Renate Hinz · Bianca Schumacher (Hrsg.) Auf den Anfang kommt es an: Kompetenzen entwickeln – Kompetenzen stärken
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Renate Hinz · Bianca Schumacher (Hrsg.) Auf den Anfang kommt es an: Kompetenzen entwickeln – Kompetenzen stärken
Jahrbuch Grundschulforschung Band 10
Renate Hinz Bianca Schumacher (Hrsg.)
Auf den Anfang kommt es an: Kompetenzen entwickeln – Kompetenzen stärken
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
.. 1. Auflage Sepember 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-15126-6 ISBN-13 978-3-531-15126-7
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Renate Hinz & Bianca Schumacher Auf den Anfang kommt es an: Kompetenzen entwickeln - Kompetenzen stärken ......................................
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I Lernkompetenzen Claudia Solzbacher Förderung von Lernkompetenz in der Schule - Empirische Befunde als Beiträge zur Schul- und Unterrichtsentwicklung ...................................
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Frank Hellmich & Stephan Wernke Selbstregulationen von Kindern ..................................................................
33
Heike de Boer Kommunikative Kooperativität im kindergeleiteten Klassenrat .................
43
Nicole Orio Gruppenpuzzle - Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt im Mathematikunterricht der Primarstufe ........................................................
51
Marcus Schrenk Zum Einfluss von Lebendbeobachtung auf das Wissen - eine vergleichende Untersuchung im Rahmen des Sachunterrichts ....................
59
Markus Peschel Sachunterricht und Lautorientierter Schriftspracherwerb ...........................
67
6
Inhaltsverzeichnis
Katrin Hauenschild & Meike Wulfmeyer Ökonomische Kompetenzen in der Primarstufe ..........................................
77
II Lehrkompetenzen Hilbert Meyer & Andrea Klapper Unterrichtsstandards für ein kompetenzorientiertes Lernen und Lehren .....
89
Bettina König Korrektur als Lehrerkompetenz: Bewertung oder Beratung? ......................
109
Bettina Blanck "Denken in Möglichkeiten" - Vielfaltskompetenzen fördern von Anfang an ....................................................................................................
117
Silvia-Iris Beutel Von Anfang an mit den Kindern! Auf dem Weg zu einer "diagnostischen Expertise" ..........................................................................
125
Susanne Miller Heterogene Lerngruppen aus grundschulpädagogischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung von Kindern in Armutslagen ........................
135
Brigitte Kottmann Die Überweisung in die Sonderschule: Typische Fälle und Benachteiligungsmuster ..............................................................................
145
Agi Schründer-Lenzen & Stephan Mücke Konzeption und Ergebnisse von Förderunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund .................................................................................
153
Inhaltsverzeichnis
Astrid Kaiser Anthropologisch Konstantes versus sozio-kulturell Differentes in Aktionsräumen und Verhaltensmustern von Kindern in drei Kontinenten - dokumentiert an Kinderfotos ................................................
7
163
III Neue Schuleingangsphase Gabriele Faust Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern - eine aktuelle Bestandsaufnahme ......................................
173
Margarete Götz Unterrichtsgestaltung in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe ....... 199 Barbara Berthold Unterrichtsentwicklung in der Schuleingangsphase: Wie lassen sich Anknüpfungspunkte zu ihrer Unterstützung bestimmen? ....................
207
Tassilo Knauf & Elke Schubert IBA - Integrierter Bildungsauftrag von Kindergarten und Grundschule. Lösungsansätze und Strategien für eine systemische Neustrukturierung des Schulanfangs .........................................................................................
217
Jan von der Gathen "Sich von Zielen leiten lassen" - Schritte auf dem Weg zur Anschlussfähigkeit ......................................................................................
227
Judith Flender Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule aus Sicht der Erzieherinnen ..............................................................................................
233
Friederike Heinzel " ... ich sitze hier eigentlich nicht als Schulleiter, sondern als jemand, der irgendwann mal in die Schule gekommen ist." .....................................
