ERWIN BEKIER
Als erster über der Arktis
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.- 60. Tausend
Die Tat...
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ERWIN BEKIER
Als erster über der Arktis
DEUTSCHER MILITÄRVERLAG
Nach Tatsachen gestaltet
1.- 60. Tausend
Die Tatsachenreihe erscheint monatlich
Deutscher Militärverlag, Berlin 1965
Lizenz-Nr. 5
Umschlag: Günter Neubert
Vorauskorrektor: Evelyn Lemke
Hersteller: Lydia Herkt
Gesamtherstellung: III 9 5 Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft,
Dresden
Nagurski lebt! Das ist eine so unerwartete, unglaub liche und kaum faßbare Nachricht, daß sie alle meine Pläne einer Berichterstattung über die moderne so wjetische Arktisfliegerei durcheinanderbringt. Filipinow, mein Gesprächspartner in der Zentrale der sowjetischen Arktisfliegerei in Moskau, lacht über mein verblüfftes Gesicht. Mir ist gar nicht fröhlich zumute. Ich habe ein Buch über die Geschichte der Erforschung des Nördlichen Seeweges geschrieben, ich sitze hier, um aktuelle Fotos für die zweite Auflage meines Buches „Kurs - Nördlicher Seeweg" zu besorgen, da erfahre ich, daß Jan Nagurski, der erste Mensch, der ein Flugzeug in der Arktis flog, keineswegs im Jahre 1917 verschollen ist, wie es bei mir geschrieben steht. „Aber in allen seriösen Nachschlagewerken ist es schwarz auf weiß zu lesen: Todesjahr neunzehnhun dertsiebzehn. Seit fünf Jahrzehnten weiß man davon", sage ich. Filipinow winkt ab. „Das stimmt alles", er greift hinter sich in das Bücherregal, „bitte, hier in der Großen Sowjetenzyklopädie, Band neunundzwanzig, können Sie es auch nachlesen: .Nagurski, Iwan Josefowitsch, achtzehnhundert dreiundachtzig bis neunzehnhundertsiebzehn, russi scher Militärflieger, der als erster in der Arktis flog. Im Jahre neunzehnhundertvierzehn unternahm er bei
der Suche nach der Expedition Sedows, Brussilows und Russanows von der Insel Nowaja Semlja mit einem Wasserflugzeug fünf Flüge, bei denen er im Norden bis zum Kap Litke gelangte und in nordwestlicher Richtung über hundert Kilometer vom Festland ins Eismeer hinausflog. Nagurski befand sich über zehn Stunden in der Luft, und er legte etwa elfhundert Kilometer in einer Höhe zwischen achthundert und zwölfhundert Metern zurück. Nagurski verwies als erster auf die Möglichkeit, den Nordpol mit einem Flugzeug zu erreichen.'" „War es etwa nicht so?" frage ich. „Es war alles so, wie es hier geschrieben steht, nur daß wir jetzt nicht auf einige kümmerliche Archivmaterialien angewiesen sind, sondern den Be richt des Augenzeugen und Fliegers selber haben." „Und wo befindet sich Jan Nagurski?" „In Warschau. Als wir davon erfuhren, haben wir ihn nach Moskau eingeladen. Schließlich ist seit neunzehnhundertzweiundfünfzig die Polarstation am ehemaligen Ausgangspunkt seiner Flüge nach ihm benannt. Es hat hier in unserer Verwaltung ein großes Treffen mit den alten sowjetischen Polarfliegern Wodopjanow, Tschuchnowski und dem totgesagten Nagurski gegeben. Wir haben den alten oder, besser gesagt, den ersten Arktisflieger, denn er ist ein sehr rüstiger Mann, auf seinen Wunsch nach Leningrad und Odessa geflogen, wo er vor über einem halben Jahrhundert diente und seine Pilotenlaufbahn begann. Den kurzen Notizen in den Enzyklopädien und auch in Ihrem Buch ist also einiges hinzuzufügen."
Flug nach Warschau Ich fliege nach Warschau, im Koffer Aufnahmen so wjetischer Piloten über ihre Arbeit in der Arktis und einige Fotos, die man von Jan Nagurski während seines Aufenthalts in Moskau gemacht hat. „Bitte, viele Grüße an unseren Freund!" Aus den in langen Reihen aufgestellten Maschinen auf dem Moskauer Flugplatz leuchten mir in der Winterdämmerung die mit leuchtend roter Farbe ge strichenen Flugzeuge der arktischen Luftflotte ent gegen: die bewährten IL-14 und IL-18 und die ge waltige An-12. Der Pilot einer dieser Maschinen, ein Tschuktsche, verabschiedet sich von seinem Söhnchen. „Papa fliegt zur Station Nordpol vierzehn. Sei brav", sagt er, „übermorgen bin ich wieder zu Haus ..." „Bringst du für unseren Mischka im Zoo ein Brü derchen mit?" Der Fliegerpapa nickt. „Wenn ich eins finde ..." Eineinhalb Flugstunden von hier entfernt wohnt Nagurski. Als ich in Warschau ankomme, senkt sich der Abend auf die Stadt. Die Maschine kreist, durch das Kabinenfenster sind die Lichter des Kulturpalastes erkennbar. Man könnte gleich vom Flugplatz ver suchen, Nagurski anzurufen. „Hallo? Ja, hier spricht Nagurski. Richtig. Jan Na gurski, der erste Arktisflieger. Woher kommen Sie? Aus Moskau? Sie bringen mir Fotos mit? Bitte, kom men Sie!"
Eine Straße fast im Stadtzentrum
Eine Wohnungstür in der ersten Etage, über dem Klingelknopf das Schild: Jan Nagurski, Ingenieur. Es nimmt mir die letzten Zweifel. Die Begrüßung ist herzlich, als würden wir uns lange kennen. Ich sitze einem rüstigen, geistig regen Mann gegenüber, der ins achte Lebensjahrzehnt geht. Schnell schlägt er aus seiner bewegten Vergangenheit eine Brücke zu unserer Gegenwart. Es läßt sich einfach nicht vermeiden, mein Gespräch mit dem ersten Arktisflieger der Welt beginnt mit den jüngsten Er folgen der sowjetischen Kosmonauten.
„Ich sehe das doch alles mit etwas anderen Augen", sagt Nagurski. „Immerhin, am siebzehnten Dezember des Jahres neunzehnhundertdrei, als die Brüder Wright in Amerika mit ihrem von einem Motor angetriebenen Luftgleiter den ersten Hopser von zwölf Sekunden Dauer machten, war ich schon zwanzig Jahre alt. Mein Vater betrieb damals in der kleinen Stadt Wloclawek an der Weichsel eine Mühle, und ich bereitete mich auf meine Reifeprüfung vor. Ein Jahr später, gerade während meiner Reifeprüfung, gelang den Brüdern Wright im September der erste Kreisflug in der Geschichte der Menschheit. Sie verstehen, wie mich die Nachricht vom ersten ballistischen Höhenflug einer Rakete und von der ersten Erdumkreisung mit einem bemannten Weltraumschiff bewegt hat. Als ich die Schule verließ, war der Wunsch, den Beruf eines Fliegers zu erlernen, kühner als das heute verständliche Verlangen vieler junger Menschen, in Raumschiffen als Kosmonaut oder helfendes Besatzungsmitglied durch das Weltall zu fliegen." „Jan Nagurski, wie kam es denn, daß Sie totgemeldet wurden und so lange niemand etwas von Ihnen wußte?" frage ich. „Ich führte im ersten Weltkrieg als russischer Leutnant eine Staffel von Wasserflugzeugen. Hier, von diesem Typ!" Nagurski öffnet den Bücherschrank, er stellt eine Pappschachtel auf den Tisch - Fotos! Ich beherrsche mich, nicht mit beiden Händen darin herumzuwühlen. „Sehen Sie, mit dieser Maschine habe ich sogar einen Weltrekord aufgestellt: den ersten Looping mit einem Wasserflugzeug. Das war im Jahre neunzehn hundertsechzehn. Dieser Rekord wurde international
vermerkt, aber ich habe es erst jetzt nach meinem Besuch in Moskau erfahren, als ein sowjetischer Flie ger aus Archiven die Abschrift der Zeitschrift des russischen Aeroklubs vom zwölften November neunzehnhundertsechzehn heraussuchte." Nagurski kramt in seinem Pappkasten herum und fährt dann fort: „Erstmalig wurde ein Looping von meinem Flugkameraden, dem russischen Flieger Nesterow, geflogen. Niemand hielt es zu dieser Zeit für möglich, diese Figur mit einem Wasserflugzeug zu wiederholen. Am siebzehnten September neunzehnhundertsechzehn aber flog ich mit dieser Maschine", Nagurski reicht mir ein Foto über den Tisch, „einen zweifachen Looping. Er soll bis jetzt von keinem Wasserflugzeug wiederholt worden sein. Mit dieser Maschine habe ich vier Feindflugzeuge und einen Zeppelin abgeschossen. Im Spätherbst neunzehnhundertsechzehn wurde ich selber getroffen und mußte in der Ostsee wassern. Die deutschen Rumpier-Tauben zerfetzten mein Flugzeug, während es auf dem Wasser schwamm. Mir und meinem Mechaniker gelang es trotz des Kugelregens, ein ganzes Stück davonzukommen. Unsere Rettung war wie ein Wunder. Als uns mehr und mehr die Kräfte erlahmten und wir schon aufgeben wollten, tauchte ein russisches U-Boot auf, das uns an Bord nahm und nach Reval in ein Lazarett brachte. Inzwischen hatten die Kameraden bereits meinen Abschuß gemeldet und auch meine Mutter in meiner Heimatstadt benachrichtigt. Während ich im Lazarett lag, brach die Februarrevo lution aus. Ich fuhr nach meiner Genesung in die Heimat, blieb während der Oktoberrevolution dort, und als neunzehn
Jan Nagurski (rechts) mit dem Autor Erwin Bekier
hundertzwanzig Polen Sowjetrußland überfiel, verheimlichte ich meine Offizierslaufbahn, um nicht als Flieger gegen Rußland kämpfen zu müssen." „Und später?" frage ich. „Später war ich in meinem Beruf als Ingenieur tätig, bis Polen von den Faschisten okkupiert wurde. Dann habe ich mich mit einem Antiquitätengeschäft durchgeschlagen. Nach der Befreiung Polens arbeitete ich wieder als Ingenieur." „Aber wie wurden Sie wiederentdeckt?" „Ganz einfach. Wir hatten eine Zusammenkunft von Wissenschaftlern, Technikern und Schriftstellern im Kulturpalast in Warschau. Der bekannte polnische Arktisschriftsteller Zentkewitsch hörte dort meinen Namen. Er fragte mich, ob ich etwa mit dem berühmten
ersten Polarflieger Nagurski näher bekannt gewesen sei. Ich antwortete: Ja. Sehr gut. Ich bin es selber.'" Jan Nagurski. Der erste Arktisflieger, ein bescheidener, interessanter, außergewöhnlicher Mensch, nach dem eine Polarstation benannt ist, dem die berühmtesten sowjetischen Polarflieger und Nordpolforscher, seitdem sie wissen, daß er lebt, regelmäßig in Telegrammen von ihren Erfolgen berichten. Jan Nagurski verfolgt noch heute aufmerksam alles, was im Zusammenhang mit der Erschließung der Arktis geschieht. Er kennt die Namen der Kosmonauten ebenso wie die Namen der Menschen, die vor mehr als einem halben Jahrhundert mit ihren Flugrekorden die Welt in Atem gehalten haben. Er selbst gehört ja in die Reihe dieser Pioniere. Die Menschen blicken zum Mond. Wie lange noch wird es dauern, bis die Besatzung eines Weltraumschiffs ihn umkreist und auf ihm landet? Wie lange ist es her, daß zum erstenmal in der ewigen Eiswüste des Nordpols der Motor eines Flugzeugs ertönt ist? Ein Menschenalter! Der Pilot sitzt vor mir, und er meint, er würde die Landung der ersten Menschen auf einem anderen Planeten noch erleben. Er muß es wissen. Hier ist die Geschichte seines Lebens. Ein nicht unbedeutendes Kapitel in der Ge schichte des Menschenfluges. Ein Kapitel, das noch seiner Eintragung in viele Bücher harrt. Als 50 Meter Flugweltrekord waren
Im Jahre 1906, als der junge Lehrer Jan Nagurski aus seiner Heimatstadt Wloclawek ein Gesuch um Aufnahme an die Odessaer Militärschule richtet, gibt es
