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An der Schatzbucht
Rodrigez Vanetto, der Erste Offizier der „San Sebastian“, war ein Tü...
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Burt Frederick
An der Schatzbucht
Rodrigez Vanetto, der Erste Offizier der „San Sebastian“, war ein Tüftler und ein Mann mit Ideen. Außerdem hatte er den Verlauf des Wasserfalls vor dem Zugang zu den Schatzhöhlen genau durch den Kieker studiert. Und dann schlug er seinem Kommandanten einen Zielbeschuß vor – ein Zerhämmern des Felskragens, über den das Wasser nach unten schoß. Wenn der Felskragen zertrümmert war, mußte das Wasser zwangsläufig direkt am Höhleneingang nach unten stürzen – oder auch in die Höhlen fließen. Das würde die Hundesöhne schon nach draußen treiben, die meinten, dort oben in den Schatzhöhlen sicher zu sein. Der dreiundzwanzigste Schuß brachte die Wende: Ein riesiger Felsbrocken löste sich und verbarrikadierte den Höhlenzugang. Die Kerle saßen in der Falle... Die Hauptpersonen des Romans: Alonzo de Escobedo – der Gouverneur von Kuba schäumt und tobt, weiß aber keine Antworten auf peinliche Fragen. Don Gaspar de Mello – der Kommandant der „San Sebastian“ erhält unvermutet Schützenhilfe. Diego Machado – der Kapitän der ,,Trinidad“ tritt seine letzte Reise an. Batuti – der schwarze Riese aus Gambia hat prächtige Ziele für seinen Langbogen.
1. Der Geschützdonner klang ihnen noch immer in den Ohren und war wie ein rollendes Echo, das nicht enden wollte. Die Männer an Bord der Kriegsgaleone „San Sebastian“ standen wie erstarrt. Im Einzelfeuer hatten sie die zehn Backbordculverinen eingesetzt, wie ihr Capitan es befohlen hatte. Jedes Geschoß hatte ein Stück mehr aus der Felswand dort oben geschlagen. Und der dreiundzwanzigste Schuß hatte das ausgelöst, was beabsichtigt gewesen war. Doch niemand in der Schatzbucht hatte sich das Grauen vorstellen können, das nun seinen Einzug hielt. „Heilige Madonna!“ flüsterte Mario Sangiovese, einer von der Geschützmannschaft, die eben jenen letzten Schuß abgefeuert hatte. „Der Himmel sei diesen armen Seelen gnädig!“ Enrique Carrizo, der den Genuesen noch aus der gemeinsamen Garnisonszeit in Barcelona kannte, schüttelte verständnislos den Kopf. „Wozu das Mitleid, Amigo? Diese Kerle gehen an ihrer eigenen Gier zugrunde. Die
Lumpenhunde kriegen haargenau das, was ihnen zusteht.“ Sangiovese schloß entnervt die Augen. Nichts mehr sehen müssen! Aus der Höhle unter dem Wasserfall tönten schrille Schreie und markerschütterndes Gebrüll. Die Todesangst schien die Stimmen buchstäblich höher und höher zu peitschen, bis sie nichts Menschliches mehr hatten. Der schlanke schwarzhaarige Genuese öffnete wieder die Augen und starrte hinauf zu dem mächtigen Felsbrocken, der den Höhleneingang blockierte. Er, Mario Sangiovese, war mitverantwortlich für jenen letzten Schuß, der den Brocken aus dem Überhang geschmettert hatte und den Wasserfall nun senkrecht an der Felswand hinunterrauschen ließ. Ein Teil des Wassers strömte gurgelnd in die Schatzhöhle. „Sollen sie ersaufen wie die Ratten“, sagte Carrizo knurrend. Er stemmte sich auf den Rohrwischer, den er noch nicht benutzt hatte, da vom Achterdeck der Befehl „Feuer einstellen“ erfolgt war. „Versündige dich nicht“, entgegnete Sangiovese in ungewöhnlich scharfem
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Ton. Er, der sonst zurückhaltend und schweigsam war, schien regelrecht außer sich zu geraten. Carrizo, sein bester Freund an Bord, wandte sich erstaunt zu ihm um. Nun gut, Mario hatte die Lunte gezündet und damit den entscheidenden Schuß ausgelöst. Aber gerichtet hatte die Culverine der Stückmeister. Die Belobigung für die erfolgreiche Visierung im Steilschuß konnte allein er einheimsen. Carrizo, ein breitschultriger, bulliger Mann, der aus Barcelona stammte, wußte, daß sein italienischer Amigo ein rührseliger Bursche sein konnte. Wenn er in einer lauen Mondnacht auf der Back hockte, in die Saiten seiner Laute griff und diese hinreißenden italienischen Lieder von Liebesglück und Liebesschmerz sang, dann standen ihm manchmal die Tränen in den Augen. Die anderen, die ja nur des Spanischen mächtig waren, verstanden zwar bestenfalls die Hälfte, aber sie konnten sich doch dafür begeistern, wie Mario in seinen Liedern aufging. Er sang sie nicht einfach, nein, er fühlte sie mit jeder Silbe mit. Vielleicht, so dachte Carrizo, stellte er sich jetzt vor, was die schreienden Strolche dort oben in der Höhle durchlebten. Und das machte ihn restlos fertig. Aber konnte er sich denn nicht in einen stillen Winkel verziehen, um seine besondere Art von Trübsal zu blasen? „Verhol dich“, sagte Carrizo mitfühlend und wollte ihm den Luntenstock abnehmen. „Es ist alles erledigt. Wenn du's nicht mit anhören kannst, dann geh unter Deck, kriech in die Koje und zieh dir die Decke über den Kopf.“ Sangioveses Reaktion ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Der Genuese ruckte herum. Sein Gesicht verzerrte sich in jäher Wut, und bevor Carrizo auch nur den Ansatz einer Bewegung erkennen konnte, zuckten Sangioveses Fäuste vor und packten ihn an den Armöffnungen seines Brustpanzers. „Du Mistkerl!“ schrie der Genuese mit sich überschlagender Stimme. „Du bist auch so ein verdammter Mistkerl. Dich läßt es kalt
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wie eine Hundeschnauze, wenn andere Menschen leiden! Kannst du denn nicht nachfühlen, wie es denen da oben geht?“ Anklagend wies er mit der Linken zur Höhle und zum Wasserfall hoch. „Was immer sie getan haben - es sind Menschen!“ Carrizo wollte die rechte Hand Sangioveses von seinem Brustpanzer stoßen. Doch es gelang ihm nicht, sosehr er sich auch anstrengte. Erstaunt sah er den Genuesen an. In seiner rätselhaften, unerklärlichen Wut entwickelte er wahre Bärenkräfte. Aus der Höhle schrillten noch immer die Stimmen. Es klang wahrhaftig so, als schrien tausend arme Seelen gegen das Höllenfeuer an, in das sie soeben geworfen worden waren. Es ging in der Tat jedem an Bord der „San Sebastian“ durch Mark und Bein. „Mario“, knurrte Carrizo, „nimm jetzt Vernunft an. Laß mich los, bevor ich grob werde. Verdammt, was ist denn in dich gefahren!“ Auch die anderen waren aufmerksam geworden. Ungläubig sahen sie den schlanken Mann aus Italien an, der sonst so unauffällig war und eher dazu neigte, sich schwermütig in einen Winkel zu verkriechen. Sangiovese packte erneut mit beiden Händen zu und schüttelte seinen spanischen Freund regelrecht durch. Carrizo konnte nichts dagegen tun, daß sein Kopf in der Öffnung über dem Panzer hin und her wippte. Er sah dabei aus wie eine leblose Gliederpuppe, denn der Genuese legte in der Tat unglaubliche Kräfte an den Tag. „Nein!“ schrie er. „Es gibt keine Vernunft! Wo, in aller Welt, gibt es denn noch Vernunft? Weshalb soll dann ausgerechnet ich vernünftig sein? Ich will es nicht! Ich kann es nicht! Menschen sterben, und wir hören tatenlos zu, ergötzen uns daran! Wo bleibt da die Vernunft?“ Auch der Capitan und die Offiziere auf dem Achterdeck waren mittlerweile aufmerksam geworden.
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Sangioveses Geschrei übertönte das Rauschen des Wasserfalls und das Gebrüll der in der Höhle Eingeschlossenen. „Decksältester!“ brüllte Capitan Gaspar de Mello. „Sorgen Sie für Ruhe, verdammt noch mal!“ „Jawohl, Capitan!“ rief der Decksälteste zurück, ein gutmütig aussehender, stämmig gebauter Mann. Seinen Rang in der Schiffsmannschaft hatte er dadurch erworben, daß er schnell und wirkungsvoll zuschlagen konnte, wenn es angebracht war. Kein Hitzkopf, der schneller mit den Fäusten war als mit dem Mund. Nein, für den Rang des Decksältesten brauchte eine Schiffsführung einen besonnenen Mann, der zudem noch das Vertrauen der gesamten Crew genießen mußte. In diesem Fall verhielt es sich so. Alle auf der Kuhl nickten zustimmend, als sie den Befehl des Kapitäns vernahmen. Sangiovese mußte durchgedreht sein. Vielleicht hatte ihm die Sonne das Hirn unter dem Helm zum Kochen gebracht, und das Ergebnis war dieses krause Zeug, das ihm aus dem Mund sprudelte. „Zum letzten Mal, Mario“, sagte Enrique Carrizo. „Nimm die Hände weg. Oder du lernst mich von einer Seite kennen ...“ „Du?“ unterbrach ihn Sangiovese schrill. „Ausgerechnet du? Du, der du behauptet hast, mein Freund zu sein - du willst mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe? Du, der du genauso niederträchtig und menschenverachtend bist wie alle anderen?“ „Mario, um Himmels willen!“ brüllte Carrizo und versuchte abermals die klammernden Hände von seinem Brustpanzer loszureißen. „Hör endlich auf mit dem Blödsinn! Warum, zum Teufel, hast du dann das Geschütz gezündet? Warum hast du nicht den Befehl verweigert, wenn dir so viel an den ach so bedauernswerten Kerlen da oben liegt? He, warum hast du das nicht getan?“ Sangioveses Blick wurde plötzlich starr. Seine ganze Haltung verkrampfte sich. Die Augen schienen ihm aus den Höhlen quellen zu wollen.
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Carrizo mühte sich vergebens ab. Er hatte den Eindruck, daß Marios Klammerfäuste aus Eisen waren. Es schien fast so, als müßte man ihm die Knochen brechen, wenn man sie überhaupt lösen wollte. „Sangiovese“, sagte der Decksälteste ruhig. Er war hinter die Männer bei der Culverine getreten. „Nimm Vernunft an. Bewahre Ruhe und belästige deinen Kameraden nicht.“ Auch der Teniente, dem die Seesoldaten unmittelbar unterstanden, hatte sich genähert. In Belange der Borddisziplin, soweit sie nicht militärische Aspekte betrafen, wollte er sich jedoch nicht unbedingt einmischen. Der Genuese stand steif wie ein Brett. Carrizos Zorn war in Besorgnis umgeschlagen. Es hatte den Anschein, als würde seinem Amigo gleich der Schädel platzen. Da schien irgendetwas im Inneren seines Kopfes zu sein, das sich ausdehnte und mit aller Macht gegen die Augen und die Adern drückte. Denn sie traten hervor, als würden sie die gebräunte Haut des schlanken Mannes sprengen. „Sangiovese“, wiederholte der Decksälteste, energischer jetzt. „Ich fordere dich zum letztenmal auf, meinen Befehl zu befolgen. Bei Nichtgehorsam muß ich Gewalt anw ...“ Die letzten Silben blieben ihm im Hals stecken. Sangiovese zerrte seinen spanischen Freund herum, so urplötzlich, daß Carrizo zu überrascht war, um sich wirksam zu wehren. Überdies waren die Kräfte des Genuesen wahrhaft verblüffend. Er trieb Carrizo gegen den Decksältesten, bevor auch dieser überhaupt reagieren konnte. Der Decksälteste taumelte unter dem Anprall zurück und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Der Teniente, der ihm zu Hilfe eilen wollte, schlug mit ihm auf die Planken. Carrizo stürzte als dritter obendrauf, und ein Knäuel aus um sich schlagenden Armen und Beinen entstand. Sangiovese begann unterdessen, sich wie ein Kreisel zu drehen. Die Hände hatte er dabei flach auf den Brustpanzer gelegt.
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„Ihr Schweine!“ schrie er in schrillem Diskant. „Ihr seid alle Schweine! Menschenleben kümmern euch nicht! Ihr tötet und tötet und haltet euch in eurer Selbstherrlichkeit auch noch für gerecht! O mein Gott, wann wird auf dieser Welt endlich Frieden herrschen? Wann werdet ihr Schweine endlich begreifen, daß ihr es seid, die immer wieder den Tod und das Verderben unter die Menschheit bringen!“ Capitan de Mello und die Offiziere standen mittlerweile an der Querbalustrade. Einen Moment waren auch sie von dem rätselhaften Verhalten des Genuesen in Fassungslosigkeit geraten. „Festnehmen!“ befahl de Mello jetzt schneidend, indem er eine Atempause des sich drehenden Mannes nutzte. „Alle verfügbaren Kräfte - nehmt den Mann fest!“ De Mello hatte Sangioveses Zustand sehr richtig eingeschätzt. Sechs Mann, die von zwei benachbarten Geschützen losstürmten, reichten gerade aus, um ihn zu überwältigen. Nur mit äußerster Mühe konnten sie ihn halten, wie er sich in ihrem Griff wand und versuchte, mit den Stiefeln nach ihnen zu treten. Carrizo, der Decksälteste und der Teniente hatten sich inzwischen wieder aufgerappelt. Carrizo umrundete eilends den kleinen Pulk von Männern. Als er vor seinem Amigo stand, erschrak er. Schaum hing in Sangioveses Mundwinkeln, seine Augen waren gerötet und blutunterlaufen. „Mario“, hauchte er, „um Himmels willen, was ist mit dir?“ Der Blick des Genuesen begann zu flackern. Es schien, als hätten ihn die besorgten Worte seines Freundes in die Wirklichkeit zurückgeholt. Einen Moment hatte es den Anschein, als wollte Sangiovese versuchen, sich zu räuspern, um ein vernünftiges Wort an den Spanier zu richten. Doch unvermittelt verdrehte er die Augen und sank kraftlos im harten Griff der Männer zusammen. „Der Feldscher soll sich um ihn kümmern!“ ordnete de Mello an. „Ich erwarte einen sofortigen Bericht.“
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„Jawohl, Capitan“, antwortete der Decksälteste und gab den Männern einen Wink, den Ohnmächtigen zum Vorschiff zu tragen. „Senor Carrizo, zu mir!“ rief der Kapitän. Der Spanier eilte zum Steuerbordniedergang, nahm Haltung an und salutierte. „Capitan?“ „Wie ich verstanden habe, sind Sie mit Sangiovese befreundet. Haben Sie eine Erklärung für sein sonderbares Verhalten?“ „Nein, Capitan. Es tut mir leid, aber ich kann es selbst nicht begreifen. So etwas hat sich Mario Sangiovese noch nie geleistet. Manchmal ist er ein bißchen still. Er redet sowieso nicht gern und ist eigentlich genau das Gegenteil von dem, wie er sich eben gebärdet hat.“ „Er ist Italiener, nicht wahr?“ „Ja, Capitan. Sein Vater ist ein Kaufmann aus Genua, der sich in Barcelona niedergelassen hat. Deshalb kam Mario in unser Land. Wir wurden gemeinsam Soldat. Manchmal glaube ich, daß er in seinem Herzen immer noch Italiener ist, obwohl er sich alle Mühe gibt, sich anzupassen.“ „Hat er öfter Heimweh gehabt?“ „Ich glaube schon, Capitan, wenn er es auch nicht ausgesprochen hat.“ De Mello nickte. „Gut. Lassen Sie sich von Ihrem Teniente freistellen und kümmern Sie sich um Ihren Freund. Berichten Sie mir, sobald Sie etwas Ungewöhnliches an ihm bemerken.“ Carrizo salutierte abermals. „Darf ich mir noch eine Frage erlauben, Capitan?“ sagte er vorsichtig. „Nur zu“, entgegnete de Mello mit dem Anflug eines Lächelns. Carrizo preßte die Lippen aufeinander und zögerte. Dann gab er sich einen Ruck. „Ist zu befürchten, daß er - daß er besessen ist, Capitan?“ Sekundenlang schwiegen der Kapitän und die Offiziere. Das Rauschen des Wasserfalls und das Gebrüll der Eingeschlossenen waren zur unveränderlich scheinenden Geräuschkulisse geworden. Die Offiziere
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wechselten Blicke. Die Bemerkung Carrizos konnte ernsthafte Folgen haben. Gerüchte, besonders wenn ihnen etwas Sensationelles anhaftete, breiteten sich auf dem begrenzten Raum eines Kriegsschiffs schnell aus. Und sie pflanzten sich fort, sobald das Schiff den nächsten Hafen anlief. Dann blieb auch nicht aus, daß kirchliche Organe von diesen Gerüchten erfuhren. Die Kirche hatte die Macht, ein Schiff in einem solchen Fall an die Kette legen zu lassen. Irgendein Priester, dem man besondere Fähigkeiten nachsagte, würde gerufen werden, damit er die heilige Handlung des Exorzismus durchführte - die Austreibung der Dämonen und Plagegeister, die einen Menschen befallen konnten. Ein solcher Exorzismus konnte an einem Tag erledigt sein, konnte aber auch Wochen oder gar Monate dauern - je nach Belieben des hochwürdigen Exorzisten, in dessen alleiniger Macht es stand, die Schwere eines Falles von Besessenheit einzustufen. Diesem Urteil fügten sich nach aller Erfahrung selbst die höchsten kirchlichen Würdenträger. De Mello winkte Carrizo einen Schritt näher heran. „Carrizo“, sagte er halblaut. „Ihre Befürchtung ist völlig unbegründet. Bereiten Sie sich keine Sorgen. Besessenheit äußert sich ganz anders.“ „Wirklich, Senor Capitan?“ Gaspar de Mello wußte, daß seine Worte unbedingt überzeugend klingen mußten. Er hatte noch nicht die leiseste Ahnung, wie es nach den blutigen Geschehnissen in der Schatzbucht weitergehen sollte. Aber welchen Hafen er auch immer anlaufen würde - ein Zwangsaufenthalt aus irgendwelchen aberwitzigen Gründen war das letzte, was er sich wünschte. „Wenn jemand besessen ist“, sagte de Mello daher, „dann merkt man es zuerst an seinem Atem. Er stinkt ganz abscheulich, nach Schwefel und anderem verbrannten Zeug. Ich hatte vor Jahren einen solchen Fall in Cartagena, und ich hatte seinerzeit
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Gelegenheit, mit dem exorzierenden Priester zu sprechen.“ Carrizos Augen wurden weit, und er kriegte den Mund nicht wieder zu. Wie alle einfachen Menschen seines Landes glaubte er fest an all jene mystischen Dinge, die einem einen Schauer über den Rücken jagten und die man sich nur hinter vorgehaltener Hand erzählte. „Stinkender Atem, Schwefelgeruch“, sagte de Mello noch einmal und fuhr dann fort: „Weitere Merkmale sind eine deutliche Veränderung der Stimme, eine Veränderung des Gesichtsausdrucks und eine Rötung der Augen. Die Stimme ist die des jeweiligen Dämons, der gerade aus dem armen Opfer spricht. Manchmal kann es sich auch um die Stimme des Satans persönlich handeln. Achten Sie also genau auf Ihren Freund, Carrizo. Wenn er eins der genannten Merkmale zeigt, sollten Sie mich alarmieren. Wenn nicht, können Sie beruhigt sein. Er ist dann in Ordnung. Haben Sie alles behalten?“ „Jawohl, Senor Capitan“, erwiderte Carrizo hastig und begann aufzuzählen: „Stinkender Atem, Schwefelgeruch, veränderte Stimme, veränderter Gesichtsausdruck, rote Augen. Bei der Stimme handelt es sich entweder um die eines Dämons oder ...“ Capitan de Mello winkte ab. „Schon gut. Im übrigen können sich auch verschiedene Dämonen miteinander unterhalten. Das klingt dann, als ob der Besessene aus mehreren Personen besteht, jedenfalls der Stimme nach. Haben Sie alles verstanden?“ „Ja, Capitan.“ „Gut. Dann wissen Sie, was Sie zu tun haben.“ Carrizo salutierte, vollführte eine Kehrtwendung und eilte zur Krankenkammer. Der Kapitän und die Offiziere konnten sich ein Lächeln nicht verkneifen. Rodrigez Vanetto, schlank, dunkeläugig, schnauzbärtig und Erster Offizier der „San Sebastian“, sah den Capitan etwas vorwurfsvoll an.