243
Einleitung Auf den Anfang kommt es an: Kompetenzen entwickeln – Kompetenzen stärken Renate Hinz & Bianca Schumacher
Im Kontext europäischer Globalisierungsprozesse haben die auf eine Erhöhung von Bildungschancen und die Vergleichbarkeit von Bildungsabschlüssen orientierten Forderungen nach Qualitätsentwicklung resp. -sicherung das Anliegen unterstützt, die pädagogische Arbeit innerhalb des bundesrepublikanischen Schulsystems zuverlässiger bzw. messbar zu machen und auf der Grundlage gesicherter Befunde über die Stärken aber auch Schwächen seiner Schülerinnen und Schüler erfolgreichere Förderkonzepte zu realisieren. Dieses hat zur Festschreibung von Sollwerten geführt, die nach den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz auf den Ebenen von Lehrplanarbeit, Schulentwicklung und LehrerAus-/Fortbildung als – an Niveauskalen orientierte – Bildungsstandards definiert sind. Sie „greifen allgemeine Bildungsziele auf und legen fest, welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe an wesentlichen Inhalten erworben haben sollen.“ (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister 2005: 9) Die Konzentration auf bereichsspezifische Mindestanforderungen hat mit ihrer Implementation in primarstufenbezogene Vereinbarungen auch innerhalb der grundschulpädagogischen Praxis und Theoriebildung zu Diskussionen über (fach-)didaktisch orientierte Steuerungsprozesse unterrichtlichen Handelns und generelle systemische Entwicklungspotentiale der Grundschule sowie ihrer Übergangsschnittstellen geführt. In diesem Kontext ist – nicht zuletzt auch bedingt durch die (inter-)nationalen Vergleichsstudien – der Kompetenzbegriff zu einer zentralen Kategorie jenes (grund-)schulpädagogischen und bildungspolitischen Diskurses avanciert, der Unterrichtsentwicklung und Persönlichkeitsbildung mit einer anwendungsorientierten Vernetzung des „Wissens und Könnens“ aller am Unterricht Beteiligter konnotiert (vgl. Klieme u.a. 2001: 203f.). Dass dabei der Qualitätssteige-
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rung von Lehr-/Lernprozessen durch (integrative) Fördermaßnahmen eine grundlegende Bedeutung zukommt, deutet sich nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund dynamisierter Begabungsvorstellungen bereits in den angenommenen Latenzpotentialen der (individuellen) Kompetenzen an. Diese stellen nach Weinert „Systeme aus spezifischen, prinzipiell erlernbaren Fertigkeiten, Kenntnissen und metakognitivem Wissen“ dar, die es in ihrer dispositionellen und funktionalen Zuschreibung „erlauben, eine Klasse von Anforderungen in bestimmten Alltags-, Schul- oder Arbeitsumgebungen zu bewältigen.“ (Klieme u.a. 2001a: 182) Mit diesem expliziten Bezug auf Prozesse problemlösender Lebensgestaltung sowie domänenorientierte Anschlussfähigkeiten der Lernprozesse, die zugleich als Voraussetzung und Bedingung für erfolgreiches Denken und Handeln in fachlichen Kontexten gelten (vgl. Baumert u.a. 2001: 289), ist die vornehmlich inhaltliche Ausrichtung bundesrepublikanischer Bildungspläne und Rahmenrichtlinien in eine Kritik geraten, die sich für den Primarbereich in der Vereinbarung von fächerspezifischen Bildungsstandards niedergeschlagen hat. Hier werden inhalts- und methodenbezogene Kompetenzen auf abgestuften Kompetenzniveaus bzw. nach grundlegenden Kompetenzbereichen formuliert (vgl. Knauf 2001: 24ff.). Beide Dimensionierungen haben im Rahmen der Verfahren zur Lernstandserhebung sowie der Schärfung von Schulfähigkeitsprofilen als Parameter für den Erfolg schulischen Lernens aktuelle Bedeutung, ohne eine Evaluation der Zielerreichung auf die Überprüfung eines ausschließlich abfragbaren Wissens zu reduzieren. Dennoch muss deutlich gesehen werden, dass der anglo-amerikanischen Tradition, (Teil-)Kompetenzen im Sinne von literacy als operationalisierbare Verhaltensdispositionen zu beschreiben, Theoriekonzepte gegenüber stehen, die den Erwerb von Handlungskompetenz durch Verbindung von fachlichem und überfachlichem (sozialem, methodischem, ethischem) Wissen und Können als entscheidendes Ziel definieren (vgl. Peterßen 2001: 12ff.). Gleichwohl erhebt auch dieser Ansatz für sich den Anspruch, Evaluationsmaßstäben zu genügen um den konzeptionellen Wirkungsgrad ermitteln und Förderbedarfe erkennen zu können. Mit der Frage, wie ein „guter“, d.h. individuelles und – im Sinne der Kompetenzentwicklung und -stärkung – förderndes Lernen unterstützender (Grundschul-)Unterricht gestaltet werden kann, richtet sich der Fokus zugleich auf das Lehren und den notwendigen Expertiseerwerb von Lehrkräften, der sich unter Zugrundelegung impliziter Theoriebildungen durch eine in praktischen Verwendungszusammenhängen generierte Kategoriengewinnung (vgl. Combe/Kolbe 2004: 838ff.) entwickelt, die fachliches und curriculares – in Aus- und Fortbildungskontexten erworbenes – Wissen voraussetzt und in der Gestaltung pädagogischer Übergangssituationen eine besondere Bedeutung hat. Unter diesem Tenor fand im September 2005 in Dortmund die 14. Jahrestagung der Kommission
