.“ Oder Stella, die ganz zufällig erwähnen konnte: „Nein, Mutter ist
nicht zu Hause, die ist auf einem Frauenkongreß in Paris.“ Eine Reise nach Mjöllfjell war ein viel größeres Ereignis in Ponys Heim als eine Parisreise bei Stella. Pony hatte den Kloß in ihrem Hals geschluckt. Tapfer fing sie an, ihrer Mutter zu helfen. Sie scherzte mit ihr und sie neckte sie, und machte Unsinn mit Vati, sagte ihm, er würde über Ostern von Würstchen mit Kartoffelsalat leben müssen, denn das wäre das einzige, was sie kochen könnte. Dann kam der Tag der Abreise für Mutti, und sie fuhr in einem überfüllten Osterzug davon, und Pony stand am Bahnhof und winkte, winkte… Der Kloß im Halse drohte wiederzukommen, aber Pony schluckte ihn energisch hinunter und kehrte nach Bukkeberg zurück, zu ihren häuslichen Pflichten.
Wie in einem Märchen In Bukkeberg war es still und wie ausgestorben. Die Häuser lagen verlassen da, mit zugezogenen Vorhängen. Die Wege waren leer. Zwei Drittel aller Bukkeberger waren auf Osterfahrt. Zu Hause im Föhrenweg 44 arbeitete und pusselte Pony nach besten Kräften. Der Staubsauger brummte jeden Tag eine volle Stunde, die Kaninchen und Hühner wurden regelmäßig versorgt. Und das Essen, das Pony fabrizierte, war durchaus so, daß man es essen konnte, ja, es schmeckte sogar ganz gut. Aber meine Güte, es gab doch eine Masse zu tun in einem Haus, dachte Pony, wenn sie beim Aufwaschen stand oder mit dem Staubsauger im Haus herumfuhr. Und das tat Mutti nun jahrein, jahraus, jeden einzigen Tag, und dazu hatte sie noch die große Wäsche und Bügeln und Einmachen und Backen – und viele Extraarbeit, wenn die Kaninchen im Herbst geschlachtet wurden! Aber Mutti hatte Übung. Sie war erwachsen. Pony war erst ein unerfahrenes Mädel von siebzehn Jahren. Am Abend saß sie mit Vati beisammen und sie hörten Radio, oder sie plauderten, Vati erzählte von interessanten Sachen, die er gelesen hatte, oder Pony bat ihn, aus seiner Jugend zu berichten, damals, als er das Stipendium bekommen hatte und in die Schweiz gereist war. Er erzählte von der Zeit an der Technischen Hochschule, und von den Reisen, die er kreuz und quer durch die meisten Kantone gemacht hatte. Und Pony besah sich wieder die alten Bilder, auf denen der Vater so fröhlich und jung, dunkelhaarig und gesund aussah. „Sag mal, Vati“, fragte sie eines Abends, „könntest du denn nicht Arbeit in der Schweiz bekommen?“ „Das weiß ich nicht, Pony. Siehst du, wenn ich es jetzt versuchte, so ist es zweifelhaft, ob ich Arbeit bekäme. Wer stellt schon einen Mann von fünfzig Jahren an? Aber gesetzt den Fall, ich bekäme eine Stellung und es zeigte sich dann, daß ich ihr doch nicht gewachsen wäre? Es stimmt schon, damals war ich frisch wie ein Fisch, aber das ist dreißig Jahre her, Pony. Mein Asthma ist ja in diesen Jahren schlimmer geworden. Und ich kann nicht Haus und Heim aufgeben und Frau und Kind mit mir ins Ungewisse nehmen.“ Die Antwort kam so fertig, so durchdacht. Pony verstand.
Darüber hatte der Vater oft nachgedacht, vermutlich auch mit Mutti darüber gesprochen – und verzichtet. Doch jetzt lächelte der Vater. „Aber du weißt, ich kann es jetzt auch in Bukkeberg ganz gut aushalten, und wenn ich neben meiner Pension etwas verdiene, geht es uns ja nicht so schlecht, Pony?“ Pony lächelte froh. „Wir haben es fein, Vati. Und alle meine Klassenfreundinnen beneiden mich, weil ich dich und Mutti habe. Weil ihr so seid, wie ihr seid. Ist es übrigens nicht merkwürdig: Die haben vornehme Häuser und Fernsehen und Filmapparate und Plattenspieler, und kommen doch furchtbar gern her. Denn schließlich ist eins doch gewiß: Luxuriös haben wir es hier nicht.“ Der Vater lächelte. „Luxus haben sie selber. Das ist es nicht, was sie brauchen.“ „Was glaubst du denn, was sie brauchen?“ „Vielleicht Ruhe“, sagte Vati. „Und vielleicht brauchen sie jemand, mit dem sie reden können. Wir leben in einer unruhigen Zeit, Pony, alle Menschen haben es so eilig, die Männer sind mehr oder minder managerkrank und die Frauen sind rastlos. Siehst du, das Schicksal hat es so für mich bestimmt, daß ich mich ruhig verhalten muß – und diese Ruhe ist ab und zu die reine Gottesgabe.“ „Und du hast immer Zeit“, sagte Pony. Sie dachte ein wenig nach, und dann sagte sie: „Weißt du, Vati, wenn ich mir überlege, wird es mir klar, daß du niemals, nicht ein einziges Mal zu mir gesagt hast: ,Ich habe keine Zeit’, wenn ich dich etwas gefragt oder um deine Hilfe gebeten habe.“ „Nun ja, das hast du dem Umstand zu verdanken, daß ich eben nichts zu tun habe.“ „Ja, aber auch früher, Vati, als du noch in Arbeit warst. Da hattest du auch immer Zeit für mich.“ „Wenn man Kinder in die Welt setzt, muß man schließlich auch Zeit für sie haben“, sagte der Vater lächelnd. „Ja, sag das nur den Eltern, die in Europa auf Tanzturnieren herumziehen, oder Müttern, die solche Angst vor dem Altwerden haben, daß ihre Kinder sie nicht Mutter nennen dürfen, oder Mütter, die so wohltätig sind, daß sie vergessen, gegen ihre eigenen Kinder wohltätig zu sein, oder Frauen, die so viel über andere Leute klatschen, daß sie ihre eigenen Kinder vernachlässigen…“ „Na, Pony, jetzt wirst du aber ein bißchen hart. Hast du denn in letzter Zeit so schlimme Erfahrungen gemacht?“
„Ja, besonders bei… bei…“ Pony stotterte ein bißchen. „Vati, hör mal, es bleibt aber unter uns, ja? Ich möchte es nie einem anderen Menschen erzählen! Außer natürlich Mutti, wenn es sich gerade so träfe. Ich denke an Margrets Mutter. Als ich das letzte Mal dort war, fing sie an, mich alles Mögliche auszufragen: nach deiner Krankheit, zu welchem Arzt du gehst, was Mutter für eine Geborene ist… Sie weiß viel mehr über alle Menschen in Bukkeberg als wir, die wir doch immer hier gewohnt haben.“ „Und was hast du ihr geantwortet?“ „So wenig wie möglich. Ich hatte nur eine fürchterliche Wut. Meist habe ich gesagt, das wisse ich nicht oder das ahne ich nicht. Zum Schluß, als sie mich über deine Einkünfte ausquetschen wollte, da habe ich gesagt: Leider hat mein Vater versäumt, mir die nötigen Auskünfte zu geben, aber ich werde sie einholen, damit ich Ihnen das nächste Mal damit dienen kann.“ Herr Jessen schmunzelte. „Wo hast du bloß diese Ausdrücke her, Pony? Man sollte nicht glauben, daß du erst sechzehn bist!“ „Siebzehn im nächsten Monat, Vati! Und die Ausdrücke habe ich sicher von dir oder aus Büchern. Vergiß außerdem bitte nicht, daß ich für meine norwegischen Aufsätze ,Sehr gut’ bekomme und daß ich sozusagen Expertin in der Behandlung unserer Muttersprache bin.“ „Paß nur auf, daß du vor Größenwahn nicht platzt“, sagte der Vater ruhig. „Wenn ich das Genie bitten dürfte, für meine völlig ungenialen Füße eine Wärmflasche zurechtzumachen…“ „Nein, die Genialität hast du am entgegengesetzten Ende“, lachte Pony und ging hinaus, um die elektrische Kochplatte einzuschalten. Am Gründonnerstag war mit einemmal der Frühling da. Die Sonne goß Licht und Wärme über Bukkeberg. Krokusse und Osterglocken blühten in den Gärten. „Mach einen Spaziergang, Pony“, riet der Vater. „Wir können später essen, damit du ein bißchen frische Luft in die Lungen bekommst.“ „Und du, Vati?“ „Ach, bei mir tut es eine kleine Runde. Mit dir kann ich doch nicht Schritt halten.“ „Ja, aber ich mit dir.“ „Nichts da. Tu, wie ich dir sage. Versorge die Kaninchen und Hühner und dann los! Heute vormittag möchte ich dich nicht mehr sehen.“
Vati hatte gut reden. Ein Spaziergang war nur halb so schön, wenn man keinen Menschen hatte, mit dem man zusammenging. Aber da fiel Pony etwas ein: Hatte Fräulein Bernhard nicht gesagt, daß sie Ostern nicht verreisen wollte? Sie wollte daheimbleiben, faulenzen und sich ausruhen. Pony pflückte die hübschesten Osterglocken ab und ging los. Und dann stand sie vor Fräulein Bernhards Tür und klingelte. Sie lauschte… Da kamen Schritte… Aber sie hörte auch Stimmen. Fräulein Bernhard hatte also Besuch. Ach, wie dumm… „Ja Pony, bist du das! Das ist aber nett. Komm herein.“ „Vielen Dank, ich möchte nicht stören. Ich wollte Ihnen nur diese Blumen bringen. Sie sind aus unserem Garten.“ „Das ist sehr lieb von dir. Aber komm, du mußt wirklich meinen Gast begrüßen. Denk dir, ich habe plötzlich Besuch aus dem Ausland bekommen.“ „Ja, aber ich will nicht stören, Fräulein Bernhard.“ „Ach Unsinn.“ Fräulein Bernhard schob Pony vor sich her in das Zimmer hinein. „Sieh mal, Ellen, dieses lange Laster hier unterrichte ich in Latein, Norwegisch und Englisch. Sie heißt Pony Jessen. Pony, das ist meine Kusine, Frau Valleda.“ Eine hellblonde, schlanke Dame von etwa vierzig Jahren lächelte Pony zu und reichte ihr die Hand. Pony machte einen Knicks. „Sagtest du ,Pony’, Lisa? Sagen Sie mal, Kind, Sie können doch nicht herumlaufen und Pony heißen?“ „Nein, sie heißt eigentlich… liebe Zeit, Pony, wie heißt du eigentlich? Ach ja, Rita. Pony ist ihr Kosename.“ „Sieh mal an. Die gestrenge Lehrerin nennt also ihre Schülerinnen beim Kosenamen.“ Frau Vailedas Augen ruhten auf Ponys Gesicht. Pony lächelte „Wenn Sie aus meinem Vornamen nicht klug werden, gnädige Frau“, sagte sie entschuldigend, „muß ich gestehen, daß ich aus Ihrem Nachnamen nicht klug werde. Ich habe ihn wohl nicht richtig verstanden.“ „Valleda“, wiederholte Fräulein Bernhard deutlich. „Der Name ist nicht so ungewöhnlich, wie er sich anhört. Valleda bedeutet Tal. Meine Kusine heißt also ganz schlicht Frau Tal, wenn man es übersetzt.“ „Ach so“, sagte Pony, „das ist wahrscheinlich das gleiche Wort wie englisch valley? Aber Valleda, ist das vielleicht italienisch? Es klingt so, als ob es vom Latein abstammte.“
„Nein, lateinisch nicht, aber ladinisch“, sagte Frau Valleda. „Für Nordländer ist das eine sehr schwere Sprache.“ „Ladinisch?“ fragte Pony eifrig weiter, „ist das nicht das gleiche wie rhätoromanisch?“ „Gut, ausgezeichnet, Pony, eins ‘rauf!“ „Muntanella, Vuolp, Chavriöl“, zählte Pony munter auf. „Das ist alles, was ich auf rhätoromanisch kann.“ „Lauter Tiernamen“, lachte Frau Valleda. „Murmeltier, Fuchs und Reh. Verzeihen Sie die neugierige Frage: Aber wo in aller Welt haben Sie denn rhätoromanisch gelernt?“ „Gelernt ist übertrieben. Mein Vater kann etwa zehn rhätische Wörter und das war eine kleine Auswahl davon.“ „Ach richtig, dein Vater war doch in seiner Jugend in der Schweiz“, sagte Fräulein Bernhard. „Ja, er hat dort studiert, an der Technischen Hochschule in Zürich.“ „Mein Mann auch“, sagte Frau Valleda, „ist Ihr Vater Ingenieur?“ „Ja“, sagte Pony. „Du kannst ja damit beginnen, diese drei Worte zu lernen, Lisa“, lachte Frau Valleda. „Dann verstehst du doch wenigstens etwas, wenn du zu uns kommst.“ „Ja, denke nur, Pony, ich fahre im Sommer in die Schweiz“, erzählte Fräulein Bernhard. „Meine Kusine hat mich eben eingeladen, bin ich nicht ein Glückspilz?“ „Na und ob“, sagte Pony und sah plötzlich ganz sehnsüchtig aus. „Wohnen Sie in der Schweiz, Frau Valleda?“ „Ja, mitten im Engadin. In einem Dorf, dessen Namen auszusprechen Sie nie im Leben lernen werden. Mit Rehen und Murmeltieren vor der Haustür sozusagen. Mit zahmen Eichhörnchen im Garten und mit Gemsen auf den nächsten Berggipfeln.“ „Oh!“ sagte Pony. „Ellen, zeige Pony doch deine Bilder“, sagte Fräulein Bernhard. Bereitwillig erhob sich Frau Valleda und holte einen dicken Umschlag aus dem Nebenzimmer. Da bekam Pony Bilder von hohen Berggipfeln zu sehen, von dem Haus, in dem die Valledas wohnten, von kleinen Seen und merkwürdigen alten Dörfern, ein paar Bilder von Pontresina und St. Moritz… und das Bild eines jungen Mädchens in einem kleinen Wagen mit einem Esel davor. „Das ist meine Tochter“, sagte Frau Valleda. „Sie heißt Regula,
ist sechzehn Jahre alt und spricht drei Sprachen: Französisch, Deutsch und Rhätisch. Aber glaubt ihr vielleicht, ich kann die Range dazu bringen, Norwegisch zu lernen? Ich möchte doch so gerne, daß sie die Sprache ihrer Mutter versteht. Aber sie sagt, sie wolle lieber Italienisch lernen.“ „Jetzt wird sie es lernen müssen“, lachte Fräulein Bernhard. „Wenn wir beide den ganzen Tag norwegisch reden, wird sie es aus lauter Neugier lernen!“ „Hoffentlich!“ Ein paar Bilder rutschten Frau Valleda aus der Hand. Pony beeilte sich, sie aufzuheben. „So, kleines Fräulein. Jetzt erzählen Sie mir aber mal etwas über meine Kusine. Lernt ihr etwas bei ihr und versteht sie, sich Respekt zu verschaffen?“ Pony lächelte zu der Lehrerin hin. „Fräulein Bernhard lehrt uns eine Menge“, sagte sie, „und außerdem ist sie…“, Pony hielt inne und sah die Lehrerin an. „Fräulein Bernhard, haben Sie nichts in der Küche zu tun? Oder im Bad? Ich habe gewisse Hemmungen, weiterzureden, wenn Sie zuhören.“ „Willst du mich verleumden?“ lachte Fräulein Bernhard. „Gut, ich werde hinausgehen und die Blumen ins Wasser stellen. Das dauert drei Minuten. Mehr Zeit hast du also nicht, um über mich herzuziehen.“ Sie ging lachend aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter sich. „Fräulein Bernhard ist ein wunderbarer Mensch“, sagte Pony eifrig. „Das wissen Sie natürlich noch besser als ich, gnädige Frau. Sie ist als Lehrerin fabelhaft. Sie hält Disziplin und kann trotzdem lachen und vergnügt sein. Wir haben sie alle furchtbar gern.“ „Das hat mich wirklich sehr gefreut“, sagte Frau Valleda. Dann rief sie lachend: „Freie Bahn, Lisa, wir sind fertig.“ „Nun, wie geht es mit dem Haushalt, Pony“, fragte Fräulein Bernhard. „Bekommt dein Vater ein genießbares Essen?“ „Ach ja, Vati ist zum Glück genügsam. Gestern hatten wir Würstchen mit Kartoffelsalat, vorgestern Kartoffelsalat mit Würstchen. Heute essen wir einen vegetarischen Auflauf. Hoffentlich fällt mir etwas als Nachtisch ein. Damit hapert es am meisten.“ „Halt“, sagte Frau Valleda, „heute sollt ihr als Nachtisch einen Gruß aus der Schweiz haben.“ Wieder ging sie ins Nebenzimmer. Man hörte, daß ein Koffer aufgeschlossen wurde. Dann kam Frau Valleda mit zwei Konservendosen zurück.