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„Mußten Sie den armen Kerl mit solchen Schauergeschichten belasten, Senor Capitan?“ De Mello lächelte hintergründig. „Ich hoffe, er hat einen gehörigen Schreck gekriegt. Wenn meine Rechnung aufgeht, wird er begriffen haben, daß die Besessenheit viel, viel schlimmer ist, als er sich vorgestellt hat. Folglich wird er keins der Symptome an seinem Freund feststellen und auch nichts in dieser Richtung herumerzählen. Was letzteres bedeuten würde, brauche ich Ihnen wohl nicht erst auseinanderzusetzen, Vanetto.“ Der Erste zog die Augenbrauen hoch. Er mußte zugeben, daß de Mello wieder einmal weitblickender gewesen war als alle zusammen. Auch die übrigen Offiziere nickten verstehend. Sie wußten nur zu gut, wie leicht man in eine langwierige und zermürbende Untersuchung verwickelt werden konnte. 2. Enrique Carrizo schlüpfte in die Krankenkammer und zog das Schott hinter sich zu, Er war froh, das Tosen des Wasserfalls und die Schreie der Eingeschlossenen nur noch gedämpft zu hören. Vielleicht würde es auch Mario helfen. Wenn er den genügenden Abstand von den Dingen hatte, kam er vielleicht wieder zur Vernunft. Sie hatten den Ohnmächtigen auf eine Pritsche gebettet, gleich neben dem Tisch, auf dem der Holzkasten mit den chirurgischen Instrumenten stand. Carrizo erschauerte allein bei dem Gedanken an die Knochensäge und die verschiedenen Messer, mit denen der Feldscher und seine Helfer bei Gefechten zur See oft stundenlang zu arbeiten hatten. Zum Glück hatte Mario Sangiovese keine Verwundung und auch keine Krankheit, die mit solchen fürchterlichen Geräten behandelt werden mußte. Der Feldscher war ein hochgewachsener Mann, der so aussah, als bestünde er nur aus Knochen, Sehnen und Muskeln. Er
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richtete sich auf, setzte das Hörrohr ab und wandte sich unwillig zu Carrizo um. Die übrigen Männer, die den Ohnmächtigen hineingebracht hatten, standen noch auf der anderen Seite der Pritsche, bereit, sofort einzugreifen, falls Sangiovese erneut durchdrehte. „Was hast du hier zu suchen, Mann?“ sagte der Feldscher unwillig. „Auftrag vom Capitan“, entgegnete Carrizo stolz. „Ich bin Marios bester Freund. Der Capitan hat gesagt, ich soll mich um ihn kümmern und gut auf ihn aufpassen.“ „Extra dafür abgestellt?“ entgegnete der Feldscher mich hochgezogenen Brauen. „Jawohl, so ist es.“ „Gut, gut.“ Der Feldscher räumte seine Sachen beiseite und trat an ein Schapp. Er nahm eine kleine braune Flasche heraus, schloß das Schapp wieder und hielt Carrizo die Flasche hin. „Du wirst ihm dieses Mittel geben. Jede Stunde zehn Tropfen, mit Wasser verdünnt, so daß die Muck halb gefüllt ist.“ Er deutete auf einen Tisch neben dem Schapp, wo ein Krug mit Trinkwasser und mehrere Mucks standen. „Ja, Senor“, antwortete Carrizo bereitwillig. „Und wann soll ich damit anfangen?“ „Sobald er aufwacht. Vorher wirst du ihm kaum etwas eintrichtern können.“ Carrizo nickte. Dann beugte er sich vor und zögerte – wie um eine besonders heikle Frage anzukündigen. „Können Sie schon sagen, was ihm fehlt?“ Der Feldscher nickte gelangweilt. „Ein klarer Kopf“, erwiderte er. „Was heißt das?“ fragte Carrizo stirnrunzelnd. „Daß er einen Koller hat. Nichts Besonderes. So was passiert schon mal. Dein Freund Mario ist im Grunde noch harmlos. Ich habe schon Kerle gesehen, die ein ganzes Schiffsdeck auseinandergenommen haben, bevor man sie bändigen konnte.“ Carrizo atmete erleichtert auf. Ein Koller, nun gut, das war in Ordnung. Er hatte davon gehört. Etwas völlig Normales, das
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jeden erwischen konnte. Es sollte entstehen, wenn einem die Sonne zu lange auf den Schädel gebrannt hatte. Trotzdem beobachtete Enrique Carrizo seinen Amigo sehr genau, als ihn der Feldscher und die anderen mit dem Ohnmächtigen allein gelassen hatten. In dem Fläschchen befand sich ein beruhigendes Mittel. Nach den Angaben des Feldschers sollte es hervorragend gegen diese Krankheit helfen, die man Koller nannte. Leise Bedenken wollten bei Carrizo dennoch nicht weichen. Stirnrunzelnd und voller Besorgnis betrachtete er seinen Amigo, der noch immer regungslos dalag und anscheinend überhaupt nicht daran dachte, in die Wirklichkeit zurückzukehren. War es denn normal, dass jemand so lange ohne Bewußtsein blieb? Carrizo zog sich einen Schemel heran, setzte sich und stellte das Fläschchen auf die Pritsche neben Sangioveses Oberkörper. Sein Atem ging offenbar regelmäßig. Carrizo sah, daß Mario die Lippen ein Stück geöffnet hatte. Lag da nicht ein sonderbarer Geruch in der Luft? Ein furchtbarer Verdacht keimte in Enrique Carrizo auf. Stinkender Atem Schwefelgeruch ... Innerlich zitternd beugte er sich über den Ohnmächtigen und schnupperte dessen Atemluft. Nichts. Kein Schnapsdunst vom letzten Saufgelage, kein Geruch von Tabak. Und auch sonst nichts Übelriechendes. Marios Atem war so klar wie ein frischer Morgen. Zu den schlimmen Trinkern gehörte er nicht, und die von den Indianern abgeschaute Mode des Tabakrauchens hatte er sich auch nicht angeeignet. Jedes Mädchen an Land hätte seine helle Freude daran, diesen gutaussehenden Burschen zu küssen. Enrique gönnte seinem Amigo die einschlägigen Erfahrungen, denn er selbst schnitt beim schwachen Geschlecht auch nicht gerade schlecht ab. Carrizo sank zurück auf den Schemel. Er hob den Kopf und blähte die Nasenflügel.
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Merkwürdig. Dieser Geruch ließ sich nicht wegdenken. Er war einfach da. Und, Hölle und Verdammnis, es war ganz eindeutig Schwefelgeruch! Der Mann aus Barcelona erschrak bei dieser Erkenntnis. Fassungslos starrte er seinen reglosen Freund an. Möglich, daß der Schwefelgeruch gar nicht durch den Atem entstand, sondern der Haut des armen Mario entströmte. Ein Dämon hatte ja bekanntlich verschiedene Möglichkeiten, seine ekelerregenden Erscheinungsformen an die Außenwelt abzugeben. Carrizo überlegte, ob er den Capitan benachrichtigen und um Rat fragen sollte. Die Tatsache, daß Mario den Schwefel nicht ausatmete, sondern ausdünstete, war unter Umständen besonders ernst zu nehmen. Carrizos Blick fiel auf das Fläschchen, das der Feldscher ihm gegeben hatte. Aus einem Impuls heraus hob er das Fläschchen an die Nase. Er schloß die Augen und atmete tief durch. Da war er, der Geruch! Die Medizin roch nach Schwefel, und zwar durch den kleinen Korken! Carrizo schalt sich einen Narren und schüttelte den Kopf über sich selbst. Er steckte die kleine Flasche in die Hosentasche. Gleich darauf war von dem Geruch nichts mehr zu merken. Für Enrique Carrizo war es, als hätte sein Freund soeben zwei schwere Prüfungen bestanden. Doch die anderen, vielleicht schwereren Prüfungen standen ja noch bevor. Wie würde sich seine Stimme anhören, wenn er erwachte? Wie würde sein Gesicht aussehen und wie seine Augen? Unvermittelt entrang sich dem Mund des Ohnmächtigen ein leises Stöhnen. Carrizo erschauerte. War das Mario Sangiovese, der da stöhnte? Oder war es die Stimme eines garstigen Dämons, der mit satanischer Macht an die Oberfläche des Seins drängte? Enrique Carrizo versuchte verzweifelt, sich daran zu erinnern, wann er Mario das letztemal
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in seiner Koje im Schlaf hatte stöhnen hören. Jetzt bewegten sich Sangioveses Augenlider. Carrizo sprang auf und wich zurück. Er war darauf gefaßt, die blutunterlaufenen Augen einer wilden Bestie zu sehen. Und er rechnete damit, daß sich Marios Gesicht zu einer teuflischen Fratze verzerren würde. Unwillkürlich sah sich Carrizo nach einem Gegenstand um, nach einer Schlagwaffe, mit der er sich gegen den oder die Dämonen verteidigen konnte. Trotz allem hätte er es nicht fertiggebracht, seinen Entersäbel zu ziehen und damit auf seinen besten Freund einzustechen. Doch plötzlich glaubte er, seinen Augen nicht zu trauen. Marios Gesicht entspannte sich zu jenem sanften Lächeln, mit dem er Frauenherzen zum Dahinschmelzen brachte. Hatte er etwa einen besonders angenehmen Traum gehabt? Keine Schreckensbilder, von Dämonen hervorgerufen? Nun schlug er die Augen auf, und das Weiße um seine dunklen Pupillen war so klar, daß man sich darin hätte spiegeln können. „Wo bin ich?“ fragte Sangiovese leise. Es war seine Stimme, seine eigene, da gab es nicht den geringsten Zweifel. Enrique Carrizo hatte das Gefühl, daß ihm ein zentnerschwerer Stein vom Herzen fiel. Nichts von den schrecklichen Erscheinungsformen der Besessenheit war eingetreten. „Dem Himmel sei Dank“, sagte Carrizo und trat auf die Pritsche zu. „Du bist völlig in Ordnung, nicht wahr? Sie haben dich in die Krankenkammer gebracht, Amigo.“ Sangiovese stützte sich auf die Ellenbogen und sah den Spanier ungläubig an. „Was ist passiert? Was für eine Krankheit soll ich denn haben? Himmel noch mal, wie ist denn das möglich?“ Carrizo drückte ihn behutsam auf die Pritsche zurück. Er erinnerte sich an das Fläschchen in seiner Tasche und an den eindeutigen Auftrag, den ihm der Feldscher erteilt hatte.
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„Reg dich nicht auf, Amigo, bleib ganz ruhig. Du mußt dich erst mal erholen. Dafür kriegst du jetzt einen Schluck Medizin. Ich soll nämlich auf dich aufpassen. Klar?“ „Dann war ich - dann bin ich“, stammelte Sangiovese, „dann ist etwas mit mir nicht in Ordnung?“ Carrizo stand auf und ging zu dem Tisch neben dem Schapp, wo der Krug mit Trinkwasser und die Mucks standen. Er zog das Fläschchen aus der Tasche und bereitete die Medizin zu, wie es der Feldscher angeordnet hatte. Dann ging er zurück zur Pritsche und hielt seinem Freund die Muck hin. „Das trinkst du erst einmal. Es bringt dich wieder auf die Beine, und du kriegst wieder einen klaren Kopf.“ „Was ist das?“ Sangiovese hatte sich aufgesetzt, mußte sich aber mit der Linken abstützen, da sein Oberkörper schwankte. „Ein Beruhigungsmittel.“ „Heißt das“, Sangiovese sah erschrocken aus, „daß ich einen Tobsuchtsanfall hatte? Oder so was Ähnliches?“ Carrizo nickte. „Trink erst deine Medizin. Ausdrückliche Order vom Feldscher. Danach reden wir weiter. Einverstanden?“ Sangiovese nickte und gehorchte. „Schmeckt scheußlich“, sagte er widerwillig, als er die Muck absetzte. „Richtig wie Schwefel.“ Carrizo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „In der Tat, Mario, in der Tat. Und ich hatte schon geglaubt, daß du der Schwefelstinker bist.“ „Ich? Wie meinst du das?“ „Ich mußte befürchten, daß du besessen bist.“ Sangiovese rieb sich die Stirn. Dann sah er seinen Freund eindringlich an. „Enrique, tu mir einen Gefallen und sag mir, was passiert ist. Ich kann mich einfach an nichts mehr erinnern. Hilf mir auf die Sprünge.“ Carrizo nickte, nahm seinem Freund die Muck ab und begann seine Schilderung mit dem Verlassen des Hafens von Havanna.
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Dann fuhr er fort mit jenen Vormittagsstunden des gestrigen 24. Mai Anno 1595, in denen sie auf Order des sehr ehrenwerten Gouverneurs, Senor Don Alonzo de Escobedo, die Bucht westlich von Batabano erreicht hatten. Sie - das waren die Kriegsgaleone „San Sebastian“ unter dem Kommando von Capitan Gaspar de Mello und die Handelsgaleone „Trinidad“ unter dem Kommando von Capitan Diego Machado. Alles hatte damit begonnen, daß der Gouverneur die ersten Kisten aus der Höhle hinter dem Wasserfall auf die „Trinidad“ verladen ließ. Durch einen Zufall hatte der Bootsmann der „San Sebastian“ herausgefunden, was die Kisten enthielten. Er hatte dem Capitan der Kriegsgaleone darüber Meldung erstattet. Für alle Mann an Bord war es bereits zu diesem Zeitpunkt offensichtlich gewesen, daß de Mello Unrat witterte. Der Erklärung de Escobedos, daß es sich um einen Schatz des Königs handele, schenkte von nun an niemand mehr rechten Glauben. Deserteure von der „Trinidad“, unter der Führung eines Galgenstricks namens Cabral, hatten das unheilvolle Geschehen erst richtig angeheizt, als sie versuchten, sich einen Teil des Schatzes aus der Höhle unter den Nagel zu reißen. Dann hatten sich die Männer unter dem Zweiten Offizier der „Trinidad“, Gutierrez, in der Höhle verschanzt. Ein blutiges Massaker hatte es gegeben, als Machados Leute in die Höhle vorzudringen versuchten. Die entscheidende Wende war jedoch erst danach erfolgt. Gouverneur de Escobedo begab sich an Bord der „San Sebastian“, und Machado nutzte eiskalt die Gelegenheit, um mit der „Trinidad“ und den bereits an Bord befindlichen Schätzen das Weite zu suchen. Capitan de Mello hatte kurz entschlossen gehandelt und die „Trinidad“ mit einer vollen Breitseite buchstäblich abgetakelt. Jetzt lag die Handelsgaleone weiter südlich in der Bucht vor Anker. Der Fockmast hing außenbords, Rahen und Segel waren zerschossen.
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Capitan Machado, das gerissene Schlitzohr, war mit sechzehn unverletzten Kerlen an Land geflüchtet und im Mangrovendickicht verschwunden. Wie sich später herausstellte, hatte er sich zu seinen eigenen Deserteuren in der Höhle durchgeschlagen. Was sich dort abgespielt hatte, war den Männern an Bord der „San Sebastian“ naturgemäß weitgehend verborgen geblieben. Den Gouverneur hatte Capitan de Mello festnehmen und in eine Achterdeckskammer sperren lassen. Die „Trinidad“ war vom Zweiten Offizier der „San Sebastian“ mit einem zehnköpfigen Kommando Seesoldaten besetzt worden. Um die Lage endgültig in den Griff zu bekommen, hatte der Erste Offizier der „San Sebastian“, Rodrigez Vanetto, eine besondere Idee gehabt. Nämlich die, den vorkragenden Felsen über dem Wasserfall einfach wegzuschießen. Durch systematischen Beschuß aus zehn Culverinen war diese Idee in die Tat umgesetzt worden. Mario Sangiovese sah seinen Freund aus großen, entsetzten Augen an. „Mein Gott, ja!“ hauchte er. „Jetzt erinnere ich mich. Es war der dreiundzwanzigste Schuß, mit dem wir den Felsbrocken heruntergeholt haben.“ Er richtete sich abrupt auf, kniff die Augenbrauen zusammen und horchte angestrengt. Dann, wie in grenzenloser Resignation, ließ er sich zurücksinken und murmelte tonlos: „Sie schreien noch immer, Enrique. Ihr Todeskampf ist noch immer nicht beendet.“ „Reg dich bloß nicht schon wieder auf“, sagte Carrizo hastig. „Was war denn los mit mir? Du hast es mir noch immer nicht beantwortet.“ „Du bist richtig verrückt geworden. Der Feldscher sagt, es war ein Koller. Die Männer von zwei Geschützcrews waren nötig, um dich zu bändigen.“ Mario Sangiovese dachte einen Moment nach. „Ich kann mich selbst verstehen“, sagte er dann. „Ich könnte auch jetzt noch halb wahnsinnig werden, wenn ich nur daran
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denke, wie sich die armen Teufel in der Höhle fühlen müssen.“ „Tu's nicht“, sagte Carrizo beinahe flehentlich. „Denke einfach nicht daran. Wenn du willst, besorge ich dir etwas, das du dir in die Ohren stopfen kannst. Und dann warte ab, bis das Beruhigungsmittel wirkt.“ Sangiovese lächelte und winkte ab. „Schon gut, Enrique. Keine Sorge. Ich werde nicht noch einmal verrückt spielen. Es muß wohl tatsächlich an der Hitze gelegen haben. Ich erinnere mich jetzt, daß ich das Gefühl hatte, mir würde alles zu eng werden. Diese quälenden Gedanken wurden einfach unerträglich. Und da bin ich sogar auf dich losgegangen, nicht wahr?“ „Allerdings“, erwiderte Carrizo knurrend. „Das nächstemal lasse ich mir das nicht so einfach gefallen, damit du's weißt.“ Sangiovese klopfte ihm mit einer matten Bewegung auf die Schulter. „Nimm's mir nicht übel. Immerhin hast du mir jetzt diesen Sonderdienst zu verdanken. Einen Kranken zu bewachen ist doch nicht schlecht, oder?“ „Du hast es erfaßt“, entgegnete Carrizo. „Noch besser wäre natürlich, der Feldscher würde dir ein wenig frische Luft verordnen.“ „Ich bin sicher, daß du auch das erreichst“, sagte Sangiovese zuversichtlich. „Und dann fehlt uns zu unserem Glück nur noch eine Sonderration Rotwein.“ 3. Die Lage war unverändert, und die zähflüssig verrinnenden Minuten dehnten sich endlos. Mit stetem Tosen stürzten die Fluten von der felsigen Höhe abwärts -doch nun nicht mehr in weitem Bogen, sondern senkrecht von der Endkante des Felsens hinunter ins Flußbett. Das Geschrei der Eingeschlossenen war noch immer zu hören. Manch einer der Männer an Bord der „San Sebastian“ begann es als einen Beweis dafür zu
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werten, daß die Kerle doch noch nicht wie Ratten abgesoffen waren. Deutlich war von der Kriegsgaleone aus jener mächtige Felsbrocken zu erkennen, den das dreiundzwanzigste Geschoß heruntergeholt hatte. Dieser Brocken hatte den Höhleneingang regelrecht verbarrikadiert und blockiert. Über den Felsensims konnte man den ehemaligen Höhleneingang nun ebenfalls nicht mehr erreichen. Wer es versuchte, würde unweigerlich von den senkrecht hinabrauschenden Wassermassen in die Tiefe gerissen werden. Mit welcher ungeheuren Wucht sich der Felsbrocken in den Höhleneingang verkeilt hatte, ließ sich mühelos folgern. Denn trotz der schäumenden und sprudelnden Fluten, die sich teilweise eben auch in das Höhleninnere ergossen, bewegte sich der Felsklotz um keinen Zoll. Das Geschrei der eingeschlossenen Deserteure klang markerschütternd. Obwohl inzwischen alle an Bord der „San Sebastian“ begriffen hatten, was Mario Sangiovese zum Durchdrehen getrieben hatte, empfand doch keiner von ihnen Mitleid mit den Halunken dort oben. Sie hatten sich von ihrer Gier nach Reichtum blenden lassen. Hatten sich treiben lassen und sich wie reißende Tiere verhalten. Die Männer an Bord der Kriegsgaleone hatten nicht vergessen, daß sechs ihrer Kameraden dort oben ermordet worden waren - in der vergangenen Nacht, als sie beim Wasserfall Wache hielten. Die Mörder waren die Deserteure von der „Trinidad“. Jetzt saßen sie in den verdammten Höhlen fest und würden mitsamt dem heißersehnten Reichtum ersaufen. Wenn es denn eine gerechte Strafe oder so etwas wie ein Gottesurteil gab, dann zweifellos dieses. Capitan Gaspar de Mello wandte sich von dem Anblick jenes Eingriffs in die Natur ab, den man auf höchst nachhaltige Weise mit dreiundzwanzig Culverinenschüssen erzielt hatte. Er nickte dem Ersten Offizier zu.