Auf den Anfang kommt es an
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„Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) zum Thema „Auf den Anfang kommt es an: Kompetenzen entwickeln – Kompetenzen stärken“ statt. Gerahmt durch die Diskussionen um inter-/nationale Leistungsstudien sowie die Debatten um schulbezogene Vergleichsarbeiten und Ansprüche schulischer Qualitätsentwicklungen standen Fragen der Kompetenzentwicklung aller am Unterricht beteiligter Personen im Zentrum der Gespräche. Dabei richtete sich der Fokus nicht nur auf den Schulanfang, vielmehr wurde die gesamte Grundschule einschließlich ihrer Übergänge in den Blick genommen. Der vorliegende 10. Band der Reihe „Jahrbuch Grundschulforschung“ umfasst Beiträge, die die Entwicklung von Lern- und Lehrkompetenz im Grundschulunterricht sowie die Gestaltung der neuen Schuleingangsstufe thematisieren. Dies geschieht, indem der skizzierte pädagogische und bildungspolitische Diskurs in wesentlichen Punkten aufgegriffen und in forschungsrelevanter Hinsicht fortgeführt wird. Claudia Solzbacher eröffnet den ersten Themenkomplex mit der Frage, wie sich Lernkompetenz mit ihrem Bezug auf die Sache, die Methoden und das Selbst in seiner sozialen Einbettung schulisch fördern und evaluieren lässt. Die Argumentation basiert auf der Auswertung eines empirischen, netzwerkartig kooperierende Einzelschulen in ihrem Innovationsprozess begleitenden Forschungsprojektes, wobei die Entwicklung von Teilkompetenzen und die Anwendbarkeit von Förderkonzepten im Kontext ihrer Gelingensbedingungen diskutiert werden, ohne praktische und forschungsrelevante Problemlagen zu unterschlagen. Dem folgen Beiträge, die sich mit selbstregulierenden und interaktiven Prozessen des Lernens, ihren Bedingungsfaktoren und Kommunikationsmustern sowie motivationalen Aspekten auseinander setzen. Hilbert Meyer stellt sich im zweiten Themenkomplex der Herausforderung, zur näheren Bestimmung einer wissens-, handlungs- und reflexionsorientierten Lehrkompetenz Unterrichtsstandards zu formulieren. Diese werden in Widerspiegelung der von der KMK eingeführten Bildungsstandards entwickelt und mit Bezug auf Ergebnisse der empirischen Unterrichtsforschung sowie Kriterien der unterrichtsbezogenen Qualitätssicherung legitimiert, so dass sie für die nachfolgenden Ausführungen professionsorientierter Tätigkeiten, die insbesondere aus der Vielfalt des pädagogischen Feldes und damit einhergehender Aufgaben von Diagnostik und Förderung resultieren, argumentative Anknüpfungspunkte liefern. Sie implizieren die Frage, wie kognitiven und sozialen Differenzen von Lernausgangslagen im Sinne einer Erhöhung der Bildungschancen Rechnung getragen werden kann. Gabriele Faust thematisiert mit ihrem Plenumsvortrag für den dritten Themenkomplex die Chancen und auch Grenzen eines nicht selektierenden, sondern kompetenzorientiert fördernden Lernens am Schulanfang. Ausgehend von einer
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Renate Hinz & Bianca Schumacher
Bilanz der derzeitigen Einschulungspraxis und ihrer institutionellen Verankerung im Rahmen des Konzeptes der neuen Schuleingangsstufe werden Ergebnisse aktueller Schulversuche länderspezifisch beleuchtet und auf einen möglicherweise generalisierenden Schulentwicklungstransfer hin befragt. An sie schließen sich mit den weiteren Abhandlungen Fragen nach den spezifischen Herausforderungen und pädagogischen Gestaltungen von schulischen Übergangssituationen an, die als bewusste Diskontinuitätserfahrungen in kindlichen Biografieverläufen eine neue Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer Erhebung, Analyse und (prozessbegleitenden) Dokumentation einfordern. Konturiert durch diese Aspekte fanden während der Tagung zahlreiche Arbeitsgruppen statt, deren Vortrags- und Diskussionsergebnisse in die Veröffentlichung des vorliegenden Bandes sowie einer unter dem Titel „Professionelles Handeln in der Grundschule“ im