in der ganzen Welt weniger Flieger als heute Kosmonauten. Die jungen Menschen damals, die sich für die kühnen Taten der ersten Eroberer der Luft begeistern, wissen ihre Namen aufzuzählen: die Brüder Wright, den in Paris lebenden Brasilier SantosDumont, die Franzosen Voisin, Delagrange, Farman und Bleriot. Nagurski: „Was glauben Sie, was das für eine Sensation war, als unter den Namen der ersten Piloten plötzlich der Name einer Frau, der französischen Fliegerin Delaroche, auftauchte. Das ist nur mit der Meldung vom Kosmosflug Walentina Tereschkowas zu vergleichen. Die erste russische Fliegerin, Lydia Swerewa, bekam ihr Diplom übrigens im selben Jahr wie ich, neunzehnhundertelf." Während Jan Nagurski die Militärschule in Odessa absolviert, überstürzen sich die Ereignisse in der Entwicklung des Flugwesens: Alberto Santos-Dumont fliegt am 23. Oktober 1906 eine Strecke von 50 Metern. Schon am 12. No vember 1906 verbessert er seinen Rekord auf 220 Meter. Der Flieger Henri Farman fliegt am 26. Oktober 1907 eine Strecke von 770 Metern, und am 6. Juli 1908 schafft er 20,04 Kilometer. Auch die Geschwindigkeit steigt. Delagrange braucht 6 Minuten und 30 Sekunden für 3925 Meter, und am 30. Mai 1908 fliegt er in 15 Minuten und 26 Sekunden 12 750 Meter. Immer weiter - immer höher. Die Flughöhe steigt von 6 Metern auf einige Dutzend Meter. Ein Augen zeugenbericht über den ersten Rekordflug SantosDumonts: „Erstaunt stand die Menge wie vor einem
Wunder: Zunächst stumm vor Bewunderung, stieß sie im Augenblick der Landung Urlaute der Begeisterung aus und trug den Flugkünstler im Triumph davon..." Tigerjäger Nagurski In Odessa und Petersburg werden die ersten beiden russischen Flugschulen eingerichtet, da wird der junge Leutnant Jan Nagurski zum Dienst nach dem fernen Chabarowsk am Amur kommandiert. Die Fahrt zum Dienstort ist für ihn die erste große Reise, doch der Dienst in der neuen Garnison befriedigt ihn nicht. Ausbildung der Soldaten und als einzige Abwechslung die Bälle im Kreis einer kleinen Gesellschaft, in der jeder von jedem alles weiß. In seiner Freizeit geht Jan Nagurski auf Tigerjagd, und hier beweist er zum erstenmal seine außergewöhnliche Kaltblütigkeit. Am Ussuri-Fluß erlegt er eines Tages einen Fuchs. Es ist eigentlich schon Zeit zur Heimkehr, die Sonne senkt sich glutrot über den Rand der Taiga, als die Jagdhunde die Spur eines Tigers aufnehmen. Der Ussuri-Tiger ist dafür bekannt, daß er einem Menschen, der ihm in den Weg kommt, nicht ausweicht, sondern als erster kühn angreift. Nagurski erzählt: „Die Unruhe der Jagdhunde übertrug sich bald auf mich. Ich fühlte mich nicht so sehr als Jäger, sondern vielmehr als Objekt, fremd in der Wildnis und schon längst beobachtet von dem Tiger, der nur auf eine Gelegenheit wartet, sich seiner Beute zu bemächtigen. Wir waren zu zweit. Ich sehe, wie mein Kamerad sich plötzlich bückt und das Gewehr hochreißt. Zwanzig Meter von uns entfernt, dicht an
den Boden gedrückt, liegt ein zum Sprung bereiter Tiger. Ich reiße ebenfalls das Gewehr hoch. Beide Kugeln treffen ihr Ziel, doch der Tiger stürzt sich mit entsetzlichem Gebrüll auf uns. Ich vermeine schon seine Krallen zu spüren, da fällt er, von der dritten Kugel meines Kameraden getroffen, direkt vor meine Füße. Er liegt unbeweglich, tot da, aber das Gebrüll ist immer noch zu hören. Ich denke, mich narrt ein Spuk. Sind mir die Nerven durchgegangen? Ich konnte nicht wissen, daß das Weibchen des Tigers aus dem Schilf dickicht herausgestürzt war, seinen Gefährten zu rächen. Endlich begreife ich, daß das Tigergebrüll in meinem Rücken ertönt. Auf dem Absatz reiße ich meinen Körper herum und schieße auf das anfliegende Raubtier. Wie ein Echo knallt der Schuß meines Kameraden. Wieder treffen beide Kugeln, und wieder erhebt sich das Tier zum zweiten Sprung. Die reißende Tigerin ist zwei Meter von mir entfernt. Ich höre es klicken, die Patronenkammer im Gewehr meines Kameraden ist leer. Ich muß mein Gewehr mit dem Kolben nach oben reißen, um das Tier noch treffen zu können. Es bricht im Schuß zusammen, sein Kopf schlägt auf meine Stiefel. Ich stehe zwischen beiden Raubtieren. Ich kann sie berühren, ohne einen Schritt zu tun." Der alte Mann und die Zeitung
Nach mehreren Gesuchen wird Nagurski endlich die Erlaubnis zum Studium an einer Petersburger In genieurschule erteilt. Wieder führt ihn ein Zug durch die unendlichen Weiten der sibirischen Taiga. Vom
Ural aus geht die Fahrt nordwärts zu den Ufern der Ostsee. Gewaltige Ebenen und Wälder säumen tage lang die Bahnlinie. Riesige Ströme, deren Wasser sich in das Eismeer ergießen, werden überquert. Zehn Tage dauert die Fahrt, die heute von modernen Passagierflugzeugen in ebensoviel Stunden bewältigt wird. Die Mitreisenden suchen interessante Ge sprächspartner. Zuerst ist der junge Offizier mit seinen Jagdabenteuern ein beliebter Mittelpunkt. Auf den ersten Stationen nach dem Uralgebirge gibt es endlich neue Zeitungen aus der Hauptstadt. Nagurski erinnert sich: „Ich war wohl wieder gerade einmal, der unendlichen Gespräche, des Teetrinkens, Schach spielens und des Schauens in die vorüberfließende Landschaft überdrüssig, etwas eingeschlafen. Durch das Anrucken des Zuges öffnete ich für einen Augen blick die Augen und sah, daß mir gegenüber ein alter Herr saß, der eine Zeitung las. Ich wollte die Augen schließen, um dem unvermeidlichen Gespräch, ,wie es denn da hinten an der chinesischen Grenze, wo ich herkomme, aussieht', auszuweichen, als der alte Herr schon die Zeitung sinken ließ und voller Empörung sagte: ,Da haben sich die Journalisten mal wieder etwas ausgedacht...' Ich ließ mir die Zeitung geben und las, daß in Pe tersburg eine Fluggesellschaft gegründet worden war. In demselben Artikel wurde von dem Flug Bleriots über den Kanal von Frankreich nach England berichtet. Denken Sie, was das für eine Nachricht war! In der Zeitung stand, daß Bleriot am Morgen des fünfundzwanzigsten Juli neunzehnhundertneun an der französischen Küste gestartet wäre und in einer Höhe
von fünfzig Metern eine so hohe Geschwindigkeit erreicht hätte, daß das Kriegsschiff, das ihn aus Sicherheitsgründen hatte begleiten sollen, mit dem Flugzeug nicht hätte Schritt halten können! Nach zweiunddreißig Minuten Flugzeit hätte Bleriot um fünf Uhr zwölf die englische Stadt Dover erreicht. Mein Reisenachbar im Transsibirischen Expreß hielt diese Nachricht ebenso wie die Mitteilung von der Einrichtung eines russischen Fliegerklubs für eine faustdicke Lüge. Ein Flugapparat, der schneller als ein Torpedoboot sein sollte! Mich aber verfolgte die Überschrift während der ganzen Fahrt: Der Mensch erobert den Luftraum
In Petersburg erkundigte ich mich sofort nach dem Fliegerklub. Ich hatte Glück, ich traf den mir bekannten Marineoffizier Lebedew. Dieser ließ mich gar nicht ausreden: ,Du bleibst in Petersburg? Ausgezeichnet! Dann mußt du zu uns in den Aeroklub kommen.' Und schon fing er an, mir in aller Ausführlichkeit den Absturz des Fliegers Leon Mazejewitsch zu erklären. .Schade um ihn, er war ein tüchtiger Flieger. Aber der Kampf um die Eroberung der Luft fordert Opfer.'" Jan Nagurski läßt sich nicht abschrecken. „Sie müssen verstehen. Ich hatte schon von den ersten Erfolgen unserer russischen Flieger gehört, da war der Journalist Popow, dann der bekannte Sportler Utotschkin, ein Radrenn- und Autofahrer, der sich als einer der ersten dem Flugsport verschrieben hatte, außerdem die Offiziere Rudnew, Rossinski, Gaber-Wlynski und der ehemalige Schüler des Odessaer Eisenbahninstituts
Jefimow. Noch während der Bahnfahrt hatte ich mir alle Zeitungen, in denen Nachrichten über die Fliegerei standen, besorgt und im Russischen Wort' die Meldung über einen Flugtag am einundzwanzigsten März neunzehnhundertzehn in Odessa, meiner alten Garnison, gefunden: ,Unter großer Begeisterung der Zuschauer erreichte Jefimow eine Höhe von dreißig Metern. Das von ihm aus Frankreich erworbene Flugzeug wurde vom Odessaer Fliegerklub angekauft.' Das waren die Anfänge der russischen Fliegerei." Jan Nagurski wird Mitglied des Petersburger Aeroklubs. Sein erster Lehrmeister, der Flieger Jazuk, hat es nicht leicht mit seinen Flugschülern. Nagurski erzählt: „Eines Tages führte mich Jazuk an dem Flugzeugschuppen vorüber. Einige Flugschüler waren gerade dabei, die Maschinen zum Startplatz zu rollen. Jazuk blickte überrascht zum Dach, auf dem sich auf einem hohen Mast langsam der Windmesser drehte. ,Diese Lausejungs! Sehen Sie nur!' Jazuk wies auf den Windmesser. Ich begriff nicht, was er meinte. Jazuk spuckte auf einen Finger und hielt ihn in den Wind. Ich war noch völlig unerfahren und verfolgte erstaunt sein sonderliches Benehmen. Jazuk wetterte: ,Alles klar, sie betrügen mich wieder. Bei dem Wind ist es gefährlich zu fliegen, aber die Kerle haben wieder Sand in den Windmesser geschüttet.' Mit Donnerstimme schrie er über den Flugplatz: ,Die Flugzeuge zurück in die Schuppen, und dann klettert alles der Reihe nach auf den Mast, und der Windmesser wird mir so lange gedreht, bis er rein ist wie eine Jungfernträne. Heute wird nicht mehr geflogen.'" Immerhin darf Nagurski an diesem Tag zusehen, wie
ein Motor überprüft wird. Ein Flugzeug wird mit Stricken an einen dicken Baum gebunden, ein Mecha niker läßt den Motor laufen, die Seile ziehen eine Feder, und auf einer Tafel pendelt ein Zeiger zwischen den Zahlen fünfzig und sechzig, was anzeigt, daß der Motor die gleiche PS-Zahl erreicht hat. Jede Minute seiner Freizeit verbringt Nagurski auf dem Flugplatz. Er will sich nicht in einen Flugapparat setzen, bevor ihm nicht alle technischen Vor aussetzungen vertraut sind. Der Lehrmeister Jazuk glaubt, der angehende Ingenieur und Flieger habe Angst. Er führt den jungen Offizier auf das Flugfeld, wo gerade der Sohn eines reichen Petersburger Kauf manns zum ersten Alleinflug startet. Nagurski erzählt mit leisem Lächeln: „Die Maschine hob normal ab, machte einige Runden um das Flugfeld und setzte mit gedrosseltem Motor zur Landung an. Plötzlich sehe ich, daß der Pilot mit geradem Kurs auf einen riesigen Heuschober zufliegt. Zwanzig Meter vor dem Heuberg schaltet er den Motor aus, und aus etwa dreißig Meter Höhe plumpst die Maschine, das Heu hoch aufwirbelnd, weich und verhältnismäßig gefahrlos für den Piloten in den Idiotenhügel. Jazuk ließ das Heu auf Kosten der Angsthasen heranschaffen, denen der Mut fehlte, auf dem Flugplatz zu landen. ,Dem Motor passiert dabei überhaupt nichts', erklärte er, ,und das beschädigte Flugzeug wird repariert.'" Vogelkäfig mit Motor
Als Jan Nagurski endlich zum erstenmal vor seinem
Fluglehrer den Platz des Flugschülers einnimmt, ist ihm doch etwas eigenartig zumute. „Dieses Holzgerüst mit seinen unzähligen Drähten, der Leinwand, dem Sechzig-PS-Motor, der durch Ketten zwei Propeller antrieb, erinnerte mehr an einen Kanarienvogelkäfig als an eine Maschine, die in der Lage sein würde, zwei Menschen durch die Luft zu tragen. Immerhin, ich flog auf dieser Maschine. Es ist mir heute noch schwer zu schildern, was ich dabei ausstand. Die Tigerjagd in Sibirien jedenfalls erschien mir dagegen als die harmloseste Angelegenheit. Trotzdem fühlte ich, daß mich die Fliegerei nicht mehr loslassen würde. Unser Fluglehrer Jazuk verstand es meisterhaft, Theorie und Praxis zu vereinen. Wir versammelten uns oft bei den Flugschülern Rossinski und Albanow. Niemand ahnte damals, daß Rossinski einmal General und Albanow Oberst in der Sowjetarmee sein würden. Wir stritten als Ingenieure, Flieger und Konstrukteure. Wir waren damals alles in einer Person. Unter uns war ein technisch sehr begabter Mensch, der Ingenieur Sikorsky, der später in Rußland noch vor dem ersten Weltkrieg das erste Großflugzeug mit einer Spannweite von dreißig Metern und einem Startgewicht von fünf Komma-zwei Tonnen – das entspricht immerhin dem Gewicht der Wostok-Raumschiffe - entwickelte. Die Kabine dieses Flugzeugs bot sechs Fluggästen Platz, und am fünften Juni neunzehnhundertvierzehn errang es bei voller Passagierbesetzung den Dauerrekord mit einer Flugzeit von sechs Stunden und dreiunddreißig Minuten. Dieser Sikorsky verfolgte sehr aufmerksam meine ersten Alleinflüge. Er hatte damals ein neues zweisitziges Flugzeug gebaut und wandte sich mit der