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„Geben Sie Befehl, die Geschütze zu reinigen. Die Männer müssen etwas zu tun haben.“ Vanetto zog die Brauen hoch. „Rechnen Sie mit einem zweiten Fall Sangiovese, Capitan?“ „Ich rechne nicht damit, aber ich kann es auch nicht ausschließen. Tatenlosigkeit in einer bedrückenden Situation erzeugt immer unvorhersehbare Reaktionen.“ Der Erste Offizier nickte verstehend. Er trat an die Querbalustrade und gab die Anordnungen des Kapitäns weiter. Die Männer wirkten in der Tat erleichtert, wieder zupacken zu können. Ob sie es wollten oder nicht, sie mußten einfach eingestehen, daß die Gegenwart des Todes an ihren Nerven zerrte. Capitan de Mello würde mit weiteren Befehlen in weiser Voraussicht dafür sorgen, daß es von nun an kein Nichtstun mehr an Bord gab. Vanetto kehrte zu de Mello zurück, der jetzt an der Heckbalustrade lehnte. „Wissen Sie, Senor Vanetto“, sagte der Capitan gedehnt, „eigentlich ist genau das eingetreten, was wir mit dem Beschuß bezweckt haben, nicht wahr?“ „Allerdings“, erwiderte der Erste Offizier grimmig, „nur mit einer völlig anderen Wirkung. Ich hätte meinen Vorschlag nicht unterbreitet, wenn ich gewußt hätte, daß der Felsbrocken den Höhleneingang buchstäblich abschotten würde.“ „Ich weiß, Vanetto. Natürlich wünscht niemand von uns den Strolchen ein solches Schicksal. Nun gut, der Höhleneingang sollte frei bleiben, und der Wassereinbruch sollte die Kerle heraustreiben. Daß es nicht so gekommen ist, konnte keiner von uns vorhersehen.“ „Wie es auch immer ausgeht“, entgegnete Vanetto dumpf, „die Männer sitzen da oben in einer Falle, aus der es wohl kein Entrinnen gibt.“ Gaspar de Mello sah den Ersten Offizier minutenlang nachdenklich an. De Mello war ein schlanker, drahtig wirkender Mann mit scharfgeschnittenen Gesichtszügen. Er war als geradlinig und korrekt bekannt. Bei allen Mannschaften, die er bisher befehligt hatte, war er ausnahmslos beliebt gewesen.
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„Wenn diese Höhlen wirklich volllaufen“, sagte de Mello schließlich leise, „dann werden die Kerle elendiglich ertränkt. Machen wir uns in der Beziehung nichts vor, Senor Vanetto. Es ist ein Tod, den wohl keiner von uns irgendjemandem wünscht.“ Rodrigez Vanetto, ein schlanker Mann mit dunklen Augen und dichtem Schnauzbart, wiegte nachdenklich den Kopf. „Wenn!“ wiederholte er. Capitan de Mello sah ihn erstaunt an. „Was meinen Sie damit?“ „Sie sagten es selbst“, entgegnete Vanetto mit einem kaum merklichen Lächeln. „Wenn diese Höhlen wirklich vollaufen ...“ De Mello nickte stirnrunzelnd. „Gibt es denn nach dem augenblicklichen Stand der Dinge eine andere Möglichkeit?“ „Ich würde sogar ernsthaft davon ausgehen, Senor Capitan. Sehen Sie, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß das Höhlensystem dort oben absolut wasserdicht ist. Bestimmt gibt es dort Spalten und Risse im Gestein, durch die das Wasser abfließen kann.“ Der Capitan runzelte nachdenklich die Stirn und nickte schließlich zustimmend. „Gut, diese Möglichkeit dürfte sogar wahrscheinlich sein. Bei der ganzen Sache - vorausgesetzt, sie verhält sich so - gibt es jedoch eine entscheidende Frage.“ „Ich ahne, wovon Sie sprechen, Senor Capitan.“ „Fließt das Wasser schneller ab, als es beim Eingang hineinströmt?“ sagte de Mello. „Das kann niemand von uns wissen.“ „Selbstverständlich nicht. Denkbar ist auch, daß sich Zu- und Abfluß die Waage halten.“ „Das würde bedeuten, daß das Wasser bis zu einer bestimmten Höhe ansteigt und diese dann hält.“ „Was vielleicht nicht einmal das schlimmste wäre“, entgegnete der Erste. „Die Kerle könnten sich sicherlich in höher gelegene Höhlenteile retten.“ „Und abwarten, bis sie von uns befreit werden“, sagte de Mello grimmig.
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„Darüber würden sie bestimmt sehr erfreut sein.“ Vanetto blies die Luft durch die Nase. „Wenn Sie mich fragen, Senor Capitan – diese Halunken sind sich längst darüber im klaren, daß es für sie nur noch zwei Möglichkeiten gibt: entweder den nassen Tod oder die Gefangennahme durch uns.“ Der Capitan zog die Stirn kraus. „Davon würde ich nicht unbedingt überzeugt sein. Stellen Sie sich eine weitere Möglichkeit vor, Vanetto. Zumindest theoretisch ist denkbar, daß das Wasser bis zu einer bestimmten Höhe steigt und erst dort abläuft, wo sich auf diesem Niveau Spalten und Risse befinden. Wenn es 'diese Spalten und Risse wirklich gibt, müßte es doch auch möglich sein, daß ein zweiter Ausgang vorhanden ist. Oder mehrere.“ „Das will ich nicht von der Hand weisen“, entgegnete Vanetto. „Solange wir aber die Schreie hören, wissen wir, daß die Kerle noch keinen zweiten Ausgang gefunden haben.“ „Was schlagen Sie also vor?“ „Erst einmal abzuwarten. Auf Anhieb können wir für die Halunken sowieso nichts tun. Es sei denn, wir würden versuchen, den Höhleneingang freizusprengen oder auseinanderzuschießen. Und wenn es einen zweiten Ausgang gibt, dann müßten wir ihn erst einmal suchen.“ „Das wäre das kleinere Übel“, sagte de Mello. „Zweifellos, Senor Capitan“, erwiderte Vanetto. „Noch etwas scheint mir wichtig zu sein: Die Kerle haben sich als Mörder von sechs Seesoldaten schuldig gemacht. Und sie haben sich an einem Schatz des Königs vergriffen. Werden sie vor Gericht gestellt, ist zumindest den Rädelsführern die Todesstrafe sicher. Das ist jedenfalls meine feste Überzeugung.“ Gaspar de Mello nickte. Der Erste Offizier hatte die Tatsachen, die allesamt auf der Hand lagen, klar und nüchtern aufgezählt. Und obwohl er gewisse Skrupel nicht leugnen konnte, mußte de Mello dem Ersten doch recht geben.
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Ein Schatz des Königs. Es war ein Stichwort, das Vanetto da erwähnt hatte. Was es mit dieser merkwürdigen Angelegenheit auf sich hatte, war für Gaspar de Mello nach wie vor unerklärlich. Warum und wieso, um alles in der Welt, war eine für Philipp II. bestimmte Schatzsendung überhaupt erst in einer so unzugänglichem Höhle gelagert worden? Es gab eine Menge Ungereimtheiten in dieser Geschichte. Gold und Silber, zur Aufstockung des spanischen Thronschatzes bestimmt, mußten nach den geltenden Bestimmungen unverzüglich in der Neuen Welt auf den Weg gebracht und möglichst ohne Umwege nach Spanien verschifft werden. Die Transportrouten an Land waren weitgehend festgelegt, desgleichen die Kurse der mit Gold, Silber und auch Edelsteinen beladenen Schatzschiffe. Gelegentlich wurde das sogar als eine zu starre Taktik kritisiert. Schließlich brauchten sich die Piraten nur am Rand der Geleitzug-Routen auf die Lauer zu legen, wenn sie fette Beute machen wollten. Wie auch immer, Capitan Gaspar de Mello hatte noch niemals davon gehört, daß ein Transport ausgerechnet von einer versteckten Bucht bei Batabano aus in See gegangen wäre. Doch da waren weitere Punkte, die ganz und gar nicht zu den vertrauten Methoden passen wollten. Welcher Offizier oder welcher hohe Beamte würde es sich allen Ernstes leisten, einen Schatz, der für den König bestimmt war, einfach unbewacht zu lassen? Das spottete einfach jeder Beschreibung: Ohne jegliche Sicherheitsvorkehrungen wurden in dieser Felsenhöhle unter dem Wasserfall Werte aufbewahrt, die geradezu unvorstellbar groß waren. Jeder Mann, der sich in der Gegend ein bißchen genauer umschaute, hätte den Zugang unter dem Wasserfall finden können. Und dann hätte sich die Kunde
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von dem gehorteten Mammon wahrscheinlich in Windeseile verbreitet. Ganze Heerscharen von Abenteurern, Glücksrittern und Galgenstricken wären über diesen sogenannten Schatz des Königs hergefallen, und niemand hätte sie daran gehindert. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, war es einfach nur ein Zufall, daß dieser Schatz überhaupt noch existierte. Ohnehin war es völlig unüblich, Gold, Silber, Edelsteine und Perlen in solchen Mengen und Massen an einem Ort zentral zu lagern. Das Risiko wurde im allgemeinen dadurch verringert, daß man kleinere Ladungen auf verschiedene Lagerplätze verteilte, um sie dann Zug um Zug zur Verschiffung abzuholen. Gaspar de Mello gab sich einen Ruck und trat an die Querbalustrade des Achterdecks. Mit einem Wink rief er den Teniente zu sich, der die Seesoldaten an Deck befehligte. Der Offizier nahm neben der Nagelbank des Großmasts Aufstellung und salutierte. „Senor Capitan?“ „Holen Sie den Gefangenen, Teniente.“ „Wie Sie befehlen, Capitan. Welche Begründung soll ich nennen? Sie wissen, daß ich ihm eine solche Frage beantworten muß.“ De Mello brauchte nicht lange zu überlegen. „Sagen Sie dem erlauchten Senor Gouverneur, daß ich geruhe, ihn zu vernehmen. Wenn er sich widersetzen sollte, wenden Sie Gewalt an. Haben Sie mich verstanden, Teniente?“ Der Offizier bestätigte den Befehl, salutierte abermals und vollführte eine Kehrtwendung. Er wählte vier Mann aus und begab sich an ihrer Spitze in den Gang zu den Achterdecksräumen. Gleich darauf war bis hinauf zum Achterdeck ein Rumoren und Poltern zu vernehmen. Flüche ertönten, dann schneidende Befehle. Schließlich eine schrille Stimme, die vom Kielschwein bis zu den Masttoppen gleichermaßen deutlich zu vernehmen war.
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„Zurück! Zurück mit euch! Teniente, Sie sind degradiert! Auf der Stelle sind Sie Ihres Amtes enthoben! Ich degradiere Sie hiermit zum einfachen Soldaten! Sie haben meine Befehle auszuführen! Meine! Ich befehle Ihnen ...“ „Mund halten!“ bellte der Teniente, und es klang merkwürdig hohl und trocken aus dem Achterdeck. „Was erdreisten Sie sich!“ schrillte wieder de Escobedos Stimme. „Ich bringe Sie vor ein Kriegsgericht, Mann! Was Sie sich leisten, ist Befehlsverweigerung! Dafür lasse ich Sie hängen! Dafür werden Sie ...“ „Letzte Warnung!“ brüllte der Teniente. „Mund halten!“ „Ich denke nicht daran!“ geiferte de Escobedo im Tonfall eines zeternden Marktweibs. „Sie haben mir nicht das Wort zu verbieten, Sie elender ...“ Ein klatschender Laut ließ ihn verstummen und trieb ihm offenbar die Freundlichkeit, die er noch hatte ausspucken wollen, in den Hals zurück. Die Männer auf der Kuhl grinsten sich eins. Ihnen war klar, was sich da abgespielt hatte, und sie gönnten es dem hochwohlgeborenen Don Alonzo de Escobedo von ganzem Herzen. Niemand konnte diesen aufgeblasenen, herrischen Gockel von Gouverneur leiden. Er hatte sich einfach schon zuviel geleistet, als daß auch nur noch einer aus der Decksmannschaft oder den Reihen der Seesoldaten Sympathie für ihn empfunden hätte. Der Teniente erschien als erster auf der Kuhl. Seine Gesichtszüge waren härter und grimmiger als zuvor, seine Schritte von energischer Entschlossenheit. Ihm folgten die vier Seesoldaten. Zwei hatten den Gefangenen in die Mitte genommen und hielten ihn bei den Oberarmen gepackt. Die Hände waren ihm nach wie vor auf den Rücken gefesselt. Die beiden. anderen Seesoldaten bildeten gewissermaßen die Nachhut. Im Mittelpunkt des spöttischen Interesses aller Decksleute und Seesoldaten stand jedoch das Raubvogelgesicht des sehr
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ehrenwerten Gouverneurs, insbesondere die linke Hälfte dieser Visage. Sie war krebsrot angeschwollen. Jeder an Bord der „San Sebastian“ mußte in diesem Moment anerkennend feststellen, daß der Teniente eine überaus einprägsame Handschrift hatte. Ebenso konnte jeder auch nachempfinden, welch eine Demütigung es für den Senor Gouverneur sein mußte, vor versammelter Mannschaft als offenkundig gemaßregelter Gefangener dahinspazieren zu müssen. Capitan de Mello sah dem Wutschäumenden unterdessen voller, Gelassenheit entgegen. Für ihn stand mittlerweile fest, daß dieser durchtriebene Kerl, der unter obskuren Umständen zum Gouverneurstitel gelangt sein mußte, der Schlüssel zu allen Ungereimtheiten war. Der Teniente baute sich drei Schritte vor dem Capitan auf, nahm Haltung an und erstattete seine Meldung. „Gefangener wie befohlen zur Stelle, Capitan. Mußte wegen Widerstands zurechtgewiesen werden.“ De Mello bedankte sich mit einem Nicken und wechselte einen Blick mit Vanetto. Der Erste Offizier mußte seine Gesichtsmuskeln anstrengen, um nicht zu grinsen. Der Teniente trat zur Seite und forderte die Soldaten mit einer Handbewegung auf, den Gefesselten vor den Capitan zu führen. Es schien, als habe der Gouverneur nur auf diesen Augenblick gewartet. „Ich protestiere!“ schrie er schrill, und seine Stimme kippte schon wieder über. „Ich protestiere in schärfster Form! Ich verlange sofortige Freilassung. Sie, de Mello, sind mit sofortiger Wirkung Ihres Postens enthoben, desgleichen alle Offiziere unter ihrem bisherigen Kommando. Ich gebe Ihnen jetzt die letzte Chance, eine mildere Bestrafung zu erwirken.“ „Sind Sie fertig?“ sagte de Mello trocken, als der Gouverneur Luft holen mußte. De Escobedo verschluckte sich fast. „Was nehmen Sie sich heraus, Sie - Sie ...“
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„Jetzt reicht es“, sagte de Mello schneidend. „Ab sofort reden Sie nur noch, wenn Sie gefragt sind. Als Festgenommener haben Sie an Bord meines Schiffes keinerlei Rechte. Für die Dauer Ihres Arrests sind Sie kein Gouverneur mehr.“ „Daß er es jemals wieder wird, möchte ich doch sehr bezweifeln“, warf der Erste Offizier ein. De Escobedo erbleichte. „Senores“, keuchte er, „das wird Sie samt und sonders den Kopf kosten. Was Sie betreiben, ist offene Rebellion. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, was das bedeutet.“ „Ich weise nochmals auf meinen Befehl hin“, erwiderte de Mello einen Grad schärfer. „Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden. Anderenfalls werde ich den Teniente bitten müssen, Sie zur Räson zu bringen.“ Don Alonzo de Escobedo zuckte zusammen. Aber er war noch längst nicht am Boden zerstört. „Auch das wird ein böses Nachspiel haben“, zischte er und starrte mit einer ruckartigen Kopfbewegung den Teniente an. „Sie lasse ich lebenslänglich in eine Mine stecken, Teniente. Lebenslänglich, verstehen Sie? Das ist schlimmer als jede Todesstrafe, egal welcher Art. Darauf können Sie sich verlassen. In so einer Silbermine wird Ihnen der Lebensnerv langsam, aber sicher gezogen und ...“ Der Teniente trat plötzlich drohend auf ihn zu und hob die Rechte. De Escobedo verschluckte sich abermals um ein Haar. Capitan de Mello räusperte sich. Der Teniente begab sich wieder an seinen Platz. „Damit Sie zur Vernunft kommen, de Escobedo“, sagte die Mello kühl, „sollten Sie einmal geruhen, zum Wasserfall hochzuschauen.“ De Escobedo starrte den Kapitän sekundenlang unwillig an, dann aber folgte er der Aufforderung und hob den Kopf. Jäh nahm sein Gesicht eine käsige Färbung an, als er sah, was sich dort oben verändert hatte. Er begann, nach Atem zu ringen, und
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an seinem mageren Hals entstanden kleine Flecken aus purpurnem Rot. „Fürwahr, fürwahr“, sagte de Mello in sarkastisch-theatralischem Ton, „nun bewacht sich der Schatz des Königs doch tatsächlich ganz von allein. Ist das nicht eine wundersame Fügung, verehrter Senor Gouverneur?“ De Escobedo sah aus, als könne er sich von dem Anblick nicht losreißen. Doch der Kapitän und die anderen Männer wußten nur zu genau, daß es eher Fassungslosigkeit als Faszination war, von der der Gefangene befallen war. Endlich, nach langen Minuten, wandte er sich ab und starrte de Mello an. „Das geht nicht mit rechten Dingen zu“, keuchte er schwer atmend. „Was da passiert ist, kann nicht mit rechten Dingen zugehen.“ „O doch, es kann“, widersprach de Mello. „Wenn Sie ein wenig nachdenken würden, würden Sie von selbst drauf kommen, de Escobedo. Ihnen dürfte nicht entgangen sein, daß wir unsere Culverinen in kurzen Abständen einzeln abgefeuert haben.“ „Teuflisch“, ächzte de Escobedo, „das ist einfach teuflisch.“ „Aus Ihrer Sicht vielleicht“, sagte der Capitan. „Für uns erweist es sich als überaus praktisch. Nicht nur, daß sich der Schatz von selbst bewacht. Nein, auch die Kerle, die sich dort oben in den Höhlen befinden, haben wir jetzt unter Verschluß. So gehört es sich letzten Endes für Strolche, die Seine Majestät berauben wollen. Höchst merkwürdig erscheint mir nur, was sich kein Geringerer als der Gouverneur von Kuba in diesem Zusammenhang erlaubt hat. Wollte er doch allen Ernstes solchen Halunken samt ihrem Oberstrolch von Kapitän den Transport dieses gewaltigen Königsschatzes nach Spanien anvertrauen!“ De Escobedo verzog das Gesicht zu einer widerwilligen Grimasse. „Ich habe Sie nicht gebeten, sich in meine Angelegenheiten einzumischen.“ „Nein, weiß Gott nicht“, sagte de Mello. „Ich habe mich auch keineswegs darum gerissen, de Escobedo! Aber wenn ich
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gegen meinen Willen in eine Sache hineingezogen werde, die zum Himmel stinkt, dann fechte ich das aus, bis alle Dinge an ihren rechten Platz gerückt worden sind. Darauf können Sie Gift nehmen.“ Der sehr Ehrenwerte stieß einen wütenden Knurrlaut aus. „Ich weiß nicht, was Sie damit andeuten wollen.“ Capitan de Mello verschränkte die Arme vor der Brust und hob das Kinn. „Das will ich Ihnen sagen, und zwar sehr klar und deutlich: Ist es vielleicht möglich, daß dieser Schatz Spanien und den König gar nicht erreichen sollte?“ „Wie kommen Sie auf einen solchen Unsinn?“ De Mello schüttelte lächelnd den Kopf. „Absolut kein Unsinn, das dürften Sie selber am besten wissen. Immerhin ist denkbar, daß der ehrenwerte Senor Gouverneur mit dem Oberstrolch Machado unter einer Decke steckte. Jedenfalls zu Anfang. Dann aber hatte dieses Schlitzohr Machado doch tatsächlich die Unverschämtheit, ausgerechnet den sehr bedauernswerten Senor Gouverneur übers Ohr zu hauen!“ De Escobedo holte tief Luft und preßte die Lippen aufeinander. „Wo bin ich hier? In einer Märchenstunde?“ „Schluß jetzt!“ fuhr de Mello ihn scharf an. „Allmählich ist es an der Zeit, daß ich die Wahrheit erfahre. Vor allem, was den sogenannten Schatz des Königs betrifft. Meinen Sie nicht auch? Oder muß ich Sie erst noch eines Besseren belehren?“ Der Gouverneur war zusammengezuckt. Er zerrte an seinen Fesseln, und in seinen Gesichtsmuskeln setzten heftige, unkontrollierte Bewegungen ein. Einen Moment schien es, als wolle er sich erneut aufplustern. Dann jedoch, ohne jegliche Vorwarnung, schlug er einen versöhnlichen Ton an, der alle Umstehenden zunächst überraschte, ihnen gleich darauf jedoch den Ekel hochtrieb.