Schneider-Verlag herausgegebenen Publikation eingeflossen sind. Die Darstellungen kennzeichnen die Vielschichtigkeit des momentanen Diskussionsstandes eines aktuellen Themenfeldes innerhalb der grundschulpädagogischen Forschung. Unser Dank gilt allen Kolleginnen und Kollegen, die es uns mit ihrer Teilnahme an der Tagung sowie durch ihre schriftlichen Beiträge ermöglicht haben, den Perspektivenreichtum in dieser Breite entfalten zu können. Dortmund, im Juli 2006 Literatur Baumert, Jürgen/Artelt, Cordula/Klieme, Eckhard/Stanat, Petra (2001): PISA Programme for International Student Assessment. Zielsetzung, theoretische Konzeption und Entwicklung von Messverfahren. In: Weinert, Franz E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim, Basel: Beltz, 285-310. Combe, Arno/Kolbe, Fritz-Ulrich (2004): Lehrerprofessionalität: Wissen, Können, Handeln. In: Helsper, Werner/Böhme, Jeanette (Hrsg.): Handbuch der Schulforschung. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 833-851. Klieme, Eckhard/Artelt, Cordula/Stanat, Petra (2001): Fächerübergreifende Kompetenzen: Konzepte und Indikatoren. In: Weinert, Franz E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim, Basel: Beltz, 203-218. Klieme, Eckhard/Funke, Joachim/Leutner, Detlev/Reimann, Peter/Wirth, Joachim (2001): Problemlösen als fächerübergreifende Kompetenz. Konzeption und erste Resultate aus einer Schulleistungsstudie. In: Zeitschrift für Pädagogik, 47, 179-200. Knauf, Tassilo (2001): Einführung in die Grundschuldidaktik. Lernen, Entwicklungsförderung und Erfahrungswelten in der Primarstufe. Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer. Peterßen, Wilhelm H. (2001): Kleines Methoden-Lexikon. 2., akt. Aufl. München: Oldenbourg. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.) (2005): Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz. Erläuterungen zur Konzeption und Entwicklung. München, Neuwied: Wolters Kluwer.
I
Lernkompetenzen
Förderung von Lernkompetenz in der Schule – Empirische Befunde als Beiträge zur Schul- und Unterrichtsentwicklung Claudia Solzbacher
1
Einleitung
Mehr denn je müssen Schülerinnen und Schüler heute nicht nur Wissen erwerben, sondern lernen, ihr eigenes Weiterlernen selbst in die Hand zu nehmen. Die Fähigkeit zum lebenslangen Lernen bildet eine Grundvoraussetzung, um aktuelle und zukünftige Anforderungen bei der Gestaltung unserer Gesellschaft erfolgreich zu bewältigen. Ziel aller Lernprozesse muss es daher sein, die Schüler/innen zu Experten für ihr eigenes Lernen zu machen, damit sie Aufgabenstellungen selbständig angehen und bearbeiten können. Zum selbstständigen Lernen gehört mehr als in einem grundlegenden Methodentraining Lern- und Arbeitstechniken einzuüben. Es bedeutet auch diese Techniken fachspezifisch zu vertiefen und den Lerninhalt mit angemessenen Methoden zu verzahnen, das Lernen zu planen, mit anderen zusammen zu lernen und den eigenen Lernprozess zu hinterfragen. Dies wird gemeinhin mit dem Erwerb von Lernkompetenz umschrieben.1 Die Forderung an die Schule, die Lernkompetenz ihrer Schülerinnen und Schüler zu entwickeln, wurde und wird sehr häufig gestellt. Oft werden unterschiedliche Bezeichnungen für gleiche Sachverhalte verwendet.2 Aktuell finden 1
2
Die Lernkompetenz zählt wegen ihrer hohen Bedeutung für die erfolgreiche Bewältigung der gesamtgesellschaftlichen und individuellen Herausforderungen der Wissensgesellschaft zu den basalen Kompetenzen, die individuelles und gemeinsames Lernen ermöglichen (vgl. Baumert 2001). Weinert hebt Lernkompetenz explizit als Bildungsziel hervor, das in Zusammenhang mit der Aneignung von intelligentem und anwendungsfähigem Wissen, methodisch-instrumentellen Schlüsselkompetenzen, sozialen Kompetenzen und Wertorientierungen realisiert werden sollte. Weinerts Kompetenzbegriff geht somit über kognitive Fähigkeiten und Leistungen hinaus; Kompetenzen sind zudem für ihn immer als erlernbare Kompetenzen zu definieren (vgl. Weinert 2001, 27f.). Der Kompetenzbegriff hat einen seiner Ursprünge in der Debatte um Schlüsselqualifikationen (vgl. Mertens 1974). Eine weitere „Wurzel“ der Kompetenzdebatte liegt in der Lehrplantheorie der USA der 60er Jahre: Angeregt durch Versuche zur Reform der Lehrpläne (z.B. Lernzieltaxo-
16
Claudia Solzbacher
wir Forderungen nach (Lern)Kompetenzvermittlung z.B. in dem Konzept der Bildungsstandards, in der aktuellen Curriculumentwicklung3 oder in Reformvorschlägen zur Leistungsermittlung und -bewertung (vgl. Solzbacher 2001). Zunehmend wird der Kompetenzerwerb, insbesondere der Erwerb von Lernkompetenz, als zentrale bildungspolitische Aufgabe sowie als Kern von Schule und Unterricht definiert. 2