Bitte an mich, diese Maschine einzufliegen. Es war ein großer Vertrauensbeweis, doch gerade zu dieser Zeit stand ich im Ingenieurexamen, und mir verblieb keine Stunde für den Flugsport, obwohl ich gern geflogen wäre." 1913, zwei Jahren nach seinem Pilotenexamen, erwirbt Nagurski das Ingenieurdiplom. Aufwertung der „Scharlatane"
Es ist die Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Viele Jahr zehnte haben fähige Techniker, Wissenschaftler und Ingenieure in Amerika, Frankreich. Deutschland und Rußland, sich selbst überlassen und unter Aufopferung ihrer geringen materiellen Reserven, die Theorie des Fluges einer Maschine erarbeitet und sie durch den selbstlosen Enthusiasmus junger kühner Menschen in der Praxis verwirklicht. Die Regierungen und die kapitalkräftigen Kreise haben für den Fortschritt dieser technischen Entwicklung keinen Pfennig übrig, bis sich am Horizont der Weltpolitik ein noch nie dagewesener imperialistischer Raubkrieg um die Neuaufteilung der Welt abzeichnet. Plötzlich bewilligen alle Großmächte Millionen Gold mark, Franc, Rubel und Dollar für den Ausbau der Militärfliegerei. Besonders in Frankreich und Deutschland steigt die Zahl der Flugzeuge und Piloten. Jetzt gibt es keine gelenkten Presseartikel mehr, in denen die Pioniere des Flugwesens als Scharlatane bezeichnet werden, und kein heuchlerisches Bedauern „über den unverständlichen Leichtsinn" junger Piloten. Im Gegenteil. Die 70 Piloten, die allein in Deutschland
Leutnant Jan Nagurski
im Jahre 1913 während der überhasteten Luftaufrüstung in den Trümmern ihrer Maschinen den Tod finden, werden nun als Helden gefeiert. In den vier Jahren des ersten Weltkrieges fallen später allein von den 17 000 ausgebildeten deutschen Militärfliegern 14 000! Welche Taten hätten die Menschen schon damals mit der Technik ihrer Zeit und der Begeisterung der jungen Generation unter friedlichen Bedingungen vollbringen können? Der erste, durch die Kriegswirren beinahe in Vergessenheit geratene Arktisflug Jan Nagurskis ist ein
Beispiel dafür. Eine verschollene Polarexpedition
Im Jahre 1912 wird Jan Nagurski Augenzeuge der riesigen Begeisterung, die ganz Petersburg angesichts einer aus drei Schiffen bestehenden russischen Polarexpedition erfaßt. Der Flotte ist die Aufgabe gestellt, in die höchsten Breitengrade des Eismeers vorzudringen und von dort mit Schlittenhunden den Nordpol zu bezwingen. Wochenlang erscheinen in den Schlagzeilen der Zeitungen fettgedruckt die Namen des Expeditionsleiters Sedow und seiner Kameraden. Wochenlang informiert die Presse ausführlich über die Etappen der Reise. Man diskutiert und orakelt in der Zarenmetropole über Erfolg und Mißerfolg des kühnen Unternehmens. Dann folgt eine lange Zeit des Schweigens. Erst als Vorbereitungen zu einer Rettungsexpedition getroffen werden, erfährt die Öffentlichkeit, daß die drei Schiffe und ihre Besatzungen spurlos in der Eiswüste verschwunden sind. Der Hohe Norden fordert, wie schon so oft, seinen Tribut. „Trauen Sie sich zu, mit einem Flugzeug unter ark tischen Verhältnissen zu fliegen? Es kann viel davon abhängen!" Diese Frage wird Jan Nagurski im Jahre 1913 gestellt. Genau zehn Jahre sind seit dem ersten Luftsprung der Gebrüder Wright vergangen, zehn Jahre, die das Flugwesen revolutioniert haben und nur vergleichbar sind mit der Zeit vom Start des ersten sowjetischen Erdsatelliten im Oktober 1957 bis zu den Flügen viele Tonnen schwerer Weltraumschiffe mit mehreren Besatzungsmitgliedern.
Die Weltrekordliste des Jahres 1912 verzeichnet bereits einen Dauerflug von 13 Stunden und 17 Minuten. Die größte Entfernung, die in diesem Jahr im Nonstopflug zurückgelegt worden ist, beträgt 1200 Kilometer, die größte Höhe 5610 Meter, die größte Geschwindigkeit 150 Kilometer in der Stunde. Das Jahr 1913 bringt neue Höhepunkte. Am 10. Juni legt der französische Flieger Brindejonsc des Moulinais mit zwei Zwischenlandungen in Wanne und Berlin die 1450 Kilometer lange Strecke Paris-Warschau in 14 Stunden und 25 Minuten zurück. Den Rückflug unternimmt er über Petersburg, Stockholm, Kopenhagen, Hamburg und Den Haag. Am 2. Juli 1913 landet er nach insgesamt 4860 Flugkilometern mit der einsatzbereiten Maschine wieder in Paris. Am 23. September desselben Jahres überquert Roland Garros das Mittelmeer. In diesem letzten Jahr vor dem großen Krieg beginnen die ersten Piloten mit Kunstflügen. Der Franzose Pegoud führt am 1. September den ersten Rükkenflug aus, am 21. September fliegt er die erste Rolle, am selben Tag wiederholt er die bis dahin nur von dem Russen Nesterow am 9. September 1913 erreichte „Nesterowschleife", den Looping. Und in eben diesem Jahr richtet Generalleutnant Shdanko, der mit der Zusammenstellung der Ret tungsexpedition für Sedow beauftragt ist, an Nagurski die Frage, was er vom Einsatz eines Flugzeuges bei dieser Rettungsexpedition im Hohen Norden halte.
Wenden Sie sich an Amundsen Nagurski erbittet sich einen Tag Bedenkzeit. Alle Flüge
dieser Zeit hat er sorgfältig verfolgt. Gewiß, es sind Rekordleistungen aufgestellt worden, aber alle Flüge haben über bewohntes Gebiet geführt, selbst die Mittelmeerüberquerung ist durch Schiffe gesichert worden. Es gibt noch keinen Menschen, der jemals mit einem Flugzeug in der Arktis geflogen ist. Nicht nur, daß dieses Gebiet unbewohnt ist, es gibt auch keinerlei Erfahrungen im Hinblick auf die Flugverhältnisse unter arktischen Bedingungen. Es gibt nur die Berichte der Kapitäne und den Rat des Leiters der Polarabteilung: „Vielleicht wenden Sie sich an Amundsen? Das ist doch ein erfahrener Polarforscher, Sie haben sicher von ihm gehört." Nagurski erzählt: „Natürlich hatte ich von Amundsen gehört. Aber war er auch bereit, uns Ratschläge zu erteilen? Ich setzte mich hin und schrieb ihm einen ausführlichen Brief. Ich erzählte ihm von meinen Plä nen und bat um seine Hilfe als Polarforscher. Ich schrieb ihm von meinen Vorstellungen, ein Flugzeug unter arktischen Verhältnissen zur Suche nach der Sedowexpedition einzusetzen. Amundsen antwortete prompt, und er teilte mir alle klimatischen Erscheinungen und Besonderheiten des Gebiets mit, für das er wohl der beste Kenner war. Er versprach, mit all seinen Kenntnissen und Erfahrungen zu helfen. Besonders in Erinnerung geblieben sind mir seine Gedanken zur Flugexpedition: ,Auf Ihre geplanten Flüge setze ich große Hoffnungen. Wenn es gelingt, sie zu verwirklichen, dann ist der Hohe Norden unser. Das Eis wird kein Hindernis mehr für die Menschen darstellen, die mit der modernsten Technik dagegen angehen. Ich muß Sie unbedingt persönlich
kennenlernen und hoffe, daß wir einander begegnen. Wir müssen über vieles sprechen. Dieser Brief wird nicht mein letzter sein. Im nächsten Brief werde ich meine Ratschläge ergänzen.' Amundsen, dem ich sehr viel zu verdanken habe, hielt sein Versprechen, und er schrieb mir noch oft, bevor wir uns etwas später persönlich begegneten." Bringen Sie einen Franzosen mit!
„Die Admiralität kommandierte mich als Militärflieger zur Hilfsexpedition für Sedow. Das war im Mai neunzehnhundertvierzehn. Gedanken und Probleme stürmten auf mich ein. Ich wanderte die Ufer der Newa entlang und dachte an das ferne Eismeer. Über Petersburg leuchtete die weiße Nacht. Ich lief durch die Strafjen, durch den Sommergarten und mir war, als hörte ich durch Schneesturm und Eisknirschen die Stimmen von Menschen, die um Hilfe riefen. Wie sollte das Flugzeug beschaffen sein, das in der Arktis fliegen konnte? Es mußte vor allem eine Maschine sein, mit der man vom Eis und vom Wasser starten und darauf landen konnte. Es mußte eine Maschine sein, die außer Benzin, Öl, dem Piloten und den notwendigen Ersatzteilen auch genügend Proviant, Waffen und Patronen befördern konnte. Die Flugzeuge, die Bleriot damals baute, brauchten einen großen Anlauf. Die deutschen Argus-Flugzeuge hatten einen Motor mit Wasserkühlung, sie waren also für arktische Verhältnisse nicht geeignet. Nur ein luftgekühlter Motor kam in Frage. Schließlich schien mir das günstigste Flugzeug ein Moris-Farman, den die
Roald Amundsen
französische Firma Renault mit einem Siebzig-PSMotor baute. Diese Maschine war in der Lage, dreihundert Kilogramm zu tragen und eine Ge schwindigkeit von hundert Stundenkilometern zu er reichen. Ihr Brennstoffvorrat reichte für fünf bis sechs Flugstunden. Es war also notwendig, diese Maschine für Landungen auf Wasser und Eis umzubauen. Mit diesem Vorsatz fuhr ich nach Paris. Frankreich war zu jener Zeit in der Technik des Flugzeugbaus am weitesten fortgeschritten. Die mei sten russischen Piloten wurden dort ausgebildet. Aus
Petersburg wurde mir telegrafisch mitgeteilt, daß man mir keinen russischen Mechaniker für die Arktis zu teilen könne. Ich sprach mit Andre, einem französi schen Techniker, dem ich mich besonders verbunden fühlte. ,Was ist das für ein Sport, in einer solchen Ge gend herumzufliegen?' fragte er mich verwundert. ,Das ist kein Sport, Andre, die Menschen gehen um der Wissenschaft willen in den Hohen Norden.' Andre kratzte sich den Hinterkopf. ,Ein wunderliches Volk seid ihr Russen, vor nichts habt ihr Angst.' Ein anderer Arbeiter mischte sich ein: ,Doch sie fürchten Gott und den Zaren.' . Andre winkte ab. ,Wart mal, den Zaren werden sie davonjagen und Gott...' Mir waren solche Gespräche damals ungewohnt. Die französischen Arbeiter zeigten sich politisch sehr aufgeklärt, ich aber hatte die Aufgabe, einen guten Mechaniker zu finden. Schließlich gelang es mir. An dre zu überreden. Er sagte: ,Es ist sicher sehr kalt dort oben, wie Sie erzählen, aber für dreihundertachtzig Rubel im Monat und eine große Versicherung für meine Angehörigen - für den Fall der Fälle -würde ich mitkommen.'" Auf solche Bedingungen geht die zaristische Bürokratie in Petersburg nicht ein. Selbst Nagurski bekommt - und das ist schon eine außergewöhnliche Summe - nur dreihundert Rubel im Monat. Man bietet Andre zweihundert Rubel. Andre lehnt ab, aber er sorgt dafür, daß Nagurski zum ersten Probeflug eine Maschine besteigt, an der nach damaligen Verhältnissen nichts auszusetzen ist. Nagurski macht insgesamt achtzehn Trainingsflüge,
bevor das Flugzeug auseinandergenommen und in Kisten verpackt per Eisenbahn nach Oslo geschickt wird. Nehmen Sie Hundegespanne!