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„Capitan“, sagte de Escobedo geradezu sanft, „ich möchte diese Angelegenheit mit Ihnen unter vier Augen besprechen.“ Einen Atemzug lang hatte Gaspar de Mello das Gefühl, es müsse ihm die Sprache verschlagen. Da erdreistete sich dieser Kerl doch tatsächlich, ihn vor aller Ohren zu einem offenkundigen Bestechungsversuch zu bitten! Es war einfach unglaublich. Nach und nach dämmerte dem aufrechten Kapitän der „San Sebastian“ jedoch, zu welcher Sorte Mensch dieser sogenannte Gouverneur gehörte. Zu der unwürdigsten nämlich, die man sich nur vorstellen konnte. „Haben Sie nicht verstanden?“ drängte de Escobedo, als der Capitan nicht sofort antwortete. „Ich bin bereit, die Sache aus der Welt zu schaffen. Aber nur im Gespräch unter vier Augen.“ „Nein“, erwiderte de Mello eisig. „Kommt überhaupt nicht in Frage. In dieser ganzen Angelegenheit ist schon zuviel gelogen worden.“ „Sie nennen mich einen Lügner?“ kreischte de Escobedo. „Eben das wäre sicherlich keine Lüge“, sagte de Mello ruhig. De Escobedo wollte abermals zu einem Tobsuchtsanfall ansetzen, wurde jedoch von dem Teniente daran gehindert, der lediglich demonstrativ einen Schritt auf ihn zutrat. Der Gouverneur schwieg, schluckte, und sein Adamsapfel bewegte sich heftig ruckend auf und ab. „Ich brauche meinen Ersten Offizier als Zeugen“, fuhr de Mello fort. „Ohne einen Zeugen werde ich mich Ihnen gegenüber auf nichts mehr einlassen.“ De Escobedo nickte in scheinbarem plötzlichen Verständnis. Deutlich war ihm indessen anzusehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Und dann, als er mit seiner Antwort herausrückte, war es für die Zuhörer klar, daß er seine Taktik geändert und sich zu einem neuen Schachzug entschlossen hatte. De Escobedos Stimme klang lauernd, als er die Offiziere nacheinander ansah und seinen Blick dann auf de Mello richtete.
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„Was würden die ehrenwerten Senores Offiziere davon halten“, sagte er gedehnt und mit einem listigen Blinzeln, „wenn wir uns den besagten Schatz teilen?“ Gaspar de Mello mußte sich zwingen, den Kerl nicht am Kragen zu packen und ihm auch noch die andere Gesichtshälfte in purpurnes Rot zu verwandeln. „Dazu müßten wir den Schatz erst einmal haben“, sagte er trocken. Doch im nächsten Atemzug steigerte sich seine Stimme zu beißender Schärfe. „Aber Sie werden doch wohl nicht ernsthaft von uns erwarten, daß wir ausgerechnet Seine Majestät bestehlen?“ De Escobedo schüttelte den Kopf. „Sie irren, Capitan. Es handelt sich gar nicht um einen Schatz des Königs.“ De Mello spielte den Verblüfften. „Und das sagen Sie jetzt erst?“ De Escobedo wand sich wie ein Aal. „Vorher bestand für mich kein Anlaß, Sie ins Vertrauen zu ziehen. Jetzt aber, nachdem sich die Dinge so grundlegend gewandelt haben ...“ Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen. „Um was, bitte sehr, handelt es sich dann“, entgegnete de Mello scheinbar begriffsstutzig, „wenn nicht um einen Schatz des Königs?“ „Liegt das nicht auf der Hand?“ er-' widerte de Escobedo mit siegessicherem Grinsen. „Um einen Piratenschatz natürlich. Ich habe ihn ausgekundschaftet. Und es ist doch wohl mehr als verständlich, daß man das, was man durch einen glücklichen Zufall entdeckt hat, auch in Gewahrsam nehmen möchte.“ „Nur in Gewahrsam?“ sagte de Mello, der dem Gouverneur im übrigen ebenso wenig glaubte wie Vanetto und der Teniente. „Nicht eher in Ihr persönliches Eigentum?“ „Nennen Sie es, wie Sie wollen“, erwiderte de Escobedo. „Ich muß allerdings zugeben, daß man vielleicht überlegen müßte, ob der Schatz nicht rechtlich doch dem König gehört -oder zumindest Teile davon, die ja möglicherweise aus Schatzladungen stammen, die ursprünglich für den König bestimmt waren. Aber diese Einzelheiten braucht man ja nicht so genau zu nehmen.
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Der König wird ohnehin mit den Schätzen aus der Neuen Welt überschüttet. Ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger fällt da gar nicht auf, gewissermaßen.“ „Gewissermaßen“, äffte de Mello ihn nach. „Wie steht es denn mit Ihren Pflichten als Gouverneur? Haben Sie nicht sofort alles darangesetzt, die Piraten zur Strecke zu bringen, die ihre Schatzbeute da oben in der Höhle gehortet haben?“ „Natürlich habe ich sofort Ermittlungen eingeleitet“, behauptete de Escobedo. „Nur ist alles im Sande verlaufen. Erst als ich absolut sicher war, die Piraten nicht mehr aufspüren zu können, habe ich Maßnahmen in die Wege geleitet, um den Schatz bergen zu lassen. Sicherlich sind die Piraten bei einem Seegefecht umgekommen. Unsere Kriegsschiffe haben mit dem Freibeuterunwesen in letzter Zeit bekanntlich ziemlich aufgeräumt.“ Capitan de Mello konnte es nicht mehr mit anhören. Wenn er dem Halunken freien Lauf ließ, würde er sich noch die aberwitzigsten Geschichten ausdenken. Es war einfach unerträglich. Sosehr das Gefasel des ehrenwerten Gouverneurs auch erstunken und erlogen war, ging doch eines klar und deutlich aus seinem dümmlichen Bestechungsversuch hervor: Er hatte ursprünglich nichts anderes vorgehabt, als sich selbst zu bedienen. Die Kriegsgaleone „San Sebastian“ war einzig und allein zum Zweck persönlicher Bereicherung de Escobedos für diesen Einsatz abkommandiert worden. Das allein war schon ein ungeheuerlicher Vorfall. Alles in allem war die ganze Geschichte aber durch de Escobedos „Aussage“ nur noch verworrener geworden. „Es reicht“, sagte de Mello kalt. „Ich habe genug Unsinn von Ihnen gehört, de Escobedo.“ Er wandte sich dem Offizier zu. „Teniente, führen Sie den Gefangenen wieder ab. Keine Arresterleichterungen, Bewachung wie bisher.“ „Jawohl, Senor Capitan“, antwortete der Teniente und gab den Soldaten einen Wink.
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De Escobedo lief dunkelrot an, und der jähe Tobsuchtsanfall ließ ihn erzittern wie bei einem schweren Fall von Schüttelfrost. Seine Stimme schrillte so unerträglich, daß de Mello und Vanetto drauf und dran waren, sich die Ohren zuzuhalten. „Laßt mich los, ihr Hunde! Ich warne euch! Ich lasse euch allen den Kopf abschlagen! Ich lasse euch rädern und vierteilen! De Mello, Sie werde ich dafür zur Verantwortung ziehen, daß Sie mich zu einer Falschaussage verleitet haben! Sie haben mich gezwungen, den Schatz des Königs als einen Piratenschatz zu bezeichnen! Das wird Sie teuer zu stehen kommen, darauf können Sie sich verlassen!“ De Mello stieß sich von der Heckbalustrade ab, und der Keifende verstummte vor Schreck. Doch nach zwei Schritten hielt der Capitan inne. „Nein“, murmelte er, „Sie Dreckskerl sind es nicht wert, daß man sich die Hand beschmutzt.“ Die Soldaten rissen de Escobedo herum und führten ihn mit hartem Griff zum Niedergang an Steuerbord. Der Ehrenwerte erhielt keine Gelegenheit, seinen Tobsuchtsanfall fortzusetzen. 4. Lange Schatten hatten sich bereits über die Westseite des Flusses gesenkt, und die Sonne, die irgendwo als glutroter Feuerball über der westlichen Kimm stand, war von der kleinen Bucht aus schon nicht mehr zu sehen. Doch das jenseitige Flußufer lag noch in rötlichem Licht, was der Szenerie etwas Unwirkliches verlieh. Die sechzehn Männer um Diego Machado, den Kapitän der „Trinidad“, hatten sich bislang jedoch nicht von Stimmungen beeinflussen lassen. In der kleinen Bucht, in der sie ihre vier Jollen und die Ausrüstung versteckt hatten, war es eher Ungeduld, die vorherrschte. Immer wieder hatten die Männer versucht, ihren Anführer zu einem früheren
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Losschlagen zu überreden. Und sie gaben es auch jetzt noch nicht auf. Sie hockten am Ufer, oberhalb der Jollen, hatten sich den Bauch vollgeschlagen und tranken von dem Rotwein, den sie aus Batabano mitgebracht hatten. Machado hatte die Rationen genau zu bemessen. Wenn er den Kerlen freie Hand ließ, würden sie um Mitternacht voll bis oben hin sein. „Ich sehe das einfach nicht ein“, maulte einer von ihnen, ein schwarz- bärtiger Hüne. „Warum sollen wir bis nach Mitternacht warten? Es reicht doch, wenn es dunkel ist! Oder nicht?“ Beifallheischend blickte er in die Runde, und die meisten der anderen nickten denn auch zustimmend. Machado, der dickliche Mann, der bei seinen Leuten als verschlagen und rücksichtslos bekannt war, hörte es sich ruhig und mit unbeteiligt wirkender Miene an. Genüßlich kaute er auf einer getrockneten Feige und spülte mit Wein nach. „Erstens sind wir in der Übermacht“, sagte einer der anderen, dessen kahler Schädel von einem grauen Haarkranz umgeben war und ihn wie einen Totenkopf aussehen ließ. „Und zweitens trifft es die Bastarde auf der ‚Trinidad' so oder so überraschend. Denen machen wir doch Dampf unter dem Hintern, daß ihnen Hören und Sehen vergeht!“ „Genau!“ rief ein dritter, schmächtig und mit einem blonden Ziegenbart. „So muß es laufen! Je schneller wir losschlagen, desto besser wird es klappen.“ Machado begann zu grinsen. In ihrer Gier nach Reichtum verfielen sie auf die verrücktesten Gedanken. Der klare Menschenverstand blieb auf der Strecke, sobald es um Geld und Gold ging. Sicher, auch er selbst war hinter dem Schatz her. Aber er richtete sich nach dem Stand der Dinge, was hieß, daß der Schatzanteil, der sich auf der „Trinidad“ befand, einfach ausreichen mußte. Unter den gegebenen Umständen wäre alles andere heller Wahnsinn gewesen.
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Er hatte sich damit abgefunden, daß an den Schatz in der Höhle nicht heranzukommen war. Das Risiko war zu groß. Die „Trinidad“ hingegen lag im Bereich des Möglichen. Aber man mußte trotzdem mit der gebotenen Vernunft zu Werke gehen. „So, ihr Schlauberger“, sagte er, bevor ein weiterer Kerl mit neuen und noch grandioseren Vorschlägen aufwartete. „Jetzt sag' ich's euch zum letztenmal. Unser Angriff beginnt eine Stunde nach Mitternacht. Nicht früher und nicht später. Die Gründe dafür liegen auf der Hand - für jeden, der seinen Kopf zum Denken benutzen kann.“ „He!“ rief der Schwarzbärtige dröhnend. „Du meinst wohl, wir sind zu dämlich, was? Ist es das, was du damit sagen willst?“ „So ungefähr“, entgegnete Machado kalt, und seine Rechte ruhte dabei wie zufällig auf dem Griffstück seiner Pistole. „Wer zwei und zwei zusammenzählen kann, sollte begreifen, daß es nur so geht, wie ich es sage. Die Stunde nach Mitternacht ist die Zeit der geringsten Aufmerksamkeit. Die Posten sind weniger wachsam als am frühen Abend. Und jene, die ihre Kojen abhorchen, schlafen tief und fest.“ „Ja, zum Teufel, aber wir sind doch in der Übermacht!“ rief der Ziegenbärtige. „So, sind wir das?“ entgegnete Machado höhnisch. „Da habt ihr aber mal richtig nachgerechnet, wie? Habt ihr vielleicht so gerechnet, daß die elf Mann auf der ‚Trinidad' einfach dastehen und sich abmurksen lassen? Daß sie sich nicht wehren?“ Verständnislose Blicke hefteten sich auf ihn. „Ihr wollt doch alle was von dem Reichtum haben, den wir uns hinterher teilen“, fuhr Machado fort. „Nur, wenn wir gleich nach Einbruch der Dunkelheit loslegen, müßt ihr eben darauf gefaßt sein, daß ein paar von euch im Höllenfeuer braten, statt in Gold und Silber zu schwelgen.“ Es wirkte. Die Vorstellung, bei dem Unternehmen möglicherweise getötet zu werden, hatte in der ungehemmt ausgebrochenen Gier bislang keiner
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ernsthaft in Erwägung gezogen. Jetzt aber, da Machado es ihnen auf diese Weise vor Augen führte, wurden sie nachdenklich. Gegenargumente schien es auf einmal nicht mehr zu geben. „Na also“, sagte Machado grimmig, „jetzt reißt euch gefälligst am Riemen, sauft nicht soviel und wartet bis nach Mitternacht. Haut euch meinetwegen aufs Ohr, dann seid ihr wenigstens munter genug.“ Widerworte wurden nicht mehr laut. Diego Machado nahm sich eine neue Feige, kaute voller Genuß und ließ die süße Frucht langsam auf der Zunge zergehen. Er hockte auf einer zusammengefalteten Plane, mit dem Rücken an eine Kiste gelehnt. Die Abenddämmerung senkte sich mit tieferen Schatten über die Flußlandschaft. Auch hier, in der kleinen Bucht östlich des Liegeplatzes der „San Sebastian“ und der „Trinidad“, war das Rauschen des Wasserfalls zu hören. Ebenso die Stimmen der Eingeschlossenen, weniger lautstark, kläglicher jetzt. Machado blickte auf die See hinaus. Er hörte nicht auf die Kerle, die sich murmelnd unterhielten. Er nahm auch die fast spiegelglatte Wasseroberfläche nicht wahr. Seine Gedanken waren weit entfernt. Gewiß, es hatte auch ihn wie ein Schock getroffen, die Höhle bei der Rückkehr verschlossen vorzufinden. Diese elenden Himmelhunde auf der „San Sebastian“ hatten alles verdorben. Dabei gab es in den Höhlen genug Schätze, um jeden einzelnen der in der Bucht befindlichen Schiffsmannschaften für den Rest seines Lebens zu einem reichen Mann zu machen. Aber damit, so überlegte Machado, wäre ein Gaspar de Mello niemals einverstanden gewesen. Dieser Bursche stellte seine sogenannte Offiziersehre und sein übertriebenes Gerechtigkeitsempfinden vor alles andere. Wer nach solchen starren Gesichtspunkten lebte, würde nach Machados Überzeugung eines Tages schon sehen, was er davon hatte. So traurig und bedauerlich es auch war, die Höhle mit den Riesenschätzen mußte man
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aufgeben, aus den Gedanken streichen. Machado hatte nach der anfänglichen Enttäuschung und der ohnmächtigen Wut gelernt, die Dinge nüchtern zu betrachten. Für ihn und seine Männer gab es keinen Weg in die Höhle mehr. Solange de Mello mit der „San Sebastian“ in der Bucht lag, war das jedenfalls ausgeschlossen. Und es sah nicht danach aus, daß sich in absehbarer Zeit an dieser Situation etwas ändern würde. Nein, es würde eher noch ungünstiger werden. De Mello würde Verstärkung holen lassen und dann seinen Platz in der Bucht anderen, stärkeren Einheiten überlassen. Gemessen daran war es schon zwingend logisch, sich mit der „Trinidad“ zu begnügen. Nach Machados Überzeugung war es das einzig Erreichbare -und mehr als genug. Er hatte schließlich selbst gesehen, was bei der ersten Verladeaktion in den Stauraum der „Trinidad“ geschafft worden war. Einfach zu schade war dieser Reichtum allerdings, um ihn an die sechzehn primitiven Kerle zu verschwenden. Doch Machado zerbrach sich über dieses Problem noch nicht den Kopf. Mit ungefangenen Fischen zu handeln war eine Sache, die ihm aus Erfahrung nicht behagte. Allzu leicht versteifte man sich dabei auf Hoffnungen und Wünsche, wodurch man sich selbst den klaren Kopf raubte. Nein, Diego Machado hatte stets gewußt, wie man aus den gegebenen Umständen die richtigen Schlüsse zog und sich dann die besten Vorteile daraus verschaffte. Auch jetzt noch betrachtete es Machado als absolut richtig, de Escobedo sich selbst zu überlassen. Der Narr hatte jetzt praktisch nichts mehr. Denn wenn die Schätze aus der „Trinidad“ erst einmal verschwunden waren, konnte dieser Dummkopf von einem Zufallsgouverneur endgültig alle Hoffnungen auf Reichtum begraben. Ein Grinsen flog über das wohlgerundete Gesicht des dicklichen Kapitäns. Teufel auch, wenn es in dieser Nacht klappte, dann würde er der einzige sein, der sich aus der Bucht als reicher Mann entfernte!