Anlass und Aufbau der Untersuchung „Förderung von Lernkompetenz in der Schule“
Wie können Schulen und Bildungssysteme den Erwerb von Lernkompetenz fördern? Zweifellos erwachsen aus dem oben Beschriebenen vielfältige neue Anforderungen an die Gestaltung des Unterrichts und die Organisation der Schule. Die Praxis des Lehrens und Lernens ist nicht (wie die Standarddiskussion dies mitunter suggerieren mag) eine „Technik des Herstellens und Verteilens von Wissen, sondern der kommunikative Versuch der Ermöglichung der beabsichtigten Lernprozesse, der Anbahnung und Anleitung von Können und Verstehen“, wie Ulrich Hermann zu recht betont (Hermann 2003: 633). Wie gelingt es den Schulen also eine Lernkultur zu entfalten und eine Lernumgebung zu schaffen, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, Lernkompetenz zu erwerben und in komplexen Lernarrangements anzuwenden? Diesen Fragen ging eine von 2002-2004 durchgeführte Studie zur „Förderung von Lernkompetenz in der Schule“ nach (vgl. Czerwanski/Solzbacher/ Vollstädt 2002 u. 2004). Die Bertelsmann Stiftung hatte 1999 im Rahmen des „Netzwerks innovativer Schulen in Deutschland“ vier Lernnetzwerke aus jeweils fünf Schulen gegründet, die bereits zum Thema Lernkompetenzförderung gearbeitet hatten. Diese Schulen tauschten drei Jahre lang untereinander ihr Know-how zum Erwerb von Lernkompetenz aus und entwickelten ihre vorhandenen Lösungsansätze weiter. Die Arbeit dieses Netzwerks lieferte eine interesnomie nach Benjamin Bloom), nach der man hoffte, zu erreichende Kenntnisse, Fähigkeiten (competencies (!)) und Fertigkeiten eindeutig beschreiben und zuordnen zu können, erfuhr der Begriff der Kompetenzen in Deutschland eine Rezeption und Ausweitung (z.B. Blankertz 1969: 143ff.). Heute hat sich der Kompetenzbegriff nicht zuletzt über die internationalen Schulleistungsvergleiche TIMSS und PISA endgültig durchgesetzt. Der Begriff der Lernkompetenz geht allerdings darüber hinaus. 3
Klieme z.B. betont in diesem Zusammenhang die besondere Funktion von Kompetenzen indem er deutlich macht, dass mit Hilfe von Kompetenzen die Auswahl von Bildungszielen und Lerngegenständen, die über eine bloße Stoffsystematik hinausgehen, durch Prinzipien geleitet werden sollte (vgl. Klieme 2004: 10).
Förderung von Lernkompetenz in der Schule – Empirische Befunde
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sante Grundlage für eine wissenschaftliche Recherche an eben diesen Schulen zu Gelingens- und Misslingensbedingungen für Lernkompetenzförderung in der Schule. Um die Ergebnisse zu bündeln und wissenschaftlich zu reflektieren, hat die Bertelsmann Stiftung 2002 eine Expertenrunde eingesetzt, die folgenden Fragen nachgegangen ist: Wie lässt sich Lernkompetenz begrifflich und praxisnah fassen? Was tun Schulen, um dieser anspruchsvollen Aufgabe der Lernkompetenzförderung nachzukommen? Welche Schlussfolgerungen und Empfehlungen lassen sich daraus für die Praxis und für die Bildungssysteme ableiten? Bei der Studie handelt es sich um eine qualitativ empirische Studie zur Implementierung von Lernkompetenz auf der Ebene von Einzelschulen.4 Entsprechend sollte der Blick auf die Praxis und das induktive Erschließen und Systematisieren vorhandener gelungener Praxis im Vordergrund stehen. Dabei teilte sich die Stichprobe auf in a) eine Gruppe von 26 Schulen, die schriftlich befragt wurden, und b) eine Gruppe von 6 Schulen, die im Rahmen einer Fallstudie untersucht wurden. Die Untersuchung wurde in allen allgemeinbildenden Schulformen durchgeführt. Von den Schulen, die wir schriftlich befragt haben, waren sieben Grundschulen. Von den sechs Fallstudienschulen waren zwei Schulen Grundschulen. Freilich sind die Ergebnisse aus derartigen Studien nicht grundsätzlich von generalisierbarer Bedeutung. Sie bieten allerdings in einem bislang wenig empirisch bearbeiteten Themenfeld die Chance, theoretische Konzepte auf ihre Anwendbarkeit und Plausibilität hin zu überprüfen. Darüber hinaus könnten mit ihnen Erweiterungen für die Theorie gewonnen werden, die sich einer breiteren empirischen Überprüfung zuführen lassen. Die folgenden Ergebnisse der Studie könnten also z.B. Hinweise darauf geben, welcher Voraussetzungen bzw. schulischer Reformen es zukünftig für die Einführung von Bildungsstandards oder kompetenzorientierter Curricula bedarf.