Der Beamte der zaristischen Admiralität, Breitfuß, der in Oslo verantwortlich für die Ausrüstung der Suchexpedition ist, schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, als die Flugzeugkisten ankommen. Die beiden Schiffe, die „Eklips" und die „Herta", haben 650 beziehungsweise 500 Tonnen. Ihre Laderäume bersten bereits vor Brennstoff und Proviant. Breitfuß wendet sich mit einem Brief an die Ad miralität: „Viel Ärger macht uns das Flugzeug. Acht Kisten mit Ersatzteilen haben wir noch irgendwie unterbringen können, aber für das in vier Kisten ver packte Flugzeug ist kein Platz. Eine dieser Kisten erinnert mehr an einen Eisenbahnwaggon ..." Leider schlägt sich auch Kapitän Isljamow auf die Seite von Breitfuß. Der alte Seebär knurrt: „Eine nutzlose Idee, mit diesen Riesenspielzeugen den Frachtraum zu belasten. Dort im Norden kommt man mit Hundegespannen nicht vorwärts, und Sie wollen fliegen, das ist doch alles glatter Unsinn ..." Nagurski muß um seine Teilnahme an der Expedition kämpfen. Auf seiner Seite aber stehen der Polarforscher Amundsen und der berühmte Kapitän Otto Sverdrup, der zusammen mit dem Forscher Nansen durch seine Polarfahrten zu Weltruhm gelangt ist. Amundsen kommt oft an Bord des Schiffes, um zusammen mit Sverdrup den russischen Kapitänen und vor allem
Nagurski Hinweise zu geben. Die beiden Polarforscher antworten geduldig auf alle Fragen, und besonders Amundsen interessiert sich für das Flugzeug. Der Kapitän Isljamow kann nicht umhin, seine Bemerkungen dazu zu machen: „Alle diese Kästen werden wir sicherlich noch gebrauchen als Hütten für die Schlittenhunde. Haben Sie schon mal einen Schneesturm erlebt? Oder einen Orkan?" Nagurski kennt weder das eine noch das andere aus eigenem Erleben. Ihm ist die Arktis fremd. Doch das Flugzeug bleibt an Bord. Die Kisten werden verstaut. Von der Admiralität kommt ein Telegramm, daß man einen fähigen Mechaniker in Odessa gefunden habe: Jewgeni Kusnezow, der sich bereits auf dem Weg nach Murmansk befindet. Am 30. Juni 1914 verläßt die Rettungsexpedition den Hafen von Oslo. Nansen und Amundsen lassen es sich nicht nehmen, die russischen Seeleute und den Fliegerleutnant Jan Nagurski zu verabschieden. Die Botschaft in der Büchse
In Murmansk werden das Flugzeug und die Kisten mit den Ersatzteilen auf den Dampfer „Petschora" umgeladen, der ebenso wie der Dampfer „Andromeda" an der Expedition teilnehmen soll. Die „Petschora" nimmt Kurs auf Nowaja Semlja, wo die Se dowexpedition letztmalig überwintert hat. Während die Schiffe in das Eismeer vordringen, um einige Dutzend Menschen zu retten, beginnt in Europa das große Menschenmorden. Der Krieg ist ausgebrochen. Am Abend des 16. August 1914 erreicht
die „Petschora" die Kreuzbucht, eine der schönsten Buchten der Insel Nowaja Semlja. Dort liegt schon die „Andromeda" vor Anker. Ihr Kapitän Pospelow weiß von einem kühnen Vorstoß nach Norden zu berichten: „Zuerst hielt uns das Eis auf, dann
Auf dem Schiff „Petschora". Zweiter von rechts: Jan Nagurski
gaben wir mit der Sirene Signale, die ja in dieser Eiswüste sehr weit zu hören sind. Nichts. Keine Ant wort. Schließlich setzten wir ein Boot aus und er reichten durch Eisrinnen eine Bucht, in der Sedow eine Nachricht in einer Büchse zurückgelassen hat." Nagurski springt auf. „Was war drin?" Pospelow öffnet den Schreibtisch. Alle Anwesenden hören voller Erregung die schriftliche Botschaft Sedows: „Die Expedition zum Nordpol unter Leitung des Oberleutnants Sedow hat hier von 1912 bis 1913 überwintert. Wir verließen diesen Platz am 22. August 1913. Wir nehmen Kurs auf Franz-Josef-Land zum Kap
Flora. Wir lassen Vorrat an Lebensmitteln für 17 Menschen für einen Monat sowie ein Gewehr mit Patronen auf der Pankratjew-Insel zurück. Dort be finden sich auch Kopien der von uns hergestellten wissenschaftlichen Karten. Die Expedition bittet jeden, wer es auch sei, diese Karten nach Petersburg zu bringen. 1913, 22. August. Leiter der Nordpolexpedition, Oberleutnant G. J. Sedow." Pospelow erzählt, daß er daraufhin zur PankratjewInsel gefahren sei. Ein Vorratslager habe er nicht vor gefunden, wohl aber ein Kreuz mit einer Aufschrift. Sie hätten die ganze Insel abgesucht und im Nordwesten eine Vorratshütte gefunden, aber in ihrem Innern nur eine Tonne mit Maschinenöl und einen Eimer. „Haben Sie die Suche fortgesetzt?" fragt Nagurski gespannt. „Ich konnte nicht, das Schiff ist durch seinen Besitzer nur bis zu diesen Breitengraden versichert, so mußte ich umkehren." „Was für ein Unsinn", ruft Nagurski. „Ich bin völlig Ihrer Meinung", sagt der Kapitän, „aber als Kapitän habe ich nicht das Recht..." Die Rettungsexpedition für Sedow ist von der Re gierung finanziert, aber die Schiffe gehören privaten Reedern, und diese haben sich vertraglich gesichert, wie es im Kapitalismus üblich ist. Der Teufel soll die Hundesöhne holen
Die Vertragsklauseln gestatten Nagurski nicht, wie er es ursprünglich geplant hat, seine erste Flugbasis auf
der Pankratjew-Insel zu errichten. Der „Petschora" verbietet der Kontrakt, weiter nördlich als bis zur Kreuzbucht zu fahren, und die „Andromeda" kann die schweren Flugzeugkisten nicht übernehmen. Der einfache Soldat und Mechaniker Jewgeni Kus nezow versteht diese Vorsicht der Schiffseigner nicht, und er macht aus seinem Herzen keine Mördergrube: „Der Teufel soll sie alle holen!" Kusnezow ist ein frommer Mensch, und er bekreuzigt sich schnell nach diesem Fluch. Er begründet seine Frömmigkeit auch: „Man soll nicht den Teufel zitieren in einer Gegend, wo es keinen Popen und keine Kirchen gibt, nur Eis und Eisbären! Hol's der Teufel!" Er hält erschrocken inne, bekreuzigt sich wieder, flucht und bekreuzigt sich wieder. Er ist ein einfacher Mensch, er versteht nicht, warum die Kisten mit den Flugzeugteilen nicht weiter nördlich ausgeladen werden, wo die Chance, eine Spur der Sedowexpedition zu finden, größer ist. Am 5. August 1914 wirft das Schiff seine Anker in der Kreuzbucht. „Wir werden die Flugzeugkisten hier an Land bringen", teilt Nagurski seinem Mechaniker den Befehl des Kapitäns mit. „Hier? Auf diese Eisschollen? Das ist doch nicht möglich! Hier ist doch nicht mal eine Handvoll Erde zu sehen." Der Südländer Kusnezow findet sich überhaupt nicht mehr zurecht. Es ist ihm schon schwer geworden, sich an diese ungewöhnlichen, grauen Eismeertage zu gewöhnen, eine einzige Dämmerung, bei der man darauf wartet, daß es Nacht werden solle oder Tag. Das Ufer, eis- und schneebedeckt, fällt steil ins Meer ab. Es ist nicht einmal möglich, dicht heranzufahren,
weil Unterwasserriffe dicht unter der Oberfläche des grauen, unbeweglichen Wassers das Schiff in den Grund gebohrt hätten. An Bord befinden sich zwei nicht allzu große Rettungsboote, sie sind auf keinen Fall geeignet, die schweren Flugzeugkisten zu transportieren. Die Flugzeugteile befinden sich in zehn Kisten, fünf von ihnen können verladen werden, wenn man beide Rettungsboote zusammenbindet. Nagurski stellt alle möglichen Berechnungen an, wie man die Flugzeugteile an Land bringen kann. Kusnezow steht neben ihm, er spuckt wütend über Bord. „Ein ganzes Jahr hat man an dieser Maschine gearbeitet, sie in Kisten verpackt, hat sich den Kopf zerbrochen, daß nur kein Teil beschädigt wird, selbst die Nägel sind von Ingenieuren eingeschlagen worden, und jetzt... ? Hol's der Teufel!" Er bekreuzigt sich. „Hier gibt es keine Kräne wie im Hafen. Wenn wir wenigstens ein gewöhnliches Floß und eine Winde hätten. Wie dämlich sie sind, diese Hundesöhne!" Na gurski blickt Kusnezow begeistert an. Der junge Süd länder, ein Mechaniker, kein Ingenieur, hat den Aus weg gefunden. Kusnezow versteht den Blick falsch, er entschuldigt sich bei Nagurski: „Ich meine nicht Sie, Herr Ingenieur, ich meine das so im allgemeinen. Aber wir beide werden es schon schaffen." Er behält recht. Nagurski erzählt darüber: „Wir bauten aus den beiden Rettungsbooten des Schiffes und dem zahlreichen Schwemmholz auf der Insel ein Floß. Der Plan war einfach und gut. Die Matrosen halfen mit Hammer, Säge und Beil, wir verluden die ersten Kisten mit den Ersatzteilen und bugsierten unser Floß zum Ufer. Aber nirgends gelang
es uns, die Kisten über den Rand des steilen Eises zu schieben. Sie rutschten immer wieder zurück und drohten ins Wasser zu fallen oder sogar die Boote zu zerstören. Kusnezow fluchte und bekreuzigte sich abwechselnd. Er verwünschte die Arktis und alle, die diese Expedition organisiert und ihn, den Südländer aus Odessa, in diese Eiswüste kommandiert hatten. Wir fuhren das Ufer entlang. Endlich fanden wir eine Stelle, die es uns erlaubte, die Kisten an Land zu befördern. Es ging nicht ohne Eisbad ab, doch endlich standen alle Kisten, die Instrumente und die Ersatzteile auf dem Inselfestland. Wir hatten es geschafft." Gott sei mit euch
Die „Petschora" kehrt zu ihrem Heimathafen zurück, die „Herta" nimmt Kurs auf Franz-Josef-Land. Dem Kapitän der „Herta" fällt es nicht leicht, die beiden Männer allein zu lassen. Er ist ein alter erfahrener Polarfahrer, und alles in ihm sträubt sich, diesen Flie ger, der ebenso wie sein Mechaniker zum erstenmal die Arktis gesehen hat, wie einen Schiffbrüchigen aus zusetzen. Er sieht, wie der Südländer mit seinen Stiefeln zuerst vorsichtig und dann etwas kräftiger auf das Eis des Festlandes trampelt. Kusnezow traut den Angaben des Kapitäns nicht, daß sich ausgerechnet unter diesem Eis feste Erde befinden soll. Erst als er nicht in eisiges Meereswasser versinkt, nickt er Nagurski zu. „In Ordnung, Land!" Der Kapitän der „Herta" verabschiedet sich: „Wenn es Ihnen nicht gelingt zu fliegen, dann machen Sie es sich hier bequem. Die .Andromeda' wird noch einmal die
Kreuzbucht anlaufen und für uns Kohle und Proviant hierlassen. Sie können mit der ,Andromeda' zurückkehren, vorausgesetzt, daß man Ihren Drachen verladen will." Es soll spaßhaft klingen, aber sowohl Nagurski als auch Kusnezow spüren die Sorge des erfahrenen Polarkapitäns. Die Matrosen bekreuzigen sich. „Gott sei mit euch" Zwei Männer stehen auf einer Eisfläche inmitten der unausgepackten Flugzeugkisten. Der Dampfer, der letzte, wird immer kleiner. Kusnezow hört auf zu fluchen und sich zu bekreuzigen. Er steht da, winkt den Matrosen nach, und über sein braunes Gesicht laufen Tränen. Als das Schiff hinter der Bucht verschwindet, laufen die beiden Männer zum Gipfel des nächstgelegenen Berges. Lange noch lassen sie ihre Tücher flattern, das Schiff antwortet mit Flaggensignalen. „Komm arbeiten, Shenka!" sagt Nagurski. Unvermittelt redet der Offizier den Soldaten mit seinem Vornamen an. Nagurski hat viel von Amundsen und Nansen gelernt, er weiß, daß die Arbeit neben der Verpflegung das lebenswichtigste Element der Menschen in der Polarwelt ist. Kusnezow weint. Er weint wie ein kleines beleidigtes Kind, das man allein gelassen hat. Weit im Süden, in Odessa, am sonnigen Schwarzen Meer, weiß er seine Mutter und ein geliebtes Mädchen. Beide warten sie auf seine schnelle Rückkehr. Zwei Menschen - zwei Männer allein in der Arktis! Als der Expeditionsplan in allen Einzelheiten besprochen worden ist und sogar später, noch während der Fahrt auf dem Schiff, ist nie die Rede davon gewesen, den Flieger und seinen Mechaniker von den Schiffsbesatzungen zu trennen. Immer hat Nagurski
