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Dr. Fredrika Bimm, von ihren Freunden Fred genannt, ist eine Meerjungfrau. Doch sie entspricht nicht im Mindesten dem Bild der Nixen aus dem Märchen. Weder ist sie blond noch kurvenreich und schon gar nicht auf Männerfang aus. Wenn sie sich an Land befindet, sieht sie aus wie eine normale, wenn auch etwas zu groß und schlaksig geratene Frau. Im Wasser jedoch ist sie ganz in ihrem Element, und sie liebt ihre Arbeit im Aquarium des Meeresmuseums von Neuengland. Aber eines Tages ist sie unvorsichtig und wird von dem attraktiven Meeresbiologen Thomas in ihrer wahren Gestalt überrascht. Doch anstatt entsetzt zu sein, ist Thomas von der störrischen Meerjungfrau hingerissen und verliebt sich auf der Stelle in sie. Als ob die Dinge damit für Fred nicht schon kompliziert genug wären, poltert kurz darauf Prinz Artur aus dem Schwarzen Meer in ihr Leben. Der großgewachsene Artur mit der wilden roten Mähne ist der Prinz des Unterwasservolkes, der Fred um ihre Hilfe bittet. Ein Unbekannter leitet giftige Abwässer in den örtlichen Hafen ein, und der Meermann will dem Schuldigen das Handwerk legen. Zusammen mit Thomas machen sich die beiden auf die Suche nach dem Täter. Auch Artur fühlt sich schon bald zu der hübschen Fred hingezogen, und beide Männer flirten aufs Heftigste mit ihr. Die Entscheidung, wem von beiden sie den Vorzug geben soll, fällt der Meerjungfrau verdammt schwer ...
Mary Janice Davidson
TRAUMMANN AN DER ANGEL Roman
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel ..Sleeping with the Fishes" Die Story „Monsterliebe" erschien 2006 unter dem Titel „Monster Love" in dem Band Dead and Loving It Für meinen Mann - der für dieses Projekt Unmengen von Nachforschungen angestellt hat, der unzählige Ideen hatte, wie man den Mythos der Meerjungfrau auf den Kopf stellen kann, der mir bei meiner Arbeit an diesem Buch an sehr vielen Stellen weitergeholfen hat, der mich in guten wie in schlechten Zeiten unterstützt und der es wunderbar findet, dass ich mehr Geld verdiene als er.
O, locke mich nicht, holdes Meer-Mädchen, durch dein Zauberlied, um in der Tränenflut deiner Schwester mich zu ertränken; sing für dich seihst, Syrene, und ich bin lauter Liebe; spreize deine goldnen Locken über die Silberwellen, und ich will sie zu meinem Bette machen und da liegen. William Shakespeare, Die Irrungen oder die doppelten Zwillinge, Übersetzung von Christoph Martin Wieland In der Tiefe der Wasser, wo ein Sturm sie nicht hebt, wo ein Fremdling der Wind ist und die Seeschlange lebt, wo die Meerfrau mit Muscheln grünes Haar sich verschönt wie der Turm auf der Fläche hat dein Zauber getönt. Lord Byron, „Manfred", Übersetzung von Joseph Emmanuel Hilscher Was ich dir sagen will: Des wird auch ein Gott dich erinnern. Erstlich erreichet dein Schiff die Sirenen; diese bezaubern alle sterblichen Menschen, wer ihre Wohnung berühret. (...) Hierauf ging ich umher, und verklebte die Ohren der Freunde. Jene banden mich jetzt an Händen und Füßen im Schiffe, aufrecht stehend am Mäste, mit fest umschlungenen Seilen. Homer, Odyssee, in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß Die Sirenen taten Pete das an. Sie liebten ihn, und dann verwandelten sie ihn in eine warzige Kröte. O Brother, Where Art Thou? Alles Blödsinn! Fredrika Bimm, halb Meerjungfrau, halb Mensch Der ganze Ärger begann damit, dass Fred ihre Eltern beim Sex auf dem Couchtisch überraschte. Wie die meisten Kinder - auch wenn sie schon erwachsen sind - dachte sie in ihrer Verwirrung zuerst, ihr Vater würde ihrer Mutter wehtun. Oder ihr vielleicht den Rücken wieder einrenken. Als Nächstes dachte sie, dass sich ihre Mutter an den Bildbänden auf dem Couchtisch (Abenteuer Alaska, Cape Cod für Abenteuerlustige, Das Schwarze Meer und seine Geschichte) höllisch die Knie stoßen musste. Und schließlich sagte sie etwas, das so ähnlich klang wie: „Aaaaaaiiiiiieeeehh!" Ihre Mutter rutschte zur Seite und das National Geographie über Seehunde in der Antarktis flog wie ein Spielstein beim Flohhüpfen vom Couchtisch und landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden. Ihr Vater zuckte zusammen, fiel aber unglücklicherweise nicht von (oder aus) ihrer Mutter. Bevor ihr klar wurde, was sie tat, schoss Fred durch das Zimmer, zerrte an ihrem Vater und warf ihn in hohem Bogen hinter das Sofa. Dann riss sie den grell orangefarbenen Überwurf von besagtem Sofa und warf ihn über ihre Mutter.
„Au", stöhnte ihr Vater hinter dem Sofa. Ihre Mutter befreite sich von dem Überwurf und setzte sich auf, das sonst blasse Gesicht rot vor Zorn. Oder etwas anderem, über das Fred lieber nicht nachdenken wollte. „Bimm, was fällt dir ein?" „Ich drehe durch. Werde verrückt. Würde deinem Gatten am liebsten den Hals umdrehen. Versuche, mich nicht zu übergeben. Und wünschte, ich wäre bei der Geburt gestorben." „Ach, das sagst du doch ständig", fuhr ihre Mutter sie an. „Was ist los mit dir, Fräuleinchen? Hast du vergessen, dass man anklopft?" Ihre Mutter, eine gut aussehende Blondine mit silbernen Strähnchen im schulterlangen Haar (und anstößig verschwitztem Gesicht) kletterte bemerkenswert würdevoll vom Couchtisch, raffte die Decke über ihren pummeligen Schenkeln zusammen und ging um das Sofa herum, um ihrem Mann zu helfen. „Platzt hier einfach so rein ..." „Ich habe einen Schlüssel", stellte Fred richtig. Zwar war sie immer noch angeekelt, bereute aber inzwischen, so ruppig da-zwischengegangen zu sein. „Außerdem hattet ihr mich gebeten zu kommen." „Gestern. Ich hatte dich für gestern eingeladen." „Da musste ich arbeiten." Fred bemühte sich, weder zu jammern noch ihre Eltern anzustarren. „Ich konnte ja wohl kaum die vielen Fische allein lassen. Obwohl sie es verdient hätten, die kleinen Mistkerle. Wie dem auch sei, ich konnte nicht kommen." „Nun", gab ihre Mutter zurück. „Ich auch nicht." Fred versuchte einen aufkommenden Würgereiz zu unterdrücken. Was ihr schließlich gelang. Sie sandte einen Blick zum Sofa hinüber. Dort stand ihr Vater und hielt sich stöhnend das Kreuz. Die kahle Stelle auf seinem Kopf begann violett anzulaufen. Sein Zopf hatte sich gelöst. „Tut mir leid, Dad." „Wer's glaubt ..." Er schnappte nach Luft. „Ich schwöre, ich fass sie nie wieder an." „Ach Sam, lass das doch." „Nicht einmal, wenn wir noch dreißig Jahre verheiratet sind." 4 Fred warf ihm ein Lächeln zu, was selten genug vorkam. „Okay." „Fred, hör auf damit! Und du auch, Sam." Mrs Bimm half ihrem Gatten auf die Beine und drängte ihn aus dem Wohnzimmer. Dann wandte sie sich ihrer Tochter zu. „Fredrika." „Moni, versetz dich bitte mal in meine Schwimmhaut." „Fredrika Shea Bimm." „Mom, er hat meine Mutter gevögelt. Was hättest du denn an meiner Stelle gemacht?"
„Ich hätte ihn zumindest nicht durch den halben Raum geworfen", sagte ihre Mutter und blies sich aufgebracht die Ponyfransen aus der Stirn. „Was ist denn nur los mit dir? Du bist fast dreißig, Herrgott noch mal." „Und du fast fünfzig! Viel zu alt, um ... um ... igitt." Ihre Mutter hielt Fred den pummeligen Finger unter die Nase. Während Fred lang und dürr war, war alles an ihrer Mutter kurz und pummelig. Selbst Freds Nase war lang. Und während ihre Mutter immer ein fröhliches Lächeln auf den Lippen hatte, schaute Fred für gewöhnlich mürrisch drein. Kaum zu glauben, dass sie tatsächlich mit Moon Bimm verwandt war. Aber Fred hatte ihre Geburtsurkunde mit eigenen Augen gesehen. „Gewalt. Schmutzige Worte. Manieren. Alles unverzeihlich!" „Ich habe überreagiert, ich gebe es ja zu. Tut mir leid." „Bei mir musst du dich nicht entschuldigen, sondern bei deinem Vater. Der behandelt wahrscheinlich gerade seinen Rücken mit Eis." „Hoffentlich hat er sich vorher eine Hose angezogen." Fred sah sich in dem kleinen Wohnzimmer um, dessen Einrichtung das Herz jedes Cape-Cod-Touristen höherschlagen 5 lassen musste. „Warum hier, Mom? Warum neben dem Kunstledersessel? Dem La-Z-Boy? Warum nicht woanders?" Warum überhaupt? „Ich meine ... wozu sind denn Betten da?" „Das Wohnzimmer hat eben eine ganz besondere Wirkung auf uns", sagte ihre Mutter geziert, um gleich darauf loszu-kichern (Sie kicherte wirklich! Oh, Götter der See, tötet mich, aber flott), und marschierte hinaus. Die Decke hinterließ eine Spur von Fusseln. „Pfui, wie eklig", murmelte Fred und folgte ihrer Mutter. '5 „Es ist nicht so schlimm, wie du denkst", sagte der Schänder ihrer Mutter und zuckte zusammen, als er die Tüte mit gefrorenen Erbsen auf seinem Lendenwirbelbereich zurechtrückte. Dankbar stellte sie fest, dass er sich eine Hose angezogen hatte. Die besagten Erbsen hatte er in den Bund der besagten Hose gestopft. Freds Mutter stolzierte immer noch in dem Sofaüberwurf herum, ganz nach dem Motto „Natur pur" oder „Sei voll Power, nicht voll Scham" sowie „Was Gott geschaffen hat, soll man nicht verhüllen". Was ist lächerlicher als ein Hippie, der in die Jahre gekommen ist? „Tut mir leid, dass du uns in einem privaten Augenblick überrascht hast..." „Beim Vögel beobachten", sagte ihre Mutter ernst, nur um gleich wieder einen Kicheranfall zu bekommen. Fred stöhnte und sah sich nach einer Gabel oder einem Löffel um, um sich die Augen auszustechen. Und die Ohren gleich dazu. Denn Moon Bimm spielte auf den Kardinal an, der auf ihre linke Pobacke tätowiert war. Andere Mütter hatten Falten. Keine Tier-Tattoos.
Als sie den Kopf in die Hände stützte, streiften die Spitzen ihres grünen Haares die Tischplatte. Sie starrte auf die seetangfarbenen Strähnen und dachte: Das war's. Jetzt laufe ich weg, ganz sicher. Wieder einmal. 'Neunundzwanzigjährige laufen ständig von zu Hause fort. Das ist ganz normal. Es ist... 6 „Warum", murmelte sie, „hast du mich überhaupt hierherbestellt?" Und warum bin ich nicht schon gestern gekommen, als sie mich angerufen hat? „Oh. Ach ja. Nun ..." Ihre Mutter fuhrwerkte nervös in der Küche umher. In dem fusseligen Überwurf sah sie aus wie eine aufgeregte Raupe. „Wir glauben ... dein Vater und ich sind der Meinung, es wäre gut ... also, Sam und ich finden, es wäre das Beste, wenn wir ganz offen zu dir sind." „Das sehe ich", sagte Fred verschnupft und warf einen vielsagenden Blick auf die Decke. „Lug und Trug sind ein schlechter Trip, Süße. Ein gaaaaanz schlechter ..." „Soll ich dir sagen, was ein schlechter Trip ist? Dann streng mal deinen Grips an. Wenn das LSD davon noch etwas übrig gelassen hat. Erinnerst du dich daran, was vor zehn Minuten hier los war?" Moon Bimm tat, als höre sie den Sarkasmus ihrer Tochter nicht. Darin hatte sie beinahe dreißig Jahre Übung. „Lug und Trug, Liebes. Das kann dich körperlich krankmachen. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Davon bekommt man Magengeschwüre und Bluthochdruck. Nur weil man Geheimnisse hat! Und..." „Mom. Komm bitte zur Sache, ja? Ich muss nach Hause und mir die Augen mit Bleiche auswaschen." „Wir werden ein Kind adoptieren." Fred starrte weiter auf ihre Hände. „Liebes? Hast du gehört, was ich gesagt habe?" „Wenn ihr das vorhabt, warum vögelt ihr dann noch?" „Achte auf deine Wortwahl, junge Dame", sagte ihr Vater, der sich in seinem Sessel wand und nach den gefrorenen Erbsen tastete. 6 Moon Bimm, die höchsten Wert darauf legte, dass Kinder die ihnen angemessene Ausdrucksform fanden, beschloss, in diesem Fall nicht die Worte, sondern das dahinterliegende Gefühl aufzunehmen. „Also macht man Liebe nur, wenn man sich fortpflanzen will?" „Wenn es sich um meine Mutter und meinen Vater handelt, ja, dann ist Liebe machen nur zur Fortpflanzung da!", schrie Fred. Am liebsten hätte sie den Küchentisch in den Vitrinenschrank im Esszimmer geworfen. „Ich habe ein paar schlimme Sachen gesehen, wirklich üble Dinge. Ihr würdet nicht glauben, was sich dort unten in der Tiefe des Meeres alles abspielt. Ich habe gesehen, wie ein Hai einen anderen Hai erst ausgekotzt und ihn dann noch
einmal gefressen hat. Aber nichts war je so schlimm, wie meine Mutter und meinen Vater ..." „Ich bin nicht dein Vater", sagte ihr Vater. „... wie meine Mutter und meinen Vater, äh ... schlimme Sachen im Ozean tun zu sehen. Wie bitte?" „Keine Geheimnisse mehr", sagte ihre Mutter und segelte so dramatisch durch die Küche, dass die Decke flatterte. „Als wir diese ganzen Formulare für die Adoption ausfüllten, bin ich nachdenklich geworden. Es ist an der Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Sam Bimm ist nicht dein leiblicher Vater." „Naja, Mora, das weiß ich." Ihre Mutter setzte sich ihr gegenüber und nahm Freds kalte Hände (Freds Hände waren immer kalt) in ihre warmen. Selbst heute noch fand Fred es beruhigend, wenn ihre Mutter sie berührte. Wie oft hatten diese Hände ihre Bettdecke festgesteckt, sie getröstet, ihren Rücken gestreichelt? Ihre Mutter war wie eine lebendige, nach Jasmin duftende, in ihrer Wärme nie nachlassende Heizdecke. „Ich weiß, du wirst Zeit brauchen, um das zu verdauen", sagte 7 sie mit anrührender Ernsthaftigkeit. „Und es tut mir leid, dass du mit einer Lüge leben musstest." „Mom. Ich weiß, dass Sam nicht mein Vater ist." „Und es tut mir leid, dass ich es dir nicht eher gesagt habe!" Sie vergrub die Hände in ihren blonden Haaren und ballte sie zu Fäusten. Für einen Augenblick sah sie aus wie die 70er-Jahre-Version der Ophelia - nachdem sie wahnsinnig geworden war. „Aber damals wurde man noch schief angesehen. Ich konnte nicht nach Hause zu meinen Eltern gehen, auch wenn es ganz natürlich und mein Körper dafür wie geschaffen und es wunderschön war, ein kleines Wunder, habe ich mich geschämt." „Ein Hippie, der sich schämt?", staunte Fred laut. „Und dann kam Sam und ..." „Und alles wurde nur noch schlimmer?", vermutete Fred. Ihre Mutter warf ihr einen strafenden Blick zu und fuhr fort: „Und ich war so glücklich, ihn wiederzusehen, und er ..." „Und er stand auf schwangere Blondinen und morgendliche Übelkeit?" „Fred, ich glaube nicht, dass du ..." „Mom. Ich verstehe, dass du dir das von der Seele reden willst und so, aber ..." Fred versuchte, nicht auf die Brüste ihrer Mutter zu schielen, und wünschte, sie würde sich endlich etwas Ordentliches anziehen - am besten einen Rollkragenpullover. „Aber das habe ich alles bereits ganz alleine herausgefunden, als ich fünf war. Nicht, dass es mir deswegen leichter fallen würde, so zu tun, als wäre seine Zunge noch vor zehn Minuten nicht dort gewesen, wo sie gewesen ist. Natürlich wusste ich es."
„Tatsächlich?", fragte Sam und rutschte unruhig hin und her, als Erbsenwasser in seine Poritze lief. 8 „Dad. Sam. Wie auch immer. Sieh dich doch an. Und dann sieh mich an. Ich bin eine Meerjungfrau, und du bist noch nicht einmal Mitglied im Jachtclub." Ihre Mutter warf die Hände in die Luft, und der Sofaüberwurf klaffte auseinander. Fred starrte zur Decke hinauf. „Dass solch ein wunderbares Wesen so unnötige Komplexe haben kann, geht über meine ..." „Mom, ich bin überzeugt, da kannst jeden auf diesem Planeten fragen: Fänden Sie es merkwürdig, wenn Sie Ihre Mutter auf allen vieren überraschen würden? Ich garantiere dir, ob Meerjungfrau, Mensch, Blauwal, Krallenaffe, Kobold, Heinzelmännchen, Zombie, sie würden alle mit Ja antworten." Sie wandte sich an ihren sich windenden Vater. „Erinnerst du dich, wie du einmal in dem Gezeitenbecken in Panik geraten bist und ich dich herausholen musste? Ich war sieben, und das Wasser ging mir nur bis zu den Knien." „Da war etwas im Wasser", sagte Sam, und die Erinnerung ließ ihn erschaudern. „Ja, Sam. Elritzen. Das war das vierte oder fünfte Mal, dass ich dich retten musste, und dabei hatte ich keine einzige Schwimmstunde in meinem Leben gehabt. Außerdem hast du braune Augen, und meine haben die Farbe von Rosenkohl. Und du hast ... hattest braunes Haar, und meins hat die Farbe des Meeres. Und dir wächst kein Schwanz, du bist Rechtshänder, während ich und jetzt hör gut zu! - eine Meerjungfrau und Linkshänderin bin!" „Kein Grund, gleich so laut zu werden", sagte ihre Mutter leicht pikiert. „Ich mag es nicht, wenn man mich für dumm verkauft." „Niemand tut das", sagte ihre Mutter besänftigend - wie eine Mutter, die ihr Kind für dumm hält. „Jeder in diesem Raum ist ein Lebewesen, das unsere Liebe und unseren Respekt verdient." „Wenn wir uns jetzt an den Händen fassen und einen Heilkreis bilden sollen", drohte Fred, „dann bringe ich dich um." 20 Unglücklicherweise war für Fred und ihre geistige Gesundheit der Albtraum noch nicht vorbei. Ihre Mutter, die offenbar begeistert war, ihr Gewissen endlich erleichtern zu können, rückte mit der ganzen traurigen Wahrheit heraus. Anscheinend hatte Moon Bimm (geborene Moon Westerberg) mit ihren idiotischen Hippiefreunden am Chapin Beach, Cape Cod, herumgelungert und Hasch geraucht und Le Gallo La Tut getrunken, einsam im Herzen und auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Dann wurde sie irgendwie von ihren Hasch rauchenden, Gallo schluckenden Kumpeln getrennt (was Fred für ein Glück hielt, aber ihre Mutter war anderer Meinung), traf einen charmanten,
grünäugigen Typ und war so sturzbetrunken, dass sie nicht bemerkte, dass er zur Hälfte Fisch war. „Aber wenn er ein Wassermann war, wie habt ihr dann ... Stopp, stopp! Schon gut. Unglaublich, dass ich diese Frage überhaupt stelle, wenn man bedenkt, was sich gerade eben hier abgespielt hat. Antworte nicht. Antworte auf keinen Fall. Dies ist ein nationaler Notfall. DEFCON 3 ausgerufen. Mindestens. Wir ..." „Ach, hör schon auf, du großes Baby." Ihre Mutter reckte den Hals, um Freds säuerliche Miene genauer zu betrachten. „Wie kommt es nur, dass du nicht verstehst, wie schön und natürlich Sex sein kann, und dass du so eine puritanische Einstellung diesbezüglich hast... warum ist gerade mein Kind so ..." 9 „Mom, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, mir deine Hippiewerte zu predigen." „Er hatte natürlich Beine wie du auch", sagte diese und ignorierte, dass Fred noch vor fünf Sekunden mit aller Macht versucht hatte, sich genauere Details zu ersparen. „Ich nehme an, er kann sich einen Schwanz wachsen lassen, wann immer er will. So wie du." Moon runzelte die Stirn. „Wahrscheinlich kann das jedes Wasserwesen. Ich dachte immer, dass du dazu in der Lage bist, weil du zur Hälfte Mensch bist. Dann wird es bei ihm vielleicht genauso gewesen sein ..." „Das wäre ja wirklich superduper für ihn. Also ist er über dich hergefallen, obwohl du betrunken warst, nachher gab's noch ein wenig Bettgeflüster im Sand, und anschließend sprang er wieder zurück ins Meer und verschwand? Was willst du mir damit sagen? Dass mein leiblicher Vater ein Arschloch ist? Und du eine Schlampe? Erstens schuldet er dir nämlich eine Menge Alimente. Und zweitens ..." „Musst du die Menschen immer gleich mit Etiketten versehen?" „Musst du mir unbedingt die Wahrheit sagen?" „Wo war ich stehen geblieben?", sagte Moon mit erstaunlicher Würde, bedachte man die Ereignisse der jüngsten Zeit und dass sie kaum etwas am Leib hatte. „Ach ja. Zehn Monate später warst du da." „Zehn Monate?" Warum hatte sie bisher nie zwei und zwei zusammengezählt? Die Antwort darauf war schließlich schnell gefunden. Weil ihre Mutter bisher nie über ihren Vater - ihren echten Vater - gesprochen hatte, deswegen. Nur: „Oh, und dann haben wir uns kennengelernt und geheiratet, weil die Gesellschaft auf diesem dummen Stück Papier besteht, und seitdem sind wir eine Familie." 9 Und Fred, die wusste, dass ihre Mutter alle ihre Fragen beantworten würde wirklich alle -, war das einzige Kind weit und breit gewesen, das nie die „Wo
komme ich her"-Phase durchlaufen hatte. Moon hätte ihre Tochter nicht nur mit allen ekeligen und peinlichen Einzelheiten versorgt, sie hätte sich auch Pornowebseiten angesehen, um nach alternativen Methoden zu suchen. „Bei Wasserwesen dauert die Schwangerschaft länger." Sam betrachtete Fred nachdenklich. Er unterrichtete Biologie am sogenannten 4C (Cape Cod Community College). „Wie auch bei Hybriden. Oder ..." „Warum hast du sie denn überhaupt geheiratet, Sam? Was war mit freier Liebe, Mary Jane bis zum Abwinken und ,Trau keinem über achtzig'?" „Dreißig", gluckste ihre Mutter vergnügt. „Und Marihuana? Das war nichts für uns. Gift für den Körper. Wein ist schon schlimm genug." Sie zwinkerte ihrer Tochter zu. „Sieh dir nur den Ärger an, den ich mir mit drei Gläsern Chardonnay eingehandelt habe." Selbst mit gebrochenem Bein würde Moon keine Schmerztablette anrühren. Das wusste Fred aus eigener leidvoller Erfahrung. „Wie dem auch sei..." „Nein, nein, genug jetzt", unterbrach Fred ihn hastig. „Ich habe schon verstanden. Die Wahrheit hat die schreckliche Leere in mir ausgefüllt. Damit ist alles weiter überfl…. „Deine Mutter und ich kannten uns schon in der Highschool. Aber nach dem Abschluss hatten sich unsere Wege getrennt. Als ich sie dann zufällig wieder traf, war sie genauso strahlend und rosig, wie ich sie in Erinnerung hatte." „Das lag wahrscheinlich an der ganzen Kotzerei", vermutete Fred. 10 „Und wir haben uns ineinander verliebt. Sam hat dich schon geliebt, lange bevor du geboren wurdest. Wir beide haben dich geliebt. Und wir haben uns zusammen vorgestellt ... wie du wohl sein würdest." Ihre Mutter schloss die Augen und setzte eine träumerische Miene auf, die Fred nur allzu gut kannte. „Und das erste Mal, als ich dich gebadet habe und deine Beine zusammengewachsen sind und deine Schuppen herauskamen und du mich vollgespritzt und die Babybadewanne zerbrochen hast, war ich erstaunt - und ganz aufgeregt." „So ähnlich wie: Mädchen verwandelt sich in einen Fisch, und nun sehen Sie die Tagesschau", schlug Fred vor. „Komm schon, Mom. Warst du nicht ein klitzekleines bisschen erschrocken?" „Ich fand, du warst ein Wunder", erwiderte sie, und die einfache Würde in ihrer Stimme wischte das spöttische Grinsen aus Freds Gesicht. „Und das finde ich immer noch." Sie wandte sich an Sam. „Gott sei Dank konnte ich hier niederkommen, hier in diesem Haus. Stell dir vor, was es für ein Durcheinander gegeben hätte, wenn die Ärzte mit ihrer westlichen Medizin sich über die arme Fred hergemacht hätten!" Sie wandte sich wieder ihrer Tochter zu. „Ich hatte sogar Angst, als ich mit dir wegen deiner Impfungen
zum Arzt ging. Doch als ich erst einmal festgestellt hatte, dass du gar nicht krank werden kannst, musste ich das ja auch nicht mehr." „Na ja." Fred hüstelte. „Das ist ... das ist nett, Mom. Ein Wunder. Das ist... wunderbar. Hast du mich deswegen hierherbestellt? Um mir etwas zu sagen, das ich schon wusste?" „Wir wussten ja nicht, dass du es bereits wusstest", wies Sam sie zurecht. „Und wie deine Mutter schon sagte, das Ausfüllen der vielen Formulare und die Gespräche und Untersuchungen haben uns zum Nachdenken gebracht." 11 „Wie seid ihr denn überhaupt auf die Idee mit der Adoption gekommen?" Ihre Eltern sahen sich unsicher an. Fred versuchte zu erklären, was sie meinte. „Die meisten Menschen in eurem Alter wären begeistert, das Haus endlich wieder für sich zu haben." „Nun, ich weiß nicht, ob .begeistert' das richtige Wort..." „Sam, du musst doch noch nicht einmal arbeiten. Du bekommst doch immer noch die monatlichen Schecks aus dem Patent deines Vaters, oder?" „Ja, stimmt." Sams Vater hatte die essbare Unterwäsche erfunden und deshalb profitierte seine Familie nun von jedem verkauften Fruchthöschen oder Schokoladentanga. „Aber wir haben so viel Platz ..." Er deutete vage auf die Küche. „Und das Haus hat eine solch hübsche Lage." Das stimmte. Direkt am Meer. Fred wusste, dass die „Hütte" mit vier Zimmern und drei Badezimmern in der Bucht sich für gesalzene zweikommazwei Millionen verkaufen lassen würde, wenn ihre Eltern irgendwann einmal wegziehen wollten. Aber ihre ach so erdverbundene Mutter zog es zu Sams Geld wie ... nun wie einen Fisch ins Wasser. Und sie würden nie verkaufen. Und obwohl sie so viel an die Audubon Society und das YMCA, den Cape Cod Literary Council, das Hospiz von Cape Cod und die öffentliche Bibliothek von Hyannis spendeten, war immer noch jedes Jahr genug übrig. Jeden Monat sogar. „Und du führst jetzt dein eigenes Leben", fuhr Sam fort. „Wir bekommen dich ja kaum noch zu Gesicht." „Die Arbeit. Ich habe eben viel zu tun", brummte sie. „Liebes, das sollte kein Vorwurf sein!" „Es hörte sich aber so an." „Du bist eine erwachsene Frau. Du hast dein eigenes Leben." 11 Ha. „Und wir haben unseres und wir sind noch nicht bereit... für ein Leben zu zweit." Ihre Mutter streckte die Hand aus und Sam ergriff sie wie gewöhnlich. „Wir haben kein gutes Gefühl dabei."
Ah, ihr Leben. Ihr wunderbares Leben. Vor sechs Jahren hatte sie das letzte echte Date gehabt, ihr Boss versuchte immer wieder, einen Mann für sie zu finden, die Fische bei der Arbeit muckten ständig auf, und wie man es auch drehte und wendete, sie blieb ein Freak. Freak. Missgeburt. Anomalie. Fehler. Mutantin. Und das war der Grund, warum ihre Eltern noch ein Kind wollten? Weil sie fanden, dass sie bei ihrer Ersten so fantastische Arbeit geleistet hatten? Nun, vielleicht wäre es ja ganz schön, mal eins großzuziehen, dem keine Flossen wuchsen und das keine Schlägereien mit Thunfischen anzettelte. „Okay, na dann ... viel Glück und so." Fred machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion. Als keine kam, setzte sie hinzu: „Wenn ihr eine Empfehlung braucht von jemandem ... äh, von jemandem, den ihr erzogen habt, dann kann ich gern ein Empfehlungsschreiben verfassen. Oder was auch immer." „Das wäre wunderbar, Fred." Ihre Mutter umarmte sie. Steif ließ Fred die Zuneigungsbekundung über sich ergehen. Dann nieste sie, als die Fusseln der Decke in ihrer Nase kitzelten. „Mom. Kleenex." „Ist doch nicht schlimm. Oh, jetzt, da endlich alles raus ist, fühle ich mich so viel besser! Fühlst du dich nicht auch besser, Liebes?" „Ekstatisch." 12 4 Bevor sie ging, sprang Fred noch einmal in den Salzwasserpool im Haus. Sie hätte direkt hinter dem Haus ins Meer springen können, fürchtete aber, dort möglicherweise auf Touristen zu treffen. Außerdem beruhigte es ihre Eltern, wenn sie den Pool benutzte. Und schließlich war es angenehmer, hier zu schwimmen als im Meer - keine Algen, die sich in ihren Haaren verfingen, kein neugieriger Kabeljau, der ihr hinterherschwamm, und außerdem konnte sie hier sicher sein, dass der Quecksilbergehalt stimmte. Genau genommen bevorzugte sie Pools gegenüber dem offenen Meer. Das Meer war voller Schrecken und Fischscheiße. Der Pool bot ihr eine sichere Umgebung. Wenn sie jetzt nur noch diese verdammten Meerengel, mit denen sie an ihrem Arbeitsplatz kämpfte, in den Griff bekäme ... Dieser Gedanke war es schließlich, der ihre Beine zurückbrachte und sie aus dem Pool, in ihre Kleider und aus dem Haus trieb. Ihre Eltern waren nirgends zu finden, was bedeutete, dass sie sich ins Schlafzimmer zurückgezogen hatten, um zu beenden, was Fred so rüde unterbrochen hatte. Ausgezeichnet. Nun, vielleicht nicht gerade ausgezeichnet, aber Fred mochte keine Verabschiedungen und ihre Mutter tat jedes Mal so, als würde sie, statt nur zurück nach Boston zu fahren, zu einer Rucksacktour nach Europa aufbrechen.
Im dichten Verkehr brauchte sie neunzig Minuten zur Halte 13 stelle Quincy, zwanzig Minuten mit der Green Line, fünf Minuten mit der Blue Line, und dann stand sie vor dem New England Aquarium. Es war so spät, dass sie hoffte, unbemerkt durch den Angestellteneingang hineinschlüpfen zu können, um sich wieder an die Arbeit zu machen. „Dr. Bimm!" Mist. Sie drehte sich um und erblickte ihre Chefin, Dr. Barbara Robinson, eine kleine Frau mit blondem Walkürenzopf und braunen Mandelaugen. Wie gewöhnlich trug Dr. Barb ihren Laborkittel bis oben hin zugeknöpft. Fred wusste nicht einmal, wo sich ihr eigener gerade befand. Und wie gewöhnlich ging Dr. Barb nicht, sie trabte - und zwar schnell. Sie trabte überallhin: Meetings, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Fütterungen, Seehund-Shows. Fred fragte sich, warum sie ständig in Eile war. Die Fische würden schon brav dort bleiben, wo sie waren. Und die Touristen auch. „Hi, Dr. Barb." „Dr. Bimm, ich möchte Ihnen gerne unseren neuen Post-doc, Dr. Thomas Pearson, vorstellen. Dr. Pearson, das ist Dr. Fredrika Bimm." Sie sah zu Pearson hoch und zwinkerte ein paarmal schnell mit den Augen. „Dr. Bimm kümmert sich um unser Main One." „Fred", sagte Fred und streckte ihm die Hand entgegen. „Ich sorge dafür, dass die großen Fische die kleinen nicht auffressen." Dr. Barb zuckte zusammen, doch Fred beachtete sie überhaupt nicht. Dr. Barb legte Wert auf vollständige Titel (langweilig) und versuchte immer, den Job anderer Leute interessanter klingen zu lassen, als er tatsächlich war (noch langweiliger). Freds Aufgabe bestand darin, in ein vier Stock tiefes Wasserbecken zu springen, den Fischen toten Stint zuzuwerfen und dafür zu 13 sorgen, dass der Wasserstand korrekt blieb und die Wasserschildkröten nicht die Haie schikanierten (was sich komisch anhörte, aber tatsächlich hin und wieder vorkam). Das war alles. „Main One" war ganz einfach ein riesiges Meerwasserbecken und nichts weiter. Dr. Pearson ergriff ihre Hand, zuckte zusammen, weil sie so kalt war (das taten alle, deswegen nahm sie es nicht persönlich), und schüttelte sie wie einen Pfefferstreuer. „Hallo. Bitte, nennen Sie mich Thomas." „Äh", erwiderte sie. Das lag daran, dass er umwerfend aussah. Groß - beinahe acht Zentimeter größer als sie, und dabei war sie schon hoch aufgeschossen und schlaksig -, braunes Haar, in dem selbst in dem grässlichen Neonlicht goldene und rötliche Strähnen schimmerten, kurz und hübsch geschnitten. Er trug, wie sie missbilligend bemerkte, einen Laborkittel. Aber schließlich war er neu, und Dr. Barb hatte ihn wahrscheinlich dazu gezwungen. Braune
Augen, die wie sein Haar nicht einfach nur braun waren, sondern goldene Tupfen hatten, die ihr jetzt zufunkelten, während er sie mit prüfendem Blick von oben bis unten musterte. Eine ausgeprägte Nase, Schwimmerschultern, lange Beine, schmale Hüften. Und ... Grübchen? .....ist neu in der Gegend, deshalb hoffe ich, dass Sie unserer NEA-Familie helfen, ihm zu zeigen, wie hübsch dieser Teil des Landes ist, vor allem um diese Jahreszeit", plauderte Dr. Barb weiter. „Klar", sagte Fred. Wovon redet sie? Was für eine Jahreszeit haben wir denn jetzt? Dr. Barb hatte offenbar den - wie üblich verständnislosen -Ausdruck auf Freds Gesicht richtig gedeutet. „Sie wissen schon. New England im Herbst und so." „Ah", erwiderte sie. 14 „Bunte Blätter. Herbstliche Kühle in der Luft. Schulbeginn. Zeit für einen Neuanfang." „Okay." „Dr. Bimm. Es ist Ihnen vollkommen neu, dass wir bereits September haben, nicht wahr?" „Das gehört nicht zu meiner Arbeit." „Sie sind wohl nicht sehr gesprächig, wie?" Thomas funkelte. Es gab keinen anderen Ausdruck dafür: Er grinste, zeigte seine Grübchen, seine großen, dunklen Augen glänzten, und er funkelte sie an. Sie zuckte die Achseln. „Ich mag Ihr Haar", sagte er. „Das ist das tollste Grün, das ich je gesehen habe." Dr. Barb runzelte die Stirn. „Dr. Bimms Haare sind blau." Thomas schüttelte den Kopf. „Nein. Die Farbe erinnert mich an Gras an einem ersten Sommertag." Er senkte die Stimme. „Ich schreibe Liebesromane unter dem Pseudonym Priscilla D'Jacqueline." „Wie bitte?" „Nein, es ist blau", sagte Dr. Barb beharrlich. „Ähem, können wir vielleicht über etwas anderes als meine Haare reden?", bat Fred. „Natürlich. Dann führe ich Sie mal weiter herum." Dr. Barb begann, den Flur hinunterzutraben, und zerrte Thomas am Ellbogen mit sich mit. „Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns genommen haben, Dr. Bimm. Wir überlassen Sie jetzt wieder Ihrer Arbeit." „Okay." „Und vergessen Sie nicht, die neue Praktikantin zu begrüßen." „Nein, natürlich nicht", log sie. 3° „War schön, Sie kennenzulernen, Fredrika", rief er ihr nach, während Dr. Barb ihn davon schleifte.
„Nicht Fredrika. Fred. Und auch nicht Dr. Bimm", sagte sie in den jetzt leeren Flur hinein. „Fred." Der neue Kollege. Nicht schlecht. Nachdem sie einen Augenblick nachgedacht hatte, verbannte sie Thomas aus ihren Gedanken (was nicht allzu schwer war) und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie versuchte es zumindest. Auf dem Weg ins Labor wäre sie beinahe mit einem unsagbar üblen und nervtötenden Geschöpf zusammengestoßen: einer Studentin. „Oh, hiiiii!", legte das Geschöpf los, strich ihre bereits perfekt geglätteten Ponyfransen glatt und streckte Fred eine warme Pfote entgegen. „Du meine Güte, Dr. Bimm, richtig? Du meine Güte! Da bin ich aber superhappy, dass ich Sie hier zufällig treffe. Super! Weil ich nämlich so wahnsinnig viel von Ihnen lernen will!" Sie lachte, als wenn allein der Gedanke daran so aufregend wäre, dass sie einfach nicht an sich halten konnte. „Super!" Fred starrte das Wesen an. Sie schätzte es auf neunzehn Jahre. Sie war klein und ging ihr ungefähr bis zur Brust. Mit absoluter Sicherheit ließ sich das allerdings nicht feststellen, denn das Wesen hüpfte ständig auf und ab. Das platinblonde Haar reichte ihr bis zum Ellbogen und die natürlichen Wellen gaben ihrem Haar Elastizität - Spannkraft nannte man das wohl. Was allerdings ebenfalls an all dem Herumgehüpfe liegen konnte. Keine dunklen Wurzeln. Ein perfekter Teint - wie hätte es auch anders sein können. Große blaue Augen - selbstverständlich himmelblau. Eine kleine, perfekt geformte Nase. Ein kleines, spitzes Kinn. Keine 15 Sommersprossen, kein Pickel weit und breit. Eine perfekte Figur unter dem Laborkittel, den zu tragen Dr. Barb ihr sicher auferlegt hatte. Winzige (weil natürlich auch ihre Füße klein und anmutig waren), perfekte hochhackige Schuhe. Schwarz, natürlich, denn ein Praktikum war immerhin eine ernste Angelegenheit. „ ... und das ist so krass, weil ich nämlich hier arbeiten will, seitdem ich ..." „Ein kleines Mädchen war." „Krass! Ja! Weil ich ..." „Delfine liebe." „Ja, genau! Wow, ich habe schon gehört, dass Sie superintelligent sein sollen, aber Sie sind ja echt wirklich intelligent, so wie ein Genie! Ganz genau!" Fred schwante nichts Gutes. „Sie üben doch jetzt nicht gerade für Ihren nächsten Cheerleaderauftritt oder so was,-oder?" „Woher wissen Sie, dass ich zu Hause in Yarmouth im Cheerleader-Team war?" Miss Perfekt schnappte nach Luft.
„Ich bin eben krass intelligent." Fred wollte den Rückzug antreten, aber Miss Perfekt fasste das als Einladung auf, ihr zu folgen und hängte sich an sie wie eine Klette. „Warum machen Sie nicht, äh ..." „Dr. Barb sagte, an meinem ersten Tag sollte ich Sie und Dr. Pearson und Jamie und die anderen beobachten, um herauszufinden, wo ich gebraucht werden kann." „Und was, wenn wir Sie gar nicht brauchen?" „Oh, Dr. Bimm, Sie sind aber wirklich superlustig! Krass! Dr. Barb hat mir gar nicht gesagt, wie witzig Sie sind!" „Mit Dr. Barb", verkündete Fred, „werde ich noch ein Wörtchen zu reden haben, wenn ich sie das nächste Mal sehe." 16 „Sie sind also verantwortlich für das große Becken? Krass! Sie füttern die ganzen Fische und so?" Ja." „Aber das ist nicht alles, was Sie machen, oder?" Miss Perfekt schüttelte ihr Haar. „Fische füttern kann ja jeder, oder?" „Nein, Sie haben's erfasst. Das ist alles. Mehr mache ich nicht." „Oh, Dr. Bimm, ich lach mich tot." „Schön wär's", murmelte Fred. „Oje, beinahe hätte ich es vergessen. Wie krass!" Wieder streckte sie ihre Hand aus. „Ich bin Madison Fehr." „Fair?" „Nein, F-E-H-R, aber Sie haben recht, es wird so ausgesprochen. Und Madison. Verstehen Sie? Madison." Fred seufzte. „Wie die Meerjungfrau aus Splash?" „Ganz genau!", kreischte Madison. „Ich meine, wenn das nicht ein glücklicher Zufall ist! Krass!" Fred erwartete jeden Augenblick, einen Insulin-Schock oder etwas Ähnliches zu erleiden. Sie musste diesen schnatternden Teenager loswerden, bevor noch etwas Schlimmes passierte. Ihnen beiden. „Nun, es war nett, Sie kennenzulernen, Madison, aber ich muss jetzt zurück an meine Arbeit." „Oh, kann ich mit Ihnen kommen? Es wäre echt wirklich super, Ihnen bei der Arbeit zuschauen zu dürfen." „Nein", sagte Fred schaudernd. „Das geht nicht." „Ooooch, schade." Madison machte einen Schmollmund, erholte sich aber blitzschnell von ihrer Enttäuschung. „Vielleicht schau ich dann mal, ob mir jemand die Kasse im Souvenirladen erklären kann." „Supi." 16 „Aber wenn Sie es sich anders überlegen und ich Ihnen helfen kann, dann brauchen Sie es nur zu sagen. Ich habe meinen Tauchschein gemacht und so!" „Gut zu wissen. Wenn Sie dann mal ins Wasser gehen sollten."
„Ich kann das. Ich kann das echt! Wenn Sie meine Hilfe brauchen, müssen sie mich nur anpiepen. Dann bin ich sofort da." „Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass sie wegbleiben, wenn ich Sie nicht anpiepe?" „Sie sind ja so lustig, Wahnsinn! Okay, schön, Sie kennengelernt zu haben, Dr. Bimm!" Und schon trippelte sie auf ihren hohen Absätzen davon. Ein letztes Mal winkte sie über die Schulter zurück. „Tschüssi!" Einen schrecklichen Moment lang dachte Fred, sie müsse würgen. Dann aber hatte sie sich wieder in der Gewalt und brachte es sogar über sich, halbherzig zurückzuwinken. 17 Während sie sich in ihren Taucheranzug zwängte und versuchte, Madison aus ihrem Gehirn zu löschen, dämmerte es Fred, dass Thomas ihre echte Haarfarbe bemerkt hatte. Eigentlich wäre daran nichts Ungewöhnliches, wenn nicht bislang niemand, außer ihrer Mutter natürlich, jemals bemerkt hätte, dass ihr Haar eigentlich grün war. Wenn sie sich über die Sticheleien und grausamen Scherze von Fremden beschwert hatte („Bist du denn eine echte Blaue?"), hatte ihre Mutter mit etwas Dummem und Hippiemäßigem geantwortet wie: „Deine wahre Liebe wird der Mann sein, der dich sieht, wie du wirklich bist." Na, toll, das ist wirklich tröstlich, Moni. Aber Thomas hatte sie nicht nur gesehen, er hatte seine Beobachtung sogar laut werden lassen. Mehrfach. Sogar nachdem er von seiner neuen Chefin korrigiert worden war. Und er hatte auch keine groben Scherze darüber gemacht. Ihr lächerliches Haar war wie das Meer: Obwohl es für die meisten Menschen blau aussah, war es in Wirklichkeit grün. Und trocken wie Stroh und voller Spliss, weil es so oft nass wurde - aber das war ein anderes Thema. Und eigentlich hatte auch eher ihr Freund Jonas ein Problem damit als sie. (Merken, sagte sie sich: L'Oreal wirkt nicht. Jetzt ist es an der Zeit, die Produkte von Philosophy auszuprobieren.) Endlich steckte sie in ihrem Anzug und kam sich vor wie eine Wurst in der Pelle, alles war an seinem Platz, auch die blöden 17 Schläuche (ein oder zwei Touristen würde es möglicherweise auffallen, dass sie keine Maske trug und keinen Sauerstoffbehälter benutzte). Die Füße steckten in den Flossen. Das ganze Outfit war nutzlos und unglaublich dämlich und eine einzige Lüge. Sie saß am Rand des Beckens, im obersten Stock des NEA und ließ sich rücklings ins Wasser fallen. Sie ruderte sinnlos mit Armen und Beinen und kämpfte gegen den Drang an, den Schwanz wachsen zu lassen - echt zu sein, nicht falsch -, torkelte durch einen Schwärm von Meerengeln, raste an einem Ammenhai vorbei und hätte fast eine
Meeresschildkröte über den Haufen geschwommen, ja, sie war sogar plötzlich ein paar Sekunden lang verkehrt herum geschwommen, bevor sie die Orientierung wiedergefunden hatte. Denn ohne ihren Schwanz konnte sie nicht schwimmen. Es gelang ihr einfach nicht. Versucht hatte sie es. Sogar Unterrichtsstunden hatte sie jahrelang genommen. Auch Moon hatte versucht, es ihr beizubringen (was eine absolute Katastrophe gewesen war). Nichts hatte geholfen. Es war, als wisse ihr Körper, dass sie einen Schwanz, Flossen und Schuppen hatte, warum sich also lange damit aufhalten, das Schwimmen zu erlernen? Und so kam es, dass sie ohne ihren Schwanz eine Nichtschwimmerin war. Sie war eine Meerjungfrau, arbeitete als Meeresbiologin und konnte nicht schwimmen. Außerdem war sie eine Angestellte des New England Aquariums und verantwortlich für die Pflege und Fütterung der Bewohner von Main One und hatte den toten Stint vergessen mitzubringen. Gottverdammich! Na ja, auch egal. Dann würde sie eben warten, bis alle an 18 deren nach Hause gegangen waren, und dann den Stint holen. Niemand hier im Becken würde verhungern, wenn er zwei oder drei Stunden fasten musste. Stattdessen untersuchte sie die Bewohner ein bisschen genauer auf ihre Gesundheit und ihr allgemeines Erscheinungsbild hin. Alle sahen prima aus. Anders als Tiere im Zoo gediehen Fische in einer ihnen angemessenen Umgebung oft prächtig. Als wenn sie erleichtert wären, nicht ständig Angst haben zu müssen, gefressen zu werden. Wenn sie dafür die Freiheit des offenen Meeres aufgeben mussten, war das wohl ein Preis, den sie gerne zahlten. Das konnte Fred ihnen nachfühlen. Der Ammenhai schwamm träge an ihr vorbei, und sie berührte ihn mit ihrem Geist. Das war auch nicht schwieriger für sie, als zweistellige Zahlen im Kopf zu addieren. Geht es dir gut? Hungrig. Fisch-Mädchen bring Fisch. Aha. Und was gibt's sonst noch Neues? „Fisch-Mädchen bring Fisch" - warum sollte sie das nicht einfach zu ihrer neuen Arbeitsplatzbeschreibung machen. Irgendetwas irritierte sie auf einmal und lenkte ihren Blick nach oben. Durch die Scheibe des Beckens sah sie Thomas, der ihr begeistert zuwinkte. Verwirrt winkte sie mit ihrer behandschuhten Hand zurück. 18
„Ich weiß genau, was du denkst", behauptete Jonas Carrey, Freds bester Freund, und setzte sich ihr gegenüber an ihren Lieblingstisch im Restaurant Legal Sea Food gegenüber dem Aquarium. „Das bezweifle ich sehr", erwiderte sie düster und rührte in ihrer ErdbeerMargarita. „Du denkst, dass du ein Freak bist, dass dich niemand versteht, dass du eine einsame Wölfin in einem Rudel Verrückter bist, blablabla." Die Kellnerin tauchte wie aus dem Nichts auf, und Jonas sagte: „Einen Appletini, bitte." „Oh, Jonas." Fred schrie beinahe. „Die sind doch so was von out." „He. Ich bin Manns genug, mir einen Mädchendrink zu bestellen. Und jetzt sag, dass ich richtiglag. Dass ich wusste, was du gedacht hast." „Vor weniger als vier Stunden habe ich meine Eltern dabei überrascht, wie sie es in der Hündchenstellung miteinander gemacht haben." „Bedienung!", rief Jonas und schnippte wild mit den Fingern. „Bringen Sie zwei." Dann etwas leiser: „Willst du eine Nackenmassage? Eine Gutenachtgeschichte? Einen Kopfschuss?" „Letzteres", seufzte sie. „Und zu allem Überfluss wäre Mom auch noch supersauer, wenn sie wüsste, dass ich dich getroffen habe, ohne zu versuchen, dich ins Bett zu zerren." Beide erschauderten. Sie waren Freunde seit der zweiten 19 Schulklasse. Mit Jonas ins Bett zu gehen wäre für Fred, als würde sie mit ihrem Bruder schlafen. Außerdem stand Jonas auf blonde Menschen und nicht auf blauhaarige Meerjungfrauen. „Und ich dachte, mein Tag sei schlimm gewesen." „Wahrscheinlich war er das auch." Jonas war Ingenieur, arbeitete in der Forschungsabteilung bei Aveda und war ständig auf der Suche nach einem Shampoo, das das Haar nicht schädigte. Was problematisch war, denn eigentlich taten das alle Shampoos. „Da wir gerade von unserer Arbeit sprechen ..." Er stellte eine Firmentüte auf den Tisch, prall gefüllt mit Aveda-Haarpflegeprodukten. „Süße, wir müssen über deinen Spliss reden. Ich liebe dich, aber ich mag dich kaum ansehen. Ernsthaft. Kümmere dich darum. Sofort." „Es ist doch nicht meine Schuld, dass ich so viel im Wasser bin." „Ist heute sonst noch etwas schiefgegangen? Nicht, dass das nicht vollkommen reichen würde." Die Kellnerin hatte zwei Appletinis vor ihn hingestellt, und er setzte ein Glas durstig an die Lippen. Im Handumdrehen war es leer, und er knallte es auf den Tisch und machte sich über den zweiten Drink her. „Obwohl ich kein Problem damit habe, mir deine Mutter dabei vorzustellen. Sie sieht super aus, und ich bin verknallt in sie, seitdem du mich nach der Schlägerei mit nach Hause ..."
„Hör schon auf, sagte sie, aber sie lächelte. In der zweiten Klasse hatte Jonas stolz am ersten Schultag seine manikürten und glänzend polierten Nägel herumgezeigt. Zwei Viertklässler hatten sich dadurch offenbar in ihrer sexuellen Identität bedroht gefühlt und das auch offen ausgelebt. Fred, die gerade in einem Buch gelesen und sich gestört gefühlt hatte, hatte kurzen Pro4o zess gemacht, indem sie den einen ins Klettergerüst geworfen und den anderen kopfüber in den Sandkasten gesteckt hatte. Den Rest der Schulzeit hatte nie wieder jemand gewagt, Jonas anzurühren. „... und da war sie, ein blonder Engel der Barmherzigkeit, verband meine Wunden und schimpfte dich aus, weil ..." .„Gewalt keine Lösung ist'", sagten sie beide gleichzeitig. „So ist es. Also macht es mir nichts, deine Mutter vor meinem geistigen Auge nackig zu sehen, aber Sam ... igitt." „Und dann machten sie ein Riesengetue darum, dass ich nicht Sams leibliches Kind bin." Jonas schlürfte seinen Drink. „Als wenn das etwas Neues wäre." „Genau das habe ich auch gesagt." „Ich meine, du bist eine Meerjungfrau und Sam traut sich noch nicht mal ins Erwachsenenbecken." „Meine Worte." „Und was ist dann passiert?" „Dann bin ich wieder zur Arbeit gegangen und habe unseren neuen Postdoc getroffen." „Was, zum Teufel, ist ein Postdoc? Ihr Wissenschaftler und euer Jargon." „In unserem Fall ist es ein Meeresbiologe mit einem Stipendium, der um die Welt reist und den Zweibeinern erklärt, dass sie ihren Planeten zerstören. An jeder Einrichtung lernt und lehrt er für drei Monate und geht dann zur nächsten." „Hehe", protestierte Jonas freundlich. „Ich bin auch ein Zweibeiner." Und dazu noch so nett und hübsch anzusehen. Fred wunderte sich, dass er im reifen Alter von neunundzwanzig Jahren noch immer keine feste Beziehung hatte. Er war groß, blond, stemm 20 te Gewichte, hatte den schwarzen Gürtel in Aikido, war ein brillanter Ingenieur, war freundlich zu Kindern und Tieren und hatte immer zu Fred gehalten - selbst damals, als sie, ein Jahr nachdem sie sich kennengelernt hatten, zusammen im Meer geschwommen waren und er ihren Schwanz gesehen hatte. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass er erst acht Jahre alt gewesen war und Kinder solchen Dingen gegenüber offener waren. Oder daran, dass Jonas grundsätzlich allem gegenüber offen war. Oder daran, dass Jonas ... nun, einfach Jonas war. Er hatte sich nie ein Urteil über sie erlaubt und hatte ihr
immer unerschrocken zur Seite gestanden. Einen besseren, treueren Freund hatte sie weder zu Land noch zu Wasser. Es machte sie traurig, dass er allein war, und ihre Mutter wurde geradezu verrückt bei der Vorstellung, dass zwei Menschen, die sich seit einer Ewigkeit kannten, nicht ein Paar wurden. Immerhin hatte sie ja auch ihre Jugendliebe geheiratet. „Und, ist er nett? Dieser Postdoc?" „Er hat über mein Haar geredet." „Nun, das fällt den meisten Leuten immer als Erstes auf." „Er hat gesagt, dass es grün sei." „Aber es ist blau." Sie seufzte und nahm einen Schluck von ihrer Margarita. „Lassen wir das." „Hast du schon bestellt?" „Ja, einen Salat." „Wo hast du denn deine Manieren gelassen?" Als ob sie seinen Hunger gerochen hätte, tauchte die Kellnerin erneut aus dem Nichts auf. Die beiden flirteten hemmungslos, während Jonas Hummer für sich bestellte, und Fred unterdrückte ein Gähnen. „Und was steht heute noch an? Ich meine, schlimmer kann es ja eigentlich nicht mehr werden." 21 „Wir haben eine neue Praktikantin." „Sag nichts ... sie hat als Kind Delfine geliebt?" „Sie ist immer noch ein Kind. Fröhlich. Wunderschön. Voller Begeisterung." „Wie schrecklich für dich." Jonas gelang es, sogar solch eine blöde Bemerkung aufrichtig klingen zu lassen. „Na ja, Kopf hoch. Du musst sie ja nur ein Semester ertragen, oder? Länger bleibt doch keiner der Praktikanten." „Sechs Monate können sehr lang werden, wenn man es mit Madison Fehr zu tun hat." „Heißt sie so?" „Und sie war im Cheerleader-Team." „Mein Gott! Erstaunlich, dass du dir nicht auf dem Weg hierher die Pulsadern aufgeschnitten hast. Was gibt's sonst Neues?" „Ich bin im Wasserbecken durchgedreht." „Hast du wieder die Orientierung in deinem Taucheranzug verloren?", fragte er mitfühlend. „Ja, unter anderem. Und das Fischfutter hatte ich auch vergessen. Jetzt warte ich, bis der Laden leer ist. Dann gehe ich rüber und füttere die kleinen Scheißkerle." „Sind sie immer noch im Hungerstreik? Die Fische, meine ich?" „Ich will nicht darüber reden." „Und ich will nichts darüber hören. Aber darüber, wie heiß deine Mutter immer noch ist." „Träum weiter." „Äh ... dann etwas über dein Liebesleben?" „Welches Liebesleben?"