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Seine Handlanger brauchte er nicht mitzurechnen, da er sie später, sobald sich eine Gelegenheit bot, aus dem Weg räumen würde. Ihm, Diego Machado, gehörte die Zukunft. Er hütete sich jedoch, in Begeisterung auszubrechen. Das war ebenso schädlich wie geistige Trägheit. Vorwärts kam man nur, wenn man die Dinge wirklich klar und nüchtern von allen Seiten betrachtete, sorgfältig abwog und dann seine Entscheidungen traf. In diesem Fall lag es eben auf der Hand, daß der Schatz aus der Höhle hinter dem Wasserfall wieder dem Königreich Spanien zufallen würde, dem er ja letztlich abgezwackt worden war. Für die entsprechende ausgleichende Gerechtigkeit würde Gaspar de Mello schon sorgen. Daran zweifelte Diego Machado nicht im mindesten. Also in der Tat: Er würde der einzige reiche Mann sein, der aus dem ganzen verworrenen Geschehen übrigblieb. Glänzende Zukunftsaussichten. Der stille Abend am Buchtufer erschien Machado auf einmal in einem goldenen Schein. Selten hatte er soviel Freude über landschaftliche Schönheit empfunden. Doch er kannte den Ursprung seiner Guten Stimmung, und er wußte, daß sie gerechtfertigt war. In einen gedanklichen Strudel würde er sich dadurch jedoch nicht reißen lassen. Er rappelte sich auf und nickte den Männern zu. Sie wußten, daß er den Posten am Eingang der kleinen Bucht kontrollieren würde. Maßnahmen dieser Art ließ sich ein Diego Machado nur dann aus der Hand nehmen, wenn er von der Zuverlässigkeit seiner Untergebenen voll und ganz überzeugt war. In diesem speziellen Fall wußte er indessen, daß Gold und Silber den Kerlen das Gehirn durcheinandergebracht hatten.. Machado schlenderte am Rand der Bucht entlang und hielt sich dabei so im Schutz der Uferpflanzen, daß er vom Fluß aus nicht gesehen werden konnte. Obwohl es höchst unwahrscheinlich war, daß dort ungebetene Beobachter aufkreuzten, mußte man eben doch vorsichtig sein.
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Der Posten stand im Schutz einer Mangrove, deren Luftwurzeln fast mannshoch aus dem Boden ragten. Er war ein stämmiger Mann mit kantigen Gesichtszügen und kurzgeschorenem Haupthaar, was diesen kantigen Eindruck noch verstärkte. „War irgendwas?“ fragte Machado überflüssigerweise. Denn falls etwas gewesen wäre, hätte der Mann es natürlich sofort melden müssen. „Keine Vorkommnisse, Capitan“, erwiderte der Kantige in militärischem Ton. Machado zog die Brauen hoch. „Warum dieser Respekt? Die meisten anderen sind froh darüber, mich jetzt als gleichrangig betrachten zu können.“ Der Posten grinste schief. „Da haben sie ja auch nicht unrecht, Capitan. Aber irgendwie braucht man einen, der einem sagt, wo's langgeht. Sonst ist man doch aufgeschmissen, oder?“ Machado dachte sich seinen Teil über diese Sorte von Befehlsempfängern, die er zutiefst verachtete. Aber solange sie einem bereitwillig zu Diensten waren, mußte man sie eben anständig behandeln. Er klopfte dem Mann auf die Schulter. „Freut mich, zuverlässige Leute zu haben. Eine Hand wäscht die andere, weißt du. Ich gebe euch die richtigen Anweisungen, und ihr könnt euch darauf verlassen, daß ihr am Ende als reiche Männer dasteht. Eure Gegenleistung besteht lediglich darin, daß ihr meine Anweisungen in die Tat umsetzt.“ Machado las es in den Augen des Kantigen, daß dieser bestenfalls die Hälfte verstanden hatte. Dennoch nickte er in eifriger Zustimmung. „Jawohl, Capitan. Ich denke, das ist auch den anderen klar. Teufel auch, wenn ich daran denke, was wir für ein Schwein gehabt haben!“ „Wie meinst du das?“ „Na ja, stellen Sie sich vor, wir hätten es noch geschafft, in die Höhle zu gelangen. Dann säßen wir jetzt genauso drin wie die armen Hunde.“
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Machado nickte und ließ einen langgezogenen Brummton hören. „Glück im Unglück, mein Freund. Auf der einen Seite ist es eine Schande, daß wir auf den größeren Schatz verzichten müssen. Auf der anderen Seite können wir froh sein, in den Höhlen nicht krepieren zu müssen.“ Der Kantige sah ihn einen Moment forschend an. „Und die armen Kerle, die da drin eingeschlossen sind? An die denken Sie gar nicht?“ Sein Ton wurde unvermittelt herausfordernd und beinahe unverschämt. Machado runzelte die Stirn. „Natürlich tun sie mir leid, Mann. Was soll das auf einmal? Vorher hat sich keiner von euch Gedanken gemacht. Da war es euch ziemlich egal. ,In erster Linie wart ihr froh, die eigene Haut zu retten, stimmt's?“ Der Kantige knurrte unwillig. „Ich stehe hier stundenlang am Fluß, Capitan. Und ich höre die ganze Zeit diese fürchterlichen Stimmen und das Geschrei aus den Höhlen.“ „Ja, und?“ „Und?“ Der Kantige starrte den Dicklichen vorwurfsvoll an. „Da fängt man an nachzudenken, Capitan. Ist doch klar, oder?“ Machado grinste. „Kann ich nicht sagen. Vorher hat jedenfalls keiner von euch über die armen Eingeschlossenen nachgedacht.“ „Das war ja auch deshalb, weil wir alle froh waren, mit heiler Haut davongekommen zu sein.“ „So?“ sagte Machado spöttisch. „Deine Kumpels denken jedenfalls auch nicht an die armen Kerle. Die haben bloß eins im Kopf.“ „Was denn?“ „Gold und Silber.“ „Glaube ich nicht, Capitan. Lassen Sie mich ablösen, und ich rede mit den Kerlen. Dann werden Sie schon sehen ...“ „Was, in aller Welt, soll der Quatsch?“ zischte Machado aufbrausend. Es reichte ihm jetzt. „Hier wird keiner aufgewiegelt, verstanden? Du stehst Posten, und damit hat es sich!“
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Der Kantige versuchte es andersherum. „Aber Capitan, das müssen Sie doch einsehen! Ist es nicht unsere Pflicht als Christen, den in Not Geratenen zu helfen?“ „Christen?“ fragte Machado höhnisch. „Ich sehe keinen in meiner Nähe.“ „Ich meine trotzdem, daß wir etwas unternehmen sollten“, erklärte der Kantige. „Man muß doch irgendetwas tun, um die armen Seelen zu retten.“ Das war es also. Machado begriff, daß dieser Bursche eine ernsthafte Gefahr werden konnte. Unter keinen Umständen durfte er Kontakt mit den anderen kriegen. „Soso“, sagte Machado gedehnt und tat, als ginge er auf die vermeintlich mitfühlenden Überlegungen des Kantigen ein. „Und wie hast du dir das vorgestellt? Wie soll man ihnen helfen? Hast du irgendwas Brauchbares ausgebrütet, seit du hier rumstehst?“ Der Posten nickte eifrig. „Natürlich kann man durch den Wasserfall nicht mehr rein. Das ist klar. Man könnte höchstens den Felsbrocken wegsprengen, wenn die verdammte ,San Sebastian' nicht da wäre.“ „Stimmt auch nur teilweise“, entgegnete Machado. „Durch ihren Beschuß haben sie es geschafft, daß das Wasser jetzt senkrecht an dem Felsen runterrauscht. Damit ist es unmöglich, von der Seite in die Höhle zu gelangen.“ „Eben!“ rief der Posten. „Von der Seite! Das ist es, was ich meine! So ein Höhlensystem hat doch meistens nicht nur einen Eingang. Wenn wir ein bißchen suchen, finden wir bestimmt irgendeinen anderen Weg.“ „Interessant“, sagte Machado sarkastisch. „Und wie lange gedenkst du zu suchen? Einen Tag? Zwei Tage? Vielleicht eine ganze Woche?“ „Wieso? Warum?“ Machado pikte ihm mit spitzem Finger auf den Brustkasten. „Dann denk mal in den nächsten Stunden, die du hier rumstehst, darüber nach, was in ein oder zwei Tagen alles passieren kann. Zum Beispiel könnten de Mello und seine Leute den Höhleneingang freisprengen und mit
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Hilfsmitteln versuchen, doch noch einzudringen. Oder er könnte Verstärkung anfordern, und in der Bucht trifft eine kleine Flotte ein. Schon mal über so was nachgedacht?“ Dem Kantigen klappte das Kinn nach unten. Minutenlang starrte er den Dicklichen entgeistert an. „Trotzdem“, sagte er dann mit störrischer Beharrlichkeit. „Man kann doch nicht einfach die ganzen Klunker zurücklassen. Das bißchen, was wir auf der ‚Trinidad' haben ...“ Machado grinste erleichtert. „Endlich bist du mal ehrlich. Die armen Eingeschlossenen liegen dir gar nicht so sehr am Herzen. Wahrscheinlich hättest du auch nichts dagegen, sie einfach über den Haufen zu schießen, wenn wir deinen zweiten Höhleneingang gefunden haben.“ „Unsinn“, entgegnete der Kantige. „Drehen Sie einem doch nicht das Wort im Mund um, Capitan. Ich will jetzt mit den anderen reden. Ich will, daß wir die Sache besprechen. Wenn die anderen auch meinen ...“ Diego Machado fackelte nicht lange. Mitten in den Redeschwall des Kerls hinein feuerte er seine Faust ab. Den Kantigen traf es völlig überraschend. Er verdrehte die Augen, als ihn Machados Hieb hart und trocken auf die Bauchdecke traf und ihm den Atem raubte. Er rang nach Luft und wollte gleichzeitig losbrüllen. Machado legte ihn mit einem zweiten Hieb flach. Es war nicht das erste Mal, daß ihn jemand falsch einschätzte. Sein Äußeres wirkte vielleicht gemütlich und so, als würde er der sprichwörtlichen Fliege nichts zuleide tun. Doch dieser Eindruck täuschte. Er konnte zuschlagen, wenn es sein mußte. Mit den Fäusten und auch mit anderen Waffen. Er hatte es gelernt, und er hatte keine seiner Lektionen vergessen. Er packte den Bewußtlosen am Kragen und schleifte ihn zum Lagerplatz. Die Männer sahen ihn erstaunt an. Der Schwarzbärtige und ein paar andere sahen aus, als wollten sie aufbegehren.
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Machado nahm ihnen den Wind aus den Segeln. „Ein Quertreiber“, sagte er. „Wenn es nach ihm geht, suchen wir erst tagelang nach einem zweiten Höhleneingang.“ In klaren Worten erklärte er den Männern, daß es absolut keinen Sinn hätte, sich von dem verlockenden Riesenschatz den Kopf verdrehen zu lassen. Sie sahen es ein. Wohlweislich schickte Machado den Schwarzbärtigen los, damit er die nächste Wache übernahm. Von diesem Kerl war am meisten zu erwarten, daß er sich mit den Überlegungen des Kantigen anfreundete. Da war es eben besser, ihn zu isolieren. Machado achtete sehr sorgfältig auf die Gespräche, die die Männer führten. Und er paßte auf, daß sich in der Dunkelheit niemand absonderte, um etwa sein eigenes Süppchen zu kochen. Er wollte sich seine Pläne nicht jetzt von irgendeinem hirnlosen Narren verderben lassen. 5. Batuti und Dan O'Flynn hatten regungslos auf einem Uferabschnitt ausgeharrt, wo sie durch einen Schilfgürtel geschützt waren. Der Gambianeger hatte jedoch einen Teil der schwertförmigen Blätter mit Schilfrohr nur so weit auseinandergebogen, daß Dan und er abwechselnd jene kleine Bucht beobachten konnten, in der Machado und seine Horde offenbar den entscheidenden Coup vorbereiteten. Der Dickliche war äußerst vorsichtig gewesen. Das mußte man ihm lassen. Und auch der Posten hinter der Mangrovenwurzel hatte sich hervorragend verborgen. Nur ließen sich Männer wie Batuti und Dan O'Flynn so leicht nichts vorgaukeln. Dafür hatten sie in ihren unzähligen Bewährungsproben auf allen Weltmeeren schon zuviel erlebt. „Was würdest du sagen?“ fragte der Gambia-Mann halblaut. „Wieviel Zeit haben wir noch?“
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„Ein paar Stunden bestimmt.“ Dan hatte die kleine Bucht bis zum Einbruch der Dunkelheit von einem höhergelegenen Punkt aus beobachtet. „Die Burschen haben mir verdammt danach ausgesehen, daß sie die Ruhe in Person sind. Keine Aufregung, keine Eile, keine Vorbereitungen» „Wenn ich an der Stelle dieser Kerle wäre“, sagte Batuti, „würde ich auf jeden Fall bis Mitternacht warten. Vor allem müssen sie ja darauf achten, daß sie von der ,San Sebastian' aus nicht gesehen werden. Je weniger Leute an Deck, desto geringer das Risiko.“ Dan brummte zustimmend. „Spielst du den Nachrichtenüberbringer?“ „Einverstanden“, sagte Batuti. „Wenn ich in zwei Stunden nicht wieder hier bin, siehst du nach dem Rechten.“ „In Ordnung. Du gehst auf direktem Weg zu Hasards Beobachtungsposten?“ Der schwarze Riese grinste. In der Dunkelheit war das Blitzen seiner Zähne zu erkennen. „Verlaß dich drauf, daß ich keine Umwege mache.“ Er bedachte Dan mit einem freundschaftlichen Schulterklopfen und verließ das Versteck hinter dem Schilfgürtel. Ohne Mühe bewegte sich der schwarze Herkules völlig lautlos durch den dichtbewachsenen Uferbereich. Was er schon als Kind und Jugendlicher in den Urwäldern Gambias gelernt hatte, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er bewunderte die Ureinwohner der Neuen Welt wegen ihrer Geschicklichkeit beim Verhalten in der freien Natur. Doch er wußte auch, daß er ihnen zumindest ebenbürtig war. Batuti war selbst aus allernächster Nähe nicht zu sehen, als er den Streifen der Sumpfgewächse verließ und den Rand eines Mangrovenwaldes erreichte. Wenn er sich von hier aus nach links wandte, würde er nur ein paar Minuten brauchen, um das Versteck des Kapitäns der „Trinidad“ und seiner Halunken zu erreichen. Doch es wäre sträflicher Leichtsinn gewesen, allein
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etwas gegen die Kerle ausrichten zu wollen. Schon bei der Verfolgung nach Batabano hatte Batuti miterlebt, zu welcher blanken Mordlust diese Strolche sich verstiegen. Er kannte seine Fähigkeiten als Kämpfer. Aber er wußte auch, wo die Grenze zwischen Mut und Leichtsinn lag. Deshalb pirschte er in entgegengesetzter Richtung voran, um jenen Beobachtungsposten zu erreichen, auf dem sich der Seewolf befand. Insgesamt fünf Beobachtungsstellen rings um den Wasserfall waren vom Bund der Korsaren eingerichtet worden. Ihnen entging nichts, was sich bei der Höhle, auf der „San Sebastian“ und auf der „Trinidad“ abspielte. Und Hasard hatte sich nicht geirrt. Jener Zeitpunkt, an dem die gegnerischen Parteien aufeinanderprallen würden, lag nicht mehr fern. Für die Gefährten vom Bund der Korsaren hatte es von vornherein festgestanden, daß sie diese Konfrontation abwarten würden, ehe sie selbst in das Geschehen eingriffen. Unvermittelt verharrte Batuti. Völlig regungslos blieb er stehen und horchte auf die Geräusche aus dem Mangrovenwald. Er kannte die Tierstimmen der Neuen Welt mittlerweile genauso gut, wie er früher die Geräusche der Wildnis in seiner Heimat gekannt hatte. Es war das immer gleiche Pfeifen und Kreischen, Ächzen, Grunzen, Stöhnen und Knurren, das da aus den Tiefen des Dickichts und aus den vom dichten Laub überdachten Baumkronen drang. Dennoch hatte Batuti ein Geräusch herausgehört, das dieser Umgebung fremd war. Ein zischender Atemzug nur. Mehr nicht. Sofort war wieder Stille gewesen. Batuti wußte, daß dieser Atemzug von einem Menschen herrührte, nicht von einem Tier. Irgendwo, ganz in der Nähe, lauerte dieser Mensch jetzt genauso wie er. Er strengte sein Erinnerungsvermögen an und versuchte, die Richtung zu bestimmen, aus der er den Laut gehört hatte. Wenn ihn nicht alles täuschte, lauerte der
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Unbekannte haargenau auf seinem Weg, vielleicht nur zwei oder drei Schritte entfernt. Batuti dachte nicht daran, die weitere Entwicklung der Dinge dem Zufall zu überlassen. Der andere hatte ihn bemerkt, und es durfte auf keinen Fall geschehen, daß die Kerle bei den vier Jollen in der kleinen Bucht irgendetwas mitkriegten. Wenn sie wußten, daß sie beobachtet worden waren, oder auch nur, daß sich Unerwünschte in der Nähe befanden, dann würden sie möglicherweise ihren ganzen Plan abblasen. Vorsichtig und langsam hob Batuti den rechten Fuß. Der Rest seines Körpers blieb völlig bewegungslos. Nach wenigen Inches setzte er den Fuß ebenso behutsam wieder auf. Der weiche, grasüberwucherte Boden begünstigte seine absolute Lautlosigkeit. Gefährlich wurde es nur dann, wenn irgendwo ein trockener Ast, verdorrte Zweige oder trockenes Laub herumlagen. Nach jedem dieser winzigen Schritte verharrte er abermals und horchte von neuem. Aber der andere rührte sich noch immer nicht. Hörte er etwa tatsächlich nichts? Wenn es so war, dann kannte er sich in der Wildnis nicht besonders gut aus. Zumindest mußte er wissen, daß er nicht an seinem ursprünglichen Platz bleiben durfte, wenn er einen überraschenden Angriff in der Dunkelheit vermeiden wollte. Batuti legte eine längere Pause ein, nachdem er ungefähr einen Yard hinter sich gebracht hatte. Da! Jetzt war es ganz deutlich. Der Unbekannte atmete in unmittelbarer Nähe. Ein flaches, nervöses Atmen. Batuti hatte das Gefühl, daß er nur den Arm auszustrecken brauchte, um den Kerl zu erwischen. Er arbeitete sich noch ein paar Inches weiter voran. Dann verharrte er erneut, um den anderen zu lokalisieren. Der Unbekannte hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Batuti wußte, daß er keine Zeit zu verlieren hatte. Wenn alles reibungslos
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ablaufen sollte, mußte er sich beeilen. Er zögerte keine Sekunde. Mit einem federnden Satz schnellte er in die Richtung, aus der er das Atmen hörte. Ein erschrockener Laut war zu hören. Doch bevor der Laut zu einem Schrei werden konnte, hatte Batuti bereits mit beiden Händen zugepackt. Es war ein einfaches Wams, das er da zu fassen kriegte. Stoff riß prasselnd unter seinen harten Fäusten. Und bevor der andere einen Ton von sich geben konnte, schlug der Gambianeger zu. Er traf haargenau auf den vorberechneten Punkt. Mit einem leisen Ächzen erschlaffte der Körper unter seinem Griff. Batuti packte den Mann, damit er nicht hörbar zu Boden schlug. Behutsam ließ er den Reglosen ins weiche Schilfgras sinken. Im fahlen Licht von Mond\ und Sternen konnte er erkennen, was er da erwischt hatte. Ein hohlwangiges, stoppelbärtiges Gesicht, verfilztes Haar und ärmliche Kleidung. Keiner, der von der Sonnenseite des Lebens stammte, was aber noch lange nicht bedeutete, daß es sich um einen Unschuldsengel handelte. Batuti warf ihn sich kurzerhand über die Schulter, nachdem er festgestellt hatte, daß der Mann nicht zu dem Haufen in der kleinen Bucht gehörte und sich etwa auf einem Erkundungsgang befunden hatte. Mit zügigen Schritten setzte der Gambianeger seinen Weg in der vorgesehenen Richtung fort. Etwa fünfzig Yards mochte er zurückgelegt haben, als er spürte, wie sich der Kerl auf seinem Rücken zu rühren begann. Batuti blieb stehen, ließ ihn zu Boden sinken, packte ihn gleich darauf am Kragen und stieß ihn mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. Der Stoppelbärtige gurgelte entsetzt, als er spürte, über welche Bärenkräfte sein Bezwinger verfügte. „Wer bist du?“ zischte Batuti auf spanisch. „Was hast du hier zu suchen?“ Zur Untermalung seiner Worte entblößte er sein perlweißes Gebiß, was schon so manchen Gegner furchterregend