damit gerechnet, als Basis der Flüge eines der Schiffe zur Verfügung zu haben. In tagelanger Arbeit gelingt es den beiden, aus den unzähligen Einzelteilen das Flugzeug zusammen zubauen. Nagurski meint, daß diese Leistung zweier Menschen in der ungeheuren Eiswüste mindestens ebensoviel bedeutet hat wie der erste Arktisflug. Nur
unter den damaligen Ausbildungsbedingungen ist diese Arbeit überhaupt möglich gewesen. Nagurski sagt dazu: „Ich bezweifle, daß es heute irgendeinem Flieger und seinem Mechaniker möglich ist, ihr Flugzeug zusammenzubauen, wenn man es ihnen, in alle Teile auseinandergenommen, auf eine einsame Insel bringt. Ich spreche schon gar nicht von der Arktis. Die großen schwimmenden Polarstationen mit ihren Hubschraubern, Traktoren und Autos, mit ihrer stän digen Funkverbindung und der Gewißheit, daß auf den ersten Notruf große Flugzeuge vom Festland starten, sind tausendfältigen Gefahren und Überraschungen ausgesetzt. Allerdings haben viele Jahrzehnte Polarfliegerei diesen Kollektiven eine große Erfahrung gegeben. Und nun denken Sie sich das alles weg. Evakuieren Sie eine solche moderne Polarstation und lassen Sie zwei Männer zurück - allein im wahrsten Sinne des Wortes, ohne Funk, ohne jede Verbindung. Aber solche Gedanken hatten wir damals nicht. Woher auch? Mit Zange und Brechstange
Das Flugzeug des ersten Arktisfliegers Jan Nagurski
öffneten wir die Kisten, zwischendurch machten wir Bekanntschaft mit trügerischen, schneeverwehten Eis spalten. Vielleicht war es ein Glück, daß wir die vielen Gefahren der Arktis nicht kannten. Shenka, mein Mechaniker, hatte sich schnell wieder gefaßt. Am er sten Tag schuftete er vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Er überprüfte alle Flugzeugteile, die Instrumente und die Waffen. Alles war in Ordnung, als wir in der größten leeren Kiste Schutz suchten vor dem feinen Regen, der unsere Kleidung durchnäßte und bis auf die Haut drang. Es wurde kalt. Die Temperatur sank unter Null, der Regen verwandelte sich in Schnee. In den nächsten Tagen bauten wir aus den Flugzeugkisten ein Haus. Die kleineren Kisten dienten uns als Möbel, als Tisch, Stühle und Schränke. Nimmt man es genau, so entstand die neunzehnhundertzweiundfünfzig nach mir benannte Polarstation Nagurski eigentlich schon damals. Nach dem Hausbau bereiteten wir die Flugzeug montage vor. Wir stellten Böcke auf und sägten Ein schnitte für die wichtigsten Flugzeugteile hinein. An der Arbeit des geschickten Mechanikers hatte ich meine helle Freude. Shenka war mit Begeisterung bei der Sache. Er bereitete sogar unser Essen auf einem Feldsteinherd in der Nähe des Arbeitsplatzes, weil ihm der Weg ,nach Hause' zu weit war. Gewöhnlich gab es Fisch- oder Fleischkonserven mit Reis. Dann rauchten wir eine Papyrosa, tranken einen Schluck Wodka und arbeiteten weiter. Shenka konnte sich noch immer nicht an den Polartag gewöhnen. Er wartete auf die Dunkelheit und schaute verwundert, wenn ich ihm sagte, es sei zwei Uhr nachts und Zeit zum Schlafen.
Trotz der Müdigkeit schlief ich meist nicht ein. Wir lagen in unseren warmen Pelzschlafsäcken auf Gum mimatratzen. Gewöhnlich erzählte mir Shenka von seiner Heimat im Süden, bis seine Stimme immer leiser wurde und sich in ein sanftes, dann aber sehr kräftiges Schnarchen verwandelte. Einmal erwache ich, weil mir dieses Schnarchen gar zu laut wird. Ich stoße Shenka an, er murrt unwillig, dreht sich auf die andere Seite und schnarcht entsetzlich weiter. Ich bin sein Vorgesetzter. Ich kann ihm manches befehlen, aber jemand das Schnarchen verbieten? Ich rüttle Shenka wieder an der Schulter. Shenka protestiert. Er schnarche nicht. Er sitzt aufrecht, schaut mich aus großen empörten Augen an und - schnarcht weiter. Draußen heult ein Sturm. Meine Nerven gehen mir zum erstenmal durch. Ich reiße den Schlafsack herunter und krieche aus dem Haus. Es war unser Glück. Der Sturm hatte unser auf das Eis gebautes Haus schon unmittelbar bis an den Rand des Meeres ge trieben. Das, was mir als Shenkas Schnarchen erschie nen war, stellte sich als das Fahrtgeräusch unserer Wohnung heraus. Mit Mühe gelang es uns, die Heim statt zu verankern. Am nächsten Tag schien die Sonne vom klaren Himmel. Wir unternahmen einen langen Erkundungs gang, um festzustellen, wo und wie die Anlage eines Flugplatzes möglich wäre. Vom Gipfel eines etwa dreihundert Meter hohen Berges bot sich ein über wältigender Anblick: Östlich von uns verlief die Kü stenlinie. Mit bloßem Auge konnten wir beobachten, wie Eisblöcke und ganze Eisfelder vom Festland in das Meer rutschten. Im Inselinnern sahen wir eine
gewaltige Bergkette, die sich von Norden nach Süden erstreckte und zu unserer Seite steil abfiel. Die Gletscher darauf glitzerten in der Sonne. Zum Süden zu fiel die Bergkette ab, und sie schien mir auch nicht ganz so steil. Wir trafen auf Bärenspuren, und Shenka wollte mich überreden, ihnen zu folgen. Unser Ziel war jedoch, einen Flugplatz zu finden, und als ich sah, daß es nirgends eine geeignete Stelle gab, beschloß ich, vom Wasser aus zu starten. Die Matrosen hatten die Kisten mit den Flugzeugteilen weit vom Ufer auf einen sicheren Platz gebracht. Das erwies sich jetzt als Nachteil. Das Gelände war hügelig, von Eisspalten zerrissen und von Schneewehen bedeckt, in die man tief versank. Shenka fing wieder an zu fluchen, daß man vergessen habe, eine Winde mitzunehmen. Dann fand er, wie immer, einen Ausweg: ,Wir bauen ein Rollgestell aus Balken.' Theoretisch war der Plan einfach und klar. Als wir ihn realisierten, gab es unzählige Schwierigkeiten. Schließlich hatten wir das Flugzeug bis zum Ufer ,herangekullert'. Es war die flachste Stelle, sie fiel über einen Meter zum Wasser ab. ,Wir müssen eine Helling bauen', stellte Shenka fest. Wir bauten aus Brettern und Balken eine Rutschfläche. Das eine Ende befestigten wir mit Stricken fest an Uferfelsen, das andere ließen wir ins Wasser herab. Ich glaube, bei keinem Stapellauf eines Ozeanriesen haben die Erbauer jemals mit solchem Herzklopfen dabeigestanden wie wir damals vor unserer Helling auf der Insel Nowaja Semlja."
Das erste Wasserflugzeug der Arktis
„Unser ,Farman' steht auf der Gleitfläche, gesichert mit einem dicken Hanfstrick. Shenka verbraucht den Rest unserer Seife für die Gleitfläche. Ich stehe auf den glitschigen Brettern, den linken Fuß gegen einen Balken gestützt, und gebe meine Kommandos: ,Laß nach.' Der ,Farman' gleitet über die Bretter und steht auf einmal gefährlich schräg. Er gleitet weiter, und dann berühren die Schwimmer das Wasser. Mein Flugzeug schaukelte auf dem Eiswasser! Es schwimmt! Das erste Wasserflugzeug in der Arktis! Ich wische mir den Schweiß von der Stirn, Shenka steht neben mir und schaut mit aufgerissenen Augen auf das Resultat unserer Arbeit wie auf ein Wunder werk, an dem wir nicht den geringsten Anteil hätten. Dann aber befestigt er die Maschine mit einem Anker, als habe er sein Lebtag keine andere Arbeit verrichtet. Jetzt können wir uns etwas ausruhen, Herr Ingenieur.' Von Ausruhen konnte aber keine Rede sein. Ich wußte nicht, wann in diesen Breitengraden noch einmal so gute Wetterbedingungen herrschen würden. Der Himmel konnte sich schon in den nächsten Stunden wieder bewölken, ein umschlagender Wind konnte die Eisschollen in die Bucht treiben. Wenn ich starten wollte, dann mußte ich es jetzt tun. Shenka faßte das Flugzeug an der Tragfläche. Er stieß es mit der Schnauze zum offenen Meer, mit den Händen packte er den Schwanzteil der Maschine. Ich kletterte auf den Pilotensitz und ließ den Motor an. Auf
mein Handzeichen hin ließ der Mechaniker das Flugzeug los, so wie heute ein Junge einen Drachen losläßt." Noch heute, nach über einem halben Jahrhundert, erlebt Nagurski diesen ersten Arktisflug, als habe er gestern erst stattgefunden. „Dieser Flug war aufregender als mein erster Alleinflug. Ich wagte nicht, das Steuer heranzuziehen und die Maschine von den Fesseln des Wassers zu befreien. Aufmerksam lauschte ich dem gleichmäßigen Brummen des Motors. Er arbeitete gut, ebenso wie bei unseren unzähligen Überprüfungen an Land. Erst als ich das Gefühl hatte, daß die Maschine schon beinahe in der Luft lag und mit den Schwimmern kaum noch das Wasser berührte, zog ich das Steuer an. Federleicht löste sich die Maschine vom Meer. Vorsichtig gab ich an Höhe zu. Ich ließ die Zeiger, die die Umdrehungszahl des Motors und die Ölzufuhr anzeigten, nicht aus den Augen. Andere Instrumente, die ich zu beachten hatte, gab es damals noch nicht. In dieser Beziehung war mein Flugzeug einfacher als ein zeitgenössisches Auto. Langsam zog ich die Ma schine immer sicherer nach oben. In fünfhundert Meter Höhe begann ich mit der Überprüfung der Steuerung. Ich zog sie nach links und nach rechts, steil nach oben und wieder nach unten. Der ,Farman' gehorchte allen Manövern und hielt sich gut in der Luft. Ich fliege und - ich fliege in der Arktis! Mit einem Vogelkäfig nach heutigen Begriffen. Von zwei Männern zusammengebastelt. Jede nicht festangezogene Schraube, jede nicht genügend überprüfte Verstrebung konnte eine Katastrophe bedeuten. Und selbst
verständlich hatten wir bei unserem Zusammenbau nicht einmal diejenigen Instrumente, über die man damals bereits in den Flugzeugfabriken verfügte, um die Stabilität des Flugzeugs zu überprüfen. Ich flog eine halbe Stunde über der Bucht. In der ganzen Zeit sah ich Shenka als kleinen Punkt am Ufer stehen und ununterbrochen rauchen. Als ich mit der Maschine zur Landung ansetzte und sie mit ge drosseltem Motor dem Ufer zusteuerte, lachte der Mechaniker vor Freude wie ein kleiner Junge. ,Habe ich es Ihnen nicht gleich gesagt, wir beide werden es schon schaffen!' Ich umarmte den prächtigen Jungen voller Freude. Wir nannten einander von dieser Stunde mit Vornamen, was für die damalige Zeit zwischen Offizier und Soldaten wirklich außergewöhnlich war." Nachdem Nagurskis Probeflug ohne Zwischenfälle verlaufen ist, steht der Suche nach der verschollenen Expedition nichts mehr im Weg. Nach Shenkas Wor ten, der zur Pilotenkunst Nagurskis unbegrenztes Vertrauen hat, ist es in erster Linie eine mathematische Aufgabe. Der „Farman" verträgt weniger Zuladung als heute ein leichter Pkw. Er ist gerade imstande, 350 Kilogramm in die Lüfte zu heben. Die beiden Freunde stehen vor den Vorräten, den Waffen und der Munition, den Ersatzteilen und Instrumenten, vor der volumenreichen Winterbekleidung, und sie wissen nicht, was man mitnehmen und was man dalassen soll. Es gibt eigentlich nichts, was man zurücklassen dürfte. Kusnezow füllt den Benzintank, daß nicht ein Tropfen mehr hineingeht. Er verstaut einen Proviant für zehn Tage, Gewehre, Patronen, Schneeschuhe und