„Sehen Sie, Pony, ein Gruß aus dem Land der Kühe und der Milch! Eine Dose Mokkacreme und eine Dose Zitronencreme. Beide speisefertig, direkt aus der Dose. Bequem für eine kleine Hausfrau, bitte!“ „Tausend Dank, aber ich kann doch nicht… ich kann doch nicht…“ „Doch, Sie können! Ich habe noch viel mehr mit, nicht wahr, Lisa? Was für eine Creme wollen wir heute zu Mittag essen? Vielleicht Karamel?“ „Dann also herzlichen Dank, Vati wird große Augen machen. Aber jetzt muß ich nach Hause laufen. Vielen Dank, Fräulein Bernhard, und nochmals tausend Dank für die Dosen, Frau Valleda, ich freue mich sehr darüber.“ Als Pony ihr die Hand reichte, sah Frau Valleda das Mädchen aufmerksam an. Das frische Gesicht, die klaren Augen, die fröhliche Stimme gefielen ihr. Sie folgte Pony mit den Augen, als sie zur Tür ging. „Sag einmal, Lisa“, fragte sie, „sind deine Schülerinnen alle so wie diese?“ „Nein, Pony ist schon etwas Besonderes“, antwortete Fräulein Bernhard. „Ein bezauberndes junges Mädchen! Erzähle mir ein wenig von ihr. Der Vater ist also Ingenieur, und weiter? Hat sie keine Mutter?“ „Doch, sogar eine sehr sympathische Mutter“, sagte Fräulein Bernhard und erzählte von Herrn Jessens Krankheit, von dem kleinen, bescheidenen Heim, in dem es so harmonisch und fröhlich zuging. Ihre Stimme klang immer wärmer, als sie von Pony und ihren Eltern erzählte, besonders aber, als sie von Ponys Opfer, von ihrem Verzicht auf die eigene Einladung zugunsten ihrer Mutter berichtete. Für den Rest des Tages war Frau Valleda recht schweigsam. Aber am Abend, als die beiden Kusinen in dem kleinen, gemütlichen Wohnzimmer Tee tranken, sagte sie plötzlich: „Hör mal, Lisa, ich habe den ganzen Tag nachgedacht.“ „Darum warst du auch so besonders still. Ich dachte mir schon, daß dich irgend etwas bedrückt.“ „Bedrückt ist nicht das rechte Wort, im Gegenteil. Hör mal zu: Marco und ich haben oft davon gesprochen, daß Regula recht wenig Beziehungen zu Norwegen hat. Schließlich ist es doch das Geburtsland ihrer Mutter. Deshalb haben wir schon überlegt, ob wir
nicht ein junges norwegisches Mädchen eine Zeit lang zu uns nehmen sollten. Bisher ist es nur bei dem Gedanken geblieben… bis heute.“ „Ich ahne, worauf du hinaus willst“, sagte Fräulein Bernhard. Ihre Augen strahlten und ihre Stimme schwankte ein wenig. „Kurz gesagt“, fuhr Frau Valleda fort, „ich möchte zu dieser Pony gehen, oder vielmehr zu ihrem Vater, und fragen, ob Pony den Sommer über zu uns kommen darf. Sie könnte gemeinsam mit dir reisen. Glaubst du, die Eltern werden damit einverstanden sein? Weißt du, das Mädel hat es mir richtig angetan.“ „Mir auch“, sagte Fräulein Bernhard, „und du könntest mir kaum eine größere Freude machen, als diese, Ellen. Pony ist und bleibt meine Lieblingsschülerin. Sie ist eine tapfere, kleine Seele, die sich ständig mit Schwierigkeiten herumschlagen muß. Deshalb gönne ich ihr eine Freude von ganzem Herzen. Und eine solche Reise würde für sie das reinste Märchen sein.“ „Können wir gleich hingehen, oder ist es zu spät?“ fragte Frau Valleda. „Jetzt, so spät am Abend? Das ist unmöglich. Herr Jessen geht sicher zeitig zu Bett. Bis morgen früh mußt du schon warten.“ „Na gut, aber länger auf keinen Fall“, sagte Frau Valleda. Inzwischen saß Pony zu Hause am Föhrenweg 44 und erzählte dem Vater begeistert von der netten Frau Valleda und den Bildern, die sie gesehen hatte. Und sie stellte mancherlei Fragen, bis der Vater wieder einmal seine Erinnerungen auskramte, die Erinnerungen vom „Land seiner Sehnsucht“, wie er mit einem kleinen, ironischen Lächeln sagte. „Du bist noch jung, Pony“, sagte er, „und ich hoffe, das Leben hält noch viel für dich bereit. Wer weiß, vielleicht kommst du auch einmal hin…“ „Vielleicht…“, sagte Pony, und plötzlich schnellte sie hoch. Du grüne Neune! Sie hatte vergessen, den Hühnerstall zu schließen! Pony arbeitete mit dem Staubsauger im Schlafzimmer. Sie saugte Vaters Matratzen, alle Kissen, sie saugte in den Ecken und unter den Möbeln. Feiertag oder nicht, der Staub mußte weg, vor allem da, wo Vater schlief. Der Staubsauger brummte und Pony hörte nicht, daß es klingelte und daß Vater die Tür öffnete. Auch daß im Zimmer unten gesprochen wurde, hörte sie nicht eher, als bis sie nach einer halben Stunde den Staubsauger abstellte. Dann aber stand sie und lauschte.
Hatte Vati denn Besuch? Sie riß sich die Schürze ab, strich sich über die Haare und lief rasch hinunter. „Ja, aber…“, sagte sie. Drei lächelnde Gesichter drehten sich zu ihr um. Hätte Pony ihren Vater ein wenig genauer angesehen, dann würde sie das kleine Zittern in seinen Mundwinkeln bemerkt haben. Auch daß sein Lächeln etwas wunderlich war. „Ja, du schuftest und rackerst dich ab und ich sitze hier in der nettesten Gesellschaft“, sagte der Vater lächelnd. „Aber setz dich zu uns, Pony, Frau Valleda möchte dir etwas sagen.“ „Mir?“ fragte Pony verwundert. „Ich denke, Ihre Lehrerin sagt es lieber!“, sagte Frau Valleda. Fräulein Bernhard sah Pony liebevoll an. „Verträgst du wohl einen Schock oder muß man dich schonend vorbereiten?“ „Was… was ist es denn? Etwas Schlimmes?“ „Aber nein, Pony, ganz im Gegenteil. Setz dich hin. Ich will dir alles mit ein paar Worten sagen. Dein Vater hat sich gerade einverstanden erklärt, daß du im Sommer mit mir ins Engadin reisen darfst und zwei Monate mit mir zusammen bei Valledas wohnst. So, das ist es.“ Pony riß die Augen auf, sie schnappte nach Luft, und dann rannen ihr die Tränen über die Wangen. Sie konnte es nicht ändern, sie ließen sich nicht aufhalten. Aber sie lächelte durch die Tränen, sie versuchte zu sprechen, doch es dauerte eine Weile, ehe sie die Worte hervorbrachte: „Das – das ist zu schön, um wahr zu sein! Ach bitte, zwickt mich doch in den Arm, recht hart, Fräulein Bernhard. Ist das denn wirklich wahr? Ich soll – ich soll – in die Schweiz kommen – in zwei und einem halben Monat?“ Frau Valleda nahm ihr Taschentuch heraus. Jetzt war sie an der Reihe, sich die Augen zu trocknen. Sie war selbst Mutter eines Mädchens in Ponys Alter. Und diese übergroße Freude, dieses unfaßbare Glück, das Pony zum Weinen brachte, das ging ihr direkt in ihr Mutterherz. „Es ist absolut wahr, Pony“, versicherte sie. „Sie machen uns damit eine große Freude, und erweisen uns einen großen Dienst. Denn der Umgang mit Ihnen wird eine Verbindung zwischen Regula und Norwegen schaffen.“ „Ja, aber ich – ausgerechnet ich! Warum haben Sie denn mich von all den vielen tausend jungen Mädchen in Norwegen
ausgewählt?“ „Ja, darüber können Sie ein bißchen nachdenken“, sagte Frau Valleda lächelnd. „Aber um es ganz einfach zu sagen, es ist, weil ich Sie gern mag.“ Pony wandte sich an den Vater. „Also Vati, du meinst, daß…“ „Ja, Pony, darauf kannst du dich verlassen, ich meine, daß… Erinnerst du dich, daß wir gestern abend davon gesprochen haben? Daß ich sagte, du würdest vielleicht auch einmal in deinem Leben in die Schweiz kommen?“ „Ja, Vati. Aber hätte mir jemand erzählt, daß vierzehn Stunden darauf so eine Reise abgemacht werden würde, da hätte ich gesagt, das ist Schwindel.“ Frau Valleda stand auf. „Es wird Zeit, mich zu verabschieden, Herr Jessen, ich muß heim und packen.“ „Sie wollen schon abreisen, gnädige Frau? Wie schade! Ich hatte gehofft, Sie würden länger bleiben, so daß auch meine Frau Gelegenheit gehabt hätte, Sie zu begrüßen.“ „Vielleicht auf dem Rückweg, Herr Jessen. Ich fahre nämlich zur Hochzeit meiner Schwester, ganz oben in Österdalen, sie heiratet morgen. Aber es ist möglich, daß ich auf dem Rückweg einen Tag oder zwei bei meiner Kusine bleibe. Und es wäre natürlich sehr nett, Ihre Gattin kennenzulernen.“ „Da will ich Ihnen eine recht gute Reise wünschen, gnädige Frau, und Ihnen von Herzen danken. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen können, was Sie für mein Mädel getan haben.“ „Dann sage ich also nicht Lebewohl, sondern auf Wiedersehen“, sagte Frau Valleda lächelnd. Herr Jessen reichte ihr die Hand und sagte verschmitzt lächelnd: „A bun ans vair!“ „Das war aber der letzte Ausdruck, den Vater auf rhätisch kann“, sagte Pony, und ihr Gesicht war ein einziges Lächeln.