„Stimmt ja. Was soll ich denn sagen? Meine Trainerin ist mit meiner Ernährungsberaterin abgehauen." „Tessa und Marie sind Lesben?" 22 „Anscheinend. Haben mich einfach sitzen gelassen. Meine einzige Chance zu einem Dreier", seufzte er, „das war's dann wohl." Freds Salat kam. Sie versenkte die Gabel darin und versuchte, nicht zusammenzuzucken, als Jonas seinen Hummer auseinanderbrach. „Ich esse doch nicht gerade einen von deinen Kumpeln, oder?", fragte er. Butter tropfte von seinem Kinn. „Nein. Mir wird nur ein bisschen übel, wenn ich zusehe, wie du..." „Wie ich einen deiner Meeresmitbewohner verschlinge?" „... etwas isst, gegen das ich allergisch bin." Jonas kicherte. „Eine Meerjungfrau, die allergisch gegen Schalentiere ist." „Halt die Klappe." „Komm schon. Das ist doch witzig. Was würdest du denn essen, wenn du im Meer leben würdest? Würdest du verhungern? Oder würdest du dich an Land schleichen und Essen klauen, um dann wie das Monster von Loch Ness schnell wieder in die Tiefe zu tauchen, nachdem die Leute verwackelte Fotos von deinem nackten Hintern gemacht haben? Du bist doch sonst nicht anfällig, nur bei... gib zu, dass das komisch ist." „Ich würde gern den Rest des Tages nicht mehr über nackte Hintern reden oder nachdenken müssen, wenn du erlaubst." „Also, dieser Postdoc - wie heißt er?" „Thomas Pearson." „Mal abgesehen davon, dass er seine Kontaktlinsen wechseln muss, scheint er ganz in Ordnung zu sein. Du hast dich noch gar nicht über ihn beschwert. Und, meine Liebe, du beschwerst dich sonst über alles und jeden." „Er ist ganz nett. Er hat so süße Haare." 22 Jonas erstarrte, die Hummergabel schwebte auf halbem Wege zum Mund in der Luft. „Oh mein Gott, du bist verliebt." „Ich bin nicht verliebt." „Er hat ,süße' Haare? Du sagst nie etwas Nettes über irgend-jemanden. Aus deinem Munde ist .Seine Haare sind so süß' eine Liebeserklärung." „Ich habe vielleicht dreißig Sekunden mit dem Typen gesprochen. Und dann hat er mir zugewinkt, als ich im Becken war." „Heilige Scheiße, wann heiratet ihr?" „Reg dich ab, ja? Ganz sicher heiraten wir nicht." Jonas rupfte eine Zange auseinander, tunkte das Fleisch in die heiße Butter und schlürfte es wie Spaghetti. „Ihr beide seid füreinander bestimmt. Ein Meeresbiologe und eine Meeresbiologin. Die sich in einem Aquarium treffen! Das kann doch kein Zufall sein! Das ist Schicksal. Gott, was tun sie denn hier in die Butter ... Nektar?" Fred schob ihren Salat zur Seite und zeigte auf sein Brot. „Isst du das noch?"
„Diese überflüssigen Kohlenhydrate? Los, greif zu. Du schwimmst sie dir ja sowieso gleich wieder runter, gemeine Ziege." Sie grinste und griff nach dem Brot. 23 Kurz nach Mitternacht schlich Fred sich durch einen der Angestellteneingänge zurück zum Main One, stieg die Treppe hoch zur obersten Ebene, zog sich aus, nahm eine Portion Stint und tauchte ins Wasser. So natürlich wie Atmen und ohne dass sie es bewusst wahrnahm, wandelten sich ihre Beine in einen Schwanz. In ihrer Gestalt als Meerjungfrau war es viel einfacher für sie, die Fische und ihre Nörgeleien zu hören. Ein Barrakuda schwamm vorbei. Mehr Fisch mehr Fisch Mädchen mit Fisch mehr Fisch. Ich bin ja da, schon gut. Eine Seeschildkröte glitt über ihren Kopf hinweg. Dröhnen mehr Dröhnen von draußen Dröhnen. Das könnte dir so passen. Ich spiele keine Pet Shop Boys mehr für euch. Das war's. Wie es oft passierte, wenn Meeresbewohner lange zusammen auf beengten Raum lebten, griffen die Fische, Schildkröten, Meeraale und alle anderen im Becken nun auf die Schwarmintelligenz zurück. Der Lärm war ohrenbetäubend. Nicht fressen nicht fressen NICHT FRESSEN! Ihr werdet schon noch fressen. NICHT FRESSEN NICHT FRESSEN NICHT FRESSEN! Seid ruhig! Glaubt ihr, ich habe nichts Besseres zu tun, als um Mitternacht hierherzukommen und mich erpressen zu lassen? 23 Ihr werdet schön das fressen, was ich euch gebe, und was für Musik ich spiele, kann euch egal sein. Hier drinnen könnt ihr das sowieso kaum hören. Mit Ausnahme des Barrakudas und eines einzelnen Hais ignorierte der Rest der Beckenbewohner den Fisch, den sie anbot. Und die beiden Streikbrecher wurden so laut niedergeschrien, dass sie hinter einen Stein schwammen, um dort gemeinsam zu schmollen. Fred wusste, dass der Hungerstreik Ärger bedeutete. Wenn sie nicht aßen, würden die größeren Fische bald nicht mehr anders können und sich über die Meerengel, Mondfische und die anderen kleineren Arten, die zusammen mit ihnen in dem Wassertank eingesperrt waren, hermachen. Dann würde es Untersuchungen geben. Und Fred würde großen Ärger mit Dr. Barb bekommen. Sie musste zugeben, dass sie die Entschlossenheit bewunderte, mit der sie auf ihren Prinzipien bestanden. Gerade die kleineren Fische hatten am meisten zu verlieren. Aber den Hunderten von kleinen beflossten Gandhis in glitzernden
Schwärmen war ihre Würde (oder wenigstens ihr Musikgeschmack) wichtiger als ihr Leben. Schwachköpfe. Ganz zu schweigen von dem größeren Problem: Sie hasste die Pet Shop Boys. Jede Band, die sich mehr auf ein Mischpult als auf tatsächliches Talent verließ, war keine Band. Und wer hatte hier überhaupt das Sagen? Ein Jungfernfisch schwänzelte vorbei. Dröhnen mehr Dröhnen von draußen mehr Dröhnen. Oh nein! Meinetwegen könnt ihr verhungern! Sie leerte den letzten Rest Stint ins Wasser, hievte sich auf den Beckenrand hoch, schüttelte ihren Schwanz und fluchte leise. 24 „Sie haben aber diese Woche ganz schön viel Futter übrig", sagte Dr. Barb. „Die Fische haben anscheinend keinen Hunger", log Fred. „Genau, und das ist ja nicht Dr. Bimms Schuld, oder?", zwitscherte Madison, die gerade mit großer Sorgfalt Lipgloss auf ihren Mund tupfte. „Sie kann sie ja nicht ..., na ja, zwingen zu essen, oder?" „Ähh. Das heißt... ääähh." Fred musste beinahe lachen, als sie zusah, wie sich Dr. Barb wand. Sie hatte munkeln hören, dass Madisons Familie Nachkommen der Passagiere der Mayflower waren (die allerersten Touristen und später die allerersten illegalen Immigranten), das halbe Hafenviertel besaßen und der Überzeugung waren, dass ihr kleines Mädchen genau dort ein Praktikum machten sollte, wo sie wollte und so lange sie wollte. Und da das NEA auf private Spenden angewiesen war ... „Danke, Madison. Dr. Bimm, was sagt der Wasserstandsanzeiger?" „Perfekt." Fred versuchte, nicht beleidigt zu klingen. „Vielleicht mögen sie den neuen Kollegen nicht", witzelte Thomas. Er warf Madison einen schnellen Blick zu. „Oder die Kollegin." Dr. Barb sah ihn über den Rand ihrer Lesebrille hinweg an. „Sehr lustig, Dr. Pearson. Ich bin beunruhigt. Falls einer der Besucher mit ansehen muss, wie ein Hai ein paar Meerengel verschlingt ..." 24 gibt es möglicherweise eine Massenpanik?", vermutete Thomas. „Das war ja echt krass eklig!" „Die Besucher wollen kein Blut sehen", sagte Fred düster. „Wollen wohl nicht sehen, wie grausam die Natur ist, was?" „Ganz recht", sagte Dr. Barb und reichte Fred ihr Klemmbrett zurück. „Behalten Sie das im Auge, Dr. Bimm. Wenn sich in den nächsten Tagen nichts tut, lassen Sie es mich wissen." „Morgen habe ich frei", erinnerte sie ihre Chefin. „Richtig, richtig. Nun, dann warten wir mal bis Montag ab."
„Okay." „Dr. Pearson, Sie wollten uns etwas mitteilen?" „Ah... ja." Fred wartete. Dr. Barb wartete. Madison betupfte ihre Lippen mit Lipgloss. Schließlich fragte Fred mit kaum verhohlener Ungeduld: „Also?" „Also ... die Werte hier im Hafenwasser sind wirklich überhöht. Um fast tausend Prozent. Und da wir direkt am Hafen liegen ..." „Ist das der Grund, warum Sie geschickt wurden?" „Das ist der Grund, aus dem ich hier bin. Ich bin quasi den toxischen Werten gefolgt. Die Quelle ist hier - in Boston." „Oh." Fred dachte einen Moment nach. Sie schwamm fast nie im Ozean, weil sie das Aquariumbecken oder den Pool ihrer Eltern bevorzugte. Und die letzten Male, als sie draußen gewesen war, hatte sie nichts Merkwürdiges bemerkt. Auf der anderen Seite hatte sie auch einen merkwürdigen Stoffwechsel. Sie wurde nie krank. Entweder waren Meerjungfrauen in der Lage, Toxine zu filtern, oder als Hybride hatte das Gift keine Wirkung auf sie. Was allerdings nicht auf Algen zutraf. Und damit auch nicht auf Fische. Und damit möglicherweise auch nicht auf Zweibeiner. Denen das wahrscheinlich völlig egal war. „Ich könnte ein wenig Hilfe brauchen", sagte Thomas gerade. „Nun, wir haben einige Dutzend ..." „Ich dachte dabei an Dr. Bimm." „An mich?" Fred schnappte nach Luft. Sie schien fast bestürzt. „An sie?", sagte Madison, ein wenig scharf. Anscheinend hatten selbst zwei Schichten Lipgloss und glitzernder Lidschatten Pearson kaltgelassen. Den ganzen Morgen über hatte er ihr nur einen kurzen Blick zugeworfen. Fred wusste nicht, warum, aber es gefiel ihr. Aber das jetzt? Sie hatte genug mit den Adoptionsplänen ihrer Eltern, dem Fischestreik und der Suche nach der richtigen Frau für Jonas zu tun. Außerdem musste sie endlich - nach sechsundzwanzig Jahren - schwimmen lernen. Sie hatte keine Zeit, Detektivin zu spielen. „Ähem, dafür habe ich nicht die nötigen Kompetenzen, Dr. Pearson. Ich kümmere mich nur um das große Fischbecken." Als sie sah, dass Dr. Barb die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: „Main One." „Ich könnte Ihnen helfen, Dr. Pearson!" Pearson achtete nicht auf Madison, die wieder angefangen hatte, auf und ab zu hüpfen. „Ach, kommen Sie schon. Ich habe Erkundigungen über Sie eingezogen. Sie kennen sich in der wissenschaftlichen Theorie ebenso gut aus wie ich." Fred starrte ihn an. „In der wissenschaftlichen Theorie?" „Und ich könnte wirklich Hilfe brauchen", versuchte er, sie zu überreden und funkelte sie mit diesen unglaublichen, dunklen Augen an.
„Ja, schon ... aber ..." „Und wir wären ein tolles Team." „Aber ..." „Dann ist die Sache also entschieden", sagte Dr. Barb. „Welche Sache?" Fred hatte das Gefühl, als würde die Erde sich schneller drehen. „Ich könnte Ihnen beiden helfen", verkündete Madison. Genau in diesem Moment trillerte Freds Handy die Harry-Potter-Melodie. Gerade rechtzeitig. Sie klappte es auf und bellte: „Ja?" „Fred, Liebes, ich bins, Mom." Beinahe hätte Fred ihre Stimme nicht erkannt. Ihre Mutter hörte sich an, als sei sie nervös. Sehr nervös. So als habe sie ihren Yogakurs nicht nur einmal, sondern gleich dreimal hintereinander verpasst. „Stimmt was nicht?" „Wir, äh ..., haben Besuch." „Aha." „Und er will dich sehen." „Aha." „Sehr gern." „Aha." „Sehr gern." Fred versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. So durcheinander war ihre Mutter nicht einmal gewesen, als sie sie auf allen vieren überrascht hatte. Wer also konnte der Besucher sein? Ein Republikaner? Nachdem Sam den Letzten mit einer ungeladenen Schrotflinte davongejagt hatte, war das nicht sehr wahrscheinlich. 26 „Tja, ich bin jetzt gerade mit meiner Arbeit beschäftigt, aber ..." „Ja, ich weiß, aber ich glaube, du solltest wirklich nach Hause kommen. Auf der Stelle." Fred senkte die Stimme. „Mom, bist du in Gefahr?" „Ich ... ich glaube nicht." „Steht dieser Fremde genau neben dir?" Ja." „Gib ihn mir." „Ich glaube nicht, dass ..." „Mom. Mach schon." Darauf folgte ein kurzer Moment der Stille, dann sagte eine tiefe, raue Stimme: „Ja?" „Freundchen", sagte sie, und sie meinte es nicht freundlich. „Du machst meiner Mutter Angst. Lass es bleiben, wenn du nicht herausfinden willst, wie dein Dickdarm aussieht."
„Fredrika, meine Liebe. Schön, deine Stimme zu hören, nach all der Zeit. Deine Mutter ist eine charmante Gastgeberin, aber ich würde es doch vorziehen, mich mit dir zu unterhalten." „Und ob wir das werden, mein Freund. Darauf hast du mein Wort. Aber wenn sie immer noch Angst hat, wenn ich ankomme, wenn auch nur ein Haar nicht an seinem Platz ist, dann unterhalten wir uns sehr lange, und ich garantiere dir, das wird dir nicht gefallen. Ganz und gar nicht." „Ich kann es kaum erwarten", schnurrte die tiefe Stimme. Dann hörte Fred ein Klicken. „Ich muss los", sagte Fred, warf das Klemmbrett mit einem Knall auf den Schreibtisch und griff nach ihrer Handtasche. „Aber ...", meldeten sich Dr. Barb und Thomas gleichzeitig zu Wort. „Es ist echt krass wichtig", sagte sie und stürmte hinaus. 27 Mit dem Vordereingang hielt sie sich erst gar nicht lange auf, sondern ging direkt nach hinten zur Küche (dort, wo sich das Telefon ihrer Mutter befand, wo sie Gäste empfing und sich am wohlsten fühlte) und trat die Glastür ein. Sam, ihre Mutter und ein rothaariger Fremder, die um den Tisch herumsaßen, erstarrten vor Schreck. Dann sahen sie sie genauer an. Fred wischte sich die Glassplitter aus dem Haar und trat in die Küche. Totenstille. „Da bin ich", sagte sie überflüssigerweise. Mist. Wie war denn das Glas in ihre Jeans gelangt? Sie wand sich ein bisschen und sagte dann: „Los, hoch mit dir, Rotschopf. Gehen wir vor die Tür und klären das." „Klären?", fragte der rothaarige Fremde verständnislos. Er sah sie mit einem Blick an, in dem Bewunderung, Verärgerung, aber auch ein wenig Respekt lag. „Ja, klären. Das heißt, ich poliere dir die Fresse und du ziehst Leine. Und dann gehe ich zurück zur Arbeit, bevor meine Eltern ... aber das tut nichts zur Sache. Los, auf geht's. Sofort." „Fred, es ist nicht, wie du ...", begann Sam. „Zuerst war ich ein wenig erschrocken", fügte ihre Mutter hinzu. „Ich entschuldige mich, wenn ich deiner Familie Unannehmlichkeiten bereitet habe", grummelte der Fremde. „Das lag nicht in meiner Absicht." Er stand auf. Und auf. Und auf. SS Schließlich überragte er sie alle, selbst Fred. Seine schulterlangen Haare hatten die Farbe gemahlener Rubine und seine Augen waren - waren das etwa Kontaktlinsen? - ungefähr zwei Töne heller als sein Haar. Wie Hustensaft mit Kirschgeschmack. Seine Schultern waren so breit, dass sie sich fragte, wie er durch die Vordertür gekommen war. Er trug ein weißes Hemd mit offenem Kragen und Kaki-
Shorts, die erfreulich viel von seinen muskulösen Beinen zeigten. Keine Socken. Und auch keine Schuhe. Er hatte große Füße. Der kurz geschnittene Bart hatte dieselbe Farbe wie sein Haar. Die Stirn war breit, das Kinn ausgeprägt. Und seine Stimme! Sie war tief und grollend ... wie Klang gewordener Samt. „Aber ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn wir vor die Tür gingen." „Wie bitte?" „Ich glaube, wir sollten nach draußen gehen. Oder in den Teich deines Vaters." „In den was?" „Den Pool." Mit leiser Stimme, als wenn Fred ihn nicht ganz genau verstehen würde, beugte er sich zu ihrer Mutter hinunter (tiefer und tiefer) und murmelte in ihr Ohr: „Ist ihr Verstand ein wenig beeinträchtigt?" „Nein", fuhr ihn ihre Mutter an. „Sie hat einen Doktortitel, um Himmels willen. Lassen Sie das, das ist unheimlich." „Geh weg von ihr", befahl Fred, die immer noch gereizt war. Zugegeben, sie war fast immer gereizt. Aber die letzten achtundvierzig Stunden waren nicht ohne gewesen. „Schon gut, Fred, alles in Ordnung. Tut mir leid, wenn ich dir einen Schrecken eingejagt habe. Aber du bist nicht die Einzige, die eine Vorliebe für dramatische Auftritte hat. Dies ist... nun ... dies ist Großprinz Artur." 28 „Prinz Artur", wiederholte Fred wie ein Papagei. „Vom Schwarzen Meer", ergänzte der Fremde liebenswürdig. „Er sagt... er sagt, du seiest eine seiner Untertaninnen", fuhr ihre Mutter fort. „Oh, sagt er das?" „Und dass du ihm Gefolgschaft und Treue schuldest und so weiter." „Soso." Der Prinz verbeugte sich. „Es ist mir immer ein Vergnügen, eine attraktive neue Untertanin kennenzulernen." „Soso." „Und wir, äh wir wussten nicht, was wir davon halten sollten, als er plötzlich hier auftauchte und das alles behauptete und dann auch noch sagte ..., äh ..." „Spuck's aus, Mom." „Dass dein Vater tot sei", sagte ihre Mutter und brach in Tränen aus. „Werte Dame", sagte der Prinz und sah zum ersten Mal ehrlich bekümmert aus. „Ich wollte Ihnen keinen Kummer bereiten. Man hatte mir gesagt, dass Sie beide sich kaum kannten und dass meine Untertanin nicht wisse, dass Ihr Gefährte ihr Vater ist." „Wir haben nur eine Stunde miteinander verbracht - aber jetzt wird Fred ihn nie kennenlernen. Und ich werde ihm nie dafür danken können, dass er sie mir geschenkt hat." Ihre Mutter schlug die Hände vor das Gesicht wie ein Kind und schluchzte. „Okay, das reicht jetzt. Lass sie endlich in Ruhe."
Der Prinz ignorierte sie. „Unser Volk wird ihr alles sagen, was sie zu wissen wünscht. Und ihr Vater war ... er war niemand, der sich sehr für seine Nachkommenschaft interessierte", sagte der Prinz vorsichtig. 29 „Mein leiblicher Vater war wohl ein echter Drecksack, was?", vermutete Fred. Der Prinz tätschelte ihrer Mutter die Schulter und hätte sie dabei beinahe zu Boden gestreckt. Dann richtete er sich auf. „Sollen wir uns in den Pool zurückziehen?" „Jetzt? Jetzt sofort?" „Ja. Wenn ich bitten darf?" Fred verstand, dass die Frage eigentlich ein Befehl war. Aber obwohl keine unmittelbare Gefahr zu drohen schien, wollte sie den riesigen Rotschopf doch lieber in sicherer Entfernung von ihren Eltern wissen. „Okay. Das mit der Tür tut mir leid, Mom." „Das war einer von deinen dramatischeren Auftritten", sagte diese, und ihre Miene hellte sich sofort auf. „Irgendwie fand ich's gut." „In der Tat", murmelte der Fremde und ging ihr voran zum Pool, als sei das sein Haus und nicht ihr Zuhause, in dem sie aufgewachsen war. 29 „Also, Großprinz Artur ... kann ich dich Art nennen?" „Nein." Der Prinz, äh ... entledigte sich seiner Kleider. Erst flog das Hemd, dann die Hose durch die Luft. Er trug keine Unterwäsche, wie sie unschwer erkennen konnte. Als er in das Salzwasser sprang, erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf einen muskulösen Rücken und knackigen Hintern, dann tauchte er tiefer hinein. Sie hockte sich an den Rand des Pools. „Nun, auf keinen Fall werde ich dich Eure Hoheit nennen", schrie sie ins Wasser. „Ich lebe an Land. Ich bin keiner von deinen blöden Untertanen!" Ganz plötzlich schoss sein Kopf hoch. Wasser glitzerte in seinem Bart, und er grinste sie an. Viele Zähne hatte er. Fast... spitz? Wie kam es, dass ihr das erst jetzt auffiel? „O doch, das bist du, kleine Rika." „Fred." „Hm." „Fred. Nicht Rika. Nicht Hm. Fred. Und auch nicht klein. Ich bin einsachtundsiebzig, verdammt noch mal." „Kleine Rika", sagte er und tauchte wieder unter. Sein Schwanz bespritzte sie mit Wasser. Sein Schwanz. Sein Schwanz? Er war viel länger als ihrer und auch breiter an den Hüften. Und das Grün war etwas dunkler. Die Flossen waren breiter am Ansatz und länger. Sofort kam sie zu dem Schluss, dass er
30 ein schnellerer, besserer Schwimmer als sie war - und dabei kannte sie keinen, weder an Land noch im Wasser, der besser geschwommen wäre als sie. Na so was. „Warum bist du hier?", fragte sie die Wasseroberfläche. Wieder tauchte sein Kopf auf, und er spuckte einen Schwall Wasser in ihre Richtung. Fluchend wich sie aus und wäre fast ausgerutscht. „Komm zu mir, dann sprechen wir über alles." „Ich ..." ... ziehe mich nicht vor dir aus, hatte sie eigentlich sagen wollen, dann aber die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf gehört: Nacktheit ist schön und natürlich, blablabla. Dabei war Nacktheit gar nicht das Problem. Sie war nicht prüde. Wenn sie sich nicht gerade in diesen schrecklichen Taucheranzug zwängen musste, schwamm sie immer nackt. Das Problem war der Wassermann. Jemand, der wie sie war. Wenn auch nicht ganz: Die kräftigen, spitzen Zähne hatte sie nicht geerbt (die zweifellos dafür gemacht waren, rohen Fisch und Knochen zu durchbeißen) und auch nicht den Schwanz, der kraftvoller als ihrer war. Wollte sie das Risiko eingehen und damit konkurrieren? Zum Teufel mit ihm. Ihr konnte doch egal sein, was er von ihr hielt. Sie stand auf, zog Schuhe und Strümpfe aus, stieg aus ihren Jeans und der Unterhose, zog sich den Pullover über den Kopf, öffnete den Verschluss des BHs und machte einen Kopfsprung ins Wasser, über seinen Kopf hinweg. Sofort tauchte er mit ihr unter die Wasseroberfläche und starrte sie mit unverhohlener Neugier an. Du siehst. . . anders aus. Natürlich - Telepathie. Wie sonst sollten sich Wasserwesen unter Wasser verständigen? 30 Sei still. Warum bist du hier? Ich brauche dich. Da bin ich aber neugierig. Er schwamm näher und wollte die Hand um ihre Taille legen, aber sie schlug sie fort. So behandeln mich meine Untertanen gewöhnlich nicht. Das interessiert mich einen Dreck. Sie heißen meine Berührung willkommen. Sie sollten sich in ärztliche Behandlung begeben. Was willst du ? Dich natürlich. Ja, aber warum? Nachdenklich ließ er sich im Wasser treiben. Dann, plötzlich, sauste er mit einem kräftigen Schwanzschlag an ihr vorbei, war auf einmal hinter ihr und legte die Arme um ihre Taille, dort wo die Schuppen in Haut übergingen. Sie
spürte ein Kribbeln, das von ihrem Gehirn direkt ihre Wirbelsäule hinunterschoss und ... tiefer. Sie stieß den Ellbogen zurück und traf ihn am Hals, was zu unterschiedlichen Reaktionen führte: Er hustete explosionsartig, ein Schwall kleiner Luftblasen stieg an die Oberfläche; er ließ sie los, schwamm zurück, und sie hatte damit wieder ein wenig Bewegungsfreiheit. Finger weg, Kumpel. Du bist so ganz anders als mein Volk, kleine Rika. Ich kann dir nicht widerstehen. Dann versuche es wenigstens, Freundchen. Und ich heiße Fred. Verstanden? F-R-ED. Gereizt schwamm sie an ihm vorbei, seine Hände immer wachsam im Blick. Es ist unfair, dass du einen Kosenamen für mich hast und ich nicht für dich. Kosenamen? Was meinte er damit? Etwa Freundchen? 31 Zum letzten Mal: Was willst du? Raus mit der Sprache, oder ich hin weg, bevor du sagen kannst: „Aua, meine Eier!" Meine was? Freundchen! Schon gut, kleine Rika, reg dich nicht auf. Du hast mich noch nicht aufgeregt gesehen. Die Zweibeiner vergiften das Hafenwasser. Das war nun wirklich keine Neuigkeit. Sie war beinahe ein wenig enttäuscht. Sie zuckte die Achseln. Das tun Zweibeiner eben. Mein Vater, der Großkönig, hat mich damit beauftragt, dich zu finden und dich um deine Hilfe zu bitten, um sie aufzuhalten. Dein Vater, der Großkönig, kann mich mal am . . . Als unsere Untertanin bist du verpflichtet, uns zu helfen, bis unser Auftrag erledigt ist. Tja, dann bin ich wohl ein echter Glückspilz. Moment. Was hatte Pearson gesagt? Über angebliche Toxine im Hafen? Oh Mist. Kannst du dich ein paar Stunden an Land aufhalten? Ich mag das Land nicht, gab er zu, während er Kreise um sie zog, aber ich kann es ertragen, wenn und solange es nötig ist. Gut. Weil ich dich nämlich mit jemandem bekannt machen will. Sie schoss an die Wasseroberfläche, wandelte den Schwanz wieder in Beine und kletterte aus dem Pool. Sie hörte, wie Artur ihr dichtauf folgte, aber klugerweise im Interesse seiner eigenen Gesundheit nicht noch einmal den Versuch machte, nach ihr zu greifen. „Jemand wie du?", fragte er, beinahe eifrig. „Nein", erwiderte sie. „Ganz und gar nicht wie ich." 31 Als er Fred sah und den Mann, der neben ihr saß, blieb Jonas wie angewurzelt stehen.
„Wow", sagte er statt eines Grußes. „Jonas, Prinz Artur vom Schwarzen Meer. Art, Jonas." „Prinz wer aus was? Oh mein Gott! Was für Haare! Was für Augen!" Der Prinz stand höflich auf, und Jonas drückte seine Hand wie Fred einen nassen Waschlappen, reckte den Hals und starrte in sein Gesicht hoch. „Haben Sie schon mal daran gedacht zu modeln?" „Ich weiß nicht, was das ist." „Hast du meine Nachricht nicht bekommen?", fragte Fred barsch. „Ich habe dir gesagt, dass unser Abendessen ausfallen muss." „Ach, du versuchst doch immer, einen Rückzieher zu machen. Ich bin nicht auf die Idee gekommen, dass du einen richtigen Grund hättest. Wie zum Beispiel ein Date!" „Das ist kein Date", begann Fred, aber Jonas rutschte schon auf den Sitz neben Fred und zwang sie auf diese Weise aufzurücken, wenn sie nicht riskieren wollte, zerquetscht zu werden. „Hi, ich bin Jonas, wie die Dame bereits sagte. Was führt Sie hierher?" „Zweibeiner vergiften unsere Gewässer." Jonas zog eine blonde Augenbraue hoch und wandte sich an Fred. „Das hast du neulich auch gesagt. Was geht denn hier vor?" 32 Fred zuckte die Achseln. „Das ist doch nichts Neues." „Nichts Neues? Hast du dir den da mal genauer angeguckt?", rief er, als säße Artur nicht einen Meter von ihm entfernt. „Ist er auch so einer wie du? Er ist doch ein Wassermann, oder etwa nicht?" „Jahaaa", seufzte sie. „Ein Wassermann." Eine Kellnerin blieb an ihrem Tisch stehen, stellte einen Teller mit Sushi vor Artur hin, eine Schale Miso-Suppe für Fred, nahm Jonas' Bestellung auf und glitt davon. „Kommen wir zurück auf die Zweibeiner", verlangte Jonas. „Was hat es damit auf sich?" Ruhig aß Artur sein Sushi (mit den Fingern, wie sie bemerkte; wahrscheinlich hatte jemand, der auf dem Grunde des Meeres lebte, nicht sehr viel Übung darin, mit Stäbchen zu essen) und sagte nichts. Daraus entnahm Fred, dass es an ihr war, eine Erklärung zu liefern. „Jonas, ich weiß mit Sicherheit, dass die Zweibeiner den Planeten kaputt machen. Ihr - sie können nicht anders. Sie fühlen das Meer nicht. Für sie ist es nur eine Sache von vielen, etwas, das sie in Besitz nehmen, befischen, ausweiden und tot zurücklassen können. „Hnh", machte Jonas. Und dann nach einer kurzen Pause noch einmal: „Hnh." „Ganz richtig", bestätigte Artur mit vollem Mund. „Kommt schon", protestierte er. „So schlimm sind wir nun auch nicht." Fred und Artur starrten ihn mit steinerner Miene an.
Jonas, der Chemieingenieur, gab schließlich klein bei. „Okay, wir sind so schlimm. Wir machen den Planeten kaputt und sind nicht stubenrein. Aber ich glaube nicht, dass irgendjemand schlimme Sachen ins Wasser kippt, um ... ich meine, absieht 33 lieh ..." Er brach ab, zweifellos, weil er selbst erkannt hatte, wie albern seine Worte klangen. Fred stürzte die Hälfte ihrer Miso-Suppe auf einmal hinunter und fragte sich, ob ihre Zunge Brandblasen bekommen würde. Dann sagte sie: „Ich weiß immer noch nicht, warum du meine Hilfe brauchst. Ehrlich gesagt..." „Bitte sei ehrlich", sagte Artur und warf sich ein Stück Thunfisch-Sushi in den Mund. „... bin ich nicht daran interessiert, dein kleines Rätsel zu lösen. Alles, was ich will, ist, die Fische zu füttern und mich aus dem Wohnzimmer meiner Mutter bis zu meinem Lebensende fernzuhalten. Wie ich bereits zu Dr. Pearson sagte - oder es zumindest versucht habe -, dafür habe ich nicht die nötigen Kompetenzen." „Das Meer gehört auch dir." „Oh, na klar. Alle Wasserwesen würden mich sicher mit offenen Armen empfangen." „Das würden sie tatsächlich." Ein Stück Heilbutt verschwand in seinem Mund. „Und wenn nicht, würden sie sich mir gegenüber verantworten müssen. Möchtest du auch ein Stück? Es ist sehr frisch." Fred schauderte und schlürfte ihre Miso-Suppe. „Nein." „Fred ist allergisch gegen Fisch und Schalentiere", erklärte Jonas. „Du bist... tatsächlich?" Arturs Kinnlade fiel herunter, was sie über die Maßen ärgerte. „Aber ... aber was isst du denn dann?" „Alles andere." „Also, was hast du jetzt vor?" Jonas tippte mit den Fingern einen irritierenden Rhythmus auf die Tischplatte. „Willst du den Dr. Watson für diesen Sherlock machen?" Fred schüttelte sich wider Willen. 33 „Du willst nicht?" „Es ist mir egal." „Dann sag ihm, er soll Leine ziehen." . „Offenbar", sagte sie trocken, „bin ich eine seiner Untertaninnen und muss tun, was er sagt." „Seit wann hält dich Autorität davon ab, das zu tun, was du willst?" „Wirklich merkwürdig, dass in den letzten zwei Tagen zwei Typen mir genau dasselbe sagen." „Willst du ihn mit dem Postdoc zusammenbringen?" „Das ist der Plan." „Was ist ein Postdoc?"
„Iss deinen toten Fisch", befahl sie Artur. Und zu Jonas sagte sie: „Die beiden lösen zusammen das Rätsel, und ich gehe wieder an meine Arbeit. Und alle sind zufrieden." Jonas vergrub den Kopf in den Händen. Fred beachtete ihn nicht. Artur sah leicht alarmiert aus. „Mein Herr, haben Sie Schmerzen?" „Artur, könntest du uns einen Moment allein lassen, bitte?" Ohne ein Wort stand Artur auf, durchquerte den Raum mit vier großen Schritten und ging auf ihre Kellnerin zu, die ihn ansah wie eine Diabetikerin einen großen Sahneeisbecher. „Was ist denn?" „Fred, was stimmt nicht mit dir?" „Wieso?" „Du lernst zwei neue Typen kennen und anstatt, ich weiß auch nicht zu versuchen, eine echte Beziehung mit einem von beiden aufzubauen oder wenigstens von einem von beiden flachgelegt zu werden, steckst du sie zusammen und rennst zurück in dein Aquarium?" „So ungefähr." 34 „Fred, du bist dümmer als ein Oktopus." „Oktopusse", klärte sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen auf, „sind mit die intelligentesten Tiere der Welt." „Warum arbeitet ihr beiden dann nicht zusammen, Himmel noch mal? Er hat die lange Reise vom Schwarzen Meer hierhergemacht - wo zum Teufel ist eigentlich das Schwarze Meer? Hört sich an, als sei es weit weg. Jetzt kannst du ihn doch nicht einfach so abschieben!" „Doch, kann ich." Dann fügte sie hinzu: „Am Balkan. Und Kleinasien." „Wie bitte?" „Das Schwarze Meer. Ist mit dem Mittelmeer durch den Bosporus und dem Marmarameer verbunden und mit dem Asowschen Meer durch ..." „Das ist nicht der Punkt ..." „... die Straße von Kerch", endete sie. Sie ignorierte sein verzweifeltes Stöhnen und pickte das letzte Stück Tofu aus ihrer Suppenschale. Tatsächlich jagten ihr Thomas und Artur Angst ein. Sie war nicht daran gewöhnt, dass Männer ihr viel Aufmerksamkeit schenkten. Und sie hatte kein Interesse an einer Dreiecksbeziehung. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass das passieren würde, ohnehin gegen null tendierte. „Wann hattest du dein letztes Date?", wollte Jonas jetzt wissen. „Und wenn du mir jetzt mit deinem patentierten Mir-doch-egal-Achselzucken antwortest, bringe ich dich um." Sie lachte ihn an. Dann dachte sie nach. Und dachte nach. Dachte lange nach ... „Dr. Barbs Exmann", sagte sie schließlich. „Oh Gott, das stimmt. Den hatte ich ganz vergessen. Du kannst froh sein, dass du deswegen deinen Job nicht verloren hast."
35 „Sie war es doch, die das arrangiert hatte", erinnerte ihn Fred. Was keinem von ihnen in Erinnerung gerufen werden musste, war, dass der ganze Abend eine einzige Katastrophe gewesen war. Dr. Barbs Ex, dessen Namen Fred mittlerweile sogar vergessen hatte, hatte die Hälfte des Abends damit verbracht, eindeutige Annäherungsversuche zu machen, und die andere Hälfte, seiner Frau hinterherzutrauern. Das Treffen hatten sie mit einem Händeschütteln beendet, und er war schließlich mit einem blauen Auge nach Hause gegangen, nachdem er zu hartnäckig auf etwas mehr als diesem bestanden hatte. „Und seitdem steckst du in der Windhose einer Trockenperiode, die jetzt... wie lange dauert? Sechs Jahre?" „Einer Windhose?" „Und jetzt sind gleich zwei sexy Typen hinter dir her ..." „Sie sind nicht ..." „... und dir fällt nichts Besseres ein, als sie aufeinanderzuhetzen und abzuhauen." „Ich habe andere Sorgen." „Und deswegen", sagte er freundlich, „bist du dumm. Genauso wie ein Oktopus. Nein, sag's nicht; ich will es nicht wissen. Oktopusse sind dumm." 35 Gut gelaunt trottete Jonas seiner besten Freundin und ihrem riesigen, lächerlich gut aussehenden neuen Freund hinterher. Er betrachtete die Menschen um sich herum, wie sie sich auf zwei Beinen auf der Straße fortbewegten, und fragte sich, ob sie auch nur die leiseste Ahnung hatten, dass vor ihm zwei Wassermenschen gingen. Selbst ihm fiel es manchmal schwer, das zu glauben, und er war mit einer von beiden aufgewachsen. Artur beugte sich immer wieder zu Fred hinunter und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie scheuchte ihn jedesmal mit der Hand fort, als sei er eine besonders hartnäckige Fliege. Jonas schüttelte den Kopf. Es war ganz offensichtlich, dass Artur - ein Prinz! Ein verdammter Prinz! - scharf auf seine Freundin war. Die Einzige, die das nicht merkte, war Fred. Und wenn doch, wäre es ihr wahrscheinlich egal. Weil sie nämlich verrückt war. Aber Fred wäre nicht Fred, wenn es anders gewesen wäre. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, als sie sich kennengelernt hatten. Als alle großen Kinder auf einmal auf ihn losgegangen waren, hatte er es ziemlich mit der Angst zu tun bekommen und das kleine, stockdürre, blauhaarige Mädchen, das an einem Baum lehnte und ein Buch las, kaum bemerkt. Bis heute wusste er nicht, ob sie sich beim Lesen gestört gefühlt hatte oder nicht hatte mitansehen können, wie die Chancen so ungleich verteilt waren (wahrscheinlich Letzteres) - aber das spielte auch keine Rolle. Sie war einfach aufgestanden und hatte sich die großen Kinder geschnappt, die auf einmal durch 35
die Luft segelten. Dann hatte sie sich wieder ihrem Buch zugewandt und die Blicke und das Flüstern ignoriert. Fast, als würde sie im reifen Alter von sieben Jahren auf solche Dinge nicht mehr achten, oder als hätte sie es möglicherweise nie getan. Vielleicht interessierte es sie auch einfach nicht, was andere über sie dachten. Den Rest des Tages hatte er keine Ruhe gegeben, bis sie ihn mit zu sich nach Hause genommen hatte. Und seitdem waren sie Freunde. Er hatte es immer gewusst. Nicht, dass sie eine Meerjungfrau war, aber selbst als Kind war Fred schon anders als die anderen gewesen. Anders als alle anderen. Ihn hatte das nicht gestört, denn er, der sich für Blumenarrangements interessierte und Farbkarten sammelte, die er nach Ton und Art (matt, glänzend etc.) sortierte, war selbst kein typischer Schuljunge gewesen. Und als sie sich endlich ein Herz gefasst und ihm ihre andere Gestalt gezeigt hatte, war er überrascht, aber nicht abgestoßen gewesen. Und auch nicht entsetzt. Er fand ihren Schwanz hübsch und sagte es ihr auch. Darauf hatte sie gesagt, er solle den Mund halten, was er aber nicht getan hatte. Jetzt lief er ihr also wie so oft nach, zum Teil, weil er sich davon ein bisschen Aufregung versprach, zum Teil, weil er hoffte, einen Blick auf die reizende Dr. Barb werfen zu können. Seit Jahren fragte er sich, wie sich ihr Haar wohl anfühlte, wenn es von diesem blöden Zopf befreit wäre, und ob sie die Augen während eines Orgasmus zukniff oder aufriss oder vielleicht auch ganz schloss. Kurz, er war verknallt, und zwar gründlich. Es war das einzige Geheimnis, das er vor Fred hatte. Allein bei dem Gedanken an ihren Zorn (oder ihre Gleichgültigkeit) fühlte er sich unbehaglich. „Es ist schon recht spät", sagte Fred über ihre Schulter hin7° weg. Sie führte sie zu einem im Dunkeln liegenden Seiteneingang. „Ich glaube nicht, dass noch jemand arbeitet. Hoffentlich nicht. Normalerweise dürfte ich keinen von euch beiden hereinlassen." „Normalerweise bist du eine Zicke", erinnerte er sie. „Halt den Mund." „Halt du doch den Mund." Fred seufzte. „Wann wirst du endlich in die dritte Klasse versetzt?" „Wann unternimmst du endlich etwas gegen deinen Spliss?" Sie strafte ihn mit Nichtachtung, genauso wie Artur, der sie anstarrte. Auch das war nichts Neues. Er hatte es schon lange aufgegeben, sie auf die Typen (oder manchmal auch die Frauen) aufmerksam zu machen, die sie interessiert musterten. Fred war nicht schön im eigentlichen Sinne. Aber sie hatte etwas. Das lag natürlich an ihrem Haar. Dann an den langen Beinen und ihrer Taille, die so schlank war, dass sie beinahe alles tragen konnte und immer gut darin aussah.
Und an ihrer Größe. Er war nur ein paar Zentimeter größer als sie. Alles in allem war sie eine umwerfende, wenn auch ein bisschen Furcht einflößende Frau. Und erst ihr Lächeln! Fred hatte ein wunderschönes Lächeln, wie er zufällig von den drei, möglicherweise auch vier Gelegenheiten in den vergangenen zwanzig Jahren wusste, in denen er in dessen Genuss gekommen war. Und sie hatte viel Humor. Das Problem war ... Er dachte nach. Das Problem war, dass sie einsam war. Und es war nicht schwer zu verstehen, warum. Immer wieder stieß sie alle, die ihr näherkommen wollten, von sich. So kam sie allen zuvor, die sie eventuell irgendwann einmal sitzenlassen würden. Das kleine Einmaleins der Psychologie - schlicht und einfach. 7i „Möglich", erwiderte er. „Aber Dr. Barb hat genauso wenig wie du ein Privatleben." „Sagt der Schwachkopf, der an einem Freitagabend um halb elf Uhr neben mir steht." Sie drehte sich um, trat einen Schritt zurück und kniff prüfend die Augen zusammen. „Wieso erwähnst du ausgerechnet Dr. Barb?" Er tat unschuldig. „Ich will nur, dass du vorsichtig bist." „Hm", sagte sie und wandte sich wieder nach vorn um. Und siehe da, der Gott der sexuell Frustrierten war ihm hold. Die Tür flog auf, und heraus schoss Dr. Barb! Die, wie er zufällig wusste, immer rannte, wie ein Kind. Beinahe wäre sie gegen Fred geprallt, bemerkte es aber rechtzeitig und kam schlitternd zum Stehen. Sie richtete sich auf, blies sich die Ponyfransen aus den Augen und sagte: „Dr. Bimm! Sie sind wieder da. Ich hoffe, zu Hause ist alles in Ordnung?" Sofort packte Jonas Artur und zerrte ihn fort, damit Dr. Barb nicht bemerkte, dass Fred dabei gewesen war, zwei unbefugte Personen mitten in der Nacht in das New England Aquarium zu schmuggeln. In der Nähe des Freiluftseehundbeckens fand er eine passende Ecke, und er zischte: „Leg die Arme um mich." „Pardon?" „So als seien wir Liebhaber." „Nein." „Hör zu", schnauzte Jonas, „mir gefällt das ebenso wenig wie dir, aber du willst doch sicher nicht, dass Fred Ärger bekommt?" Steif wie eine kürzlich zum Leben erwachte Marmorstatue legte Artur die Arme um Jonas Taille. „Nicht so. Du siehst aus, als würde dich jemand mit einer Waffe bedrohen." „Die Aussicht scheint mir im Moment gar nicht so unangenehm." 37 „Mit mehr Gefühl", befahl er. „Zärtlich." „Nein."
„Hör mal, ich würde auch lieber mit ihr turteln." Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. „Aber wir dürfen nicht geschnappt werden. Und Fred soll keinen Ärger bekommen. Also los, nimm mich in die Arme. Jetzt sofort." Aber stattdessen packte ihn Artur beim Hemd und hob ihn hoch, bis sie auf gleicher Augenhöhe waren. Seitdem er versucht hatte, Schokoladenshampoo zu erfinden und dabei das Labor in die Luft gesprengt hatte, hatte er nicht mehr so viel Angst gehabt. „Du rührst sie nicht an", sagte Artur, während Jonas sich wand und um sich trat, die Füße ungefähr dreißig Zentimeter über dem Boden. „Jetzt ebenso wenig wie in Zukunft. Verstanden, Zweibeiner?" „Bin ... keiner ... deiner Untertanen", hustete er. „Vielleicht bringt dir eine Tracht Prügel den nötigen Gehorsam bei." „Dieses Hemd ... kostet ... hundertfünfzig bei Macy's ...", gurgelte er. Artur setzte ihn ab (widerwillig, wie es Jonas schien). „Gut, dass du zur Vernunft gekommen bist", sagte er, strich seine Kleidung glatt und fuhr sich ordnend durchs Haar. „Sonst hätte ich nämlich deinen fischigen Hintern in das Seehundbecken getreten." Artur lachte höflich. „Hast dich wohl in Fred verguckt, was?" Es musste Fred sein. Denn wenn es Dr. Barb wäre, würde es wohl doch noch zu einer Schlägerei kommen müssen. Und dann würde der Prinz aber die Überraschung seines Lebens erleben. „Ich weiß nicht, was das ..." 38 „Doch, das weißt du. Stell dich hinten an, Kumpel. Aber um mich musst du dir keine Sorgen machen. Fred und ich sind nur Freunde. Aber da draußen gibt es noch andere Männer, die sich für sie interessieren. Selbst wenn ..." „Selbstwenn ..." „Sie es nicht bemerkt." Artur nickte und strich sich über den supercoolen Bart. Nicht zu lang und nicht zu kurz - wie der kleine Bär in „Goldlöckchen" war er genau richtig. „Das ist gut", sagte er endlich. „Oh ja, wirklich gut. Hör mal..." „Hallo, ihr Schwachköpfe!" Freds Stimme unterbrach ihre gemütliche Plauderei. „Was ist, kommt ihr endlich?" „Wo ist Dr. Barb?", fragte er und spähte um die Ecke, um zu sehen, ob die Luft rein war. „Sie ist gegangen. Hat dich nicht einmal bemerkt." „Oh", sagte Jonas. Er tat begeistert. „Das ist doch super gelaufen." Fred warf ihm einen nachdenklichen Blick zu und ließ sie in die abgedunkelten Räume des Aquariums eintreten. 38
„Hier irgendwo muss es sein." „Wonach genau suchen wir, Nancy Drew?" Fred blickte Jonas bedeutsam an. In der vierten Klasse waren sie beide verrückt nach Nancy Drew gewesen, hatten die gesamte Reihe gelesen, sich über sie und ihre Freunde und ihren auf wundersame Weise ständig abwesenden Vater unterhalten, und am Ende waren sie beide zu dem Schluss gekommen, dass es ein wahres Wunder war, dass Ms Drew all ihre verrückten Abenteuer überlebt hatte. „Wonach. Suchen. Wir?" „Ich habe dich schon das erste Mal verstanden, Schwachkopf. Nach allem, was Dr. Pearson zurückgelassen haben könnte. Notizen, Tabellen ... irgendetwas." „Mir gefällt es nicht, hier herumzuschleichen", sagte der Prinz und sah sich voller Abscheu in dem engen, vollgestopften Labor um. „Das steht einer königlichen Hoheit nicht an. Ich ziehe es vor zu handeln." „Tu es dem gemeinen Volk zuliebe, okay?" „Ja, genau." Fred nahm ein Klemmbrett in die Hand und vertiefte sich auf der Stelle in die Lektüre. Das war viel interessanter, als den beiden Männern zuzuhören. Wie hielten die Mütter und Ehefrauen dieser Welt dieses Jammern und Klagen bloß aus? „Ich frage mich, warum ich überhaupt hier bin", sagte Jonas gerade und ließ den Blick abwesend durch das Labor gleiten. 39 „Ich habe von all dem keine Ahnung. Wenn ihr euch allerdings über eine Handcreme unterhalten wollt, die ..." „Ich frage mich auch, warum du hier bist." Vor drei Jahren war sie zu dem Schluss gekommen, dass Jonas eine seltsame Zuneigung zu dem New England Aquarium gefasst hatte. Immer wieder schneite er herein und plauderte mit ihrer Chefin und den Kollegen ... selbst mit den Freiwilligen, die im Souvenirladen arbeiteten. Da sie wusste, dass er sich kein bisschen für Ozeane, Meeresleben, ausgestopfte Seehunde oder Pinguine interessierte, fand sie seine häufigen Besuche rätselhaft. „Geh doch." „Vielleicht mache ich das auch." In null Komma nichts war aus Jonas' begeistertem Interesse gähnende Langeweile geworden. Solche Stimmungsumschwünge waren typisch für ihn. „Dann geh", befahl der Prinz. Er setzte sich auf einen Laborhocker und wäre beinahe hintenüber gefallen, als er feststellen musste, dass der Hocker keine Lehne hatte. Fred unterdrückte ein Lächeln und hielt den Blick fest auf das Klemmbrett geheftet. Pearson hatte die Handschrift eines Serienkillers, kaum zu entziffern. Sie überlegte immer noch, ob es sich um eine Auflistung von Toxinen oder seinen Einkaufszettel handelte.
„Du bist ganz schön stark", sagte Jonas, der offensichtlich den Abmarschbefehl des Prinzen überhört hatte, zu Artur. „Fred auch. Ich habe mal zugesehen, wie sie den Kühlschrank ihrer Mutter hochgehoben hat, weil eines meiner Spielzeugautos darunter war." „Das ist interessant. Und außerdem ist es eine zutreffende Beobachtung." „Wahrscheinlich liegt es daran, dass ihr beide Wasserwesen seid, ja? Ich meine, man schwimmt ja nicht Tag und Nacht auf 40 dem Meeresboden herum - mit all dem Druck -, ohne außergewöhnliche Körperkraft zu entwickeln. Ich meine, ihr habt ja echten Druck auszuhalten, nicht diesen ,Die Personalabteilung hasst mich, und ich werde gemobbt'Druck, den wir kennen." „Deswegen musst du dich nicht schämen. Jemand, der Luft atmet, ist von Natur aus viel schwächer." „Äh ... okay, ich bin nicht jemand, der sich schnell schämt, aber trotzdem vielen Dank. Ich wette, du kannst im Dunkeln sehen wie eine Katze." „Was ist eine Katze?" „Weil es doch wahrscheinlich dort unten ganz schön dunkel werden kann, was?" „An vielen Orten ist es dunkel." Der Prinz klang leicht verwirrt. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Wenn er sich erst einmal in ein Problem verbiss, hatte Jonas das Feingefühl eines Pitbulls. „Also sind alle Wasserwesen ..." „Das Unterseevolk", korrigierte ihn der Prinz. Fred unterdrückte den Impuls, die Augen zu verdrehen. Zugegeben, er hätte sich auch einen blöderen Namen aussuchen können, wie Ben-Varry oder Caesg. Sie selbst war im Lauf ihrer eigenen Nachforschungen über Wasserwesen auf viele dämlich klingende Namen und Fakten gestoßen, die zu neunzig Prozent falsch waren. „Richtig, richtig, das meinte ich auch. Das Unterseevolk ist superstark und kann im Dunkeln sehen und ist imstande, Luft und Wasser zu atmen. Übrigens, wie macht man das, Luft und Wasser atmen?" „Wir ... tun es einfach." Artur blickte verwirrt von Fred zu Jonas. „Seid ihr nicht Kameraden? Wie kommt es, dass du solche Dinge nicht über deine Freundin weißt?" „Weil Fred viele dieser Dinge auch nicht weiß. Sie ist unter 40 Menschen aufgewachsen. Zuerst habe ich mich sogar gefragt, ob sie überhaupt ein Säuger ist, weil sie immer so feuchtkalt ist. Meinst du, ihre Mutter hätte sie je zum Arzt gelassen?" „Ich bin nie krank", sagte Fred abwesend.
„Wie dem auch sei, kommen wir zurück zum Thema. Fred hat keine Kiemen. Auch wenn sie einen Schwanz hat." „Ihr Schwanz geht dich nichts an", sagte der Prinz. „Und warum sollte sie? Sie ist nicht zur Hälfte Fisch. Sie gehört zum Unterseevolk. Zu meinem Volk." „Ach, reg dich ab, Hübscher. Sei doch nicht gleich so empfindlich." Zu Freds Befremden fügte er hinzu: „Und kommt ja nicht auf die Idee, mich hochzuheben und wie einen Cocktail zu schütteln." Artur seufzte wie ein Mann, der eine sehr schwere Last schultert. „Wir saugen Luft in unsere Körper, wenn wir an Land sind. Unter Wasser saugen wir die Luft aus dem Wasser." „Okay, das hilft mir weiter. Ich muss aber doch noch mal nachfragen, in Ordnung? Wie bekommt ihr den Sauerstoff aus dem Wasser? Öffnen sich eure Körperzellen irgendwie und packen den Sauerstoff, um ihn eurem Stoffwechsel zuzuführen? Wie bei den Seesternen?" Nahe dran, dachte Fred. Es war schwer zu erklären. Sie dachte nie darüber nach, so wie auch die Menschen sich keine Gedanken über das Atmen machten. Nein, sie hatte keine Kiemen. Und sie war auch nicht halb Frau, halb Fisch, sondern ein Säugetier, das einfach wie ein solches Mischwesen aussah. Ein großes, feindseliges Säugetier, dessen normale Körpertemperatur bei einunddreißig Grad und dessen Herzfrequenz bei dreißig lag. Es war einfach so ... wenn sie im Wasser war, musste sie nie an die Wasseroberfläche, um nach Luft zu schnappen. Ob 41 wohl sie eine promovierte Meeresbiologin war, hatte sie sich seltsamerweise nie Gedanken über ihre eigene biologische Beschaffenheit gemacht. (Obwohl sie es immer lustig gefunden hatte, sich das Gesicht ihres Professors vorzustellen, wenn ihr im Labor für Feuchtanalysen ein Schwanz gewachsen wäre.) „Das führt doch zu nichts", sagte sie, gelangweilt von all dem Gerede darüber, warum sie nicht ertrank, und gereizt von Pearsons unleserlichen Notizen. „Das war eine blöde Idee. Wir hätten zu den üblichen Öffnungszeiten kommen sollen." „Oh, aber natürlich", sagte Jonas schnippisch. „Das wäre ja auch ganz einfach zu erklären gewesen. ,Hi, Dr. Barb, darf ich vorstellen, der Prinz vom Fred sah ihn strafend an. „Musst du nicht irgendwo anders sein?" „So traurig es ist, nein." „Nun, dann lasst uns mal nachdenken. Wenn wir schon einmal hier sind, würde ich gerne noch einmal versuchen, die Fische zu füttern. Das wollte ich ohnehin tun. Und du ... was hast du vor?" „Ich?", fragte Artur, der erschrocken aussah, als sie mit dem Finger auf ihn zeigte.
„Du weißt schon. Du musst bis morgen warten, um den anderen Typen zu treffen, der mich mit unserem kleinen Problem stresst." „Ich werde selbstverständlich mit dir zu deiner Unterkunft gehen." „Was?", rief sie. „Ich habe weder den Platz noch die Geduld für einen königlichen Mitbewohner. Und erwarte nicht, dass ich dich einlade oder so." „Du bist meine Untertanin", sagte er und machte vor Überraschung große Augen. „Selbstverständlich wirst du mir dein Heim zur Verfügung stellen." 42 Jonas kicherte. „Fred, darf ich vorstellen: Artur. Artur, darf ich vorstellen: Fred." „Ich verstehe nicht, was du damit ..." „.Selbstverständlich' tut Fred gar nichts." „Direkt nebenan ist ein Marriott-Hotel":, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wir buchen dir ein Zimmer. Schließlich bleibst du vielleicht noch eine Weile." „Hat der Prinz vom Schwarzen Meer eine American-Ex-press-Karte?", fragte Jonas schadenfroh, der tatsächlich noch nervtötender als gewöhnlich war. Bevor Artur fragen konnte, was er meinte, fügte er hinzu: „Hast du Geld bei dir? Knete? Kohle? Schätze?" Arturs rote Augen leuchteten auf, als er verstand. „Ah! Schätze. Ja, das Meer ist reich an Schätzen. Aber ich ..." „Keine Taschen, was? Hast deine ganzen Dublonen zu Hause gelassen?" „Ja." „Ich nehme das Zimmer auf meine Visa-Karte", knirschte Fred. „Du verweigerst mir dein Heim?" „Ja." „Das kannst du nicht tun." „Es ist ein Ein-Zimmer-Appartement. Klar kann ich." Voller Zorn starrte Artur sie an. Sie starrte zurück. Jonas sah ihnen dabei zu und amüsierte sich prächtig. Darauf starrten ihn beide böse an. „Nun, ich bin sicher, ihr werdet euch einigen." Er hüstelte. „Dann werde ich ... na ja, ich ziehe mich mal zurück. Ruf mich morgen an", sagte er zu Fred. „Hm", sagte sie und blätterte sich durch die Papiere auf Pearsons Schreibtisch. Der Mann war noch nicht einmal drei Tage in 42 der Stadt, und schon sah sein Labor so aus, als sei ein Tsunami hindurchgefegt. Wie er in diesem Durcheinander etwas wiederfinden, geschweige denn an seinem kleinen Problem arbeiten konnte, war ihr ein Rätsel. „Es ist hoffnungslos. Hierherzukommen war nicht gerade die Idee des Jahres. Ich kümmere mich mal lieber um die Fische." Ihr kam ein Gedanke. Sie blickte zu Artur hoch, der sie immer noch aus schmalen Augen betrachtete. „Kannst du gut mit Fischen umgehen? Ich meine, hören sie auf dich?" „Selbstverständlich."