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beeindruckt hatte. Besonders in der Dunkelheit, in der sonst nur das Weiße seiner Augen zu sehen war, war die Wirkung geradezu faszinierend. Der Fremde begann am ganzen Körper zu zittern. „Laß mich in Frieden“, jammerte er mit einer dünnen Stimme, die wie raschelndes Herbstlaub klang. „Ich habe nichts getan, und ich tue keiner Fliege was!“ Batuti drückte den Oberkörper des Kerls etwas fester gegen den Baum. „Das ist keine Antwort auf meine Frage“, flüsterte er gefährlich leise. „Wenn du nicht sofort redest, muß ich deutlicher werden.“ Der Stoppelbärtige begann zu zappeln und sich zu winden. Doch gegen den eisenharten Griff des Gambianegers vermochte er nichts auszurichten. Seine Kräfte begannen spürbar zu erlahmen. „Schon gut“, ächzte er weinerlich, „schon gut, ich rede.“ „Warum nicht gleich so?“ entgegnete Batuti in nunmehr freundlichem Tonfall. „Also: Wohin des Wegs, mein Freund?“ „Dir kann man wohl nichts verheimlichen“, antwortete der andere. Es klang wie ein Winseln. „Aber du gehörst nicht zu dem Haufen, dem ich gefolgt bin, nicht wahr?“ Batuti zog überrascht die Brauen hoch. „Wem bist du gefolgt? Von wo?“ „Ich komme aus Batabano. Ich habe diese Kerle beobachtet, wie sie sich ihre Boote besorgt haben. Bei denen war mir auf den ersten Blick klar, daß die was Besonderes vorhaben. Also habe ich mir gesagt, denen steigst du mal nach. Vielleicht springt was Lohnendes dabei heraus. Das ist alles. Mehr kann ich dir wirklich nicht sagen.“ „In Ordnung, dann ist es für dich gesünder, wenn du dich jetzt verdrückst. Hier spielen sich nämlich Sachen ab, bei denen wir keine Zuschauer und keine Mitmischer gebrauchen können.“ „Weshalb soll ich denn abhauen?“ entgegnete der Stoppelbärtige bockbeinig. Es war nur eine Finte. Um ein Haar hätte Batuti es zu spät begriffen. Er hatte geglaubt, den Kerl
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genügend eingeschüchtert zu haben. Doch er hatte ihn für zu harmlos eingestuft. Jäh geriet der rechte Arm des Mannes in eine zuckende Bewegung. Es war ein Griff zum Messer. Batuti reagierte blitzschnell, packte zu und erwischte das Handgelenk des Halunken. Der Kerl reagierte auf eine Weise, die nicht vorhersehbar war. Mit einer wirbelnden Drehbewegung versuchte er, sich der eisenharten Faust zu entwinden. Batuti konnte sich nicht darauf einstellen und lockerte seinen Griff um einen Sekundenbruchteil zu spät. In diesem winzigen Moment hatte sich der Mann das Messer ungewollt selbst in den Bauch gerammt. Fassungslos mußte der Gambianeger mit ansehen, wie sich der Körper des anderen über seiner Faust zusammenkrümmte und erschlaffte. Er riß das Handgelenk mit dem Messer zurück und bettete den leblosen Körper behutsam auf den weichen Boden. Dann, als er sich über den Mann beugte, sah er, daß es keine Hilfe mehr gab. Seine Augen waren blicklos und stumpf zum Nachthimmel gerichtet. Batuti konnte ihm nur die Augen zudrücken. Mehr war im Moment nicht möglich. Um die Leiche konnte man sich später immer noch kümmern. Jetzt war einzig und allein wichtig, daß Hasard und die anderen schleunigst unterrichtet wurden. Und daß man die richtigen Maßnahmen ergriff, um das Geschehen so zu beeinflussen, daß es in wünschenswerten Bahnen verlief. Zehn Minuten später erreichte der Gambianeger den Beobachtungsposten, in dem sich der Seewolf, Siri-Tong und Edmond Bayeux in hervorragender Tarnung befanden. Sowohl die Bucht in ihrer gesamten Ausdehnung als auch der Wasserfall waren von dieser Stelle aus zu überblicken. In knappen Zügen berichtete Batuti über seine und Dan O'Flynns Beobachtungen. „Vor Mitternacht werden sie kaum losschlagen“, sagte Hasard nach kurzem Überlegen. „Sie müssen sicher sein, daß
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sie die Wachen überwältigen können, ohne daß gleich die gesamte übrige Mannschaft munter wird. Ich tippe also eher darauf, daß sie weit nach Mitternacht auf die Handelsgaleone losgehen.“ Die Rote Korsarin blickte den Seewolf nachdenklich an. „Das klingt mir zu einfach, Hasard. Man darf die Kriegsgaleone doch nicht außer acht lassen.“ „Richtig“, sagte Edmond Bayeux, der Mann aus der Normandie, gedämpft. „Die Burschen auf dieser ,San Sebastian' scheinen mir mächtig helle zu sein. Denen wird es nicht so leicht entgehen, daß sich auf dem anderen Eimer was tut.“ „Ich gebe dir recht“, entgegnete Hasard. „Aber wenn ich an der Stelle der Kerle mit den vier Jollen wäre, würde ich mich so annähern, daß ich von der ,San Sebastian' aus nicht zu sehen bin.“ „Also von See her“, folgerte Batuti. „Richtig“, sagte Hasard und nickte. „Eine bessere Taktik gibt es in diesem Fall nicht. Sie hat nur einen entscheidenden Nachteil, von dem die bedauernswerten Kerle aber nichts ahnen können.“ „Spann uns nicht auf die Folter“, sagte Siri-Tong. „Was du auch im Sinn hast, du solltest es nicht für dich behalten.“ „Das hatte ich auch nicht vor“, entgegnete Hasard lächelnd. Mit einer Handbewegung deutete er auf die Bucht hinunter, deren Wasserfläche im Mondlicht silbern schimmerte. Die beiden Schiffe waren wie kunstvolle Schattenbilder zu erkennen, wobei die „Trinidad“ mit ihren Schäden in der Takelage weniger eindrucksvoll wirkte als die „San Sebastian“. „Wenn die Kerle mit ihren Jollen von See her auf die ‚Trinidad' zupullen, haben sie zwar den Vorteil, für die Besatzung der Kriegsgaleone unsichtbar zu sein, ihr Nachteil ist aber, daß sie an der Landzunge am Buchteingang vorbeimüssen.“ Batuti lachte leise. Er begann zu verstehen, was der Seewolf im Sinn hatte. Edmond Bayeux kam ihm jedoch mit einer Antwort zuvor. „Also vereinnahmen wir die Kerle von der Landzunge aus, was? Da klopfen wir ihnen
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gründlich was auf die Schädel, und ihr ganzer schöner Plan -,fället im Handumdrehen ins Wassers“ Der Gambianeger schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, daß das gut wäre.. Ich glaube auch nicht, daß Hasard so etwas ernsthaft vorhat.“ „Ganz und gar nicht“, sagte der Seewolf und nickte. „Ich halte es nicht für richtig, daß wir in die Auseinandersetzung aktiv eingreifen. Sinnvoll wäre es aber, wenn wir die Dinge ein bißchen beeinflussen, daß sie so ablaufen, wie wir es uns wünschen.“ Siri-Tong kannte das Rezept. „Also gut. Du sorgst irgendwie dafür, daß die Posten auf der Handelsgaleone wach werden, bevor die Jollenmannschaften angreifen. Wie willst du aber erreichen, daß unsere Leute dabei nicht gesehen werden?“ Hasard lächelte, und seine Augen blitzten. „Ich glaube, Batuti hat da bestimmt eine Idee.“ Er sah den Gambianeger an. „Oder täusche ich mich?“ „Überhaupt nicht“, erwiderte Batuti. „Die Strolche wird es wie der Blitz aus heiterem Himmel treffen, niemand wird begreifen, was überhaupt los ist. Und wenn einer daran denkt, der Sache auf den Grund zu gehen, sind wir längst wieder von der Bildfläche verschwunden.“ Hasard versetzte ihm einen freundschaftlichen Hieb gegen die Schulter. Edmond Bayeux, der als einziger nichts verstand, knurrte unwillig. „Kann mir mal einer freundschaftlicher weise erklären, was ihr da in euren schlauen Köpfen bewegt? Das mit dem Blitz aus heiterem Himmel -wie das funktioniert, würde ich auch gern wissen.“ Hasard nickte dem Gambianeger zu, und Batuti erklärte, wie sich der verhältnismäßig einfache Plan in die Tat umsetzen ließ. „Wichtig ist, daß wir schnell wieder verschwinden können“, schloß Batuti. „Und genau das ist auf der Landzunge gewährleistet.“
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„Donnerwetter!“ sagte Edmond Bayeux anerkennend. „Da sieht man mal wieder, was für einem verteufelt guten Haufen ich mich anschließen durfte. Ich weiß nicht, ob ich selbst darauf gekommen wäre, wenn ich so einer Sache allein gegenübergestanden hätte.“ Die anderen wußten, daß er das so meinte, wie er es sagte. Auf der anderen Seite hatten sich aber auch Bayeux und seine zwölf Schrate als hervorragende Mitstreiter erwiesen. So hatte man gegenseitig einen guten Fang gemacht. Daran gab es nicht den leisesten Zweifel. Batuti verlor keine Zeit mehr. Er eilte los, um sich die notwendige Ausrüstung von der „Isabella“ zu holen. Die Schiffe des Bundes der Korsaren lagen in einer versteckten Bucht fünf Meilen westlich der Schatzbucht. Die Entfernung war jedoch nicht so groß, daß zuviel Zeit verstreichen würde. Edmond Bayeux setzte sich unterdessen in Marsch, um Dan O'Flynn zu verständigen. Dan hatte noch immer die schärfsten Augen von allen Mitgliedern des Bundes der Korsaren. Er war bei dem nächtlichen Einsatz auf der Landzunge haargenau der richtige Partner für Batuti. Bereits eine Stunde vor Mitternacht befanden sich die beiden Gefährten auf der Landzunge, um ihre Vorbereitungen zu treffen. In der Bucht, auf den beiden Schiffen, hatte sich nichts verändert. Niemand hatte also Verdacht geschöpft. 6. Gegen Mitternacht hatte Diego Machado festgestellt, daß sich die Dinge zu seinen Gunsten wandelten. Der Wind frischte auf, und Wolken zogen herauf, die sich zusehends verdichteten. Das fahle und doch so verräterische Licht, das der Mond ausgestreut hatte, schwand mehr und mehr. Nur noch gelegentlich lugte der Mond durch einen Riß in der Wolkendecke, während die Männer in der kleinen Bucht für den bevorstehenden Kampf rüsteten.
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Machado hatte es geschafft, sie ruhig zu halten. Die meisten von ihnen hatten seinen Rat befolgt, sich eine Mütze voll Schlaf zu gönnen. Er selbst hatte allerdings kein Auge zugetan. Insbesondere hatte er auf den Kerl geachtet, der so gern losmarschiert wäre, um nach einem zweiten Höhleneingang zu suchen. Aber die Lektion hatte offenbar gereicht. Ernsthafte Zwischenfälle hatte es nicht gegeben, und die wachgebliebenen Kerle hatten sich auch daran gehalten, nicht zuviel Wein in sich hineinzukippen. Geräuschlos verstauten sie ihre Waffen in den vier Jollen. Die Reste der Proviantvorräte, die sie sich in Batabano verschafft hatten, ließen sie zurück. Auf der „Trinidad“ würden sie in ausreichender Menge vorfinden, was sie für die ersten Tage der Küstenfahrt mit den Jollen brauchten. Später konnte man jederzeit einen kleinen Hafen anlaufen, ein Fischerdorf vielleicht, um die Vorräte zu ergänzen. Machado teilte jeweils vier Männer für eine Jolle ein. Vorsichtig wurden die Boote zu Wasser gebracht. Machado ließ sich auf der Achterducht jener Jolle nieder, in der sich auch der Kantige befand. Der Bursche sollte nicht zu guter Letzt noch Unheil stiften. Machado übernahm mit seinem Boot die Führung. Behutsam und in mäßigem Rhythmus tauchten die Männer die Riemenblätter ein, um keine überflüssigen Geräusche zu verursachen. Entsprechend unhörbar glitten die Jollen voran. Machado hielt zunächst seewärts. Die Finsternis umgab die vier Boote wie ein schützender Mantel. Nach und nach gewöhnten sich die Augen der Männer daran. Aus der Schatzbucht tönte kein verdächtiges Geräusch herüber. Alles schien ruhig zu sein, wie erwartet. Diego Machado hatte bereits das sichere Gefühl, daß sich alles nach Plan entwickeln würde. Die Situation war so, wie er sie vorhergesehen hatte. Nur die Wachen befanden sich auf den beiden Schiffen. Und jene auf der „Trinidad“ würde man überwältigt haben, ehe auf der
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„San Sebastian“ jemand Verdacht schöpfen konnte. Der Rest mußte sich dann mit der erforderlichen Schnelligkeit abspielen. Der Zweite Offizier der „San Sebastian“ und die restlichen Seesoldaten an Bord der „Trinidad“ mußten überrumpelt werden. Sie durften gar nicht erst zur Besinnung gelangt sein, wenn sie das Entermesser an der Gurgel hatten. Alles Weitere würde dann gewissermaßen ein Kinderspiel sein. Mit sechzehn Männern, selbst wenn es noch einige wenige Verluste gab, verfügte Machado über eine ausreichende Crew, um die Schätze in die Jollen zu verladen und aus der Bucht zu verschwinden. In ausreichender und sicherer Entfernung ließ Machado auf Gegenkurs gehen und hielt von See her auf die „Trinidad“ zu. In der Dunkelheit war die Galeone nur schattenhaft zu erkennen. Für Machado reichten die Sichtverhältnisse jedoch aus. Besonders wichtig war, daß sein Plan auch in dieser Beziehung funktionierte: Die „Trinidad“ versperrte die Sicht zur Kriegsgaleone hin. Voller Genugtuung stellte Machado fest, daß das Schiff, das seinem Kommando unterstanden hatte, jetzt eine wirkungsvolle Deckung war, damit er entern konnte. Und daran war - genaugenommen - nicht einmal etwas Unrechtmäßiges. Denn sein Schiff war es, auf das er zurückkehrte. Im Unrecht waren die Besatzer, die die „Trinidad“ auf de Mellos Geheiß bewachten. Wenn überhaupt einer das Recht hatte, sich aufzublasen, dann war es de Escobedo. Letzterer aber nur, weil er, Machado, sich nicht an eine Vereinbarung gehalten hatte. Das jedoch war mehr oder weniger eine Privatangelegenheit zwischen ihnen beiden. Es war in der Tat zum Verrücktwerden, daß der hirnverbrannte Idiot de Mello durch sein Eingreifen alles vermasselt hatte. Viele unnötige Schwierigkeiten hätten im Grunde gar nicht erst zu entstehen brauchen, sagte sich Machado. Doch er zwang sich, nicht mehr in der Vergangenheit herumzukramen. Einzig
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und allein die Zukunft war jetzt wichtig. Und die lag zum Greifen nahe vor ihm - in den Laderäumen der „Trinidad“, in Form von prallgefüllten Kisten. Ein Mann mußte sich mit dem zufriedengeben, was für ihn erreichbar war. Diego Machado grinste bei diesem Gedanken. Die Ladung der „Trinidad“ war nun endlich erreichbar, und wenn man es aus der richtigen Sicht betrachtete, stand ihm diese Ladung sogar von Rechts wegen zu. * Zwei Stunden des 26. Mai Anno 1595 waren verstrichen. Längst hatten Batuti und Dan O'Flynn ihre Vorbereitungen auf der Landzunge abgeschlossen. Niemand hatte sie dabei bemerkt. Auf den Schiffen war alles ruhig geblieben, die Wachen hatten sich routinemäßig abgelöst. Nichts und niemand hatte sich auf den Decks der beiden Galeonen gezeigt, was für die Männer vom Bund der Korsaren etwa besorgniserregend gewesen wäre. Wieder war es ein dichter Schilfgürtel, der den Gambianeger und seinen Gefährten auf der Landzunge vor Blicken schützte. Batuti hatte das Schilf indessen mit Blickrichtung zur „Trinidad“ und zur See hin so behutsam geteilt, daß sie beobachten konnten, ohne dabei selbst aufzufallen. Überdies begünstigte der mondlose Himmel ihr Vorhaben. „Es ist soweit“, sagte Dan O'Flynn unvermittelt, „Sie pullen von See her auf die Galeone zu - wie erwartet.“ Batuti schob sich geduckt neben ihn und spähte durch den schmalen Spalt im Schilf. „Ich sehe nichts“, gestand er leise. „Das glaube ich dir gern“, entgegnete Dan ebenso gedämpft. „Aber ich sehe sie. Und das genügt doch, oder?“ „Vorerst ja. Zugegeben, das da draußen ist für mich wie eine schwarze Wand.“ „Stimmt“, sagte Dan. „Aber man kann seine Augen schulen. Wenn du genau hinsiehst, kannst du die Wasseroberfläche erkennen. Es gibt ein paar ganz winzige
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Reflexionen. Und darüber die Schatten, die sich bewegen - das sind die Boote.“ Nach einer Weile konnte auch Batuti die vier Jollen erkennen, die sich da heimlich von See heranschlichen. Die Burschen verstanden ihr Handwerk, das mußte man ihnen lassen. Sie würden es glatt schaffen, sich der „Trinidad“ unbemerkt zu nähern. Und auf der „San Sebastian“ würde erst recht niemand Verdacht schöpfen. Doch diese Suppe sollte Machado und seinen Kerlen gründlich versalzen werden. Dan O'Flynn verließ seinen Beobachtungsposten, als die vier Jollen noch etwa hundert Yards von der Landzunge entfernt waren. Batuti übernahm es jetzt, die Meute im Auge zu behalten. Dan kroch in das kleine Schilfzelt, das der Gambianeger mit flinken Händen gebaut hatte. Es war absolut dicht und ließ nicht den geringsten Schimmer durch. Überdies stand es in einer kleinen Kuhle, die von Strandgestrüpp umgeben war. So war das Schilfzelt weder von See her noch aus der Bucht zu sehen. Dan nahm seine Flints aus der Hosentasche, schlug sie gegeneinander und schaffte es beim ersten Versuch, die Öllampe anzuzünden, die er in der Mitte des Zelts aufgestellt hatte. Batuti hatte die Brand- und Pulverpfeile in zwei getrennten Köchern bereitgestellt. Der englische Langbogen, mit dem er ebenso meisterhaft umzugehen verstand wie Big Old Shane, lehnte draußen an der schrägen Schilfwand. Minuten später schob der schwarze Herkules den Kopf durch den schmalen Eingangsspalt des Zelts. „Wenn ich um den ersten Brandpfeil bitten dürfte?“ „Wird sofort erledigt, Euer Lordschaft“, erwiderte Dan grinsend, nahm einen Pfeil der gewünschten Sorte aus dem betreffenden Köcher und hielt die mit Pech und Schwefel präparierte Spitze in die blakende Flamme der Öllampe. Die Pfeilspitze loderte auf, und schwarzer Rauch stieg hoch.