Sorgen und Freuden lösen sich ab Dann war Ostern vorbei und die Lateinklasse war wieder versammelt. Die Mädchen hatten sonnverbrannte Gesichter und viele Erlebnisse von ihren Ostertouren zu erzählen. Aber am meisten strahlte Pony, obwohl sie von keiner Ostertour berichten konnte. Sie lachte und trällerte, war fröhlich wie eine Lerche, und voller Spaß und Schelmerei. Lächelnd hatte sie den Eltern von Erikas Einladung erzählt und von ihrem Verzicht. „Es ist besser, ich erzähle es euch“, erklärte sie, „das ist doch angenehmer, als immer herumzugehen und aufzupassen, daß ich mich nicht verschnappe. Und ihr braucht mich nicht im geringsten zu bedauern. Wäre ich Ostern nicht daheim gewesen, hätte ich Frau Valleda nicht getroffen, und da wäre – “ „Stimmt alles“, sagte die Mutter, „aber das wußtest du nicht, als du deine Osterferien meinetwegen opfertest. Das werde ich dir nie vergessen, mein Kind!“ „Und ich werde es euch nie vergessen, daß ihr nun das Geld für meine Reise in die Schweiz zusammenkratzt“, sagte Pony. „Du weißt doch, daß wir eine Ferienkasse haben“, sagte Vati. „Und es dreht sich ja nur um die Reise, den Aufenthalt hast du kostenlos.“ Die Tage vergingen und Pony schmiedete Pläne. Eines Tages kam ein Brief an sie von Regula. Ein richtig netter kleiner Brief, in deutscher Sprache. Pony setzte sich, mit Grammatik und Wörterbuch bewaffnet, hin und schrieb einen beinahe fehlerfreien Brief als Antwort. Sie schrieb, daß sie sich schrecklich auf die Reise freue, die Tage zähle und Striche im Kalender mache. Und sie fragte, ob Regula noch den kleinen Esel habe, mit dem sie geknipst worden sei? Und ob sie ihr Rad mitbringen solle? Sie las alles, was ihr Vater an Reisebeschreibungen über die Schweiz besaß, und zum fünfzigsten Male besah sie sich seine Bilder. Aber dieses Mal sah sie die Bilder mit neuen Augen, jungen, glücklichen Augen. Doch tief in ihr saß eine kleine Angst, sobald sie an die Reise dachte: Wenn nur nichts dazwischen käme und kein Schatten auf ihre Freude fiele! Als dann doch ein Schatten fiel, geschah das auf eine gänzlich
unvermutete Art. „Pony, springe doch eben mal zu Fräulein Langeby hinüber und bringe ihr diese Eier“, bat Mutter. Fräulein Langeby hatte versprochen, sich der Kaninchen und Hühner anzunehmen, wenn Jessens im Sommer verreisten. Zum Dank dafür bekam sie nun jede Woche ein Körbchen mit Eiern. Jessens und Fräulein Langeby waren durch all die Jahre Nachbarn gewesen und standen miteinander auf sehr gutem Fuß, wenn sie auch keinen täglichen Verkehr pflegten. Pony lief also zu ihr hin. Fräulein Langeby war nicht so sanft und vergnügt wie sonst. Sie hatte eine Falte zwischen den Brauen und sah vergrämt aus. „Sind Sie nicht wohl, Fräulein Langeby“, fragte Pony teilnehmend. „Doch, Pony, gesund bin ich schon. Aber alle Menschen haben ja Sorgen, und ich habe die meinen.“ „Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte Pony. „Danke, liebes Kind, das kannst du wohl nicht.“ Plötzlich hielt Fräulein Langeby inne und sah Pony forschend an. „Sag mal, du gehst doch in dieselbe Klasse wie Margret Petersen, nicht wahr?“ „Doch“, sagte Pony, „sie ist eine Freundin von mir.“ „Bist du auch schon bei ihr daheim gewesen?“ „Ja“, sagte Pony, und jetzt überfiel sie ein unbehagliches Gefühl. Sie erinnerte sich plötzlich an den Klatsch, den sie dort sehr gegen ihren Willen über Fräulein Langeby und ihren Neffen gehört hatte, diesen boshaften Klatsch, von Margrets Mutter. „Pony, beantworte mir bitte eine Frage ehrlich: Hast du jemals häßliche Gerüchte über mich und meinen Neffen gehört?“ „Über Sie nicht, Fräulein Langeby“, versicherte Pony eifrig. „Also über meinen Neffen. Komm bitte einmal mit herein. Hör zu, Pony. Ich habe einen Neffen, der vor einigen Jahren nach Australien ausgewandert ist. Er war immer etwas wankelmütig und schwierig. Seine Eltern wußten nicht recht, was aus ihm werden sollte. Er war ein Sorgenkind. Aber er hat nie in seinem Leben etwas Unehrenhaftes getan. Nachdem er in Australien auf eine große Schaffarm gekommen ist, hat er sich sehr gut angelassen. Aber Pony, jetzt komme ich auf das, womit du mir helfen kannst. Ich kenne niemand anderen als dich, der eine Verbindung zur Familie Petersen hat. Ich frage dich, und ich bitte dich, antworte mir ehrlich: Hast du
das abscheuliche Gerücht gehört, daß mein Neffe eine Wechselfälschung begangen haben soll und ich seine Schulden bezahle?“ Röte schoß Pony in die Wangen, sie biß sich auf die Lippen und antwortete nicht. „Pony, verstehst du nicht, daß du mir antworten mußt? Gestern habe ich von diesem Gerücht gehört, aber du weißt, oder vielleicht weißt du es auch nicht, wie es mit so einem Gerücht geht. Das ist schlüpfrig und aalglatt, Pony. Man versucht es zu fassen, es zu verfolgen, den ursprünglichen Verbreiter ausfindig zu machen, um es niederschlagen, vernichten zu können, aber niemand will zugeben, es weiterverbreitet zu haben. Niemand will klatschen, wie sie sagen, keiner hat den Mut, die Wahrheit zu bekennen, alle wollen den Gerüchtemacher decken, und niemand will dem helfen, der gekränkt worden ist. Willst du mir helfen, Pony? Ist es wahr, daß dieses gemeine Gerücht von Frau Petersen stammt?“ Was sollte Pony sagen? Was in aller Welt sollte sie sagen? Das gute Fräulein Langeby anlügen? Die schreckliche Klatschbase decken, um selbst Unannehmlichkeiten zu entgehen? Oder Fräulein Langeby die Gewißheit verschaffen, die sie brauchte, um die Gerüchtemacherin zu belangen, vielleicht so, daß daraus eine Rechtssache wurde, die Margrets Heim gefährdete? Pony schluckte. „Fräulein Langeby“, sagte sie leise, „wenn ich nun so etwas gehört hätte und Ihnen erzählte, was würden Sie dann tun?“ „Diese Klatschbase wegen Verleumdung verklagen“, sagte Fräulein Langeby verbissen. „Und – und da würde sie wohl bestraft werden. Ihr Name würde in die Zeitungen kommen, und für die Familie wäre das eine große Schande.“ „Stimmt. Aber dafür hätte sie ja nur sich selbst zu danken.“ „Fräulein Langeby, Frau Petersen hat also diese Tochter, wissen Sie. Und die hat es nicht immer so leicht. Ich weiß nicht, was sie tun würde, wenn ihr so etwas zustieße. Sie ist erst siebzehn Jahre, Fräulein Langeby. Und sie hat niemand, an den sie sich wenden könnte, wenn ihr etwas Schlimmes widerführe. Sie hat bloß mich, das weiß ich, denn ich bin es, zu der sie kommt, wenn ihr etwas verquer gegangen ist. Und da sollte ich diejenige sein, die das Unglück in Gang setzt?“ Fräulein Langeby schwieg. Als sie dann wieder sprach, war ihre Stimme ruhiger.
„Ich verstehe, Pony. Es ist eine unangenehme Lage für dich. Übrigens brauchst du nicht auf das zu antworten, was ich dich fragte. Ich bin mir ja klar darüber, daß Frau Petersen etwas Derartiges gesagt haben muß. Jetzt ist die Frage: Soll ich den guten Ruf meines Neffen opfern, um Frau Petersens Tochter zu schonen?“ „Ja“, sagte Pony leise, „so ist es wohl.“ „Pony, waren noch andere dabei, als Frau Petersen das sagte?“ „Nur Margret.“ „So. Wenn also Frau Petersen leugnen sollte, steht dein Wort gegen das ihre.“ „Ja, so ist es. Denn Margrets Wort gilt da ja nicht. Niemand kann wohl verlangen, daß sie gegen ihre Mutter aussagt.“ „Dann bitte ich dich nur um eins, Pony: Solltest du dieses Gerücht wieder einmal hören, dann protestiere, laut und deutlich! Erzähle allen Leuten, daß mein Neffe niemals etwas Kriminelles getan hat. Sage allen, daß dieses Gerücht die gemeinste Lüge ist, die jemals verbreitet wurde. Und nun – ja, nun ist es wohl besser, daß du heimgehst, Pony. Es tut mir leid, daß ich dich mit dieser Sache geplagt habe. Aber ich bin augenblicklich sehr niedergeschlagen, verstehst du?“ „Was – was wollen Sie denn jetzt gegen Frau Petersen unternehmen?“ fragte Pony zögernd. „Ich weiß noch nicht, Pony. Ich tue jedenfalls nichts, das dir Unannehmlichkeiten schaffen könnte. So, lauf jetzt heim, grüß deine Mutter und sage ihr meinen besten Dank für die Eier.“ Pony hatte den Eltern nie etwas von Frau Petersen und ihrer Klatscherei erzählt. Wohl hatte sie dem Vater gegenüber die gräßliche Fragesucht erwähnt, aber nicht die boshaften Gerüchte, die Frau Petersen ausstreute. Jetzt nützte das nichts, die Eltern mußten ihr einen Rat geben. Sie wurde allein mit dieser Sache nicht fertig. Abends am Küchentisch erzählte Pony die ganze Geschichte. „Und ich weiß nicht, was ich nun tun soll“, sagte sie verzagt. „Es ist doch ungerecht. Ich kann es doch nicht ändern, daß Frau Petersen so klatscht…“ „Nein, dafür kannst du nichts“, sagte Vater, „und ich muß zugeben, daß die Lage für dich scheußlich ist. Ich begreife, daß du Fräulein Langeby helfen möchtest, aber auch nicht deine Freundin ins Unglück stürzen willst.“ „Ja, das ist es gerade“, sagte Pony. „Es ist gräßlich, und ich bin
ganz ratlos.“ „Ich auch“, sagte Vater. Er dachte etwas nach. „Nun verhält es sich freilich so: Wenn die Sache auf die Spitze getrieben wird und Frau Petersen leugnet, dann steht dein Wort gegen das ihre. Margret braucht nicht gegen ihre Mutter auszusagen und wird es auch nicht tun. Dann ist man so klug wie zuvor.“ „Und hier in Bukkeberg glauben alle viel mehr Fräulein Langeby als Frau Petersen“, tröstete die Mutter. „Das stimmt schon. Aber den Kern der Sache trifft es nicht. Ich glaube, Pony, in diesem Fall ist es tatsächlich entscheidend, daß keine weiteren Zeugen da waren. Wenn du es aber wieder einmal erlebst, daß die Leute anfangen, Klatschgeschichten vorzubringen, dann unterbrich einfach oder steh auf und geh aus dem Zimmer oder sag gleich: ,Ach wie nett, kennen Sie auch Frau Soundso? Ich will doch gleich erzählen, daß Sie von ihr gesprochen haben. Damit wirst du wahrscheinlich solche Lästermäuler am ehesten schließen.“ „Das hört sich leicht genug an“, sagte Pony, „aber so vorzugehen ist sicherlich schwer.“ „Bestimmt“, sagte der Vater, „sehr schwer ist es. Trotzdem lohnt es sich auf die Dauer. Wenn du den Mut hast, zu zeigen, daß du auf Klatsch nicht hören willst, dann hilfst du deinen Mitmenschen am besten. Dann wird nämlich alle üble Nachrede gleich im Anfang erstickt.“ „Und wie viele Freunde werde ich auf diese Weise verlieren?“ „Nicht einen einzigen von denen, die Freundschaft wirklich wert sind“, sagte der Vater ruhig. Aber diese Geschichte hatte einen Schatten auf Ponys Vorfreude geworfen. Sie grübelte immer wieder, ob sie auch richtig gehandelt hatte. Hätte sie besser sagen sollen: Ja, das war Frau Petersen, ich verbürge mich dafür? Eines Tages war Pony trotz allem froh, daß sie geschwiegen hatte. Margret war nicht in die Schule gekommen. Niemand dachte viel darüber nach. Vielleicht war sie erkältet. Doch am selben Nachmittag klingelte es bei Jessens. Es war die stille Nachmittagsstunde, in der die Eltern gewöhnlich ruhten. Draußen stand Margret mit blassem Gesicht und verweinten Augen, mit roter Nase und heiserer Stimme. „Pony, bitte laß mich hinein ins Haus.“ „Ja, aber natürlich, Margret, komm nur. Ich dachte, du wärest
krank.“ „Krank? Ich wünschte, ich wäre tot.“ „Aber Margret…“ „Pony, ich brauche jemand, mit dem ich reden kann, sonst werde ich verrückt. Zu Ursula konnte ich nicht gehen, sie versteht so etwas nicht, wie du es tust… Pony, du versprichst, mit niemandem darüber zu reden?“ „Aber nein, Margret, das weißt du doch.“ „Pony, es ist so entsetzlich… du ahnst es nicht. Mama ist verklagt worden. Du weißt ja, wie sie herumredet und immer etwas Neues hören will und es dann weitererzählt auf ihre Art. So hat sie ein Gerücht verbreitet. Eine ganz schreckliche Sache, etwas mit Ehrenkränkung…“ Ponys Herz schlug bis zum Hals. „Ist es jemand in Bukkeberg?“ „Nein, in der Stadt. Warst du nicht damals bei mir, als Mama von Frau Nikolai sprach, nicht wahr? Sie hat Mama verklagt, oder ihr Mann.“ Bei allem Mitgefühl für die Freundin fühlte sich Pony doch erleichtert darüber, daß nicht Fräulein Langeby Frau Petersen verklagt hatte. „Stell dir vor, Pony, das kommt doch in die Zeitungen. Mama wird verurteilt, das ist sicher. Ich traue mich nicht mehr unter die Leute! In die Schule auch nicht! Zu Hause mag ich ebensowenig sein. Du kannst dir nicht vorstellen, wie entsetzlich es da ist. Papa nennt Mama eine dumme Klatschbase, Mutter sitzt da und weint. Papa ist in die Stadt gefahren und will heute nicht heimkommen. Er sagt, Mama mache sein Geschäft kaputt…“ Ponys Herz blutete. Arme Margret! Es mußte schrecklich sein, solch eine Mutter zu haben. „Wenn ich nur wüßte, was ich für dich tun könnte, Margret, du tust mir so schrecklich leid.“ „Mir kann niemand helfen, Pony, und ich habe keinen Menschen auf der Welt außer dir.“ „Du hast doch deinen Vater.“ „Ja, Papa ist in Ordnung. Aber er hat immer so viel zu tun. Manchmal sehe ich ihn tagelang nicht.“ „Aber jetzt, Margret, jetzt ist der Augenblick gekommen, wo ihr miteinander sprechen müßt. Tu es, Margret! Ist dein Vater im Büro? Fahr schnell mit der Bahn zu ihm hin und sprich dich aus. Ihr müßt doch jetzt zusammenhalten. Da darf nicht jeder für sich allein