Sie seufzte. „Selbstverständlich." „Selbstverständlich", rief Jonas über seine Schulter zurück, als er ging. „Na, dann wirf dich mal in Schale. Oder was immer du machst." „Übertrage einem Untergebenen diese Routinearbeit", sagte er und tat ihren Job mit einem Wedeln seiner Hand in der Größe eines Baseballhandschuhs ab. „Du musst dich wichtigeren Problemen widmen." „Hier bin ich die Untergebene", fuhr sie ihn an. „Manche von uns müssen für ihren Lebensunterhalt arbeiten, Prinz Artur." Er guckte verblüfft. Seine Augen schimmerten im Dämmerlicht des Labors wie glühende Kohlen unter der Asche. Unheimliche Augen. Aber irgendwie auch interessant. Man konnte kaum den Blick von ihnen lösen. „Ich versichere dir, dass es harte Arbeit war, vom Schwarzen Meer hierherzureisen, um dich zu finden." „Schön für dich. Lass uns gehen." „Wohin?" „Ich möchte dir weitere Untertanen vorstellen." 43 „Diese winzigen Wesen sind nicht meine Untertanen", bemerkte der Prinz und starrte in Main One. Sie befanden sich auf der obersten Ebene des Aquariums, auf dem Beobachtungsdeck, und blickten in das Hauptbecken hinunter. Auf dem Weg nach oben hatte der Prinz das New England Aquarium als „akzeptabel" bezeichnet und entschieden, dass es sich um ein „Miniaturkönigreich" handele. Sie hatte sich eine scharfe Bemerkung verkniffen. Vielleicht hätte er sonst beschlossen, die Anlage zu übernehmen, und dann hätte sie noch ein Problem mehr. „Aber sie werden auf dich hören, oder?" „Manche von ihnen. Die Raubfische." „Und die anderen?" Er lächelte sie an und zeigte seine scharfen Zähne. „Die anderen werden in mir einen Raubfisch sehen und versuchen zu entkommen." Flüchtig stellte sie sich vor, wie sie das Massengemetzel Dr. Barb erklären würde. „Ohhhh...kay. Neuer Plan. Wie wäre es, wenn du einfach hierbleiben würdest? Ich kümmere mich schon selbst darum." Mit Abscheu musterte er den Eimer voller Stinte. „Diese niederen Tätigkeiten sind unter deiner Würde." Jetzt ärgerte sie sich, dass sie Jonas nicht aufgetragen hatte, Artur mitzunehmen. Er hätte ihn im Marriott einchecken können, ihn auf sein Zimmer bringen, seine Kissen aufschütteln und ihm sagen können, wo die guten Bars zu finden waren. 43 Was auch immer. Stattdessen hatte sie ihn nun am Hals. „Warum?"
„Weil...", er suchte nach den richtigen Worten, „weil du über solchen Dingen stehst." Sie betete, dass das Marriott zu so später Stunde noch freie Zimmer hatte. „Warum?" „Weil man dich hegen und pflegen und umwerben und dir jeden Wunsch von den Augen ablesen sollte." Sie starrte ihn an. Er sah auf sie herunter, mit den Händen in den Taschen und einem nachdenklichen, beinahe träumerischen Blick. „Warum?" „Würdest du gern eine Prinzessin sein, kleine Rika? Ich glaube, das würde gut zu dir passen. Sehr gut sogar." „Artur, musst du eigentlich irgendwelche Medikamente nehmen, wenn du dich lange außerhalb des Wassers aufhältst?" Fieberhaft versuchte sie herauszufinden, was mit dem armen Kerl nicht stimmte. „Willst du dich vielleicht ein bisschen hinlegen? Fühlst du dich dehydriert? Hast du Kopfschmerzen? Ich glaube, du bekommst nicht genug Luft. Oder vielleicht bekommst du zu viel Luft. Genau, das wird es sein!" Aufgeregt packte sie ihn am Arm. Eigentlich fühlte er sich ganz in Ordnung an, gar nicht fiebrig, so wie Jonas die wenigen Male, als sie ihn angefasst hatte. „Ist dir schwindelig? Fühlst du dich benommen?" Ohne dass sie es gemerkt hatte, war er ihr näher gerückt. Jetzt war er sehr nahe. Beinahe in Kussdistanz. „Ja", murmelte er. „Ja? Du fühlst dich benommen?" •Ja." „Und als der König dich geschickt hat, hat er dich nicht gewarnt, dass so etwas passieren könnte?" „Genau genommen hat er das nicht getan." 44 „Nun", sagte sie besorgt, „dann solltest du dich wohl lieber hinlegen." „Ja, in der Tat." Seine Hand lag in ihrem Nacken. Wahrscheinlich suchte er Halt, um nicht zu fallen. So allerdings würden sie beide fallen. Sie bezweifelte, dass sie kräftig genug wäre, ihn ... Auf einmal pressten sich seine Lippen heftig auf ihre. Kein zögerliches Streicheln vorab, nein, sein Mund drängte sich an ihren, so fest, dass es fast wehtat, und seine Finger legten sich wie Eisenklammern um ihren Nacken. Das Gefühl war überwältigend. Dieser Kuss war so besitzergreifend, wie es kein anderer jemals in ihrem Leben gewesen war. Empört und überrascht riss sie die Hände hoch, um ihn fortzustoßen, nur seltsamerweise tat sie das dann gar nicht, sondern betastete ihn und ... streichelte sie ihn etwa? War sie etwa diejenige, die zu wenig Luft bekam? Sie schaffte es, sich loszureißen, und lehnte sich keuchend an Pearsons Schreibtisch. „Das ist ... lass das."
„Oh nein, kleine Rika, das werde ich nicht. Es ist noch viel besser, als ich es mir vorgestellt habe, und ich habe eine sehr ... lebhafte Fantasie." Mit offenem Mund starrte sie ihn an, und ihr Gehirn meldete ihr wieder einmal fälschlicherweise, dass die Erdumdrehung an Geschwindigkeit zugenommen hatte. Es war ... es war einfach alles zu viel für sie. Wirklich. Das, was sie in letzter Zeit erlebt hatte, wäre auch für jeden anderen mehr gewesen, als er hätte verkraften können. Ihre Mutter auf allen vieren. Zu erfahren, dass ihr Vater nicht ihr Vater war. Dass ihr Vater tot war. Pearson, der plötzlich auftauchte. Ebenso wie dieser Typ hier. Jemand vergiftete den Hafen. Artur, der an ihr klebte wie eine Klette. Pearson, der ihr zuwinkte - der ihr offenbar bis in die unterste Ebene des Beckens 45 gefolgt war, um ihr zuzuwinken. Pearson, der Bemerkungen über ihr Haar machte. Artur, der ... „Geht es dir gut, kleine Rika?" „Nein." „Das habe ich mir gedacht. Du siehst seltsam aus." „Ich muss arbeiten", sagte sie und fühlte sich dumm dabei. Eigentlich hatte sie etwas anderes sagen wollen. Etwas ganz anderes. Warum fiel ihr nur nicht ein, was? Er zuckte mit den Achseln und wandte ihr den Rücken zu, ließ sie einfach stehen und begann, die Treppe hinunterzugehen. „Dann arbeite. Ich schaue mir derweil die Schaukästen an, wie ein braver zweibeiniger Termite." „Tourist." „Ja, genau, so einer." Sie konnte sich nicht verkneifen zu bemerken: „Iss keins der Ausstellungsstücke", und ergriff dann die Flucht. 45 Auf einem Bein hüpfend versuchte sie, ihren widerspenstigen Schuh abzustreifen. Alles schien sich gegen sie verschworen zu haben: Kleidungsstücke, die Türklinke, der Stint. Atemlos sprang sie ins Wasser und ließ ihren Schwanz wachsen. Fisch-Mädchen bring Fisch. Sie bemerkte, dass es immer noch der Kuss war, der ihr den Atem nahm und sie nach Luft schnappen ließ. Jonas' bohrende Fragen, wie Meerjungfrauen ohne Kiemen atmen konnten ... Fisch-Mädchen Bäng Bäng Fisch-Mädchen Bäng. ... kamen ihr in den Sinn, und ihr fiel auf, dass ihr Mund geschlossen war. Also schnappte sie wohl im Kopf nach Luft. Fisch-Mädchen bring Bäng Bäng Bumm Bumrn. Oder sie bildete sich nur ein, dass sie nach Luft schnappte. Fisch-Mädchen bring Bäng Bäng Bumm Bumm. Oder ... Fisch-Mädchen bring BÄNG BÄNG BUMM BUMM. JETZT HALTET ALLE MAL DIE KLAPPE, ABER SOFORT!
Erschrocken schwamm ein Meerengel gegen ein Korallenriff, torkelte benommen auf sie zu, richtete sich wieder auf und schoss davon. Sie holte tief Luft. Oder dachte zumindest, dass sie es tat. Ja, zuerst musste sie Artur noch heute Nacht ins Marriott Long Wharf verfrachten und dann schleunigst zurück in ihre Woh 46 nung in der Commonwealth Avenue fahren. Morgen war auch noch ein Tag, so hieß es doch. Ja. Morgen würde sie sich darüber Gedanken machen, wie sie sich einen eigensinnigen, großen, enorm starken Mann vom Leibe halten konnte. Sie würde einfach ... verstand er es denn nicht? Das war einfach nicht richtig. Sie bot den Fischen Fisch an, und einige, die sich von ihrem gedanklichen Schimpfen hatten einschüchtern lassen, fraßen auch wirklich. Geistesabwesend fütterte sie ein paar Rifffische und zwei Schildkröten. Die Haie grinsten sie an, als sie an ihr vorbeischwammen, und ignorierten das Futter, das sie ihnen hinhielt. Das war ihr ziemlich egal. Sie hatte andere Sorgen, die ihr zu schaffen machten. So viele, dass sie sich noch nicht einmal darüber freuen konnte, dass einige Fische nachgegeben hatten, ohne dass sie „West End Girls" über die öffentliche Lautsprecheranlage hatte spielen müssen. Zum Beispiel musste sie darüber nachdenken, was wohl die Touristen sagen würden, wenn die Haie sich im falschen Moment über die Meeraale hermachten. Wie der Typ, den sie durch die Glasscheibe sah. Er würde wahrscheinlich durchdrehen, wenn er Zeuge eines solchen Fresswahns würde. Vielleicht stand er auch drauf. Das konnte man keinem an der Nasenspitze ansehen. Aber eigentlich war es verdammt spät für einen Besucher - das Aquarium hatte schon seit mehreren Stunden geschlossen. Gab es hier denn keine Sicherheitskräfte mehr? Was hatte er hier überhaupt zu suchen? Er lehnte an einer der großen Glasscheiben und starrte sie an. Als wenn in diesem Becken nicht 650 andere Fische wären, die er hätte anstarren können. Nein, er musste sich ausgerechnet sie herauspicken. Wann würden die Touristen endlich wieder dorthin verschwin 46 den, wo sie hergekommen waren? War es denn nicht bereits Herbst? Oder? Es war doch Herbst? Gereizt warf sie einen weiteren Stint ins Wasser und funkelte den dunkelhaarigen Gaffer an, um dann erleichtert festzustellen, dass er kein Tourist war, sondern Thomas Pearson. Hmm, noch einer, der kein Privatleben kannte. Er würde perfekt ins NEA passen. Warum sonst würde er zu so später Stunde an einem Freitagabend zurück ins Aquarium gehen?
Und er sah sie direkt an. Offenbar gönnte er den Toxinen eine Pause. War das nun schmeichelhaft oder ärgerlich? Du hast einen Schwanz. Sie hatte einen Schwanz. Arturs Fummelei vorhin hatte sie so durcheinandergebracht, dass sie vollständig vergessen hatte, dass ... Durch das Wasserbecken hindurch, in dem sich die Fische tummelten, trafen sich ihre Blicke. Thomas drückte das Gesicht fest gegen das Glas, „damit ich dich besser sehen kann". Seine Hände klebten flach an der Scheibe, die von seinem Atem beschlagen war. Dann war er verschwunden. Sie ließ den Stint fallen, hob die Arme über den Kopf und stieß sich mit einem kräftigen Schlag ihres Schwanzes nach oben. Sie dachte: Jetzt rennt er gerade die Treppe hinauf. Das sind drei Stockwerke, die er bewältigen muss. Ich kann ... Was konnte sie? Ihren großen, weißen Hintern aus dem Becken hieven, sich abtrocknen, anziehen und so tun, als sei eine andere grünhaarige Meerjungfrau im Becken des New England Aquarium gewesen? Sie packte den Rand des Beckens und schlug mit dem Schwanz, gerade als Thomas in den Beobachtungsraum stürzte. 47 Er atmete schwer, und das schwarze Haar fiel ihm in die Augen. Er schüttelte sich die Strähnen aus dem Gesicht, umklammerte seinen Hemdkragen und riss daran, bis der oberste Knopf abflog und sein Hals zum Vorschein kam. Er schnappte nach Luft und sie dachte: Ein Glück, dass er keine Krawatte trägt, sonst hätte er sich wohl erwürgt. Er zeigte mit dem Finger auf sie, und seine großen dunklen Augen traten beinahe aus den Höhlen. „Ich wusste es!", schrie er. „Ich wusste, dass du anders bist als die anderen!" „Dr. Pearson", begann sie, brach dann aber verblüfft ab, als er zu ihr gerannt kam, das Gleichgewicht verlor und auf den Knien bis an den Rand des Beckens rutschte, sich nach vorn beugte und sie mitten auf den Mund küsste. Okay. Das ist dann wohl einer dieser Tage, an dem Männer, die ich gerade erst kennengelernt habe, die Finger nicht von mir lassen können. „Dr. Pearson", setzte sie noch einmal an, aber es kam nur „ffgggrrrlll" heraus, weil er sie immer noch küsste. Und sie küsste ihn zurück, während sie sich an seinem Hemd festhielt, um nicht wieder zurück ins Becken zu plumpsen. Seine Lippen waren warm; sie brannten auf ihren. Er setzte sie mit seinen Küssen in Flammen, und sie fand es alles andere als unangenehm. Ja, wirklich. Seine Hände auf ihren Schultern waren ebenso heiß wie seine Lippen, und sie stellte sich vor, mit ihm an einem kalten Wintertag im Bett unter der Decke zu kuscheln, wenn das einzige Mittel, um sich warm zu halten ...
Merkwürdig, auf einmal war er fort. Als wenn er teleportiert worden wäre. Oder von hinten gepackt und von ihr weggerissen. Aber Pearson war groß. Wer hätte genügend Kraft, um ... „Artur, nicht!" 48 Fast hätte sie die Hände vor das Gesicht geschlagen, um dem Anblick, der sich ihr bot, zu entgehen. Pearson, der erstaunt aussah. Artur, die roten Augen zu wütenden Schlitzen zusammengekniffen. Pearson, der auch nicht gerade glücklich aussah. Sie öffnete den Mund, um etwas zu schreien. Aber ihr fiel nichts ein. Dann stieß Thomas den Ellbogen zurück und traf Artur an der Kehle. Der riesige Rotschopf lockerte daraufhin seinen Griff, sodass Pearson, wie Fred bemerkte ... ja, den Griff kannte sie von Jonas' Selbstverteidigungsturnieren. Thomas packte Arturs linken Arm und warf ihn über seine Schulter, direkt in Main One. Mit einem spektakulären Platschen ging Artur unter, zappelte einen Moment lang herum und kam dann neben Fred wieder an die Wasseroberfläche, während seine Shorts an den Boden des Beckens sanken und dort kurzzeitig eine Wasserschildkröte bedeckten. Arturs Schwanz war im Wasser gut zu erkennen -besser noch als Freds. Verblüfft stierte Thomas auf sie herunter. Sie starrten zu ihm zurück. „Okay", sagte Thomas nach einer Weile. „Ich brauche mal eine Minute." Und er setzte sich auf den Boden, stützte erschöpft das Kinn in die Hände und betrachtete sie mit einem leicht dümmlichen Blick. 48 „Bis du kamst, hat niemand außer Jonas von meinem Geheimnis gewusst", schimpfte Fred. „Du musst dein wahres Ich nicht verstecken." „Wer sagt denn, dass Beine nicht zu meinem wahren Ich gehören? Ich bin ebenso Mensch wie Meerjungfrau." „Du gehörst zum Unterseevolk." „Du brauchst mich nicht zu verbessern! Und wenn ich mich Havfrue nennen wollte, dann wäre das allein meine Sache." „Havfrue?" „Eine skandinavische Meerjungfrau", rief Thomas ihnen zu, der sie immer noch anstarrte wie ein Kind, das seine Samstag morgendliche Dröhnung an Zeichentrickfilmen bekam. „Richtig. Oder eine ... warte." Sie musterte Thomas genauer, der, wie sie erleichtert feststellte, nicht mehr aussah, als würde er gleich einen Schlaganfall bekommen. „Oh nein." Er zuckte die Achseln. „Ich fürchte, doch." „Was?", fragte Artur scharf.
„Ein Meerjungfrau-Groupie", seufzte Fred. An der Uni hatte sie festgestellt, dass es drei Sorten von Doktoranden gab: Frauen, die Delfine schon als kleines Mädchen süüüüß fanden (wie Madison also, die Nervensäge); Männer und Frauen, die ein neues Arzneimittel erfinden und damit in der Pharmaindustrie dicke Kohle machen wollten (die Gierigen also); und Männer, die erotische Fantasien von Meerjungfrauen hatten. Thomas, so schien es, interessierte sich weder für Pharmazie noch für Delfine. 49 „Ich bin gar nicht überrascht", sagte Thomas gerade. „Das ist es, was mich so überrascht." „Klar. Und weil du so gar nicht überrascht warst, bist du auch hier herumgewankt, als würdest du jeden Moment einen Myokardinfarkt bekommen." „Myokardinfarkt?", fragte Artur. „Einen Herzanfall." „Okay, ich gebe zu, es hat mich kalt erwischt - jedenfalls für ein paar Minuten. Aber jetzt habe ich mich wieder erholt", sagte er, immer noch bleich. „Weil ich nämlich diese Theorie habe, seit ich acht bin ..." „Ja ja, schon gut. Aus der Theorie wurde Praxis." Er kroch näher. „Offenbar bist du mehr der Daryl-Hannah-Typ als der HansChristian-Andersen-Typ ..." „Das reicht", sagte sie, doch immer noch recht freundlich. „Ist das der Zweibeiner, den du mir vorstellen wolltest?" „Hä? Oh. Prinz Artur, das ist Dr. Thomas Pearson. Thomas, darf ich vorstellen, Artur, Großprinz vom Schwarzen Meer." Während sie sprach, war Thomas bis an den Rand des Beckens gerutscht und streckte jetzt die Hand aus. Artur reckte sich hoch, balancierte auf seinem Schwanz wie ein Delfin, und sie schüttelten sich die Hand. Ganz damit beschäftigt, sie beide nicht allzu offen anzustarren, wäre Thomas beinahe ins Wasser gefallen. „Schön, Sie kennenzulernen. Tut mir leid, dass ich Sie ins Becken geworfen habe. Ich war wohl ein bisschen überrascht." „In der Tat", sagte Artur trocken. „Auch ich war überrascht, als ich Ihren Mund auf dem meiner Untertanin sah." „Ich bin nicht deine Untertanin, Artur. Ich meine es ernst, Artur, hör auf damit. Ich bin in Quincy geboren, Herrgott noch mal. Ich habe die amerikanische Staatsbürgerschaft, verstanden?" 49 „Für mich sieht das aus wie eine doppelte Staatsbürgerschaft", sagte Thomas und staunte ihren Schwanz an. „Vielen Dank auch. Du bist mir eine große Hilfe." „Ohne meine Erlaubnis dürfen Sie nicht Ihren Mund auf ihren ... Aua."
„Ich gebe mir wirklich Mühe, euch nicht anzustarren, das ist nicht einfach, wenn ihr immer wieder etwas macht, was es sich lohnt anzusehen. Dieser Schwinger eben, zum Beispiel. Hat das nicht höllisch wehgetan?" „Ja", sagte Artur, der vorsichtig die Stelle unter seinem Auge betastete. „Auch ohne deine komischen Besitzansprüche haben wir genug Probleme. Und wenn ich von allen zwölf Boston Celtics geküsst werden wollte, wäre das immer noch allein meine Sache. Nicht deine." „Ganz genau", sagte Thomas. „Du bist gleich dran." Er rückte ein wenig vom Becken ab. „Wenn meine Theorie über den evolutionären Unterschied in körperlicher Kraft zwischen Zweibeiner und Meerjungfrauen stimmt, dann will ich lieber nicht von dir geschlagen werden." „Und du machst es mir auch nicht gerade leichter. Hört auf, mich zu betatschen und zu küssen. Das gilt für euch beide." Noch nie in ihrem Leben hatte sie diese Worte sagen müssen. Und nie im Leben hätte sie sich vorgestellt, dass es einmal Umstände geben würde, unter denen sie diese Worte über die Lippen bringen würde. „Dann gibt es für mich nichts mehr zu tun", grinste Thomas. „Oh doch. Es gibt sehr viel zu tun. Artur ist auf dein Problem mit den Toxinen gestoßen", sagte sie zu Thomas. „Ich dachte, ihr könntet euch zusammentun." 50 „Hm", sagte Thomas und beäugte Artur. „Das ist sehr interessant. Ich nehme an, ihr würdet das Zeug viel eher bemerken als ich. Wohnen Sie hier in der Nähe?" „Nein, ich wohne auf der anderen Seite der Erde. Einige aus unserem Volk waren hier in der Gegend und haben uns darüber berichtet. Als dies meinem Vater, dem Großkönig, zu Ohren kam, hat er mich mit der Aufgabe einer Nachforschung betraut." „Dann ist der königliche Palast oder das Korallenriff oder was auch immer im Schwarzen Meer?" Ja." „Ich frage mich, warum es so lange gedauert hat, bis die Nachricht ..." „Von uns gibt es nur ungefähr eine Million auf der Erde." „Oh. Aha. Hm. Und da die Erde größtenteils mit Wasser bedeckt ist..." „Genau." Genau, das war das richtige Wort. Das erklärte, warum Fred nie auf einen ihrer Art getroffen war, obwohl sie einmal die gesamte Ostküste entlang geschwommen war. Telepathie wirkte wohl auch nur über eine gewisse Distanz hinweg, überlegte sie. „Aber wie ..." „Wisst ihr, diese Frage habe ich gerade vor einer halben Stunde mit Jonas durchgekaut", schnitt Fred ihm das Wort ab. „Warum lasst ihr mich nicht einfach allein und lernt euch näher kennen?"
Beide sahen sie verblüfft an. „Was soll das heißen?" „Die Frage meiner Unterkunft ist noch nicht geklärt." „Mag sein, aber jetzt hast du jemand anderen, mit dem du sie klären kannst." Stirnrunzelnd betrachteten sie einander, um sie dann wieder 51 mit saurer Miene anzusehen. Sie erklärte es ihnen. „Ihr passt zusammen wie Nick Nolte und Eddie Murphy. Oder Owen Wilson und jeder andere. Löst den Fall. Und ich ..." Widme mich wieder meinem Alltag, dachte sie. Ihrem netten, langweiligen, geordneten, unkomplizierten Alltag. Warum bloß war der Gedanke nicht halb so verlockend wie noch heute Morgen? „Aber du musst uns helfen", sagte Thomas genau in dem Moment, als Artur polterte: „Es steht dir nicht zu, deine Pflichten zu missachten." Und dann hielten sie ihr beide gleichzeitig einen Vortrag über die Unantastbarkeit der Meere und ihre Pflicht sowohl als Wissenschaftlerin als auch als Meerjungfrau und dass drei Köpfe besser seien als zwei und dass sie es ihrem Prinzen und ihrer Karriere schuldete, blablabla, bis sie schließlich schrie: „Ist ja gut, ich helfe euch, aber seid endlich still." Thomas lehnte sich zurück und lächelte. „Alles klaro." Doch als auch Artur lächelte, verging ihm das Lächeln. „Wohl gesprochen." „Dann ist es also beschlossen." „In der Tat. Und wohl gesprochen." Flüchtig spielte Fred mit dem Gedanken, in das Hafenwasser zu springen, zum Horizont zu schwimmen und nicht zurückzuschauen. Nicht ein einziges Mal. 51 „Da wären wir", verkündete Thomas, zog seine Schlüsselkarte durch das Türschloss und stieß die Tür zur Präsidentensuite auf. „Groß, aber nicht mein", sagte er fröhlich. Fred, die in weitaus bescheideneren Verhältnissen aufgewachsen war, und Artur, der königliche Sohn, waren beeindruckt und sagten das auch. Thomas zuckte die Achseln. „Nun, wie ich an meinem ersten Tag bereits sagte ... du erinnerst dich vielleicht", sagte er zu Fred, „schreibe ich Liebesromane." „Natürlich erinnere ich mich", sagte sie. „Das war", sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, „vorgestern." „Richtig. Das ist wirklich erst zwei Tage her!" „Wem sagst du das", murmelte sie. „Naja, wenn ich herumreise und meine Forschungen betreibe, versuche ich immer, selbst für die Kosten meiner Unterkunft aufzukommen. Für mich ist das eine Kleinigkeit, aber für sie bedeutet es viel. Du weißt ja selbst, wie diese Wasserforschungsprojekte ..."
Fred nickte. Als Artur sie verwirrt ansah, erklärte sie: „Vielen der Postdoktoranden-Projekte wurden die staatlichen Zuschüsse gekürzt. Oder ihnen stand von Anfang an nicht viel zur Verfügung. Und das betrifft nicht nur diese speziellen Projekte. Fast alle Aquarien im Land sind auf private Spenden angewiesen." Arturs Lippen wurden schmal. „Das war mir nicht bekannt, 52 aber es ist auch keine Überraschung für mich." Und einstimmig sagten sie: „Zweibeiner." „Hört ihr wohl damit auf, sagte Thomas und warf die Schlüsselkarte auf den zwei Meter fünfzig langen Esstisch aus Mahagoni. „Wir sind nicht alle so. Ich bin derjenige, der versucht, dieses Problem mit den Toxinen aufzuklären, muss ich euch daran erinnern?" „Herzlichen Glückwunsch", sagte Artur, während er durch die Suite schlenderte. „Einer von tausend Zweibeinern ist sich bewusst darüber, dass dieser Planet nicht dazu da ist, damit ihr ihn zerstören könnt." Fred schnaubte, und Thomas sagte: „Jetzt bist du einfach nur gemein, lieber Freund. Ah, das zweite Schlafzimmer ist dort hinten links. Dort gibt es auch ein weiteres Bad." Als Artur verschwand, winkte Thomas sie zu sich. Neugierig ging Fred zu ihm. Er legte seine warmen Hände auf ihre Schultern, beugte sich zu ihr hinunter und flüsterte: „Für dich ist auch noch genug Platz." Sie packte seine Hände, seinen Schmerzensschrei ignorierend, und schob sie weg. „Sehr verlockend! Aber danke, nein." „Aua, aua. Ich meinte, dass die Sofas ausklappbar sind." „Oh, das ist sogar noch verlockender. Dann soll ich also auf einer Stange schlafen, während ihr beide nach einem erholsamen Schlaf auf Queen-SizeMatratzen die Welt rettet." „King-Size. Und ich war nicht scharf darauf, mich mit Aqua-man zusammenzutun", maulte er. „Das war deine Idee." Dann fügte er hastig hinzu: „Nicht, dass das ein Problem für mich wäre. Ich habe ungefähr tausend Fragen, die ich ihm stellen möchte. Meinst du, er lässt mich einen MRI bei ihm machen?" „Das bezweifle ich. Aber du kannst ihn ja mal fragen." Sie fühlte sich nicht ganz auf der Höhe, und während sie darüber 52 nachdachte, ob sie gehen oder bleiben sollte (ein klares Zeichen dafür, dass sie tatsächlich nicht ganz auf der Höhe war, denn gewöhnlich dachte sie nicht lange nach, sondern ging ganz einfach), schlenderte sie durch die Suite. Mit Goldbrokat bezogene Sofas, knöcheltiefe Teppiche, dunkles Holz, wo sie auch hinsah, drei Telefone (mehr konnte sie zumindest nicht entdecken), eine
Bar, ein Plasmabildschirm, vier Tische und ein Kamin ... und das war nur das Wohnzimmer! Wie würde erst das Schlafzimmer aussehen? „Kleine Rika", rief Artur. „Komm her!" Thomas grinste. „Ich glaube, ich muss nur ein oder zwei Tage Geduld haben und er ..." „Und was?" „Schon gut." Mit einem warnenden Blick über die Schulter stapfte Fred in Richtung Badezimmer. Der einzige Grund, warum ich jetzt zu ihm gehe, ist, um dem anderen zu zeigen, dass . .. was? Vielleicht lohnt es sich, kurz darüber nachzudenken .. . „Ruf mich nicht wie einen Hund", begann sie und stieß die Badezimmertür auf. „Und ..." Sie verstummte. Artur stand, die Hände in den Hüften, in all seiner nackten Pracht (vielleicht hatte das Mantra ihrer Mutter, dass Nacktheit natürlich und schön sei, doch etwas für sich) vor einer Dusche mit Doppelduschkopf in einem Badezimmer, das so aussah, als wäre es noch ein bisschen komplizierter als das Cockpit der Air Force One. Sie betete inständig, dass er eine Toilette zu bedienen wusste. „Ich verstehe das Problem. Lass mal sehen. Du musst nur den Knopf hier drehen und diesen hier ..." Als sie sich vorbeugte, fühlte sie, wie sein Arm sich um ihre Taille legte, seufzte, drehte das Wasser voll auf und richtete den Duschkopf direkt auf sein Gesicht. 53 „Arrrghh! Nun gut, kleine Rika, ich unterlasse es." Er tastete blind nach einem Handtuch, und Fred reichte es ihm. Während er sich das Gesicht abtupfte, ergänzte er: „Vorerst." „Aha. Naja, im Moment bist du ja auch versorgt. Es war sehr nett von Thomas, dich in seiner Suite wohnen zu ..." „Ich bin mir meiner Pflichten gegenüber meinem Gastgeber wohl bewusst", sagte er beleidigt. „Ich kann auch nichts dafür, wenn ich lieber einen anderen gehabt hätte." „Super. Das ist schon mal ein Anfang. Nur weiter so. Ich gehe jetzt." „Du gehst?" Artur guckte (und klang) alarmiert. „Aber hier ist doch auch noch für dich genug Platz." „Ein Plätzchen zum Schlafen zu finden, ist ja auch nicht das Problem." „Sondern?" Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Er lächelte. „Ah. Das." „Ja. Das. Und deswegen, mein Prinz, sage ich Euch Lebewohl." „Die Worte scheinen richtig gewählt", sagte er misstrauisch, „allein dein Ton ..." „Dir kann man aber auch gar nichts vormachen, mein Hübscher." Sie drehte sich um und ging. Er brüllte ihr nach: „Dann ist dir mein Anblick also angenehm?", aber sie antwortete nicht. Unterdessen hatte Thomas seine Taschen geleert. Sie unterdrückte ein Lächeln. Er trug mehr Krimskrams mit sich herum als ein kleines Kind. Sein
Handy, Kleingeld (in mehreren Währungen), ein Geldclip, eine Schnur (eine Schnur?), ein Ohrring (?), ein abgebrochener Bleistift und eine Monatskarte der U-Bahn lagen über einen Tisch verstreut, von dem sie vermutete, 54 dass er bereits mit der Niña herübergebracht worden war. Er tippte gerade wild auf die Tastatur des Handys ein, hob aber den Blick, als sie ins Zimmer trat. „Gehst du?" „Ja." „Schon?" „Endlich." „Ich bringe dich zur Tür." „Die Tür ist keine zwei Meter entfernt. Ich finde mich schon allein zurecht." „Aber, aber, was wäre ich denn für ein Gastgeber, wenn ich meine Pflichten vernachlässigen würde?" Er eilte an ihre Seite. „Oje." „Herr im Himmel, was ist denn jetzt schon wieder?" „Sieh doch." Er hielt etwas Gelbes über ihren Kopf. „Ein Mistelzweig!", sagte er strahlend und beugte sich vor, um sie zu küssen. Doch da sie im selben Moment hochblickte, traf er nur ihr Kinn. „Das", klärte sie ihn auf, „ist Ahorn." „Ach ja?", fragte der Wissenschaftler verwundert, jaulte auf und sprang aus dem Weg, als sie die Tür aufriss. „Aua, geh noch nicht. Es ist doch noch früh. He, Artur! Sie geht!" „Dessen bin ich mir bewusst", ließ sich Arturs Stimme vernehmen. „Dann bis morgen." Fred fand, man müsste es ihr hoch anrechnen, dass sie es ohne Seufzen herausgebracht hatte. 54 Als Jonas das N E A erreichte, hörte er bereits von Weitem Arturs Gebrüll. „Ich hasse es, nichts zu tun. Ich bestehe darauf, dass wir sofort etwas unternehmen!" Wow! Jonas flitzte in die Quallenausstellung, denn Fred hatte versprochen, dass er sie dort alle drei finden würde, wenn das Aquarium am nächsten Morgen öffnete. Er winkte der älteren Dame an der Kasse mit seiner Eintrittskarte zu und rannte an den Pinguinen vorbei, die Nüstern gebläht, als er den Fischgeruch wahrnahm, von dem er wusste, dass er ihn in fünf Minuten nicht mehr bemerken würde. Bevor er ihre genaue Position aus Arturs Schrei ausmachen konnte, wurde er von einer hübschen, kleinen Blondine abgefangen, die ihm ein Blatt mit Veranstaltungen unter die Nase hielt. „Hi! Willkommen im NEA! Möchten Sie unseren Veranstaltungsplan für die Seehund-Shows?"
Er drosselte das Tempo, um sie genauer zu betrachten. Sie war wirklich sehr hübsch. Ein bisschen schrill vielleicht und beunruhigend fröhlich und munter, aber angenehm fürs Auge. „Ich war schon oft hier", sagte er ihr und nahm den „I love Dolphins"-Pin auf der linken Brust zur Kenntnis. Aha! Die nervtötende Praktikantin, über die Fred geschimpft hatte. „Ich kenne fast alle Zeitpläne auswendig." „Eine Gedächtnisstütze kann nie schaden", kicherte sie und wedelte mit dem Blatt Papier vor seiner Nase herum. 55 „Sie müssen die neue Praktikantin sein." „Richtig! Ganz genau! Ich heiße Madison. Sagen Sie mal, wenn Sie sich hier so gut auskennen, dann können Sie mich ja vielleicht ein bisschen herumführen." Sie kicherte wieder und bedeckte den Mund mit ihren perfekt manikürten Fingern. „Das ist ein nettes Angebot, aber ich bin mit einer Freundin verabredet." „Oh." Sie machte einen Schmollmund. Das machte sie sehr gut, und er hatte den Eindruck, dass sie das auch wusste. „Vielleicht das nächste Mal." „Ja, vielleicht. Nett, Sie kennengelernt zu haben, Madison." Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Fred das arme Mädchen erwürgte. Er gab ihr zweiundsiebzig Stunden. Die reizende Praktikantin zurücklassend, erblickte Jonas Fred, Artur und Thomas und näherte sich der Gruppe von hinten. Sie standen dicht zusammen. Im Neonlicht leuchtete Freds Haar wie blaue Zuckerwatte. Artur und ein anderer Typ drängten sich ... schützend? ... an sie. Jonas kam schlitternd zum Stehen und sah noch einmal genauer hin. Der riesige Artur mit seinen breiten Schultern und dem Haar, das aussah, als stände es in Flammen - vor allem jetzt, bei all dem Herumgeschreie -, war nicht zu übersehen. Das Gleiche galt für Fred, die (vergeblich) versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen, die dürren Arme wie Scheibenwischer von sich gestreckt in dem Bemühen, ihn zu beruhigen - eine für Fred sehr untypische Geste. Aber auch die dritte Person nahm sehr viel Platz ein. Der Mann war fast so groß wie Artur, fast genauso breitschultrig, hatte dunkle statt feuerrote Haare, aber einen intensiveren Blick. Er fuchtelte mit den Armen herum und versuchte, sich trotz Arturs Brüllen Gehör zu verschaffen. 55 Der neue Postdoc! Also hatte Fred sie tatsächlich wie geplant zusammengebracht. Aber sie war sie immer noch nicht losgeworden, und das war, wie er genau wusste, nicht geplant gewesen. Jonas unterdrückte ein Kichern. Junge, Junge! Ich habe nichts verpasst! Er eilte zu der Gruppe hinüber und hätte dabei beinahe eine Busladung Pfadfinderinnen über den Haufen gerannt.
„Hallo", keuchte er, „was habe ich verpasst?" Die kleine Runde verstummte mitten im Streit und drehte sich zu ihm um. „Nun, der Prinz vom Schwarzen Meer glaubt nicht an wissenschaftliche Methoden", begann Fred und wischte sich gereizt eine Haarlocke aus den Augen. „Lieber möchte er sofort in den Hafen springen und richtig durchgreifen. Als wenn es so einfach wäre." „Das habe ich nicht ..." „Und Thomas findet, dass wir noch ein paar Nachforschungen mehr anstellen sollten, bevor wir eine gerichtliche Verfügung beantragen, und als Artur erfahren hat, dass eine gerichtliche Verfügung im Wesentlichen ein eindringlich formuliertes beschriebenes Blatt Papier ist..." Er winkte ab, um ihr weitere Erklärungen zu ersparen. „Ist gut. Ich verstehe schon." Er streckte die Hand aus, und der verständnislos dreinschauende Postdoc schüttelte sie. „Hi, Jonas Carrey. Freds bester Freund. Ihr ältester, bester, liebster Freund. Der", sagte er, um den Neuen zu testen, „vor dem sie keine Geheimnisse hat." „Ich weiß, dass sie Wasserwesen sind, wenn es das ist, worauf Sie anspielen." „Oh gut, dann sind wir ja alle auf demselben Informationsstand." 56 „Ich fürchte, das stimmt nicht", grummelte Fred. Sie sah zerknittert und mitgenommen aus in ihrem „Nantucket"-T-Shirt, den abgeschnittenen Hosen (die Beine in unterschiedlicher Länge, wie er innerlich stöhnend feststellte) und Sandalen. Mit Grauen sah er, in welchem Zustand sich ihre Sandalen befanden, aber wie gewöhnlich konnte Fred auch so etwas tragen. Oder besser gesagt, niemand sah auf ihre Kleider, sondern nur auf sie. Diese Herren zumindest interessierte es nicht die Bohne, ob Fred unordentlich gekleidet war, und seitdem der erste Teil von Fluch der Karibik auf DVD erschienen war keine Pediküre mehr genossen hatte. Stattdessen sahen sie sie an, wie Jonas einen Teller frisch gekochte, mit Meersalz bestreute Edamame. Er machte den Versuch dazwischen zugehen. „Komm schon, Artur, so etwas dauert länger als einen halben Tag. Der einzige Grund, warum Dr. Pearson ..." „Thomas." „... Tom ..." „Thomas." „Herrgott, du bist erst einen Tag mit Fred zusammen und sieh, was aus dir geworden ist! Okay, okay. Thomas ist mit dabei, damit er den langweiligen Papierkram erledigen kann. Das ist der einzige Grund." „Vielen Dank. Du weißt wirklich, wie man jemanden willkommen heißt. Warum bist du denn mit dabei?" „Weil wir ihn umbringen müssten, um ihn loszuwerden", murmelte Fred. Sie sah furchtbar aus, selbst für ihre Verhältnisse. Jetzt, aus der Nähe, sah er die dunklen Ränder unter ihren Augen, beinahe wie blaue Flecken. Er hatte eine
Ahnung, was sie die ganze Nacht wachgehalten hatte. „Unterschätze ihn nicht, Thomas. Er kann uns Sandwiches holen und Besorgungen 57 machen. Er kennt alle Kellnerinnen von hier bis zur Commonwealth Avenue." „Das stimmt", sagte er bescheiden und insgeheim gekränkt, dass man ihn auf den Sandwich-Boy reduziert hatte. „Dieses endlose Geschwätz ist unerträglich." „Das meine ich aus deinem Gejammere herausgehört zu haben." „Königssöhne jammern nicht." Thomas und Fred schnaubten gleichzeitig verächtlich. „Artur, gib uns nur noch ein paar Tage. Wir ..." Fred sah sich um, zog Jonas näher zu sich, und sie steckten die Köpfe zusammen wie zu einer seltsamen, gattungsübergreifenden Spielzugbesprechung beim Football. „Thomas hat schon einige Infos zusammengetragen. Wir müssen die Quelle ausfindig machen. Dazu können wir nicht einfach in den Hafen latschen und uns jeden x-Beliebigen vorknöpfen." „Das stimmt", sagte Jonas, „x-beliebig ist nie gut. Obwohl da gab es mal dieses Mädchen in Revere, das ..." „Und was mache ich in der Zwischenzeit?" Zuerst hatte Artur erschrocken ausgesehen, als Fred und Jonas ihm den Arm um die Schultern gelegt und ihn zu sich herangezogen hatten, aber jetzt war er ganz eindeutig frustriert - mehr als eindeutig in dieser merkwürdigen, gebückten Stellung. Einen Moment lang hatte Jonas Mitleid mit diesem Kerl, der wahrscheinlich sonst in seiner Freizeit mit großen weißen Haien rang. Und wahrscheinlich wollte er sich Thomas gegenüber keine Blöße geben, auch wenn es der Sache dienlich gewesen wäre. „Wir verschwenden nur Zeit und das ..." „Ja, das haben wir verstanden." Fred schnitt ihm das Wort ab. „Die ganze Situation ist doch schon schräg genug, du musst doch nicht noch dazu beitragen, indem du ..." 57 „Dr. Bimm?" Fred stöhnte hörbar auf, während Jonas insgeheim hocherfreut war. Ein aufregender Morgen, der nun dadurch gekrönt wurde, dass die reizende ... Er wandte sich um. „Dr. Barb!" Sein lauter Gruß erschreckte Dr. Barb anscheinend, wie Jonas reuig feststellte. „Oh. Ah ... hallo, Jonas. Dr. Bimm. Dr. Pearson. Äh ..." Sie legte den Kopf in den Nacken - sehr weit nach hinten -, um zu Artur aufschauen zu können. „Sir, ich muss Ihnen leider sagen, dass Sie mit Ihrer Lautstärke die anderen Besucher erschrecken." „Deswegen reden wir gerade mit ihm", sagte Fred. „Was?", sagte Thomas. Und dann: „Ja, richtig! Dr. Bimm und ich, die wir beide kein Privatleben haben, sind in aller Herrgottsfrühe an einem Samstag
zur Arbeit erschienen, aber auf unserem Weg zum Labor, als wir bei der Quallen-Abteilung angekommen waren, ist uns dieser Typ hier aufgefallen, der Krawall machte, und wir sind hergekommen, um zu sehen, ob wir ihn nach draußen begleiten können." Dann fügte er leiser hinzu: „Es würde mir nichts ausmachen, ihn mir noch mal vorzuknöpfen." „Oh." Dr. Barb schaute verwirrt - zum einen wohl wegen der zungenfertigen Antwort, zum anderen bei der Vorstellung, dass Fred a) einen Touristen bemerkte, b) sich an einem Krawall machenden Touristen störte und c) tatsächlich etwas dagegen unternahm. „Ah gute Arbeit, Dr. Pearson. Dr. Bimm. Aber für solche Situationen haben wir, äh, den Sicherheitsdienst." Fred ließ ein Geräusch hören, das sehr wie „Ha!" klang. Es folgte eine peinliche Stille. Um sie herum plauderten die Besucher, und das Getöse war recht laut, aber die fünf schauten sich nur an. Keiner sagte etwas. Selbst die Leuchtqualle 58 schwebte schweigend durchs Wasser. In diese merkwürdige Stille hinein, wie sie sich manchmal über eine große Menge legt, hörte man deutlich Madisons Stimme, die sagte: „Ja, ich schreibe meine Hausarbeit über die Delfine im Bostoner Hafen." Das allerdings ließ Fred aufhorchen. Sie zischte: „Du meine Güte!" „Dr. Bimm." „Es gibt keine Delfine im Bostoner Hafen!" Dr. Barb seufzte. „Dr. Bimm." „Wie hat es diese Dumpfbacke überhaupt an die Northeastern University geschafft? Und warum, zum Teufel, haben wir sie jetzt am Hals?" „Dr. Bimm. Vergessen Sie nicht, dass das NEA auf großzügige Spenden angewiesen ist." Dr. Barb tanzte von einem Fuß auf den anderen - kleine Füße in schwarzen Schuhen mit flachem Absatz. Wahrscheinlich, dachte er, würde sie jetzt viel lieber kurz um das Hummerbecken joggen. Dann sagte sie: „Aus welchem Grund sind Sie überhaupt anwesend heute Morgen? Niemand von Ihnen hat Dienst." „Äh", sagte Fred und sah Jonas an. Anscheinend war die Nacht für alle drei recht lang gewesen, denn sie guckten allesamt ein wenig hilflos aus der Wäsche. „Wir ..." Jonas hüstelte. „Dr. Barb, haben Sie schon gefrühstückt?" „Ich ... Wie bitte?" „Die erste Mahlzeit des Tages! Das ist die Wichtigste. Gibt Ihnen die notwendige Energie bis zum Mittagessen. Eier? Speck? Pfannkuchen mit echtem Ahornsirup aus Vermont?" Als wenn in New England ein anderer Sirup geduldet würde. „Ich habe ein wenig Joghurt gegessen", erwiderte sie und 58
blinzelte ihn aus ihren exotischen Mandelaugen an. Ohhhh, er bekam wieder dieses zittrige und dennoch feste Gefühl, wie immer, wenn er mit Dr. Barb sprach. Und das nicht nur, weil er wusste, dass sie nach dem Umstyling, das er mit ihr machen könnte, sensationell aussehen würde. „Fettfrei." „Und das nennen Sie ein Frühstück?", rief er. „Nun. Ja." „Eier und Schinken, das ist ein Frühstück. Hafergrütze mit was auch immer, das ist Frühstück." Er nahm sie beim Ellbogen und versuchte, sie unauffällig von der Gruppe wegzulotsen. „Fettfreier Joghurt ist die Strafe für verkehrswidriges Verhalten, oder etwa nicht? Kommen Sie mit, ich kenne ein tolles Restaurant, genau gegenüber." „Nun", sagte sie, und offenbar hatte es sich so gut angehört, dass sie es noch einmal sagte, „nun ... aber ich kann nicht lange weg." „Ach, das nehme ich Ihnen nicht ab! Wahrscheinlich haben Sie heute auch keinen Dienst." „Nun ... ich bin diejenige, die die Dienstpläne macht..." „Dann tragen Sie sich doch für die Zeit aus, die es Ihnen ermöglicht, einen Bagel mit meiner Wenigkeit zu essen." Er bemerkte, dass sie beinahe mit den Zehen über den Kachelboden rutschte, und ging ein wenig langsamer, ohne aber ihren Arm loszulassen. „Nun ... wie ich bereits sagte ... ich kann nicht lange weg." „Richtig, richtig. Der Laden würde wahrscheinlich zusammenbrechen, wenn Sie sich mal neunzig Minuten freinehmen. Dann müssen wir Sie eben in neunundachtzig Minuten zurückbringen." Wenn Fred und die Jungs verschwunden sind. „Aber ein mickeriger Joghurt? Das reicht nicht. Schließlich haben Sie die Verantwortung für das ganze NEA, Dr. Barb." 112 „Ich hatte ja keine Ahnung, dass Ihnen mein Wohlergehen so am Herzen liegt. Danke, Jonas." Jonas war begeistert. War es möglich, dass Fred - die stets mürrische, schlecht gelaunte Fred - ihm eben ein dankbares Lächeln zugeworfen hatte? Und dass er gleichzeitig unterwegs zu seinem ersten Date mit der Frau war, die er schon so lange insgeheim anhimmelte? Das ist der schönste Tag in meinem Leben!, dachte er aufgeregt, während er Dr. Barb durch die Menge von Touristen und Studenten lenkte. Er sah, wie Madisons neugieriger Blick böse wurde, winkte ihr aber dennoch fröhlich zu. Und es ist noch nicht einmal Viertel nach zehn! 59 Barb Robinson verlebte einen Morgen, der sie sehr nachdenklich stimmte. Erst wollte sie acht Laborkittel aus der Reinigung abholen, die aber noch nicht fertig waren. Damit hatte sie also nur noch drei saubere, und die waren nur leicht gestärkt. Es machte Barb sehr nervös, wenn ihr nur so wenige Symbole
ihrer Autorität zur Verfügung standen. Wie sollte sie im NEA Ordnung halten, wenn alle anderen dort so viel intelligenter, jünger (besser aussehend) und besser ausgebildet waren? Antwort: Ein frisch gestärkter, blitzendweißer Laborkittel mit ihrem Namen (Dr. Barbara Robinson, Ph. D.) in roter Schrift auf der linken Brust. Sobald sich der Mantel über ihre Schultern gelegt, sobald sie ihn bis oben hin zugeknöpft hatte, konnte sie spüren, wie die Autorität in ihr wuchs. Das lange Haar trug sie geflochten, damit jeder ihren Namen sehen konnte. Damit die Freiwilligen und die Postdocs sie sofort erkannten. Man konnte, hatte Barb nicht nur einmal gedacht, die Leute zu fast allem überreden, wenn man einen von diesen Dingern trug. Sie flößte ihnen darin Respekt ein. Der Laborkittel flüsterte ihrem Unterbewusstsein zu: Vertrau mir, tu deine Arbeit ebenso gewissenhaft wie ich, erzähl mir von deinen Sorgen, versprich, am Freitag Überstunden zu machen. In einem Au Bon Pain hingegen, dachte sie mit Ironie, war der Effekt nicht ganz so durchschlagend. "60 „Wollen Sie das nicht ablegen?", fragte sie Dr. Bimms netter schwuler Freund. Er hatte darauf bestanden, die Rechnung zu übernehmen, fast, als seien sie zu einem richtigen Date verabredet, und ihr einen Bagel mit Lachs und Frischkäse und zwei Gläser Milch gekauft. („Milch macht müde Männer munter", hatte Barbs Mutter, die Ernährungsberaterin war, immer gesagt.) „Damit er keine Flecken bekommt." „Oh, nein, das geht schon. Vielen Dank für das Frühstück." Jonas bedachte sie mit einem seltsamen Blick. „Gern geschehen, Dr. Barb. Sie sehen ein wenig gestresst aus." „Oh. Nun, Sie wissen schon. Samstagmorgen geht es immer ein bisschen drunter und drüber im Aquarium." „Ja, aber Sie müssen doch nicht allein die ganze Arbeit machen. Ich meine, Sie haben doch die Leute, die die Karten abreißen, und Freiwillige und Personal, die sich um alles kümmern, oder nicht?" „Nun, ich ... ja. Aber ich habe die Verantwortung für das NEA." „Sie klingen genau wie Fred", murmelte er und kaute an seinem zweiten Schokocroissant. „Dr. Bimm nimmt ihre Arbeit sehr ernst", sagte Barb stolz, weil sie es gewesen war, die Dr. Bimm aus einer großen Anzahl von sehr qualifizierten Bewerbern ausgewählt hatte und seitdem ihre Entscheidung mehrfach hatte rechtfertigen müssen. Natürlich machte das komische Punkhaar viele der Kollegen unruhig, und Dr. Bimm war nicht die liebenswürdigste Angestellte, die sie je gehabt hatte, aber ihre Arbeit war exzellent und ihr Pflichtbewusstsein unerschütterlich. Für sie
war dies das größte Kompliment, das man jemandem machen konnte. „Sie ist ein echter Gewinn für das NEA." „Ja, und zweimal dürfen Sie raten, wann sie ihr letztes Date 61 hatte." Jonas wurde rot, wie Barb verwirrt bemerkte. Dann erinnerte sie sich, dass Dr. Bimms letztes Date ... oh nein. Das war doch nicht etwa ... „Doch nicht etwa ... Phillip?" „Phillip", bestätigte Jonas mit vollem Mund und besprühte sie ein wenig mit Krümeln. „Das war höchstwahrscheinlich ein Fehler", gab sie zu und nahm noch einen Bissen von ihrem Bagel. „Aber sie schien so ... und wir haben uns in aller Freundschaft getrennt... zumindest von meiner Seite." „Wenn ich fragen darf: Was war denn eigentlich passiert? Wer ist denn verrückt genug, jemanden wie Sie zu verlassen?" Barb lächelte und spürte einen leichten wohligen Schauder. Wie nett, dass Dr. Bimms bester (einziger) Freund so reizend war. Und es war eine echte Schande, dass er für keine Frau zu haben war, mit diesem blonden Haar und dem fantastischen Körper, den er, wie sie zufällig wusste, wöchentlich im Dojo in Form hielt. Sie hatte gesehen, wie Madison mit ihm geflirtet hatte, und sie hatte Mitleid mit ihr gehabt. Vielleicht hätte sie sie einmal beiseitenehmen und sie warnen sollen, aber Jonas sexuelle Orientierung ging niemanden etwas an. Und mit wem Madison flirtete, ebenfalls nicht. Sie stellte fest, dass er auf eine Antwort wartete. „Eigentlich war ich es, die ihn verlassen hat." „Oh." „Es war meine Schuld. Ich konnte einfach nicht über seine vielen Affären hinwegsehen." „Oh." Jonas grinste. „Reden Sie weiter. Das hört sich interessant an." 61 Aus irgendeinem Grund erzählte sie es ihm. Wie sie sich bei einer Veranstaltung, bei der Spenden für das NEA gesammelt worden waren, kennengelernt hatten. Beide waren sie Ende dreißig und bereit für eine dauerhafte Bindung gewesen und wollten heiraten. Aber heiraten war nicht das Gleiche wie verheiratet bleiben. In Wirklichkeit hatte Phillip jemanden gesucht, der ihn auf Veranstaltungen begleitete, jemanden für seinen Arm. Einen Namen auf einem Hypothekenantrag. Die Möglichkeit, „verheiratet" in Formularen anzukreuzen. Keine Frau aus Fleisch und Blut, keine Frau, die ihn liebte und die erwartete, dass er nicht in fremde Betten stieg.
„Nein, so etwas!" Jonas tat empört. „Sie und ihre empörend unrealistischen Erwartungen!" „Das stimmt wohl", sagte sie trocken. „Was für ein Idiot! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich nie zugelassen, dass Fred mit ihm ausgeht. Sorry, ist nicht persönlich gemeint." „Schon gut. Aber hätten Sie Dr. Bimm denn davon abhalten können?" „Nun ... sie ist ja nur hingegangen ... Ich meine, sie wollte nicht, dass Sie ... Ich weiß auch nicht. Wie lange ist das her? Sechs Jahre?" „So ungefähr, ja. Wer ist Dr. Bhnms neuer Freund? Der große Mann mit dem roten Haar?" „Oh." Jonas blaue Augen bekamen einen leeren Ausdruck und er wedelte mit der Hand, als wolle er etwas Unsichtbares vertreiben. „Nur ein Typ auf der Durchreise. Kommen wir doch noch einmal zurück zu dem Idioten, den Sie geheiratet haben. Ich meine, warum ließ er sich mit anderen Frauen ein, wenn er doch Sie hatte." 62 „Tja ... Aber ich ..." Sie senkte den Blick auf ihren Schoß. Die vierzig hatte sie überschritten, sie machte nicht viel Sport, sie war ein Arbeitstier, und sie hatte seit der neunten Klasse dieselbe Frisur. Warum sollte Phillip sich nicht nach jemandem umsehen, der ein wenig (jünger) frischer war? Jemand wie (Madison ) eine College-Studentin? „Ich glaube, der Gedanke, bis an sein Lebensende mit ein und derselben Person verheiratet zu sein, deprimierte ihn", sagte sie. Ihr Lächeln erlosch. „Und ich bin wohl zu blauäugig in diese Beziehung hineingegangen." Blau das ließ sie an Dr. Bimms Haar denken, und Dr. Bimm brachte sie auf... „Dieser Mann stammt nicht von hier, sagen Sie? Woher kennt er Dr. Pearson? Und warum waren sie alle ..." „Mist!" Jonas sprang von seinem Stuhl, und sie sah den dunklen Fleck auf seinem Polohemd. Auch sie sprang auf, griff nach einer Serviette und tupfte hektisch. „Haben Sie sich wehgetan? Verbrannt? Ziehen Sie das Hemd aus", wies sie ihn an. Verbrennungen durch heiße Flüssigkeiten waren nicht zu unterschätzen, selbst nachdem dieser Bürohengst McDonald's verklagt hatte. Der heiße Stoff durfte nur nicht zu lange mit der Haut Kontakt haben ... Gehorsam riss sich Jonas sein Poloshirt vom Leib, und zum Vorschein kamen eine leicht behaarte Brust, wunderbare Brustmuskeln, herrlich geformte Schultern und ein göttlicher Sixpack. Sie starrte ihn an. „Ich glaube nicht, dass ich mich verbrannt habe." Sie starrte weiter. 62
„Dr. Barb? Sehen Sie eine Verbrennung?" Sie starrte immer noch. Er schnippte mit den Fingern vor ihrem Gesicht. „Dr. Barb? Erde an Dr. Barb." „Mein Gott", sagte sie, und beinahe hätte sie sich geschüttelt wie ein Hund, der aus dem Wasser steigt, „auf Ihrem Bauch könnte ich Käse reiben." „Ah ... später vielleicht." Sorgfältig untersuchte sie seinen strammen, muskulösen Körper und erinnerte sich auch nach einer Minute wieder an den eigentlichen Grund. „Keine Verbrennung zu erkennen", versicherte sie ihm. Ihr dagegen war wohl ein bisschen warm geworden. Aber das war ihr Pech. Jonas war immer so nett, schien sich immer so zu freuen, wenn er sie sah, war Fred ein solch treuer Freund, schleppte ständig Tüten mit Produkten von Aveda mit sich herum und ... „Gehen wir doch die Straße hoch und machen einen kurzen Abstecher zu Filene's. Ich brauche ein neues Hemd und werde gerne sehen, ob sich nicht ein paar Laborkittel für Sie finden lassen." ... er ging gerne einkaufen. Die Welt war ungerecht. 63 „Ah, kleine Rika. Endlich habe ich dich für mich ganz allein." „Pssst!" Fred hatte Artur bei der Hand genommen und führte ihn jetzt zum Meer. An einem Samstagmorgen im NEA war das gar nicht so einfach, denn die Besucher drängten sich dicht an dicht. Und sie und Artur konnten sich schlecht an Ort und Stelle nackt ausziehen und ins Wasser hüpfen. „Ich verstehe nicht, warum wir nicht einfach hineinspringen." Sie rollte mit den Augen, und sie arbeiteten sich weiter vor. Sie befanden sich unter einem der Observationsdecks - eine Art besseres Zementdock, das glücklicherweise direkt zum Wasser hinunterführte. Mit ein bisschen Glück wären sie untergetaucht, bevor jemand sie bemerkte. „Hör mal, Artur, dir ist es vielleicht egal, ob die ganze Welt weiß, was du bist. Aber mir nicht. Bis du gekommen bist, habe ich mein Geheimnis erfolgreich hüten können. Ich will nicht, dass noch mehr Leute davon erfahren." „Du solltest dich nicht dafür schämen, dass du ..." Sie wirbelte herum und bedachte ihn mit ihrem bösesten Blick. „Es geht nicht darum, dass ich mich schäme!" „Doch." „Überhaupt nicht! Ich will aber nicht den Rest meines Lebens als Zoobewohner verbringen, darum geht es. Weißt du überhaupt, was die Zweibeiner mit mir anstellen würden?" „Nein." 63 „Du hast wohl nicht Splash gesehen, was?" Natürlich hatte er das nicht. Dumme Frage. Nächste Frage. „Aber du hast gesehen, was sie mit der Erde
gemacht haben. Du hast das NEA gesehen. Es ist ein Käfig für Fische - hübsch zwar, aber ein Käfig. Ich hänge an meiner Freiheit." „Wenn du zu mir nach Hause kämst, würdest du nichts anderes als Freiheit erleben." Warum war der Gedanke ebenso aufregend wie beängstigend? Einfach nur herumschwimmen und tun und lassen zu können, wonach ihr der Sinn stand - mit niemand anderem als dem Großprinzen als persönlichem Führer. „Mir gefällt es hier", sagte sie schroff. Was auch die Wahrheit war. Oder etwa nicht? „Gefällt es dir, dich verstecken zu müssen? Als eine Bürgerliche zu leben?" „Ich stamme von einer langen Reihe von Bürgerlichen ab. Runter mit den Klamotten." „Ah, kleine Rika, siehst du? Ich stehe zu deiner Verfügung." Sie lächelte ihn an - gegen ihren Willen, aber manchmal war er einfach zu komisch -, stieg aus ihren Schuhen und begann, sich die Kleidung abzustreifen. Über ihren Köpfen konnte sie das aufgeregte Murmeln der Aquariumsbesucher hören, die die Außenanlagen bestaunten. Artur hatte kurz davorgestanden, einen plötzlichen Anfall von Jähzorn zu bekommen. Deshalb hatte sie beschlossen, ihm eine Auszeit zu gönnen. Und Thomas wollte noch ein wenig über den Zahlen brüten. Sie hätte Thomas dabei helfen können, was auch tatsächlich ein verlockender Gedanke gewesen war, hatte dann aber beschlossen, den Hafen mit Artur gemeinsam zu erkunden. (Ganz zu schweigen davon, was dieser - sich selbst überlassen alles angestellt hätte.) Vielleicht würde sie im Wasser etwas 64 riechen oder schmecken, das sie weiterbrachte. Arturs Sinne waren ohne Zweifel viel schärfer als ihre, aber sie verfügte über den wissenschaftlichen Hintergrund, der ihm fehlte. Und überhaupt - was hatte er für einen Hintergrund? Hatte sie womöglich Kollegen unter Wasser? „Warum grinst du so?" „Ich bin erfreut, dass du meine Gesellschaft der seinen vorgezogen hast." „Äh ... da liegst du falsch, Artur. Das letzte Mal, als ich im Hafen war, ist mir nichts Verdächtiges aufgefallen und deshalb ..." „Ja, ja." Ihre ausgesprochen logische Erklärung tat er mit einer Handbewegung ab. „Was auch immer der Grund ist, du wirst den Rest des Morgens mit mir verbringen, während der Zweibeiner seine Nase in Papiere steckt und Zahlen kritzelt." „Vorsicht, mein Freund. Beinahe hätte ich mit ihm gemeinsam meine Nase in Papiere gesteckt und Zahlen gekritzelt." Sein Lächeln wurde breiter. „Meine Rede. Du hast dich dagegen entschieden." „Dies ist kein Wettbewerb."