4
Bei den untersuchten Schulen konnte aufgrund der Zugangsbedingungen davon ausgegangen werden, dass ganzheitliche Schulentwicklungsprozesse bereits in Teilen gegriffen haben und es „gelungene Praxis“ zum Lernkompetenzerwerb gibt bzw. reflektiert Gründe mitgeteilt werden könnten, woran Lernkompetenzerwerb in der Schule häufig scheitert.
18 3
Claudia Solzbacher
Arbeitsdefinition: Was ist Lernkompetenz?
Die Arbeitsdefinition, die der Untersuchung zugrundegelegt wurde, orientiert sich an der bisherigen Diskussion zum Thema Kompetenzen. Sie bezieht darüber hinaus die Überlegungen der Europäischen Gemeinschaft zum lebenslangen Lernen mit ein, in denen eine bestimmte Qualität der Lernkompetenz angesprochen wird, die auf die Nachhaltigkeit des Lernens setzt, sämtliche Lernaktivitäten als ein nahtloses Kontinuum betrachtet (ein Lernen während des gesamten Lebens), auf die ständige Ergänzung und Erneuerung von Kompetenzen orientiert ist und schulisches Lernen als wichtige Voraussetzung dafür ansieht, bereits schulisches Lernen enger zum außerschulischen Leben und Lernen in Verbindung bringt und verschiedene Lernorte nutzt, und die berücksichtigt, dass Lernen nicht nur in Bildungsinstitutionen (formales Lernen), sondern in allen sozialen Gruppen (nicht-formales Lernen) und als natürliche Begleiterscheinung des täglichen Lebens (informelles Lernen) stattfindet (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaft 2000: 9 ff.).5 Für die Untersuchung „Lernkompetenzförderung in der Schule“ genügte es demzufolge, von Lernkompetenz zu sprechen, die die Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Gewohnheiten und Einstellungen umfasst, die für individuelle und kooperative Lernprozesse benötigt und zugleich beim Lernen entwickelt und optimiert werden. Lernkompetenz umfasst die miteinander verbundenen Dimensionen Sach- und Methodenkompetenz, soziale Kompetenz und Selbstkompetenz (personale Kompetenz).6 5
6
Was hier mit Qualität des Lernens gemeint ist, spitzt Weinert zu, wenn er feststellt, dass Schule in Deutschland „zu pseudohaft leistungsbezogen und zu wenig lernorientiert ist“ (Weinert 2001: 6586). Die unterschiedlichen, hier nur beispielhaft aufgeführten, Bestimmungen und Verwendungen von Lernkompetenz verdeutlichen, dass der Begriff durchaus nicht widerspruchsfrei oder einheitlich zu gebrauchen ist. Es handelt sich jeweils um ein Konstrukt, das der Festlegung von Merkmalen bedarf; Klieme weist in diesem Zusammenhang, wie Weinert, auf das problematische Verhältnis von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen hin. Da die Kompetenzerreichung im Zusammenhang mit Bildungsstandards gemessen werden soll, bestimmt die KMK sie eher funktional, aber rein auf das Kognitive beschränkt. Sie seien bereichsspezifisch, d.h. auf einen begrenzten Sektor von Kontexten bezogen, aber doch als begrenzt verallgemeinerbar gedacht. Bezogen auf
Förderung von Lernkompetenz in der Schule – Empirische Befunde
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Diese Dimensionierung ist analytisch – reale Lernprozesse schließen immer alle Dimensionen ein. Lernkompetenz wird zudem gerade nicht durch die Addition oder Verknüpfung dieser drei Kompetenzbereiche allein erreicht, sondern benötigt die Reflexion über die Lernprozesse und -ergebnisse als unverzichtbare Voraussetzung. Sachkompetenz (hier nur zur besseren Analyse von der Methodenkompetenz getrennt dargestellt) umfasst nicht nur den Erwerb sachlicher Kenntnisse und Einsichten in verschiedene Fachgebiete, sondern bezieht sich auch auf deren Anwendung in fächerübergreifenden Zusammenhängen und Problemorientierungen. Es geht damit um den Erwerb und die Anwendung von Kenntnissen und Fähigkeiten und ihre Verknüpfung in Handlungszusammenhängen. Methodenkompetenz, die nur im Zusammenhang mit Sachkompetenz erworben werden kann,7 ermöglicht, die eigene Tätigkeit (hier das Lernen) bewusst, zielorientiert, ökonomisch und kreativ zu gestalten und dabei auf ein Repertoire geeigneter Methoden zurückzugreifen. Die Aneignungs-, Erkenntnis- und Arbeitsmethoden sind zwar stets inhaltsgebunden, aber teilweise fachspezifisch und teilweise überfachlich. Das macht diesen Bereich für Schule schwierig. Sozialkompetenz befähigt dazu, in wechselnden sozialen Situationen, angesichts