herumgehen und unglücklich sein.“ „Komm mit, Pony.“ „Nein, Margret, das kann ich nicht. Das müßt ihr beide miteinander ausmachen.“ „Ja, aber Pony, ich bringe ja kein Wort heraus. Ich heule bloß…“ Pony überlegte. „Gut, Margret, ich komme mit. Aber sowie ich merke, daß du imstande bist zu reden, haue ich ab, einverstanden?“ Pony schrieb den Eltern einen Zettel. Sie wollte sie nicht aus dem Mittagsschlaf reißen: „Fahre mit Margret in die Stadt. Es handelt sich um eine wichtige Sache, die sie nicht allein erledigen kann. Komme rechtzeitig heim und versorge Kaninchen und Hühner.“ Herrn Petersens Geschäft war schon geschlossen. Aber durch die matte Glasscheibe schimmerte Licht aus dem Privatbüro des Chefs. Margret klopfte an. Sie klopfte noch einmal, und dann legte sie den Mund an das Schlüsselloch. „Papa. Ich bin es. Sei so gut und mache auf.“ Auf dem weichen Teppich drin waren keine Schritte zu hören, aber sie sahen, daß sich ein Schatten bewegte; der Schlüssel wurde umgedreht. Herr Petersen stand in der Tür. „Ach, du bist es“, sagte er, „komm herein.“ Dann entdeckte er Pony. „Na, du auch hier?“ Pony knickste. Sie kannte Margrets Vater nur flüchtig. „Margret bat mich, sie zu begleiten, weil sie… weil sie glaubt, sie könnte nicht sprechen. Sie sagt, sie muß immer gleich weinen.“ „Kommt herein. Hier auf dem Gang könnt ihr ja nicht stehenbleiben und weinen. Margret hat dir wohl erzählt, weshalb sie weint. Es wird ja ohnehin bald überall bekannt sein. Aber warum kommt ihr zu mir? Vielleicht um mich aufzumuntern?“ Pony sah Herrn Petersen ernsthaft an. „Ich wollte gar nicht mitkommen, denn mich geht das ja gar nichts an. Aber Margret hat mich sehr gebeten, mitzukommen. Ich dachte, wenn mir selbst so etwas Schlimmes passierte, da würde ich doch zu meinem Vater gehen. Deshalb gab ich Margret den Rat, das auch zu tun.“ Herr Petersen sah auf einmal nicht mehr so verbissen und hart aus wie vorher. Pony merkte, daß er im Gesicht ganz bleich war. Er wirkte auch sehr müde. „Nun, so etwas Schlimmes wie wir wirst du gewiß noch nicht erlebt haben.“
„Nein“, sagte Pony still. „Aber je schlimmer es ist, desto mehr braucht man einander doch.“ „Du bist ein kluges kleines Mädchen“, sagte Herr Petersen, und etwas wie ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Also trockne deine Augen, Margret, und laß uns sehen, ob wir zusammen einen Weg aus dieser Not finden können.“ „Dann will ich gehen“, sagte Pony. „Tausend Dank, daß du mitgekommen bist“, flüsterte Margret. „Und ich danke dir herzlich, daß du Margret solch gute Freundin bist“, sagte Herr Petersen. „Warte ein bißchen. Ich will nachsehen, ob Jensen noch im Lager ist, er kann dich heimfahren.“ Kurz darauf saß Pony im elegantesten Auto von ganz Bukkeberg und ließ sich vom Lagerverwalter Jensen heimfahren. Aber Pony hatte keine rechte Freude an dieser Fahrt. Sie beneidete Margret kein kleines bißchen mehr, obwohl sie doch in diesem Auto fahren konnte, so oft sie wollte. Am nächsten Tag war Margret wieder in der Schule. Ihr Vater hatte ihr einen Entschuldigungszettel geschrieben. „Pony, jetzt muß ich dir erst erzählen“, sagte sie in der Pause. „Die Sache kommt vor dem Sommer nicht zur Verhandlung. Wir haben also eine… eine Galgenfrist heißt das wohl. Ich werde bis dahin noch hier in die Schule gehen, dann komme ich auf ein Jahr zu einer bekannten Familie nach England. Vielleicht kann ich später an unsere Schule zurück. Allerdings muß ich das eine Jahr nachholen, das weiß ich heute noch nicht so genau.“ „Und dein Vater?“ fragte Pony. „Er meint, er muß eben zeigen, daß er einen Stoß vertragen kann, selbst wenn es ein arger Stoß ist. Und weißt du was, Pony, er war sehr froh, daß ich gestern zu ihm gekommen bin. Er meinte, es sei gut, jemanden zu haben, mit dem er reden konnte.“ „Na also“, sagte Pony erfreut. „Und in fünfzig Jahren ist sowieso alles vergessen“, sagte Margret und versuchte zu lächeln. „Lange vorher“, versicherte Pony. „Die Leute haben an so vieles zu denken, und in den Zeitungen steht so vielerlei, daß sie meistens schon heute vergessen, was sie gestern gelesen haben.“ „Ein Glück ist nur, daß wir Petersen heißen“, sagte Margret mit einem Versuch zu scherzen, „stell dir vor, wir hießen Silberschwanz von Rosenfels oder sowas, dann könnten wir uns mit unserem Namen nirgends mehr sehen lassen.“
„Siehst du, jede Sache hat doch eine gute Seite!“ sagte Pony. Nie zuvor hatte Pony ihr Heim so geliebt wie jetzt. Dieses saubere, ehrliche Heim mit den abgetretenen Fußböden, den verschossenen Tapeten, den unmodernen Möbeln und mit Vater und Mutter, die dieses Heim zum schönsten in der Welt machten!
Sommer 24. Juni, 6.00 Uhr morgens Meine inniggeliebten Eltern! Ihr habt hoffentlich alle Karten bekommen, die ich von unterwegs schickte. Also wißt ihr, daß wir eine gute Reise hatten, einen herrlichen Nachmittag in Kopenhagen und eine wunderbare Stadtrundfahrt in Hamburg. Die haben wir gerade noch geschafft, ehe wir in den Zug nach Zürich steigen mußten. Über die Reise könnte ich sicher einen ganzen Roman schreiben. Aber dazu habe ich keine Zeit. In Zürich waren wir drei Stunden. Ich habe Deine Technische Hochschule gesehen, Vati. Auch die schönen, alten Häuser am Limmatquai entlang. Für mehr hat aber die Zeit nicht gereicht, denn dann gingen wir zum Zug und fuhren weiter nach Süden. Ach, Vati, wie gut kann ich Deine Begeisterung für die Schweiz verstehen! Etwas so Schönes habe ich noch nie gesehen. Du bist sicher auch die Strecke Zürich-Chur-Samedan gefahren? Erinnerst Du Dich, wie der Zug immer höher hinaufklettert? Ob wohl diese imponierenden Viadukte damals schon standen? Die Aussicht wurde immer schöner und die Luft immer leichter. Außerdem wurde es auch wärmer. Fräulein Bernhard stellte fest, daß wir siebenunddreißig Grad im Abteil hatten! Wir haben alles ausgezogen, was man anständigerweise nur ausziehen konnte. Fräulein Bernhard ist reizend zu mir. Sie hat auch gesagt, wir wollten während der Ferien vergessen, daß sie meine Lehrerin ist. Es ist wunderbar, daß wir nun beinahe wie zwei Freundinnen miteinander umgehen. In Samedan mußten wir wieder den Zug wechseln. Und da bekam ich den ersten Eindruck von der rhätischen Sprache. Mit meinem muntanella, voulp, chavriöl hätte ich freilich nicht viel anfangen können. Zum Glück sprechen die Leute hier aber alle möglichen Sprachen. Als ich eine Ansichtskarte in einem Kiosk in Samedan kaufen wollte, verlangte ich sie auf deutsch. Das verstand die Kiosk-Dame ebenso gut, wie sie den Italiener verstand, der neben mir Zigaretten kaufen wollte. Mit einem herzigen kleinen rhätischen Zug sind wir weitergefahren. Eine halbe Stunde später kamen wir an.
Die ganze Familie Valleda war zu unserem Empfang an den Bahnhof gekommen. Herr und Frau Valleda, der Sohn Pepi, Regula… und die Eselin Grigri. Die zog auf einer Karre unsere Koffer zum Haus. Dabei sind es vom Bahnhof nur zwei Minuten. Das Dorf ist winzig klein. Es besteht nur aus einem kleinen Haufen von Häusern, die dicht aneinandergeschmiegt liegen, als wollten sie sich gegenseitig gegen Schneelawinen beschützen. Die Häuser sind alle weißgetüncht, sie glänzen vor Sauberkeit, wie alles in diesem Land. Regula ist reizend. Wir haben uns sofort geduzt. Ich habe auch Herrn und Frau Valleda gebeten, du zu mir zu sagen. Es hört sich so komisch und ungewohnt an, wenn sie Sie zu mir sagen. Regula, oder Regi, wie sie genannt wird, gibt sich große Mühe, richtiges „Schuldeutsch“ zu reden. Weil das auch für sie eine ungewohnte Sprache ist, redet sie langsam und deutlich, so verstehe ich sie gut. Aber mit den Eltern plappert sie in Schweizerdeutsch drauflos, davon verstehe ich kein einziges Wort. Und wenn sie mit Pepi rhätisch plappert, verstehe ich noch weniger. Valledas Haus ist das reinste Wunder. Es ist über zweihundert Jahre alt, weißgetüncht wie alle Häuser hier, und sehr geräumig. In den Zimmern stehen lauter alte geschnitzte Möbel aus schwerem, blankgescheuertem Holz. An den Wänden hängen gewebte Teppiche. Ihr solltet nur den Ofen im Wohnzimmer sehen! Er ist ganz mit Fliesen bedeckt wie ein Schwedenofen, aber fast so groß wie ein Zimmer. Ringsherum geht eine feste Holzbank, auf der man sitzen und seinen Rücken wärmen kann. Regi erzählte mir, daß sie im Winter bis zu dreißig Grad Kälte haben, dann braucht man freilich solche Öfen! Sehr viele Zimmer sind eigentlich gar nicht in dem Haus. Die Wohnstube ist sehr groß, ebenso das Schlafzimmer der Eltern. Pepi hat eine kleine Kammer. Er ist erst zehn Jahre alt. Im Gästezimmer wohnt Fräulein Bernhard, und ich schlafe in Regis Zimmer. Der größte und gemütlichste Raum des ganzen Hauses ist die Küche. Sie hat eine gewölbte, weißgekalkte Decke und einen großen Eßtisch mit geschnitzten Stühlen ringsherum. An einer Wand steht ein riesiges Küchenbüfett mit wundervollen Kupfergefäßen. Der eine Teil der Küche liegt zwei Stufen höher. Dort stehen der Küchentisch, ein elektrischer Herd, der Kühlschrank, ein Küchenmotor und… eine Aufwaschmaschine! Die Waschmaschine steht im Bad. Frau Valleda
erzählte mir, daß es hier ebenso schwer ist, Hilfen für den Haushalt zu bekommen, wie in Norwegen und sonst überall. Deshalb versucht sie, sich so gut wie möglich allein zu behelfen. „Das hier sind meine Haushaltshilfen“, sagte sie und deutete auf all die Maschinen. Genau das gleiche hat früher einmal Erika gesagt. Wir kamen also vorgestern abend an, und es wurde etwas spät, denn wir sollten ja essen und auspacken und plaudern und erzählen. Und als wir endlich zu Bett kamen, konnte ich nicht einschlafen vor lauter Begeisterung über alle neuen Eindrücke. Die halbe Nacht lag ich wach, so daß ich gestern ziemlich müde war. Beim Abendessen hatte ich so schwere Lider, daß ich gleich ins Bett gejagt wurde, mit dem Ergebnis, daß ich heute schon vor halb sechs am Morgen wach wurde, nachdem ich wie ein Stein geschlafen hatte. Und jetzt bin ich so aufgekratzt wie nur was und freue mich schrecklich auf diesen Tag. Regi hat gesagt, daß wir mit Grigri und dem Wägelchen in einen Nachbarort fahren sollen, wo es mehr Geschäfte gibt. Es ist nämlich ihre Aufgabe, die Besorgungen zu machen, ihre und Grigris. Fräulein Bernhard freut sich darauf, in den Bergen herumzusteigen, und das tue ich auch, aber sie sagt, wir wollen ein paar Tage damit warten, bis wir uns an die dünne Luft gewöhnt haben. Das Klima ist ja hier ganz anders. Wir wohnen in 1800 Meter Höhe! Denkt nur, 1800 Meter, beinahe so hoch wie der Gaustadgipfel, wenn ich mich recht erinnere. Herr Valleda hat mich gestern schön ausgelacht. Frau Valleda hatte den Teekessel aufgesetzt und mich gebeten, die Platte auf 1 zu stellen, wenn es zu kochen anfing. Kaum hatte ich mich nur einmal umgedreht, da sprudelte das Wasser schon über den Herd. Ich rief ganz entsetzt: „Solch starker Ofen! Auf dem kocht es ja, ehe man bis drei gezählt hat!“ Da fing Herr Valleda an zu lachen und fragte mich, was wir denn in Norwegen eigentlich für einen Physik-Unterricht hätten. Ich mußte zwei Minuten lang nachdenken, ehe mir der Zusammenhang klar wurde. Hier kocht das Wasser ja schon bei etwas über achtzig Grad! Für Dich wäre das nichts, Mutti, wo Du doch Deinen Kaffee immer glühend heiß haben willst. Hier bekommst Du ihn nicht über neunzig Grad, auch wenn Du ihn Dir viel heißer wünschtest. Vielleicht hat Herr Valleda auch von fünfundachtzig Grad gesprochen, ich weiß es nicht genau. Physik war ja nie meine starke Seite. Gestern haben wir uns erst überall umgesehen, im Haus, dann in
den anderthalb Gassen des Dorfes. Schließlich sind wir ein Stück den Berg hinaufgegangen, am Bach entlang. Ja, hier gibt es einen Bach, der läuft unterhalb vom Haus entlang und macht ziemlichen Lärm. Zum Glück habe ich einen guten Schlaf und er stört mich nicht. An diesem Bach wachsen die schönsten Blumen. Mutti, wenn Du sie sehen könntest, dann wärest Du ganz hingerissen. Ich habe noch nie so leuchtend blaue Glockenblumen gesehen. Glühendrote Alpenrosen gibt es hier und Enzian, strahlendgelbe Arnika, wilden Mohn und Kornblumen. Das alles in achtzehnhundert Meter Höhe! Auch Bäume wachsen hier noch, massenhaft Nadelbäume. Die Baumgrenze liegt wohl bei zweitausend Meter. Ich glaube, jetzt ist Regi aufgewacht. Vor ein paar Minuten habe ich auch Frau Valleda auf dem Gang gehört. Das bedeutet, daß der Tag beginnt. Hoffentlich könnt Ihr mein Geschreibsel lesen. Ihr müßt wissen, daß ich den Brief noch im Bett geschrieben habe. Seid Ihr in Eurer Pension gut untergekommen? Ich hoffe sehr, daß Ihr ein behagliches Zimmer bekommen habt, daß das Essen gut ist und die anderen Gäste angenehm sind. Vor allem aber wünsche ich sehr, daß Dir die Luft gut tut, Vati! Hallo! Eben ertönte ein langgezogenes I-ah aus dem Verschlag, in dem Grigri untergebracht ist. Sie will ihr Frühstück haben. Regi und ich laufen hin! Tausend herzliche Grüße, liebes Muttchen, lieber Vati!, und je ein Küßchen von Eurer Pony.