Sein Lächeln fiel in sich zusammen, und auf einmal sah er wie das Raubtier aus, das er war. „Alles ist ein Wettbewerb." „Hm. Ich gehe jetzt schwimmen. Und kann nur hoffen, dass du dem Drang widerstehst, mir in den Po zu beißen." „Ich versuche es, versprechen kann ich es aber nicht." Sie musste lächeln, obwohl sie es nicht wollte, dann tauchte sie den Zeh ins Wasser, ging einige Meter hinein und genoss die angenehme Brise. Sie wusste, dass ihre Haut sich für andere Menschen kühl anfühlte, aber ein Hybrid zu sein hatte auch angenehme Seiten. Zum Beispiel war ihr selten kalt. Was von der Natur sehr sinnvoll eingerichtet war, denn im Meer gab es viele Orte, an denen es sehr kalt war. Aus diesem Grunde schimpfte 65 Jonas sie auch in einem fort, weil sie noch im November Tanktops trug. „War es nicht nett von Jonas, dass er uns meine Chefin aus dem Weg geschafft hat?", sagte sie plötzlich. „Damit hat er uns wirklich geholfen." „Du suchst dir deine Verbündeten mit Umsicht aus." „Er ist kein Verbündeter, er ist mein ... na ja, Jonas eben." „Das sagte ich ja." „Dr. Barb zum Frühstück auszuführen war wirklich selbstlos von ihm. Ich arbeite seit sechs Jahren für diese Frau und habe sie noch nie essen sehen. Das ist, als würde man mit seinem Rhetorikprofessor durch die Bars ziehen. Irgendwie merkwürdig." „Das soll Jonas' Sorge sein", stellte Artur fest, glitt neben ihr ins Wasser und verschwand in der Tiefe. In ihrem Kopf beendete er den Satz: Und nicht meine oder deine. „Das ist echter Mannschaftsgeist", brummte sie und tauchte ins Wasser. Ihre Augen brauchten einige Sekunden, um sich einzustellen - der Bostoner Hafen war nicht gerade so azurblau wie das Meer bei Cabo San Lucas. Wachsam hielt sie nach großen Büscheln von Algen Ausschau. Sie hasste das Gefühl von dem Zeug auf ihrer Haut. Es kribbelte. Und wenn es sich in ihrem Haar verfing - entsetzlich! Vielleicht war das der Grund, warum sie das Meer als etwas Lebendiges betrachtete, als ein eigenständiges Wesen. Weil es so viel Leben in sich barg. Sie spürte es allein schon, wenn sie sich durch das Wasser bewegte. Und das lag nicht nur an seinem Geschmack oder dem Geruch oder wie es sich anfühlte ... sondern eher an allem zusammen und noch etwas darüber hinaus. Rein intellektuell konnte sie nachvollziehen, dass die Zweibeiner den Ozean als riesigen Mülleimer benutzten, aber gefühlsmäßig begriff sie es nicht. Und das Weltall missbrauchten 65 sie auf die gleiche Weise. Man würde aber wohl kaum erwarten können, dass ...
Sie spürte etwas Kaltes an ihrem Schwanz und kreischte auf. Im Geiste natürlich. Artur ließ sie los und schwamm an ihre Seite. Was liegt dir auf der Seele, kleine Rika? Wie kommt es, dass du so plötzlich hinter mir bist? Ach, vergiss es. Das hier. Das liegt mir auf der Seele. Sie riss an ihren Haaren. Jesses. Unsere Mutter? Unsere Heimat? Wie kannst du dich in einem sterilen Swimmingpool wohlerfühlen? Nur zwei Worte: keine Algen. Kleine Rika, du erstaunst mich immer wieder. Oder amüsierst mich. Ah! Schön, wieder richtig durchatmen zu können. Sie schwammen Seite an Seite dicht am Grund entlang, den Tausenden von Booten und Schiffen ausweichend, die den Hafen in eine Salzwasserautobahn verwandelten. Ich will nicht verhehlen, dass ich mich oft gefragt habe, wie es wohl wäre, mit dir zusammen durch die Wellen zu gleiten. War das etwa ...? Ja, das war es. Sie nahm das Bündel Algen und schleuderte es mit aller Kraft von sich, was fünf Meter unter Wasser nicht gerade einfach war. Bah! Pfui! Ich gebe zu, es ist anders, als ich es mir vorgestellt habe. Halt den Mund. Wie hast du dich das oft fragen können? Du bist doch erst seit drei Tagen hier. Mein Vater war sich sofort sicher, als er seine Königin zum ersten Mal sah. Schön für ihn. Das hat nichts mit mir zu tun. Vielleicht doch. Sie beschloss, nicht auf dieses absurde Gerede einzugehen, 66 und schwamm eine Weile schweigend weiter. Sie schwamm vor, drehte schnell eine Runde und kam zurück. Bis jetzt rieche ich nichts. Ich meine, hier ist viel los, man merkt, dass wir in einem Hafen sind und nicht im Kaspischen Meer. Das Wasser ist nicht gerade rein, aber ich nehme nichts Ungewöhnliches wahr. Das Wasser hier ist nicht so frisch, wie ich es gerne hätte, aber du hast recht. Es ist nicht vergiftet. Möglicherweise wird es lange dauern, bis wir die Ursache finden. Wie sollen wir uns in der Zwischenzeit die Zeit vertreiben? Komm nicht auf dumme Gedanken, Prinz Grabsch. Es ist stärker als ich, kleine Rika. Wenn ich dich in deinem wahren Element sehe, in deiner wahren Gestalt, ohne dass sich arrogante Zweibeiner einmischen . .. Du hast es gerade nötig, andere arrogant zu nennen. Sie hörte auf zu schwimmen, und er wäre beinahe gegen sie geprallt. Sie schwebten eine Weile zusammen auf und nieder, und sie sagte: Wenn ich Beine habe, ist das auch meine wahre Form, Artur. Halb und halb, wie diese Knödel. Ah .. . das hört sich nicht gerade sexy an.
Er legte die Arme um sie und küsste sie sanft, ein Kuss, der so ganz anders war, als der schmerzhafte, besitzergreifende Kuss von vorhin. Vielleicht glaubte er, unter Wasser müsse er ihr nichts beweisen? Hier, wo Thomas weit weg war? Sie ließ ihn gewähren. Warum auch nicht? Nach der harten Woche, die sie gehabt hatte, verdiente sie ein paar Streicheleinheiten. Und Artur zu küssen war in der Tat alles andere als unangenehm. In seinen Armen fühlte sie sich winzig - und sicher und beschützt. Sie hatte das Gefühl, dass er mit allem, was sie hier entdecken würden, fertig werden würde, egal, ob es ein großer weißer Hai oder ein sarkastischer Barracuda wäre. 67 Ach, Rika, meine Rika. Sag nichts. Küss mich weiter. Er lachte leise und gehorchte, indem er sie enger an sich zog. Wenigstens machte er sie nicht darauf aufmerksam, dass sie auf diese Weise die ganze Zeit weiter diskutieren konnten, ohne mit dem Schmusen aufzuhören. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie mit dem Kopf nach unten im Wasser schwebten, aber von seinen Küssen war ihr so schwindlig, dass es ihr nichts ausmachte. Sie spürte die Vibrationen, als eine der Party-Jachten über sie hinwegbrauste, die ohne Zweifel noch mehr Touristen durch die Scheiße kutschierte ... Nein, sie meinte, dass sie sie durch den Scheißhafen kutschierte ... Scheiße! Was war nur los mit ihr? Auf einmal hörte Artur auf, sie zu küssen. Riechst du das? Was denkst du denn? Natürlich rieche ich das! Sie versuchte auszuspucken. Es gelang ihr nicht. Ich kann es auch schmecken. Oh mein Gott, ich schmecke es. Artur packte ihren Arm und bog seinen Schwanz durch. Dann schössen sie davon, weg von der Stelle. Trotz seiner Schnelligkeit, trotz seiner raschen Reaktion war Fred einen schrecklichen Moment lang überzeugt, sie müsse sich übergeben. Sie kämpfte gegen den Drang an. Die Vorstellung, vor einer königlichen Hoheit die Fische zu füttern, war ihr ein Graus. Ganz zu schweigen davon, dass sie sich nicht mehr übergeben hatte, seitdem sie sich mit Pepsi (eine Kiste) und Wermut (zwei Flaschen) betrunken hatte, und das war vor zehn Jahren gewesen. Und sie hatte nicht vor, ihren Kotzstreik jetzt auf einmal zu brechen. Bald ging es ihr jedoch wieder besser. Ganz schwach glaubte sie noch, den Geruch wahrzunehmen, vermutete aber, dass sie sich das nur einbildete. So wie man noch Hundekacke an seinen Schuhen riecht, obwohl man sie schon oft geschrubbt hat. 67 Artur hatte sie von der Strömung weggebracht oder der vergifteten Stelle, oder wie immer man es nennen mochte, und er hatte mit beeindruckender
Effizienz und Schnelligkeit gehandelt ... so schnell hätte sie nie alleine schwimmen können, selbst wenn man ihr eine Harpune an den Kopf gehalten hätte. Danke, Artur. Eine Sekunde lang ging es mir wirklich übel. Auch ich verspürte vorübergehend ein Unbehagen. Oh, dachte Fred, nennt man das so? Ich kann nie wieder zum Schwimmen hierherkommen .. . ich würde immer Scheiße riechen, selbst wenn keine zu riechen ist. Wir müssen etwas dagegen unternehmen. Artur nickte. Er versuchte nicht, sie anzufassen, was, dachte sie, der beste Beweis dafür war, wie groß sein Ekel war. Das war die Sorge meines Vaters, als er davon erfuhr. Und auch ich fühle, dass uns der Morgen verdorben wurde. Das waren Fäkalien. Ich rede nicht von Toxinen. Und auch nicht von Giften. So schnell sie konnte, schwamm sie zurück zur Küste. Artur hielt ohne Mühe mit ihr mit. Ich rede von Fäkalien. Dafür muss jemand bezahlen. Und ich rede nicht von Abgaben an die Bundesbehörde für Umweltschutz. Ich meine, er muss mit der Isiase bezahlen. Ich stimme dir zu, kleine Rika .. . und ich freue mich, dass sich deine Wut zur Abwechslung einmal auf jemand anderen als mich richtet. Als das Wasser seicht genug war, dass sie aufstehen konnte, wuchsen ihr Beine, ohne dass sie bewusst daran gedacht hatte. Sie schüttelte ihr nasses Haar und schenkte ihm, als er neben ihr auftauchte, ein gequältes Lächeln. „Das war ja sehr romantisch, was?" Er spuckte Wasser. „Wie ich bereits sagte. Nicht ganz das, was ich mir vorgestellt hatte." 68 Thomas fuhr vor Schreck fast aus der Haut, als die Labortür plötzlich aufflog und Fred, die Meerjungfrau seiner Träume, knurrte: „Irgendein Wichser pumpt seine Scheiße in den Hafen." Er wandte sich von den Objektträgern und dem Mikroskop ab. Fred war triefend nass von Kopf bis Fuß (ein wunderbarer Anblick), das grüne Haar klebte ihr am Kopf, das T-Shirt war an den interessantesten Stellen fast durchsichtig, und ihre Füße waren nackt und zartrosa und anmutig. Die Schuhe hielt sie in der Hand. Der großkotzige Blödmann aus dem Schwarzen Meer, Artur, stand drohend hinter ihr wie ein Straßenräuber. Auch er hatte seine Schuhe in der Hand. Wo kommen denn nur seine Klamotten her?, fragte sich Thomas. „Hörst du mir überhaupt zu?", fragte sie. „Ja, Fred, natürlich. Schließlich bin ich deswegen hier, schon vergessen?" Fred stapfte auf ihn zu. Er wusste nicht, ob er zurückweichen oder versuchen sollte, sie zu küssen. Da sie die Hände zu Fäusten geballt hatte, entschloss er sich zu einem Kompromiss und blieb, wo er war. Er war durchaus in der
Lage, sich zu wehren, hatte aber den Verdacht, dass Fred ihn ohne große Mühe in Stücke reißen konnte. Und dieser rothaarige Mistkerl, Artur, würde ihr sicher nur zu gerne dabei helfen. 69 „Du hörst mir nicht zu", sagte sie und piekste ihn mit ihrem knochigen Finger in die Brust. „Jemand spült Scheiße in den Hafen. Im wörtlichen Sinne Scheiße." „Na toll", stöhnte er. „Das ist ja wirklich nett. Wie freundlich. Mitten in den Hafen. Hast du es riechen können?" Sie verzog die Lippen auf merkwürdige Weise, als wolle sie ausspucken, würde sich aber zurückhalten. „Ich habe es geschmeckt. Ich schmecke es immer noch." „Nun gut. Tja, das tut mir leid, aber tatsächlich bringt uns das ein Stück weiter." „Wie kommt es, dass du davon nichts weißt, trotz all deiner Papiere?", wollte Artur wissen. Thomas bedachte den Blödmann mit einem bösen Blick. „Das Meer ist groß, Artur. Und Scheiße, wenn wir es schon benennen wollen, ist ganz natürlich. Sie kann sich, muss ich leider sagen, mit vielen Sachen mischen." Er holte Luft und wandte sich wieder Fred zu. „Wie dem auch sei, danke, dass du es mir gesagt hast. Tut mir leid, dass du das erleben musstest, aber zumindest engt das ..." „Das dachte ich mir. Deswegen sind wir gekommen, um es dir zu sagen." „Ich war gerade drüben im Rathaus und habe mir Kopien von allen Baugenehmigungen gemacht, die in einem Umkreis von fünfzehn Quadratkilometern erteilt wurden ..." Er deutete auf einen neuen Papierstapel. „Aus der Tatsache, dass bis vor Kurzem niemand aus dem Unterseevolk die, äh Scheiße wahrgenommen hat, du auch nicht, und aus der Tatsache, dass es sich um, na ja, Scheiße handelt, schließe ich, dass es sich um ein erst kürzlich errichtetes Gebäude handeln muss." „Hm." Fred - seine entzückende Fred - sah verärgert aus, weil sie nicht selbst darauf gekommen war. „Es ist ein Hotel." 13° „Warum glaubst du das?", fragte der große rothaarige Blödmann. „Ein neues Gebäude am Hafen. Diese große Menge an Fäkalien. Das ist ein neues Hotel. Wahrscheinlich haben sie ihr Spielchen mit dem Stadtrat getrieben, und jetzt liegt irgendwo ein Rohr an einer Stelle, wo es nicht hingehört, und spült die Exkremente der Touristen in unseren Hafen." „Ein Hotel wie das Gebäude, in dem Thomas und ich residieren? Ein Ort, den Fremde für eine kurze Zeit ein Zuhause nennen?"
„So ist es. Und jedes Zimmer hat eine Toilette. Und das ganze Wasser - und das, was es fortspült - muss irgendwohin. Es müsste eigentlich zuerst durch eine Kläranlage. Es sei denn, jemand nimmt eine Abkürzung." „Im Gegensatz zu dem, was uns Findet Nemo lehrt, führen nicht alle Rohre ins Meer. Es sei denn, sie werden so gebaut." Artur guckte angewidert. „Ihr Zweibeiner überrascht mich immer wieder. Versteht ihr denn nicht ..." Thomas schluckte seinen Ärger hinunter. Wenn diese beiden Fäkalien hatten schlucken müssen, war es nur recht und billig, wenn er jetzt seine Wut im Zaum hielt. „Hör auf, uns ständig alle über einen Kamm zu scheren. Ich würde meinen Müll genauso wenig ins Wasser schmeißen, wie ich eine Katze überfahren würde. Ich bin derjenige, der Fred auf das Problem aufmerksam gemacht hat. Ich habe die ganzen Nachforschungen angestellt, ich habe den Morgen im Rathaus verbracht, und ich habe gearbeitet, während ihr einen romantischen Schwimmausflug gemacht habt." „Du Armer", erwiderte Fred höhnisch. „Aber ich kann dir garantieren, dass dein Tag nicht so schlimm wie unserer war. Nicht annähernd!" 70 Artur machte ein langes Gesicht. „Ich hatte gehofft, es würde romantisch werden, und zuerst war es das auch, bis ..." Thomas verkniff sich ein Lächeln. Es hatte ihm gar nicht gefallen, als Fred mit dem großen rothaarigen Blödmann verschwunden war, aber anscheinend hatte der Typ seine Zeit mit ihr alleine nicht nutzen können. Schlechte Nachricht: Der Typ war ein Prinz. Gute Nachricht: Fred war das egal. Schlechte Nachricht: Der Typ war groß und gut aussehend und konnte ihr eine Welt zeigen, von der der Durchschnittsmensch nur träumen konnte. Gute Nachricht: Fred war das egal. Außerdem, dachte Thomas, wette ich, dass ich ihr hier auf dem Festland auch das eine oder andere zeigen kann. Und ich würde ihr auch nicht vorwerfen, dass sie ein Mischling ist, wie ein paar von Arturs Leuten. Interessiert blätterte Fred durch die Pläne auf seinem Schreibtisch. Artur trat derweil ungeduldig von einem Bein aufs andere. Hai Hab ich's doch gewusst! Sie war zu sehr Wissenschaftlerin, um lange von einem Labor fernbleiben zu können. Natürlich, Artur war ein Wasserwesen wie sie, aber Jahre schulischer Ausbildung hinterließen ihre Spuren, egal, ob man sich einen Fischschwanz wachsen lassen konnte oder einfach in eine Badehose von Target stieg. Er beobachtete, wie sie einen der Pläne auseinanderfaltete und aufmerksam betrachtete. Selbst von hinten sah sie atemberaubend aus. Groß, mit anmutigen Gliedern und diesem Haar ... und dieser wunderbare, hübsche Schwanz. Manchmal schimmerte er grün, manchmal blau - je nachdem, wie
das Licht auf ihn fiel -, wie der Schwanz eines Pfaus, nur mit millionenfach mehr Sexappeal. Er wusste, dass sein Bild von Fred geprägt war von dem, 71 was sie war, und nicht, wer sie war. Seine Mutter hatte ihm so viele Geschichten von Meerjungfrauen erzählt, dass er, als er zehn war, hoffnungslos vernarrt in den Gedanken war, einfach ins Meer zu springen und eine Freundin zu finden, die seiner Familie rund um die Welt nachschwimmen würde. Während seine Mutter ihn stundenlang mit ihren wunderbaren Geschichten unterhielt („Die kleine Meerjungfrau", „Die schöne Melusine", „Die Geschichte von Gulnar, der Meerfrau, und ihrem Sohne Badr Basim" oder „Der tapfere Freund und die schöne Peri"), war sein Vater sehr oft abwesend er ging dorthin, wohin die Navy ihn schickte. Und wenn man „der Neue" war und wusste, man würde in acht, zehn oder zwölf Monaten erneut umziehen, konnte man einfach keine Freundschaften schließen. Also las er. Und träumte. Und hörte sich Geschichten an. Und träumte .. . Schon bevor er Freds Geheimnis kannte, war er bereits von ihr eingenommen gewesen. Sie war die erste weibliche Wissenschaftlerin, die nicht zumindest unbewusst an männlichen Reaktionen interessiert war. Sie schien sich noch nicht einmal der Tatsache bewusst zu sein, dass ihr Gegenüber ein Mann war. Außerdem war sie die erste Frau - Person -, die sich nicht von Konventionen und Verhaltensmustern einengen ließ. Sie sagte, was sie dachte, und wenn das den Leuten nicht gefiel, dann war ihr das völlig egal. Sie bemerkte es nicht einmal. Er war heilfroh, dass er in der Nacht zuvor noch einmal ins Labor zurückgegangen war, in der Hoffnung, seiner Schlaflosigkeit mit Tabellen und Aufstellungen beizukommen. Und dann hatte er sie gesehen, wie sie gemächlich in Main One hin und her geschwommen war, um mit ausholenden, anmutigen Bewegungen ihrer langen Arme die Fische zu füttern, während 71 ihr wunderschöner blau-grüner Schwanz geschimmert und ihr grünes Haar ihr Gesicht umrahmt hatte wie eine Wolke aus flüssigen Smaragden. Einen Moment lang hatte er ernsthaft befürchtet, sein Herz würde aufhören zu schlagen - so unwirklich erschien ihm der Anblick. Vielleicht hatte er schon Halluzinationen vor Müdigkeit. Vielleicht war aber auch die Pizza schlecht gewesen. Oder aber er verlor den Verstand, weil er seit sieben Monaten keinen Sex mehr gehabt hatte. Er hatte sie einfach weiter angestarrt. Da sie ihn nicht sofort bemerkt hatte, hatte er ausreichend Zeit dazu gehabt. Und er war endlich zu dem Schluss
gekommen: Fred, die kühle, distanzierte Frau, die er an diesem Tag kennengelernt hatte, war eine Meerjungfrau. Eine echte Meerjungfrau! Er hatte nicht anders gekonnt, er hatte die Treppe hochrennen und sie berühren müssen. Er hatte es einfach tun müssen. Und als er sie erst einmal mit seinen Händen berührt hatte, waren ihnen seine Lippen ganz selbstverständlich gefolgt. Sie war die Personifizierung seiner Kindheitsträume, und er hatte nicht vor, sie gehen zu lassen. Nie wieder. Und wenn ihm nun ein gewisser großer rothaariger Blödmann in die Quere kam ... tja, Pech für ihn. Er hatte ein oder zwei Tricks auf Lager, wie man mit einem Mitglied des Unterseevolkes fertig würde. Und nicht nur mit Aikido. „Warum setzt du dich nicht?", sagte er mit geheuchelter Höflichkeit zu Artur. „Es sieht so aus, als hätten Fred und ich hier noch eine Weile zu tun. Du weißt schon, Zeit verplempern mit Papierkram und anderen Dingen, mit denen du dich nicht auskennst." Artur warf ihm einen finsteren Blick zu, sagte aber nichts. 72 „Vorsicht", warnte Fred. „Du legst dich gerade mit deinem neuen Mitbewohner an. Das macht euren gemeinsamen Schlummertrunk nicht gerade angenehmer." Er zog eine Grimasse. Sein Angebot, Artur in seiner Suite aufzunehmen, hatte er bereits mehrfach bereut. Trotzdem war er auf seine Art faszinierend, und es gab Tausende von Fragen, die Thomas ihm stellen wollte. Zu schade, dass sie Konkurrenten waren. Er wusste es. Artur wusste es. Selbst Jonas schien es verstanden zu haben. Alle, außer dem Objekt ihrer Begierde, das jetzt schimpfte: „Thomas, ist Englisch deine vierte Sprache? Ich kann deine Schrift kaum lesen." „Ach, sei still", sagte er warm. „Du hast ganz andere Probleme als meine Schrift." „Unmöglich", sagte sie und guckte alarmiert. „Wenn es sich um ein neues Hotel handelt, dann ... lass uns mal nachdenken. Wer hat gerade neu im NE A angefangen, und wessen Eltern gehört das halbe Hafengebiet?" Jetzt sah sie ganz eindeutig angeekelt aus. „Nein." „Gibt es einen Verdächtigen?", fragte Artur. „Nein", fauchte Fred. „Ich sag ja nur", sagte Thomas. „Nein." „Es würde nicht schaden, mal mit ihr zu sprechen." Fred verzog das Gesicht. „Offenbar hast du noch nie mit ihr gesprochen." „Doch, das habe ich, Süße. Sie hat mich angemacht mit einer Subtilität, die mich fast aus den Schuhen gehauen hat."
„Wie schrecklich für dich", höhnte Fred. Er ignorierte ihren Sarkasmus. „Vielleicht gibt sie sich dümmer, als sie ist. Möglich, dass ihr Gehabe nur Fassade ist." 73 „Selbst Olivier war kein so guter Schauspieler." „Wie du meinst. Aber du musst zugeben, dass es sich um einen merkwürdigen Zufall handelt. Und mit Madison Fehr zu sprechen kann auch nicht schlimmer sein, als in Fäkalien zu schwimmen." Ihr Blick war so vernichtend, dass er beinahe zurückgezuckt wäre. Vorsichtshalber wechselte er das Thema. „Ich werde langsam hungrig. Was ist mit euch?" Beide Angehörige des Unterseevolkes sahen aus, als sei ihnen schlecht. „Oh, tut mir leid. Ja, das hätte mir wohl auch für eine Weile den Appetit verdorben. Aber ich habe trotzdem Hunger. Es ist Mittagszeit." „Jonas kann dir was holen." Fred sah sich um und dann auf ihre Armbanduhr. „Wo, zum Teufel, steckt er überhaupt? Er wird doch nicht immer noch mit Dr. Barb unterwegs sein, hoffe ich. Der Arme." Thomas dachte daran, wie gut gelaunt Jonas mit Dr. Barb von dannen gezogen war, die in außerordentlich guter Form zu sein schien und recht jung dazu, wenn man bedachte, dass sie das NE A leitete, und fand, dass er nicht bemitleidet werden musste. „He, Artur. Vielleicht kannst du mir ein Sandwich holen." Die Versuchung war einfach zu groß. Als er den Ausdruck auf dem Gesicht des Prinzen sah, lachte er leise. Dafür nahm er gerne Freds verärgertes Seufzen in Kauf. Ja, der Tag entwickelte sich vielversprechend. 73 „Kommen Sie raus." „Jonas, ich kann nicht." „Jetzt kommen Sie schon endlich raus. Wie soll ich Ihnen denn sagen, wie es aussieht, wenn Sie es mich nicht sehen lassen?" „Ich kann Ihnen sagen, wie es aussieht. Lächerlich." „Das lassen Sie mich mal entscheiden, Dr. Laborkittel. Und jetzt: Raus mit Ihnen." Rot bis an die Haarwurzeln, stieß Dr. Barb die Türen der Umkleidekabine auf und trat in den engen Flur. Sie trug eines von vier Outfits, die Jonas sie gezwungen hatte anzuprobieren, und seiner Meinung nach das, das ihr am besten stand. Es war ein marineblaues zweiteiliges Kostüm. Der Rock fiel ihr locker über die Knie, die Jacke war zweireihig und wurde in der Mitte nur von einem großen Knopf zusammengehalten. Givenchy. Und noch dazu reduziert! Jonas starrte auf den Knopf. „Wir müssen einen BH finden, der dieselbe Farbe wie die Jacke hat."
„Nein, das müssen wir nicht, Jonas. Ich fühle mich halbnackt in diesem Ding! Herrgott noch mal, man kann meinen Büstenhalter sehen." „Dann darf ich Sie aufklären, dass man schon seit Jahrzehnten nicht mehr Büstenhalter sagt." „Ich will eine Autoritätsperson sein, kein ... kein Playmate des Monats." 74 „Barb, Unterwäsche ist im Moment trendy. Die Leute kaufen sich Hemdchen mit Spaghettiträgern, um sie mit ihrem BH zu kombinieren. Und nicht zu vergessen die Tangas, die aus den Jeans blitzen." „Das", sagte sie entschieden, „ist nur etwas für Jugendliche." „Nun, Jugendliche können sich dieses Kostüm nicht leisten. Ein paar Zentimeter von seinem B H zu zeigen ist ja wohl kaum dasselbe, wie ohne Shorts über einen Traktor gebeugt als Miss Februar zu posieren." Sie wurde, falls das überhaupt möglich war, noch roter und wollte gerade ohne ein Wort wieder in der Umkleidekabine verschwinden, als er sie beim Ellbogen packte und sie zurückhielt. „Kommen Sie, lassen Sie mich mal sehen", bat er. „Ich finde nämlich, dass Sie fantastisch darin aussehen. Und ich sage Ihnen auch, warum." Er führte sie zu den drei Spiegeln am anderen Ende des Flurs. „Sehen Sie, der Rock ist lang genug, damit sie nicht aussehen, als seien Sie vom Set von Älhj McBeal geflohen, aber kurz genug, um Ihre Beine zu zeigen. Sie haben wirklich tolle Beine. Und die Farbe ist super. Bringt Ihre Augen zum Strahlen, bringt Farbe ins Gesicht, hellt sogar Ihr Haar auf. Aber dazu kommen wir gleich. Nun die Jacke ... Ärmel bis zum Handgelenk, aber nicht zu viel Schulterpolster, damit Sie nicht aussehen, als seien Sie ein Drogenopfer aus I love the 80s. Der Ausschnitt zeigt nicht zu viel Haut. Wenn Sie diese Jacke unter einem offenen -offenen! - Kittel tragen, sehen Sie großartig aus. So können Sie allen zeigen, wer die Chefin ist, und gleichzeitig, wie zauberhaft Sie sind." Sie versuchte, sich seinem Griff zu entziehen. „Oh, Jonas, Sie sind wirklich süß, aber ..." „Da drinnen schlummert eine zauberhafte Vierzigjährige", 74 sagte er, mit der einen Hand ihren Arm festhaltend, mit der anderen auf den Spiegel zeigend. „Sexy und intelligent. Und die Chefin. Ich meine, was könnte heißer sein als diese Kombination?" „Fünfundvierzig. Wie mein Ex nicht müde wurde zu betonen", fügte sie bitter hinzu. „Die dreißig habe ich schon lange hinter mir gelassen." „Vergessen Sie Ihren Ex. Ich finde, dieses Kostüm ist es. Das sollten wir kaufen. Und den passenden BH." Dr. Barb starrte ihr Spiegelbild an. „Tja. Die Farbe ist wirklich hübsch."
„Die Farbe ist verdammt noch mal phänomenal, das sag ich doch. Bringt Ihre natürlichen Farben optimal zur Geltung, hellt Ihr ... oh, richtig. Ihre Frisur." Sie griff nach ihrem Zopf und versuchte zurückzuweichen. „Meine Frisur ist gut so, wie sie ist." „Kommen Sie, Dr. Barb. Ich will ja nur, dass Sie höchstens sechzig Zentimeter abschneiden." „Nein!" „Aber Sie würden so viel besser aussehen. Der schwere Zopf lässt Ihr Gesicht viel zu lang aussehen. Ich denke an Stufen um das Gesicht herum. Und Schulterlänge. Dann", fügte er gewitzt hinzu, „kann man noch immer Ihren Namen auf Ihrem Kittel lesen." „Nein, Jonas. Nicht. Nicht meine Haare." „Doch, natürlich die Haare. Vertrauen Sie mir. Das sage ich als objektiver Beobachter. Außerdem, glauben Sie, ich tue das für jede Frau?" „Auf jeden Fall haben Sie es nie für Dr. Bimm getan", sagte sie schlagfertig, und er lachte. Sie sah in den Spiegel. Sein lachendes Abbild schien ihr die Entscheidung zu erleichtern. 75 „Nun gut. Ich nehme es. Aber wenn der Vorstand mich feuert, weil ich mich wie eine Schlampe anziehe, dann ziehe ich bei Ihnen ein." „Einverstanden", sagte er eifrig. „Okay, beeilen wir uns. Wir haben noch Zeit für die Dessousabteilung vor der Mittagspause." „Mittagspause?", schrie Dr. Barb entsetzt und sah auf ihre Uhr. „Oh Gott! Ich müsste längst..." „Dr. Barb, wozu ist man denn die Chefin, wenn man noch nicht einmal am Samstag freihat? Heute ist Samstag, herrje! Also wirklich." „Sie haben keinen guten Einfluss auf mich, Jonas", schalt sie ihn. „Sie sind ein böser, böser Junge." Er musste sich gegen die Wand lehnen, um nicht hinzufallen. Gott, er liebte diese ältere Lehrerinnen-Masche, die sie drauf-hatte, erst recht, wenn sie ihn ausschimpfte] Er hoffte inständig, dass sie nicht seinen riesigen Ständer bemerkte. „Ich habe nie zugelassen, dass Phillip mir meine Kleidung aussuchte", erklang ihre Stimme aus der Umkleidekabine, und sie lachte. „Was er wohl hiervon halten würde?" „Er würde sich für den größten Dummkopf auf Erden halten." Sie lachte wieder, und er hörte das Rascheln von Kleidern. Er unterdrückte den Drang, sein Ohr gegen die Tür zu drücken und sich vorzustellen, was sie gerade anzog. Oder auszog. „Wenn man bedenkt, dass Sie nie das Vergnügen hatten, seine Bekanntschaft zu machen, haben Sie aber keine gute Meinung von ihm."
„Er ist ein Trottel. Jeder, der Sie gehen lässt, ist keine Nanosekunde meiner Zeit wert. Oder Ihrer." „Oh, Jonas", seufzte sie. Wieder vernahm er das verlockende Rascheln. „Sie sind so gut für mein Selbstbewusstsein!" 76 „Dr. Bimm kann sich glücklich schätzen, einen Freund wie Sie zu haben", sagte Dr. Barb eine halbe Stunde später, als sie vor einem Teller mit Seesaibling saß. Sie befanden sich im Legal's, ganz in der Nähe des NEA, an einem Tisch mit Aussicht auf das Gebäude, für das sie die Verantwortung trug. Solange sie hier sitzen und sich versichern konnte, dass keine Touristen in einer Massenpanik aus dem Aquarium stürmten oder das Gebäude in Flammen aufging, war sie fast entspannt. „Es war ganz reizend von Ihnen, mich beim Einkaufen zu begleiten. Vor allem, da eigentlich Sie es waren, der ein Hemd brauchte." Nicht vergessen: Fred schuldet mir ein neues Polohemd. Ich habe ein Ralph-LaurenShirt für dieses undankbare Miststück ruiniert! „Na ja, ich hatte gerade nichts vor. Und es hat Spaß gemacht. Ich liebe es, einzukaufen. Und außerdem habe ich drei neue Hemden dabei abgestaubt!" Dr. Barb hatte darauf bestanden, die Hemden zu bezahlen, obgleich er doch selbst seinen Kaffee verschüttet hatte und das auch noch absichtlich. Trotzdem schuldete Fred ihm ein Hemd. Schließlich hätte er sich schlimme Verbrennungen zuziehen können! „Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mann wie Sie an einem Samstag nichts vorhaben kann. Warum sind Sie noch Single, Jonas? Sind Sie zu jung, um sich zu binden?" Er lachte. „Wenn man Sie so hört, könnte man denken, Sie seien reif fürs Altersheim. Sie sind doch nur ungefähr fünfzehn Jahre älter als ich." 76 Dr. Barb wandte den Blick ab. „Äh ... erinnern Sie mich nicht daran. Aber kommen wir wieder zu Ihnen. Warum hat Sie sich noch niemand geschnappt?" „Nun ... ich war ... ich meine, ich gehe aus, so ist es nicht. Mehr als ihr NEAFreaks, das steht fest." Sie hob eine Augenbraue. „Sie legen die Latte aber nicht sehr hoch." Er lachte wieder. „Richtig, das stimmt." Die Kellnerin brachte ihm seinen Appletini und ein Ginger Ale für Dr. Barb. Sie stießen an. „Auf Ihr neues, supertolles, wunderbares Ich, das eigentlich gar nicht neu ist, das andere jetzt aber nicht mehr übersehen können." Sie errötete - Gott, dass es tatsächlich noch Frauen gab, die rot wurden! -, und sie stießen noch einmal an. Dann nahm er ihre lockere Plauderei wieder auf, die die wonnige Dr. Barb offenbar faszinierend fand, anders als Fred, die davon entweder wütend wurde oder zu Tode gelangweilt war.
„Wie dem auch sei, ich komme vor die Tür und unter Leute, und an Partys mangelt es nicht, aber ... na ja, ich glaube, ich habe eben den richtigen Menschen noch nicht gefunden." „Das finde ich erstaunlich. Sie dürften doch keinen Mangel an Auswahl haben." „Na ja ... das vielleicht nicht gerade ... aber ich bin in eine spezielle Person verknallt. Das ist wohl der Grund, warum ich mich für niemand anderen interessiere, verstehen Sie?" Dr. Barb nickte. „Natürlich, das verstehe ich sehr gut. Was trinken Sie da? Es hat die gleiche Farbe wie Lammgelee." „Appletini. Probieren Sie mal." Sie nahm sein Glas und nippte daran, hob die Augenbrauen und nippte noch einmal. „Oh. Das schmeckt wirklich gut. Ich werde mal einen nehmen, wenn ich nicht arbeite." 77 „Sie arbeiten jetzt gerade nicht, Dr. Barb." Sie kicherte. Kicherte. Er fand es bezaubernd. Und wollte, dass sie es wieder tat. Vielleicht, wenn ich jongliere? „Oh doch, ich arbeite. Nach dem Mittagessen gehe ich wieder zurück." „Das geht nicht. Nach dem Mittagessen gehen wir zu Sergejs." „Wohin?" „Er ist der gefragteste Stylist in der Stadt im Moment, auf Monate hin ausgebucht, aber er schuldet mir noch einen Gefallen - ich habe ihm seinen späteren Ehemann vorgestellt -, deswegen empfängt er Sie. Und er wird Ihnen einen Preisnachlass auf den Haarschnitt geben." Sie schüttelte den Kopf und setzte ihr Glas ab. „Nein, Jonas. Kein Haarschnitt. Kein Sergei." „Aber es fehlt nur noch ein Schritt, und Sie sind eine Göttin!", jammerte er. „Eine Göttin? Oh, Jonas. Wir sollten an dieser Stelle aufhören. Ihretwegen werde ich noch ganz eingebildet. Es dauert nicht mehr lange, und ich habe vergessen, dass ich eine Vogelscheuche mittleren Alters bin. Und dann?" Er starrte sie an. „Eine Vogelscheuche? Vogelscheuche?", wiederholte er ungläubig, vielleicht ein wenig zu laut, denn der Tisch vor ihnen wandte sich kollektiv zu ihnen um. „Dr. Barb, als wir eben in diesem Kaufhaus mit den vielen Spiegeln waren, haben Sie da einen Blick in einen von ihnen geworfen? Sie haben mit einer Vogelscheuche so wenig gemein wie ... wie ..." Er suchte nach einem passenden Vergleich. Oder war es eine Metapher? „Wie Fred mit einem Charmebolzen." Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand. Nahm. Seine. Hand! „Jonas, Sie sind so süß. Und Sie haben so viel für mein Selbstbewusstsein getan, dass ich gar nicht weiß, wie ich Ihnen H77
danken soll. Ich finde es wunderbar, dass Sie mich so sehen, wirklich, auch wenn ich selbst dazu nicht in der Lage bin. Sie haben so viel für mich getan, dass ich auch etwas für Sie tun möchte. Erzählen Sie mir doch ein bisschen mehr von dieser Person, in die Sie verliebt sind. Vielleicht ist da ja doch etwas zu machen." Oh. Schluck. „Tja ... ich kenne sie seit Jahren, habe aber nie den Mut gefunden, sie näher kennenzulernen. Ich ertrage es kaum, im gleichen Raum zu sein ... Sie wissen, wie das ist." Dr. Barb nickte. „Und jetzt, Jonas, hören Sie mir gut zu." „Sagen Sie das noch mal, aber strenger." Sie blickte ein wenig verwirrt, richtete sich dann aber auf und sagte mit festerer Stimme: „Hören Sie mir jetzt einmal gut zu, Jonas." Sein ganzer Körper kribbelte, wenn Sie mit ihrer Schullehrerinnenstimme sprach. „Sie sind ein wundervoller Mann: gut aussehend, witzig, intelligent, süß. Sie werden einen Mann sehr glücklich machen. Das Wichtige ist, dass Sie den Richtigen finden." „Wie bitte?" „Sie haben einem Mann viel zu bieten, und ich bin mir sicher, dass der Herr, in den Sie verliebt sind, das genauso sehen wird, wenn Sie erst einmal die Gelegenheit gehabt haben, ihn näher kennenzulernen." „Aber ..." In seiner Überraschung platzte er einfach mit der Wahrheit heraus. „Aber Sie sind dieser Herr, in den ich verliebt bin!" Sie starrten sich gegenseitig an. Dr. Barb sah leicht verstört aus, das Ginger Ale war auf halbem Weg zu ihrem Mund in der Luft hängen geblieben. Und Jonas verfluchte sich selbst. Es war nicht das erste Mal, dass eine Frau annahm, dass er schwul sei, aber er wäre nie darauf gekommen, dass Dr. Barb ... merkte sie 78 denn nicht, dass er kaum seine Finger von ihr lassen konnte? Sah sie das denn nicht? „Aber ... Sie sind schwul. Sie sind Dr. Bimms bester, schwuler Freund." „Ich bin nicht schwul." „Doch, das sind Sie." „Dr. Barb", fuhr er sie an, „das müsste ich doch wissen. Vertrauen Sie mir, ich bin noch nicht einmal bi. Ich habe eben nur keine Probleme mit meiner femininen Seite, okay?" Langsam färbte sich ihr Gesicht. „Aber ... Ihre Vorlieben ..." „Metrosexuell." „Aber Sie mögen auch ..." „Meine feminine Seite. Obwohl ich ein Mann bin." Jetzt stammelte sie mit rotem Kopf: „Aber ich ... ich ... sehe Sie nie mit irgendwelchen Mädchen ... Frauen, meine ich ..."
„Sie haben mich noch nie mit irgendjemandem gesehen." Sie klappte so schnell den Mund zu, dass er ihre Zähne aufeinanderschlagen hörte. Dann sagte sie mit sehr leiser Stimme, hauchte fast, und das sehr schnell: „Siemeinenichbindiejenigeindiesiedieganzezeitüberverliebtwaren?" „Klar. Sie haben mir schon gefallen, als ich Sie das erste Mal gesehen habe, obwohl Sie diesen hässlichen grünen Hosenanzug unter Ihrem Kittel getragen haben." „Aber Jonas, ich bin so viel älter als ..." Er schnaubte. „Fünfzehn Jahre." „Sechzehn, glaube ich." „Was ist das schon? Sie sind ja schließlich nicht Methusalem. Und ich liebe ältere Frauen. Wirklich. Vor allem die, die intelligent sind. Vor allem Autoritätspersonen. Vor allem ... ach egal, ich glaube, Sie hatten genug Überraschungen für einen Tag." „Es ist nur, weil ich nie ... ich meine, Fred hat nie ... und HS ich habe nie ... ich meine, Sie haben nie gesagt, dass ... ich meine ..." Mit wildem Blick sah sie sich um, wahrscheinlich auf der Suche nach dem Notausgang. „Ob Sie es glauben oder nicht, ich weiß, was Sie jetzt denken. Sie hatten angenommen, Sie würden einen total platonischen Morgen ohne sexuelle Spannungen mit einem schwulen Typen verbringen, der niemals mit Ihnen Sex haben würde, und jetzt, nachdem Sie im Kopf noch einmal den Morgen durchgespielt haben, wird Ihnen klar, dass wir eigentlich ein Date hatten und ich Ihren BH in der Umkleidekabine gesehen habe." Sie war wirklich schnell, diese Dr. Barb, das musste man ihr lassen. Plötzlich stand sie vor ihm, ohne dass er sie hatte aufstehen sehen. „Nein, ich bin ... das ist unmöglich. Einfach unmöglich." Sie warf ihre Serviette auf den Tisch. „Was meinen Sie mit .unmöglich'? Dass ich seit sechs Jahren heimlich in Sie verliebt bin, oder dass Sie Gegenstand meiner sexuellen Fantasien sind? Oder dass ich Sie heiß und wunderschön finde? Oder dass ich nicht in Colin Farrell, sondern in Sie verliebt bin?" Aber er sprach bereits ins Leere. Sie hatte sich umgedreht und war aus dem Restaurant gerannt. „Kellnerin! Noch drei von diesen hier, bitte!" Er legte den Kopf auf den Tisch, zog sein Handy heraus und tippte Freds Nummer. „Was ist?" „Dr. Barb ist auf dem Weg zurück." „Okay. Hier gibt es ohnehin nichts mehr für uns zu tun. Alle wollen etwas essen gehen. Willst du mitkommen?" „Ehrlich gesagt, nein." „Oh. Ist alles in Ordnung? Du hörst dich irgendwie ... hohl an." 79
„Mir wurde gerade das Herz aus dem Leib gerissen." „Dann willst du also kein Mittagessen?" „Nein." „Okay. Dann tschüss." Fred legte auf. Er war ihr deswegen nicht böse. So war sie eben, wenn sie an der Lösung eines besonders kniffligen Problems arbeitete. Dann hatte sie kein Ohr für etwas anderes. Oder jemand anderen. Außerdem hatte er zum ersten Mal in seinem Leben nicht das Bedürfnis, mit Fred zu reden. H80 24 Fred legte auf. „Er hat sich irgendwie seltsam angehört." „Ich kenne ihn ja noch nicht sehr lange, aber überrascht dich das?" „Nein, eigentlich nicht. Auch nicht bei Jonas." Sie zuckte die Achseln. Im Moment hatte sie genug andere Probleme. „Ich spreche später mit ihm. Er wird schon wieder auftauchen und wahrscheinlich dann, wenn ich es am wenigsten erwarte. Das ist seine Art von Magie." „Aha. Ich habe mich schon gefragt, ob Zweibeiner irgendeine Fähigkeit besitzen, außer der der Zerstörung." „Nun", sagte Thomas gut gelaunt und hielt Fred die Tür auf, „einige von uns können Prinzen Hals über Kopf in Fischbecken werfen." Gegen ihren Willen musste Fred kichern. Der Witz war wirklich gut gewesen. Thomas trat dicht hinter ihr ins Zimmer und schnitt Artur so den Weg ab, dass dieser beinahe gegen den Türrahmen gelaufen wäre. Artur schubste Thomas „freundschaftlich" zurück, und der wäre fast gegen die Wand geprallt. Sie drehte sich um und runzelte die Stirn. „Seid brav, ihr beiden." „Was?", sagte Thomas mit unschuldiger Miene. „Kleine Rika, du bist sehr misstrauisch." „Ich habe Kopfschmerzen von dem ganzen Arger, den ihr beide mir bereitet, ganz zu schweigen von der Scheiße, die wahrscheinlich noch in meinen Lungen ist." Das war nur halb 80 gelogen; sie hatte gar keine Kopfschmerzen. Sie wurde nie krank. Aber trotzdem. Ihretwegen war sie auf dem besten Weg, Kopfschmerzen zu bekommen, und das war schlimm genug. „Ist es euch recht, wenn wir ins Legal's gehen?", fragte Tomas und warf sich in seine Lederjacke. „Oder sollen wir noch mal in das Sushi-Restaurant? Art? Brauchst du rohen Fisch?" „Nein. Ich kann viele eurer Speisen essen." „Äh Leute, wird euch nicht kalt? Draußen hat es heute wahrscheinlich nur fünfzehn Grad." Er deutete auf ihre T-Shirts und Shorts.
Fred und Artur sahen sich erst gegenseitig an, dann Thomas. „Nein." „Oh. Okay. Nun denn. Schick? Oder soll's schnell gehen? Roh oder gekocht? Oder Suppe im Souper Salad? Subway? Clam-Shack?" „Lasst uns nach Faneuil Hall gehen", schlug Fred vor. „Dort kann Artur vorher einen Blick auf alles werfen. Und die Chance ist groß, dass wir alle drei etwas finden, das uns schmeckt." Außerdem liebte sie Faneuil Hall. Nun ja, das Essen. Nicht das Gedränge. Die Markthallen waren nur einige Blocks vom NEA entfernt, und nach einem fünfminütigen strammen Marsch waren sie dort. Ein strammer Marsch in Schweigen, wie Fred erleichtert feststellte. Sie war erschöpft, nicht nur körperlich - tatsächlich überhaupt nicht körperlich -, nur ihr Kopf war müde. Mit Artur und Thomas umzugehen war für sie wie ein Drahtseilakt - auf einem Seil aus Glassplittern. Und mit nackten Füßen. Und was das kleine Problem mit den Fäkalien betraf: Wenn sie den Mistkerl, der seine Scheiße ins Meer gekippt hatte, in die Finger bekäme, würden sie sich mal ausgiebig unterhalten müssen. Möglicherweise auf der Intensivstation. 15° Doch was sie in Faneuil Hall sah und roch, munterte sie augenblicklich wieder auf, und sie rannte beinahe zu den Imbissständen. Erfreut stellte sie fest, dass es zu dieser Tageszeit nicht sehr voll war. „Treffen sich hier eure Leute?" „Nur die Hungrigen." Artur schnüffelte anerkennend. „Ich rieche ..." „Alles." „Alles?" „Bretzel, gedünstete Muscheln, Muschelsuppe, Hamburger, Truthahnbeine, Eiskrem, Sushi, Gelato, Bagel, Doughnuts, Pizza, Chocolate Chip Cookies, Milch." Fred holte Luft. „Smoothies, Reis, Curry, Nudeln, Frozen Yoghurt, Limonade, Enchiladas, Milchshakes." Die Markthalle war hell erleuchtet und sie betraten das Hauptgebäude, in dem sich ein Stand an den anderen reihte. „Große Ozeane", keuchte Artur. „Ich habe noch nie so viel Essen an einem Ort gesehen!" „Kocht ihr eigentlich euer Essen?", fragte Thomas. Er versuchte, seine Neugierde nicht zu offen zu zeigen, aber darauf fiel Fred nicht herein. Sein Eifer war für jeden, der genauer hinsah, nicht zu übersehen. „Manchmal versammeln wir uns an Land und feiern ein Fest, ja. Die, die wissen, wie man ein Feuer entfacht, werden in unserer Kultur verehrt." „Das glaube ich dir gern." „Aber dennoch habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht ..." „Wie alt bist du eigentlich?"
„Neunundvierzig Jahre", antwortete Artur abwesend, dessen Blick von Steves Griechischer Küche zu La Fasteria wanderte. 82 „Neun ... neunundvierzig? Fast fünfzig?" Fred war schockiert. Wenn sie gefragt worden wäre, hätte sie Artur auf Anfang dreißig geschätzt. „Wow! Du bist viel älter als ich." „Das ist alles erklärbar." Thomas legte seine große, warme Hand auf ihr Gesicht. „Fühlt sich kühl an. Ich nehme an, dein Blutdruck ist niedrig. Langsamer Herzschlag. Und natürlich die viele Zeit, die ihr im Wasser verbringt. Das lässt euch jung aussehen. Weil du nämlich auch nicht wie neunundzwanzig aussiehst, meine Schöne. Nicht mal annähernd." „Woher weißt du, wie alt ich bin?" „Ich habe mir die Zeit genommen, das herauszufinden", sagte er leichthin, als wenn es keine große Sache wäre. Als wenn es nicht gefährlich nach Stalking aussähe. Sie entfernte seine Hand von ihrem Gesicht und bedachte ihn mit einem verweisenden Blick. „Tja, es stimmt, ich werde ständig nach meinem Personalausweis gefragt. Aber ..." „Weißt du Fred, ich finde es toll, dass du jünger aussiehst, als du bist. Ich meine, es ist mir egal, wie alt du bist. Es wäre mir auch egal, wenn du ein sabbernder, tattriger, alter Mann wärst, so einer wie Artur." Sie lächelte. „Vorsicht, mein Freund. Du hast deinen Hebel vielleicht einmal bei ihm ansetzen können, aber ich habe das Gefühl, du hattest Glück." „Nicht genug Glück. Wenn ich mich recht entsinne, warst du nackt." „Thomas. Ich hatte keine Beine. Und daher auch nichts dazwischen." „Man wird doch wohl noch träumen dürfen, nicht wahr?" Sie lachte. „Ich frage mich, ob du nur freimütig oder pervers bist." Er rückte näher. „Finde es heraus", sagte er. Sein Atem fühlte 152 sich warm auf ihren Lippen an. Sie konnte nicht anders, als ihre Augen zu schließen und sich noch ein wenig näher zu seiner Wärme vorzulehnen, und ... „Ihr beiden, kommt sofort her. Mich verlangt nach einem King Com Dog\" Thomas stöhnte entnervt auf und rückte zögernd wieder ab. „Liebling, ich dachte, wir wollten einen Babysitter für den Kleinen engagieren." Sie schnaubte und ging los, um Artur zu suchen. Sie fand ihn mitten auf dem Laufgang, stehend (eine Verletzung der Faneuil-Etikette, aber das würde sie ihm später sagen), wo er sich mit wilden Blicken umsah. Beinahe schien es, als wolle er alles auf einmal probieren. „Mich gelüstet ebenso nach einer Brotschale mit Muschelsuppe und einem Fruchtsalat und einem Frappuccino und einem Eclair." „Jesses, Artur, ich habe doch auf dem Weg hierher nicht im Lotto gewonnen. He, reicher Liebesromanschreiber! Komm mal her!"