unterschiedlicher Aufgaben und Probleme, eigene und übergeordnete Ziele mit den übrigen Beteiligten in Einklang zu bringen und zu verfolgen. Im Zentrum steht das Verantwortungsbewusstsein für sich selbst und andere, vor allem Fremdwahrnehmung, solidarisches Handeln, Kooperationsund Konfliktfähigkeit. Selbstkompetenz umfasst grundlegende Einstellungen, Werthaltungen und Motivationen, die das (Lern-)Handeln des Einzelnen beeinflussen. Man die Bildungsstandards schränkt die KMK die von Weinert vorgenommene Ergänzung also mit dem Argument ein, die Ausweitung auf nicht kognitive Bereiche sei für die KMK nicht leistbar (vgl. Klieme 2004: 12). Damit wird ebenfalls deutlich, dass mit Bildungsstandards nicht der gesamte Umfang an Lernkompetenz erfasst wird. 7
Die Kontroverse um den Zusammenhang von Sach- und Methodenkompetenz reicht bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück und hat ihren Ursprung in der Unterscheidung von „materialer“ und „formaler“ Bildung. Im Laufe der pädagogischen Diskussion gibt es bis heute immer wieder unterschiedliche Konzepte formaler Bildung, die belegen wollen, dass nicht die Idee der formalen Bildung mangelhaft ist, sondern deren Umsetzung in der Schule. Mit seinem Begriff der „kategorialen“ Bildung hat Wolfgang Klafki bereits Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts diese Diskussion konstruktiv aufgegriffen und den untrennbaren Zusammenhang von formalem und materialem Lernen herausgestellt (vgl. Klafki 1967: 25ff. Vgl. zur Gesamtdiskussion ebenso Weinert 2001).
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Claudia Solzbacher
kann dies auch als Selbstkonzept einer Person bezeichnen, das sich auf Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl gründet, also auf Einstellungen zur eigenen Person (emotionale Unabhängigkeit, Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten z.B.). Zum Selbstkonzept gehören auch die kritische Selbstwahrnehmung in Auseinandersetzungen mit der Umwelt und der eigenen Person, das Bewusstsein über eigene Werthaltungen sowie die moralische Urteilsfähigkeit (vgl. Czerwanski/Solzbacher/Vollstädt 2002: 29-32).8 Nachfolgend werden die Ergebnisse unserer Studie differenzierter vorgestellt. So wird deutlich, welchen schulpädagogischen Aufwands und welch professioneller Lehrerkompetenzen es in Fragen der konkreten Schul- und Unterrichtsentwicklung im Lande bedarf, um z.B. die Aufgabe der Entwicklung und Umsetzung nationaler Bildungsstandards zu erfüllen. 4
Stufung und Entfaltung: Die Dimensionen der Lernkompetenz
Nach der Einschätzung der befragten Vertreter der Schulen erfordert es die systematische und zielstrebige Entwicklung der Lernkompetenzen, genauer zu bestimmen, welche Teilkompetenzen zu den drei Kompetenzbereichen „Sach- und Methodenkompetenz“, „Sozialkompetenz“ und „Selbstkompetenz“ führen. Denn das erfolgreiche Weiterlernen setze jeweils trennscharf bestimmte und formal wie inhaltlich voneinander abgegrenzte Lernkompetenzen voraus, die sinnvoll aufeinander zu beziehen seien. Nur so könne man sie lehren und schließlich auch einzeln bewerten. Weiterhin verlange die Praxis in Schule und Unterricht die Stufung der Kompetenzen um z.B. einen kumulativen Wissensaufbau zu ermöglichen, Lernbarrieren und Lernchancen besser diagnostizieren zu können, aber auch um die erworbenen Lernkompetenzen messen und bewerten zu können. Die Operationalisierung, d.h. die Suche nach deutlich voneinander unterscheidbaren Teilkompetenzen wird allerdings dadurch erschwert, dass die Kompetenzen komplexer Natur und häufig miteinander verknüpft sind. Jede Aufzählung von Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen, die besonders zum effektiven selbstständigen Lernen befähigen, muss demzufolge unvollständig und mehrdeutig bleiben. Schließlich diskutierten und entwickelten die Schulen die folgenden Teilkompetenzen, und meldeten sie uns als grundlegend zurück. Wir werten die aufgelisteten Kompetenzen ebenso wie die Schulen als notwendige, aber nicht hin8
Die Aufzählungen lassen erkennen, dass so definierte Kompetenzen sich immer in der Gefahr bewegen, zugleich als Voraussetzungen für die „Bildungsfähigkeit“ von Schülern und Schülerinnen und als Ergebnis und Ziel von Bildungsprozessen verstanden und eingesetzt zu werden.