Gottes eigener Garten 6. Juli, in einem Liegestuhl im Garten Liebste Eltern! Tausend Dank für Euren Brief. Und für die norwegischen Zeitungen. Ich freue mich sehr, daß ihr Euch in Eurer Pension so wohl fühlt, und am allermeisten freut es mich, daß Du so wohlauf bist, Vati. Möge es so bleiben! Ob ihr wohl die Notiz in der Zeitung gesehen habt? Ich meine den Prozeß gegen eine Dame, die lügenhafte und ehrenrührige Beschuldigungen verbreitet hatte. Ja, nun, da es in der Zeitung steht, brauche ich ja nicht länger diskret zu sein, und Ihr habt wohl schon verstanden, daß es sich um Margrets Mutter handelt. Margret tut mir so leid, daß ich heulen könnte. Ich sprach mit Fräulein Bernhard darüber, und sie sagte etwas, das sicher wahr ist. Sie sagte, solche Menschen, die so leer und inhaltslos sind, daß sie diese Leere mit dem Tun und Lassen anderer Menschen ausfüllen müssen, könnten einem eigentlich leid tun. Und wenn ich an Margrets Mutter denke, wie sie zum Fenster stürzen konnte und sagen: „Nein, seht doch, da geht Frau Lövborg. Hat sie nun schon wieder einen neuen Hut. Wo sie das Geld dazu hernimmt“, oder „Nein sowas, wie spät Direktor Hermansen wieder heimkommt, ich möchte bloß wissen, was der den ganzen Nachmittag in der Stadt tut“, wißt ihr, ich fand diese Neugierde so ekelhaft. Und ich verstand immer besser, warum sich Margret bei uns so wohlfühlte. Ich verstehe auch immer besser, daß der Herrgott sehr gütig mit mir war, daß er mich als Euer Kind auf die Welt kommen ließ. So, da habt Ihr es jetzt schriftlich. Der Herrgott war überhaupt sehr gut zu mir, so gut, daß es mich jetzt drängt, Euch zu schreiben. Ich habe sogar „Nein, danke“ gesagt, als Frau Valleda und Fräulein Bernhard mich mit nach St. Moritz nehmen wollten. Ja, wie findet Ihr das? Zu sowas sage ich nein! Aber ich weiß doch, daß St. Moritz mir nicht wegläuft, ich kann ein anderes Mal dahin kommen, und heute mußte ich Euch aber schreiben. Ich bin allein im Haus. Herr Valleda ist im Werk. Habe ich schon erzählt, daß er Leiter des hiesigen Elektrizitätswerkes ist? Außerdem auch Gemeinderatsmitglied? Pepi ist mit unbekanntem Ziel verschwunden, ich glaube, er baut einen Staudamm im Bach zusammen mit dem Sohn des Nachbarn. Regi ist mitgefahren nach St. Moritz. Grigri grast neben mir, und ich habe mich mit einem
dicken Schreibblock bewaffnet, denn ich habe sehr viel zu erzählen, und ich muß es sofort erzählen, solange die Erinnerung noch frisch und lebendig ist. Ihr wißt doch, daß wir nicht weit von dem großen Nationalpark wohnen (auf rhätisch heißt er Parc naziunel; wußtest Du das, Vati?). Und Fräulein Bernhard hat immerzu davon geredet, daß sie eine ordentliche Tour in diesem Nationalpark machen möchte, eine Tour von zwei Tagen. Und das haben wir also gemacht. Vorgestern sind wir am Vormittag mit den Rucksäcken voller Konserven aufgebrochen. Erinnerst Du Dich an den Zitronencreme, Vati? Genau solche Dosen hatten wir mit und eine Menge anderer, das Essen ist in diesem Land unglaublich gut. Ich habe in dieser Woche schon mindestens ein Kilo zugenommen. Wir hatten natürlich auch Brot und Käse und Nachtzeug und Zahnbürste und Fernglas und Kamera und Strickjacken und Strümpfe und Handtücher und Heftpflaster und Seife mit und einen dünnen Gummischlauch. Darüber lachte ich mich fast kaputt; könnt Ihr erraten, wofür der sein sollte? Um damit einen Arm oder ein Bein fest abbinden zu können, falls man von einer Kreuzotter gebissen würde! (Beruhigt Euch, wir hatten keinen Gebrauch dafür.) Wir fuhren mit dem Zug zu einer kleinen Station, die S-canf heißt. Der Bindestrich ist kein Fehler, es wird wirklich so geschrieben. Und von da gingen wir einen ganz bequemen Weg im Zickzack hinauf zu einer Hütte, die Varusch heißt. Da hinterließen wir den größten Teil unseres Gepäcks und marschierten weiter. In einer winzig kleinen Hütte, die Alp Purcher heißt, hielten wir Rast. Fräulein Bernhard hatte einen Spiritusapparat dabei, darauf kochten wir Wasser zum Tee, aus einem Bach mit dem klarsten, reinsten Wasser, das ich je gesehen habe, und dann aßen wir Brot und Käse in richtiger Schweizer Art, ein Stück Brot in der einen Hand und ein Käsedreieck in der anderen. Hierläßt man oft die Butter weg, und das kann ich verstehen, so warm, wie es in der Sonnenglut ist. Wenn wir uns Proviant auf norwegische Art bereitet hätten, mit bestrichenen Broten, würde er bloß zu einer fetten unappetitlichen Masse geworden sein. Wir hatten ein halbes Brot, einige Käsedreiecke, Messer, Tassen und kleine Löffel in der Tasche, und ich kann mich nicht erinnern, daß mir je eine Mahlzeit so gut geschmeckt hätte. Und dann hatten wir das erste spannende Erlebnis. „Siehst du… da drüben rechts von dem Stein?“, flüsterte Fräulein Bernhard
plötzlich und deutete mit dem Brotmesser, „sei still, sprich nicht.“ Ich schaute hin, entdeckte aber nichts anderes als einen Holzstumpf und das flüsterte ich Fräulein Bernhard zu. Da gab sie mir das Fernglas und ich sah – wißt ihr, was es war? Ein richtiges lebendiges Murmeltier, das dalag und sich außerhalb seines Schlupfloches sonnte. Ich wagte fast nicht zu atmen. Daß ich hier saß, mitten in der Schweiz, mitten im Engadin, und ein richtiges, lebendiges Murmeltier sah – ich konnte es fast nicht glauben. Plötzlich bekam es Witterung von uns. Es erhob sich, machte Männchen wie ein gut abgerichtetes Hündchen, ließ ein durchdringendes Pfeifen hören, machte kehrt und glitt wie ein Aal wieder in seine Höhle. Als ich es Regi erzählte, lachte sie nur und sagte: „Ja, das sehen wir doch oft.“ Fräulein Bernhard verstand gut, welches Erlebnis es für mich war. Und es war ja auch ein ebenso großes Erlebnis für sie selbst. Dann gingen wir weiter und kamen nach einer Weile zum Eingang des Nationalparkes. Als ich das erstemal das Wort Nationalpark hörte, dachte ich, es sei ein großer Park mit breiten Wegen, schönem Rasen und Bänken und so weiter. Und wißt ihr, was es ist? Ein großes Stück Schweiz, das unter Naturschutz steht, ganz einfach. Ein Stück Natur mit hohen, hohen Bergen, mit Bäumen und Blumen und Bächen und Tälern – und mit Tieren! Und alles ist geschützt. Man darf keine Blume pflücken, nicht einmal ein Insekt töten. Es ist nicht erlaubt, Feuer zu machen oder ein Zelt aufzuschlagen. Botanisiertrommeln sind verboten, und selbstverständlich vor allem Schießwaffen. Wißt Ihr, ich hatte beinahe ein andächtiges Gefühl, als wir in den Park gingen. Fräulein Bernhard findet immer die richtigen Worte, und sie sagte: „Weißt du, Pony, ich habe das Gefühl, als ob wir jetzt Gottes eigenen Garten betreten.“ Es war ganz still. Die Sonne schien, und um uns war eine Fülle von Blumen. Mehrere Male hörten wir Murmeltiere pfeifen. Und einmal – ja, das war so bezaubernd, daß ich nicht weiß, wie ich es erzählen soll. Wir hatten eine Weile still und schweigsam auf einem Felsblock gesessen und uns ausgeruht. Da rührte sich etwas auf der Bergwand uns gerade gegenüber. Wir sahen abwechselnd durch das Fernglas. Wißt Ihr, was es war: eine ganze Murmeltierfamilie, die in der Sonne außerhalb ihrer Höhle spielte. Drei kleine wollige Murmeltierjunge, eine dicke fette Mutter und ein recht großer Vater,
der aufmerksam herumspähte und aufpaßte. Hast du das auch beobachtet, Vati? Ich habe Murmeltiere zu meinen Lieblingen ernannt. Es sind die lustigsten, putzigsten, muntersten Kobolde. Leider verschwanden sie nach einigen Minuten, sie sind schrecklich scheu. Und wir gingen weiter hinauf durch ein Tal, das Val Trupchun heißt, und alles war so still und wunderbar schön. Wir sahen einige schwarze Eichhörnchen, ja, denkt Euch, die sind wirklich pechschwarz! Und einmal glitt eine dicke, fette Kreuzotter über den Weg – Fräulein Bernhard ist wahrhaftig geistesgegenwärtig. Wißt Ihr, was sie tat? Sie knipste sie! Brrrr! Aber alles war so herrlich, daß selbst eine Kreuzotter es nicht verderben konnte. Wir aßen außerhalb einer verlassenen kleinen Hütte -Alp Trupchun – zu Mittag. (Eine unwahrscheinlich gute Wurst, frisches Weißbrot und die berühmte Zitronencreme.) Und wieder pfiffen Murmeltiere in unserer Nähe, und ich sagte zu Fräulein Bernhard, wenn ich jemals einen Pelzmantel kriegen sollte, so möchte ich nie einen Murmelpelz haben, ich könnte den Gedanken nicht ertragen, daß diese reizenden Tierchen sterben müßten, damit ich mich in einen Pelzmantel hüllen konnte. Da fragte Fräulein Bernhard, ob es besser wäre, an die kleinen Lämmer zu denken, die mir einen Persianermantel verschaffen sollten, oder liebe kleine norwegische Kätzchen für einen Katzenmantel. Schließlich kamen wir überein, wenn man so dächte, könnte man eigentlich nichts anderes tragen als Mäntel aus Kreuzotterhaut. Wir gingen zur Varuschhütte zurück und übernachteten da. Fräulein Bernhard stellte den Wecker auf vier Uhr! Aber obwohl ich mich darauf freute, auf zu sein und „Das Erwachen der Natur“ zu sehen – so nannte es Fräulein Bernhard –, fiel es mir doch sehr schwer aufzustehen, als der blöde Wecker rasselte. Wir schenkten uns das Waschen, putzten bloß die Zähne und warfen unsere schweren Bergstiefel durch das Fenster hinaus. Auf Strümpfen und mit unseren Rucksäcken schlichen wir hinaus und zogen erst draußen die Stiefel an. Wir wollten ja nicht um vier Uhr früh die anderen Hüttenbewohner wecken. Und dann begann die abenteuerliche Wanderung. Und nun möchte ich wünschen, ich könnte sie besser schildern als in noch so guten norwegischen Aufsätzen mit der Note „Vorzüglich“. Ich möchte wünschen, daß ich schreiben könnte, als stammte ich in direkter Linie von Ibsen, Goethe, Shakespeare und Victor Hugo ab.