„Ach, reicht es nicht, dass er mit mir zusammen in einem Hotelzimmer wohnt? Jetzt muss ich auch noch für sein Essen bezahlen!" „Hol die Geldstücke aus deiner Kleidung hervor", befahl Artur. „Ich wünsche mit einem Eclair zu beginnen." Es machte Spaß, dabei zuzusehen, wie Artur alles von Mokkaeis bis Sandwich mit Huhn probierte. Er hatte einen Magen aus Stahl und war unermüdlich. Sogar Thomas wurde es irgendwann zu viel. Er drückte ihm ein paar Dollarscheine in die Hand und sah ihm zu. „Du hast doch keine Allergien, von denen ich als dein Mit '83 bewohner wissen sollte, oder?", fragte Thomas, der nervös beobachtete, wie Artur einen weiteren Frappuccino schlürfte. „Beim Namen meines Vaters, dieses Essen ist eines Königs würdig! Und ich kann das beurteilen. Was ist das?" „Lo mein." „Und das?" „Ein Keks." „Und das?" „Ein Hummersandwich." „Und das?" „Ein Stück Peperonipizza." „Hmmm", sagte Artur. Für jemanden, der sich über acht verschiedene Gerichte gleichzeitig hermachte, hatte er ziemlich gute Tischmanieren. „Ich muss zugeben", sagte Thomas grinsend, „das macht sehr viel mehr Spaß, als ich gedacht habe. Warte, bis er den Zimmerservice entdeckt." Artur hielt Fred ein Hummersandwich unter die Nase. Sie zuckte zurück. „Artur, ich bin allergisch! Wenn ich das Zeug esse, muss ich mich eine halbe Stunde lang übergeben." „Kleine Rika, du weißt nicht, welches Vergnügen du dir versagst." Ein kleines Stückchen Hummersandwich landete auf Freds Wange. Sie wischte es fort. „Ich wünschte, der Großkönig wäre hier. Er liebt ein gutes Festmahl." „Vielleicht solltest du lieber nach Hause gehen", schlug Thomas mit der Subtilität eines Vorschlaghammers vor. „Ich meine, um mit ihm zurückzukommen. Irgendwann." „Irgendwann vielleicht." Artur war zu froh gestimmt, um sich provozieren zu lassen. „Noch einmal Dank an meinen guten Gastgeber." Thomas winkte ab. „Ich freue mich, dass es dir schmeckt. 83 Sie machen schon morgens auf, falls du zum Frühstück wiederkommen willst." „Ah, Frühstück!" Fred grinste und schob sich eine Gabel in den Mund, auf der eine Kirschtomate steckte. 'SS
Am nächsten Morgen folgte Fred grimmig dem Gesang. Jemand hatte (Bah pfui!) „Part of Your World" von dem Disney Soundtrack (Bah pfui!) angestimmt. Fred folgte der Stimme, einem hübschen, tragenden, perfekten Sopran, die Treppe hinauf bis zur obersten Ebene von Main One. Das Aquarium hatte noch geschlossen, und das bedeutete keine Besucher. Aber es hieß auch, dass sie sich Madison ganz ungestört vornehmen konnte. Oben am Becken fand sie sie. Sie hatte sich über den Rand gebeugt und sang den Fischen vor. „Hör sofort damit auf, befahl Fred. Am liebsten hätte sie ihr einen Eimer voller Fische über den Schädel gegossen. Madison schreckte hoch. „Oh! Hi. Dr. Bimm! Ich habe Sie gar nicht kommen hören. Sie sind wirklich krass leise." „Wie sollst du auch bei dem Geheule irgendetwas hören? Was tust du hier?" „Oh, das ist eine meiner Theorien", erklärte das Mädchen eifrig. Sie trug ein pinkfarbenes Oberteil und einen Minirock, der so kurz war, dass er eher wie ein Slip aussah. Sehr passend für ihren Arbeitsplatz. „Ich glaube, den Fischen geht es besser, wenn sie schöne Sachen hören wie Musik und so." Schon mal von den Pet Shop Boys gehört? „Tja ... das ist. Na ja." Sie warf einen Blick in Main One und ließ einen Stint hineinfallen, der schnell von einem vorbeischwimmenden Bar-rakuda verschlungen wurde. Wunderbar. Anscheinend war der 84 kurze Streik beendet. Nachdem sie die Dumpfbacke befragt hatte, würde sie in ihren Taucheranzug steigen und sie richtig füttern. Jetzt sagte die Dumpfbacke etwas. Besser, sie hörte zu. „Sie sind die Meeresbiologin, Dr. Bimm. Was halten Sie davon?" Sie blinzelte Fred mit ihren blauen Augen an und drehte sich eine blonde Locke um den Finger. „Wovon?" „Dass ich den Fischen vorsinge? Glauben Sie, es hilft ihnen?" Du willst lieber nicht wissen, was ich denke. „Ihre Eltern sind reich, habe ich gehört?" Sie verfluchte sich selbst. Thomas hätte sich geschickter angestellt. Und Jonas hätte diese Aufgabe erst recht souverän gemeistert. Aber der Verräter war wie vom Erdboden verschluckt, und Thomas steckte bis zum Hals in Laborarbeit. Und Artur hätte dieser dummen Nuss wahrscheinlich eine Heidenangst eingejagt. „Sie stammen aus einer alten Bostoner Familie?" „Hm-hm." „Was führt Sie dann hierher?" Ihre großen, blauen Augen wurden, wenn das überhaupt möglich war, noch größer. „Oh, Dr. Bimm, ich wollte schon mit Delfinen arbeiten, da war ich noch ein kleines Mädchen."
„Seit dem frühen Mittelalter also, was?" Fred sah zu, wie Madison mit ihren langen, rosafarbenen Fingern im Wasser planschte. Hoffentlich verwechselt eine der Schildkröten ihre Finger mit Shrimps, dachte sie böse. „Sie wissen aber, dass es im NEA keine Delfine gibt?" „Hä?" „Im NEA. Gibt. Es. Keine. Delfine." Du. Blöde. Kuh. Madison lächelte wissend. „Noch nicht." „Oh." Das musste Fred erst einmal verdauen. „Ihre Eltern iS8 kaufen Ihnen also Delfine und stecken sie in ein neues Becken im NEA?" „Nachdem sie das neue Habitat finanziert haben." Jetzt begriff sie. Es war dämlich, aber nachvollziehbar. „Also deswegen sind Sie hier?" „Natürlich!" „Aber was ist, wenn es länger dauert als Ihr Praktikum?" „Oh, Dr. Barb hat gesagt, ich könne als Ehrenamtliche weiterarbeiten, solange ich wolle." „Natürlich. Ihre Eltern haben nicht zufällig, äh ..., ein neues Hotel gebaut und die Rohre aus den Toiletten in die Bucht legen lassen, was?" „Iiiihhhhh!" „Damit wäre das auch geklärt", sagte Fred, die die Unterhaltung jetzt zu langweilen begann, und ging. Die Melodie von „Part of Your World" folgte ihr die Treppe hinunter und durch die Tür bis auf die Straße hinaus. '85 Zum dritten Mal hämmerte sie gegen Jonas' Tür, drückte das Ohr an das Holz und ... ja, sie hatte sich nicht geirrt. Auf der anderen Seite hörte sie jemanden rascheln. „Jonas, mach die verdammte Tür auf! Es sind jetzt drei Tage! Ich will nicht diejenige sein, die deine Leiche entdeckt." Weiterhin geheimnisvolles Rascheln. „Jonas! Ich zähle bis eins. Dann trete ich die Tür ein, und du bist deine Kaution los. Eins ..." Gerade als sie den Fuß hob, öffnete sich die Tür. Jonas stand vor ihr, in seine Daunendecke gewickelt. Das blonde Haar, das er gewöhnlich mit großer Sorgfalt und viel Schaum in Wellen legte, stand ihm nun in Büscheln zu Berge. Seine Augen waren blutunterlaufen. Und zum ersten Mal in der Geschichtsschreibung duftete er nicht nach dem Toilettenwasser von Aramis. „Mein Gott. Du siehst aus wie ausgekotzt. Wo, zum Teufel, hast du gesteckt?" „Ich sterbe", sagte er mit hohler Stimme. „Tja, das scheint ein Virus zu sein. Dr. Barb hat es auch." Sie war ihm gefolgt, vorbei an Schachteln von Schnellimbissmahlzeiten, die er sich offenbar hatte kommen lassen, und prallte nun beinahe gegen ihn, als er plötzlich wie angewurzelt stehen geblieben war. „Ach ja? Sie ist wohl überhaupt nicht zur Arbeit gekommen?"
„Nein. Was es natürlich leichter macht, die Jungs reinzuschmuggeln, aber trotzdem ist es komisch, wenn sie nicht da 161 ist. Niemand kann sich daran erinnern, dass sie jemals krank gewesen ist. Ich meine, es muss irgendein Virus sein." „Ja, irgendein Virus", brummte er. „Gott, es stinkt hier drinnen. Du hast mir einiges zu erklären, mein Freund. Wie kannst du einfach so für drei ganze Tage verschwinden? Artur und Thomas haben mich an den Rand der Verzweiflung gebracht." „Lass mich in Ruhe", stöhnte er und ließ sich bäuchlings und mit abgewandtem Gesicht auf die Couch fallen. „Siehst du denn nicht, dass ich im Sterben liege?" „Du stirbst nicht. Du schmollst. Was ist los, hat Sergei seinen Salon zugemacht und verlässt die Stadt? Stellt Ralph Lauren die Produktion von Polohemden ein?" „Schlimmer", sagte er dumpf. Fred war mit ihrem Latein am Ende. Jonas hatte keine Probleme. Nie. Sie war diejenige, die oft in einem Meer der Verzweiflung versank. Also spielte sie die Karte des schlechten Gewissens aus. „Du hast nicht angerufen, du bist nicht vorbeigekommen - ich hatte schon beinahe Angst, du wärst abgehauen, ohne mir etwas zu sagen." „Tut mir leid." Jetzt war es Zeit für die Mitleidskarte. „Äh ... Kopf hoch." „Ich weiß deine Anteilnahme wirklich zu schätzen, Fred. Und jetzt lass mich allein." Sie stiefelte durch das Wohnzimmer und dachte angestrengt nach. „Äh ... willst du Frühstück?" „Nein." „Komm schon. Reiß dich zusammen. Was auch immer es ist, es kann nicht schlimmer sein als meine Probleme. Auf keinen Fall." 86 Er seufzte und rollte sich herum, um sie anzusehen. „Fred, nur weil es nicht deine Probleme sind, heißt es nicht, dass es keine sind." „Ach ja? Dann hör dir das mal an. Entweder versucht Thomas mich zu küssen oder Artur. Und bei Artur wird sehr bald eine Sicherung durchbrennen; wir haben viel Zeit im Labor verbracht, weil ich absolut kein Interesse daran habe, in diesen Scheißhaufen von Hafen zu springen." „Wie bitte?" „Siehst du? Wenn du nicht durch Abwesenheit geglänzt hättest, wüsstest du es. Die geheimnisvollen Toxine? Das sind Fäkalien." „Du meinst... wortwörtlich?" „Oh ja. Bah, ich habe immer noch den Geruch in der Nase. Also sind wir alle Baugenehmigungen durchgegangen und Giftanalysen - eine Scheißarbeit,
sage ich dir, buchstäblich. Schließlich haben wir einige wenige Verdächtige identifizieren können, und eine habe ich bereits ausschließen können, aber erst, nachdem ich eine Überdosis von ihrem Gesang ertragen musste, und jetzt müssen wir leider mit der Lollipop rausfahren." Er sah alarmiert aus. „Fred, du kannst nicht auf ein Boot gehen." „Ich weiß." „Du und Boote - das geht gar nicht!" „Ich habe ja versucht, es ihnen begreiflich zu machen. Aber die Alternative wäre, sie allein losziehen zu lassen, und dann würden sie sich wahrscheinlich gegenseitig die Köpfe einschlagen." „Dein Liebesleben ist doppelt so aufregend wie meins." „Auf diese Art von Aufregung kann ich verzichten. Und sie sind nicht verliebt in mich. Sie haben sich da irgendwie in etwas verrannt." >87 „Na klar." „Fang jetzt nicht mit der alten Leier an, ich würde mich nicht verlieben, weil ich Angst hätte, verlassen zu werden. Das ist Blödsinn." „Aber es stimmt doch." Jonas starrte hoch zur Decke. „Ich bin verliebt. Ich habe es ihr endlich gesagt." „Und?" Fred wappnete sich. Sicher würde sie jetzt etwas Peinliches zu hören bekommen. „Sie hat die Flucht ergriffen. So schnell sie konnte." „Oh. Autsch. Was ist denn das für eine Tussi? Zeig mir, wer sie ist, und dann sehen wir ja, wie schnell sie mit zwei gebrochenen Beinen rennen kann." Er seufzte. „Das ist aus vielerlei Gründen recht verlockend, aber es geht nicht, vielen Dank." „Dann vergiss die blöde Kuh. Wer es auch ist, du kommst gut ohne sie klar." „Sie ist keine blöde Kuh", fuhr er auf und gab damit zum ersten Mal wieder ein richtiges Lebenszeichen von sich. „Nenn sie nicht noch einmal so." „Jonas, wenn sie nicht erkannt hat, wie wunderbar du bist, dann ist sie eine dicke, fette, dumme, blöde Kuh, und ich werde sie nie etwas anderes nennen." „Ich liebe sie seit sechs Jahren." „Äh ... Wie war's mit: Zeit heilt alle Wunden." „Netter Versuch." „Ich würde vorschlagen, du wäschst dich und kommst mit mir mit zum NEA. Es wird dir guttun, mal rauszukommen. Und ich könnte deine Hilfe wirklich brauchen. Du bist so gut darin, die Jungs abzulenken, wenn sie aufeinander losgehen wollen." Er seufzte wieder. „Ich kann nicht." „Wieso nicht?" 87
„Ich habe keine Unterwäsche." „Seit wann", fragte sie, „trägst du Unterwäsche?" Darüber dachte er einen Moment nach. Dann sagte er: „Du hast recht." Und stand auf, um eine Dusche zu nehmen. 88 Die Lollipop war neben der Voyager III, die die Touristen benutzten, um Wale zu beobachten, am Dock des NEA festgemacht. Die kleinere Lollipop .. . „Wie in ,On the Good Ship Lollipop'", sagte Jonas. „Dem Song? Kapiert? Nein?" ... war für die Forschungsexpeditionen des Aquariums vorgesehen. Als Postdoc mit seinem Forschungsvorhaben konnte Thomas sie ausleihen und eine Besatzung zusammenstellen, wann immer es ihm passte - genauso wie Fred. Mit Dr. Barbs Erlaubnis selbstverständlich. Aber da sie im Moment nicht anwesend war, würden sie dieser bürokratischen Hürde auf elegante Weise ausweichen können. „Ist es nicht wunderbar?", sagte sie gut gelaunt, doch es hörte sich ein wenig gezwungen an. „Unterwegs zu sein, an diesem wunderschönen, äh Herbsttag?" „Es regnet." Jonas schlug den Kragen seines Mantels hoch. „Ach, das bisschen Wasser schadet dir nicht. Vertrau mir. Wenigstens kommst du auf diese Weise an die frische Luft. Willst du mit aufs Boot?" „Mit dir?" Er schauderte, der unsensible Kerl. „Auf keinen Fall. Ich bin nur hier, weil du mich gezwungen hast, meinen Kokon zu verlassen. Wenn ich mich von dir verabschiedet habe, gebe ich mich wieder ganz meiner Verzweiflung hin." „Ich verspreche auch, dass ich mich nicht vom Fleck rühren werde." 88 „Fred - nein." „Schon gut, schon gut. Wahrscheinlich ist es besser so." Sie hörten Getrampel vom anderen Ende des Docks, und als sie sich umdrehten, sahen sie Artur und Thomas, die auf sie zukamen. „Oh, als wenn das Unterseevolk sein Geschäft niemals im Meer erledigte!" „Unser Geschäft, wie du sagst, zersetzt sich, wenn es mit Salzwasser in Berührung kommt. Ganz sicher pumpen wir nicht konzentrierte Ladungen davon in unser Wohnzimmer." „Ich habe genug von deiner Selbstzufriedenheit, Artur. Zeige mir ein Lebewesen, das niemals Mist baut. Du wirst auf diesem Planeten keines finden." „Aber du wirst mir sicher zustimmen, dass eure Art Mist baut wie keine andere Spezies. Und viele, die Mist bauen, tun es sogar absichtlich, nur zum Zweck der Eroberung." „Eigentlich, um Profit zu machen."
„Das ist dasselbe." „Da schwimmen Millionen von Unterseewesen in den Ozeanen herum und essen so viel rohen Fisch, wie sie sich hinter die Kiemen schieben können, und du willst mir weismachen, dass ihr überhaupt keinen Schaden anrichtet?" „Bis vor einer Woche wusstest du noch gar nichts von unserer Existenz." „Ja, aber jede Kultur kennt Legenden über Meerjungfrauen. Die müssen ja irgendwo ihren Ursprung haben, mein Freund. Die Leute haben sich das ja nicht aus den Fingern gesogen. Und wahrscheinlich kontrolliert ihr auch diese Kraken, die im siebzehnten Jahrhundert die europäischen Schiffe mit ihren riesigen Tentakeln unter Wasser gezogen haben und alle, die sich darauf befanden, getötet..." 89 „Diese Unterhaltung ermüdet mich." „Pech gehabt. Wir ..." „Ach, diese Jungs!", sagte Fred mit gespielter Zuneigung. „Was würde ich nur ohne sie tun? Jetzt schlagen sie sich nicht mehr, sondern diskutieren - endlos. Bitte töte mich." „So einfach kommst du mir nicht davon", murmelte Jonas. Fred wollte gerade etwas erwidern, als ihr Handy klingelte. Gereizt zog sie es aus ihrer Gürteltasche und klappte es auf. „Dr. Bimm?" Es war Dr. Barb. „Ich sehe auf dem Plan, dass Sie und Thomas heute die Lollipop ausgeliehen haben?" Ups. „Ja, das stimmt." „In Anbetracht dessen, was letztes Mal passiert ist, würde ich sehr gern ... warten Sie. Ich komme raus zu Ihnen." „Aber ..." Doch Dr. Barb hatte bereits aufgelegt. „Verdammt. Gut, dass du da bist, Jonas, du musst sie für mich ablenken." „Guten Morgen, kleine Rika." „Hallo, Fred." „Hallöchen, Jungs." Sie zog Jonas zur Seite, damit die Männer aufs Boot konnten. „Ich bin sofort bei euch." Sie wandte sich an Jonas. „Okay, jetzt scheint es wirklich praktisch zu sein, dass du nicht mitkommst." Jonas zuckte die Achseln. „Ist doch egal." „Jonas, wer auch immer die Tussi ist, vergiss sie! Ganz offensichtlich ist sie dumm wie Brot und hat dich nicht verdient. Also denk nicht mehr an die Schlampe und hör mir zu, bitte." „Oh, es ist Fred-Zeit. Ist denn heute Dienstag? Oder einer der anderen sechs Tage der Woche?" „Sarkasmus steht dir nicht", sagte sie steif. „Und außerdem ..." „Hi, Dr. Bimm!" Sie sahen auf. Madison flitzte winkend auf sie zu. Sie trug ein 89
pfirsichfarbenes, ärmelloses Hemdchen (hatte sie einen ganzen Schrank von diesen Dingern in allen möglichen Farben?) und Kaki-Hosen, die ihr Schambein zeigten. „Mein Gott", murmelte Jonas, „ich kann ihre Stoppeln sehen." Madison kam kurz vor ihnen zum Stehen. „Hi! Fahren Sie mit dem Schiff raus?" „Ja." „Kann ich mitkommen? Ich kann nach Delfinen Ausschau halten." „Nein." „Außerdem", sagte Jonas liebenswürdig, „gibt es keine Delfine im ..." „Oh, bitte, bitte, bitte! Ich falle Ihnen auch nicht zur Last, ich schwöre es. Sie werden nicht einmal merken, dass ich da bin!" „Das", sagte Fred, „ist eine Lüge." Madison sah niedergeschlagen aus. „Nun ... vielleicht kann Ihr Freund mir dann Gesellschaft leisten." Sie sah Jonas an und klimperte mit ihren langen Wimpern. Fred hatte nicht gewusst, dass es Frauen gab, die das tatsächlich noch taten." „Vielen Dank, Süße", sagte Jonas. „Aber ich bin in Trauer wegen meines Liebeslebens." „Sie ... oh. Oh." Fred konnte sehen, dass Madison ganz offensichtlich den Schluss zog, dass Jonas schwul war. Normalerweise würde sie sich für ihren Freund ärgern und die Sache sofort richtigstellen, aber in diesem Falle tat Madison Jonas einen Riesengefallen. Darüber hinaus kam nun Dr. Barb mit schnellen Schritten auf sie zu. Jonas stand mit dem Rücken zu ihr, aber Fred hatte einen ungehinderten Blick auf ... war das wirklich ein marineblaues Kostüm? Sie starrte. Und starrte noch immer, als Dr. Barb sie bemerkte 90 und schlagartig das Tempo drosselte, ja sogar stehen blieb. Und wenn Fred es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gesagt, Dr. Barb ... posierte? „Heiliger Bimbam!", piepste Madison. „Dr. Barb hat sich die Haare schneiden lassen! Und neue Klamotten!" Jonas machte große Augen. Er wirbelte herum, als wenn sich statt der guten, alten Dr. Barb der schwarze Mann an ihn herangeschlichen hätte. „Jesses", sagte Fred beeindruckt. „Sie sieht echt gut aus. Ich wusste gar nicht, dass sie unter diesen Laborkitteln solch eine hübsche Figur versteckt." Er wirbelte erneut herum und warf ihr einen bösen Blick zu. „Na, wenn du es schon bemerkst, muss sie sich ja wirklich sehr verändert haben." „Jetzt mach aber mal halblang. Du brauchst deine schlechte Laune nicht an mir auszulassen. Das darf nur ich bei dir." Dr. Barb kam langsam (?) die Rampe hoch, die zu dem Ladedock führte. Das Klemmbrett schien sie vergessen zu haben; die Hand, die es hielt, baumelte an ihrer Seite. Jonas drehte sich wieder um, um ihr entgegenzusehen.
„Hallo ... Jonas." „Hallo, Barb." „Ich, äh ..., es ist schön, Sie wiederzusehen." „Das finde ich auch. Sie sehen hübsch aus." Dr. Barb - wie bitte? - errötete. Sie errötete? „Ich, ähem ..., hatte ein bisschen Angst, heute zur Arbeit zu kommen. Ich fürchte, ich bin Ihnen die letzten Tage aus dem Weg gegangen." „Das ist schon in Ordnung. Ich bin Ihnen ebenfalls aus dem Weg gegangen." 91 Fred wandte sich an Madison. „Gehen Sie, und reinigen Sie das Hummerbecken." „Aber das hier ist viel..." Fred gab ihr einen aufmunternden Schubs, der sie beinahe in die Bucht befördert hätte. „Auf, auf." Derweil starrten sich Dr. Barb und Jonas in die Augen und waren sich offenbar nicht bewusst, was für einen befremdlichen Anblick sie boten. „Es tut mir leid, dass ich einfach so davongerannt bin. Es war einfach zu viel..." „Schon gut", sagte Jonas, in den das erste Mal an diesem Tag wieder etwas Leben kam. „Ich habe Sie auch damit überfallen." „Oh, nein! Ich hätte nicht auf diese Weise reagieren sollen. Ich war zu dumm zu verstehen, was für ein enormes Kompliment Sie mir damit gemacht haben. Ich ... ich würde gerne mit Ihnen irgendwohin gehen, wo wir ungestört sind, um darüber zu sprechen." „Ach ... ach ja?" Fred, deren Blick wie bei einem Tennismatch zwischen den beiden hin und her geflogen war, mischte sich ein: „Ach ja?" Jonas streckte die Hand aus. Dr. Barb legte ihre kleine, pummelige Hand in seine. Sie begannen, gemeinsam die Rampe hinunterzugehen. Plötzlich drehte Dr. Barb sich um, wedelte mit dem Klemmbrett und rief: „Gute Fahrt. Dr. Bimm!" „Gute Fahrt? Erinnern Sie sich nicht daran, was das letzte Mal passiert ist? Liegt Ihnen mein Wohlergehen denn gar nicht am Herzen? Und warum halten Sie Händchen mit meinem besten Freund?" Jonas winkte ihr zu, ohne sich umzudrehen. „Bye, Fred." „Hört auf! Hört sofort auf damit! Ich habe jetzt keine Zeit für 91 Verwicklungen! Jonas! Nimm die Hände von meiner Chefin! onas! Joooonaaaassss!" Dann sagte sie, beinahe wimmernd: „Dr. Barb?" Glücklicherweise gehorchte Jonas, ließ Dr. Barbs Hand los und lief zu ihr zurück. Das gefiel ihr schon besser! Er hatte seine Aufgabe, ihre Chefin abzulenken, vielleicht ein wenig zu ernst genommen, aber jetzt schien er wieder ...
„Gib mir die Schlüsselkarte", zischte er. „Wie bitte?" „Thomas' Schlüsselkarte! Ich weiß, dass er dir seine Ersatzkarte gegeben hat. Gib sie mir. Es dauert doch sicher eine Weile, bis ihr zurück seid, oder?" „Ich werde dir ganz sicher nicht die Schlüsselkarte zu einem Hotelzimmer geben, das nicht meins ist, damit du meine Chefin vögeln kannst!" „Doch, das wirst du", sagte Jonas. „Sonst trete ich dir in deinen Fischhintern, dass du im Hafen landest. Zusammen mit der ganzen Scheiße." „Gut, dann nimm sie." Mürrisch gab Fred ihm die Karte. „Wehe, du machst mein Leben noch komplizierter, als es schon ist!" „Okay. Tschüss." Er flog fast die Rampe hinunter zu der Frau, in die er seit sechs Jahren heimlich verliebt war. „Nichts von dem, was ich gesagt habe, war ernst gemeint!", schrie Fred, aber die beiden Turteltäubchen beachteten sie nicht. Sie unterdrückte den Drang, gegen irgendetwas zu treten, und stapfte zur Anlegestelle des Schiffes. 92 Kapitän O'Donnell machte kein glückliches Gesicht, als er sie sah. „Entfernen Sie sofort dieses nautische Ärgernis von meinem Schiff, sagte er anstelle eines Grußes zu Thomas. „Beruhigen Sie sich, O'Donnell. Dies ist eine offizielle Mission für das NEA." „Und für meinen Vater", meldete sich Artur zu Wort, der dafür seine Unterhaltung mit einem benommen aussehenden Ersten Offizier unterbrach. „Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass du im Hintergrund bleibst, Blödmann?", sagte Thomas bissig. „Das gilt auch für dich, Blödmann", sagte Fred. Sie wandte sich wieder dem Kapitän zu und bedachte ihn mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln. Er zuckte zurück. „Kapitän, das alles ist doch längst vergeben und vergessen, nicht wahr? Damals war ich ein ganz anderer Mensch, unerfahren, eigensinnig ..." „Es ist erst zwei Monate her, Dr. Bimm." „Aber wir beide haben Jahrzehnte an Weisheit dazugewonnen, nicht wahr?" Als er sie ungläubig ansah, sagte sie verärgert: „Nun, ich zumindest." O'Donnell wandte sich an seinen Ersten Offizier. „Wann hatten wir das letzte Mal einen Sicherheitscheck?" Artur trat an ihre Seite. „Der Herr über das Schiff scheint beunruhigt zu sein?" „Das ist eine lange Geschichte, Artur." 92 Der Erste Offizier sah prüfend auf eine Tabelle und sagte eifrig: „Vor zwei Wochen, Kapitän." „Hm. Ich denke, das müsste reichen." Er warf Fred einen misstrauischen Blick zu. „Möglicherweise."
Jetzt trat Thomas ebenfalls zu ihr. „Warum behandelt dich die Besatzung, als würdest du die Pest an Bord bringen?" Fred tat seine Frage mit einer lässigen Handbewegung ab. „Ein dummes Missverständnis, das zum, äh Sinken des letzten Bootes geführt hat." Als Thomas sie ungläubig anstarrte, fügte sie hinzu: „Aber dieses hier ist viel schöner als die Fiona. Größer, hübscher. Und außerdem versichert." „Dr. Bimm." O'Donnell hatte sich ihr so vorsichtig genähert, als sei sie eine Klapperschlange. „Bitte gehen Sie da hinüber. Setzen Sie sich auf den Stuhl, und bleiben Sie dort sitzen, es sei denn, Sie müssen sich übergeben. Nur unter diesen Bedingungen werde ich darüber hinwegsehen, dass Ihr Name nirgendwo in den Papieren für die heutige Fahrt vermerkt war." „Sehr gerne, Kapitän!", sagte sie mit einer Herzlichkeit, die sie ganz und gar nicht empfand. Er ließ sie immerhin mit einem blauen Auge davonkommen, und sie wusste es. Er hatte die Macht, jeden, selbst Dr. Barb, von seinem Schiff zu verweisen. „Kleine Rika, was hast du getan?" „Nichts Schlimmes, ich schwöre es!" Sie ging zu dem Stuhl hinüber, stolperte über eine Taurolle und geriet ins Taumeln. Wenn Artur nicht schnell wie der Blitz reagiert und sie aufgefangen hätte, hätte sie sich böse verletzen können. „Äh, ich möchte dir keine Umstände bereiten, aber wärst du so nett, mich zu meinem Stuhl zu tragen?" „Es ist mir ein Vergnügen, Rika." Er setzte sie auf den Stuhl, von dem sie nicht wieder aufstehen würde, bis die Übelkeit käme. „So, da wären wir." 93 „Danke." Und an Thomas gerichtet: „Hör auf, mich anzustarren, und mach den Mund zu." „Aber ... du bist eine Meeresbiologin." „Das weiß ich, Thomas." „Aber wir sind immer noch im Hafen." „Das weiß ich, Thomas!" Sie lehnte über der Reling und spuckte den Rest ihres Frühstücks in die Wellen. „Kleine Rika, wie kommt es, dass du krank bist?" „Seekrank", stöhnte sie und übergab sich erneut. Oh, wie wunderbar. Einfach perfekt. Zwei Typen standen auf sie, was merkwürdig genug war, und sie übergab sich ganz sexy. „Aber", zischte Thomas in ihr Ohr, „du bist eine Meerjungfrau!" „Das. Weiß. Ich. Und jetzt geh weg, es sei denn, du willst etwas davon auf deinen Schuhen haben." Thomas trat nicht zurück. Stattdessen lehnte er sich neben ihr über die Reling und strich ihr ein paarmal über den Rücken. „Warum hast du kein Dramamin genommen?" „Weil ich das zu schnell abbaue. Ich müsste vierzig Stück davon schlucken, damit es wirkt, und selbst dann weiß ich noch nicht ... Uarrg ..."
„Faszinierend. Und ekelhaft", sagte er. Jetzt strichen zwei Hände über ihren Rücken. „Kleine Rika, vielleicht sollten wir lieber umkehren und morgen wiederkommen, wenn du nicht mehr krank bist." „Sie kommt morgen nicht zurück!", brüllte Kapitän O'Donnell aus seiner Kabine, wo er und der Erste Offizier eilig die Rettungswesten, Flammenabsperrvorrichtungen und Leuchtraketen zählten. „Noch nicht einmal für eine Million Dollar", fauchte sie 94 zurück. Dann fügte sie ruhiger hinzu: „Es hilft nichts, Artur. Morgen würde das Gleiche passieren." „Äh ... wie wollt ihr ins Wasser kommen, ohne dass die Mannschaft es bemerkt?", fragte Thomas. „Glaub mir, O'Donnell wird begeistert sein, wenn ich von seinem Schiff springe. Solange ich ihm nicht in die Quere komme, kümmert es ihn wenig, was Artur und ich anstellen." „Du machst Witze. Er denkt an nichts anderes, als an die Sicherheit seines Bootes, und du meinst, es würde ihn nicht interessieren ..." „Er denkt an die Sicherheit seines Bootes. Nicht an die seiner Passagiere. Glaub mir." Thomas schüttelte den Kopf und ging, um seinen Taucheranzug anzuziehen. 94 29 Auf ihrer Liste der Verdächtigen standen nun nur noch das neue Fischrestaurant (Cap'n Clammys!), das neue Sleepytime-Hotel und das alte (aber kürzlich erst umfangreich renovierte) World Trade Center. Der Plan war, dass sie unter Wasser das Gelände, die Abflüsse und den Bauschutt untersuchen würden, in der Hoffnung, so die Ursache der Verschmutzung zu finden. Was sie unternehmen wollten, wenn sich herausstellte, dass eines der Rohre Fäkalien ins Meer spülte, wusste Fred nicht. Artur war dafür, den Besitzer des Rohres so lange zu würgen, bis seine Halswirbelsäule brach. Thomas hätte ihn lieber an die Umweltschutzbehörde verpfiffen. Fred war hin- und hergerissen. Sicher wusste der (oder die) Schuldige, was er (oder sie) tat. Deswegen sollte sein Tun auch andere Konsequenzen haben als lediglich eine Geldbuße. Aber Mord befürwortete sie nicht (obwohl Artur behauptete, es würde sich um reine Selbstverteidigung handeln). Wir zäumen das Pferd von hinten auf dachte sie, als sie neben Artur ins Wasser tauchte und Thomas sich in seinem Taucheranzug rücklings von Bord fallen ließ. Erst einmal müssen wir den Mann finden. Oder die Frau. Das wäre mir zu diesem Zeitpunkt schon genug.
Sofort beruhigte sich ihr Magen, und sie fühlte sich viel besser. Sie zwickte Thomas zum Spaß (was er durch das Gummi seines Anzugs wahrscheinlich nicht spürte) und schoss an beiden Männern vorbei. 95 Fühlst du dich besser, kleine Rika? Thomas hatte doch etwas gemerkt und reckte unauffällig den Daumen nach oben. Viel besser. Benutze nicht die Telepathie, um Thomas auszuschließen. Zur Antwort reckte sie ebenfalls den Daumen. Ich soll nicht was benutzen, um was zu tun? Schon gut. Halt die Augen auf. Und die Nase. Ich gestehe, ich weiß nicht recht, wie ich mich fühlen soll. Ich habe keine Lust, diesen Geschmack noch einmal im Mund zu haben. Mir geht es genauso, Artur. Oh, sieh mal dort! Thomas winkte sie zu sich und leuchtete mit der Lampe auf etwas, von dem sie annahm, dass es Cap'n Clammys von unten war. Dann mal los. Ah, kleine Rika, dein Pflichtgefühl ist lobenswert. Ja, das höre ich immer wieder. 180 Es war nicht einfach, mit der Schlüsselkarte zu hantieren, nachdem Barb ihm bereits die Hosen bis zu den Knien heruntergerissen hatte, aber Jonas schaffte es dennoch. Sie taumelten in die Präsidentensuite, kämpften mit den Kleidern des jeweils anderen, während sie sich küssten, schnauften, stöhnten und keuchten. Jonas stolperte über einen Diwan, und sie fielen beide zusammen darauf. „Ufffl" „Tut mir leid!", rief Barb und beugte sich über ihn. „Alles in Ordnung? Bin ich zu schwer? Ich gehe von dir runter." „Nicht, bis ich es sage", knurrte er und zog sie zu sich herunter, um sie wieder mit aller Leidenschaft zu küssen. Er hörte, wie einer ihrer Pumps auf den Teppich plumpste (der andere war bereits, da war er sich sicher, an der Tür auf der Strecke geblieben). Er öffnete den Knopf, der ihre Givenchy-Kostümjacke zusammenhielt, und sah einen Victorias-Secret-BH in passendem Marineblau. „Findest du nicht..." Keuchen und Stöhnen. „... dass das ..." Stöhnen und Küssen. „... viel besser ist als ..." Küssen und Seufzen. „... Laborkittel?" „Die werde ich auch noch tragen. Aber vielleicht knöpfe ich sie nicht mehr bis oben hin zu." Sie setzte sich rittlings auf ihn und zerrte gerade an seinem Hemd, als sie sich plötzlich auf dem Rücken wiederfand. Jetzt war sie diejenige, die „Ufff!" stöhnte, als er auf einmal oben lag. 181
Eine Position, die ihm durchaus gefiel. „Los", lachte er, „gehen wir ins Schlafzimmer." „Hier gibt es bestimmt eins", stimmte sie zu. Er stand auf und zog sie hoch. In dem geradezu lächerlich feudalen Schlafzimmer ließ er sich Zeit, als er ihr nach und nach jedes Kleidungsstück auszog, das er so sorgfältig für sie ausgesucht hatte. Sie hingegen war bedeutend ungestümer, mindestens zwei seiner Hemdknöpfe mussten dran glauben. „Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast." Noch mehr Ziehen und Zerren. „Drei Tage lang habe ich mir Vorwürfe gemacht, weil ich so blöd gewesen bin." Und noch mehr. „Da bietet sich mir eine wunderbare Gelegenheit, und ich habe nichts Besseres zu tun, als wegzulaufen." Er hörte etwas reißen. „Ich habe mich drei Tage lang in meiner Wohnung versteckt", sagte er und drängte sie zurück auf das Bett. „Das ist auch nicht viel besser. Ich habe mich einfach nicht getraut, dir nach dem, was passiert ist, gegenüberzutreten." „Ja, aber das war doch meine Schuld." „Na ja, wie ich schon sagte, ich habe dich damit ganz schön überfallen." „Ja, wie ich schon sagte, ich ..." „Barb?" "Ja?" „Ich stehe kurz davor, eine Fantasie, die ich seit sechs Jahren habe, auszuleben. Können wir für, sagen wir, zehn Minuten aufhören zu reden?" Sie lächelte zu ihm hoch. „Zehn? Oje." „Es ist auch eine ganz schön lange Zeit." „Ich werde auch versuchen, nicht zu lachen." „Das wäre toll." Er küsste sie auf den Mund, ihren üppigen, 182 sinnlichen Mund - lange genug, um diesen Moment später immer wieder in seinem Kopf abspielen zu können, in seinem einsamen Singlebett. Er küsste ihren Hals, während sie ihm mit den Fingern durchs Haar strich (Gott sei Dank hatte Fred ihn gezwungen zu duschen!), ihn streichelte und liebkoste. Er öffnete ihren BH, und zum Vorschein kamen sahnig weiße, weiche Brüste und rosafarbene Brustwarzen, die steif wurden, als er sanft mit dem Finger darüberfuhr. Sie schnappte nach Luft, als er sich über sie beugte und daran saugte. „Oh mein Gott... Jonas ... es ist Jahre her ... hör nicht auf." „Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht." Er küsste ihr Dekollete, streichelte dann eine Brust, während er sich der anderen mit seinen Lippen widmete. Währenddessen befreite sie sich ganz aus ihrem BH und schlängelte sich aus ihrer Unterwäsche.
Sie rollte sich herum, bis sie auf ihm lag und riss und zog an seinen Shorts, bis diese endlich auf dem Boden lagen. Sie warf einen Blick zurück über die Schulter und betrachtete zufrieden seinen Ständer. „Jetzt bloß keine abfälligen Bemerkungen", warnte er sie. „Das würde mir im Traum nicht in den Sinn kommen. Mir fiel gerade ein, dass auch Männer schön sein können." Erstaunlicherweise wurde er noch härter. Das war definitiv der Ständer seines Lebens. Einzigartig. Ja, dieser Ständer war unübertreffbar - da war er sich so sicher, wie irgendein Mann sich darüber nur sicher sein konnte. „Und jetzt vögel mich", knurrte Barb mit ihrer Schullehrerinnenstimme. „Aber sofort!" Er hatte sich geirrt! Und nie zuvor war er so dankbar dafür gewesen. Voller Bewunderung und Lust sah er zu, wie sie sich auf ihn setzte, ihn fest in ihre kleine, heiße Hand nahm und in 183 sich hineinführte. Sie war mehr als bereit für ihn. Ohne jeden Widerstand glitt er tief in sie hinein. „So ist es besser", sagte sie fröhlich und begann, ihn wie ein Cowgirl zu reiten. Fehlte nur noch das Lasso. Er packte ihre Hüften, drückte sich ihren Stößen entgegen und dachte: Ich sterbe, ich sterbe, sie bringt mich um, Gott sei Dank, Gott sei Dank . .. „Oh, Jonas, das ist wundervoll] Hör nicht auf!" Sie schwang sich auf und nieder. „Wolltest du nicht zehn Minuten lang nichts sagen?" Er stöhnte. Das Gefühl, wenn sie sich an ihm rieb, war herrlich. Ihre Brüste hüpften vor seinen Augen, als wollten sie ihn auffordern, geküsst zu werden, ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln, und ihre Augen blitzten. „Dem habe ich nie zugestimmt", sagte sie geziert, was schon ein Lacher war, in Anbetracht dessen, was sie gerade taten. „Das ist wahrscheinlich nur fair." Er spürte das bekannte Grummeln in seinen Hoden, was bedeutete, dass die Festlichkeiten bald vorüber sein dürften. So schnell war er seit dem College nicht mehr gekommen. Er streckte die Hand aus, fand Barbs Klitoris und streichelte sie zärtlich, erst nur ganz leicht, dann fester, bis sie auf seinen Fingern ritt wie auf seinem Schwanz. Dann erschauderte sie am ganzen Körper, lehnte sich zurück und schrie hoch zur Decke. Seine Fingerknöchel auf ihrer Hüfte wurden ganz weiß, als das Rumpeln in seinen Hoden stärker wurde und schließlich durch seinen Körper schoss, dass er glaubte, seine Schädeldecke würde platzen. Der Raum schien sich tatsächlich ein Stück zu neigen, erst zu einer Seite, dann zur anderen, als er verzweifelt gegen die Benommenheit ankämpfte. Barb brach stöhnend über ihm zusammen, als ihn der stärkste Orgasmus
184 seines Lebens mitriss, wie ein ... wie diese Dinger, von denen Fred gesprochen hatte ... Denk nicht an Fred, du Idiot. Tsunami. Wie ein Tsunami, das war es. „Oje", keuchte Barb in sein Ohr. „Du bist mein Tsunami." Sie setzte sich auf und blickte nachdenklich auf ihn herab, mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht und herrlich üppigen Brüsten. „An den Kosenamen müssen wir aber noch arbeiten", sagte sie schließlich, und er kitzelte sie, bis sie um Gnade flehte. 98 „Mann, was für eine Zeitverschwendung", grummelte Fred. Sie stolperte über eine Kühltruhe, fing sich aber gerade noch rechtzeitig. Der Kapitän half ihr auf die Rampe, die sie nun hinunterstampfte. „Und mein Frühstück bin ich auch wieder losgeworden." „Wir versuchen es weiter." Thomas war blass vor Erschöpfung. Sie waren stundenlang im Wasser gewesen. Selbst Fred konnte jetzt ein kleines Nickerchen vertragen. „Vielleicht schwimme ich später noch einmal hin, jetzt kenne ich ja die verdächtigen Stellen." Ärgerlicherweise sah Artur aus, als sei er gerade nach vierzehn Stunden Schlaf erfrischt aus dem Bett gesprungen. Reinrassige Wassermänner waren blöd. Fred gähnte. „Jetzt bist wohl du der mit dem lobenswerten Pflichtgefühl." „Ich möchte dir nicht noch mehr Qualen bereiten - denn die Fahrt auf dem Boot scheint dich gequält zu haben. Und obwohl er mich manchmal ärgert, möchte ich doch nicht, dass jener Schaden erleidet." Er deutete auf Thomas. „Das wäre nicht ehrenhaft." „Tja, wenn du meinst." „Tut, was ihr für richtig haltet", sagte Thomas. „Ich für meinen Teil gehe jetzt auf mein Zimmer und lege mich für einige Stunden zum Sterben hin." „Dein Zimmer?" Fred blieb mitten auf der Rampe stehen. Hinter ihr stöhnte der Erste Offizier. Sie winkte ihm beruhigend 187 zu und zückte ihr Handy. „Dein Zimmer. Richtig. Lass mich nur kurz nachfragen, ob Jonas kommen möchte. Zu uns, meine ich." „Ob er mit uns zusammen ein Nickerchen machen will?" „Lass mich ihn nur schnell mal eben anrufen." Barb schmiegte sich an seine Seite. Die Welt war in Ordnung. „Ich schwöre dir", murmelte sie, „so tollen Sex habe ich seit meiner Scheidung nicht mehr gehabt. Eigentlich sogar seit dem letzten Jahr vor meiner Scheidung."
Jonas gähnte. „Stimmt ja. Hattest du nicht gesagt, dass er dich das ganze letzte Jahr eurer Ehe betrogen hat?" „Hm-hm." „Idiot." „Hm-hm." „Ich will mich sicher nicht beschweren, aber ich kann einfach nicht glauben, dass niemand sich dich geschnappt hat, nachdem du den Blödmann losgeworden bist." Sie kicherte. „Doch, das hat jemand getan. Er hat nur ein paar Jahre gebraucht, um sich zu entschließen." „Hab Nachsicht. Auf Fred aufzupassen ist eine Vollzeitbeschäftigung. Und das neben meinem eigentlichen Job." Sie zeichnete mit dem Finger kleine Kreise um seine linke Brustwarze, was sein ganzer Körper erfreut registrierte. „Das trifft auf meinen Ex auch zu. Er nimmt immer neue Projekte, neue Aufträge an. Nur ein paar Blocks entfernt von hier hat er ein Hotel gebaut - und es doch tatsächlich gewagt, mir letzten Monat eine Einladung für die Einweihungsfeier zu schicken, kannst du dir das vorstellen?" „Du hättest ihm sagen sollen, dass er sich seine Einladung in den Hintern schieben kann." Er zauste ihr kurz geschnittenes 99 Haar, das locker ihr Gesicht umrahmte. Genau so, wie er es vorgeschlagen hatte. „Ich finde deine neue Frisur toll. Es fühlt sich so seidig an wie ... dein Mann hat was gemacht?" Barb, die mit geschlossenen Augen seine Berührungen genossen hatte, riss sie jetzt auf. „Ich fürchte, ich habe dich nicht ganz verstanden." Er hörte sie kaum. Angestrengt versuchte er, sich daran zu erinnern, was Fred ihm über ihr kleines Problem im Hafen erzählt hatte. War es nicht buchstäblich Scheiße im Wasser gewesen? Von einem neuen Gebäude? Eines, das im letzten Jahr erbaut worden war. Daran, dass es sie persönlich treffen sollte, hatten sicher weder Thomas noch der Prinz gedacht. Was wäre, wenn jemand den Hafen von Boston versaute, um dem NEA Arger zu machen? Scheißhausen würde wohl kaum Touristen anlocken. Wenn der ganze Hafen wie ein Dixi-Klo stank, wäre nicht mehr viel zu machen. „Dein Ex. Wie heißt er?" „Phillip King." „Dann hast du deinen Mädchennamen behalten." „Jonas, was ist los?" Er ignorierte die Frage. „Denk gut nach, bevor du die nächste Frage beantwortest, Barb. Habt ihr euch wirklich in aller Freundschaft getrennt?" „Ja. Obwohl ... komisch, dass du das fragst. Vor einem Jahr hat er nämlich wieder angefangen, mir den Hof zu machen, so könnte man wohl sagen. Aber für mich war die Sache abgeschlossen, und das habe ich ihm auch gesagt.
Damals hat er es nicht gut aufgenommen. Er hat mir ein paar ziemlich böse Sachen auf meinen Anrufbeantworter gesprochen. Ich habe dann meinen Anwalt damit beauftragt, ihm zu sagen, dass er das unterlassen solle. Danach habe ich nichts mehr von ihm gehört. 100 Jonas, was ist denn los? Du siehst aus, als würdest du gleich in Ohnmacht fallen." Irgendwo hörte er sein Handy klingeln. Sanft schob er Barb zur Seite und setzte sich auf. „Hilf mir, meine Hose zu finden", sagte er hektisch. „Aber was ist denn ..." „Meine Hose, Weib!" Sie sprang vom Bett, und gemeinsam suchten sie im Schlafzimmer und in der Nähe der Sitzgruppe. Nach dem dritten Klingeln sah er sie. Sie hing an dem Türgriff der Eingangstür. Er stürzte los, fand sein Handy, fummelte wie wild herum, ließ es fallen, bückte sich danach und riss es auf. „Fred, leg nicht auf!" „Du bist doch nicht etwa gerade mitten in einem Orgasmus, oder?" Er setzte sich erleichtert auf den Boden. „Nein, aber ich habe deiner Chefin gerade den Sex ihres Lebens beschert." „Oh, Jonas!", kreischte sie. „Das will ich nicht hören! Ich muss schließlich mit der Frau arbeiten." „Autsch." „Was ist? Hast du dir einen Hoden gequetscht?" „Nein, sie hat mich gekniffen. Sie war anscheinend auch nicht begeistert über mein Geständnis." Als sie ihn wieder zwicken wollte, schlug er ihre Hand weg. „Sag mal, habt ihr etwas herausgefunden?" „Nein, haben wir nicht, verdammt. Und wir sind fix und fertig, nur der König des Ozeans nicht, der aussieht, als könne er es mit den Chicago Bulls aufnehmen. Deswegen kommen wir jetzt alle zurück ins Hotel. Besser, du bist fertig und komplett angezogen, wenn wir ankommen, denn mein Herz erträgt nicht noch einen Schock. Wenn du nur einen Funken Sensibilität in 100 dir hättest, würdest du nicht Sex mit meiner Chefin im Zimmer des Postdocs ..." „Fred, halt endlich den Mund und hör mir zu, Gottverdammich" Barb, die sich vorgebeugt hatte, um ihren Rock auszuschütteln, erstarrte mitten in der Bewegung. „Hattest du ein Aneurysma zum Mittagessen?", wollte Fred wissen. „Weil ..." „Barbs Exmann ist sauer auf sie. Und gerade hat er ein Hotel gebaut. Jetzt rate mal, wo?" „Oh nein." „Direkt am Hafen."
„Oh Mist." „So ist es." „Oh Jesses." „Ganz genau." „Du meinst, wir haben den ganzen Papierkram durchgeackert, und Artur und ich haben Scheiße eingeatmet, dabei war das Einzige, was wir hätten tun müssen, um den Fall zu lösen, dich meine Chefin bumsen zu lassen?" Er nahm Barb den Rock aus der Hand und warf ihn auf den Esstisch. Dann hob er Barb auf eben diesen Tisch. „Sieht so aus. Lasst euch Zeit auf dem Weg zurück ins Hotel, okay?" „Oh, das ist echt ekelhaft..." Er schnitt ihr das Wort ab, indem er auflegte. „Was ist mit meinem Ex?", fragte Barb, lehnte sich zurück auf den Tisch, der groß genug für viele weitere Barbs war. „Ach, das. Er ist an allem schuld." „Oh. Vielleicht sollte ich mir deswegen Sorgen machen ..." Jonas begann, an ihrem Dekollete zu knabbern. „Später", seufzte sie. 101 „Hmmm", stimmte er zu. Dann, nach einem langen Augenblick, sagte sie: „Ist Dr. Bimm sauer?" „Nur weil sie selbst keinen Sex hatte. Und das ist ihre eigene Schuld, glaub mir." Sie bog den Rücken unter seinen Händen durch und legte die Beine um seine Hüften. „Das ist schön", sagte sie und küsste ihn zurück. Er hob den Kopf, um nach Luft zu schnappen. „Warte! Das wollte ich schon immer mal ausprobieren." Er ging zu der schmalen Anrichte am anderen Ende des Esstisches, öffnete sie und nahm ein Paket Spielkarten heraus. „Oh, oh", sagte Barb. Aber sie lächelte. Jonas mischte die Karten. „Okay, pass auf. Wir spielen Poker darum, wer seine Fantasien ausleben darf." „Was tun wir?" „Wir spielen ein Rollenspiel. Wenn ich gewinne, bist du eine hilflose Jungfer, und ich muss dich retten, blablabla. Wenn du gewinnst, bist du eine katholische Schullehrerin und hast mich gerade dabei erwischt, wie ich eine Rauchbombe im Umkleideraum der Jungen gezündet habe." Dr. Barb brach in Gelächter aus, wurde dann aber sofort wieder ernst und sah ihn erwartungsvoll an. „Brauchst du tatsächlich ein Spiel für so etwas?" „Ich bin eben ein Traditionalist." Schnell mischte er noch einmal gut durch und gab dann jedem fünf Karten. Er nahm sein Blatt hoch und sah, dass er drei Asse hatte. „Okay, was hast du?" „Ich habe zwei Zweien", sagte sie triumphierend.
Er warf sein Blatt auf den Tisch und packte sie. „Sie haben gewonnen, Lehrerin." 102 „Bist du sicher, dass du nicht zu müde bist?", fragte Fred, als sie alle drei ins Sleepytime-Hotel stürmten. Das zwölfstöckige Gebäude lag direkt am Hafen. Von außen sah es aus wie ein hochanständiges, fast luxuriöses Hotel. Nicht der Hort des Bösen, als den sie es jetzt kannten. „Jetzt? Auf keinen Fall. Sobald du es mir gesagt hast, habe ich einen riesigen Adrenalinschub bekommen. Los, knöpfen wir sie uns vor und übergeben sie dann der Umweltbehörde." „Nachdem wir ihnen den Hals umgedreht haben", fügte Artur hinzu. „Behalt deine Hände bei dir, Freundchen, bis wir herausgefunden haben, was wir als Nächstes ... Wir möchten zu Phillip King, bitte", sagte sie an die Rezeptionistin gewandt. Da ihr der Name von Dr. Barbs Exmann entfallen war, hatte sie Jonas zurückrufen müssen - ein Erlebnis, das sie noch lange in ihren schlimmsten Träumen verfolgen würde. Ihr Freund war so außer Atem gewesen, dass er den Namen kaum herausgebracht hatte, und im Hintergrund war ein merkwürdiges Knallen zu hören gewesen, als würden sie es nicht in einem Bett tun, sondern vielleicht... „Erinnere mich daran, dass ich nichts in deiner Suite esse, bis ich es herausgefunden habe", murmelte sie und zuckte mit den Achseln, als Thomas ihr einen verständnislosen Blick zuwarf. „Es tut mir leid", sagte die Empfangsdame, „aber Mr. King ist im Moment in einer Besprechung und kann nicht..." 102 „Sagen Sie ihm", erwiderte sie, „es gehe um seine Exfrau. Ich wette, dann wird er uns empfangen." „Das wette ich auch", murmelte die Dame. Dann drückte sie ein paar Knöpfe auf ihrem Schaltpult, deutete auf den Aufzug, dessen Türen sich öffneten, und sagte, sehr viel liebenswürdiger: „Oberster Stock." „Und denkt dran", sagte Fred, als sie im Aufzug waren, „niemand geht auf die Toilette, solange wir hier sind." „Oh, Fred, das ist ekelhaft!" „Ich meine ja nur. Artur, was, zum Teufel, ist los mit dir?" Denn dieser hatte sich plötzlich auf sie geworfen und sie so fest umklammert, dass es wehtat. „Diese kleine Metallschachtel ... geht nach oben?" „Ja, das ist ein Aufzug. Das ist absolut normal. Und jetzt lass mich los." Sie versuchte, seine Finger einzeln von ihrem Arm zu pflücken. „Artur, beruhige dich." „Aber was hält die Schachtel davon ab, einfach durch das Dach in den Himmel zu schießen?"
„Nichts", sagte Thomas fröhlich. „Das passiert in dieser Stadt mindestens einmal die Woche." „Auaaaa!", schimpfte Fred. „Artur, du drückst mir die Blutzufuhr ab. Thomas, erzähl nicht so einen Blödsinn." „Ich denke nur, er sollte wissen, worauf er sich einlässt." „Auaaaaa!" Man hörte ein Ding!, der Aufzug kam langsam zum Halten, und die Türen öffneten sich summend. Artur verlor keine Zeit und stürzte hinaus. Thomas taumelte ihm gleich hinterher dank Freds hilfreichem Stoß. Er stolperte gegen Artur, und beide schlugen der Länge nach auf den Flurboden. „Also ehrlich, ihr macht mir wirklich nur Arger ..." Sie stapfte an ihnen vorbei und widerstand dem Drang, Thomas einen Tritt 103 zwischen die Rippen zu versetzen. Wenigstens halfen sie sich gegenseitig auf wie echte Gentlemen. „Damit hast du nicht gerechnet, das musst du zugeben", sagte Thomas. „In der Tat. Das nächste Mal denke ich an deine Hinterhältigkeit und bin vorbereitet." „Das will ich sehen, du rothaariger Riesen..." „Dr. Bimm, Dr. Pearson und Prinz Artur vom Schwarzen Meer", verkündete Fred und marschierte in den Konferenzraum, den die Empfangsdame ihnen genannt hatte. Artur hatte darauf bestanden, seinen echten Namen und seinen Stand zu nennen, wenn er endlich dem Schuldigen gegenübertrat. Den Schuldigen. Vierzehn Männer starrten sie an. Alle hatten denselben verschlagenen Blick und steckten in glänzenden Anzügen mit verdächtigen Beulen unter den Achseln - selbst der Typ am Kopfende des Tisches, ein leichenblasser dürrer Mann mit lichtem Haar und Augen in der Farbe von Staub und den längsten Fingern, die sie je gesehen hatte. Dabei gab ihre Mutter Klavierunterricht. Obwohl er bei ihrem Date damals keine Pistole getragen hatte, erkannte sie ihn sofort. „Sie sagten, es gehe um meine Exfrau?", fragte Phillip King, der am Kopfende des Tisches stand. „Nein, es geht darum, was Sie Ihrer Exfrau antun. Genauer gesagt, dass Sie die Fäkalien aus Ihrem Hotel in ihren Hafen pumpen. Na ja, in den Hafen von Boston. Aber wir wissen, warum Sie es tun." Das sollte ihm eine Lehre sein, dachte sie und verschränkte die dürren Arme vor der Brust. Und das auch noch ausgerechnet vor seinen Geschäftspartnern! 103 Einer der Männer in den glänzenden Anzügen sah King an und sagte: „Hattest du nicht gesagt, dass wir nicht erwischt werden können?" „Äh", sagte Fred. „Wie bitte?"
„Das stimmt auch", sagte King bestürzt. „Hattest du nicht gesagt, es sei billiger, das Zeug einfach in den Hafen fließen zu lassen ..." „Das ist es auch." „... und niemand würde beweisen können, dass wir es sind." „Das können sie auch nicht!" Das ist wahr, dachte Fred. Bisher hatten sie keine Beweise. Das würde möglicherweise problematisch werden. „Bevor Sie noch auf irgendwelche komischen Ideen kommen", sagte sie und war auf einmal sehr froh, zwei Männer an ihrer Seite zu wissen, und auch, dass diese Männer Thomas und Artur waren, „wir haben ungefähr einem Dutzend Leuten erzählt, dass wir heute hier sein würden." „Ihr Haar ist noch nass", stellte King fest. „Das schon, aber ..." Sie suchte nach einer überzeugenden Lüge, als Artur ihr ins Wort fiel. „Schurke! Du gibst deine Verbrechen also zu? Dann wirst du dafür büßen!" „Ihre Anzüge sehen mir aber verdächtig nach Mafia-Schick aus." Thomas starrte die Männer an. „Sagen Sie mir nicht, dass Sie illegales Geld für den Bau des Hotels benutzt haben." „Natürlich habe ich das", schnauzte King. „Woher sollte ich denn sonst so bequem das Geld bekommen und wie das Gebäude so schnell hochgezogen haben? Wie sonst hätte ich wohl gewisse lästige Regeln und Vorschriften für die Abfallentsorgung umgehen können?" „Das erzählt er uns nur", erklärte Fred Artur, „weil er versuchen wird, uns umzubringen. Nur damit du das weißt." 104 „Ist das in eurer Welt so Sitte? Erst reden, dann umbringen?" „Ja, das würde ich schon sagen ... oder, Thomas?" Thomas nickte. „So machen wir Zweibeiner es." „Ihr drei geht jetzt in mein Büro! Ich will mehr über meine Exfrau hören. Und ihr ... ihr wartet hier!" Denn die anderen Männer waren bereits aufgestanden, nahmen ihre Mäntel, griffen nach ihren Aktentaschen und machten sich ganz allgemein so zu schaffen wie Leute, die gehen wollen. „Es gibt keinen Grund, das Meeting abzubrechen. Ich habe Zahlen, die Ihnen zeigen werden, wie profitabel die Sleepytime-Kette sein könnte, und deshalb sollten wir nichts ..." „Eine Kette?" Fred schnappte entsetzt nach Luft. „Warten wir erst einmal ab, wie Sie mit diesem Problem hier fertig werden", sagte einer der Männer in den glänzenden Anzügen. „Dann kommen wir wieder. Vielleicht." Fred sah erleichtert zu, wie die Mafiosi gingen. Sie hätte es sich gerne erspart, Artur den Gebrauch von Schusswaffen erklären zu müssen. Oder organisiertes Verbrechen.