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Batuti nahm den Brandpfeil entgegen und deutete eine Verbeugung an. „Besten Dank, Sir. Haltet Euch bereit für die nächste Order.“ Dan lachte leise. „Sieh lieber zu, daß du triffst. Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen.“ Batuti verschwand feixend. Den Langbogen in der Linken, hielt er den Pfeil so, daß die Flamme von außerhalb der Landzunge durch das Schilf nicht zu sehen war. Mit einem raschen Blick überzeugte sich der Gambianeger, daß die Jollen noch nicht ganz querab der Landzunge waren. Es konnte sich aber nur noch um Sekunden handeln, bis sie sich auf gleicher Höhe befanden. Batuti wandte sich zur anderen Seite und spähte durch die Gasse im Schilf. An Bord der „Trinidad“ hatte sich noch immer nichts geändert. Niemand schöpfte Verdacht. Der Ankerposten lungerte einsam und allein auf der Back. „Du wirst mir überaus dankbar sein, mein Junge“, murmelte Batuti und legte den Pfeil im Schutz des Schilfs auf die Bogensehne. Mit einer fließenden Bewegung Hochkommen, Spannen und Abfeuern gingen ineinander über - ließ er den Pfeil als flammende Spur in der Dunkelheit aufsteigen. Zielgenau erfolgte der Einschlag auf der Kuhl der Handelsgaleone. Im rötlichen Schimmer des flackernden Brandpfeils war deutlich zu sehen, wie der Posten auf der „Trinidad“ hochschreckte. Und er handelte geistesgegenwärtig. Er stürmte auf die Kuhl hinunter, schnappte sich eine Pütz und schleuderte sie am langen Tau über die Verschanzung. Gleichzeitig ertönte die gellende Stimme des Mannes. „Alarm! Alarm!“ In der nächsten Minute löschte der Wasserschwall aus der Pütz den brennenden Pfeil. An Deck wurde es lebendig. Der Zweite Offizier stürmte durch das Schott der
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Achterdeckskammern auf die Kuhl und wiederholte den Alarmruf. Im Logis gerieten die Seesoldaten in Bewegung. Auch drüben auf der „San Sebastian“ war die Ankerwache aufmerksam geworden. Die Schatzbucht hallte wider von den hellen Alarmrufen und den ersten knappen Kommandos. * Diego Machado hatte seinen Schreck noch nicht vollends überwunden. Seinen Männern in den Jollen erging es nicht anders. Fassungslos stierten sie zur „Trinidad“, wo der rätselhafte Brandpfeil gelöscht wurde. Und erschreckend deutlich waren jetzt die Silhouetten der Seesoldaten zu erkennen, wie sie auf die Kuhl stürmten. Die Befehlsstimme des Zweiten Offiziers hallte durch die Dunkelheit. Aus der Traum von der wirkungsvollen Überrumpelung! Was Machado und seine Meute erwartete, war ein waffenstarrendes Kommando von gut ausgebildeten Soldaten. Diego Machado und seinen Kerlen blieb keine Zeit, auch nur zur Besinnung zu gelangen. Erneut stieg eine zischende Glutspur wie aus dem Nichts auf, schien sekundenlang über ihnen zu schweben und senkte sich dann in funkensprühender Bedrohlichkeit auf sie nieder. „O Hölle und Verdammnis!“ kreischte Machado. „Es wendet sich alles gegen uns!“ Er sprang von der Ducht auf und sah den kometenhaften Schweif auf sich zurasen, als solle er selbst durchbohrt werden. Mehr aus einem Reflex heraus reckte er den rechten Arm hoch. Und er griff hinein - mitten in die sprühende und zischende Flammenspur. Er faßte etwas Langes, Rundes und schleuderte es von sich weg. Noch in der Luft erfolgte die Detonation. Die Ladung des Pulverpfeils raste über die Köpfe der Männer und klatschte wirkungslos ins Wasser. Sie zuckten
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zusammen, einige stießen erschrockene Laute aus, und manch einer von ihnen hatte das schlimme Gefühl, daß ihnen hier der Satan persönlich einen flammenden Gruß entboten hätte. Doch zum Aufspüren von Ursachen war keine Zeit mehr. Machado entschied sich, ohne nachzudenken. Es war alles sinnlos geworden, alles so verdammt hirnrissig. Aus dem unbemerkten Anpirschen wurde nichts mehr. Die elenden Hundesöhne an Bord der „Trinidad“ hatten durch die Helligkeit der Detonation genug gesehen. „Vorwärts!“ brüllte Machado anfeuernd. „Pullt schneller, Männer! Jetzt packen wir sie! Alles oder nichts - und wir holen uns alles!“ Er war tatsächlich überzeugt von dem, was er da brüllte, und malte sich allen Ernstes noch eine reelle Chance aus. Die Männer ließen sich von seinem wahnwitzigen Kampfdrang anstecken und pullten, was das Zeug hielt. Mit erhöhter Fahrt jagten die Jollen auf die Handelsgaleone zu. Daß jetzt auch mit dem Eingreifen der „San Sebastian“ zu rechnen war, kümmerte Diego Machado nicht. Alles in ihm fieberte nur noch nach dem Reichtum im Laderaum des Schiffes - seines Schiffes! Die verwirrenden Glutpfeile hatten in seinem Kopf ein verheerendes Durcheinander angerichtet. Das Alarmgebrüll, die Detonation, die Gestalten an Bord der „Trinidad“ - all das hatte sich zu einem wirren Bild vereint, dessen Bedeutung er nicht mehr zu erfassen vermochte. Doch sein Befehl galt. Mit hoher Schlagzahl wurden die Jollen der „Trinidad“ entgegengetrieben. Die Kerle, die sich nie anders als Befehlsempfänger verstanden hatten, glaubten fest daran, daß dieser letzte Befehl Machados folgerichtig war und alles zu ihren Gunsten entscheiden würde. 7.
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In Minutenschnelle hatte der Zweite Offizier das Achterdeck der Handelsgaleone in eine kampfbereite kleine Festung verwandelt. Alle zehn Seesoldaten waren an der Steuerbordseite postiert. Jeweils zwei Mann waren für die beiden Drehbassen eingeteilt. Die Hinterlader waren fertig geladen, die Männer hielten zischende Lunten bereit. Die sechs übrigen Soldaten waren mit Musketen und Tromblons ausgerüstet. In atemloser Spannung warteten die Soldaten auf den Feuerbefehl. Ihre Augen brauchten sie nicht einmal mehr sonderlich anzustrengen, um die Kampfentfernung abzuschätzen. Deutlich war das gischtende Wasser zu erkennen, wie es von den eintauchenden Riemenblättern gepeitscht wurde. Erst bei sicherer Schußweite gab der Zweite das Kommando. „Feuer frei!“ Im nächsten Atemzug brüllte die erste Drehbasse los. Dann peitschten die ersten Musketen. Für die Tromblons war die Entfernung noch zu groß. Ihre verderben bringende Wirkung ließ sich nur auf Nahkampfdistanz erzielen. Die Drehbassenladung lag zu kurz. Gehacktes Blei und Eisensplitter rauschten vor den Jollen ins Wasser und rissen weißschäumende Fontänen hoch. Der Fehlschuß rief bei den Angreifern Triumphgefühl hervor. Ihr Gebrüll schlug den Männern an Bord wie das Röhren eines wilden Tieres entgegen. Die Aufmerksamkeit des Zweiten Offiziers wurde abgelenkt. Voller Staunen sah er, wie von der Landzunge ein Lichtpunkt aufstieg und sich zu einem feurigen Schweif entwickelte. Das kometenhafte Etwas raste in hohem Bogen durch die Dunkelheit und senkte sich mit unglaublicher Zielgenauigkeit auf die in letzter Position dahinjagende Jolle. Zwischen den Duchten schlug das feurige Ding ein. Die Detonation erfolgte im nächsten Sekundenbruchteil. Ein brüllender Blitz
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zuckte in der Jolle auf. Die Kerle schrien vor Schmerz und vor Entsetzen. Zwei von ihnen sprangen auf und gerieten ins Taumeln. Im selben Moment krachte die zweite Drehbasse der „Trinidad“. Geistesgegenwärtig hatte die Geschützmannschaft des Hinterladers die kurzfristige Helligkeit des Pulverpfeils ausgenutzt. Die volle Ladung schlug schmetternd in das in zweiter Position liegende Boot. Mit ohrenbetäubendem Bersten zerfetzte der Einschlag die Planken im Bereich der vorderen Ducht, die nicht besetzt war. Weiße Fasern von Holzsplittern wirbelten durch die Luft. Einer der Männer auf der mittleren Ducht schrie gellend auf. Er war von einem Splitter getroffen worden. Wasser schoß gurgelnd und rauschend in die Jolle. Der stumpfe Bug senkte sich in Sekundenschnelle. Noch immer pullten die vier Männer auf den Duchten. Sie begriffen nicht, daß sie sich nur noch schneller der Tiefe entgegen trieben. Musketenschüsse peitschten von neuem. Die großkalibrigen Kugeln rissen kurz nacheinander die ersten beiden Kerle aus der zerschossenen Jolle. Sie warfen die Arme hoch, verkrampften sich und kippten außenbords. Ihre Schreie gellten markerschütternd über die nächtliche Wasserfläche. Die beiden anderen schrien nun gleichfalls, sprangen von den Duchten hoch und wollten sich mit einem Sprung über Bord in Sicherheit bringen. Eine Sicherheit, die es nicht gab. Ihre gemarterten Sinne gaukelten ihnen eine falsche Wirklichkeit vor. Musketenkugeln schleuderten sie über den Dollbord, ehe sie die Beinmuskeln zum Sprung anspannen konnten. Sie versanken mit dem Boot. „Jetzt erst recht!“ schrie Diego Machado schrill und mit sich überschlagender Stimme. „Zeigt es ihnen, Männer! Pullt schneller! Gleich haben wir sie!“ Um sich selbst anzustacheln, brachen die Kerle in wildes Geheul aus. Sie schafften
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es tatsächlich, die Schlagzahl noch zu steigern. Der Aberwitz der Situation wurde ihnen nicht mehr bewußt. Sie hielten es allen Ernstes für möglich, die „Trinidad“ noch entern und die Soldaten im Kampf Mann gegen Mann bezwingen zu können. Nicht allein Diego Machados geifernde Befehle waren es, die ihnen das vorgaukelten. Auch der Traum vom Reichtum stand dahinter. Die Gier nach Geld und Gold war es wieder einmal, die Menschenhirne in völliges Chaos stürzte. Die Soldaten unter dem Kommando des Zweiten Offiziers begriffen nicht, wie man sich so blindlings ins Verderben stürzen konnte. Was sich hier abspielte, war wie bei einer nächtlichen Schießübung. Man brauchte nur draufzuhalten. Ernsthaft gefährdet war man dabei nicht, denn die Kerle mußten ja pullen, was das Zeug hielt. Das Feuer konnten sie nicht erwidern. Die Musketen peitschten in kurzen Abständen fast ohne Pause. Der Zweite Offizier hatte die Männer neu eingeteilt. Die zwei, die mit Tromblons ausgerüstet waren, hatten ihre Waffen mit dem trichterförmigen Lauf beiseite gelegt und übernahmen das Nachladen der Musketen. Auf diese Weise war den vier übrigen Soldaten eine beträchtliche Feuergeschwindigkeit ohne große Pause möglich. Weitere Erfolge waren offenkundig. Die Musketenkugeln hatten sichtbare Lecks in die drei noch heranrauschenden Jollen gerissen. Jene, die sich in letzter Position befand, fiel merklich zurück. Zwei Kerle waren von der Explosion des seltsamen Kometenschweifs ohnehin verletzt und zum Pullen nicht mehr zu gebrauchen. Die beiden anderen legten sich in panischer Hast in die Riemen, ohne daran zu denken, einfach zu wenden und das Weite zu suchen. Abermals stieg eine feurige Spur aus der Dunkelheit auf. In gebannter Aufmerksamkeit beobachtete der Zweite Offizier das Geschehen. Er war jetzt völlig sicher, daß sich die
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unsichtbaren Helfer auf jener Landzunge befanden. Aber was, in aller Welt mochte sie veranlassen, auf diese ungewöhnliche Weise in den Kampf einzugreifen? Nein, sie hatten mehr getan. Dem Offizier wurde es erst jetzt richtig bewußt. Sie hatten seinen Männern und ihm das Leben gerettet. Denn ohne den warnenden Brandpfeil wäre die Meute lautlos aufgeentert, hätte die Wache getötet und wäre dann in die Unterdecksräume vorgedrungen. Der Pfeil stieg in steiler Kurve dem Nachthimmel entgegen. Die feurige Spur war eine leuchtende Bahn, die ihr Licht auch auf die Wasserfläche hinunterwarf. Die Silhouetten in den Booten waren deutlicher zu erkennen. Sofort reagierten die Musketen-. schützen. Ihre Waffen peitschten in rascherer Folge. Einer der Kerle im zweiten Boot schrie auf, ließ den Riemen los und griff sich an die Schulter. Der Feuerpfeil hatte den höchsten Punkt erreicht und senkte sich langsam, in dieser seltsam zögernden Art, dem Wasser der Bucht entgegen. Der Zweite Offizier hielt den Atem an. Es war ihm schon beim erstenmal aufgefallen, und es war einfach unglaublich. Der Pfeil raste haargenau auf jenes Boot hinunter, das bereits einmal von einer Explosivladung getroffen worden war. Die beiden Kerle, die noch immer wie besessen pullten, schienen von dem herannahenden Verderben noch nichts zu bemerken. Die beiden Verwundeten hockten zusammengesunken auf den Duchten und schienen von ihrer Umgebung überhaupt nichts mehr wahrzunehmen. Da die Waffen an Bord der „Trinidad“ gerade schwiegen, war der dumpfe Laut zu hören, mit dem der Pfeil zwischen den Duchten der Jolle einschlug. Die Kerle schraken hoch. Die beiden vorderen vergaßen das Pullen. Zu einer weiteren Reaktion gelangten sie nicht mehr.
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Krachend flog der Pfeil auseinander. Es war wie eine grellweiße feurige Blume, die jäh auf dem Boot erblühte. Die vier Kerle wurden buchstäblich von den Duchten geschleudert. Ihre Schreie schrillten nervenzerfetzend, aber im nächsten Moment erstickten ihre Stimmen in einem vernehmlichen Gurgeln, als sie in den nachtschwarzen Fluten der Bucht versanken. Bei den anderen, in den verbliebenen beiden Jollen, vermochte es dennoch keine Panik hervorzurufen. Sie waren wie blind und stürzten sich ins Verderben, ohne zu begreifen, was sie taten. „Pullt!“ schrie Machado, und er war längst von Sinnen. „Pullt, Männer! Wir schaffen es! Wir schnappen sie uns, die Schweinehunde!“ „Drehbasse eins - Feuer!“ brüllte der Zweite Offizier auf dem Achterdeck der Handelsgaleone. In der nächsten Sekunde brüllte der Hinterlader los. Eine Feuerzunge leckte schräg hinunter zur Wasseroberfläche. Prasselnd gruben sich gehacktes Blei und Eisensplitter in das Holz der zweiten Jolle. Einer der beiden Kerle auf der mittleren Ducht sackte in sich zusammen, ohne einen Laut von sich zu geben. Er begrub den Riemen in der Mitte seines zusammen geknickten Körpers, das Blatt hing im Wasser und bremste die Fahrt der Jolle. Sie begann, sich auf der Stelle zu drehen, da die anderen Kerle immer noch pullten und nicht begriffen, was geschehen war. Durch das Leck im Bugbereich der Jolle rauschte das Wasser gurgelnd und gischtend. Ein neuer Kometenschweif stieg von der Landzunge auf. Der Zweite Offizier meinte, eine schattenhafte Gestalt im Schilf erkannt zu haben, war sich aber nicht sicher. Die Mündungsblitze der Musketen störten zu sehr, als daß er ein klares Blickfeld gehabt hätte. Die beiden Musketenlader griffen jetzt zu ihren Tromblons. Der lodernde Feuerpfeil senkte sich aus der Höhe nach unten. Und wieder war es
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dieses faszinierend-schaurige Schauspiel, das den Offizier und die Soldaten in seinen Bann zog. Doch unvermittelt erkannten sie etwas anderes. Einer der Soldaten war es, der es entdeckte. Der Lichtschein des brennenden Pfeils ermöglichte es. „Eine Dreiecksflosse!“ rief der Soldat. „Da! Seht!“ Alle Köpfe ruckten herum, in die Richtung, die er ihnen wies. Sie brauchten nicht zweimal hinzusehen. Diese Flosse, deren Form alle Menschen, die jemals zur See gefahren waren, so sehr fürchteten, erschien hinter der sich drehenden Jolle. Der Hai mußte von dem Blut der Männer angelockt worden sein, die schon vor Minuten den Tod gefunden hatten. Und Einzelgängerhaie waren selten. Weitere dieser mörderischen Bestien würden auftauchen. Es war ein Ende, das keiner der Soldaten den heimtückischen Angreifern gewünscht hätte. Doch es gab auch nichts, was sie dagegen tun konnten. Der flammende Pfeil raste nieder und bohrte sich mit dumpfem Aufschlag in die Achterducht des sich drehenden Bootes. Die Kerle schienen es nicht wahrzunehmen. Die Ladung des Pulverpfeils fegte sie von den Duchten der immer rascher sinkenden Jolle. Nur kurz schrillten ihre Todesschreie, dann schlug das Wasser über ihnen zusammen. Diego Machado hatte noch nicht begriffen, daß er mit seinen Kerlen allein übriggeblieben war. Zu nahe sah er das Ziel vor sich. Unermeßlich hoch schien die Bordwand der „Trinidad“ vor ihm aufzuragen. Ja, und unermeßlich war auch der Reichtum, der ihn dort erwartete. Er mußte ihn sich holen, diesen Reichtum, darüber gab es überhaupt keine Zweifel. Und er wußte jetzt, daß er es schaffen würde. All das Kampfgetümmel vermochte ihm nichts anzuhaben. Er war dazu ausersehen, sich den Reichtum anzueignen, der ihm von Rechts wegen zustand.
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„Gleich haben wir sie!“ schrie er und sprang von der Achterducht auf. Es gelang ihm, seine Pistole aus dem Gurt zu ziehen, und tatsächlich feuerte er einen Schuß ab. Der Pistolenschuß klang lächerlich dünn. Die Kugel klatschte irgendwo in die mächtige Bordwand, als hätte ein vorwitziger Lausejunge einen Kieselstein geworfen. „Geben Sie auf!“ brüllte der Zweite Offizier. „Sie haben keine Chance mehr!“ Machado brach in schrilles, meckerndes Gelächter aus, als hätte er den schönsten Witz seines Lebens gehört. Er sah nicht die Flammenspur des Pfeils, der hinter ihm aus der Dunkelheit heranzischte. Seine Jolle hatte sich der „Trinidad“ nun schon bis auf sechzig Yards genähert. Die Männer an den Drehbassen hatten die Läufe der Hinterlader in den Gabellafetten in spitzem Winkel nach unten gesenkt. Der Brandpfeil schlug fast senkrecht in die Bugbeplankung der Jolle ein. Der Schaft erzitterte unter der Wucht des Einschlags, die hochzüngelnden Flammen waren wie eine Buglaterne. Die Kerle auf den Duchten erstarrten vor Schreck. Einer von ihnen hatte eine stark blutende Wunde in der rechten Brusthälfte, trotzdem hatte er weitergepullt. Erst in diesem Augenblick begriffen sie, daß sie sich selbst ins Verderben getrieben hatten. Machado starrte sie fassungslos an. „Ihr Hunde!“ schrie er. „Wollt ihr wohl pullen! Das ist Meuterei! Ich be-feh-le euch - pullt!“ Er stieß jede einzelne Silbe abgehackt aus, seine Stimme steigerte sich dabei in Höhen, die ihn zur absoluten Lächerlichkeit stempelten. Der Zweite Offizier schüttelte den Kopf, als könne er dadurch Klarheit gewinnen. Die Treffsicherheit dieses unsichtbaren Bogenschützen war einfach unglaublich. Er riß sich von seinen Gedanken los. Die Situation erforderte rasches Handeln. „Machado!“ brüllte er. „Dies ist meine letzte Aufforderung! Ergeben Sie sich! Wenn Sie sich nicht sofort ergeben, lasse ich feuern!“
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Statt einer Antwort stieß Machado einen geifernden Wutschrei aus. Und er reagierte auf eine Weise, die bei jedem einzelnen der Soldaten an Bord der „Trinidad“ Fassungslosigkeit hervorrief. Abermals riß er die Pistole heraus und legte sie auf den Mann an, der ihm am nächsten saß. „Pullt, ihr dreckigen Hunde, oder ich blase euch das Hirn aus dem Schädel! Habt ihr mich verstanden!“ Die Männer reagierten nicht. Ihre jähe Todesangst war größer als ihre Fähigkeit, Machados Wahnsinn noch zu begreifen. Das Gesicht des Dicklichen verzerrte sich zu einer wüsten Fratze, sein Zeigefinger krümmte sich um den Abzug der doppelläufigen Waffe. Dünn peitschte der Schuß. Die Soldaten rissen Mund und Augen weit auf. In ungläubigem Entsetzen sahen sie, was dieser Wahnsinnige getan hatte. Der Mann auf der Ducht vor ihm sackte stumm und klaglos in sich zusammen. „Drehbassen — Feuer!“ brüllte der Zweite Offizier in jäh aufflammendem Zorn. Die beiden Geschütze krachten nahezu gleichzeitig. Zwei glühendrote Feuerzungen zuckten abwärts. Die Ladungen hackten in das Boot und zerschmetterten es wie eine lächerliche Nußschale. Die Schreie versiegten rasch. Für einen winzigen Moment war Diego Machado im Licht des lodernden Brandpfeils noch zu sehen. Die Pistole flog ihm aus der Hand, grenzenloses Erstaunen zeigte sich auf seinem Gesicht. Gehacktes Blei traf ihn und schüttelte ihn buchstäblich durch. Mit hochgeworfenen Armen flog er nach achtern aus der sinkenden Jolle. Seine Männer hatten einen schnellen Tod gefunden. Zischend erlosch der Brandpfeil, als die Fluten über dem zerschmetterten Boot zusammenschlugen. Damit war das letzte bißchen Helligkeit geschwunden - und folglich auch die Chance, noch zu erkennen, was sich drüben auf der Landzunge abspielte.