Aber da meine Abstammung mir keine größere Begabung verschafft hat, als Aufsätze schreiben zu können, so muß ich eben das versuchen. Wir saßen also vor der Hütte und zogen uns die Stiefel an. Es herrschte graue Dämmerung, wie ein leichter Nebelschleier, und alles war still, so still. Nicht einmal ein Vogelpiepen war zu hören. Da raschelte es auf der einen Seite im Busch – und heraus kam – ach, wenn Ihr das nur gesehen hättet! – das entzückendste Reh mit zwei Jungen. Sie hüpften und tanzten, dann blieben sie stehen, die Mutter hatte uns gewittert, da machten sie kehrt und husch-husch waren sie im Wald verschwunden. Wir machten uns auf den Weg, still, ohne zu reden. Wir sprachen nicht, wir versuchten, nicht auf dürre Zweige zu treten – wir wollten ja das Erwachen aller Bewohner von „Gottes eigenem Garten“ sehen. Zuerst erwachte der Garten selbst. Der wunderliche, märchenhafte Nebelschleier löste sich auf und verschwand in einem blaßblauen Nichts. Und hinter den Bergen begann ein Leuchten, zuerst nur eine Ahnung, farblos und fern, dann wurde das Licht stärker, ein goldener Schein leuchtete uns entgegen, und ringsum begann es allmählich zu knistern und zu piepsen. Ein paar Eichhörnchen fuhren wie schwarze Blitze die Baumstämme hinauf, zwei Blaumeisen hielten ein Morgenkonzert ab, und eine kleine graue Maus lief blitzschnell über den Pfad. Und kein Mensch zu sehen. Kein einziger. Hinter den Bergen im Osten wurde das goldene Licht jetzt rot, und wir hielten den Atem an. Es war, als ob wir auf etwas Großes, Wunderbares warteten. Ja, es war groß und wunderbar. Denn wenn die erste schmale Sonnensichel über die schneebedeckten Berge aufsteigt und die ganze Natur einen Augenblick den Atem anzuhalten scheint, dann ist es ein Wunder. Ein Wunder, das wir dummen Menschen verschlafen. Wißt Ihr, was ich in diesem Augenblick dachte? Ich dachte an all die „großen“ Politiker, die den kalten und den heißen Krieg machen, die sich zanken und einander scharfe Noten senden, und die Zeitungen mit Unfrieden und ergebnislosen Konferenzen füllen – die sollte man in „Gottes eigenen Garten“ schicken, hier sollten sie sich treffen, diese Männer von Ost und West, sie sollten still sein und sehen… nur diese wunderbare Welt ansehen, die Gott uns geschenkt hat, und sie sollten verstehen, daß es ihre Pflicht ist, ihren Bestand zu
bewahren, damit sie so herrlich bleiben kann, wie sie erschaffen wurde. Wir fanden einen Bach, und da machten wir unseren Morgenkaffee. Wir saßen still und aßen, während die Sonne über die Berggipfel stieg. Und dann griff Fräulein Bernhard wieder nach dem Fernglas. Hoch oben auf einem Bergkamm stand ein Rudel Gemsen wie Schattenbilder gegen die aufgehende Sonne. Später am Tag, als wir den Abstieg begannen, machten wir einen Abstecher in ein enges Tal, das Val Muschauns heißt. Und dieser Abstecher lohnte sich. Da sahen wir ein Rudel prachtvoller Kronhirsche, und ein Stück weiter entfernt drei Hirschkühe mit ihren Kälbern. Ihr versteht wohl: Die Tiere hier im Nationalpark sind nicht so zahm wie die im Yellowstone-Park, von dem ich gelesen habe. Hier sind keine putzigen Bären, die auf den Hinterbeinen angetrabt kommen und die Tatzen nach Zuckerstückchen ausstrecken. Auch keine Rehe, die ihre Mäuler in unseren Proviantvorrat stecken. Die Tiere hier sind scheu und halten sich weit von den Menschen weg. Aber wenn man Geduld hat und ein gutes Fernglas, kann man sie schon sehen. Und wir hatten beides. Wir waren von schönen Eindrücken so erfüllt, daß wir, als wir zur Varuschhütte zurückkamen, mit den netten Leuten dort fast nicht reden konnten. Wir dankten ihnen, bezahlten und dann wanderten wir nach S-canf hinunter, und eine Stunde darauf waren wir daheim. Diese Tour war das Schönste, das Märchenhafteste, das ich je erlebt habe. Und nur eins nagt mir am Herzen und tut weh: daß Ihr das nicht mit mir gemeinsam erleben konntet. Ach, Vati, wenn wir nun ganz eisern Geld sparten, wenn wir das alle drei ganz ernsthaft täten, könnten wir nicht so viel zusammenkratzen, daß es uns möglich wäre, einmal gemeinsam hierher zu reisen? Ich grüble darüber nach, wie ich selbst etwas Geld verdienen könnte. Sollte es vielleicht möglich sein, wenn ich für Zeitungen schreibe? Alle sagen doch, daß ich gut schreiben kann. Und Vati, vielleicht könnten Deine Artikel in mehrere Sprachen übersetzt werden? Ach, wir müssen, wir müssen einmal zusammen hierherfahren. In „das Land Deiner Sehnsucht“, Vati! Oh, ich Schaf – jetzt heule ich! Tausend herzliche Grüße, liebe Eltern, von Eurer Pony.
Das Land der Sehnsucht Man gewöhnt sich an alles in dieser Welt, auch an das Wunderbare. Und nach drei Wochen hatte sich Pony an ihr wunderbares Dasein gewöhnt. Sie war in St. Moritz gewesen und hatte dieses merkwürdige Dorf angestaunt, das elegant war wie Paris, in dessen Geschäften man alles kaufen konnte, vom Luxusauto bis zu Taschentüchern mit Schweizer Stickerei, mit Hotels, in denen man für 150 Kronen am Tag wohnen konnte, und mit Frisiersalons, in denen es dreißig Kronen kostete, nur das Haar waschen und legen zu lassen. Mit der Schwebebahn war sie zum hohen Piz Nair auf dreitausend Meter hinaufgefahren und hatte das ganze Alpenmassiv vor sich liegen sehen. Sie hatte Schneefinken beobachtet, Eisranunkeln und Enzian gepflückt, sie war in Pontresina gewesen und war im Sessellift über lange steile Berge zur Alp Languard geschwebt. In Pontresina waren sie in der Konditorei mit dem drolligen Namen „Piz Süss“ eingekehrt und hatten das köstlichste Eis gegessen. Pony wußte: Piz heißt Gipfel, die Konditorei also „Süßer Gipfel“. Herr Valleda hatte Pony eine Autotour nach Italien versprochen. Regi lächelte verschmitzt und erzählte von einem Ausflug nach „La Fratta“. Anscheinend wollte sie Pony dort etwas Besonderes zeigen. Was es war, verriet sie noch nicht. An manchen Tagen blieben sie auch zu Hause, faulenzten oder halfen Frau Valleda bei der Arbeit. Pony bekam sogar Grigri manchmal geborgt und machte mit ihr kleine Reittouren in eines der Nachbardörfer. Grigri war ihre ganz besondere Freundin. „Ich bekam sie als Geburtstagsgeschenk vor drei Jahren“, erzählte Regi. „Der armen Grigri ging es sehr schlecht. Ich entdeckte sie in einem Ort in Norditalien. Sie war vor einen viel zu schweren Wagen gespannt worden, wurde geschlagen und mit einer Eisenstange angestachelt. Als ich das sah, ging mir der Hut hoch. Ich stürzte auf den Mann zu, der sie so schlecht behandelte, und schalt ihn in einem Gemisch von Deutsch, Französisch und Rhätisch aus. Mutti mußte mich wegziehen. Aber Vati sprach mit dem Mann in einer Sprache, die der verstand. Vati kann ja Italienisch, und nachher sagte er, der Eseltreiber sei ein ganz vernünftiger, netter Mann. Er hätte nur nie gelernt, daß man auch zu Tieren gut sein sollte. Als Vater ihm einen ordentlichen Preis bot, war er gleich bereit, Grigri
zu verkaufen. So bekam ich die Eselin. Es war gerade eine Woche vor meinem Geburtstag und ich hatte mit ihr mein Geschenk weg. Grigri hat die neuen Skier geschluckt, die Grammophonplatten und die Bücher, die ich mir gewünscht hatte. Aber sie war mir auch viel lieber als die anderen Sachen, und jetzt weiß ich, daß es auf dieser Welt wenigstens einen Esel gibt, der es gut hat. Und findest du nicht, daß Grigri süß ist?“ Ja, allerdings, das gab Pony zu. Grigri war süß, wenn sie zur Küchentür geschlendert kam, zutraulich und vergnügt, und mit den Hufen auf den Treppenstufen kratzte. Sie wußte, daß dies eine Mohrrübe oder eine Brotschnitte einbrachte. Und seit dieses fremde Mädchen gekommen war, die eine Sprache redete, die kein ordentlicher Esel verstand, aber die ihn streichelte und eine so sanfte Stimme hatte, nachdem die gekommen war, wurden Grigris tägliche Zuteilungen an Mohrrüben und Brotschnitten und Zuckerstückchen noch viel größer. „Pony, bist du so nett, den Tisch zu decken?“ fragte Frau Valleda. Gewiß, Pony deckte gern den Tisch. Sie räumte zwei Bücher weg, ein Strickzeug, vier von Pepis kleinen Spielzeugautos und eine technische Zeitschrift. Die Küche war und blieb die Stelle des Hauses, wo sich die Familie am wohlsten fühlte und wo alle mit ihren verschiedenartigsten Beschäftigungen saßen. „Was in aller Welt – “, sagte Pony. „Na“, sagte Ingenieur Valleda, der gerade zur Tür hereinkam, „hast du angefangen, technische Fachblätter zu studieren?“ Valleda sprach auch deutsch mit Pony, ein langsames, etwas mühseliges Hochdeutsch, aber klar und deutlich, und Pony verstand ihn gut. Sie hatte in den letzten Monaten mit großem Eifer Deutsch gelernt. „Nein, aber ich sah zufällig – sehen Sie hier, diesen Artikel hat ja mein Vater geschrieben!“ Valleda nahm ihr das Blatt aus der Hand und blickte Pony an. „Was sagst du da? Dein Vater?“ „Ja, gewiß. Falls es nicht noch einen anderen Ingenieur Rudolf Jessen in Norwegen gibt, der auch Mitarbeiter vom Technischen Wochenblatt ist!“ Pony deutete auf eine Zeile unter dem Titel: „Von Rudolf Jessen, übersetzt aus Teknisk Ukeblad, Norwegen.“ „Jetzt glaube ich aber wirklich – ist das dein Vater, der da oben in dem kleinen Norwegen sitzt und uns Schweizer Ingenieuren
erzählt, wie wir unsere Elektrizitätswerke erweitern sollen? Das ist dein Vater, der in alle möglichen Sprachen übersetzt wird? Ist es die Tochter von Ingenieur Jessen, die in meinem Haus zu beherbergen ich die Ehre habe?“ Das letztere sagte er mit einem Lächeln, und Pony lachte. Es war so herrlich, so unbeschreiblich schön, daß der Vater von seinen Kollegen anerkannt und bewundert wurde. Beim Abendessen war Herr Valleda schweigsam. Als Pony und Regi verschwanden, um Grigri in ihren Stall zu führen, wandte sich Valleda an Lisa Bernhard. „Lisa, jetzt erzähle mir bitte alles, was du von Ingenieur Jessen weißt.“ „Alles was ich weiß? Aber das ist dir doch bekannt, ich habe dir erzählt…“ „Ich wußte doch nicht, daß du von Rudolf Jessen redest, zum Kuckuck! Von dem Mann, den ich zu fassen kriegen möchte; meine Finger jucken förmlich danach. Von dem Mann, dessen Artikel hier Aufsehen erregt haben. Also erzähle jetzt, so ausführlich wie möglich.“ Und Lisa Bernhard erzählte, unterstützt von Frau Valleda. „Und diesen schönen, ruhigen Blick, den er hat“, sagte Frau Valleda. Lisa erzählte von Jessens Krankheit. Daß er mehrere Jahre von einer Pension leben mußte, und sich das kleine Haus in Bukkeberg gebaut hatte, weil dort das Klima bei seiner Krankheit so gut war. „Und er hat in Zürich studiert!“ sagte Frau Valleda. An diesem Abend saßen die drei Erwachsenen noch lange beisammen und sprachen miteinander. Zwei Tage darauf schrieb Pony wieder einen ellenlangen Brief nach Hause, daß der Kugelschreiber heiß wurde. „… und kannst Du es glauben, da stand plötzlich Dein Name in einer Zeitschrift! Und Herr Valleda war sehr interessiert und behauptete, es sei ihm eine Ehre, Deine Tochter als Gast zu haben! Aber jetzt muß ich Euch von gestern erzählen. Regi hatte mir schon ein paarmal angekündigt, daß wir nach La Fratta gehen wollten. Für mich war das chinesisch, das heißt, es war wohl eher rhätisch. Gestern nun sollte Ernst daraus werden. Sie kaufte beim Krämer ein Kilo Bananen und ich fragte, ob wir die alle essen sollen. ,Warte es ab’, antwortete sie. Mehr war nicht aus ihr
herauszubekommen. Wir fuhren mit dem Zug bis nach St. Moritz und von dort mit dem Bus zu einem kleinen Dorf, das den reizenden Namen Silvaplana trägt. Ich bin ja nicht umsonst Lateiner, deshalb weiß ich, daß Silvaplana Waldebene bedeutet. Aber Silvaplana hört sich schöner an. Eine Viertelstunde gingen wir am Ufer eines Sees eine breite Autostraße entlang. Der Silser See war es. Mitten auf der Landstraße hielt Regi plötzlich an. ,Hier müssen wir hinauf’, sagte sie und stieg vor mir her einen Bergpfad hinauf. Er war steinig, unbequem und sehr steil. ,Warum müssen wir denn hier hinauf?’ fragte ich. ,Du wirst mir später dafür dankbar sein’, antwortete Regi lachend. Was blieb mir übrig, als ihr zu folgen? Sie hatte die Kamera um den Hals gehängt. Ich trug die Bananentüte in der Hand. Auf einmal blieb sie stehen. ,Pst’, sagte sie, ,setz dich! Hier kommen sie gewöhnlich.’ ,Wer soll denn kommen?’ fragte ich. ,Da!’ sagte Regi, ,da sind sie schon!’ Und wißt Ihr, was da kam? Murmeltiere! Murmeltiere, so zahm wie Hauskatzen! Sie fraßen Bananenstückchen aus unseren Händen, sie ließen sich streicheln, sie steckten die Schnäuzchen in die Bananentüte und hatten nicht die geringste Angst! Mir blieb der Mund vor Erstaunen offenstehen. Ich glaube, ich werde recht blöd aussehen auf den Schnappschüssen, die Regi von mir machte, während die Murmeltiere aus meiner Hand fraßen. Niemand kann sagen, wann sie so zahm geworden sind. Sicher hat es vor mehreren Murmelgenerationen angefangen. Ihre Höhlen liegen dicht bei der Autostraße, der Hauptverkehrsader vom Engadin nach Italien. Es herrscht hier ein Riesenverkehr. Dadurch sind sie so an Autoverkehr und Lärm gewöhnt worden, daß sie nach und nach ihre Scheu verloren haben. „Wie lange es gedauert hat, bis sie handzahm geworden sind, weiß ich nicht, das weiß wohl überhaupt niemand. Jedenfalls haben diese Schelme entdeckt, daß es sich lohnt. Sie tun sich gütlich an italienischen Pfirsichen, an kanarischen Bananen, französischem Weißbrot und amerikanischen Süßigkeiten. Wer weiß, ob sie nicht auch an norwegischem Ziegenkäse Geschmack finden würden. Sie sind dick, fett und vergnügt und kennen keine Nahrungssorgen. Könnt Ihr Euch denken, wie lustig es war, dazusitzen und diese Tiere zu füttern? Gerade Murmeltiere, diese kleinen, munteren Dinger, in die ich mich vom ersten Augenblick an verliebt habe!