Phillip King öffnete die Verbindungstür zum nebenan liegenden Raum und verschwand. „Ich glaube, er geht in sein Büro", sagte Thomas. „Dann wollen wir ihm auf seinem eigenen Territorium entgegentreten", verkündete Artur und ging ihm nach. „Oh ja, wahrscheinlich will er nur reden", murmelte Fred und folgte den Männern. Aber schließlich war King nur ein gewöhnlicher Mann - ein Zweibeiner, wie Artur sagen würde -, und sie waren zu dritt. Eigentlich war sie nicht besonders beunruhigt. Sie trat in ein hell erleuchtetes Büro, an dessen Wänden überall Blaupausen hingen (ohne Zweifel Pläne für das mächtige Sleepytime-Impetium), und erblickte King gerade rechtzeitig, um zu erkennen, dass er etwas Glänzendes auf sie richtete. 105 „Runter!", rief Thomas und schubste sie so heftig, dass sie zurück in den Konferenzraum flog. Im selben Moment - zumindest kam es ihr so vor ertönte ein lautes Knallen, und genau an der Stelle, an der eben noch ihr Kopf gewesen war, splitterte ein Stück Holz aus der Wand und fiel zu Boden. Thomas schob sie unter den Tisch, riss Artur zu ihnen hinunter, und ein paar Sekunden lang kauerten sie alle drei unter dem Konferenztisch, während King brüllte: „Ich mache das Wasserloch dieser Schlampe zu einem Scheißhaufen!", und: „Es ist ihre Schuld, dass ich bis zum Hals in Schulden stecke!", und: „Warum konnte sie nicht einfach über Fehler hinwegsehen wie eine normale Ehefrau?" Jede Schimpfkanonade wurde von einem Pistolenschuss unterstrichen. „Äh..." „Er ist durchgedreht", sagte Thomas und äugte unter dem Tisch hervor. „Und das ist meine professionelle Meinung als Postdoc." Ihr Handy klingelte, und aus reiner Gewohnheit klappte sie es auf. „Ja?" „Ruf die Bullen an!", zischte Thomas. „Ihr Zweibeiner habt wirklich seltsam laute Waffen." „Es ist möglich", keuchte Jonas, als habe er gerade einen Zweihundertmetersprint hingelegt, „dass ihr Ex seelisch gestört ist." „Das sagst du mir erst jetzt? Sag mal, könntest du die Polizei hier zu diesem Hotel schicken? Aber nur, wenn es nicht zu viel Mühe macht -" „Warum? Was hast du mit ihm gemacht?" „Nichts! Außer vielleicht seine illegalen Geldquellen versiegen zu lassen. Aber angesichts der Tatsache, dass er auf uns schießt, könntest du vielleicht endlich aufhören, meine Chefin 105 zu bumsen und die Polizei rufen." Sie klappte das Telefon zu. „Jonas ruft die Kavallerie. Glaube ich. Und was jetzt?"
„Nun, für mich sieht das, was er in der Hand hält, wie ein Revolver aus. Sechs Schüsse. Bisher habe ich vier gezählt." „Super. Ein Postdoc, der sich mit Waffen auskennt." An Artur gewandt sagte sie: „Das heißt, dass ihm noch zwei bleiben." „Zwei was?" „Zwei kleine Stücke aus Metall, die seine Waffe so schnell auf uns schleudert, dass sie uns umbringen, wenn sie lebenswichtige Organe treffen." Artur zog ein angewidertes Gesicht. „Eine wirklich abscheuliche Art zu kämpfen." „Dann überreden wir ihn doch einfach, damit aufzuhören. Ich bin ganz dafür. Irgendwelche Ideen, wie wir das anstellen könnten?" „Wir hoffen darauf, dass er in seiner Hysterie zwei weitere Schüsse abfeuert, die, wenn sie ebenso zielgerichtet sind wie die letzten vier, uns nicht treffen werden. Wir warten auf die Polizei und überlassen es ihr, mit ihm fertig zu werden." Thomas zählte ihre Optionen an den Fingern ab. „Oder wir ärgern ihn so, dass er seine letzten beiden Kugeln abfeuert. Oder wir versuchen, ihm die Waffe zu entwenden." „Ich finde, sich verstecken und darauf warten, dass er die letzten beiden Kugeln verschießt, hört sich gut an", sagte Fred. „Oder du könntest ihn ärgern und ablenken, während Artur und ich versuchen, uns durch die andere Tür zu verdrücken und ihn zu überwältigen." „Nee, nee." „Oh doch", sagte Artur. „Du bist sehr gut im Ärgern. Und eine königliche Hoheit versteckt sich nicht. Komm, Thomas." „Moment mal!", zischte Fred. Aber schon krochen sie zum 106 anderen Ende des Tisches und schlichen sich aus dem Raum hinaus. „Verdammt noch mal!" Sie dachte kurz nach. Dann holte sie Luft und brüllte: „He, King! Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ihre Ex mit meinem besten Freund schläft?" Es folgte eine lange Stille. Dann hörte sie: „Das ist eine Lüge. Barb ist frigide. Sie hasst Sex." „Sex mit Ihnen vielleicht. Entweder das, oder mein Freund hat sie geheilt, weil sie es nämlich heute schon zweimal getan hat. Und es ist noch nicht einmal..." Sie sah auf ihre Armbanduhr. „... drei Uhr! Sie vermisst Sie wohl nicht allzu sehr, was?" „Wie heißt Ihr Freund?" Fred wusste nicht, was sie mehr in Angst versetzte: Wenn er außer sich war und willkürlich auf Leute schoss, die er gerade erst kennengelernt hatte, oder wenn er ruhig und überlegt nach einem Ausweg aus der Patsche suchte, in der er sich befand.
„Legen Sie die Waffe nieder, dann sage ich es Ihnen vielleicht. Herrje, wenn Sie die Waffe niederlegen, bringe ich Sie zu ihm. Zu ihnen. Habe ich Ihnen gesagt, dass mein Freund - dessen Schwanz, sagt man, dreißig Zentimeter lang ist - Dr. Barb ein neues Styling verpasst hat? Sie sieht toll aus. Wussten Sie, dass Dunkelblau ihre Farbe ist?" „Weiß ist ihre Farbe! Sie knöpft ihre Laborkittel bis oben hin zu!" „Heute nicht, mein Freund. Ich wette, sie weiß heute nicht einmal, wo ihr Kittel ist. Sie wissen ja, wie das ist, junge Liebe und so ..." King schnaubte abschätzig. „Meine Ex ist ja viel, aber jung ganz sicher nicht." Jetzt hatte sie ihn. „Tja, das mag sein. Aber meinen Freund 107 stört das nicht. Er liebt Frauen, die älter sind als er. Ganz ehrlich! Und sie ist ungefähr fünfzehn Jahre älter." „Sie schläft mit .. . einem jüngeren Mann?" „Und nicht nur einmal", versicherte Fred ihm, die ihre gute Laune nicht mehr spielen musste. Das macht Spaß. Die Jungs hatten recht: Ich hin gut im Ärgern. „Ich hoffe, dass sie verhüten, weil Dr. Barb schließlich noch nicht reif fürs Altersheim ist." „Sie nimmt die Pille wegen ihrer Menstruationsbeschwerden", erwiderte King abwesend. „Oh, dann wird ja erst einmal nicht mit Nachwuchs zu rechnen sein. Ist wahrscheinlich auch gut so. Mit ihrer Karriere und der meines Freundes und dem ganzen wilden Sex, den sie haben, bleibt wohl keine Zeit für Kinder." Stille. Die andauerte. Vorsichtig reckte Fred den Hals und sah King im Türrahmen zwischen seinem Büro und dem Konferenzraum stehen. Er hielt die Waffe direkt auf sie gerichtet. Von dort, wo sie kauerte, sah der Lauf schrecklich groß aus. Sie hob die Hände und stand langsam auf, während sie dachte: Auf keinen Fall will ich auf den Knien liegend sterben. „Ich bin ein großer Freund der ehrwürdigen Tradition, den Überbringer schlechter Nachrichten zu erschießen", sagte er, „Und wenn ich mich recht erinnere, sind Sie auch so eine frigide Schlampe." „Warum überrascht mich das nicht im Geringsten?" Kommt schon, Jungs, worauf wartet ihr denn? Als wenn sie ihre Gebete erhört hätten, splitterte die zweite Tür zum Büro in der Mitte entzwei. Aber King sah sich nicht um. Er zuckte nicht einmal zusammen. Stattdessen feuerte er seine letzten beiden Kugeln auf Fred. 201 An diesem Nachmittag lernte Fred drei Dinge, die sie niemals vergessen würde.
Nummer eins: Wenn einen eine Kugel traf, taumelte man nicht dramatisch rückwärts und fiel aus einem Fenster im elften Stock. Man blieb einfach stehen. Nummer zwei: Artur konnte ohne Anstrengung einem Mann den Hals umdrehen, und es hörte sich an, als würde jemand auf Eiswürfel beißen. Nummer drei: Thomas trug ein Klappmesser bei sich. „Äh", sagte Fred, während Kings Körper zu Boden fiel, Artur vor Wut rot anlief und Thomas versuchte, sie dazu zu bringen, sich hinzulegen. „Ich glaube, ich, äh habe eine Kugel abbekommen." „Du wurdest angeschossen, Fred. Zweimal." „Warum schubst du mich?" „Weil ich will, dass du dich hinlegst, damit ich dir die Kugel herausholen kann." Sie drückte seine Hand entschlossen fort. „Das hört sich aber gar nicht gut an." Sie fand, dass sie sehr ruhig und vernünftig war, und verstand überhaupt nicht, warum Thomas so blass wie Artur rot war. Ihr tat schließlich gar nichts weh. Und der Bösewicht war doch tot. „Artur! Das Schränkchen dort drüben. Bring mir eine der Flaschen mit entweder durchsichtiger oder brauner Flüssigkeit." Thomas schob seinen Fuß unter ihren und brachte sie so 108 aus dem Gleichgewicht. Dann kniete er sich auf ihren Brustkorb, um sie unten zu halten. Man hörte Glas splittern, und dann kniete Artur neben ihr. „Ist das das Richtige, Dr. Pearson?" Das ist das erste Mal, dass er ihn Doktor nennt. „He, Moment mal!", rief Fred und wand sich unter seinem Knie. „Er ist kein echter Doktor! Ich meine, er ist es schon, aber er ist kein Arzt. Er hat den Doktor in Meeresbiologie gemacht." „Ich habe meinen Master gemacht, bevor ich meine Doktorarbeit geschrieben habe. Ich habe einfach festgestellt, dass ich kein Interesse an Dreifachschichten und anderen Annehmlichkeiten der Facharztausbildung habe. Und ich will mich auch nicht zu sehr anstrengen müssen, um anderen Menschen das Leben zu retten." „Sie hören sich wie ein echter Gewinner an, Doc." „Fred, du bist nie krank. Und du hast gesagt, du hast einen unglaublich aktiven Stoffwechsel. Also würde ich jede Wette eingehen, dass deine Schussverletzungen bis morgen geheilt sind." Er wischte die Messerklinge erst am Teppich, dann an seiner Hose ab. Artur kniete neben ihm und riss plötzlich, auf irgendein vorher verabredetes Signal hin, das ihr entgangen sein musste, ihr T-Shirt in der Mitte entzwei. „He!"
Thomas beachtete sie nicht. „Wir können die Kugel drin lassen, was schlecht wäre, oder dich ins Krankenhaus bringen, damit man sie dort herausholt. Das würde aber bedeuten, dass man alle möglichen Untersuchungen mit dir macht, was wieder schlecht wäre. Oder ich nehme sie gleich hier raus, bevor die Wunde zuheilt." Er schraubte eine Flasche mit Jack Daniels 109 auf, hielt die Klinge mit dem Daumen auf den Flaschenhals und schüttete Alkohol über das Messer und seine Hände. „Aber ..." „Halt sie fest", sagte Thomas knapp und machte sich an die Arbeit. 109 Jonas und Barb saßen an der Bar der Präsidentensuite, tranken Wein (keine falsche Bescheidenheit, Thomas war schließlich reich und würde sich wohl eine Flasche Chardonnay leisten können) und plauderten gerade ganz entspannt darüber, wie sie den Rest ihres Lebens gemeinsam verbringen wollten, als sie jemanden an der Tür hörten. „Ein Glück, dass wir angezogen sind", sagte Rarb. „Endlich." „Ich finde immer noch, wir hätten zu dem Hotel deines Ex-mannes gehen und uns das Tohuwabohu mal ansehen sollen. Vor einer Weile waren jede Menge Sirenen zu hören. Ich wette, da ging es hoch her." Barb schüttelte den Kopf. „Wenn die Polizei eine Aussage benötigt, stehe ich zu ihrer Verfügung. Aber es ist besser, wir überlassen meinen Ex denen, die sich mit so etwas auskennen." Fred stapfte ins Zimmer und sah ziemlich mitgenommen aus. Bevor er wusste, was er tat, war Jonas vom Hocker heruntergesprungen, um ihr entgegenzulaufen. Mehr als einmal war sie seine Sparringpartnerin gewesen und hatte sich dabei Tritte ins Gesicht eingefangen, ohne dabei jedoch einen einzigen Kratzer davonzutragen. Aber jetzt trug Fred einen blutbespritzten BH und ihre ebenso blutbefleckten Lieblingsjoggingshorts. Und wie oft hatte er sie angefleht, Tennisschuhe nicht ohne Socken zu tragen. Das war einfach unhygienisch. Hinter ihr her trotteten Thomas und Artur ins Zimmer. Eben207 falls mit Blut bespritzt, sahen sie beinahe genauso schlimm aus wie Fred ... (Wessen Blut??????) ... und Thomas hatte ein jetzt schon sehr vielversprechendes blaues Auge und Artur eine geplatzte Lippe. „Kleine Rika, es war doch offensichtlich, dass Dr. Pearson wusste, was er..." „Fred, komm schon, sei nicht sauer. Ich habe es getan, um es dir zu ersparen, ins ..." „Ich sagte, ich will nie wieder mit euch sprechen!" Fred wirbelte zu Barb herum. „Und Sie! Ihr verrückter Ehemann hat auf mich geschossen] Zweimal! Außerdem ist er jetzt tot."
Barbs Kinnlade klappte herunter. „Was? Phillip ist tot?" „Und er hat auf mich geschossen." „Aber du verletzt dich doch nie", brachte Jonas heraus. „Tja, wenn jemand eine dicke, fette Pistole auf mich richtet und abdrückt, dann kann ich schon mal verletzt werden. Verstanden, Schlauberger? Ein Glück, dass Dr. Demenzo und sein treuer Assistent Artur, der Psycho, zur Stelle waren, um mir aus der Klemme zu helfen. Und mit aus der Klemme helfen meine ich schwere Körperverletzung!" Fred trat gegen den Fuß des achtbeinigen Esstisches. Das besagte Tischbein brach wie ein Zahnstocher, und mit einem gewaltigen Rums! ging die Tischplatte zu Boden. „Und dann ihr zwei! Ihr habt euch fröhlich im Bett vergnügt, während wir die Scheiße aufgewischt haben, die Ihr Exmann zurückgelassen hat! Er und die Mafia. Vielen Dank auch dafür." „Phillip hat Verbindungen zur Mafia?" Erschrocken schnappte Barb nach Luft. „Hatte, Dr. Barb. Er ist tot." „Wir haben die Polizei angerufen und sie zu euch geschickt", 208 sagte Jonas kleinlaut. „Wie hätten wir denn wissen sollen, dass ein Umweltvergehen sich zu einem Mafiablutbad auswachsen würde?" „Am selben Tag, an dem du das erste Mal seit Jahren Sex hast? Bist du nicht auf die Idee gekommen, dass das ein Zeichen der Apokalypse ist? Ich bin felsenfest davon überzeugt. Ihr beide könnt nie wieder miteinander schlafen!" Jonas und Barb sahen sich erst gegenseitig an, dann Fred. „Du meinst, niemals mehr? Oder nur nicht miteinander?" „Na ja, um ganz sicherzugehen ..." Fred hielt in ihrem Gezeter inne und fuhr sich mit zitternder Hand an die Stirn. Artur und Thomas gingen leise zu ihr und stellten sich hinter sie. „Ich finde ... ich finde ... ihr solltet lieber nicht ... nie wieder ..." Und nun passierte das Allermerkwürdigste an diesem ohnehin an Aufregungen nicht armen Nachmittag: Fred rollte mit den Augen, bis Jonas nur noch das Weiße sehen konnte, und kippte nach hinten. Thomas und Artur fingen sie geschickt auf. Dann hob Artur sie hoch und legte sie auf die Couch. „Ist noch etwas von dem Wein übrig?", fragte Thomas, nachdem er sich vergewissert hatte, dass mit Fred alles in Ordnung war. Er berührte sein geschwollenes Auge und zuckte zusammen. „Es war ein harter Tag." „Wenn es Bier oder Grog gibt, hätte ich auch gerne etwas." Arturs Lippe schwoll ebenfalls recht beachtlich an. Barb schenkte allen ein. Sie stießen an. Sie tranken. Fred schnarchte. 110
Als Fred sich auf die Seite rollte, spürte sie einen stechenden Schmerz in der Schulter. Sie griff danach und stöhnte. Jetzt war der Schmerz noch schlimmer, also öffnete sie die Augen. Sie lag auf der Couch im Wohnzimmer der Präsidentensuite. Draußen war es dunkel. „Auf, auf!", sagte Thomas. Er hielt ihr Handgelenk umfasst und sah auf seine Armbanduhr. Sie entriss ihm ihren Arm. Am liebsten hätte sie ihm auch noch ein zweites blaues Auge verpasst, tat es aber nicht. Festgehalten zu werden, während jemand einem eine Kugel aus dem Körper holt, war kein Spaß gewesen. Für keinen der Beteiligten. „Was ist los? Wo sind die anderen?" „Barb und Jonas sind auf dem Revier und machen ihre Aussagen. Artur schläft tief und fest im Schlafzimmer." „Ich rede nicht mit dir", sagte sie kalt. „Aber wenn doch, dann würde ich dich fragen, wie du es jemandem erklären willst, dass ein Wassermann Kings Genick gebrochen hat." „Davon ist uns nichts bekannt. Wir haben nicht gesehen, was passiert ist. Vielleicht ist er ausgeglitten. Vielleicht ist einer seiner Mafiafreunde zurückgekommen. Wir wissen nur, dass er versucht hat, uns umzubringen, dass wir davongelaufen sind und dass er massenweise Umweltschutzbestimmungen verletzt hat. Er ist tot, alles andere interessiert mich nicht. Sollen doch die Cops und irgendwelche Bürokraten den Rest klären." Thomas klang sehr beherrscht, als er seine kleine Ansprache 211 hielt, und Fred unterdrückte einen Schauder. „Weswegen bist du so wütend? Das würde ich dich fragen, wenn ich mit dir reden würde. Was ich nicht tue." Er beugte sich vor, um sich ihre Pupillen anzusehen, aber plötzlich verlor sein Blick die Konzentration, und er sah sie an, nicht ihre Pupillen. „Fred, er hat auf dich geschossen! Wenn Artur ihm nicht das Genick gebrochen hätte, hätte ich ihm mein Messer nicht nur in seine Nieren gerammt. Er stand ganz ruhig da und hat auf dich geschossen. Und dann musste ich mit meinem Messer in deine Schulter schneiden, während Artur dich festgehalten hat und du aus Leibeskräften geschrien und geweint und mich angefleht hast ... guter Gott!" Er fuhr sich mit zitternden Händen durch das dunkle Haar, sodass es in alle Richtungen abstand. „Dafür, dass er uns allen das angetan hat, könnte ich ihn jetzt auf der Stelle noch einmal umbringen." „Okay, schon gut, beruhige dich. Alles wird gut. Er ist jetzt tot. Der Böse ist tot. Wir haben gewonnen. Eine Runde für alle." Sie wollte sich aufsetzen und schnitt eine Grimasse. „Jetzt wäre es wunderbar, wenn ein Aspirin bei mir wirken würde ... Uff!"
Thomas drückte sie behutsam wieder zurück auf die Couch. „Du bleibst schön liegen", sagte er. „Treib es nicht zu weit!", warnte sie ihn. „Du bleibst hier", sagte er beharrlich. „Sonst hole ich Artur, damit er dich festhält, Fred. Das wirst du gewiss nicht wollen, und ich will es auch nicht." Er stand auf und begann, hin- und herzugehen. Er sah aus, als sei er zu Tode erschrocken. Erstaunt beobachtete sie ihn. „Thomas. Was, um Himmels willen, ist in dich gefahren?" Er fuhr zu ihr herum. Seine Augen blitzten. „Was in mich gefahren ist?" 112 „Ja, das habe ich wohl mit meiner Frage, was in dich gefahren ist, herausbekommen wollen." „Wie wäre es damit? Ich liebe dich, du dummes Ding, und wegen dieses bescheuerten King musste ich dir wehtun. Das war nicht gerade mein Plan für einen romantischen Abend!" „Aber ... du ... du kennst mich doch gar nicht... wir kennen uns erst seit einer Woche!" Er ließ sich ihr gegenüber in einen Sessel fallen und tat ihren Einwand mit einer knappen Handbewegung ab. „Ach, was heißt das schon? Ich wusste es sofort, als ich dich in diesem Becken sah. Natürlich liebe ich dich. Wie könnte ich jemand anderen lieben als dich?" „Aber du bist doch nur für ein paar Wochen hier! Dann geht's auf nach Millport!" Millport war die universitäre marinebiologische Station in Schottland. Er lächelte sie an - aber es war ein müdes, bitteres Lächeln. Beinahe wünschte sie sich, er hätte nicht gelächelt. „Du hast wohl in meinem Terminplan nachgesehen? Und ich gehe früher, als du denkst, Süße. Mein Projekt hier ist beendet." „Naja, ich wusste nicht, wie lange unser Scheißprojekt dauern würde. Nur deswegen habe ich in deinen Terminplan geschaut." Er stützte das Kinn in die Hand und sah sie sehr lange an. Endlich sagte er: „Schlaf noch ein bisschen. Es tut mir leid, dass ich dich damit belastet habe. Ich hätte warten sollen, bis es dir besser geht." „Du hättest mich überhaupt nicht damit belasten sollen." Thomas zuckte die Achseln. „Gewöhn dich lieber jetzt schon daran. Ich muss dir meine Gedanken einfach mitteilen." Fred, die noch nie zuvor verliebt gewesen war, sagte verärgert: „Ich glaube nicht, dass das so funktioniert." „Schlaf wieder ein." 112 „Ich bin nicht müde."
„Doch, das bist du. Du hast vorhin viel Blut verloren. Obwohl ich mein Bestes gegeben habe, wärst du beinahe im Krankenhaus gelandet." „Hm. Danke." „Endlich ein bisschen Anerkennung. Ich falle gleich in Ohnmacht." „Ach, halt den Mund, ich rede immer noch nicht mit dir." „Ich weiß." „Und ich bin nicht müde", sagte sie, und während sie noch darüber stritten, schlief sie ein. 113 „Rika?" Eine Hand rüttelte an ihr. Musste sie schon zur Schule? War es nicht Samstag? „Rika?" „Nur noch fünf Minuten", stöhnte sie. „Kleine Rika, ich werde fortgehen." Das war nicht ihre Mutter. Das war ... Sie öffnete die Augen. Artur lag auf den Knien neben der Couch. Er war so nah, dass ein paar Strähnen seines roten Haares sie im Gesicht kitzelten. „Fortgehen?" Warum fühlte ihr Gehirn sich an, als sei es aus Haferbrei? Warum war sie so müde? Wo waren alle anderen? „Warum? Wo sind die anderen?" „Deine Vorgesetzte und dein Freund sind vor vielen Stunden zum Domizil deines Freundes gegangen. Thomas ruht. Und ich muss fortgehen. Der König verlangt einen ausführlichen Bericht." „Fortgehen? Fortfort? Jetzt? Sofort?" „Wenn der König ruft, muss ich kommen. Aber ich konnte nicht gehen, ohne mich zu vergewissern, wie es dir geht. Ich bitte um Entschuldigung für meinen Übergriff ..." „Wie bitte?" „Dass ich dich festgehalten habe", übersetzte er. „Aber ich wusste, dass Thomas das Richtige tat. Es war besser, das Metallding aus deinem Körper zu holen. Metall gehört nicht in den 113 Körper. Trotzdem ... es gegen deinen Willen zu tun, war ..." Er wandte den Blick ab. „... schwer." „Oh ja, ich verstehe, dass es sehr schwer war. Für euch beide." Sie rieb sich die Schulter, die immer noch schmerzte. „Ein Glück für mich, dass ich nicht zu Infektionen neige." „Rika, wenn du wieder stark genug bist, werde ich zurückkommen." „Warum?" „Weil du meine Prinzessin bist", erwiderte er einfach. „Wie bitte?" „Meine ... vielleicht: Verlobte? Obwohl du mir nicht deine Hand versprochen hast, deswegen sind wir zwar füreinander bestimmt, aber es ist noch nicht besiegelt."
„Artur ... Wie bitte?" „Du wirst die Prinzessin vom Schwarzen Meer sein", sagte er und achtete nicht auf die Gesten, mit denen sie beharrlich versuchte, ihn zum Schweigen zu bringen. „Und eines Tages, wenn mein Vater gestorben ist, werden ich und du der Großkönig und die Königin sein." „Nein. Das. Werden. Wir. Nicht!" Er lächelte. „Aha. So werben die Zweibeiner. Thomas hat mich gewarnt." „Thomas hat dich gewarnt?" „Ja. Es ist schon merkwürdig, wenn man seinen größten Rivalen mag, aber ich kann nichts dagegen tun. Er ist entschlossen, intelligent, doppelzüngig und brutal. All diese Qualitäten zeichnen die Zweibeiner aus. Er hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass du ihm gehörst und nicht mir, aber wir haben uns darauf geeinigt, dass wir jeder auf unsere eigene Art um dich werben wollen und dir die Wahl überlassen, wenn du bereit dazu bist." „Aber ... aber ... aber ..." 114 „Selbstverständlich wird er verlieren. Und jetzt werde ich gehen." Artur erhob sich schwungvoll von seinen Knien, ohne seine Hände zu benutzen, was beeindruckend anzusehen war, und ging mit großen Schritten zur Tür. Sie setzte sich auf, schwang die Beine von der Couch, den stechenden Schmerz missachtend, und lief ihm nach. „Du kannst doch nicht so gehen!" „Aber ich muss." „Aber du kannst das... das nicht einfach alles sagen und dann seelenruhig durch die Tür verschwinden!" Nicht beide, dachte sie verzweifelt. Nicht alle beide „Aber ich werde doch zurückkommen." Er legte die Hand um ihren Nacken und küsste sie sanft. Dann öffnete er die Tür. „Ich komme immer wieder zurück." Er schloss die Tür mit einem leisen Klicken. „Aber ich will nicht die Großkönigin vom Schwarzen Meer sein!", schrie sie gegen die geschlossene Tür. „Was machst du denn da? Solltest du nicht im Bett bleiben?", fragte Thomas, der verschlafen in der Schlafzimmertür stand. „Das ist kein Bett, das ist eine Couch. Und wer kann denn jetzt schlafen?" Er gähnte. „Ist Artur gegangen? Gott, endlich. Er ist ja kein übler Kerl, aber arrogant, anmaßend, dümmlich, selbstgefällig ..." In diesem Stil ging es weiter, aber mehr verstand Fred nicht, weil Thomas sich umgedreht hatte und wieder ins Bett gegangen war. Kurz darauf rüttelte jemand am Türknauf. Ängstlich starrte sie ihn an. Stammte es von Dorothy Parker? Oder von Shakespeare? „Welche neue
Höllenqual erwartet mich jetzt?" Aus Hamlet oder einem anderen Stück, und genauso fühlte sie sich 115 jetzt gerade, als wenn hinter der nächsten Ecke eine neue Höllenqual nur darauf wartete, sie ... Sie riss die Tür auf. Barb und Jonas hielten sich eng umklammert und schafften es nur mit Mühe, sich voneinander zu lösen. „Na klar, das könnt ja nur ihr beiden sein", sagte sie bitter und ging zurück ins Zimmer. Sie schnappte sich eine Flasche Wasser aus der Minibar (Thomas konnte es sich schließlich leisten) und achtete nicht auf das säuselnde, knutschende Pärchen in ihrem Rücken. „Fühlst du dich besser?", fragte Jonas mit nervtötender Fröhlichkeit. „Weil du nämlich aussiehst wie Braunbier mit Spucke." „Herzlichen Dank", erwiderte sie und nahm einen großen Schluck. „Nicht jeder von uns konnte den Nachmittag damit verbringen, zu rammeln wie die Karnickel. Was tut ihr hier überhaupt?" „Es ist sieben Uhr morgens", informierte Jonas sie. „Barb wollte heute früh ins NEA, weil sie gestern blaugemacht hat, und ich wollte nach dir sehen und dir anbieten, dich nach Hause zu fahren, wenn du willst. Und dir ein T-Shirt bringen. Da ja dein altes ..." „Erinnere mich nicht daran. Artur ist fort." „Ja, ich habe ihn eben in der Halle getroffen. Aber er kommt wohl bald zurück." „Und Thomas muss nach Schottland." „Jetzt, da er herausgefunden hat, was das für Toxine waren, wird er sicher lieber früher als später abreisen, könnte ich mir vorstellen", sagte Dr. Barb. „Dann erledige ich wohl am besten schon mal den Papierkram." „Sie sind beide verliebt in mich. Das haben sie zumindest gesagt." „Na, so ein Pech aber auch", sagte Jonas bissig. 115 „Natürlich sind sie verliebt", sagte Dr. Barb. „Wussten Sie das denn nicht?" Böse sah Fred ihre Chefin und ihren besten Freund an. „Was soll ich denn jetzt tun?" „Gesund werden", schlug Jonas vor. „Ja, erholen Sie sich erst einmal wieder", pflichtete ihm Dr. Barb bei. Ein Herz und eine Seele, die beiden. Und es sah nicht so aus, als würde es ihnen bald langweilig werden - leider, leider. „Wahrscheinlich werden Sie in den kommenden Wochen Ihre ganze Kraft brauchen." Jonas zwinkerte ihr schnell zu, als Dr. Barb nicht hinsah. Nun ja. Wenigstens blieben ihr ja auch noch ein paar Geheimnisse. Und Dr. Barb hatte sicher recht, dass sie ihre ganze Kraft brauchen würde. Wenn Männer immer so
waren, wenn sie sich verliebten, dann überkam sie jetzt schon Angst bei dem Gedanken an eine Verlobung. Nicht, dass sie vorhatte, sich zu verloben. Mit keinem von diesen beiden Verrückten. Aber wenn, dann wüsste sie schon, wen sie wählen würde. Oder doch nicht? Naja ... Nun, natürlich würde sie ... Oje, dachte sie niedergeschlagen und leerte die Flasche Wasser mit drei großen Schlucken. 116 Danksagung Als mir die Idee zu Fred kam, wusste ich noch gar nicht, auf wie viele neue Gebiete ich für diesen Stoff stoßen würde. Natürlich kannte ich die gängigen Klischees über Meerjungfrauen (als Erstes denke ich da sofort an Arielle, die durch einen Disney-Film zu Ruhm gelangt ist, in dem sie hoch oben auf einem Felsen in einem Hafen heult, aber ich hatte keinen blassen Schimmer von der Tätigkeit der U. S. Coast Guard, von Marinebiologie, vom National Ocean Service oder dem New England Aquarium. (Ich stamme aus dem tiefsten Minnesota.) Uber diese Orte und Institutionen kann man sich in Büchern und im Internet informieren - für eine Landratte wie mich ein Geschenk Gottes. Dass mein Hochzeitsempfang vor Jahren im New England Aquarium stattfand, hat auch nicht geschadet. Darüber hinaus muss ich wieder einmal meiner Lektorin Cindy Hwang danken. Ich hatte den groben Fehler begangen, dieses Buch ursprünglich in der ersten Person zu verfassen -grob deshalb, weil die erste Person eigentlich immer sehr sparsam eingesetzt werden sollte. Und Fehler, weil Fred sich schließlich wie eine Betsy mit Flossen anhörte. Das Schlimmste war, dass es zweihundert Seiten gedauert hat, bis ich es merkte. Sekunden vor meinem Abgabetermin habe ich alles zerrissen und noch einmal von vorne begonnen: Kapitel eins, Seite eins. Cindy, das muss ich ihr lassen, blieb gefasst. Sie brach weder in Tränen aus noch kündigte sie. Sie zerriss nicht meinen Vertrag, engagierte keinen Auftragskiller und prügelte 116 mich auch nicht krankenhausreif. Sie wurde noch nicht einmal laut. Freundlich verlängerte sie einfach meinen Termin und bat mich, es sie wissen zu lassen, falls ich etwas brauchen sollte. Was sie nicht ahnen konnte: Drei Wochen später starb mein Großvater. Wieder gab es keine Tränen (nun, natürlich gab es Tränen, aber nur meine eigenen), keine Drohungen, nur ruhiges Mitgefühl und die Versicherung, dass das Letzte, worum ich mir jetzt Sorgen machen sollte, irgendein dummer Abgabetermin sei. (Das alles sagte sie tatsächlich, ohne sich ein einziges Haar
herauszureißen, obwohl im Herbstprogramm nun an der Stelle, an der Traummann an der Angel angekündigt hätte werden sollen, womöglich eine leere Seite gähnen würde.) Folglich verspätete sich das Manuskript noch mehr. (Sehen Sie? Anders als die meisten Schriftsteller gebe ich es zu: Das Buch kam verspätet heraus. Es war allein meine Schuld. Ich bin ein schlechter Mensch.) Und obwohl sie sicher sehr versucht gewesen ist, das Ding direkt in den Satz zu geben, gab sie es in die Obhut desselben Teams von Lektoren, die sich bereits hervorragend um meine anderen Bücher gekümmert, meine Fehler ausgebügelt und dafür gesorgt hatten, dass ich ... na ja, Sie wissen schon, gut dastand. Diese Leute haben es geschafft, aus einem unordentlichen Stapel Papier voller Fehler (mehr als eine Seite mit Tränenflecken) ein Buch zu machen - das, was Sie jetzt in der Hand halten. Es liegt an Leuten wie mir, wenn Leute wie meine Lektorin von Magengeschwüren geplagt werden. Ich bekomme die Anerkennung, während ihren Namen kaum jemand kennt: Cindy Hwang. Bei einer Lesung stehen die Leute Schlange, um ein Autogramm von mir zu bekommen, und fragen sie nach den Toiletten. Ist das gerecht? Nein. Ist das meine Rettung? Lieber Gott: Ja. 117 Anmerkung der Autorin Als Landratte wollte ich mich nicht ausschließlich auf meine Fantasie verlassen. Einige Quellen waren für meine Arbeit unbezahlbar. Das World Wide Web ist wirklich wunderbar: www.wellesley.edu/Psychology/Cheek/Narrative/home.html http ://life .bio. sunysb.edu/ marinebio/becoming.html http://oceanlink.island.net/career/career2.html www.uscg.mil/USCG.shtm www.uscgboating.org www.legislative.noaa.gov/noaainyourstate/massachusetts.html Und jetzt müsste ich eigentlich irgendetwas Banales wie „Es gibt keine Vampire" oder Ähnliches schreiben. Und ich war auch schon dabei zu tippen: „Natürlich gibt es keine Meerjungfrauen", aber nachdem ich so viel recherchiert, so viel Arbeit in dieses Buch gesteckt und so viele Geschichten gehört habe ... nun, da sind mir Zweifel gekommen. Sagen wir einfach, Fred ist einzigartig - und belassen es dabei.
PROLOG
Mary Janice Davidson Monsterliebe
Aus den privaten Aufzeichnungen von Richard Will, Ten Beacon Hill, Boston, Massachusetts Ein Vampir zu werden war das Beste, was mir je passieren konnte. Das Allerallerbeste. Deswegen verstehe ich auch nicht, dass immer wieder zu lesen ist, Vampire seien schlecht gelaunte Typen, die den Tag verwünschen, an dem sie gebissen wurden, und beten, dass ihnen irgendein ungebildeter Europäer einen Pflock durchs Herz treibt. Den Tag verwünschen? Nein, hätte nicht der Mob meinen Mörder am nächsten Tag abgefackelt, ich hätte ihm die Füße - wenn nicht sogar den Hintern - geküsst! Meine Zukunftsaussichten waren ohnehin nicht rosig gewesen. Hätte ich nach dem Tod meines Vaters die Farm übernehmen sollen? Nein, danke. Die Arbeit auf einer Farm ist hart, bringt wenig ein und scheint mir auch nicht besonders hoch angesehen. Außerdem konnte ich es schon kaum ertragen, mit meinem Vater in ein und demselben Raum zu sein. Wie wäre es erst geworden, wenn ich für den Rest seines Lebens mit ihm zusammengearbeitet hätte? (Erst schlagen, nicht lange fragen -das war das Motto meines geliebten verstorbenen Vaters.) Mein wahres Alter verheimlichen, um zur Armee zu gehen und mir den Kopf von den Schultern schießen zu lassen? (Und ungefähr sechzig Jahre später tun wir dann so, als ob der Holocaust nicht stattgefunden hätte und die Deutschen nette Menschen wären?) Aber damals war man ein Feigling, wenn 118 man nicht bereit war, in den Krieg zu ziehen. Zwei Kriege später hat man die jungen Männer dann geradezu ermuntert, nach Kanada zu gehen, damit sie nicht eingezogen wurden. Wenn sie aber doch für ihr Land kämpften, wurden sie bei ihrer Rückkehr zur Belohnung am Flughafen bespuckt. Das alles beweist doch nur, dass sich nichts so schnell ändert wie die Meinung eines Amerikaners. Nein, das Leben war für mich wahrlich kein Ponyhof. Ich saß in der Falle, wie in einer Kiste, und jede Seite dieser Kiste war gleich hoch. Ich war zwar nicht der Einzige in dieser Situation, aber wohl der Einzige, der die Größe und die Form seines Gefängnisses erkannte. Ich war schon immer anders als die anderen Kinder. Wenigstens glaube ich das ... allerdings ist das jetzt alles so lange her. Wahrscheinlich denken wir einfach immer, wir wären anders als andere. Als also Darak - das war sein Name, oder zumindest der Name, den er mir nannte - mir erst einen, dann zwei und schließlich zehn Drinks spendierte, habe ich nicht abgelehnt. Ein Fremder, der mir half, meine Kiste zu vergessen? Meinetwegen. Ich war kräftig gebaut - dreiundzwanzig Jahre Arbeit auf einer Farm, das stählt - und würde mich zu wehren wissen, falls er versuchen sollte, sich mir unsittlich zu nähern.
Ja, auch in den Vierzigern gab es schon Homosexualität. Heutzutage tut man gern so, als wäre es eine neumodische Erfindung. Darüber muss ich immer lachen. Damals dachte ich, dass Darak mir an die Wäsche wollte, aber ich hatte nicht die Absicht, sie ihm zu zeigen - was Männer mit anderen Männern anstellten, ging mich nichts an. Tatsächlich interessierte ihn aber etwas ganz anderes als meine Wäsche. Ich war überzeugt, Darak wenn nötig aus dem Fenster werfen zu können, was nur beweist, wie naiv und dumm ich als Junge 119 gewesen bin. Darak nahm sieh von mir, was er brauchte, ohne um Erlaubnis zu fragen. Als mein Herz aufhörte zu schlagen, ließ er mich sterbend auf dem schmutzigen Fußboden zurück. Das Letzte, woran ich mich erinnere, war eine Ratte, die über mein Gesicht krabbelte ... und an das Gefühl, als der Schwanz über meinen Mund strich. Zwei Nächte später wachte ich wieder auf. Es war dunkel und eng, aber zu meinem Glück war ich noch nicht beerdigt worden. Damals wusste ich es noch nicht, aber die Mühle der Stadt war in die Luft geflogen, und nun waren da vierzig Leichen auf einen Schlag zu begraben. Außerdem hatten sie Darak gestellt und ihn in Brand gesetzt. Ja, man konnte sagen, in Millidgeville, der kleinen Stadt mit 232 Einwohnern (um genau zu sein 191), überschlugen sich die Ereignisse. Daher hatten sie es nicht besonders eilig, mich unter die Erde zu bringen. Da gab es Wichtigeres. Ich war so durstig wie noch nie in meinem Leben. Und stark ... eigentlich wollte ich den Sargdeckel zuerst nur hoch-drücken, doch dann riss ich ihn geradezu aus seinen Scharnieren. Ich torkelte aus dem Sarg und erkannte sofort, wo ich war. Und ich begriff, um was es sich bei Darak gehandelt hatte ... als Teenager hatte ich Bram Stoker gelesen. Aber trotz des unnatürlichen (so kam es mir zumindest vor) Durstes, der mich beinahe um den Verstand brachte, und des Unglaubens über meinen Tod stellte ich fest: Ich war erleichtert! Daran erinnere ich mich vor allem. Ich war tot. Ich war frei. Stillschweigend dankte ich Darak und machte mich auf die Suche nach etwas zu essen. Ein Vampir zu sein ist wunderbar. Die Körperkraft, die Schnelligkeit, die flüssige Diät - das sind alles ganz klare Vorteile. Da nimmt man die Nachteile - kein Sonnenbad (na, und?), 119 Lichtempfindlichkeit (dagegen half eine Sonnenbrille), keine langfristigen Beziehungen (Prostituierte!) - gern in Kauf. Ich muss allerdings zugeben, dass ich die Frauen vermisse. Das ist wahrscheinlich das Schlimmste für mich. Keine Sonnenuntergänge mehr? Kein Problem. Als ich noch auf der Farm gelebt hatte, habe ich ja genug davon
gesehen. Aber ich hatte keine Freundin mehr, seit... äh, welches Jahr haben wir gerade? Na ja, auch egal. Es liegt auf der Hand, dass ich nicht mit einer Sterblichen zusammen sein kann. Sie würde nicht verstehen, was ich bin und was ich brauche. Ich hätte ständig Angst, ihr wehzutun. Schließlich kann ich ein Auto mit den Armen stemmen. Eine Sterbliche wäre für mich wie eine Porzellanpuppe. Und der Tod hatte sich kein bisschen auf meinen Sexualtrieb ausgewirkt. Schon als junger Mann hatte ich einen gesunden Appetit, und obwohl ich immer noch jung aussehe, ist mein Appetit mit dem Alter sogar exponentiell gestiegen. Bisher habe ich nur sechs andere Vampire getroffen. Unter denen waren vier Frauen, und das waren, Sie können es mir glauben, gewissenlose Monster. Sie bissen Kinder. Kinder! Zwei habe ich getötet, aber die anderen beiden konnten entkommen. Ich hätte sie verfolgt, wenn ich nicht das Kind ins Krankenhaus hätte bringen müssen, und - nun ja, diese Frauen würde ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen, geschweige denn, sie in meinem Ehebett willkommen heißen. Ja, ich bin einsam. Das ist der Preis, den man für das ewige Leben und die flüssige Diät zahlt. Aber für einen Vampir bin ich noch jung, ich bin noch nicht mal hundert Jahre alt. Es geht bestimmt bald aufwärts. Und wenn nicht... meine Geduld ist -wie mein Durst - unendlich. 120 Ein Affe. Ein verdammter Affe! Janet Lupo schleuderte dem Blödmann, der an der Tür zum Empfangssaal stand, ihre Einladung entgegen. Schlimm genug, dass jetzt einer der begehrtesten Werwölfe des Rudels - wenn nicht gar der Welt! - vom Markt war, er musste sich ausgerechnet auch noch eine menschliche Frau zur Gefährtin nehmen. Grundsätzlich war dagegen ja nichts einzuwenden. Menschen waren ganz in Ordnung. Wenn man Faultiere mochte. Sie stapfte zu ihrem Tisch und sah zufrieden, wie die Herumstehenden ihr aus dem Weg sprangen. Schon wenn sie guter Laune war, mieden sie die anderen Rudelmitglieder. Und im Augenblick war sie alles andere als guter Laune. Schlimm genug, dass die Menschen mit tausend zu eins in der Überzahl waren. Musste man dann auch noch einen heiraten? Und mit einem schlafen und ihn schwängern und später Mitglied in so einer Eltern-LehrerOrganisation werden? Unfassbar. Janet hatte nichts gegen Menschen als Spezies. Tatsächlich bewunderte sie ihre Raubgier sogar. Ein Homo sapiens ließ sich niemals eine Beute entgehen, selbst wenn er satt war - sogar wenn er gar kein Fleisch aß! Menschen würden sich gegenseitig wegen einem Paar Schuhe töten. Und wegen glänzendem Metall und Steinen hatten sie ganze Kriege begonnen. Janet hatte nie
verstanden, warum man wegen eines Diamanten töten konnte, ein Pink Topas war doch wohl kaum die ganze Auf 23i regung wert. Menschen schlugen sich wegen Gold die Köpfe ein, aber Eisenoxyd, das ganz genau so aussah, war wertlos. Und wenn Menschen anfingen, sich an die Kehle zu gehen, dann nahm man sich besser in Acht. Egal, ob es „Befreit das Heilige Land von den Ungläubigen!", „Baumwolle und Sklavenrecht!" oder „Nieder mit dem Kapitalismus!" hieß oder was immer einen Massenmord rechtfertigte - wenn Menschen sich bekriegten, sollte man sich schnellstens in Sicherheit bringen. Aber einen heiraten? Jemanden heiraten, der langsamer und schwächer war? Viel, viel schwächer? Jemand, der keinen Rudelinstinkt besaß, der nur für sich selbst lebte? Das wäre, als wenn ... als wenn ein Mensch einen Bären heiratete. Einen kleinen, schläfrigen Bären, der sich nur ganz selten bewegte. Gruselig wäre das. Und da saß Alec am Kopf des Tisches und grinste, als hätte er in der Lotterie gewonnen! Und seine Gefährtin - äh, Frau - saß neben ihm. Sie war ganz niedlich, wenn man pummelige Frauen mag. Und die Jungs im Rudel mochten pummelige Frauen. Eine dünne Frau war keine gute Mutter, wenn die Nahrung knapp wurde. Zwar herrschte heutzutage keine Knappheit, aber Tausende von Jahren genetischer Konditionierung legte man nicht einfach so ab. Außerdem, wer drückte seinen Körper schon gerne auf ein Bündel Stöcke? An ihrem Aussehen war also nichts zu bemängeln. Das war okay. Wie auch ihr Geruch - wie Pfirsiche in frisch gefallenem Schnee. Und die Tussi wusste doch, worauf sie sich einließ -ihre Mutter hatte früher für den alten Wyndham gearbeitet. Also wusste die ganze Familie, wie man ein Geheimnis für sich behielt. Aber die neue Mrs Kilcurt war kein Werwolf. So einfach war das. Und sie gehörte auch nicht zur Familie. Und das würde sie auch nie, ganz egal, wie viele Welpen Alec ihr machte. 121 Jesses! Erst schwängerte der Rudelführer - Michael - einen Menschen und jetzt Alee Kilcurt. Heirateten denn Werwölfe überhaupt keine Werwölfinnen mehr? „Willst du tanzen, Jane?" „Lieber würde ich meine eigenen Augäpfel schlucken", sagte sie düster, ohne überhaupt nachzusehen, wer sie aufgefordert hatte. Warum ging sie jetzt zu ihrem Tisch? Für den Empfang herrschte keine Anwesenheitspflicht. Genauso wenig wie für die Hochzeit. Sie war aus reiner Höflichkeit gekommen. Aber damit war jetzt Schluss. Sie drehte sich auf dem Absatz um und marschierte aus dem Saal. Der Blödmann an der Tür hielt ihr dieselbe freundlicherweise auf. Das war auch besser so, sonst hätte sie sie noch eingetreten.
Janet mochte Boston am liebsten im Frühling. Für eine Stadt war Boston gar nicht so übel. Manche Orte, wie der Hafen und das Aquarium, waren sogar richtig cool. Als sie an das New England Aquarium mit all seinen Fischen, Hummern, Tintenfischen und Haien dachte, knurrte ihr der Magen. Der Arger hatte ihr den Appetit verdorben, und sie hatte nichts zu Mittag gegessen. Da sie den Empfang vorzeitig verlassen hatte, hatte sie auch kein Abendessen bekommen. Sie bog in eine Seitenstraße ab, um eine Abkürzung zum Legal Sea Food zu nehmen - ein in ihren Augen halbwegs akzeptables Restaurant. Sie würde eine Muschelsuppe bestellen, ein paar rohe Austern, ein Steak und einen Hummer. Und vielleicht ein Dessert. Und einen Drink. Vielleicht auch drei. Sie roch etwas, das sie aufmerken ließ. Im Bruchteil einer Sekunde entschied sie sich anders und bog noch einmal ab, in eine ruhigere Straße, um zu sehen, ob ihr die Männer folgen würden. 122 Sie folgten ihr tatsächlich. Ihre Gesichter hatte sie nicht gesehen, sondern nur ihren Geruch wahrgenommen, als sie in der Park Street kehrtgemacht hatten: Verzweiflung und abgestandener Kaffeesatz. Janet war gut gekleidet und sah wahrscheinlich wohlhabend aus. Leichte Beute. Sie bog erneut ab, dieses Mal in eine menschenleere Gasse. Wenn diese beiden Möchtegernräuber dachten, sie könnten sie von ihrem Abendessen abhalten, dann hatten sie sich aber geschnitten. Sie war in der Lage, ihnen mit Leichtigkeit davonzurennen. Dafür müsste sie allerdings ihre hohen Schuhe ausziehen. Diese blöden Schuhe, so unbequem sie auch waren, hatten fast dreißig Dollar gekostet! Auf keinen Fall würde sie sie in irgendeiner Gasse in Boston zurücklassen. Wenn es hart auf hart kam, warf sie ihre Verfolger einfach gegen die Wand. Möglicherweise auch mehr als einmal, so mies gelaunt wie sie war. „Halt, Gentlemen." Janet machte einen Satz. Am anderen Ende der Gasse stand ein Mann. Sie hatte ihn erst bemerkt, als er gesprochen hatte. Obwohl er sozusagen mit dem Wind stand, hatte sie ihn nicht gerochen. Sie wusste nicht, wann das das letzte Mal passiert war. Er war groß - über einen Meter achtzig - und für jemanden, der kein Werwolf war, gut gebaut. Seine Schultern waren breit, und er sah aus wie ein Mann, der mit den Händen arbeitete. Sein Haar war weizenblond und seine Augen von einem so strahlenden Blau, dass sie es sogar aus über vier Metern Entfernung erkennen konnte. Er war ganz in Schwarz gekleidet - eine Anzughose, ein Hemd, dessen oberster Knopf nicht geschlossen war, und ein Trenchcoat, der ihm fast bis zu den Knöcheln reichte. Und was war das jetzt? Er blinzelte
in das Dämmerlicht der Gasse und setzte eine Sonnenbrille auf. Eine Sonnenbrille -um halb elf Uhr abends? 123 „Ich habe selber etwas mit der jungen Dame vor", sagte der komische Typ und kam direkt auf sie zu. Die Hände hatte er geöffnet, ganz entspannt. Sie wusste, dass er keine Waffe trug. Er bewegte sich so anmutig wie ein Tänzer, und wenn sie nicht so verdammt hungrig gewesen wäre, hätte sie ihm gerne noch ein Weilchen zugesehen. „Etwas sehr viel Netteres als ihr beiden, nehme ich an. Also macht, dass ihr wegkommt, in Ordnung?" Und dann, mit leiserer Stimme: „Haben Sie keine Angst, Miss. Ich tue Ihnen nicht weh. Nur ein ganz kleines bisschen." „Geh zur Seite, Brillenschlange", fuhr sie ihn an, schmetterte ihn mit ausgestrecktem Arm gegen die Wand und eilte an ihm vorbei. Sie hatte keine Zeit für Möchtegernräuber und noch weniger für Typen, die nachts Sonnenbrillen trugen. Sie hatte nämlich eine Verabredung mit einem toten Hummer. Hinter ihr keuchte der Brillenträger überrascht auf. Man hörte ein Klatschen, als er auf die Wand traf und dann an ihr hinunterglitt. Sie hatte ihn wohl doch ein wenig fester geschubst, als sie eigentlich beabsichtigt hatte - ups! Dann stürzten sich die anderen beiden auf ihn, und sie verließ die Gasse. Vor sich sah sie bereits das Restaurant. Nur noch ein paar Schritte, und sie würde bestellen können. Nur noch ein paar ... Sie blieb stehen. Wag es ja nicht! Sie drehte sich um. Komm schon, es reicht! Das sind Menschen .. . das geht dich nichts an. Sie ging zur Gasse zurück. Der Brillenträger war zwar ein komischer Typ, aber jetzt war er leichte Beute. Ja, sie waren Menschen, aber es war eine Sache, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und eine andere, dem Schlamassel, den man selber angerichtet hatte, den Rücken zu kehren. 123 Du dumme Kuh! Wer weiß, wann du jetzt etwas zu essen bekommst! „Halt die Klappe, innere Stimme", sagte sie laut. Wenn sie sie schon für zickig hielten, dann sollten sie erstmal ihre innere Stimme kennenlernen. Sie betrat die Gasse, um ihm zu Hilfe zu eilen, und sah gerade noch, wie der zweite Räuber zu Boden sackte. Der Brillenträger kam zu ihr gerannt, während er sich das Blut von den Knöcheln leckte. „Wie ich bereits sagte, bevor Sie mich gegen die Wand geschubst haben: Ich habe etwas mit Ihnen vor, Miss. Und mich würde interessieren, wo Sie trainieren?" Sie war so überrascht, dass sie sich widerstandslos die Hände auf die Schultern legen und näher ziehen ließ. Er lächelte sie an, und selbst in der schlecht beleuchteten Gasse konnte sie sehen, wie das Licht auf seinen Zähnen
funkelte. Auf seinen sehr langen Eckzähnen. Seinen Reißzähnen, um es ganz offen zu sagen. Er hatte Reißzähne. Dabei war noch lange kein Vollmond. „Was, zum Teufel, sind Sie?" Sie legte eine Hand auf seine Brust, damit er sie nicht noch enger an sich zog. Sein Herz schlug einmal. Und dann nicht mehr. Er blinzelte sie an. „Was? Gewöhnlich fallen die Damen an dieser Stelle in Ohnmacht. Und um Ihre Frage zu beantworten, ich bin der Sohn eines Farmers. Das ist alles." „Von wegen", sagte sie barsch. „Ich bin zurückgekommen, um Ihnen zu helfen ..." „Wie nett." „... aber nun geht es Ihnen ja gut, und ich habe Hunger." „Was für ein Zufall", murmelte er. Er fuhr sich mit der Zunge über einen scharfen Reißzahn. Unter ihrer Handfläche begann sein Herz erneut zu schlagen. „Sie sind wirklich außergewöhn 124 lieh schön. Ich nehme an, Ihr Liebster sagt Ihnen das auch immer wieder." „Liebster? Wer redet denn heutzutage noch so? Und das ist Blödsinn", sagte sie ihm. Schön? Wer's glaubte ... Sie war weder klein, noch groß - nur irgendwo in der Mitte. Durchschnittsgröße, Durchschnittsgewicht, Durchschnittshaarfarbe - nicht richtig blond, nicht richtig braun -, Durchschnittsnase, -mund und -kinn. Sie sah, dass sich ihre Durchschnittsaugen in seiner Sonnenbrille spiegelten. „Und Sie lassen mich jetzt besser los, bevor ich Ihnen eine verpasse und Sie den Rest der Nacht damit verbringen, Ihre Zähne auszuspucken." Er blinzelte wieder und lächelte dann. „Vergeben Sie mir die offensichtliche Frage, aber sind Sie nicht wenigstens ein bisschen nervös? Es ist dunkel ... und nun sind Sie allein mit mir. Ich könnte Ihnen doch alles Mögliche antun." Nachdenklich leckte er sich über die Unterlippe. „Alles Mögliche." „Jetzt wird es aber langsam langweilig", sagte sie. „Lassen Sie mich los." „Die Bitte muss ich leider ablehnen." Sie trat ihm auf den Fuß und spürte, wie ihr Schuh seine Zehen zermalmte. Dann versetzte sie ihm einen rechten Haken. Dieses Mal ging er zu Boden und blieb dort liegen. Zwanzig Minuten später schlürfte sie zufrieden die erste von einem Dutzend Austern auf Eis. 124 Er wusste, er lag hier auf der Lauer wie der Bösewicht eines schlechten Melodramas, aber er konnte nicht anders. Er musste sie abfangen, wenn sie das Restaurant verließ. Also konnte er nichts weiter tun, als sie von der anderen Straßenseite durch das Fenster des Restaurants zu beobachten. Nachdenklich massierte Richard sein Kinn. Es tat nicht mehr weh, aber wäre er sterblich gewesen, dann hätte der Schlag dieser Frau genügt, um es zu
zerschmettern. Sie schlug zu wie eine Lkw-Fahrerin. Und sie fluchte auch wie eine. Sie war umwerfend, wirklich umwerfend, mit Augen in der Farbe von Apfelwein und diesem einzigartigen Haar. Es war schulterlang, wellig und hatte ganz unterschiedliche Töne: Gold, Kastanienbraun, Walnuss ... selbst ein paar Strähnen Silber waren darin. Die seidigen Strähnen hatten im Licht der Straßenlaternen geschimmert, und er hätte sie nur allzu gern berührt, um herauszufinden, ob sie genauso weich waren, wie sie aussahen. Als sie in der dunklen Gasse so furchtlos gewesen war, hatte er sich verliebt. Er musste sie wiedersehen, musste sie wieder in seine Arme schließen und sie wieder fluchen hören. Ah! Hier erschien sie also, nachdem sie ihr Fünf-Gänge-Menü beendet hatte. Sie bemerkte ihn sofort und kam nun über die Straße auf ihn zugestapft, die Hände zu Fäusten geballt, die sinnlichen Lippen böse aufeinandergepresst. „Sie sind wohl schwer von Begriff, was?" 125 „Sie sind fantastisch", sagte er und lächelte sie an. Zu dieser Uhrzeit waren nur noch wenige Leute auf der Straße, aber die, die sich in ihrer Nähe befanden, spürten die Spannung und suchten schnell das Weite. Normalerweise hatten Menschen keinerlei Schutzmechanismus, aber wenn ein Vampir in ihrer Nähe war, schienen sie Muffensausen zu bekommen, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst waren. „Bezaubernd, wirklich bezaubernd." Sie schnaubte zart. „Offensichtlich nehmen Sie zu allem Überfluss auch noch starke Medikamente. Hauen Sie ab, bevor ich Ihnen noch mal die Fresse poliere." „Sind Sie nur hier herüber gekommen, um mir zu sagen, dass ich weggehen soll?" Eine ärgerliche Falte erschien auf ihrer perfekten, samtweichen Stirn. „Ja, nur deswegen. Interpretieren Sie da nur nichts rein. Also: Abflug." „Richard Will." „Wie bitte?" „Mein Name ist Richard Will." Er streckte ihr die Hand entgegen und hoffte, sie würde sich nicht vor seinen langen Fingern erschrecken. Die meisten Menschen - Frauen - taten das nämlich. „Ach ja? Nun, Dick, ich traue keinem, der zwei Vornamen hat." Sie starrte seine ausgestreckte Hand an und verschränkte die Arme vor der Brust. Er ließ die Hand sinken. „Und Sie sind ... ?" „Diese Unterhaltung leid." „Ist das Ihr Vorname oder Ihr Nachname?" Sie musste lächeln. „Sehr lustig. Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet."