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„Feuer einstellen!“ befahl der Teniente. Es war eine unheimliche Ruhe, die jetzt für Sekunden einkehrte. Doch dabei blieb es nicht lange. Mächtige Körper peitschten das Wasser. Gischtende Fontänen stiegen hoch. Abermals wurden Schreie laut. Jene, in denen noch ein bißchen Leben war, schrien ihre wahnwitzige Todesangst hinaus, als sie von den mächtigen Reißzähnen der Bestien gepackt wurden. Das Wasser verwandelte sich in eine brodelnde und kochende Fläche von schlagenden und sich windenden Körpern, von blutrünstigen Mördern und hilflosen Opfern. Innerhalb von Minuten wurde es still. Der Zweite hatte Laternen anzünden lassen, die die Soldaten an Spaken über die Verschanzung hinaushielten. Aber da gab es kein Leben mehr, nicht einmal mehr das winzigste Anzeichen von Leben. Die Dreiecksflossen der Bestien verschwanden pfeilschnell in der Dunkelheit. 8. Batuti und Dan O'Flynn wandten sich ab, als die Haie ihr grausiges Mahl beendet hatten. Die beiden Männer hatten sich nicht etwa an dem blutigen Schauspiel ergötzen wollen. Vielmehr mußten sie herausfinden, ob der Zweite Offizier etwa auf die Idee verfiel, ein Boot auszusetzen und nach dem rätselhaften Bogenschützen suchen zu lassen. Aber nichts dergleichen geschah. Die Soldaten an Bord der „Trinidad“ standen offenbar noch zu sehr im Bann des Geschehens, als daß sie in der Lage gewesen wären, jetzt Schritte zur Klärung der Lage zu unternehmen. „Da kann sich einem regelrecht der Magen umdrehen“, sagte Batuti. Er hängte sich den Bogen über den Rücken und nahm die beiden Köcher auf. „Was für widerwärtige Viecher diese Haie doch sind!“ Dan O'Flynn hatte mit wenigen Handgriffen das Schilfzelt zerstört.
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„Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, entgegnete er achselzuckend. „Diese alten Sprichwörter haben manchmal ihre besondere Bedeutung.“ Batuti grinste und sah sich noch einmal um. „Stimmt. Und wäre dein Alter Old Donegal jetzt hier, dann würde er glatt von einem Gottesurteil sprechen.“ „Was bringt dich auf die Idee?“ „Diese Kerle in den Jollen hatten ernsthaft vor, heimtückisch zu morden und einen Schatz an sich zu reißen, der ihnen nicht gehört. Dafür haben sie ihre gerechte Strafe erhalten.“ Dan O'Flynn versetzte dem schwarzen Herkules einen freundschaftlichen Seitenhieb. „Meinst du nicht eher, daß wir es waren, die hier ein bißchen Urteil gesprochen haben?“ Batuti schüttelte verständnislos den Kopf. „Du siehst auch immer nur die Tatsachen. Mir scheint, dein Alter hat dich nicht richtig erzogen.“ „Jetzt aber nichts wie weg hier“, sagte Dan ernsthaft. „Fehlt bloß noch, daß wir anfangen zu lachen. Dann können wir uns den Dons auch gleich selbst auf dem Präsentierteller ausliefern.“ „Jedenfalls verfolgen sie uns' nicht“, sagte Batuti. „Die Hilfe haben sie anscheinend gern angenommen, aber großes Interesse haben sie an' uns nicht. Undank ist der Welt Lohn, nicht wahr?“ „Auf die Art von Dank kann ich gern verzichten“, brummte Dan. Sie setzten sich in Marsch und verschwanden landeinwärts im Mangrovendickicht. Als sie kurze Zeit später den Beobachtungsposten des Seewolfs erreichten, kroch über dem östlichen Horizont bereits die erste Helligkeit des jungen Tages. Hasard, Siri-Tong und Edmond Bayeux hörten aufmerksam zu, als die beiden Männer ihren Bericht erstatteten. Natürlich hatten der Seewolf und seine Gefährten von ihrem Versteck aus alles beobachtet.
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In der letzten Phase des Geschehens waren ihnen jedoch die Einzelheiten entgangen, da sich alles in unmittelbarer Nähe der „Trinidad“, jedoch auf deren anderer Seite, abgespielt hatte. „Warten wir also ab“, sagte Hasard. „Wenn es endgültig hell geworden ist, werden wir sehen, wie sich der Kapitän der Kriegsgaleone entscheidet. Darauf können wir uns dann einstellen.“ Siri-Tong und die Männer hatten nichts dagegen einzuwenden. Noch war die Lage in der Schatzhöhle nicht geklärt. Jetzt schon etwas zu unternehmen wäre heller Wahnsinn gewesen. * Sehr rasch verstärkte sich das Licht der frühen Morgenstunde. Als Capitan Gaspar de Mello ein Boot abfieren und sich zur „Trinidad“ pullen ließ, war es schon fast völlig hell geworden. Oben beim Wasserfall war die Lage unverändert. Die Fluten rauschten senkrecht nieder, der in den Höhleneingang verkeilte Felsbrocken hatte sich um keinen Zoll bewegt, und ein Teil der Wassermassen ergoß sich in das Innere der Höhle. De Mello brannte darauf, zu erfahren, was sich bei der „Trinidad“ abgespielt hatte. Ebenso mußte er an diesem Tag unbedingt herausfinden, wie es in der Höhle aussah. Der Gesichtsausdruck des Zweiten Offiziers spiegelte sichtliche Erleichterung, als de Mello ihm gegenübertrat und seinen Gruß mit einem freundlichen Handzeichen erwiderte. „Capitan Machado und sechzehn Deserteure haben den Tod gefunden“, begann der Zweite seinen Bericht. Dann schilderte er in allen Einzelheiten, was sich abgespielt hatte. Naturgemäß hatten de Mello und die Männer an Bord der „San Sebastian“ von dem Geschehen fast nichts mitbekommen, bis auf das Krachen und Peitschen der Schüsse. Während der Zweite seinen Bericht erstattete, waren die Soldaten damit
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beschäftigt, die Drehbassen zu reinigen. Danach sammelten sie die Musketen und Tromblons ein und brachten sie zur Kuhl, wo auch die Langwaffen auseinandergenommen, gereinigt, geölt und wieder zusammengesetzt werden würden. „Eins steht für mich auf jeden Fall fest“, sagte der Zweite, nachdem er geendet hatte, „wenn wir nicht gewarnt worden wären, hätten es diese verdammten Galgenstricke womöglich geschafft, zu entern und uns allen die Kehle durchzuschneiden.“ Capitan de Mello nickte nachdenklich. „Ein Brandpfeil, sagen Sie?“ „Das war der Anfang“, bestätigte der Zweite und zeigte dem Kapitän die Stelle auf der Kuhl, wo der Pfeil eingeschlagen und von der Ankerwache gelöscht worden war. Deutlich war der schwarze Brandfleck in der Beplankung zu erkennen. „Haben Sie irgendetwas an Land bemerkt?“ fragte de Mello. Der Zweite wies auf die Landzunge. „Ich meine, dort Gestalten gesehen zu haben. Aber vielleicht habe ich mich auch getäuscht. Bei dem Schattenspiel zwischen Mündungsfeuer und Dunkelheit kann es leicht Sinnestäuschungen geben. Aber wem sage ich das!“ Capitan de Mello lächelte und ließ sich ein Spektiv geben. Er trat an das Schanzkleid und suchte das Ufergelände und insbesondere die Landzunge sorgfältig ab. Doch nirgendwo war auch nur das geringste Anzeichen dafür zu erkennen, daß sich Menschen verborgen und brennende Pfeile abgefeuert hatten. De Mello ließ den Kieker kopfschüttelnd sinken. „So etwas läßt sich doch nicht verheimlichen“, murmelte er ungläubig. „Es muß doch zu sehen gewesen sein, als der oder die Unbekannten ihre Pfeile in Brand gesteckt haben.“ „Tut mir leid, Capitan“, entgegnete der Zweite. „Es war wirklich so, als ob die Pfeile aus dem Nichts auftauchten. Sie waren plötzlich da. Einfach so.“ De Mello atmete tief durch.
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„Irgendetwas geht da nicht mit rechten Dingen zu“, sagte er. „Aber ich bin sicher, wir werden es noch herausfinden. Früher oder später. Zunächst muß allerdings die Schatzhöhle Vorrang haben. Sagen Sie, sind Sie absolut sicher, daß es Machado war, der mit seinen Kerlen angegriffen hat?“ „Das kann ich beschwören. Capitan“, erwiderte der Zweite. „Ich habe den Kerl selbst erkannt. Seine - Verzeihung - Visage war einfach unverwechselbar. Ich habe auch gesehen, wie er von der Drehbassenladung erwischt und außenbords geschleudert wurde.“ Gaspar de Mello nickte erneut. „Damit wäre also klar“, sagte er gedehnt, „daß sich Machado und seine Halunken nicht in der Höhle befanden, als die Felsenfalle zuschnappte. Wären wir davon ausgegangen, daß sie gefangen waren, hätten wir wahrscheinlich eine böse Überraschung erlebt. Machado hat in seiner Goldgier einen schwerwiegenden Fehler begangen. Er hätte warten müssen, bis wir unsere Kräfte darauf konzentriert hätten, die Schatzhöhle zu erkunden.“. „Aber woher hatte er die Jollen?“ sagte der Zweite. „Die Beiboote der ‚Trinidad' haben wir immerhin zerschossen.“ Der Capitan zog die: Schultern hoch. „Ich kann es mir nur so erklären: Machado und seine Strolche müssen nach Batabano marschiert sein und sich dort die Jollen besorgt haben. Eine andere Möglichkeit gibt es wohl kaum.“ „Das klingt einleuchtend, Capitan“, erwiderte der Zweite. „Allerdings will mir noch immer nicht in den Kopf, was Machado wirklich wollte. Wollte er die gesamte ‚Trinidad' zurückerobern? Oder wollte er sich nur einen Teil des Schatzes holen, der sich schon in den Laderäumen befindet?“ „Beides wäre gleichermaßen hirnrissig gewesen“, sagte de Mello. „Die schweren Kisten in die Jollen zu mannen wäre kaum lautlos abgegangen. Und mit der Galeone unbemerkt das Weite zu suchen wäre ebenso verrückt gewesen. Wir hätten ihn so oder so eingeholt. Mit den Schäden hier
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an Bord hätte er uns gar nicht entwischen können.“ Der Zweite holte tief Luft. „Mit dem Ausgang des Zwischenfalls können wir also mehr als zufrieden sein, Capitan. Trotzdem kommen wir an der Tatsache nicht vorbei, daß wir ohne fremde Hilfe wahrscheinlich kläglich versagt hätten.“ De Mello schüttelte lächelnd den Kopf. „Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Sie haben beherzt und überlegt gehandelt. Drehbassen und Musketen einzusetzen, war genau die richtige Entscheidung. Bei dem zahlenmäßigen Verhältnis wäre es völlig verkehrt gewesen, sich auf einen Enterkampf einzulassen.“ Der Offizier blickte verlegen auf die Planken. „Ich habe nur meine Pflicht getan, Capitan. Jeder andere an meiner Stelle hätte genauso gehandelt.“ „Leider gibt es dafür keine Garantie“, entgegnete de Mello und klopfte dem Zweiten anerkennend auf die Schulter. „Nein, mein Lieber, Sie haben Ihre Sache wirklich gut gemacht. Das muß deutlich gesagt werden. Und jetzt passen Sie weiter gut auf.“ Der Zweite strahlte. „Jawohl, Senor Capitan!“ De Mello wandte sich ab, der Pforte im Schanzkleid zu. „Ich habe das merkwürdige Gefühl, daß wir vor Überraschungen noch immer nicht ganz sicher sind.“ Der Zweite sah dem Capitan nach, wie er über die Jakobsleiter abenterte. Woher das erwähnte Gefühl rührte, war auch eindeutig. Es hatte mit dem geheimnisvollen Bogenschützen der vergangenen Nacht zu tun. * Eine gewisse Spannung war den Decksleuten und Seesoldaten an Bord der „San Sebastian“ an diesem Morgen durchaus anzumerken. Ihre Gespräche waren gedämpfter als sonst, und wenn sie
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zum Land hinüberblickten, dann waren ihre Gesichter voller Besorgnis. Vereinzelt war dann auch Angst in ihren Zügen zu erkennen. Rodrigez Vanetto bemerkte dies bei seinem gewohnten Rundgang über die Decks. Dem Ersten Offizier der Kriegsgaleone war klar, woher das Verhalten der Leute rührte. Es hatte mit den Geschehnissen der vergangenen Nacht 'zu tun. Jeder ahnte, daß sich dort an Land etwas tat, wovon man nicht die leiseste Ahnung hatte. Jeder an Bord der „San Sebastian“ hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch es gab nicht die winzigste Bestätigung dafür, daß Beobachter wirklich existierten. Auch Vanetto blieb während seiner Morgenrunde immer wieder stehen und suchte mit dem Spektiv die Uferzonen rings um die Bucht ab. Nichts. Absolut nichts. Wenn es dort an Land wirklich irgendwelche Beobachter gab, dann stellten sie es so geschickt an, daß man sie dafür glatt bewundern mußte. Wie Capitan de Mello hatte auch Rodrigez Vanetto im Laufe seiner Dienstjahre eine Vielzahl von Einsätzen erlebt, bei denen entweder die Fetzen geflogen waren oder es ein anhaltendes Belauern zwischen Angreifern und Verteidigern gegeben hatte. Aber einen Fall, in dem Beobachter es wirklich schafften, völlig unbemerkt zu bleiben, hatte selbst Vanetto noch nicht erlebt. Auf seinem Rundgang stattete er auch der Krankenkammer einen Besuch ab. Enrique Carrizo und der „Pflegebedürftige“ waren noch mit dem morgendlichen Backen und Banken beschäftigt. Der Spanier hatte seinem italienischen Freund und sich selbst die Mahlzeit in die Kammer geholt. Sangiovese aß mit sichtlichem Appetit. Die beiden Männer wollten aufspringen und Haltung annehmen, als der Offizier das Schott öffnete. Vanetto winkte ab.
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„Schon gut, schon gut. Wie geht es unserem rauflustigen Genuesen?“ Sangiovese errötete bis unter die Haarwurzeln. „Schon viel besser, Senor. Es ist ich meine, es tut mir wirklich leid, daß mir so etwas passiert ist. Ich habe es nicht gewollt. Ich weiß gar nicht, was auf einmal mit mir los war.“ „Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf“, sagte Vanetto wohlwollend. „So etwas ist in diesen Breiten nichts Besonderes. Das ist schon den rauhesten und härtesten Burschen passiert. Sie haben sich also nicht ernsthaft etwas vorzuwerfen, Sangiovese.“ „Sie sind sehr gütig, Senor“, entgegnete der Genuese verlegen. „Ich bedanke mich dafür.“ „Schon gut.“ Vanetto nickte. „Der Feldscher soll entscheiden, wann Sie wieder einsatzfähig sind.“ Er zog das Schott hinter sich zu und setzte seinen Rundgang fort. Die Schreie der in der Höhle Eingeschlossenen waren schon in der Nacht nicht mehr zu hören gewesen. Vanetto hatte daraus gefolgert, daß das Wasser von irgendeinem bestimmten Niveau an nicht weiter gestiegen war. Folglich hatten die Kerle eine Möglichkeit gefunden, sich über dem Wasserspiegel in Sicherheit zu bringen. Das konnte allein dadurch geschehen sein, daß sie auf die gestapelten Schatzkisten geklettert waren. Auf der Back blieb Vanetto unvermittelt stehen. Etwas erweckte seine Aufmerksamkeit. Er wußte noch nicht, was es war. Aber es schien, als hätte er einen unerklärlichen Sinnesimpuls verspürt. Gleich darauf hatte er die Erklärung. Irgendetwas an Land hatte sich verändert. Aber was? Er hob das Spektiv ans Auge und begann, systematisch alle Uferbereiche abzusuchen. Er entdeckte die Stelle etwa vierzig Yards westlich des Wasserfalls. Aus einem Felsen, der der See zugekehrt war, trat ein sprudelnder kleiner Bach.
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Vanetto wußte haargenau, .daß dieser Bach am Vortag noch nicht vorhanden gewesen war. Darüber gab es nicht den geringsten Zweifel. Er bemerkte auch, daß sich der Wasseraustritt nicht auf dem Niveau des Wasserfalls befand, sondern deutlich tiefer. Das Wasser lief an dem Felsen hinunter und schlängelte sich als munteres Bächlein durch die Strandzone unterhalb des Felsens bis hin zur Bucht, wo eine richtige kleine Mündung entstanden war Nein, es gab in der Tat nicht den geringsten Zweifel: Gestern nachmittag war dieses Bächlein noch nicht dagewesen. Und noch etwas war für den Ersten nunmehr klar: Dieser winzige Bach führte Wasser, das aus den Höhlen abfloß. Ohne Zeit zu verlieren, ließ Vanetto den Capitan verständigen. Atemzüge später war de Mello bei seinem Ersten auf der Back und überzeugte sich von Vanettos Beobachtung mittels eines Spektivs. „Ich bin sicher, Sie haben mit Ihrer Vermutung recht“, sagte de Mello, indem er das Spektiv absetzte. „Wir sollten uns die Angelegenheit aus unmittelbarer Nähe ansehen.“ Vanetto nickte. Eine Jolle wurde ausgesetzt und bemannt. Über die Jakobsleiter enterten der Capitan und der Erste Offizier ab und ließen sich auf der Achterducht des Bootes nieder. Mit kraftvollen Riemenschlägen pullten die Männer dem Buchtufer entgegen.
An der Schatzbucht
Es geschah, als sie erst die Hälfte der Distanz hinter sich gebracht hatten. Nur ein dumpfes Ploppen war zu hören. Doch im nächsten Moment flogen Gesteinsbrocken an der Felswand herunter und landeten mit dumpfen Schlägen auf dem Strand. „Streichen!“ befahl de Mello. Die Männer gehorchten sofort, und die Jolle gelangte zum Stillstand. Atemlos vor Spannung sahen sie, was geschehen war. Der Felsen, aus dem das Wasser ursprünglich als Bächlein geplätschert war, war auseinandergeplatzt. Eine mächtige, rauschende Wasserfontäne schoß jetzt nach draußen. Weitere, kleinere Gesteinsbrocken wurden mitgerissen und flogen davon. Einige klatschten ins Wasser der Bucht. Das Bächlein war zum Bach geworden, der sich mit Getöse in die Bucht ergoß. In dem Felsen war jetzt ein größeres gezacktes Loch von Faßumfang zu erkennen. Erst nach etwa zehn Minuten ließ die Fontäne nach, verkürzte sich und floß nun stetig als neuer, kleiner Wasserfall. „Wir warten ab“, entschied de Mello. Wie Vanetto rechnete auch er damit, daß noch mehr von dem Felsen abbrechen würde. Und weder der Capitan noch der Erste Offizier hatten die Absicht, jemanden in unnötige Gefahr zu bringen...
ENDE