Ihre Pfoten sind genau wie kleine Hände. Sie nehmen die Bananenstückchen vorsichtig mit den Fingern und stecken sie ins Schnäuzchen. Stundenlang könnte ich dasitzen und sie füttern. Eins steht jedenfalls bombenfest: Ehe ich wieder heimfahre, möchte ich noch einmal nach La Fratta. Ach, Vati, denk mal, wenn wir da zusammen sitzen könnten! Als wir zurückwanderten, zeigte Regi mir ein Verkehrsschild, das ich beim Aufstieg übersehen hatte, weil ich nur den wunderschönen Silser See betrachtete. Es war ein dreieckiges Warnschild. Gewöhnlich ist ein Strich darauf oder eine Kurve oder ein Schulkind. Und hier war ein Murmeltier darauf abgebildet! Sicherlich gibt es so etwas nicht ein zweites Mal! Stellt Euch vor, vier Wochen von diesen märchenhaften Ferien sind schon vorüber, und wieder in vier „Wochen sitzen wir alle zusammen am Föhrenweg. Wahrscheinlich muß ich vierzehn Tage hintereinander erzählen, und ich werde mir den Mund fusselig reden. Fräulein Bernhard ruft. Ich soll sie ins Nachbardorf fahren, dort nimmt der Friseur nur sechs Franken für Waschen und Legen. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß ich meine Lehrerin einmal in einem Eselwägelchen zum Friseur fahren würde. Klingt es nicht vollkommen verrückt? Ja, manchmal glaube ich beinahe, daß das alles nur ein Traum ist. Ich muß sausen. Tausend herzliche Grüße Pony.“ Aus den vier Wochen wurden fünf, dann sechs, und dann war nur noch eine Woche übrig, ehe Fräulein Bernhard und Pony wieder nordwärts ziehen mußten. „Wir werden einen Tag früher reisen, als wir eigentlich vorhatten“, sagte Fräulein Bernhard. „Ich lade dich nämlich zu einem Tag Aufenthalt in Basel ein. Dort wollen wir in den Zoo gehen.“ „Oh“, rief Pony, „in meinem Leben habe ich noch keinen Zoo gesehen!“ Damit waren es nur noch sechs Tage bis zur Abreise. „Haben Sie Großreinemachen, Frau Valleda?“ fragte Pony. Frau Valleda wanderte durch den Gang mit dem Arm voller Bettwäsche. „Nein, ich räume nur um“, sagte sie. „Pepi zieht für ein paar Tage
zu uns herein und Fräulein Bernhard in Pepis Zimmer. Wir bekommen nämlich heute abend einen Gast und ich muß das Gastzimmer herrichten.“ „Aha“, sagte Pony. „Endlich ein männlicher Gast“, sagte Frau Valleda, „ein neuer Mann für das Elektrizitätswerk. Sag Pony, könntest du nicht einmal am Bach entlanggehen und ein paar Enziane suchen? Ich möchte doch einen Strauß in das Zimmer stellen.“ Pony lief sofort los und brachte bald einen schönen Strauß aus Enzian und Alpenrosen nach Hause. „Kann ich Ihnen noch mit etwas anderem helfen, Frau Valleda?“ fragte sie. Sie waren beide allein. Fräulein Bernhard und Regi waren mit Grigri beim Einkaufen. „Ja, ich weiß nicht“, sagte Frau Valleda, „ich kann wohl nicht gut verlangen, daß du einen Kuchen bäckst.“ „Aber das kann ich doch“, rief Pony eifrig. „Ich kann Sandkuchen backen, den mache ich zu Vaters Geburtstag immer allein.“ „Großartig“, sagte Frau Valleda, „Eier und Butter findest du im Kühlschrank. Weißt du, wie du die Küchenmaschine bedienen mußt?“ „Ja, Regi hat es mir gezeigt.“ „Die Kuchenformen sind links im Schrank“, rief Frau Valleda. Pony band sich eine Schürze um, holte sich Eier, Butter, Zucker, und sah zu, wie die Maschine in fünf Minuten Butter und Zucker weiß rührte; sie dachte seufzend daran, wie lange sie zu Hause brauchte, um den Sandkuchen zu rühren. „Pony, kommst du wohl mit zur Station?“ fragte Herr Valleda am Abend. „Aber natürlich, gern.“ „Du kannst mit Grigri am besten umgehen. Regi hilft meiner Frau. Also, wenn du so gut sein willst!“ „Sehr gern“, sagte Pony und ging hinaus, um Grigri vor den Kofferkarren zu spannen. Dann stand sie mit Herrn Valleda vor der Station. Grigri war an der Rückseite des kleinen Stationsgebäudes angebunden. Der kleine Lokalzug kam angepufft, die rotweiße Schranke über den Weg wurde geschlossen… und der Zug hielt. „Jetzt mußt du mir helfen, Ausschau zu halten“, sagte Herr Valleda. „Ich kenne den Herrn nicht. Es ist mein neuer Kollege. Ich habe ihn gebeten, eine Nummer der elektrotechnischen Zeitschrift in
der Hand zu halten.“ Nicht viele stiegen aus, eine Frau mit zwei vollen Körben, ein paar junge Mädchen, die in Samedan arbeiteten, und dann noch ein Herr in einem hellen Mantel. „Das muß er sein“, sagte Herr Valleda. Aber Pony preßte beide Hände gegen den Mund. Nein… nein… das konnte nicht wahr sein! Das konnte nicht wahr sein… Doch blitzschnell fiel ihr ein: Dieses geheimnisvolle Lächeln, das sie bei Valledas in letzter Zeit beobachtet hatte, daß ausgerechnet sie und nicht Regi den Gast empfangen sollte – daß Fräulein Bernhard plötzlich nach der Ferienadresse ihrer Eltern gefragt hatte, „falls dir etwas zustoßen sollte, Pony…“. Der Herr im hellen Mantel wandte sich um. Und jetzt rannte Pony den Bahnsteig entlang, riß einen Korb der alten Frau um, stieß gegen eine Obstkiste… und dann hing sie am Hals ihres Vaters.
Pony und ihr Vater Später ahnte Pony nicht mehr, was in den ersten zehn Minuten gesprochen wurde. Sie war ganz benommen vor Freude. Sie ging und hielt ihren Vater bei der Hand, wie sie es als fünfjähriges Kind getan hatte. Sie hörte Herrn Valleda mit Vater reden, in seiner ruhigen, freundlichen Art und seinem deutlichen Hochdeutsch, aber sie kam erst richtig zu sich, als sie mit Vater im Gastzimmer saß. Eigentlich hätte sie ihm beim Auspacken helfen sollen, aber der Koffer stand ungeöffnet da, während Vater und Tochter plauderten. „Wir essen erst in einer halben Stunde“, hatte Frau Valleda gesagt, „Pony muß diese halbe Stunde für ihren Vater haben, damit sie erklärt bekommt, wie alles zusammenhängt.“ Und diese Erklärung kam. Ingenieur Valleda hatte alle Artikel des Vaters gelesen. Sie interessierten ihn lebhaft, weil das Elektrizitätswerk, das er leitete, erweitert werden sollte. Er hatte sich schon mit dem Gedanken getragen, an diesen norwegischen Ingenieur zu schreiben, und ihn zu fragen, ob er es wohl ermöglichen könnte, für einige Wochen als Sachverständiger in die Schweiz zu kommen. Aber er hatte den Gedanken wieder aufgegeben. Ein Mann wie Ingenieur Jessen konnte selbstverständlich nicht einfach sein eigenes Arbeitsfeld verlassen. Und dann erfuhr er zu seinem grenzenlosen Erstaunen, daß Herr Jessen nicht nur Ponys Vater war, dieser Pony, die die Zuneigung der ganzen Familie gewonnen hatte. Sondern er erfuhr auch, daß Herr Jessen auf Grund seiner Krankheit keine beständige Arbeit ausüben konnte. Und drittens, daß die einzige Möglichkeit für ihn, wieder voll arbeitsfähig zu werden, in einer Gegend mit ausgesprochenem Hochgebirgsklima bestand. All das hatte Fräulein Bernhard erzählt. Und dann ging ein Eilbrief nach Norden, und nach einigen Tagen kam die Antwort mit Luftpost. Es folgten ein paar Telegramme, noch ein Eilbrief und dann war die Sache klar. Die Gemeinde hatte Ingenieur Jessen eingeladen und alle Kosten übernommen. Man konnte natürlich nicht im voraus wissen, ob ihm das Klima zusagen würde. Deshalb sollte Herr Jessen sich erst eine Woche als Valledas Gast ausruhen. Fühlte er sich dann wohl, würde man ihm eine kleine Wohnung zur Verfügung stellen, und er sollte
ein Jahr lang als Ratgeber und Mitarbeiter angestellt werden. „Aber wenn Sie sich hier wohlfühlen, dann lassen wir Sie nicht mehr fort“, hatte Herr Valleda gesagt. „Arbeit gibt es genug, besonders für einen Mann wie Sie.“ Pony und Mutter sollten also einige Wochen allein am Föhrenweg wohnen, bis sich herausstellte, wie dem Vater die Schweiz bekam. Ging alles gut, wollten sie das Haus vermieten und dann in die Schweiz nachkommen. „Vorausgesetzt, daß du glaubst, du kannst das Abitur auch in der Schweiz schaffen“, sagte Vater. „Sonst müßten wir überlegen, ob du nicht in Norwegen bleibst, bis du mit dem Gymnasium fertig bist.“ „Ohne euch?“ fragte Pony. „Nie im Leben. Ach was, Vati, das ist doch Nebensache, das kommt schon in Ordnung. Hauptsache, daß du hier bist, hier in diesem himmlischen Klima. Ach, Vati, hier wirst du sicher, ganz sicher wieder gesund.“ „Ich hoffe es selbst, Pony“, sagte er. „Die Schweiz ist ja ein einziges Sanatorium für Leute wie mich. Es ist ja auch das reinste Wunder, daß man in einer Höhe leben und arbeiten kann, die man in Norwegen nur bei Gipfelbesteigungen erreicht.“ „Ja, und was hat Mutti denn gesagt, als dieser Brief kam?“ Vater lächelte. „Na, was glaubst du wohl? Du kennst sie doch.“ Pony lächelte auch. „Vermutlich hat sie gesagt: Und wenn dir eine Stellung auf dem Gipfel des Mount Everest angeboten würde und du dort ein Elektrizitätswerk für den Schneemenschen bauen solltest, ich käme voll Freuden mit.“ „Sie sagte nicht Mount Everest und nicht Schneemensch, sie sagte Mond und Mann im Mond“, erwiderte der Vater trocken. Herr Jessen schlief gut und aß mit Appetit. Wenn er ein wenig hustete, dann war es ein gewöhnlicher Husten, wie jeder Mensch ihn haben konnte, ohne asthmatische Orgeltöne oder Atemnot. Er machte mit Pony Spaziergänge, natürlich nicht zu rasch und nicht zu weit, aber sie taten ihm gut und er fühlte sich mit jedem Tag kräftiger. Sie fuhren nach St. Moritz, aßen in einem schönen, alten Engadiner Haus zu Mittag und fuhren mit dem Bus nach La Fratta. Pony steckte Bananenstückchen in die kleinen Murmeltierpfoten und Vater machte Stereobilder. Am Abend fachsimpelten die beiden Ingenieure. Fräulein Bernhard und Frau Valleda saßen in der Küche mit einer Handarbeit oder was es sein mochte, und Frau Valleda nützte die Gelegenheit, norwegisch zu sprechen. Aber im Mädchenzimmer hatten Pony und
Regi etwas anderes vor: Regi hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihre Mutter mit einigen norwegischen Kenntnissen zu überraschen. Pony hatte sie während ihres ganzen Aufenthaltes unterrichtet, und nun nützten sie noch jeden Abend dieser letzten Woche aus. Dann kam der letzte Tag, der unwiderruflich letzte. Wieder zog die treue Grigri die Kofferkarre zum Bahnhof. Und Herr Jessen sowie die ganze Familie Valleda kamen mit zum Zuge. In fünf Minuten sollte er da sein. Jetzt wurden die letzten Abschiedsworte gesprochen, Dank abgestattet, Grüße geschickt. Und jetzt blinzelte Pony Regi zu. Regi wandte sich an die Mutter und sagte in klarem guten Norwegisch: „Und wenn du nächstes Mal nach Norwegen reist, Mutter, mußt du mich mitnehmen. Es ist an der Zeit, daß ich dein Heimatland kennenlerne.“ Frau Valleda riß erstaunt die Augen auf. „Regi, höre ich denn recht? Hast du das gesagt?“ „Ja“, sagte Regi, „aber ich rede nicht immer so gut. Diesen Satz habe ich äußerlich gelernt!“ Dann mußten Sie über Regis „äußerlich“ laut lachen, und dabei verging ein wenig von der Abschiedswehmut. Zwei lächelnde Gesichter im Fenster des Abteils, fünf lächelnde Gesichter auf dem Bahnsteig. Dann setzte sich der Zug in Bewegung. Fräulein Bernhard und Pony fuhren nordwärts. „In drei Tagen bin ich wieder bei Mutti!“ sagte Pony und strahlte über das ganze Gesicht.