„Welche?" 126 „Was sind Sie? Ihr Herz ..." Sie wollte die Hand nach ihm ausstrecken, hielt dann aber inne. „Sagen wir mal, Sie sollten schnellstens einen Arzt aufsuchen." „Sie wissen doch, was ich bin." Er beugte sich zu ihr hinunter und war entzückt, als sie nicht vor ihm zurückwich. „In Ihrem Herzen, meine ich." „Dick, wie meine Familie Ihnen bestätigen wird, besitze ich kein Herz." Er legte die Hand auf ihren Brustkorb und spürte den schnellen Schlag ihres Herzens. „Das ist eine Lüge, meine Liebe." Sie schlug seinen Arm fort und hörte sich zu seiner Freude atemlos an, als sie sagte: „Ich bin nicht Ihre Liebe." „Mir bleibt keine andere Wahl, meine Liebe, da Sie mir Ihren Namen nicht nennen." „Ich heiße Janet." „Janet ... ?" „Smith", sagte sie unfreundlich, und er lachte leise. Dann brach er in ein schallendes Gelächter aus, das auch die letzten Nachzügler unter den Passanten in die Flucht schlug. „Was ist denn so verdammt lustig?" „Verstehst du nicht? Wir müssen ganz einfach heiraten. Richard und Janet ... Dick and Jane!" Sie stierte ihn lange an und stimmte dann widerwillig in sein Gelächter ein. „Also magst du die neue Frau nicht?" Mit mürrischem Gesicht rührte Janet in ihrem Kaffee. Es war bereits nach Mitternacht, und sie waren die einzigen Gäste im Cafe. „Ich persönlich habe nichts gegen sie. Sie ist ... nur eben ... etwas anders als wir, das ist alles." „Ist sie Polin?" 126 Sie prustete durch die Nase. „Nichts dergleichen ... so schlimm bin ich nun auch wieder nicht. Es ist schwer zu erklären. Und du würdest mir sowieso nicht glauben." Er grinste und zeigte seine Fangzähne. „Versuch's doch mal." „Ganz sicher nicht, mein Freund. Erst will ich was von dir hören. Ich wusste gar nicht, dass es Vampire wirklich gibt. Mal angenommen, du bist kein armer Irrer, der sich die Zähne feilt, um Mädchen aufzureißen." Er überlegte, ob er sie zusammen mit dem Stuhl in die Höhe stemmen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Das würde nicht nötig sein. Sie wusste doch, was er war. Sie hatte seinen Herzschlag gespürt. Und er ihren. „Ich wusste auch nicht, dass es Vampire gibt, bis ich als einer aufgewacht bin." Sie lehnte sich vor, was ihm eine ausgezeichnete Sicht auf das samtweiche Dekollete in ihrem weinfarbenen Kleid gewährte. „Wie alt bist du?"
„Nicht alt. Zumindest nicht für einen Vampir. Noch nicht mal hundert. Und obwohl es sich nicht gehört, eine Dame nach ihrem Alter zu fragen ....?" „Sechsunddreißig." Perfekt. Sie war kein schüchternes Mädchen mehr, näherte sich ihrer sexuellen Höchstleistung. Das Beste lag noch vor ihnen. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. „Ich bin die alte Jungfer der Familie", sagte sie gerade. „Die meisten meiner Freunde haben schon Kinder im Teenageralter." „Du hast doch noch so viel Zeit." Ihre Miene hellte sich auf. „Das sage ich auch immer! Nur weil diese Gesellschaft im Jugendwahn lebt, muss das nicht heißen, dass wir alles tun müssen, bevor wir dreißig sind. Wozu die Eile?" „Ganz genau. Das sage ich auch ..." 127 „Meine Familie denkt da ganz anders", sagte sie, und ihre Schultern sackten nach vorn. „Sie leben im Hier und Jetzt, wenn du verstehst, was ich meine. Manchmal... gibt es Streit und so. Du weißt nie, ob heute nicht dein letzter Tag auf Erden ist. Das setzt einen unheimlich unter Druck, jeden Tag zu leben, als wenns der letzte wäre, und so viel wie möglich hineinzupacken. Wo ich herkomme, tut man nicht einfach mal nichts, verstehst du?" „Das ist typisch für ... Menschen." Beinahe hätte er gesagt: für Sterbliche. Aber er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Schon jetzt konnte er kaum glauben, dass er tatsächlich diese Unterhaltung führte. Sie hatte ihn beschimpft und geschlagen, wusste, was er war - und trank dennoch Kaffee mit ihm. Erstaunlich! „Wenn deine Lebenserwartung so kurz ist -vielleicht siebzig Jahre? - dann will man natürlich jede Minute auskosten." „Die Lebenserwartung meiner Familie ist sogar noch kürzer", sagte sie düster. „Ah. Lebt ihr in einer unsicheren Gegend?" „Wenn man es milde ausdrücken will. Obwohl es besser geworden ist, seitdem ... na ja, jetzt ist es besser, und ich kann nur hoffen, dass es auch so bleibt." „Das ist auch der Grund, warum du dich so gut selbst verteidigen kannst." Sie ließ die Knöchel knacken. Der Mann hinter der Theke zuckte zusammen. „Darauf kannst du einen lassen." „Lieber nicht." Er rührte in seinem Kaffee. Er könnte ihn trinken, aber das würde seinen Durst nur noch verschlimmern. Deshalb spielte er lieber damit und genoss das Ritual von Milch und Zucker. „Wie lange bist du in der Stadt?" Sie zuckte die Achseln. „So lange, wie ich will. Die Hochzeit 127 ist vorbei. Jetzt werden wir vielleicht noch zwei Tage bleiben und dann nach Hause fahren." „Und zu Hause ist wo?"
„Das geht dich nichts an. Versteh mich nicht falsch, Dick, du scheinst ganz nett zu sein ... für einen untoten Blutsauger ..." „Vielen Dank." „Aber ich erzähle dir nicht meine ganze Lebensgeschichte, egal, wie gut aussehend und charmant du sein magst." „Also sind meine Verführungskünste doch nicht ganz an dich verschwendet", sagte er, um sie aufzuziehen. Sie ignorierte ihn. „Und wenn dir das nicht passt, kannst du aufhören, Mätzchen mit deinem Kaffee zu machen, und dich verpissen." „Ich weiß nicht", sagte er nach einer langen Pause, während der er schuldbewusst den Löffel abgelegt hatte, „ob du die erfrischendste Person bist, die ich je kennengelernt habe, oder die nervigste." „Ich würde sagen, die nervigste", schlug sie vor. „Das findet meine Familie auch." Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, ein billiges Ding, das die Uhrzeit wahrscheinlich genauso zuverlässig anzeigte wie eine Karotte. „Ich muss los. Es ist spät, selbst für meine Verhältnisse." Aus irgendeinem Grund fand sie das lustig. Er lehnte sich vor und nahm ihre kleine warme Hand. Ihre Handfläche war prall, sie hatte eine stark ausgeprägte Lebenslinie. Ihre Fingernägel waren sehr kurz geschnitten und umlackiert. „Ich muss dich wiedersehen. Eigentlich würde ich dich am liebsten wegzaubern, in mein ..." „In dein modriges, feuchtes Schloss?" „... Appartement in Beacon Hill, aber du bist eine junge Dame mit einem starken Willen, und ich bezweifle sehr, ob wir 128 nicht die Aufmerksamkeit auf uns zögen. Also muss ich dich überzeugen." „Da liegst du richtig, mein Freund." Sie entriss ihm ihre Hand. „Wenn du auch nur versuchst ..." „Spucke ich meine Zähne aus oder teile mich in der Mitte oder mein Kopf dreht sich so, dass ich meinen eigenen Rücken sehen kann." Sie kicherte. „Ja, ja, schon verstanden. Dann geh mit mir morgen Abend zum Essen." „Meinst du nicht eher: ,Lass mich dir beim Essen zuschauen, während ich mit meinem Drink spiele'?" „So was Ähnliches, ja." „Warum?", fragte sie misstrauisch. „Weil", sagte er einfach, „ich es jetzt weiß. Du bist erfrischend, weil du nervig bist. Weißt du, wie lange es her ist, dass ich mich so nett mit einer Dame unterhalten habe?" Sie starrte ihn an. „Du hältst das für eine nette Unterhaltung?" „Netter zumindest als zu hören: ,Hilfe, igitt, bleib weg von mir, du fieses Ding, nein, nein, neeeiiiiin, o Gott, bitte töte mich nicht!' Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich diese Unterhaltung schon geführt habe."
„Das geschieht dir recht, weil du eine Zecke auf zwei Beinen bist", sagte sie. „Abendessen also? Auf deine Kosten?" „Selbstverständlich." Und auf deine möglicherweise auch, dachte er, und ihm wurde kurzzeitig schwindelig, als er sich vorstellte, wie er Rotwein von ihrem Bauch leckte. „Hm. Na gut. Eigentlich ist es ganz schön, dass ich mal ich selbst sein kann, noch dazu mit einem Mann, der sich vor Angst nicht gleich in die Hose macht, wenn ich mal was sage, das nur ein klitzekleines bisschen ..." 129 „Ein klitzekleines bisschen vulgär ist?" Sie kicherte wieder. „Aber du musst mir erzählen, wie es war, als du aufgewacht bist und tot warst, und wie es ist, eine flüssige Diät zu machen. Und wie kommt es, dass meine Familie nichts von dir und deiner Art weiß?" „Warum sollte deine Familie etwas von Vampiren wissen?" „Meine Familie ist ziemlich weit verzweigt. Auf diesem Planeten passiert nicht viel, von dem wir nichts erfahren. Also bezahlst du mein Essen und wir reden. Abgemacht, Dick?" „Abgemacht... Jane." „Wenn ich herausfinde, dass du einen Hund namens Spot hast, fällt das Abendessen allerdings ins Wasser", warnte sie ihn. 129 Das Telefon ließ sein schrilles, um Aufmerksamkeit heischendes Klingeln hören, das sie so hasste. Sie stöhnte, rollte sich herum, tastete nach dem Hörer und stieß ihn von der Gabel. Darauf folgte wohltuende Stille. Die jedoch schnell von einem blechernen Geräusch unterbrochen wurde. „Hallo? Jane?" Sie zog sich die Decke über die Ohren. „Jane? Bist du da? Janet? Hallo??" Sie verfluchte ihr Werwolfgehör. Auch wenn die Stimme leise und blechern war, sie hörte sie doch unmissverständlich. „Was?" „Nimm den Hörer", quäkte die Stimme. „Ich will sicher sein, dass du alles verstehst." „Ich kann nicht. Bin zu müde." „Es ist sechs Uhr abends, um Himmels willen. Nimm den Hörer!" Sie murmelte etwas Unflätiges und gehorchte dem Anrufer. „Ich hoffe für Sie, wer auch immer Sie sind, dass es etwas Wichtiges ist." „Ich bin's, Moira, und ich bin praktisch ... die Höchsttemperatur heute war 27 Grad. Im Mai!" „Moira!" „Du solltest mal sehen, was die Feuchtigkeit mit meinem Haar macht." „Moira!!" „Ich sehe aus wie ein blondes Wattestäbchen." 129 „Moiraü! Das ist ja alles sehr faszinierend, aber ich will mir nicht anhören müssen, wie du über dein beschissenes Haar jammerst. Was willst du?"
„Es geht nicht darum, was ich will." Moira schlug einen aufreizend fröhlichen Ton an. „Sondern darum, was Michael will. Der Big Boss will dich sehen, und zwar pronto." Damit hatte die dumme Zicke nun endlich Janets ganze Aufmerksamkeit. Sie riss die Augen auf und schoss in die Höhe. „Michael Wyndham? Will mich sehen? Warum?" Und gleich darauf fragte sie sich voller Panik: Was habe ich angestellt? Doch dann dachte sie verbittert: Komm schon, Mädchen, guter Hund, hier ist ein Leckerchen für das gute Hundchen. „Ich habe keine Ahnung, warum, Mädchen. Aber ich würde vorschlagen, du schwingst deinen Arsch hierher, und zwar besser gestern als heute." Jane stöhnte. „Ah, Mist. Das geht nicht." „Doch. Das muss gehen." „Ich habe eine Verabredung. Heute." Mit zusammengekniffenen Augen sah sie auf ihre Uhr. „Heute Abend, meine ich." „Tatsächlich?" Moira klang - mit Recht - erstaunt. Sie änderte ihren Ton, aber zu spät. „Ich meine, natürlich. Klar. Das ist nur natürlich für eine ... lebhafte ... äh ... und meinungsstarke junge Dame wie du. Dass sie an einem Samstagabend eine Verabredung hat. Ganz natürlich." „Hör auf mit dem Scheiß. Das ist peinlich für uns beide." Junge Dame. Na klar. Moira war mindestens zehn Jahre jünger, halb so groß wie Janet, halb so schwer und doppelt so intelligent. Wenn sie Moira eine dumme Zicke nannte, dann war das nur zur Hälfte richtig. „Mist. Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Hast du keine Idee, worum es gehen könnte?" H130 „Ähem ..." „Komm schon, Moira, du und der Boss, ihr seid beinahe Wurfgeschwister. Also raus mit der Sprache." „Sagen wir mal, dass unser furchtloser Anführer, nun, da er sein Glück mit Gefährtin und Nachwuchs gefunden hat, glaubt, auch du solltest eine Familie gründen ..." „Nein, nein, nein!" „... und er hat genau den richtigen Mann für dich gefunden", fuhr sie gut gelaunt fort. „Er ist sich sicher, dass ihr gut zusammenpassen werdet." „Hat denn ein Rudelführer nichts Besseres zu tun, als ein Blind Date für mich zu arrangieren?" Sie hörte Plastik knacken und lockerte ihren Griff um den Hörer. „Anscheinend nicht. Jetzt sag mir die Wahrheit. Der Letzte war doch gar nicht so schlecht." „Er hat wie ein Drittklässler geheult, als ich ihm die Beute vor der Nase weggeschnappt habe." „Du hast aber auch wirklich alle Kaninchen für dich behalten. Ts, ts."
„War ja klar", brummte Janet, schwang die Beine aus dem Bett und stellte die Füße auf den Boden. „Der erste annehmbare Kerl, dem ich in meinem ganzen Leben begegne - und der Boss will, dass ich ihn für irgendeinen neuen Dildo in den Wind schieße." „Tut mir leid", sagte Moira, aber es hörte sich nicht so an, als meinte sie es auch. „Ich erwähne nichts von dem Dildo, wenn ich Michael sage, dass du auf dem Weg bist. Und jetzt, da ich meine Botschaft übermittelt habe, würde ich normalerweise so etwas sagen wie: Einen schönen Tag noch!' Aber da ich dich ja kenne ..." „Ich mag den Scheiß nicht. Bye." Janet hängte ein und wider 131 stand dem Drang, den Apparat gegen die Wand zu werfen. Mist. Mist, Mist. Sie war bei dem Gedanken an das Abendessen mit Dick so aufgeregt gewesen, dass sie kaum hatte einschlafen können. Gegen Morgengrauen war sie dann endlich eingedöst ... und hatte den ganzen Tag durchgeschlafen. Jetzt musste sie sich auch noch beeilen, um zum Cape zu kommen ... Mist! Jetzt warf sie das Telefon doch. Aber danach fühlte sie sich kein Stück besser, nicht mal, als es in tausend Teile zersprang. Sie tippte mit dem Fuß auf die Bordsteinkante und wartete darauf, dass ihr der faultierähnliche Portier ein Taxi heranwinkte. Sie war zwar durchaus in der Lage, das selbst zu tun, aber andere Länder, andere Schafe. Oder so ähnlich. Sie hatte wie eine Verrückte gepackt, und das sah man auch. Ihr Kleid lugte aus dem Koffer heraus. Grrrr! Neunundfünfzig neunundneunzig bei Sears, und wahrscheinlich würde sie es nie mehr tragen können. Klamotten zu kaufen war ihr ohnehin ein Graus - und jetzt würde sie wieder shoppen gehen müssen. Und Dick. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie so mir nichts, dir nichts abreiste. Er würde denken, dass sie ihn versetzt hatte. Was sie niemals getan hätte. Er war beinahe lächerlich gut aussehend und - was noch wichtiger schien: Sie konnte mit ihm reden. Konnte sie selbst sein, nicht ganz, aber beinahe. Nicht einmal mit dem Rudel konnte sie sie selbst sein. Schon vor einem Jahrzehnt hatte man sie dort als alte Jungfer abgestempelt. Werwölfe fanden schon in jungen Jahren ihre Gefährten, bekamen jung Kinder und starben jung. Und sie wollte keine Kinder, was sie für ihre Leute zu einem Freak erster Klasse machte. Sich schwängern zu lassen war eine Sache (mal angenommen, 131 der Partner tat sich dabei nicht weh), aber dann nistete sich dieser Fötus zehn endlose Monate lang bei einem ein. Menschen mussten wenigstens nur neun Monate leiden. Und, was noch schlimmer war, man wurde so rund wie ein
Kugelfisch und aß einfach alles, was greifbar war, um dann unter stundenlangen Schmerzen und mit viel Blutverlust ein Kind aus sich herauszupressen ... Bäh! Und das Schlimmste kam dann erst! Allein der Gedanke, die ganze Zeit so eine Teppichratte herumtragen zu müssen, die weinte und schrie und spuckte und schiss - und das war erst die erste Woche! —, reichte aus, damit sich ihr die Fußnägel aufrollten. Schon als sie selbst eines gewesen war, hatte sie keine Kinder gemocht. Das Gefühl hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Und als sie achtzehn, dreiundzwanzig, dreißig und vierunddreißig gewesen war, hatte sie immer noch so empfunden. Natürlich waren Kinder notwendig - für andere Leute. Janet zog es vor, lange zu schlafen, Kleidung ohne Spuckflecken zu tragen und Schimpfwörter zu benutzen. „Wohin, Ma'am?", fragte der Portier und unterbrach ihre Anti-KinderTräumerei. Ab und zu winkte er einem vorbeifahrenden Taxi mit der Hand, jedoch ohne Erfolg. In dieser Zeit hätte sie selber vier Taxis anhalten können. In dieser Zeit hätte sie sogar zum Flughafen joggen können. „Logan", schnauzte sie ihn an. Es war ja nicht sein Fehler, dass sie den Befehl bekommen hatte, die Stadt zu verlassen, aber der Big Boss war nun mal nicht da, damit sie ihren Ärger an ihm auslassen konnte. „So schnell es geht." Sie dachte daran, eine Nachricht für Dick zu hinterlassen, entschied sich dann aber dagegen. Zuerst sollte sie wohl besser herausfinden, was Michael wirklich von ihr wollte. Und wenn es nicht um Leben oder Tod ging, würde sie ihm Saures geben. 132 Ganz gleich, ob er der Rudelführer war. Sie hatte ihr eigenes Leben. Nun, bis gestern hatte sie keins gehabt, aber das wusste er ja nicht. Er schnippte einfach mit den Fingern, und schon kamen sie alle angerannt. Aber mit ihr nicht. Sie sah, wie der Portier schauderte, und stellte fest, dass die Sonne beinahe untergegangen und die Temperatur um gut zehn Grad gefallen war. Aber so kalt war es nun auch wieder nicht. Und warum sah der Typ so aus, als würde er sich gleich vor Angst in die Hosen machen? Sie war zwar gereizt, aber doch nicht wegen ihm! Das musste er eigentlich wissen. Jesses, der Junge sonderte einen fürchterlichen Gestank ab! Wie Mottenkugeln, die man in Benzin getunkt hatte. Seine Angst - seine Todesangst - stach ihr in der Nase. Dieser Geruch machte ihr schon selbst Angst, und sie legte die Hände um die Ellbogen und schauderte. Von schlecht gelaunt zu nervös in fünf Sekunden ... ein neuer Rekord! Das war ein Fehler, wie sie eine halbe Sekunde zu spät verstand. Sie fuhr herum und sah gerade noch stechend blaue Augen, bevor sie einen Mordsschmerz in ihrem Kiefer spürte und Dick das Licht ausknipste. Und alles andere auch. 25'
Es war ihm egal. Wirklich. Ihr ging es gut - und wenn nicht, wen interessierte das denn? Er hatte ihr nicht wehgetan. Nicht richtig. Zum elften Mal in sechzig Minuten sah er nach ihr und stellte dann erleichtert fest, dass der blaue Fleck unter ihrem Kiefer bereits verblasste. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Um Zeit und Schritte zu sparen - wenn er aus dem Zimmer ginge, würde er fünf Minuten später wieder hier sein - , setzte er sich auf den Stuhl neben das Bett. Er legte das Kinn in die Hand, lehnte sich vor und sah ihr beim Schlafen zu. Selbst bewusstlos sah Janet noch mürrisch aus. Er hätte gelächelt, wenn er nicht so wütend gewesen wäre und sich so verraten gefühlt hätte. Verraten? Gut, gut, es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen ... ja, er fühlte sich verraten. Und verärgert und liebeskrank und wütend auf den kleinen Dummkopf, der an sein Bett gefesselt war. Am meisten aber war er wütend auf sich selbst, doch Miss Jane bekam ihren Teil ab, und nicht zu knapp. Sie hatte ihn zum Narren gehalten. So einfach war das. Einfach, aber unverzeihlich. Sie hatte ihn glauben lassen, dass sie das Monster akzeptierte, obwohl das ganz offensichtlich nicht so war. Die hinterhältige Schlange hatte seine Einladung nur angenommen, um ihn freundlich zu stimmen, und hatte sich dann wie ein Dieb aus der Stadt stehlen wollen. Wenn er nicht so früh erschienen wäre, um sie abzuholen, wäre sie verschwunden, und 133 er hätte möglicherweise nie erfahren, was aus ihr geworden war. Er hätte Jahre seines Lebens damit vertan, sich Sorgen um sie zu machen. Stattdessen hatte er die Situation mit einem Blick erfasst und auch entsprechend gehandelt. Na gut, das war vielleicht nicht ganz richtig. Er war in Panik verfallen - und hatte nur noch daran denken können, dass er sie zu sich nach Hause bringen musste, damit sie ihn nicht verlassen konnte. Die Stadt nicht verlassen konnte, natürlich. Und in seiner Panik hatte er nicht leicht, wie eigentlich beabsichtigt, sondern eher/e,s zugeschlagen. Zu seinem Glück geschah alles so schnell, dass der einzige Zeuge - der Portier - nur Stoff hatte herumwirbeln sehen. Richard verstand es, seine Schnelligkeit und das Dämmerlicht zu seinem Vorteil zu nutzen. Jane hatte ihn nicht wiedersehen wollen. Und das war der Haken an der Sache. Er war schwach geworden. Einen Abend lang hatte er nicht daran gedacht, dass er das Monster war, von dem die Märchen erzählen. Er hatte vergessen, dass er mit einer Frau keine andere Beziehung als die rein fleischliche haben konnte. Er wollte keine Vampirfrauen, und sterbliche Frauen wollten ihn nicht. Nun, damit konnte er leben. Ganz ausgezeichnet sogar.
Er war ein Monster, und er würde auf keinen Fall vorgeben, etwas anderes zu sein. Aber Jane würde dafür bezahlen, dass sie ihn dazu gebracht hatte, es für kurze Zeit zu vergessen. Sie würde dafür bezahlen, dass sie ihn dazu gebracht hatte zu glauben, dass er an erster Stelle ein Mann und erst an zweiter eine Bestie war. 134 Jane stöhnte und versuchte, sich auf die Seite zu rollen. Das Telefon klingelte. Das würde Moira sein, um ihr zu sagen, dass sie ihren Arsch zum Cape bewegen sollte. Sie würde Dick heute Abend nicht treffen können. Sie musste ans Telefon gehen und Moira sagen, dass sie sie am Arsch lecken konnte, und dann ... Moment mal. Das war alles bereits passiert. Warum lag sie dann immer noch im Bett? Sie öffnete die Augen und versuchte, sich aufzusetzen. Ihr Gehirn registrierte sofort drei beunruhigende Fakten: 1. Sie konnte sich nicht aufsetzen, 2. sie war ans Bett gefesselt, und 3. sie befand sich im selben Zimmer mit einem verärgerten Vampir. Und ohne Aussicht auf den Zimmerservice. „Ohhhh, du Idiot!", brüllte sie. Hätte sie die Hände vor die Augen schlagen können, so hätte sie es getan. Wenn sie ihn hätte schlagen können, sie hätte es getan. So aber waren ihre Beine und Arme weit gespreizt und an die vier Bettpfosten gebunden. „Hast du auch nur eine Ahnung, welchen Ärger du mir da eingehandelt hast, du Blödmann?" Dick, der auf einem Stuhl neben dem Bett saß, blinzelte sie an. Das tat er oft. Er blinzelte langsam und nachdenklich, wenn er überrascht war. Als wenn er damit Zeit gewinnen wollte. Gestern hatte sie es für süß gehalten. „Ich hätte wohl nicht mit jungfräulichen Protesten rechnen sollen", sagte er nach einer langen Pause. 134 „Du hättest mit einem eingeschlagenen Schädel rechnen sollen, du untoter Idiot! Warum hast du mich an dein Bett gefesselt, verdammt noch mal? Ist das überhaupt dein Bett? Wehe, wenn es nicht deins ist! Wenn ich in dem Bett von irgendeinem fremden toten Typen liege, dann kannst du dich auf was gefasst machen." Er legte die Hand auf das Kinn ... stand dann auf und ging. Sie nutzte die Gelegenheit, um an ihren Fesseln zu zerren -nichts tat sich. Sie waren weich, wie aus Stoff, zugleich aber doch erstaunlich fest. Waren ihre Fesseln mit Kaugummi gefüttert, oder was? Sie lauschte angestrengt und hörte, ganz schwach, Gelächter in ungefähr zehn Meter Entfernung. Dick war nach draußen gegangen und amüsierte sich offenbar prächtig auf ihre Kosten -na wunderbar.
Einen Moment später wurde die Tür aufgestoßen, und Dick kam zurück, die Miene schien versteinert. „Tut mir leid. Ich dachte, ich hätte etwas auf dem Herd gelassen. Wo waren wir?" Sie trat nach ihm. Ihr Bein hob sich trotz der Fesseln vom Bett, aber nicht sehr. „Wir sprachen darüber, dass du einen schmerzhaften und schrecklichen Tod sterben wirst - noch einmal! Mit was hast du mich festgebunden?" Sein linker Mundwinkel zuckte. „Das ist das Gummiband, das mit Titandraht gefüttert ist. Es tut nicht weh, wenn du daran ziehst, aber es reißt auch nicht. Selbst ich habe Mühe, es zu zerreißen, und ich bin ein bisschen stärker als du." Willst du wetten, toter Mann? „Hast du auch nur eine Ahnung ... Grrrr! Ich soll mich in diesem Augenblick mit meinem Boss treffen! Wie spät ist es?" „Ungefähr zwei Uhr morgens." „Uaaaaahh! Grrrr! Volltrottel. Ich bin fünf Stunden zu spät!" 2SS „Noch eine Verabredung?", fragte er aalglatt. „Nein. Bist du tot und taub? Ich hab es dir doch schon erklärt. Mein Boss hat angerufen - na ja, nicht er hat angerufen, sondern einer seiner Lakaien - und hat mir gesagt, ich soll in sein Büro kommen, und zwar pronto. Und wenn er sagt, spring, dann springen wir, Alter. Ich hatte keine Zeit, um dir eine Nachricht zu hinterlassen, aber ich wäre zurückgekommen!" „Natürlich wärst du das." Jane war so verärgert, dass sie sich am liebsten selbst in den Hintern gebissen hätte. „Ja, das wäre ich, Dummkopf!" „Dein Boss ruft dich an einem Wochenende an, und du musst alles stehen und liegen lassen und an seine Seite eilen? Also wirklich, Jane. Ich hätte eine bessere Ausrede erwartet." Sie knurrte ihn an. Wenn er sie noch wütender machte, würde sie die verdammte Decke anbellen. „Himmel, kaum zu glauben, dass ich mich tatsächlich auf den Abend mit dir gefreut habe! Wenn du so mit Ablehnung umgehst ... Perversling!" Etwas blitzte in seinen Augen auf. Ganz tief unten. Plötzlich musste sie an den See zu Hause denken, in dem sie immer geschwommen war. Das blaue Wasser war hübsch und einladend, aber der See wurde aus Quellen gespeist und war eiskalt, selbst im Juli. Man ahnte nicht, wie kalt das Wasser war, bis man sich ein Herz gefasst hatte und hineingesprungen war. Und dann gab es kein Zurück mehr. Entweder man bewegte sich, oder man erfror. „Also gibst du zu, dass du mich abgelehnt hast?" „Nein, Dummbatz! Ich habe dir die Wahrheit gesagt. Das kannst du glauben oder auch nicht." „Gibt es noch eine dritte Möglichkeit?" „Ja ... mach mich los, damit ich ans Telefon kann." „Diese Bitte muss ich leider ablehnen." 135
„Du kannst mich nicht einfach hier festhalten wie ein ... ein sie spuckte das Wort beinahe aus, „wie ein Haustier." „Kann ich nicht?" Auf einmal stand er über ihr, knöpfte beiläufig sein Hemd auf und streifte es über seine Schultern. Ihre Augen wurden groß, bis es sich anfühlte, als würden sie aus ihren Höhlen treten. „Was zum Teufel tust du da?" „Du bist ein intelligentes Mädchen. Du wirst es schnell raushaben." „Wag es ja nicht!" „Ich wage viel, jetzt, da mein Herz ..." Er brach plötzlich ab, und sie hörte, wie seine Zähne aufeinanderschlugen. Was war nur mit diesem Typen los? Dann zog er die Hose, die Socken und die Unterwäsche aus. So ganz nackt war Dick sehr lecker anzuschauen - lange Beine, breite Schultern und ein hübscher flacher Bauch, der sie an heiße Karamellsoße und Schlagsahne denken ließ. Seine Brust war leicht blond behaart, ungefähr zwei Farbtöne dunkler als sein Kopfhaar. Seine Muskeln zeichneten sich deutlich ab, und sie verspürte den plötzlichen, ganz verrückten Drang, ihn zu berühren, um zu sehen, ob sich seine Haut genauso weich anfühlte, wie sie aussah. Wahrscheinlich war es, dachte sie, als würde man mit Samt überzogenen Stahl anfassen. Oder Marmor ... er wirkte ziemlich blass. Er streckte die Hand aus und löschte das Licht ... klick. Unwillkürlich erweiterte sie ihre Pupillen und konnte ihn wieder sehen: ein heller, verschwommener Fleck in der Dunkelheit. Ein verschwommener Fleck mit glitzernden blauen Augen. Sie spürte seine kühle Hand auf ihrem Schenkel, und dann knöpften seine Finger leicht und flink ihr Kleid auf. Sie trat wieder nach ihm, vergebens. Er ließ den Verschluss ihres BHs 136 aufspringen - Verschlüsse zwischen den Brüsten waren wirklich blöd! - und zerriss mit seltsamer Sorgfalt ihren Slip in der Mitte. Sie zischte. Zwölf Dollar bei Victorias Secreti Das einzige Geheimnis dieser blöden Kuh war, dass ihre Sachen eine Handelsspanne von sechshundert Prozent hatten! „Du bist ein Arschloch", sagte sie laut und deutlich. „Das mag stimmen." Er zog ihr den Slip vom Körper, öffnete ihr Kleid und schob ihren BH aus dem Weg. „Hmm. Sehr hübsch." „Fick dich selbst, Perversling." „Lieber nicht ... außerdem bist du doch da. Wir haben noch ein paar Stunden, bevor die Sonne aufgeht." Er lachte leise. Sein Lachen klang wie kaltes Wasser, das über schwarze Steine fließt. „Und Jane ... ich bin soooo hungrig. Ich habe lange warten müssen, bis du aufgewacht bist." „Ich hoffe, ich vergifte dich. Ich hoffe, du verschluckst dich, bis deine Lungen explodieren. Ich hoffe, mein Blut verätzt deine Luftröhre. Hoffentlich ..." „Ich glaube, das Wesentliche habe ich verstanden. Ich hoffe, dass du das nächste Mal, wenn du versprichst, den Abend mit mir zu verbringen, auch
Wort hältst." Dann lag er auf ihr, so plötzlich, dass sie nicht einmal Zeit hatte, nach Luft zu schnappen. Sie versuchte, sich so gut wie möglich auf den Moment vorzubereiten, wenn er brutal in sie eindringen würde. Auf den Schmerz, wenn er sie biss. Oh, wenn ich hier rauskomme, werde ich mit deinen Wirbeln Würfel spielen. Du wirst schon sehen. Und ich werde auch nicht weinen. Auf keinen Fall. Seine Lippen strichen über ihren Kiefer. Sie spürte, wie er über ihren Hals leckte und zart an ihrer Haut knabberte. Seine kühle Hand schloss sich über ihrer Brust, drückte gegen ihren warmen Körper, und sie spürte, wie ihre Brustwarzen unter 137 seiner Handfläche hart wurden. Dann küsste er ihre Kehle, die Mitte ihrer Brust und ihren Bauch. Sie spürte seine Daumen auf ihrer Möse, wie sie sie weit auseinanderzogen, und sie fühlte, wie sich seine Zunge in sie hineinschlängelte. Bei dem Schock bog sie den Rücken so weit durch, dass ihr Körper beinahe vom Bett abhob. Sein Mund war erst kühl, wurde aber schnell wärmer, und als sie an seine scharfen Eckzähne dachte, zuckte sie zurück. Doch es gab nichts, wovor sie Angst haben musste - oder doch, aber sie vergaß es schnell, als sich jetzt die Wärme aus ihrem Schoß nach oben ausbreitete. Seine Zunge stieß immer wieder in ihren kleinen Tunnel hinein, tupfte ihre Klitoris, und dann zog er sich zurück und leckte sie ... so quälend langsam, dass sie zu zittern begann. Sie biss die Zähne, so fest sie konnte, aufeinander und unterdrückte die Laute, die sie eigentlich gerne ausgestoßen hätte. Also war er doch nicht der ganz knallharte Typ. Auch gut. Das hier war trotzdem nicht ihre Idee. Genauso gut hätte er sie auch prügeln oder in einer dunklen Gasse gegen die Wand drücken können oder ... oder ... Er hielt inne. Er zog sich zurück. Gerade begann sie, sich zu entspannen, da spürte sie einen scharfen Stich, als sich seine Zähne in die Haut über ihrer Oberschenkelarterie schlugen. Sie keuchte auf - sie konnte nichts dagegen tun - und versuchte, sich loszureißen. Aber seine Hände hielten sie fest. Seine Finger strichen über das weiche Haar zwischen ihren Beinen. Dann öffnete er wieder ihre Schamlippen und streichelte ihre pochende Klitoris. Mit einem Finger tauchte er in sie ein, während sein Daumen sanft über ihre immer feuchter werdende Haut kreiste. Die ganze Zeit über war sein Mund mit der Innenseite ihres Oberschenkels beschäftigt, sie hörte leises Saugen. 137 So ging es weiter und weiter, und schnell verlor sie ihr Zeitgefühl. Sie schrie lautlos und in ihrem Inneren. Wann immer sie dem Orgasmus nahe kam, spürte er es irgendwie, und seine Finger hielten inne oder zogen sich ganz zurück. Sein Mund dagegen hörte nie auf. Dann begann er von Neuem, wobei er immer darauf achtete, sie nicht zu weit zu bringen. Nach einer Weile
zitterte sie so, dass das Bett wankte. Aber sie gab noch immer keinen Laut von sich. Endlich war er satt. Er zog sich zurück, beugte sich dann zu ihr hinunter und leckte sie langsam und genüsslich. „Hmmm. Du bist so feucht. Ich liebe das. Und du schmeckst sooooo gut. Offenbar überall. Dein Blut ist sehr kräftig. Was, zum Teufel, hast du gegessen?" Statt einer Antwort knirschte sie nur mit den Zähnen. Sie spürte, wie er sein Becken auf ihres legte und hörte sein leises Lachen. „Deine Wut könnte das Zimmer in Flammen setzen -das ist besser, als wenn dir zu kalt wäre, oder nicht?" Sie würdigte ihn keiner Antwort. Außerdem war sie sich nicht sicher, was sie sagen würde, wenn sie den Mund öffnete. Sie hatte große Angst, dass sie darum bitten, vielleicht sogar betteln würde, dass er sie nahm. Hart. Und lange. Sehr lange. Ihre Möse pochte. Ihr Oberschenkel pochte. Aber nicht vor Schmerz, sondern vor reinem Verlangen. Noch nie hatte sie so dringend kommen müssen. Als er in sie eindrang, brauchte es ihre ganze Willenskraft, damit sie sich ihm nicht entgegen drückte. Im Stillen zählte sie alle seine Übeltaten auf. Das half. Dieser Teil von ihm war warm. Und hart. Und riesig. Sein Schwanz kam langsam und sanft in sie hinein, und flüchtig dachte sie: Er muss sanft sein . .. früher war er es nicht, und damit hat er seiner Partnerin wehgetan. Deshalb weiß er auch, dass 138 er sie erst mit der Zunge vorbereiten muss. Aber dieser Gedanke verflog und machte der Verwirrung Platz, als er anfing, sein Becken weiter nach vorn zu schieben, und sie spürte, wie er mit Wucht in sie hineinstieß. Sie gab einen Laut von sich, ganz leise, und sofort lag sein Mund auf ihrem. Sie schmeckte sich selber, ihre Lust und ihr Blut. Er flüsterte, sein Mund auf ihrem: „Ich konnte nicht anders. Es tut mir leid ... tu ich dir weh?" Seine Hände gruben sich in ihr Haar. Er stöhnte und stieß wieder zu. Sie sog scharf den Atem ein. „Bitte stöhnte sie. „Bitte ..." Hör nicht auf. Hör nie wieder auf. Härter. Mehr. Schneller. Bitte. Bitte. Bitte. Auch er stöhnte. „Ich wollte dir wehtun, aber nicht ... ich mache es wieder gut, meine einzige ..." Sie hörte, wie er mit den Zähnen knirschte ... und dann so plötzlich innehielt, dass sich sein ganzer Körper vor Anstrengung anspannte. Sie wagte nicht, sich zu bewegen oder zu atmen, aber dennoch tat er das Undenkbare - er zog sich langsam aus ihr zurück. Sie schloss die Augen und wimmerte und hasste sich sofort dafür, obwohl sie wusste, dass sie es unmöglich hätte unterdrücken können. „Jane. Sag mir die Wahrheit, Liebes. Tu ich dir weh?" Sie spürte ein Streicheln auf ihrer Wange und schlug die Augen auf. Er presste die Zähne so fest
aufeinander, dass sein Kiefer zitterte. Dies war die perfekte Möglichkeit, Rache zu nehmen. Doch sie brachte es nicht über sich. „Zweimal", flüsterte sie. Er senkte den Kopf und küsste ihre Schulter. „Was?" „Zweimal. Das ist mein zweites Mal. Bisher. In meinem ganzen Leben." „Dein ... was?" Als sie seinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, hätte sie beinahe gelacht, wenn sie ihm nicht am liebsten die Augen ausgekratzt hätte, weil er sie nicht kommen ließ. „O 139 Gott! Ich hatte ja keine ... ich dachte, du ... du wirkst so hart, dass ich sicher war, dass ..." Hart? Klar. Echt hart war sie. Noch in der Nacht, in der sie ihre Jungfräulichkeit verloren hatte, hatte sie sich einen Schutzpanzer für ihre Seele zugelegt. In der Nacht, in der sie in ihrer Leidenschaft ihrem Geliebten den Rücken gebrochen hatte. Es war am letzten Tag ihres Freshman-Jahres im College geschehen, und ihr damaliger Freund saß heute, soweit sie wusste, immer noch im Rollstuhl. Das war das erste und letzte Mal, dass sie sich jemanden gesucht hatte, der kein Werwolf war. Tatsächlich war es überhaupt das letzte Mal gewesen, dass sie mit jemandem geschlafen hatte. Bis heute Abend. Und das, was jetzt geschah, hatte sie sich auch nicht ausgesucht, oder? „Du kannst nicht Gott sagen", flüsterte sie. „Du bist ein Vampir." „Einer von vielen Mythen", flüsterte er zurück. Er streichelte ihr Haar. Sein Schwanz lag auf ihrem Bein und pulsierte ungeduldig. Ihm war es egal, ob sie Schmerzen hatte oder nicht. Er hatte noch etwas Dringendes zu erledigen. Und sie auch. „Jane, warum hast du versucht, vor mir davonzulaufen?" „Das habe ich nicht, du Dummkopf. Ich habe dir die Wahrheit gesagt." „Hm." „Und jetzt mach endlich weiter und bind mich los." „Triff deine Wahl." „Was?" Sie schrie beinahe. „Triff deine Wahl." Er tippte mit dem Finger auf ihre Klitoris. „Und ich tue es." Er küsste sie wieder. Dann schob er sich tiefer und leckte über ihre Brustwarze, um dann heftig an ihr zu saugen. Ihre Hände ballten sich in den Fesseln zu Fäusten. „Egal was. Ich tue es. Und zwar ausgiebig." 139 „Ich hasse dich", schluchzte sie. „Ich weiß." „Mach weiter." „Oh, Gott sei Dank." Sofort schob er sich wieder in sie hinein, und eine halbe Sekunde lang verstand sie, warum er so besorgt gewesen war. Die Reibung war wundervoll, so wundervoll, dass es beinahe schmerzte. Dann pumpte er mit den Hüften gegen ihre, und es war nicht mehr nur wunderbar, jetzt war es herrlich. „Küss mich zurück", sagte er, ohne seinen Mund von ihrem zu nehmen. „Gib mir deine Zunge."
Halb blind vor Lust gehorchte sie. Er saugte daran, jedes Mal, wenn er wieder zustieß. Sie hörte, wie jemand leise wimmerte, und stellte erstaunt fest, dass sie selbst die dumme Kuh war, die diese Geräusche machte. Das Bett knallte im Rhythmus ihrer Bewegungen gegen die Wand. Plötzlich riss er den Mund von ihrem los. „Jetzt", zischte er in ihr Ohr, „komm jetzt." Dann kniff er ihr fest in die Brustwarze, und das brachte sie zu dem stärksten Orgasmus ihres ganzen Lebens. Sie spürte, wie sich ihre Gebärmutter zusammenzog - und für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Alles verschwamm. Er erstarrte über ihr, und für einen Augenblick packte er so fest zu, dass es wehtat. „Gott, o mein Gott, Jane!" Dann überlief ihn ein Schauder, und sie spürte, wie er sich tief in ihr ergoss und sich entspannte. Sie dämmerte für ein paar Minuten weg - die letzten Tage waren anstrengend gewesen. Als sie merkte, dass er ihre Unterlippe mit dem Daumen streichelte, war sie sofort wieder hellwach. „Geh sofort runter von mir, du Arschloch!" „Ah, wieder ganz die Alte. Ich dachte gerade schon, dass du so untypisch ruhig bist." „Runter. Jetzt. Hasse dich. Mach dich kalt." Er brach in Gelächter aus, was nicht gerade dazu angetan war, 140 sie zu besänftigen. Mit aller Kraft spannte sie sich an und schaffte es, ihn von sich herunterzurollen. „Tut mir leid, Liebling, es ist unhöflich zu lachen. Aber die meisten Frauen in deiner Lage stünden unter Schock und würden in die Bettlaken heulen. Und du kannst an nichts anderes denken als nur daran, wie du deine Zähne in mich schlägst." „Und wie du wohl schmeckst", sagte sie zuckersüß. „Nun, es gäbe Mittel und Wege, wie du das herausfinden könntest..." „Wenn du mir was in den Mund steckst, wirst du in Zukunft darauf verzichten müssen." Er seufzte. „Es war wohl zu schön, um von Dauer zu sein. Schade, dass wir nur im Bett harmonieren." „Im Bett harmonieren? Du hast mich vergewaltigt, du Arschgesicht! Weißt du eigentlich, was meine Familie mit dir machen wird? Was ich mit dir machen werde?" „Es stimmt, ich habe dich vergewaltigt." Er zupfte an einer ihrer Brustwarzen. „Am Anfang." Sie errötete vor Scham. Er sah es, und es berührte ihn mehr als alle ihre Todesdrohungen. „Nein, du hast recht. Ich habe dich dazu gezwungen. Du hast es nicht gewollt. Ich habe dich gefesselt, um Himmels willen. Es gibt nichts, das du bereuen müsstest." Sie war ihm dankbar für die Lüge. Aber sie hatte nicht vor, es ihn auch wissen zu lassen. „Ich bereue, dass ich dir nicht den Hals in dieser Gasse umgedreht habe, als ich die Möglichkeit dazu hatte. Und jetzt lass mich gehen!"
„Tut mir leid, Jane. Du hattest die Wahl. Du hättest die Freiheit wählen können, aber du bist geblieben." „Ich habe nicht..." „Deswegen wirst du jetzt auch bleiben, genauso, bis ..." 141 „Oh, was denn nun schon wieder? Gott, du machst mich wahnsinnig!" „Bis du einwilligst, meine Frau zu werden." Es folgte eine lange Stille. Dann sagte sie: „Richard, du bist auf Droge." „Nur, wenn du es auch bist. Ist dein Blut deswegen so kräftig? Es schmeckte wie Wein. Ich habe mich noch nie so gut gefühlt", sagte er begeistert. „Eigentlich wollte ich mit dir schlafen und dein Blut trinken und dich dann in den frühen Morgenstunden wieder freilassen und dir sagen: ,Ich ruf dich an!' Aber jetzt lasse ich dich nie, nie wieder gehen. Du bist ein kostbares Juwel, Jane. Ein Smaragd, ein Rubin." „Ich bin an ein Bett gefesselt, und neben mir liegt ein Wahnsinniger", dachte sie laut nach. Und dachte bei sich: Hast wohl nie von einem Werwolf getrunken, mein Freund. Interessant. Wenn du von mir abhängig würdest, könnte das nützlich sein. „Du wirst das schon von den anderen Frauen gehört haben, die du vergewaltigt hast: Ich wäre lieber tot als deine Frau." „Untot", sagte er strahlend. „Nun, wir müssen ja nichts überstürzen. Du bist immer noch im besten Alter. Obwohl ich nicht die Absicht habe, in vierzig oder fünfzig Jahren Witwer zu werden." „Wie bitte?" „Oh, ich würde nicht sofort darauf bestehen, aber vielleicht in zehn Jahren oder so, dann müsste ich dich in einen Vampir verwandeln." Ein untoter Werwolf? Und als Nächstes kam wohl Frankensteins Monster zum Abendessen? „Du bist ja komplett durchgeknallt." „Sieht ganz so aus", sagte er gut gelaunt, küsste sie und ging. 141 Richard klopfte züchtig - absurd, wenn man bedachte, was er gerade mit ihr gemacht hatte - und öffnete die Tür. Sie starrte zur Decke hoch und sah ihn nicht an, als er in das Zimmer trat. Er knabberte an seiner Unterlippe und versuchte, sich vom Anblick der reizenden Janet abzulenken, die mit gespreizten Armen und Beinen auf seinem Bett lag. Erstaunlich - gerade hatte er über eine Stunde mit ihr verbracht, und jetzt hätte er sie sofort wieder nehmen können. Und wieder. Und wieder. Er trug ein Tablett, voll beladen mit Essen. Sie roch es und setzte sich so weit auf, wie ihre Fesseln es ihr erlaubten. „Fütterungszeit im Zoo", sagte sie düster. Die Stelle an ihrem Oberschenkel, wo er sie gebissen hatte, wurde blau. Er unterdrückte den Drang, den Fleck zu küssen und sie um Vergebung zu bitten. Sie hat gelogen, rief er sich in Erinnerung. Und du bist ein Monster.
„Ach, sei schon still. Im Zoo ist das Essen nicht so gut. Siehst du? Hummersuppe, Kräcker, ein Steak und Milch. Und wenn du alles aufisst, gibt's auch noch ein Schokoladeneis." „Das sind ja üppige Portionen." Sie starrte auf das Tablett. „Ich hab dir schon beim Essen zugesehen, Liebling. Ich werde dir jetzt die Fesseln abnehmen. Aber bevor du mir eins mit dem Tablett überziehst und die Flucht ergreifst, sollte ich noch erklären, dass sich zwischen dir und der Straße nicht weniger als drei verriegelte Türen befinden - alle aus solider Eiche. Bevor du durch die hindurch bist, habe ich dich längst 266 wieder eingefangen. Und du musst halb am Verhungern sein. Es ist doch sicher klüger, erst zu essen und dann über Rache nachzudenken, oder?" Sie trommelte mit den Fingern auf den Bettüberwurf und starrte zu ihm hoch. Ihre Augen wurden eng und ihr Blick abweisend, aber schließlich sagte sie: „Ich bin tatsächlich halb am Verhungern." „Dann iss. Und danach nimmst du ein heißes Bad. Wie klingt das?" „Und dann was?" „Dann willigst du ein, meine Frau zu werden." „Fang nicht wieder damit an, perverser Mistkerl!", knurrte sie. „Ah, ganz die züchtige Braut. Wie erfrischend. Ich sehe dir an, dass du über Mord nachdenkst - verschütte nicht die Suppe." Er stellte das Tablett auf den Tisch und ließ ihre Fußfesseln aufschnappen. Dann packte er den Fuß des Bettes und zog es von der Wand weg. Obwohl sie das selbst auch gekonnt hätte, war sie beeindruckt - nicht schlecht für einen untoten Affen. Er ging zum Kopfende und hatte in wenigen Sekunden ihre Hände befreit. Sie sprang mit einem Satz vom Bett, riss sich die Reste ihrer Kleidung vom Leib und ging schnurstracks zu dem Tablett. „Ich habe dir einen Bademantel mitgebracht..." „Wen stört es denn?", sagte sie, den Mund voller Kräcker. „Du hast mich schon nackt gesehen." „Äh ..." Du bist wunderschön. Das lenkt mich ab. Wenn du mit diesem süßen, kleinen Körper hier herumstolzierst, kann ich für nichts garantieren. Du hast Suppe am Kinn. „Wie du wünschst." Er setzte sich ihr gegenüber und sah ihr beim Essen zu. Sie aß wie eine Maschine: als würde ihr das Essen keinerlei Freude 142 bereiten. Sie tankt auf, um mich dann besser fertigmachen zu können. Auch egal. Er hatte es verdient. Das und noch mehr. Und sein Körper heilte schnell. Sie durfte ruhig ordentlich zulangen. „Warum hast du unsere Verabredung nicht eingehalten?", fragte er auf einmal und war selber ganz erstaunt über seine Frage. Er hatte erst gewusst, dass er es sagen würde, als die Worte bereits ausgesprochen waren.
Sie grunzte gereizt. „Das haben wir doch schon durchgekaut." „Jane ..." Wieder hatte er keine Ahnung, was er sagen würde, aber er sagte es trotzdem. „Jane, wenn du mir die Wahrheit sagst, dann entriegle ich diese drei Türen und begleite dich zurück zu deinem Hotel. Gib einfach zu, dass du Angst vor mir hattest und vorgegeben hast, du würdest mich akzeptieren, wie ich ..." Ihr Blick traf seinen wie ein Laser. „Ich heiße Janet Lupo", sagte sie kalt. „Ich habe vor keinem Mann Angst. Und. Ich. Lüge. Nicht." Er spürte tatsächlich die Kälte, die von ihr ausstrahlte. Absurd! Sie war nur halb so groß wie er, auch wenn ihre große Klappe anderes vermuten ließ. Sie starrte ihn mit einem merkwürdigen, beinahe hypnotischen Blick an. Herausfordernd. Nur mit Mühe gelang es ihm wegzusehen. „Nun", sagte er schließlich, „vielleicht verstehst du ja, dass es mir sehr schwerfällt zu glauben, dass dein ,Boss' über deine Freizeit verfügt, und warum du alles stehen und liegen lassen und von jetzt auf gleich zu ihm eilen musst." „Rudelregeln." „Wie bitte?" „Rudel ... Regeln ... Dumm ... Kopf. Stottere ich etwa? Ich bin eine Werwölfin. Und mein Boss ist mein Leitwolf." Er lachte und duckte sich, als die Suppenschale über seinen 143 Kopf hinwegsegelte. „Ach, komm schon, Jane! Denkst du etwa, nur weil ich ein Vampir bin, glaube ich dir, dass du ein Werwolf bist? Sehe ich so leichtgläubig aus? Werwölfe gibt es nicht, und das weißt du auch." „Das muss der Blutsauger gerade sagen!" Er lachte immer noch leise. „Netter Versuch." „Wenn du nur fünf Sekunden lang an etwas anderes als deinen Schwanz denken könntest, würdest du sehen, dass es Sinn ergibt. Meine Kraft, meine Schnelligkeit..." „Alles noch im Rahmen dessen, was man bei einem Homo sapiens erwarten kann ... wenn auch am oberen Ende der Skala." „Du bist schon zu lange tot, Dick. Der durchschnittliche Homo loser kann kaum die Fernbedienung heben. Mein kräftiges Blut? Das kommt von der proteinreichen Ernährung. Rohes Protein, während des Vollmonds." „Ach ja, der Vollmond. Der ist ja in ein paar Tagen, aber ich nehme an, ich sollte mich lieber darauf vorbereiten, sonst ..." Sie knallte die Gabel auf den Tisch. Der erbebte und stand dann wieder still. „Vollmond ist in acht Tagen. Und dann wirst du die Überraschung deines Daseins erleben. Deine kleinen Eichentüren werden mich nicht zurückhalten können. Und auf dem Weg nach draußen werde ich wahrscheinlich deinen Kopf verspeisen. Dann wirst du begreifen, dass du einen großen Fehler gemacht hast. Du wirst erkennen, dass ich die ganze Zeit über die Wahrheit
gesagt habe, aber du bist einfach nicht darüber hinweggekommen, dass dein blöder männlicher Stolz verletzt war. Ich werde für immer fort sein, und du wirst die nächsten hundert Jahre darüber nachdenken, was für ein Arschloch du gewesen bist." Sie war so überzeugend, dass er für einen Moment sogar 144 Panik bekam. Und um ihre kleine Rede noch dramatischer zu machen, hatte sie aufgehört zu essen, war zum Bett hinübergegangen, hatte sich unter die Decke gelegt und ihn die ganze Nacht nicht mehr angesehen - selbst dann nicht, als er sie mit einer Schale voller Eiscreme lockte. 144 7 Er hatte recht. Die Türen waren aus Eiche - diese hier zumindest. Dick und schwer. Die Scharniere lagen außen, sodass sie nicht darankam. Sie lief ein paarmal mit der Schulter gegen die Tür - okay, dreißig Mal -, was diese aber kaum in ihrem Rahmen erschütterte. „Blöde Eiche", brummte sie und rieb sich die schmerzende Schulter. Die letzten Stunden war sie durch ihren Käfig gestreift. Das Zimmer war wunderschön, mit einem dicken dunkelroten Teppich ausgelegt, einem weichen Queensize-Bett mit einer Unzahl von Kissen, und daran grenzte gleich ein wirklich fürstliches Badezimmer an (in dem sich leider, wie sie feststellen musste, keine Rasierklingen oder ähnlich scharfe Gegenstände befanden). Aber sie war hier eingesperrt, und deshalb konnte es in Janes Augen ebenso gut einen Zementboden und Gitter vor den Fenstern geben. Sie durchsuchte die Kommode und fand mehrere Bademäntel in ihrer Größe aus verschiedenen Materialien. Keine richtige Kleidung. Es gab auch keinen Fernseher. Aber einige Bücher. Sie entdeckte ein paar Klassiker: Shakespeare, Mark Twain und Tolstoi. Und - wie lustig! - die gesammelten Werke von Stephen King. Sie überlegte, ob sie wohl eine Chance hätte, wenn sie mit Hamlet nach Dick warf, und zwar so fest sie konnte. In der Gasse hatte sie ihn überwältigen können, aber sie bezweifelte, dass ihr dies noch einmal gelingen würde. Er glaubte ihr nicht, dass sie eine Werwölfin war, der Vollidiot, aber er war auf der Hut. Er 144 dachte, dass sie ein Affe war, aber er respektierte sie trotzdem. Wenn er nicht so ein Scheißkerl wäre, hätte sie ihn vielleicht sogar gemocht. Sie fragte sich, was das Rudel wohl dachte. Was der Boss -Michael - dachte. Wahrscheinlich, dass sie vom Zug überfahren worden war oder so etwas Ähnliches. Der Tod war die einzig akzeptable Entschuldigung, wenn man zu einem Treffen mit dem Rudelführer nicht erschien. Interessanterweise beunruhigte sie der Gedanke, dass sie gegen ihren Willen einen Befehl ihres Anführers missachtet hatte, keineswegs. Tatsächlich war es sogar ganz schön
zu wissen, dass Michael wollte, dass sie zu ihm nach Cape Cod kam. Doch sie war immer noch hier in Boston. Wenn nur Dick nicht so ein Ekel wäre - nicht so ein nettes Ekel. Vielleicht hatte er ihr wirklich wehtun wollen, aber er hatte es dann doch nicht übers Herz gebracht. Sie erinnerte sich, wie er sich aus ihr zurückgezogen hatte, weil er gedacht hatte, er wäre zu groß für sie ... an das wunderbare Essen und wie reichlich es gewesen war. An den absurden Heiratsantrag. Absurd, weil... nun eben ... weil ... Wenn er nicht so ein Scheißkerl wäre, würde sie ihn möglicherweise mögen. Aber niemand - niemand, verdammt noch mal! - fing Janet Lupo auf der Straße ein, band sie wie einen Hund fest und tat mit ihr, was immer er wollte. Dafür würde er bezahlen. Sie würde vielleicht auf ihre Chance warten müssen, aber irgendwann würde sie kommen. Und dann sollte er sich besser in Acht nehmen, denn sie kannte keine Gnade. Der Geruch von Eiern in Butterweckte sie. Bevor sie die Augen aufschlagen konnte, stellte sie fest, dass Dick bei ihr unter der Decke lag. Dann spürte sie seinen Mund auf ihrem Hals und einen kurzen Schmerz, als seine Zähne in ihre Haut stachen. Sie 145 versuchte noch, ihn wegzustoßen, aber er drückte sie schon runter und hielt sie auf dem Bett fest, während er trank. Ihr blieb nichts anderes übrig, als hilflos unter ihm zu liegen, während er sich ihr Blut nahm. „Du Stück Scheiße", sagte sie in sein Ohr. Er lachte, den Mund an ihrer Kehle. „Das ist das Problem, Jane, mein Liebling. Wenn du schreien oder in Ohnmacht fallen oder weinen würdest, hätte ich kein Interesse an dir. Ich würde dich so schnell wie möglich loswerden wollen. Aber du bist furchtlos und wütend, und das wirkt auf mich wie ein Aphrodisiakum. Deshalb musst du einfach meine Frau werden." „Eher würde ich des Teufels Großmutter heiraten." Er leckte über die Bisswunden an ihrem Hals und strich dann mit den Lippen über die empfindliche Stelle. „Das ist ein eher beunruhigendes Bild. Hast du gut geschlafen? Ich muss zugeben, ich war erstaunt, dass du mich nicht mit dem Gürtel eines deiner Bademäntel erwartet hast, um mich damit zu erwürgen." „Ich warte lieber, bis deine Vorsicht nachlässt. Und dann wird es dir leidtun", sagte sie mit großer Überzeugung. Er legte die Stirn gegen ihre. „Gott, du bist so reizend." „Ich werde dir bei lebendigem Leibe die Haut abziehen, du beschissener untoter Affe. Und dann werde ich deine Haut verbrennen. Und deinen gehäuteten Körper werde ich über dem offenen Feuer, das ich mit deiner Haut entfacht habe, grillen."