Schlafsäcke - alles zusammen überschreitet mit dem Gewicht der beiden Mähner schon die 350 Kilogramm. Viel notwendige Ausrüstung bleibt liegen. Flug im Schneesturm
Nagurski hat es eilig. Er bemerkt nicht, daß er seine Beherrschung verloren hat und den Mechaniker fast anschreit. Er sitzt auf dem Pilotensitz, Kusnezow ba lanciert auf einem Schwimmer am Motor. „Kontakt", kommandiert Nagurski. „Kontakt!" schreit Kusnezow. Der Motor singt sein Lied. Kusnezow klettert geschickt auf den zweiten Sitz hinter dem Piloten. So hat Nagurski diesen zweiten Arktisflug in Erinnerung: „Wir flogen das Nordufer der Insel Nowaja Semlja entlang. Dieses Mal war es bedeutend schwieriger, Höhe zu gewinnen. Ich mußte zuerst dem Bergufer ausweichen und auf die offene See hinausfliegen. Ein schönes Bild: rechts die Eisberge des Festlands, die zum Wasser abfallenden Gletscher und links davon der weiße Eisozean mit den dunklen Flecken offener Wasserstellen. Ich flog in dem Bewußtsein, der erste Mensch zu sein, der ein solches Bild in sich aufnehmen durfte. Endlich gelang es mir, das Flugzeug auf tausend funfhundert Meter Höhe zu bringen, bei einer Aufjen temperatur von minus fünfzehn Grad. Natürlich war die Außentemperatur gleich der Innentemperatur. Ich war so erregt während dieses Fluges, daß ich den Wind und die Kälte längst nicht so spürte wie Shenka, der mit bereiftem Gesicht hinter mir saß. Ununterbrochen
verfolgte ich die Eisfläche unter mir, um ständig orientiert zu sein, wo sie von Eispressungen zerrissen war und an welchen Stellen glatte Flächen eine vielleicht notwendige Eislandung erlauben würden. Ich mußte tüchtig mit dem Steuerknüppel manövrieren, um immer stärker werdenden Windstößen zu begegnen. Nach einer Flugstunde begann zu meinem Schreck der Mechaniker Kusnezow mit den Füßen zu trampeln, um sich zu erwärmen, als sei er irgendwo an Land. Er hörte damit erst auf, nachdem er die Verschalung durchstoßen hatte. Sein Gesicht wurde weißer als der Reif, der es bedeckte, und er begann, sich zu bekreuzigen. Plötzlich verschwand die Landschaft unter uns im Nebel. Nasser, schwerer Schnee fiel auf das Flugzeug. Die Geschwindigkeit der Maschine war nicht groß genug, ihn von den Tragflächen herunterzuwehen. Ich fühlte, wie die Maschine schwerer wurde. Der Schnee verklebte Gesicht und Brillengläser. Shenka krümmte sich zusammen wie ein Igel. Seine Hände in den großen Pelzhandschuhen hielt er schützend vor den Kopf. Mein Gesicht brannte. Ich mußte die Brille abnehmen. Mit zusammengekniffenen Augen starrte ich in die grauschwarze wirbelnde Wand. Ich flog blind. Nur an dem kalten Wind, der wie mit Peitschenschlägen mein Gesicht massierte, an dem Brummen des Motors und an dem hin und her schaukelnden Flugzeug erkannte ich, daß wir flogen. Ich schaute auf den Kompaß. Seine Nadel tanzte wild im Kreis. Ich hatte die Orientierung verloren. Ich sah keine Erde, kein Eis, und wir konnten jeden Augenblick an einem Berg zerschellen. Ich bemühte
mich, nicht an Höhe zu verlieren. Wir flogen immer noch nördlich in einer Höhe von tausend Metern. Ich starrte angestrengt nach unten, um irgend etwas in dem wallenden Schneewirbel zu sehen. Nichts. Dafür drohte eine neue Gefahr: die Vereisung des Flugzeugs. Der Luftschiffer. Andre, der mit einem Ballon den Nordpol hatte erreichen wollen, hatte über diese Gefahr ausführlich berichtet. Unsere Maschine war nicht imstande, ein größeres zusätzliches Gewicht zu tragen. Über eine halbe Stunde flogen wir im Nebel und Schneesturm. Dann endlich ein heller Sonnenstrahl, die schmerzenden Augen erblickten unter uns das weiße Eis. Nur für einen Moment. Ein Fenster in den Schneesturmwolken. Aber dieses Fenster ließ andere ahnen. Der Schneeschauer mußte bald vorüber sein. Und ebenso plötzlich, wie wir in den Schneesturm hineingeraten waren, ließen wir ihn hinter uns. Doch unten war nirgends Land zu sehen. Ich hatte die Insel Nowaja Semlja verloren, und der Kompaß half mir nicht, sie wiederzufinden. Ich nahm Kurs nach Ost. Dann, nach etwa dreißig Minuten Flugzeit, tauchte die Pankratjew-Insel auf. Die Sonne milderte den Frost. Ich drückte die Maschine nach unten, um einen Landeplatz zu suchen. Entlang der Uferlinie der Insel Nowaja Semlja schien mir eine glatte Fläche zu sein. Ich beschloß zu landen, etwas zu ruhen und dann in Richtung Franz-Josef-Land zu starten. Zunächst aber flog ich ins Innere der Insel. Hier er blickte ich in der Nähe der Bucht zur Pankratjew-Insel einen Punkt, der mich veranlaßte, tiefer zu gehen und mehrere Kreise zu ziehen. Ich traute meinen Augen nicht: Inmitten der Eiswüste stand ein Haus. Ich drehte
das Flugzeug zurück zu dem ausgemachten Landeplatz, ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß wir vier Stunden und fünfzig Minuten geflogen waren. Einige Male setzte ich zur Landung an, ging dann aber mit vollen Touren wieder hoch, voller Angst, die Maschine zu beschädigen. Hier gab es niemand, der uns bei einer Bruchlandung helfen konnte, hier war nicht einmal das kleine Lager mit den Ersatzteilen, von dem wir gestartet waren. Vorsichtig brachte ich die Maschine schließlich glatt zur Landung. Shenka war so erstarrt, daß ich ihm vom Sitz helfen mußte. Selbstverständlich machte sich bei ihm auch die Nervenanspannung des Fluges bemerkbar, und ich gestehe, daß dieser Nebel- und Schneesturmflug bei mir ebenso seine Spuren hinterlassen hatte. Doch nicht weit entfernt vom Meeresufer, zwischen schwarzen Felsen stand ein Haus." Das Haus in der Eiswüste
„Trotz unseres erschöpften Zustands machten wir uns beide sofort auf den Marsch zu dem erspähten Haus. Es dauerte eine halbe Stunde, bis wir das Steilufer erklommen hatten, von dort war es nicht mehr weit bis zur Hütte, die aus Schwemmholz erbaut war. An einer windgeschützten Ecke des Hauses lag Kohle, darüber war Schnee geweht. Zum erstenmal sahen wir hier im Norden die Spur eines Menschen. Wer hatte in dieser unendlichen Einsamkeit gelebt? Meine Gedanken überschlugen sich. Als wir die Tür öffneten, knarrte das rostige Schloß. Wir traten ein. Durch ein kleines Fenster fiel ein dünner
Lichtstrahl. Aus Holz geschlagene Pritschen, ein Tisch und irgendein Metallgegenstand, der darauf lag. Eine Minute standen wir ganz still, schweigend, voller Erregung die einfache Einrichtung betrachtend. Der Gegenstand auf dem Tisch entpuppte sich als ein Metallrohr: ineinandergesteckte Konservenbüchsen. Ich öffnete es mit zitternder Hand. Aus dem Rohr fielen zusammengedrehte Papierblätter. Sedow! Ich begann, die Schriftzeichen zu entziffern. Zuerst nur die Überschriften. Ich war gar nicht in der Lage, dieses wichtige Dokument zu lesen. Ich wußte zunächst nur soviel, daß ich der erste Mensch war, der die Spur der verlorengegangenen Expedition gefunden hatte. Aus den Aufzeichnungen ging hervor, daß sich Sedow in etwa fünfzehn Flugstunden Entfernung von uns befand. Mit meinem ,Farman' konnte ich aber höchstens fünf Stunden fliegen. Zudem war ich buch stäblich mit dem letzten Tropfen Benzin gelandet. Diese Tatsache war für mich so niederschmetternd, daß ich alles um mich vergaß. Ich kam erst zu mir, als Shenka mir in den Rücken stieß. ,Was haben Sie denn gelesen, so sagen Sie es mir doch.' ,Ich werde es dir vorlesen.' Vor uns lag eine Meldung Sedows an das Marine ministerium. Er teilte mit, daß eine ununterbrochene Eisdecke seine Expedition daran gehindert habe, das Franz-Josef-Land im ersten Jahr der Expedition zu erreichen. Das Schiff ankere fünfzehn Kilometer von diesem Platz entfernt. Mit einem Teil der Besatzung habe er die Pankratjew-Insel aufgesucht, die nicht weit
von Nowaja Semlja liege. Man beabsichtige, hier zu bleiben und erst im nächsten Frühjahr weiterzufahren. Das Schiff solle im Eis überwintern, mit einigen Besatzungsmitgliedern an Bord. Der Kohlevorrat auf dem Schiff sei sehr knapp. Um Kohle zu sparen, ginge der größte Teil der Schiffsbesatzung zur Überwinterung an Land. Außerdem war dem Bericht ein Tagebuch der Ex pedition beigelegt. Über sieben Monate hatte Sedow darin sehr genau die Ereignisse eines jeden Tages festgehalten. Ich las Shenka vor, wie die Mannschaften der Expedition unter dem Mangel an Feuerung und Lebensmitteln gelitten hatten, wie sie gehungert und gefroren haben mußten. ,Was werden wir jetzt tun?' fragte er. ,Wenn wir versuchen, Sedow hinterherzufliegen, so wird man in Petersburg vielleicht nie erfahren Er zeigte auf die Stelle, die ich vorgelesen hatte: ins Ministerium bringen. Es gab aber vorläufig nichts zu überlegen. Wir hatten keinen Kraftstoff mehr, um weiterzufliegen." Das Schicksal der Sedowexpedition
Damals wußte Nagurski nicht, daß zur gleichen Zeit, da er das Haus entdeckt hatte, ein Schiff der Sedow expedition mit Notsegeln in der Barents-See der Hei mat entgegenfuhr. Auf Franz-Josef-Land hatten sie den Expeditionsleiter Sedow beerdigt. Nur 200 Kilometer westlich vom Lagerfeuer Nagurskis fuhr das halbzerstörte Schiff mit den kühnen Forschern und den Matrosen. Schon längst verfügte die Besatzung nicht
mehr über Kohle. Alle Möbel, die Kajüteneinrichtung, jede Zwischenwand, die nicht unbedingt für die Stabilität des Schiffes gebraucht wurde, die Deckaufbauten und die Bordwand waren in die Feue rungskessel gewandert. Und jetzt fuhr dieses Wrack mit Notsegeln. Hätte Nagurski seinen Kurs 200 Kilometer westlich gewählt, dann wäre auch das Schicksal der Brus silowexpedition bekannt geworden. An Bord der „St. Phoca" befanden sich die beiden einzigen Überleben den einer Gruppe von elf Menschen, die das in eine Eispressung geratene Schiff „St. Anna" verlassen hat ten, um sich zu Fuß nach Franz-Josef-Land durchzu schlagen. Nur der Steuermann Albanow und der Matrose Kondrat erreichten am Kap Flora die halb zerstörte „St. Phoca", aber diesen beiden halbverhun gerten, völlig von Kräften gekommenen Menschen erschien sie wie ein Märchenpalast. Von alledem wußten die friedlich am Lagerfeuer schlafenden Flieger nichts. Auch die Besatzung der „St. Phoca", die noch eine lange, mühevolle Fahrt mit einem Ungewissen Ausgang vor sich hatte, konnte nicht ahnen, daß die lang erwartete Hilfe ganz in der Nähe war. Sowohl die Mitglieder der Hilfsexpedition als auch die Überlebenden der Sedowexpedition erfuhren davon erst nach der Rückkehr in die Heimathäfen. Eisbären
Die beiden Männer am Lagerfeuer erwachen. Am klaren Himmel steht die Sonne, nur ab und zu wandern