Ubi bene, ibi patria „Das ist doch das Schlimmste, das ich gehört habe“, sagte Erika. „Und das Beste, das ich gehört habe“, sagte Pony lachend. „Ja, natürlich, es ist wunderbar für euch, und ich hoffe, daß alles klappt, daß dein Vater ganz gesund wird und du und deine Mutter ihm in die Schweiz nachfolgen könnt. Aber daß du mit der Schule hier Schluß machst, das ist doch zu abscheulich. Jetzt ist Margret in England und du willst in die Schweiz. Was wird dann aus unserer Klasse?“ „Ach, ihr kommt schon zurecht.“ „Nein, im Ernst, Pony, du wirst mir schrecklich fehlen. Und daß du dein Abitur auf Deutsch machen willst… Glaubst du denn, daß du das schaffst?“ „Das wird natürlich eine Riesenschufterei“, stimmte Pony zu. „Und höchstwahrscheinlich schaffe ich es nicht in zwei Jahren, ich muß sicher ein drittes zu Hilfe nehmen.“ „Und du wirst kein so gutes Abitur machen, wie du es hier haben könntest.“ „Nein, das stimmt schon alles, aber es gibt ja keinen anderen Ausweg.“ „Du könntest doch hier in Norwegen bleiben, bis du mit dem Abitur fertig bist!“ „Und allein in unserem Haus wohnen? Du spinnst wohl! Du begreifst doch, daß Mutti in die Schweiz muß, um bei Vati zu sein!“ „Ja-a…“, sagte Erika. Sie hatte tiefe Falten auf der Stirn. „Ach Pony, es ist schrecklich, daß du fortgehst!“ „Wenn nur etwas daraus wird“, sagte Pony. „Alles hängt davon ab, ob Vati gesund bleibt und die Arbeit dort schafft.“ „Bis jetzt ist es ja gut gegangen“, sagte Erika. „Ja!“ strahlte Pony. „Prima! Du hättest nur seine Briefe sehen sollen! Vati ist einfach ein neuer Mensch geworden!“ „Wie schade!“ lächelte Erika. „Wo ich den alten Menschen sooo gern mochte!“ Zwei Tage darauf bekam Frau Jessen einen höchst unerwarteten Besuch: Erikas Mutter. Die beiden Mütter kannten sich bisher nur flüchtig, aber, so verschieden sie auch waren, sie gefielen einander. Sie hatten ein langes, gemütliches Gespräch, und am Schluß fühlte sich Frau Jessen sehr erleichtert, das größte Problem war auf einen
Schlag gelöst. Wenn Frau Jessen wirklich nach der Schweiz übersiedeln könnte, dann sollte Pony bei Frau Hammer wohnen. „Ich habe Pony direkt liebgewonnen“, versicherte Erikas Mutter. „Pony ist nett und froh, hat ein sicheres Auftreten, ist dabei hilfsbereit und ehrlich, zuverlässig und höflich. Deshalb bin ich sehr glücklich über die Freundschaft zwischen Pony und Erika. Und sehen Sie: Meine Tochter ist den ganzen Tag allein. Da wäre es wunderbar, wenn sie Gesellschaft hätte. Bitte überlegen Sie es sich, teuer wird es für Sie nicht. Die Wohnung habe ich ohnehin. Sie brauchen mir also nur das Essen zu bezahlen, mehr will ich nicht haben. Aber mir würden Sie eine große Freude bereiten, ganz zu schweigen von Erika. Und wenn es für Sie gleichzeitig eine Hilfe bedeutet…“ Ja, gewiß war es eine Hilfe auch für Frau Jessen. Es war die Lösung für die einzige Schwierigkeit, die sie noch hatten. Chur, 15. Oktober Meine liebe Pony! Dieser Brief ist ja eigentlich für Dich und Mutti bestimmt, aber ich sende ihn nun an Dich, weil er hauptsächlich von Deiner nächsten Zukunft handeln wird. Sitze im Bahnhofsrestaurant von Chur, Du erinnerst Dich wohl daran. Bis zur Abfahrt meines Zuges habe ich noch eine Stunde Zeit, und die Stunde kann ich doch nicht besser ausnutzen, als Dir zu schreiben. Was ich in Chur getan habe? Ja, das möchtest Du wohl wissen. Ich war bei einem Arzt, Pony, einem bekannten AsthmaSpezialisten: er hat mich kreuz und quer untersucht, und das Ergebnis ist mehr als erfreulich. Die Luft hier hat das reinste Wunder bewirkt. Der Arzt sagt übrigens, es sei eigentlich gar kein Wunder und ich kein Einzelfall. Tatsache ist, daß ich mich wie ein gesunder Mensch fühle. Der Arzt ist überzeugt, daß es von Dauer sein wird. Meine verschiedenen Allergien werde ich zwar nicht los, ich vertrage noch immer keine Staubkörnchen, aber hier in diesem reinlichen Land und noch dazu im Hochgebirge sind Staubkörnchen ja selten. Ich werde nie eine Zigarette rauchen können, aber die vermisse ich auch nicht. Mit anderen Worten: das Experiment scheint großartig zu gelingen. Damit ist der Würfel gefallen: Wir müssen uns auf die Übersiedlung einrichten.
Mutti soll sich aber Zeit lassen und genügend Hilfe nehmen. Du mußt aufpassen, daß sie sich nicht überanstrengt. Wir möchten ja gern unsere eigenen Möbel hier haben. Es muß also alles, Sack und Pack, in Kisten verstaut werden. Aber paß auf, daß das nur die Möbelpacker machen. Ich sende heute nachmittag, gleich wenn ich heimkomme, einen Scheck ab. Nun haben wir also unser sicheres Einkommen, Pony, und mit Gottes Hilfe werden wir das auch weiterhin haben. Herr Valleda sagt, daß er mit aller Gewalt versuchen wird, mich zu halten. Das mit der Probezeit auf ein Jahr ist schon hinfällig. Er behauptet, ich könne für alle Zukunft eine feste Anstellung haben. Den Kontrakt kann ich jederzeit unterzeichnen. Und seit heute wage ich auch, das zu tun. Du mußt nun selbst noch mal darüber nachdenken, was du am liebsten machen willst, und ausführlich mit Mutti darüber sprechen. Entscheidest Du Dich, in Norwegen zu bleiben, bis du mit der Schule fertig bist, verstehe ich das natürlich sehr gut. Wir werden unser Mädel zwar schrecklich vermissen, das weißt Du ja. Aber nun bin ich in der glücklichen Lage, Dir für Weihnachten und die Sommerferien eine Flugkarte spendieren zu können. Denn in den Ferien wollen wir Dich selbstverständlich bei uns haben. Frage nur Mutti, wie sie darüber denkt! Wenn es dabei bleibt, daß Du bei Frau Hammer wohnen kannst, dann sende ich ihr das Monatsgeld direkt und Du bekommst für Kleider und Taschengeld monatlich extra einhundertfünfzig Kronen. Zufrieden? Siehst Du, kleine Pony, ich bin ja nicht blind. Ich weiß schon, was Du in all den Jahren entbehrt hast, und ich verstehe sehr gut, wie schwer es für Dich in dieser Klasse mit den reichen Mädchen vom Tannenhang war. Du hast Dich aber tapfer gehalten, mein Kind, und ich bin stolz auf Dich. So, nun packe nur Mutti ein und schicke sie mir als Wertpaket. Ich kann nicht leugnen, daß ich mich unbeschreiblich auf sie freue. Und Dich, mein Mädel, sehe ich also zu Weihnachten wieder. Valledas würden mir sicher Grüße ausrichten, wenn sie wüßten, daß ich Dir schreibe. Eines mußt Du übrigens noch erfahren: Ein freudiges Ereignis steht bevor, nein, nicht im Haus, aber im Stall. Grigri hatte ein Stelldichein mit einem Pony vom Nachbardorf und nun wird ein Maulesel erwartet. Soll ich Dir verraten, daß ich vielleicht… gleich diesen Maulesel als Geschenk für meine Tochter kaufen werde? Ich fühle ja etwas wie eine Dankesschuld dieser Tochter gegenüber. Offenbar hat sie Norwegen und die Familie Jessen hier gut vertreten. Jedenfalls
meine ich, daß ich es im Grunde Dir mit zu verdanken habe, wenn die Zukunft nun viel heller vor mir liegt. Da kommt der Zug. Die herzlichsten Grüße von Deinem Vater.“
Pony reichte den Brief ihrer Mutter. Als Frau Jessen ihn gelesen hatte, lächelte sie der Tochter zu. „Ja, was sagst du jetzt, Pony?“ „Daß sich Vater diesmal gründlich irrt.“ „Nein, wirklich? Wieso denn?“ „Na, weil er sagt, er hat mir etwas zu verdanken. Das ist doch Unsinn.“ „Nun, solch Unsinn ist das gar nicht. Wärest du nicht so gewesen, daß Valledas dich liebgewonnen hätten, dann…“ „Ja, und warum haben Valledas mich liebgewonnen? Weil ihr mich gelehrt habt, mich ordentlich aufzuführen. Weil ihr mir als Kind ein so gutes Heim gegeben habt.“ „Und weil du deine Osterferien geopfert hast, mein liebes Kind. Wärest du Ostern nicht zu Hause gewesen, hättest du Frau Valleda nicht getroffen und…“ „Ja, und wenn ich keine Mutter hätte, die ein solches Opfer wert wäre, da…“ Frau Jessen lachte. „Weißt du, Pony, ich glaube, jetzt lassen wir es genug sein. Wir können schließlich nicht den ganzen Nachmittag dasitzen und uns gegenseitig Komplimente machen. Aber was wird nun mit dir, willst du mit in die Schweiz oder willst du lieber noch hierbleiben?“ „Das habe ich mir schon tausendmal überlegt, Mutti, ich kann es dir sofort beantworten: Es bedeutet für meine Zukunft doch sehr viel, wenn ich ein gutes Abitur mache. Diese Chance habe ich aber nur hier in Norwegen. Du weißt ja, mit einer Lehrerin wie Fräulein Bernhard! Ich glaube also, ich werde meine Zahnbürste in den Koffer tun und zu Erika übersiedeln.“ Frau Jessen nickte. „Und die Zeit vergeht auch schnell, Pony. Nur einundeinhalbes Jahr, dann kommst du für immer zu uns.“ Pony lächelte. „Es ist kaum zu glauben, Mutti. Daß ich da unten wohnen soll, für immer, in dem wunderbaren Land, zwischen den
Bergen und…“ „… und den Murmeltieren“, sagte Frau Jessen lachend. „Aber glaubst du nicht, daß du manchmal doch Heimweh nach Norwegen haben wirst?“ „O doch, manchmal. Aber anderseits…“ „Anderseits fühlst du dich dort zu Hause, wo wir sind?“ „Eben! Ubi bene, ibi patria, wie wir Lateiner sagen“, meinte Pony, und streckte ihr Näschen in die Luft.