„Und dazu noch so damenhaft! Hmmm ..." Sein kühler Mund schloss sich über einer ihrer Brustwarzen. Sie schlug ihm mit der Faust auf den Kopf, mit aller Kraft. Als er sie biss, schrie sie auf. „Sony", sagte er und rieb sich den Kopf. „Da warst aber du schuld, nicht ich. Du hast mich so fest gehauen, dass meine Zähne aufeinandergeschlagen sind." 146 „Warte nur", sagte sie drohend. Er gab ihr einen Kuss auf das Handgelenk, auf ihren Puls und dann in die Beuge ihres Ellbogens. Sie machte eine Faust und bereitete sich darauf vor, ihm noch einen Schlag zu versetzen. „Jane, so wunderbar die letzte Nacht auch war - für mich jedenfalls -, so würde ich dich aber doch lieber nicht mehr festbinden müssen." Sie boxte ihn mitten ins Gesicht, ein leichter Schlag, weil sie in ihrer Position keine Hebelwirkung hatte, jedoch hart genug, dass sein Kopf zurückflog, wie sie zufrieden beobachtete. Er fuhr fort, als wenn nichts geschehen wäre: „Also lass uns einen Handel abschließen, du und ich. Ich fessele dich nicht, und du wehrst dich nicht gegen mich. Mit sofortiger Wirkung", fügte er hinzu. „Du fesselst mich nicht?", fragte sie misstrauisch. „Aber ich muss es zulassen, dass du mich fickst?" Er machte ein gequältes Gesicht. „Ja, du musst zulassen, dass ich dich ficke." Sie tat so, als müsste sie darüber nachdenken, aber die Entscheidung war nicht schwer zu treffen. Sie konnte fast alles aushalten, nur nicht, festgebunden zu sein. Das ging gegen ihre Natur. Wenn sie gefesselt war, würde sie am liebsten um sich beißen. „Okay. Ich schlage dich nicht mehr, und du holst nicht mehr das elastische Kaugummi raus." „Und du küsst mich zurück." „Vergiss es." „Na gut, dann küsse ich eben für uns beide zusammen." Er lächelte sie an, legte die Hand in ihren Nacken und zog sie zu sich. „Was? Kann ich nicht mal vorher essen? Das ist ja ein mieser Deal." „Später, Jane, bitte." Sein Mund war ein wenig angewärmt, 146 und seine Zunge fuhr über ihre Zähne, um ihre eigene Zunge zu streicheln. Sie spürte, wie er die Hand um eine ihrer Brüste legte und mit dem Daumen über ihre Brustwarze rieb. Sie zappelte und drückte mehr von ihrer Brust in seine Handfläche. „Also, je schneller du kommst, desto eher kann ich Eier haben?" Er seufzte. „Du verdirbst die ganze Stimmung." „Welche Stimmung? Ich bin eine Gefangene, Herrgott noch mal. Und ich habe Hunger", jammerte sie. „Oh, ver ..." Aber er ließ sie los, und sie hüpfte vom Bett. In fünf Minuten schlang sie ihr Frühstück hinunter - Eier, sechs Scheiben Speck, vier Scheiben
Toast und zwei Gläser Milch -während er auf dem Bett lag und ihr mit hinter dem Kopf verschränkten Händen und leicht ungläubigem Blick zusah. Dann stand sie auf, wischte sich den Mund mit der Serviette ab, warf diese über ihre Schulter und kletterte ins Bett zurück. „Na, dann los", sagte sie, jetzt deutlich besser gelaunt. Er lächelte sie an. „Na, dann mal los." Er nahm ihre Hand und führte sie ins Badezimmer. Zehn Minuten später lagen sie in der gigantischen Badewanne, der Boden war pitschnass. Ihre Beine ruhten weit gespreizt auf der Wannenkante, und sie umklammerte den Rand so fest, dass ihre Knöchel schmerzten. Richard befand sich unter Wasser und küsste, leckte und steckte den Finger in ihre Möse. Er war bereits seit fünf Minuten dort unten und trieb sie fast in den Wahnsinn. Jetzt war seine Zunge in ihr, und einer seiner Finger wand sich in ihren Hintern. Eigentlich hatte sie nie Interesse an Analsex gehabt - schon die Vorstellung hatte sie immer eklig gefunden -, aber als sein langer Finger in ihr hochglitt, während seine Zunge ihre Möse leckte und sich in sie schob, wollte ihr 147 Körper mehr. Sie hatte keine Kontrolle mehr über ihre Reflexe. Sie musste einfach die Hüften gegen sein Gesicht pressen. Ihr unterdrücktes Stöhnen hallte in dem gekachelten Raum wider. Er tauchte auf. Wasser tropfte von seiner marmorweißen Haut, während er grinste. Er zog sie zu sich hoch und knurrte: „Jetzt wirst du mich küssen." Und sie tat es, ohne zu zögern. Er saugte ihre Zunge in seinen Mund und öffnete weit ihre Schenkel. Dann nahm er seinen Schwanz in die Hand und rieb ihn an ihrer nassen Möse. Sie stöhnte, als er sie küsste, und bog sich ihm entgegen. Er löste seinen Mund von ihrem, suchte ihren Hals, und dann spürte sie, wie er zubiss, gerade als sein Schwanz in sie stieß. Die Kombination von leichtem Schmerz und überwältigender Lust ließ sie so heftig kommen, dass sie sich aufbäumte und eine weitere Ladung Wasser aus der Wanne schwappte. „Hmmmm", sagte er, den Mund an ihrer Kehle, „das ist gut. Das könnte ich den ganzen Tag machen." „Lieber ... nicht", brachte sie heraus. „Es würde mich umbringen." Er lachte und lehnte sich zurück. Sie lag immer noch mit gespreizten Beinen da, sein Schwanz war die einzige Verbindung zwischen ihnen. Er ließ die Hände über ihre seifigen Brüste gleiten und lächelte, als sie wieder stöhnte. „Oh, du wirst mich heiraten", sagte er mit rauer Stimme. „Glaub es mir." „Warum bist du ... nicht einfach still ... und bringst es zu Ende?"
Er zeigte grinsend seine Fangzähne und kam der Aufforderung nach. Als er fertig war, wirkte sie so befriedigt, dass es beinahe unanständig war - und in der Wanne stand das Wasser nur noch ein paar Zentimeter hoch. 148 Später brachte er ihr ein zweites Frühstück. „Nach dieser halben Stunde", erklärte er, „könnte selbst ich ein paar Eier vertragen." „Nicht schlecht für einen Typen, der tot ist", sagte sie beiläufig, als wenn ihr Körper nicht noch immer mehr wollte. Der Mann konnte was im Bett - oder in der Wanne -, das stand fest. „Ich bin sicher, dass dich die Frauen mögen, wenn du mal nicht gerade so ein Arschloch bist." Er antwortete nicht, sondern sah ihr einfach nur weiter beim Essen zu. Nach ein paar Minuten begann er, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. „Ja, und das nervt. Dass du mich gekidnappt hast und mich durchbumst, damit kann ich noch umgehen. Aber nicht mit deinen nervösen Ticks. Hör auf damit." „Warum nur zweimal?" „Was?" Nachdenklich biss er sich auf die Unterlippe und beobachtete sie. „Warum war letzte Nacht erst dein zweites Mal? Du bist über dreißig. Du müsstest eigentlich Hunderte von Erfahrungen gemacht haben. Es kann ja nicht daran liegen, dass du Sex nicht magst - du bist so sexy, aufgeschlossen und offen für Neues. Also: Was ist der Grund?" Auf einmal war ihr Mund trocken - seltsam! -, und sie nahm einen Schluck Saft. „Das geht dich einen Scheißdreck an." „Hat er dir wehgetan? Dann wäre es mir ein Vergnügen, ihn aufzuspüren und ihm eine Lehre zu erteilen, die ..." „Sprech ich eine Sprache, die du nicht verstehst? Ich sagte, das geht dich nichts an." Ihre Hand zitterte. Schnell setzte sie das Saftglas mit einem lauten Knall ab und versteckte die Hände unter dem Tisch. „Und selbst wenn, ich würde doch nicht darüber sprechen wollen. Vor allem nicht mit dir." Er kniff nachdenklich die Augen zusammen. „Aha . . . du hast 148 ihm wehgetan. Und seitdem fühlst du dich grundlos schuldig -Jane, um Himmels willen! Was immer du getan hast, es war ein Unfall. Es war doch keine Absicht." „Bist du taub? Ich sagte, ich will nicht darüber sprechen]" Das Glas raste auf seinen Kopf zu. Er duckte sich, und es traf auf die Wand am anderen Ende des Raumes. Orangensaft spritzte, und Glas splitterte. „Na gut", sagte er ruhig. „Dann reden wir eben nicht darüber." Nicht nur ihre Hände zitterten. Sie packte ihre Ellbogen, drückte sie und biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Sie hatte eine Höllenangst, dass sie sich übergeben könnte. Jetzt gleich.
Er stand von seinem Stuhl auf, kam zu ihr herüber und hob sie hoch, als wäre sie ein Kind. Und - o Wunder! - sie versuchte gar nicht erst, ihm die Augen auszukratzen. „Du bist müde", sagte er sanft, „die Woche war anstrengend. Warum schläfst du nicht ein bisschen?" „Warum fickst du dich nicht selber?" „Können wir nicht beides tun?" Gegen ihren Willen musste sie lachen. 149 Es waren nur noch zwei Nächte bis zum Vollmond. Sie war hin und her gerissen. Hin und her gerissen! Als würde sie ihrer baldigen Flucht mit Furcht entgegensehen. Was nur bewies, dass eine einseitige Ernährung aus kalorienreicher Nahrung und tollem Sex den IQ senkte. Jeden Tag bat er sie, ihm die Wahrheit zu sagen, und versprach, sie dann freizulassen. Und jeden Tag sagte sie ihm die Wahrheit ... an einer Lüge wäre sie erstickt. Es war nicht ihre Entscheidung gewesen, ihn zu versetzen. Sie hatte ihn wiedersehen wollen. Und sie hasste ihn fast gar nicht. Aber das behielt sie für sich. Seit der ersten Nacht hatte er sie nicht mehr gefesselt. Und sie hatte nicht versucht, ihn anzugreifen. Noch ein Beispiel für ihren rapide sinkenden IQ. Wenn sie im Bett waren (oder in der Badewanne oder auf dem Boden vor dem Kamin), wollte sie ihn nicht verlassen. Und inzwischen fühlte sie genauso, wenn sie nicht im Bett lagen - und das war bei Weitem beunruhigender. Und es lag nicht daran, dass sie mit der Muschi statt mit dem Gehirn dachte. Nun, nicht nur jedenfalls. Um ganz ehrlich zu sein: Was erwartete sie denn? Nach Mickeys Pfeife zu tanzen? Mit Leuten rumzuhängen, die sie nicht mochten, und dann nach Hause in ihr einsames Bett zu gehen? Das Rudel wollte sie nicht wirklich, und sie wollte keinen, der kein Werwolf war, 149 also niemanden, der verletzlich war - den sie verletzen würde, wenn sie sich gehen ließ. Dick entsprach genau ihren Vorstellungen, und er mochte sie - alles an ihr! Er fand alles, was sie tat und sagte, toll. Sie hätte vor ihm furzen können, und er wäre auch darüber ins Schwärmen geraten. Tatsächlich war ihr das schon passiert ... nach einem besonders anstrengenden sexuellen Marathon, und gerade als sie sich in seinen Armen entspannte. Sich ein wenig zu sehr entspannte ... da war ihr eben ein Furz entfahren. Schnell wie der Blitz hatte sie Dick die Decke über den Kopf gezogen und ihn in dem grässlichen Geruch darunter festgehalten. Fluchend hatte er sich befreit, und dann hatten sie beide gelacht, bis ihnen die Tränen gekommen waren. Sie rollte sich auf den Rücken und starrte zur Decke hoch. Es wurde jetzt schnell dunkel im Schlafzimmer; in ein paar Minuten würde die Sonne ganz
untergegangen sein. Sie hatte sich gut an seinen Rhythmus angepasst und verschlief nun die Tage. Ehrlich gesagt, so gefiel es ihr besser. Sie war nie eine Frühaufsteherin gewesen. Jeden Augenblick würde er hier sein. Jeden Augenblick. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte, und empfand Abscheu vor sich selbst. Wenn sie nur an ihn dachte - seine langen Finger, seinen Mund, seine Zunge und seinen Schwanz -, wurde sie schon feucht. Eine schöne Gefangene gab sie ab! Jetzt hatte sie das Stockholm-Syndrom. Nur, dass es eher einem Tussihypnotisiert-von-großem-Schwanz-von-bösem-Mann-Syndrom glich. Und später würde er köstliches Essen bringen, und sie würden über alles und nichts reden. Und er würde ihr vorlesen - sie waren bereits zur Hälfte mit Brennen muss Salem durch, das er für eine Komödie zu halten schien - , während sie auf und 150 ab ging. Sie mochte Bücher, aber sie konnte nicht stundenlang stillsitzen, um eines zu lesen. Oder sie würden einen Ringkampf machen, und wenn sie dann irgendwann die Reste der Apfeltorte nach ihm warf, würde es in einer Essensschlacht enden, die die Vorhänge ruinierte. Jane seufzte. Wenn es nur sein Schwanz wäre, wäre es ja nicht so schlimm. Sie konnte sich immer noch einen Vibrator kaufen. Aber es war auch er selbst. Sie mochte ihn wirklich sehr, mehr als jeden Typen, den sie jemals kennengelernt hatte. Und sie kannte viele Typen. Dabei vergaß sie immer wieder, dass sie eigentlich seine Gefangene war. Und sie glaubte, dass auch Dick es vergessen hatte. Sie sah doppelt, dann dreifach ... und dann wurden ihr die Knie weich. Glücklicherweise war sie gerade über das Fußteil des Bettes gebeugt, sodass sie etwas Halt hatte. Dick ließ ihre Taille los und zog sie auf das Bett zurück. „Das war ... schweißtreibend." Leicht keuchend ließ er sich in die Kissen fallen. „Jane, dein Stehvermögen kennt keine Grenzen. Sieh mich an, ich bin tatsächlich außer Atem. Und ich muss noch nicht mal atmen." „Mein Durchhaltevermögen? Das musst du gerade sagen. Seit wann sind wir denn schon dabei ... ? Heilige Scheiße, die Sonne geht ja in einer Stunde auf! Mach, dass du zurück in deinen Sarg kommst, alter Mann!" Er prustete. „Es ist ein Bett, kein Sarg. Eins von den Gästebetten. Du liegst sozusagen in meinem Sarg." „Warum schläfst du dann nicht hier?" „Ich habe auch schon daran gedacht." Er stützte sich auf einen Ellbogen, küsste ihre Schulter und sagte dann: „Immer öfter. Zu Beginn habe ich es nicht gewagt, mich dir auf Gedeih 281 und Verderb auszuliefern, aber jetzt bekomme ich langsam Zweifel."
„Wovon zum Teufel redest du da? Du brauchst länger als jeder andere, den ich kenne, um auf den Punkt zu kommen." Ihr Gezicke brachte ihn nicht wie gewöhnlich zum Lächeln. „Ich wäre wehrlos, Jane. Wenn du ... äh ... plötzlich wütend werden würdest, könnte ich nichts tun, bis die Sonne untergeht. Und die Tische hier drinnen sind alle aus Holz ... genauso wie die Stühle. Für jemanden mit deiner Entschlossenheit wäre es ein Leichtes, daraus einen behelfsmäßigen Pflock zu basteln." Daran hatte sie nie gedacht. Kaum zu glauben, dass sie nie daran gedacht hatte. „Oh." Sie grübelte eine Weile und sagte dann: „Naja, eigentlich habe ich gar keine Lust, dir einen Pflock in den Bauch zu rammen." „Der Bauch wäre nicht so schlimm. Was ist mit dem Herzen?" Sie rollte sich herum und legte das Kinn auf seine Brust. „Das auch nicht. Ich weiß nicht... eigentlich bist du ganz in Ordnung. Wenn du dich nicht gerade wie ein richtiger Scheißkerl aufführst. Mir doch egal, ob du gehst oder bleibst." „Nun, eine so herzliche Einladung kann ich wohl kaum ausschlagen." Trotzdem warf er einen nervösen Blick auf den Tisch in der Ecke, bevor er unter die Decke schlüpfte. „Na ja, wird schon schiefgehen. Komm hier neben mich." „Ich habe Hühnerfett unter meinen Fingernägeln." „Dann nehmen wir später zusammen eine schöne warme Dusche." „Einverstanden." Sie kuschelte sich an ihn und legte den Kopf auf seine Schulter. Sein Körper war von ihrer gemeinsamen körperlichen Betätigung noch warm, und sie drängte sich näher an ihn und lag dann still. 282 „Ahhhh", seufzte er. „Du bist besser als meine elektrische Heizdecke." „Das ist das Netteste, was jemals jemand zu mir gesagt hat. Du solltest Soap Operas schreiben", grummelte sie. Aber insgeheim freute sie sich. Er vertraute ihr sein Leben an. Er wusste, er würde leichte Beute sein, und trotzdem würde er hier neben ihr einschlafen. Das sprach Bände über seine wahren Gefühle für sie ... und über ihren Status als seine „Gefangene". Ja, Scheiße, dachte sie, kurz bevor sie einschlief. Ihre Hand lag auf seinem Herzen, das ein- oder zweimal in der Minute schlug. Vielleicht gibt es doch noch Hoffnung für uns. 151 Wie immer in den letzten Jahrzehnten erwachte Richard, als die Sonne hinter dem Horizont versank. Er spürte Janes Kopf, der auf seiner Schulter lag, und lächelte. Was für ein wunderbarer Start in den Tag. Und ihm war warm, so herrlich warm. Sie war besser als ein heißes Bad. Er musste etwas wirklich Nettes für sie tun, dafür dass sie ihn nicht getötet hatte. Wie wäre es zum Beispiel ... sie gehen zu lassen?
Das konnte er nicht. Er wusste, es wäre das einzig Richtige, er wusste, dass er nicht das Recht hatte, sie festzuhalten und wie ein lebendiges Sexspielzeug zu benutzen. Aber immer, wenn er sich seine Wohnung ohne sie vorstellte, ohne ihr erfrischendes Wesen, wäre er am liebsten erschaudert. Oder durch den Sonnenschein spaziert. Er konnte nicht einmal mehr so tun, als ginge es ihm um Rache. Selbst wenn sie gelogen hätte, wären sie nach dem ersten Abend quitt gewesen. Nein, er hielt sie weiterhin fest, weil er ein selbstsüchtiges Monster war und es einfach nicht über sich brachte, sie gehen zu lassen. Um ganz ehrlich zu sein: Er war begeistert, dass sie an ihrer Geschichte festhielt, weil er so die perfekte Entschuldigung hatte, sie zu behalten. Die Tatsache, dass er nicht mit einem Tischbein an das Bett genagelt war, sagte einiges über ihre Gefühle für ihn. Er war so hoffnungsfroh wie schon lange nicht mehr. Sie hatte die Möglichkeit zur Rache gehabt und sie nicht genutzt. Und er bezweifelte, dass seine liebreizende Jane viele Gelegenheiten 152 zur Rache ungenutzt ließ. War es denn möglich, dass sie ihm vergeben hatte? Das war nun doch zu unwahrscheinlich. Aber vielleicht gab es Hoffnung. Vielleicht... „Nein! Nein, o Gott, nein ... o Gott, Bobby!" Sie schrie. Schrie im Schlaf. Er erschrak so, dass er beinahe aus dem Bett gesprungen wäre. So entsetzt, so jung kannte er seine Jane gar nicht. Sie hörte sich ja geradezu wie ein Teenager an. „Ich habe nicht ... Bobby, beweg dich nicht, ich hole einen Krankenwagen, o Gott, stirb jetzt nicht, bitte stirb nicht!" Im Schlaf tastete sie nach ihm. Er nahm ihre Hände und drückte sie. „Jane, Liebes. Es ist doch nur ein Traum. Es ist nicht die Wirklichkeit." Nicht mehr, fügte er im Stillen hinzu. Sein Brustkorb und seine Kehle fühlten sich eng an. Was auch geschehen war, es musste schrecklich gewesen sein. So schlimm, dass es ihr viele Jahre Angst vor Sex gemacht hatte. Sie riss die Augen auf. Er erschrak, als sie sich mit Tränen füllten, die dann über ihre Wangen liefen. „Das wollte ich nicht", schluchzte sie. „Natürlich nicht." „Sie haben mir gesagt, es wäre keine gute Idee ... dass Affen empfindlich sind ... ich wollte aber nicht hören." Sie machte eine kleine Faust und boxte ihn gegen die Brust. „Warum habe ich nicht auf sie gehört? Oh, wir hatten so viel Spaß. Es hat noch nicht einmal wehgetan. Dabei dachte ich, es müsste das erste Mal wehtun. Und dann bin ich gekommen, und dabei habe ich meine Beine um seine Taille geschlungen und zugedrückt und ... und ..." „Janet, es war ein Unfall." Affen? Ein merkwürdiger Slang. Es war ihm nie gelungen, diesbezüglich auf dem Laufenden zu bleiben. Hatte sie dem Jungen die Rippen gebrochen? Waren sie
153 in einer gefährlichen Position gefallen und der Junge hatte ...? Nun, was auch passiert war, einer Sache war er sich jedenfalls ganz sicher. „Du wolltest ihn nicht verletzen, Jane. Du hättest ihm nie wehgetan. Du musst endlich loslassen." Er streichelte ihren Rücken, während er beruhigend auf sie einsprach, und schließlich entspannte sie sich. Er fügte im Scherz hinzu, nur um zu sehen, wie sie ein böses Gesicht machte: „Außerdem brauchst du dir meinetwegen um solche Dinge keine Sorgen zu machen. Du könntest mich in Brand setzen, während du mit mir schläfst, und am nächsten Tag wäre ich so gut wie neu. Aber bevor du fragst: Darauf steh ich gar nicht." Mit einem Ruck stemmte sie sich auf den Ellbogen hoch und starrte ihn an. Ihre Augen waren tränenverschmiert, blutunterlaufen und riesig. Nie hatte er sie so hübsch gefunden. „Das stimmt", sagte sie langsam. „Daran habe ich letzte Nacht gedacht, und du ... ich kann dir nicht wehtun. Du bist hart im Nehmen." „So ist es", sagte er, „und das nun schon mehrere Tage lang. Siehst du?" Er streckte ihr den Arm hin, von dem sie in ihrer Erregung ganze Hautfetzen gekratzt hatte. Die Wunde war beinahe verheilt. Merkwürdigerweise starrte sie ihn weiter an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. „Ich weiß nicht, warum ich nicht vorher daran gedacht habe, Dick." „Du hattest andere Sorgen. Und jetzt hast du wegen eines Unfalls, der vor fünfzehn Jahren passiert ist, genug geweint", sagte er forsch und hoffte, sie würde ihm zustimmen. Er konnte es nicht ertragen, sie weinen zu sehen. Er rollte sich aus dem Bett, stand auf und sah sich um, auf der Suche nach einer Möglichkeit, sie abzulenken. „Wie wäre es mit Sushi und vielleicht ein paar Gemüse-Tempura zum Frühstück?" 286 Sofort hellte sich ihre Miene auf. „Ich mag rohen Fisch", sagte sie. „Ich mag auch Tartar, aber ich mag es lieber als Steak als im Hamburger." „Sieht so aus, als stünde das Mittagessen schon fest, meine Liebe." „Aber zuerst müssen wir unter die Dusche", sagte sie beinahe schüchtern. Er lachte, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie. „Ja, richtig. Du bist so schmutzig. Und ich auch. Ich sehe ein ausgiebiges Schrubben voraus." „Mieser Perversling", prustete sie. Er freute sich ohne es zu zeigen, denn er wusste, dass sie wieder sie selbst war. Die zweite Nacht in Folge war Richard warm, als er aufwachte, und er fühlte sich zufrieden. Als die Morgendämmerung anbrach, Jane sich an ihn kuschelte und ihm leise ins Ohr schnarchte, traf er eine Entscheidung. Heute würden sie ausgehen. Er würde ihr einen Haufen Klamotten kaufen. Kleider, Unterwäsche, wertvolle Gemälde, kiloweise Steak Tartar ... alles, was ihr Herz begehrte. Er wusste, dass sie nicht fortlaufen würde, und es war höchste Zeit,
dass er sie aus diesem Schlafzimmer hinausließ. Sie war bewundernswert geduldig gewesen. Also war es Zeit für ihre Belohnung. Er reckte sich. Eigentlich hatte er gar nicht das Bedürfnis, denn er erwachte immer ausgeruht und hungrig und startklar -aber er genoss das Gefühl. Ja, sie würden einkaufen gehen, und sie würde die Verkäufer herumkommandieren, und er würde es wunderbar finden. Dann würden sie nach Hause gehen, um ein leichtes Mittagessen einzunehmen und ein wenig dynamischen Sex zu haben. Dann vielleicht ein kleines Schläfchen und weiter mit der Lektüre von Brennen muss Salem. Ja, das würde alles ... 154 Wo steckte Janet überhaupt? Geistesabwesend hatte er nach ihr getastet, während er nachdachte, doch sie war nicht mehr in seinem Bett, und im Badezimmer brannte kein Licht. Er hörte sie unten auf dem Boden keuchen - vor Schmerz? War das Schmerz? In der Sekunde, bevor er nachschaute, schoss ihm jede nur mögliche Krankheit, an der Sterbliche erkranken konnten, durch den Kopf. Sie hatte eine Blinddarmentzündung. Er hatte sie geschwängert (eigentlich sollte das unmöglich sein, aber wer wusste das schon mit Sicherheit?), und nun hatte sie eine Fehlgeburt. Sie hatte einen Herzanfall. Eine Gehirnembolie. Nierenversagen. Gott steh ihm bei, er wusste nicht, ob er hinsehen oder wegsehen sollte - vor beidem graute ihm gleichermaßen. Dann wagte er doch einen Blick. Jane kniete neben dem Bett, keuchte rau und ... die Wirbel auf ihrem Rücken schienen sich zu bewegen. Das Haar hing ihr in schweißnassen Strähnen ins Gesicht. Die Nägel krallten sich in den Teppich. Mit einem dumpfen Schlag trafen seine Füße einer nach dem anderen auf den Boden auf, und er griff nach ihr. „Janet, ich hole einen Arzt. Ich bin gleich ..." Ein tiefes Grollen ließ seine Hand in der Luft erstarren. Und dann, so schnell, dass er kaum blinzeln konnte - und schon war es vorbei -, wuchs ihr ein Fell, und die Nase formte sich zu einer langen Schnauze. Ihre Augen bekamen einen wilden Blick, dann machte sie einen Satz zur Tür. Zwar prallte sie wieder ab, aber er sah beunruhigt, wie die Tür in ihrem Rahmen erzitterte. Sie duckte sich und sprang noch einmal. Und noch einmal. Er blieb auf dem Bett sitzen - er hatte Angst, ihm würden die Beine versagen, wenn er aufstünde - und starrte sie an. Janet war ein Wolf. Mit graubraunem Fell und silbrigen Strähnen auf dem Rücken. Ihre Augen hatten immer 288 noch dieselbe Farbe wie in ihrer menschlichen Gestalt, aber jetzt glitzerten sie mordlustig. Er dachte daran, wie sie immer auf und ab gegangen war, als er ihr vorgelesen hatte, wie sie nicht lang hatte stillsitzen können, und er verstand auf einmal, dass sie als Mensch klaustrophobisch war. Mit jedem neuen Satz brachen Teile der Tür aus dem Rahmen. Aber wenn sie so weitermachte, würde es trotzdem mindestens zehn Minuten dauern, und
sie würde sich wahrscheinlich selbst verletzen. Er stand auf, die Beine steif vor Schock, ging zur Tür und stocherte mit dem Schlüssel im Schloss herum. Zweimal ließ er den Schlüssel fallen (während er immer wieder ihrem kleinen Wolfskörper auswich - sie hielt nicht einmal inne, sondern ignorierte ihn vollständig, als wäre er überhaupt nicht da), bevor die Tür endlich aufschwang. Er rannte ihr nach, um auch die anderen beiden Türen aufzuschließen. Dann bemerkte sie die Fensterreihe in der westlichen Wand und rannte darauf zu. Er warf sich auf sie und bekam ihr linkes Hinterbein zu fassen, gerade als sie zum Sprung aus dem Fenster ansetzte. Sie drehte sich herum, und vor seinen Augen blitzten - wie ihm schien - tausend scharfe Zähne auf, während sie ihn anknurrte. „Wir befinden uns im dritten Stock", keuchte er und hielt sie fest, während er gleichzeitig versuchte, nicht ihr Bein zu brechen. „Den Sturz wirst du nicht überleben. Nun, vielleicht doch, aber ... Janet, geh nicht!" Sie schnappte nach seinen Fingern. Zorniges Grollen stieg aus ihrer Kehle, ohne dass sie auch nur einmal Atem holte. „Bitte, geh nicht! Ich hatte unrecht, und du hattest recht -Gott, du hattest ja so recht, und ich war ein Idiot, weil ich es nicht verstanden habe. Bitte, verlass mich nicht." Sie schnappte wieder zu, ihre Kiefer schlossen sich ungefähr 155 einen Zentimeter vor seinem Arm. Eine Warnung. Wahrscheinlich ihre letzte. „Ich kann nicht ohne dich leben. Ich schwöre es. Ich dachte, ich wäre zufrieden, aber das war eine Lüge, alles war eine Lüge, ich habe dir auch nicht den wahren Grund gesagt, warum ich dich hierbehalten habe ..." Ihr Bein rutschte aus seinem Griff. Schon redete er schneller. „... aber du hattest recht, und du hast nicht gelogen, nicht einmal, nicht einmal, um von mir wegzukommen. Janet, ich werde den Rest meines Lebens damit verbringen, es wieder gutzumachen ..." Jetzt hatte sie sich beinahe losgerissen. Er hatte Angst, nicht schnell genug wieder zuzupacken, wenn er nachzufassen versuchte. „... aber bitte ... geh ... nicht!" Sie sprang. Sehr lange lag er auf dem Boden in seinem Arbeitszimmer. Er hatte nicht die Kraft aufzustehen, den Besen zu holen und die Glassplitter zusammenzufegen. Das ganze Gebäude gehörte ihm ja ohnehin, also war es auch egal. Überhaupt war jetzt alles egal. Er konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich fort war. Er konnte nicht glauben, dass er - er, der sich immer etwas darauf eingebildet hatte, wenigstens ein Fünkchen Intelligenz zu besitzen - es zugelassen hatte. Ich heiße Janet Lupo. Dass er einer solchen Frau solche Dinge angetan hatte.
Ich habe vor keinem Mann Angst, und ich lüge nicht. Was hatte er sich dabei gedacht? Ich heiße Janet Lupo. Wie hatte er nur so blind sein können? 156 Ich heiße Janet Lupo. So dumm und arrogant? Vollmond ist i n acht Tagen. Und dann wirst du die Überraschung deines Lebens erleben. O ja, wenn es einen Gott gab, dann war das wirklich ein guter Scherz. Endlich hatte er die eine Frau gefunden, mit der er die Ewigkeit verbringen konnte ... Deine kleinen Eichentüren werden mich nicht zurückhalten können. ... und er hatte sie gekidnappt, vergewaltigt, sie gefangen gehalten und sich geweigert, ihr zu glauben, als sie die Wahrheit gesagt hatte. Dann wirst du begreifen, dass du einen großen Fehler gemacht hast. Er hatte das Geständnis von ihr gefordert, dass sie Angst vor ihm hatte, und als sie sich geweigert hatte, hatte er angenommen, dass sie log. Du wirst erkennen, dass ich die ganze Zeit über die Wahrheit gesagt habe, aber du kamst nicht darüber hinweg, dass dein dummer männlicher Stolz verletzt war. Sein dummer männlicher Stolz. Ich werde für immer fort sein, und du wirst die nächsten hundert Jahre darüber nachdenken, was für ein Arschloch du gewesen bist. Wenn er gekonnt hätte, hätte er geweint. 156 Drei Tage später Jane rollte sich auf den Rücken und reckte sich. Dann kreischte sie vor Wut auf, als sie einen Meter tiefer fiel und dumpf auf den Zementboden aufschlug. Sie hatte sich am Fuße der Statue im Park Square zusammengerollt und war sofort eingeschlafen. Als sie aufgewacht war, hatte sie jedoch nicht mehr daran gedacht. Warum fällt mir so etwas immer erst ein, wenn es schon zu spät ist?, dachte sie und rieb sich den aufgeschürften Ellbogen. Sie war angenehm müde, und das würde in den nächsten Tagen auch so bleiben. So war es immer, wenn sie den Mond gejagt hatte. Außerdem fühlte sie sich wie neugeboren. Rein. So ungefähr. Sie stand auf und erschauderte. Schritt eins: Kleidung finden. Der Frühling in Boston war wie ein Frühling in Sibirien. Sie marschierte auf einen frühmorgendlichen Pendler zu, einen Geschäftsmann, der offenbar die Abkürzung zur U-Bahn durch den Park genommen hatte. Er starrte sie anerkennend an, als sie näher kam, aber sie hatte nur Augen für seinen Kaschmirmantel. „Wie ...", brachte er gerade noch heraus, bevor sie ihm einen Schlag gegen das Kinn versetzte und ihn ausraubte.
Sie hatte ihre Entscheidung wie ein Wolf getroffen, würde sie aber wie eine Frau in die Tat umsetzen. Sie musste nicht in einem Park aufwachen, nackt und allein. Oder wie gestern in einer Gasse. Oder die Nacht davor unter den Docks im 157 Hafen - igitt. Den Geruch würde sie womöglich nie wieder aus den Haaren bekommen. In Boston gab es hundert sichere Häuser und jede Menge Wälder, die Rudelmitgliedern gehörten. Dort hätte sie sich austoben können, und anschließend würden sie saubere Kleidung und ein herzhaftes Frühstück erwarten. Aber in Wolfsgestalt hatte sie nicht nur diese Orte, sondern auch ihre eigene Art gemieden. Das Tier wusste, was sie wollte. Und jetzt war es an der Zeit, es sich auch zu holen. Natürlich wusste sie nicht genau, wo Dick wohnte. Schließlich hatte sie sich bei ihrem Sprung aus dem Fenster wohl kaum mit der Pfote seine Adresse notieren können. Glücklicherweise gab es aber Mittel und Wege. Sie mochte zwar keine Supernase wie andere Werwölfe haben, aber wenn sie nicht mal mehr in der Lage wäre, ihre eigene Spur zu erschnüffeln, würde sie sich genauso gut auch gleich von der Brücke stürzen können. Es dauerte nicht lange, doch ihre Füße schmerzten vor Kälte, als sie ihr Ziel erreichte. Dick lebte in einem ehrwürdigen Appartementhaus aus Sandstein, das wahrscheinlich im selben Jahr erbaut worden war, in dem die Mayflower angelegt hatte. Sie wippte vor und zurück, stopfte die Hände in die Taschen des gestohlenen Mantels und sah zu seinem Fenster hoch. Die Scheibe war noch nicht ausgetauscht worden, stattdessen hatte jemand ein großes Stück Pappe in den Rahmen geklebt. Wahrscheinlich dauerte es etwas, bis dieses altmodische Zeug nachbestellt war. Außer einem Lieferwagen, der heranrumpelte, war die Straße so früh am Morgen ganz ruhig. „Tschuldigung. Wohnen Sie hier?" Sie sah sich um. Der Lieferjunge hielt drei prall gefüllte Einkaufstüten und sah bedrückt aus. „Ja. Warum?" „Gott sei Dank. Weil ich nämlich seit zwei Wochen Liefe 157 rungen bringe, seit zwei Tagen aber niemand mehr die Lebensmittel reinholt. Es wird schlecht oder ... wird geklaut. Das ist doch Verschwendung." Aha, daher kamen also all die Köstlichkeiten! Dick hatte sich die Lebensmittel liefern lassen und für sie gekocht. Hmm, lecker. „Ich war verreist", sagte sie zu ihm, „aber jetzt bin ich zurück." „Wer sind Sie?" „Ich bin die Verlobte des Besitzers." Sie schüttelte den Kopf. Laut ausgesprochen hörte es sich genauso seltsam an wie in Gedanken. „Muss ich irgendwo unterschreiben?"
„Nein. Er hat ein Konto bei uns." „Dann machen Sie mal, dass Sie wegkommen." „Super!" Er stellte die Tüten ab, latschte zu seinem Lieferwagen zurück und reihte sich, ganz nach Bostoner Art, ohne sich umzusehen, in den Verkehr ein. Was auch gut so war, denn nun musste er nicht mit ansehen, wie sie ins Haus einbrach. „So ein Mist." Sehr viel leichter gesagt als getan! Dicks Haustür rührte sich nicht, und es widerstrebte ihr, noch mehr von den teuren Scheiben zu zerbrechen. Vielleicht würde er gar nicht so erfreut sein, dass sie zurückkam. Sie erinnerte sich vage, dass er sie gepackt und angefleht hatte, nicht zu gehen, aber irgendwie schien ihr das eher so etwas wie ein Traum zu sein. Sie vertraute ihrem Wolfsgehirn nicht, wenn es darum ging, menschliche Gefühle zu deuten. Sie schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Wie dumm von ihr! Warum suchte sie ihn tagsüber auf? Selbst wenn sie in die Wohnung gelangen sollte, würde er nicht gerade ein anregender Gesprächspartner sein. Er wäre in seinem Schlafzimmer eingeschlossen und würde schlafen wie ein Toter buchstäblich. Und bis er aufwachte, konnte sie sich genauso gut 158 mit einem Stein unterhalten. Trotzdem wäre es nett gewesen, ein paar Klamotten abstauben zu können. Auch gut. Der Mantel schien doch warm genug, und es war ihr scheißegal, ob die Passanten ihre nackten Füße anstarrten. Wenigstens befand sie sich in einer großen Stadt und nicht in irgendeinem kleinen Kaff. Die Hinterwäldler freuten sich immer, wenn es etwas Neues zu beglotzen gab. Sie musste nur noch zehn Stunden überstehen, bevor die Sonne unterging. Gott sei Dank gab es noch das Barnes&Noble-Cafe. 158 Richard ließ sich in den Sessel neben dem Kamin fallen. Seit Jane gegangen war, hatte er in diesem Raum gesessen. Dies war der Ort, an dem er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Er war halb verhungert, aber es war ihm egal. Er hatte es verdient, hungrig zu sein. Und der Gedanke, die Wohnung zu verlassen und sie dann womöglich zu verpassen, wenn sie zurückkommen sollte, war unerträglich für ihn. Sie könnte verletzt sein oder etwas brauchen - und er wäre nicht hier, nur weil er seinen Durst stillte. Wem machst du eigentlich etwas vor? Sie ist weg, du Dummkopf. Und du hast alles dafür getan, außer sie eigenhändig aus dem Fenster zu werfen. Das stimmte. Und trotzdem wartete er. Es war das Einzige, was er tun konnte. Niemals würde er sie beleidigen, indem er versuchte, sie zu finden und sie zu überreden, zu ihm zurückzukommen. Zurück zu was? Zu einem widernatürlichen Leben mit einem Monster? Und was, um alles in der Welt,
sollte er ihr sagen? „Janet, meine Liebe, tut mir leid, dass ich dich entführt und vergewaltigt und gefangen gehalten und dich eine Lügnerin genannt habe. Küsschen, Küsschen, lass uns nach Hause gehen." Wie die Dame selbst sagen mochte: „Vergiss es." „Dick! Hör auf zu schmollen und öffne die Tür." Ach, du Schreck, jetzt hörte sich seine innere Stimme auch schon so an wie sie. Schlimm genug, dass er verhungerte, aber offensichtlich wurde er jetzt langsam auch noch verrückt. 159 „Du Mistkerl! Du Stück Scheiße! Ich latsche den ganzen Weg zurück - zwei Mal! -, und du lässt mich hier auf dem kalten Bürgersteig stehen?" Er vergrub das Gesicht in den Händen. Er vermisste sie so schrecklich! „Ich reiß dir das Herz aus dem Leib und nagle es mit einem Sektquirl an die Schlafzimmerwand! Ich reiß die Armaturen aus dem blöden Badezimmer, auf das du so stolz bist, und schieb sie dir in den Hintern!" Bumm! Bumm! Bumm! „Und jetzt lass mich endlich rein, bevor ich richtig sauer werde!" Das ist keine innere Stimme, Richard. Das müsste ich wissen . .. ich hin nämlich deine innere Stimme. Er sprang so schnell auf, dass er mit dem Kopf gegen die Decke stieß. Das spürte er kaum. Dann raste er durch die Tür, den Flur und die drei Treppen hinunter, hantierte mit ungeschickten Fingern an den Schlössern und Riegeln und riss die Tür auf. Da stand Janet, mit rotem Kopf und außer Atem. Ihre kleinen Fäuste waren rot angelaufen - von der Kälte und von den Schlägen gegen seine Tür. Sie trug einen Männermantel, der ihr ungefähr sechs Nummern zu groß war, und zu ihren Füßen standen drei große Einkaufstüten. Böse funkelte sie ihn an. „Na endlich. Such dir eine andere Zeit zum Schmollen aus, okay, mein Freund?" Sie stapfte an ihm vorbei. Wie ein Zombie nahm er die Tüten, drehte sich langsam um und folgte ihr. Sie streifte den Mantel ab und steuerte dann ihr - sein - Zimmer an. Er sah ihrer nackten Gestalt nach, wie sie die Hüften schwingend die Treppe hinaufging, als wäre sie hier zu Hause. „Essen", rief sie über die Schulter zurück. „Ich könnte eine ganze Kuh verdrücken. Ich glaube übrigens, genau das habe ich letzte Nacht auch getan." Als er das Tablett ins Schlafzimmer brachte, war sie bereits 159 geduscht und hatte sich abgetrocknet. Sie kam aus dem Badezimmer geschlendert und schnüffelte anerkennend. „O ja, das ist genau das Richtige. Ich könnte auch zwei Steaks essen." „Sie sind beide für dich", sagte er mechanisch. „Warum ... wie ... warum ... ?" „Du hast dich viel intelligenter angehört, als du sagtest, ich wäre eine Lügnerin." Sie ging an ihm vorbei und machte einen Satz auf das Bett. Sie
landete in der Mitte, räkelte sich wie eine Königin und grinste ihn an. „Ach ja, das werde ich jetzt so richtig ausschlachten. Fangen wir doch damit an, dass du mir lang und breit erklärt hast, es gäbe keine Werwölfe, nur weil du ein Vampir bist. Was hältst du nun davon?" „Janet ..." „Oder wir könnten darüber reden, warum es keine gute Idee ist, Leute zu entführen, die auf dem Weg zu einem wichtigen Meeting mit ihrem Boss sind." „Janet ..." „Oder wir sprechen darüber, wie du mich immer wieder gebeten hast, die Wahrheit zu sagen, und dass du mir nicht geglaubt hast, als ich es dann getan habe ..." Er fiel neben dem Bett auf die Knie. Damit sein Kiefer nicht zitterte, musste er eine Weile die Zähne aufeinanderbeißen. „Janet, warum bist du hier? Warum bist du nicht bei deiner Familie?" Seine Stimme wurde laut, aber er konnte nichts dagegen tun. „Warum bist du nicht ... fortgegangen? Warum bist du zurückgekommen?" Sie runzelte die Stirn. „So macht das aber keinen Spaß. Darauf hatte ich mich schon seit Tagen gefreut. Jetzt will ich aber auch jemanden richtig zu Kreuze kriechen sehen." Er sagte nichts. Sie seufzte. „Was ist? Muss ich die Handpuppen rausholen? 160 Hast du es denn immer noch nicht kapiert? Dick, du bist jetzt meine Familie. Ich will nie wieder dorthin zurück. Cape Cod im Sommer - nicht auszuhalten! Überall Touristen, auf der Straße, am Strand, im Einkaufszentrum - und wenn man sie frisst, bekommt man Ärger. Noch nicht einmal einen kleinen Bissen kann man nehmen, um sie davon abzuhalten, im nächsten Jahr wiederzukommen ..." „Janet." „Ich meine es ernst! Egal ... wenn ich bei dir bleibe, muss ich nicht zurück. Ich habe gar nicht gemerkt, wie unglücklich ich dort war, bis ich mich in dich verliebt habe. Ich gehöre nicht mehr zu meinem Rudel, ich gehöre zu dir. Ich meine ... wenn du mich willst." „Ist das ein Scherz?", flüsterte er. „Ist das ein Streich, um dich zu rächen? Ich könnte es dir nicht verübeln, aber ..." „He, ich bin eine Zicke, aber doch keine Soziopathin! Das wäre wirklich gemein. Ich liebe dich, du Vollidiot. Ich gehe nirgendwohin. Außer natürlich für ein paar Tage im Monat. Meinst du, damit kommst du klar, du untoter Trottel?" „Auf diese Worte habe ich beinahe hundert Jahre gewartet. Nun, nicht genau auf diese Worte." Er griff nach ihr und zog sie auf seinen Schoß. Sie saßen auf dem Boden, während sie sich wie eine übellaunige Puppe in seine Arme
kuschelte. „Oh, Janet. Ich habe dich so vermisst. Und ich war ein solcher Dummkopf." „Richtig. Ein arrogantes Arschloch." „Ja." „Unvernünftig und gemein." „Sehr." „Und es tut dir wirklich sehr leid." „Es tut mir unglaublich leid." „Du hast mich überhaupt nicht verdient." 161 „Absolut nicht." „Und du wirst ganz viel zu Essen kaufen und ein Haus auf dem Land, damit ich nicht in der Stadt jagen muss." „Der Kühlschrank ist gut gefüllt, und ich habe bereits ein Haus in Berkshires." „Dann ist ja alles in Ordnung", sagte sie und klang zufrieden. Sie streckte die Beine aus und wackelte mit den Zehen. „Ähem ... die Steaks werden kalt." „So wie ich." Sie kicherte und drehte sich um, um sich rittlings auf ihn zu setzen. Dann verschränkte sie die Füße hinter seinem Rücken und küsste ihn auf den Mund. Langsam legte sie die Hand in seinen Nacken und zog seinen Mund an ihren Hals. „Hungrig?", säuselte sie. Er dachte, er würde einen Schlaganfall bekommen. Sie war zurückgekommen, sie liebte ihn - das hieß, sie würde bleiben -, und jetzt bot sie ihm aus freien Stücken auch noch ihr Blut an. Wahrscheinlich würden dann sogar die Palästinenser und die Israelis bald Frieden schließen und Janet freiwillig einen Benimmkurs besuchen. Ohne zu zögern, schlug er die Zähne in ihren Hals - selbst wenn er es versucht hätte, hätte er nicht widerstehen können. Er spürte ihre Brüste gegen seine Brust drücken, während ihn ihr Blut von innen wärmte. Sie wand sich ein wenig - ihre Finger waren an seinem Reißverschluss - und dann steckte ihre warme kleine Hand in seiner Hose, umfasste ihn, streichelte ihn. Er stöhnte, den Mund an ihrem Hals. „Du hast mich ja wirklich vermisst!" Sie drückte ihn auf den Boden zurück, und er war so glücklich, dass er ihr gehorchte. Er hörte auf, ihr Blut zu trinken, und leckte über die Bisswunde. Ihre herrlichen Brüste wogten vor seinen Augen. Er konnte sich 161 nicht entsinnen, in seinem langen, langen Leben schon einmal glücklicher gewesen zu sein. Sie packte seinen Schwanz mit wunderbar festem Griff und hob ihre Hüften. Er legte die Arme um sie, um sie zu führen, als sie sich auf ihn setzte. Es war, als würde er durch kostbares Öl gleiten. Sie legte den Kopf zurück und sagte hoch zur Decke: „Hmmmmm ... das ist gut. Das habe ich vermisst".
Er streichelte ihre Brüste, strich mit den Fingern über ihre harten Brustwarzen und staunte, dass jemand, der so stark und zäh war, so weiche Haut haben konnte. Es war keine Spur davon zu sehen, dass sie einen Sprung aus dem dritten Stock getan hatte. Und er suchte wirklich! Kein blauer Fleck, kein Kratzer. Ihre Heilung musste fast so schnell vonstatten gehen wie seine. „Du bist wunderschön", sagte er. „Das sagst du nur, um Sex zu haben", grinste sie. „Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest ... ich habe gerade Sex." Sie prustete und schaukelte vor und zurück. Auf einmal bemerkte er eine seltsame Zurückhaltung an ihr und fragte sich nach dem Grund ... bis ihm einfiel, dass sie wahrscheinlich oben gewesen war, als sie ihren ersten Liebhaber gelähmt hatte. „Um Himmels willen", sagte er mit gespielter Abscheu, „kannst du nicht ein bisschen schneller machen? Und fester? Ich schlaf hier unten ja fast ein." Sie war so erstaunt, dass sie beinahe von ihm heruntergefallen wäre. Dann machte es Klick bei ihr, und sie lächelte. „Okey-dokey, toter Mann. Dann mal los." Sie ruinierten den Teppich. Doch es war ihnen egal. Am Schluss schrie sie, den Kopf in den Nacken gelegt, und er spürte, wie seine Wirbelsäule brach ... sogar das war ihm egal. 3°i Ihre Beine lagen wie Schraubstöcke um seine Taille, und ihre Arme um seinen Hals drückten ihm die Luft ab - und er wollte immer noch mehr. Er sagte es ihr auch, bestand darauf, verlangte es und biss sie dann ins Ohr. Er fühlte, wie sich die Temperatur änderte, als sie zum Orgasmus kam, spürte, wie sie sich um seinen Schwanz zusammenzog. Das reichte, um auch ihm, benommen wie er war, den Rest zu geben. Danach sprachen sie einige Minuten lang gar nicht, bis Janet schließlich herausbrachte: „Donnerwetter. Das sollte illegal sein."' „Das ist es wahrscheinlich auch, zumindest in drei Staaten." „Mein Abendessen ist kalt", beschwerte sie sich, rührte sich aber keinesfalls, um aufzustehen und das Tablett zu holen. „Ich habe eine Mikrowelle. Warum habe ich das Steak überhaupt gebraten? Du hättest es bestimmt auch roh genommen. Als Werwolf sagte er nachdenklich und streichelte über ihren Oberschenkel. „Selbst nachdem ich es mit eigenen Augen gesehen hatte, konnte ich es kaum glauben." „Weil du eben manchmal ein Volltrottel bist." „Muss ich mir das von einem frechen Flittchen wie dir eigentlich sagen lassen?" Sie stürzte sich auf ihn und knabberte an seinem Hals. „Ich bin dein freches Flittchen, da hast dus."
„Ausgezeichnet." Er küsste sie auf die Nase. „Also ... was hältst du davon, ein untoter Werwolf zu werden?" Sie stöhnte. „Lass uns darüber in zehn Jahren sprechen, einverstanden? Erst muss ich mich an den Gedanken gewöhnen, nicht mehr zu einem Rudel zu gehören." „Einverstanden. Werden sie denn versuchen, dich zurückzuholen?" „Ich habe keine Ahnung. Niemand ist bisher freiwillig gegangen. Ich bezweifle aber, dass es den Boss wirklich stört - er hat ... er ist nachsichtiger, seitdem er verheiratet ist. Aber ich sollte ihm wohl doch besser sagen, dass ich nicht tot bin." „Morgen." „Ja. Morgen." „Wir gründen unser eigenes Rudel, Jane. Wir sind zwei Monster, die genau das tun, was ihnen passt - und wann es ihnen passt. Und alle anderen gehen uns besser aus dem Weg." „Ohhh Gott, ich liebe es, wenn du so redest..." „Und was ist, wenn ich das tue?" Er lehnte sich ihr herüber, knabberte an einer vorwitzigen Brustwarze und fuhr mit der Zunge über die samtigen Konturen. „O Gott." „Oder das?" Er saugte kräftig und biss ganz, ganz leicht zu. „Hmmmm ..." „Ich liebe dich." „Hmmmm. Ich dich auch. Hör nicht auf damit." Er lachte und beugte ich über ihren warmen, üppigen Körper. „Nicht in den nächsten hundert Jahren. Mindestens." „Und danach lassen wir uns was einfallen." 163 EPILOG Aus den privaten Aufzeichnungen von Richard Will, Ten Beacon Hill, Boston, Massachusetts Ich bin verliebt! Deshalb auch keine neuen Einträge - ich bin beschäftigt. Habe zu viel mit meinem reizenden Monster zu tun. Sie ist alles, was ich mir immer gewünscht habe, und - noch besser - ich scheine alles zu sein, was sie sich immer gewünscht hat. Keine Zeit, heute mehr zu schreiben. Wir lernen gerade einen neuen Koch an. Er hat früher für große Bürofeiern das Catering gemacht, also sollte er wohl auch Janet zufriedenstellen können. Ich glaube, ich werde bald aufhören, Tagebuch zu führen. Ich verstehe nun, dass ich es getan habe, um mit meiner Einsamkeit fertig zu werden. Für diese Art von Ablenkung gibt es aber jetzt keinen Bedarf mehr. Muss nun gehen - meine Braut hat mir gerade ganz spielerisch eine Marmorbüste an den Kopf geworfen, um meine Aufmerksamkeit zu erheischen. Ich glaube, dafür werde ich ihr den Hintern versohlen müssen.
Wenn Ihnen diese Geschichte Spaß gemacht hat, dann tauchen Sie ein in Mary Janice Davidsons Welt der Vampire und Werwolfe. Lesen Sie alle Bücher mit Betsy, der etwas anderen Königin der Vampire, und dem Rudel der Wyndham-Werwölfe.