die Schatten kleiner Wolken über die glänzende Eisdecke. Weithin leuchtend, schaukelt unweit des Ufers der sicher verankerte rote „Farman". Erst jetzt wird Nagurski die volle Bedeutung dieses fast fünf Stunden währenden Fluges in der Arktis klar. Er erinnert sich aller kritischen Bemerkungen und des Unglaubens an die Möglichkeit eines solchen Fluges. Doch die Freude ist getrübt. In der Nähe befindet sich die verschollene Expedition, und sie können ihr nicht helfen. Nagurski denkt an die Sedowleute, und er weiß nicht, daß seine Lage schon in den nächsten Tagen verzweifelter sein wird als die der Überlebenden dieser Expedition. So schildert Nagurski diese nächsten Tage: „Meine ganze Hoffnung war die ,Andromeda', die nach meinen Berechnungen unseren Startplatz in der Kreuzbuch wieder erreicht haben mußte. Dort hatte ich einen Brief mit der ungefähren Lage des geplanten Landeplatzes hinterlassen. Es war verabredet, daß von der .Andromeda' ein Schlittengespann kommen sollte, wenn das Schiff wegen der Eisverhältnisse nicht weiterkonnte. Dieses Schlittengespann mußte uns Verpflegung und Brennstoffvorräte bringen. Alles das war sehr beruhigend, doch ein aufkommender Wind, der immer stärker wurde, drohte unser Flugzeug abzutreiben. Wir verankerten es fester, doch es wurde klar, im Haus, so weit entfernt von dem Flugzeug, konnten wir nicht wohnen. Ein plötzlich aufkommender Sturm, ja selbst ein unerwarteter Windstoß konnte den ,Farman' gegen das Eis schlagen. Wir entschieden uns, die Maschine auf eine feste, zuverlässige Eisdecke zu ziehen und uns direkt
daneben einen Iglu, eine Hütte aus Schneeblökken, wie sie die Eskimos bauen, zu errichten. Ich hatte derartige Bauten wenigstens schon auf Fotos gesehen und aus den Erzählungen anderer Polarforscher erfahren, wie sie errichtet wurden. Shenka dachte zuerst, ich wolle mir einen Scherz mit ihm erlauben. Jedenfalls waren wir beide keine Eskimos, und der Bau des Eishauses dauerte lange, und ein Eskimo-Architekt hätte es sicherlich nicht abgenommen. Die Arbeit hatte uns so ermüdet, daß wir, kaum in die Schlafsäcke hineingekrochen, fest einschliefen. Ich erwachte nach etwa drei Stunden von dem Heulen des Windes. Im Sturm kroch ich auf allen vieren zum Flugzeug. Unsere Verstrebungen konnten es kaum halten. Hastig verstärkte ich die Vertäuung, und zusammen mit Shenka, der mir zu Hilfe eilte, wälzte ich Eisblöcke gegen die Schwimmer und Tragflächen. Shenka arbeitete lustlos und, wie mir schien, ohne große Kraftanstrengung, dabei atmete er aber schwer, und sein Gesicht glühe. Ich erschrak. War er krank? Sein Kopf war heiß, die Adern an den Schläfen geschwollen. Mit Mühe brachte ich ihn dazu, wieder in unseren Iglu und in seinen Schlafsack zu kriechen. Als ich von meiner Arbeit an dem Flugzeug zurückkehrte, war Shenka wach, aber nicht in der Lage, sich aufzurichten. Das Fieberthermometer zeigte neununddreißig Grad. Jeder Tag in dem kalten und engen Eisloch bei unserer streng rationierten Verpflegung schwächte Shenka und auch mich. Ich wollte ihn in die Hütte bringen, aber Shenka bat mich flehentlich, mit ihm zu tun, was ich wolle, ihn aber nicht allein zu lassen. ,Ich will lieber sterben, aber nicht in die Hütte, mir ist
hier auch gar nicht kalt.' Ich war verzweifelt. Aspirin half nicht. Ich wärmte den geringen Vorrat roten Weines und überschlug, wie lange die wenigen Konserven noch reichen würden. Noch vor Tagen hatte ich versucht, mir vorzustellen, welche Entbehrungen die Sedowleute erlitten hatten — jetzt erlebte ich sie. Die Tage vergingen. In unserem Eisloch war es kalt und eng. Durch die Ausdünstungen unserer Körper hatten sich die feuchten Schlafsäcke in Eissäcke verwandelt. Man mußte sie auseinanderbiegen, um hineinkriechen zu können. Ungenügende Nahrung, Kälte und Krankheit. Shenka schlief fast ununterbrochen, ich raubte ihn zu den Mahlzeiten wecken. Sooft es das "Wetter zuließ, kroch ich mit dem Gewehr aus der Eishütte. Endlich gelang es mir, einen Seehund zu schießen. Sein Fleisch er gänzte die Verpflegung. Das Fell wollte ich in der Eishütte auslegen, damit es Shenka wenigstens ein wenig wärmer hätte. Als ich mich aber meiner Fleischvorratskammer näherte, um eine Mahlzeit abzuschneiden, sah ich, daß noch jemand von dieser Verpflegungsstätte lebte. Allen Anzeichen nach ein Eisbär. Wenn es mir gelingen würde, ihn zu schießen! Das Seehundfleisch schmeckte ekelhaft tranig. Das Fleisch eines Eisbären aber sollte sehr schmackhaft sein. Der Bär schien ein Spiel mit mir zu treiben. Wie sehr ich ihn auch belauerte, er ließ sich nicht blicken. Kaum aber kroch ich nach stundenlangem Warten in den Iglu, so hörte ich ihn am Kadaver des Seehundes schmatzen. Ich beschloß, ihm den Weg zu verlegen. Ich fand seine Spur und ging ihr nach. Er kam mir entgegen. Ich verhielt meinen Schritt.
Solch eine Begegnung Auge in Auge mit dem König der Eiswüste ist nicht angenehm, wenn man seiner Hand nicht mehr sicher ist. Es waren vielleicht dreißig Schritt, die uns trennten. Er blieb ruhig stehen. Ich ließ mich auf die Knie nieder und legte das Gewehr auf einen Eisblock, um ihn sicher zu treffen. Der Bär setzte sich ebenfalls und schaute mich freundschaftlich an. Ich hatte das Gefühl, daß ich zu ihm hätte gehen und ihn streicheln können. Einen Augenblick lang tat mir das Tier leid, doch ich erinnerte mich des kranken Shenka und des widerlichen Geruchs des Seehundfleisches. Ich zielte lange und drückte langsam ab. Das Echo des Schusses rollte über die Eiswüste. Der Eisbär brüllte auf, er warf seine beiden Vordertatzen hoch, und ich schoß ein zweites Mal, schon ohne zu zielen. Das Tier lag unbeweglich, ich hatte gut getroffen. Das Gespenst des Hungers war gebannt. Ich fütterte Shenka mit Bärenschinken, aber auch damit konnte ich ihn nicht auf die Beine bringen. Er lag bewußtlos in dem warmen Bärenfell eingewickelt, kaum daß er mich erkannte, wenn ich ihm meine sorgsam gehüteten Mischungen von Wein, Tee und Aspirin einträufelte. Alle paar Stunden schoß ich mit der Signalpistole Leuchtkugeln hoch. Keine Antwort. Das Wetter ver schlechterte sich wieder. Das Eis begann zu arbeiten, überall bildeten sich Risse. Ich zimmerte aus den Schneeschuhen eine Leiter, um mit ihr im äußersten Notfall größere Eisrisse überbrücken zu können. Das Flugzeug war inzwischen mit den Schwimmern so unlösbar im Eis festgefroren, daß wenigstens die Be fürchtung wegfiel, der Sturm könnte es wegtreiben.
Besorgt betrachtete ich dagegen die Eisrisse. Würde das Flugzeug auf einer Scholle davongetrieben, die für uns beide zu klein war, dann mußte ich zusehen, Shenka und mich auf eine größere Scholle zu retten, und das Flugzeug opfern. Der Schneesturm verstärkte sich so sehr, daß ich einige Tage lang aus unserem Iglu nicht einmal bis zu der Stelle kriechen konnte, wo der wertvolle Vorrat an Bärenfleisch lag Unerwartet beruhigte sich das Wetter. Ich kroch aus unserer Höhle und schaute mich verwundert um. Dort, wo vorher Eiswälle gewesen waren, erstreckte sich eine spiegelblanke Fläche. Die Risse im Eis waren vom Schnee verweht. Nur am Flugzeug hatte er sich aufgestaut, ich brauchte den ganzen Tag, es freizuschaufeln. Es war unbeschädigt! Ich würde wieder damit fliegen können, wenn, ja wenn die Leute von der ,Andromeda' Benzin hierher brachten. An diesem Tag schoß ich noch eine Bärin. Mit ihren beiden Jungen war sie bis an unseren Iglu herangekommen. Jetzt würde das Fleisch für einige Wochen reichen. Und dieser Vorrat wurde uns bitter nötig. Es begann wieder zu stürmen, und es kamen Tage, an denen ich den Platz neben Shenka in der Eishütte nicht verlassen konnte." Shenka wird gerettet
„Ich hatte jede Zeitrechnung verloren, als endlich Hundegebell ertönte und fünf Leute von der ,Andro rneda' mit Kraftstoff und Verpflegung vor unserem Eisloch standen. Welch eine Freude! Als ich wieder
Menschen sah, fühlte ich mich vollkommen frisch. So gar Shenka fand die Kraft, mit den Matrosen zu spre chen. Ich wollte darauf bestehen, daß die Leute sofort mit dem Kranken die Heimfahrt antraten, sobald wir das Flugzeug vom Eis befreit hatten. Das Flugzeug war in Ordnung. Aber die großen, starken, verwegenen Männer trampelten verlegen herum wie kleine Jungens, bis einer von ihnen sagte: ,Wir hätten Sie doch gern mal fliegen sehen.' Mir wurde klar, daß sie nicht wegfahren würden, bevor sie das Flugzeug nicht in der Luft gesehen hatten. Und schließlich, diese Männer hatten allerhand auf sich genommen, um im tagelangen Marsch über das trügerische Eis unser nicht einmal genau angegebenes Ziel zu erreichen. Um Shenka möglichst schnell auf dem Dampfer zu haben, beschloß ich deshalb, sofort zu fliegen. Noch nie zuvor hatte ich so gute Starthelfer wie diese Matrosen gehabt, die ein ,solches Ding' mal in der Luft sehen wollten. Wir einigten uns, daß die Matrosen auf meine Rückkehr warten sollten. Es war auch für Shenka besser, der von ihnen umsichtig mit frischen Lebensmitteln und den notwendigen Medikamenten versorgt wurde. Ich hoffte, noch irgendwelche Spuren der Sedow expedition zu sichten, und flog deshalb in Richtung der Rudolph-Insel. Das Wetter war klar, die Eiswüste ohne Wasserflächen, die Maschine hielt sich in tausendfünfhundert Meter Höhe gut bei einer Tempera tur von minus fünfzehn Grad. Dann geriet ich wieder in Nebel. Die Temperatur stieg auf minus zehn Grad, und völlig unerwartet und sehr schnell begann die Maschine zu vereisen. Das war kritisch. Auch meine Kleidung,
die Brille, die Handschuhe, alles bedeckte sich mit Reif. Ich drückte die Maschine fast bis zum Meer hinunter und flog in geringer Höhe über die aufgetürmten Eiswälle. Es wurde immer gefährlicher und schwieriger. Eine Notlandung inmitten dieser zusammengeschobenen Eisblöcke hätte das Ende bedeutet. Wenn ich die Maschine etwas höher zog, in der Hoffnung, eine glatte Stelle sichten zu können, umgab mich sofort wieder dichter Nebel. Plötzlich erblickte ich in geringer Entfernung voraus schwarze Punkte. Mein Herz schlug zum Zerspringen, doch dann entpuppten sie sich als Seehunde. Ich hatte die Hände so an das Steuer gepreßt, daß es mir Mühe machte, sie zu lösen. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß der Flug schon zwei Stunden dauerte. Nach dem Kraftstoffvorrat mußte ich die maximale Höhe meines Kurses in Nordnordwest erreicht haben. Ich ging in eine große Kurve, und mit höchster Geschwindigkeit steuerte ich zurück zur Insel. Der Nebel löste sich auf. Ich konnte Höhe nehmen, aber nirgends waren Menschen zu sehen. Am Nordufer der Insel Nowaja Semlja umflog ich noch einmal die Halbinsel Litke. Auch hier war alles leblos. Nach noch einmal vierzig Minuten ging ich, wiederum mit dem letzten Tropfen Benzin, unmittelbar neben dem Hundegespann nieder. Die Matrosen umringten mich, hoben mich hoch, küßten und bestaunten mich. Nun war es sehr leicht, sie zum eiligen Rückmarsch mit dem kranken Shenka, meinem treuen Kameraden, zu bewegen."
Mein neuer Passagier — ein Sibirier
„Ein Matrose, ein riesiger Kerl, ein an Wetter und Frost gewöhnter Sibirier namens Kostja, blieb zurück. Er ging um mich herum wie um ein Heiligtum und behandelte mich besser als den lieben Gott, wenn dieser zur Erde gekommen wäre. Nur sein Gesicht blieb grämlich. ,Was ist dir, Kostja?' fragte ich. ,Sie werden fliegen', antwortete er, ,aber ich, was wird mit mir?' .Würdest du denn mitfliegen?' .Sofort, ich möchte unbedingt mal fliegen, ich werde bestimmt keine Angst haben.' Kostja war nicht wiederzuerkennen. Der schweigsame Mensch begann von seinem Leben zu erzählen und von allem, was er auf seinen vielen Polar- und Jagdfahrten schon gesehen und überstanden hatte. Er war jung, aber ein seeerfahrener Nordländer mit einer ausgezeichneten Beobachtungsgabe und einer überraschenden Kenntnis der nordischen Tierwelt. Nach Amundsen und Nansen wurde er zu meinem dritten Lehrmeister der Arktis und zum guten Freund. Ihm brauchte ich nicht wie Shenka den Polartag und andere Naturerscheinungen zu erklären. Im Gegenteil: Nach der Eisdrift, den Winden und der Schichtung der Schneewälle, den Wolken und Nebelbänken entwarf er mir das Wetter der nächsten Stunden, als habe er gerade die Nachrichten aller meteorologischen Stationen abgehört. Nach den Tier spuren wußte er genau zu sagen, wann und wohin Bären oder Füchse gegangen waren. Er zeigte mir die Verstecke der Seehunde, und er war ein ausge
zeichneter Schütze. Vor unserem Abflug wurde es stürmischer. Ich war besorgt, daß mein neuer Passagier luftkrank werden könnte. Er stritt es ab: ,Ich war so oft im Sturm, wenn wir auf Walfang waren. Wenn die Luftkrankheit so ist wie die Seekrankheit, brauchen Sie keine Befürchtungen zu haben. Ich schaffe es schon!' Ich startete von der Eisfläche. Das Flugzeug ging glatt gegen den Wind, und sobald ich mehr Gas gab und das Steuer an mich zog, gewann es an Höhe. Ich schaute mich zu Kostja um. Er saß ruhig und frei auf seinem Sitz wie auf einem Stuhl, glücklich lächelnd, daß er fliegen durfte. Zum erstenmal in seinem Leben. Ich zog zwei Kreise über unserem Lager und nahm Kurs auf Nordost, entlang den Ufern der Insel Nowaja Semlja. Ich wollte dieses Gebiet bis zur Nordspitze erkunden und feststellen, wie die Eisverhältnisse nördlich der Insel waren. Ich hoffte immer noch, eine Spur der verschollenen Expedition zu finden. Wir flogen sehr niedrig. Eine Wolkendecke verhinderte eine weite Sicht aus größerer Höhe. Gleichzeitig warfen ständige Böen das Flugzeug von einer Seite zur anderen. Ich mußte durch die Wolkendecke stoßen. In tausend Meter Höhe war der Flug ruhiger, aber ich konnte unter mir nichts entdecken. Kostjas Begeisterung kannte keine Grenzen. Ich verstand seine Gefühle. Nur konnte ich mich leider nicht mit ihm freuen. Wenn dort unten nun doch etwas war ... Ich änderte den Kurs und überflog die Mitte der Insel in einem weiten Bogen, konnte aber auch dabei kein einziges Lebenszeichen erkennen. Wieder nahm ich Kurs auf unser Lager und landete auf dem mir nun
schon bekannten ,Flugplatz' auf dem Eis. Kostja sprang als erster aus der Maschine. Um sich zu erwärmen, begann er auf dem Eis wie ein Derwisch zu tanzen. Dann bereitete er mir aus Bärenschinken eine Mahlzeit, wie ich sie, so scheint mir, seither niemals mehr gegessen habe. Kostja blieb nun mein Flugbegleiter. Doch nirgends zeigte sich eine Spur der verschollenen Expedition. Mir schien, daß ich es mit diesem erfahrenen Sibirier monatelang in dieser Einöde aushalten konnte." Der gute Eisbär
„Wenn wir nicht flogen, so ging ich mit ihm auf Jagd, und mein Vertrauen in der Schneewüste zu ihm war mindestens ebenso groß wie seines zu mir während der Flüge. Einmal, als ich aus unserem Iglu herauskletterte, bemerkte ich einen Eisbären, der gemächlich um unser Flugzeug herumwanderte. Ich rannte schnell in unser Eisloch zurück und zog Kostja mit dem Gewehr heraus. Zuerst war es uns um die leichte Beute zu tun, aber als wir näher kamen, setzte sich der Eisbär gemütlich auf sein Hinterteil, so, als bewache er das Flugzeug. Wir sahen keinen Anlaß, diesem gutwilligen Kerl ein Leid anzutun. Kostja blieb mit dem Gewehr im Anschlag stehen, ich ging unter diesem zuverlässigen Schutz näher an den Eisbären heran. Er betrachtete mich neugierig. Ich warf ihm ein Stück Zwieback hin. Er nahm es mit den Vorderpfoten auf und fraß es vergnügt mit knir schenden Zähnen. Die Zwiebäcke schmeckten ihm, und ich wagte mich bei jeder Portion einen Schritt näher
heran. Schließlich trennten uns vielleicht noch zehn Schritte, aber seine Gefühle blieben freundschaftlich. Mir gefiel dieser Eisbär. Ich wühlte die Reste meiner Seehundbeute aus dem Eis und warf sie ihm hin. Er verschlang auch diese Gabe mit größtem Appetit, und er dachte nicht daran, sich vom Fleck zu bewegen. Wir kehrten beruhigt in unseren Iglu zurück und legten uns schlafen. Als wir nach einigen Stunden die Schneehütte wieder verließen, saß der Flugzeugwächter noch an seinem Platz. Seine Gesellschaft war uns sehr angenehm, nur bekam ich große Angst, daß er eventuell probieren könnte, an der Maschine herumzuknabbern. Ein Schlag seiner Pranke hätte sie in ein Gewirr von Drähten und Holz verwandelt. Damit wir noch einmal starten konnten, mußte Kostja ihn mit Leckerbissen Schritt für Schritt vom Flugzeug weglocken. Dann kam Kostja eilig zurückgerannt - der Bär folgte ihm. Als jedoch der Motor aufheulte, machte er auf den Fersen kehrt und verschwand in Richtung der Insel. Eismeerkapitän zur Luft
Der bescheidene Vorrat unseres Kraftstoffs ging bereits
zu Ende, als wir, von der Jagd zurückkehrend, neben
dem Flugzeug ein Schlittengespann bemerkten. Unter
den Matrosen befand sich Shenka. Wir umarmten
einander, aber sein Gesicht blieb traurig.
,Ich werde nicht mehr mit Ihnen fliegen', sagte er.
,Warum? Bist du nicht gesund?'
,Das ist es nicht. Wir müssen jetzt zurückfliegen zur
Kreuzbucht, dort ist die ,Petschora', wir haben Befehl,
nach Archangelsk zurückzukehren!'
Ich erfuhr erst jetzt vom Ausbruch des ersten Weltkrieges. Seit zwei Monaten schon schlugen Mil lionen Menschen an riesigen Fronten blutige Schlach ten, und auch die jüngste Erfindung der Menschheit, die Fliegerei, die, wie meine Arktisflüge bewiesen hatten, so viel für Wissenschaft und Forschung hätten leisten können, stand im Dienste des Völkermordens. Zu diesem Zeitpunkt war einer der besten russischen Flieger, mein Kamerad Nesterow, schon gefallen. Kostja blieb nichts anderes übrig, er mußte dieses Mal mit dem Schlittengespann zurückkehren. Noch einmal, zum letzten Mal, flog ich mit Shenka über der Arktis. Ich erlebte noch eine Genugtuung. Beim Abendbrot in der Kajüte des Kapitäns wandte sich dieser an mich: ,Wie ist es denn, Väterchen, die Matrosen fliegen Sie spazieren, aber den Kapitän laden Sie nicht ein . . .' ,Mit dem größten Vergnügen, nur -- auf dem Luftdrachen bin ich Kapitän, und Sie werden Passagier sein.' .Ich bitte Sie im Ernst, Jan Nagurski. Ich möchte mir einmal den Zustand des Eises in unserer Rück fahrtrichtung aus der Luft ansehen. Passagier will ich gern sein.' Ausgerechnet auf diesem Flug begann der Motor zu stottern. Ich schaltete die Zündung aus und ging im Gleitflug hinunter. Die plötzliche Stille verwunderte den Kapitän. Er nahm aber an, es müsse so sein, und fragte mich ruhig: .Warum gehen wir denn schon 'runter, Jan Nagurski?' ,Der Motor ist nicht in Ordnung.' Zum Glück waren wir noch in Sichtweite des Schiffes. Ein Ruderboot hielt auf unser havariertes Flugzeug zu,
und der Kapitän begann, gute Ratschläge zu geben:
,Man muß in Zukunft ein kleines Gummiboot
mitnehmen, es kann ja nicht immer ein Schiff in der
Nähe sein.'
,Sie haben recht, Kapitän', gab ich zu."
Der Rapport des Fliegers Nagurski
Wie bei Polarexpeditionen üblich, werden alle Vorräte, die die Schiffsbesatzung nicht mehr braucht, in einer Nothütte auf der Insel Nowaja Semlja für etwaige spätere Expeditionen oder in Not geratene Forscher, Fischer und Jäger zurückgelassen. Erstmalig bleiben in diesem Lager auf Verlangen Nagurskis auch Benzin und Schmieröl für ein Flugzeug zurück. Unter der Steinpyramide, neben dem hohen Holzkreuz, das den Lagerplatz kennzeichnet, liegt in einer zugelöteten Büchse die von Nagurski hinterlassene Nachricht: „In der Bucht am Südwestufer der Hasen-Insel befindet sich im Vorratslager ein Blechfaß mit 10 Pud Benzin (160 Liter) und 4 Pud Schmieröl. Es ist nur für Flugzwecke gedacht. Wer hier in der Nähe eine Notlandung hat und ohne Kraftstoff ist, kann diesen Vorrat benutzen. Bei der Suche nach der Expedition des verschollenen Oberleutnants Sedow flog hier auf einem Was serflugzeug der Marke ,Farman' im August/September 1914 der Militärflieger Nagurski." Die Suche nach der verschollenen Sedowexpedition war beendet. Die „St. Phoca" hatte mit den Über lebenden der Expedition einen kleinen Hafen an der russischen Küste erreicht. Zu jeder anderen Zeit hätte
die Nachricht vom Tod des Expeditionsleiters und des größten Teils der Besatzung der anderen beiden Schiffe die ganze Welt erschüttert. Jetzt aber, wo das ungeheure Völkermorden begonnen hatte, veranlaßte das Telegramm nur die Rückberufung der Suchexpe dition und des Fliegers Nagurski. Die Schiffe und der Flieger wurden jetzt anderweitig gebraucht - für den Krieg. Irgendwo im Marine ministerium blieb unbeachtet der Rapport des ersten Arktisfliegers der Welt liegen: „Nach meinen Flügen bei der Insel Nowaja Semlja bin ich zu folgenden Schlußfolgerungen gekommen: ... es ist notwendig, Flugzeuge, die in der Arktis fliegen, mit roter Farbe anzustreichen, da sie sich so besonders von der weißen Umwelt abheben werden ... Der Flieger muß Pelzschuhe haben, die zugleich keinerlei Nässe durchlassen. Gleiche Aufmerksamkeit ist der anderen Oberbekleidung zu widmen. Im Flugzeug sind unbedingt mitzunehmen: Gewehr und Patronen, Stahltrossen, Signalpistole, die notwendigen Ersatzteile für den Motor, Werkzeug für Eigenreparaturen und ein Notproviant..." Noch heute - im Zeitalter der Transpolarflüge -sind Nagurskis Ratschläge unbedingtes Gesetz der Arktisflieger. Jan Nagurski, dem ersten Arktisflieger, war vergönnt zu erleben, was er vorausgesagt hatte: die Möglichkeit der Flüge über den Pol, die Erforschung und Erschließung eines gewaltigen Raumes, der in der Wirtschaft der Sowjetunion und auch als Ver bindungsweg zu anderen Ländern eine immer größere Rolle spielt.