Förderung von Lernkompetenz in der Schule – Empirische Befunde
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reichende Kriterien zur Lernkompetenzförderung in der Schule und zur Evaluation von Schülerleistungen in den jeweiligen Bereichen. Aus Platzgründen führen wir hier nur die Teilkompetenzen auf, welche die Sach- und Methodenkompetenz konstituieren. Gleichwohl wurden an den Schulen auch die Kompetenzdimensionen der Sozial- und Selbstkompetenz „kleingearbeitet“ und rückgemeldet. Die auf der Handlungsebene erprobten Lernkompetenzen stellen den an den Schulen ermittelten Minimalkonsens darüber dar, wozu Schülerinnen und Schüler in der Lage sein sollten: Grundlegende Kulturtechniken beherrschen. Informationen beschaffen, erfassen, bearbeiten, beurteilen: dazu gehört z.B. vorhandene Info-Quellen wie Nachschlagewerke, PC, Interviews nutzen können; das Wesentliche eines Sachtextes erfassen; Sachtexte unter bestimmten Fragestellungen bearbeiten. Sach- und Methodenkompetenz beinhaltet demnach auch wichtige Basiskompetenzen wie z.B. die Lesekompetenz. Sachstrukturen erkennen und Strukturierungen vornehmen, d.h. sie vergleichen, ordnen, gliedern, beschreiben, erläutern und begründen. Karteien anlegen, Mappen führen, Ober- und Unterbegriffe finden. Sich Wissen effektiv einprägen, vernetzen, behalten, anwenden und in Handlungen umsetzen. Lerntechniken anwenden, Wissen wiedergeben und anwenden, auch in fächerübergreifenden Zusammenhängen. Arbeitsergebnisse für sich festhalten und anderen präsentieren. Angemessen visualisieren und vortragen, Zuhörer mit einbeziehen, Hand-outs anfertigen. Lernstrategien entwickeln und anwenden können. Sich Arbeitsziele setzen. Die eigene Arbeit planen und die Zeit einteilen. Problemlösestrategien kennen und anwenden: Fragestellungen eingrenzen und Lösungsmöglichkeiten aufwerfen können. Die Problemlösestrategien sind immer fachspezifisch zu denken (vgl. Czerwanski/Solzbacher/ Vollstädt 2002: 33f.).9 In Hinblick auf die Trennschärfe, die Operationalisierungen und die Stufung von Kompetenzen erwarten die Schulen Unterstützung von Seiten der Wissenschaft oder der bildungspolitisch Verantwortlichen. Eine Frage hat sich den Kollegien besonders im Hinblick auf Sach- und Methodenkompetenz gestellt: 9
Aus der Perspektive der bildungstheoretischen Diskussion im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts könnte man bei der Aufzählung emanzipatorische und kritische Aspekte vermissen, z.B. die Fähigkeit und Bereitschaft der Schülerinnen und Schüler Informations- und Wissensquellen zu hinterfragen oder die Grenzen des Wissens und des Problemlösens zu reflektieren und zu erkennen.
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Claudia Solzbacher
Wie hängen Kompetenzen und Inhalte zusammen? Man benötige, so die Lehrer, Inhalte, aber welche für welche Kompetenz?10 5
Viele Wege führen nach Rom: Implizite und explizite Förderung von Lernkompetenz
Auslöser für die Überlegungen und Bemühungen der Lehrer/innen zu verstärkten Bemühungen um die Förderung von Lernkompetenzen ist nicht die oben dargestellte bildungstheoretische und -politische Debatte. Die uns genannten Begründungen beziehen sich zunächst auf die jeweilige Schulsituation und ihre Beteiligten. Sie sind immer eng mit Fragen des Lernens und Lehrens, also mit den Lernprozessen und der Unterrichtsqualität verknüpft. Genannt wurden: ein
Abbildung 1: Wege zur Förderung von Lernkompetenz, aus: Czerwanski/Solzbacher/Vollstädt 2002: 116
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Diese Fragen tauchten bereits in der Debatte um Schlüsselqualifikationen immer wieder auf. Fraglich ist, inwieweit wir in den nächsten Jahren erwarten können, dass eine solche Stufung z.B. geleistet wird und werden kann. Es ist zweifelhaft, ob Wissenschaft hier je zu einem Konsens kommen wird. Betrachtet man etwa den Streit, den es in der Sprachwissenschaft über den stufenweisen Kompetenzerwerb beim Lesenlernen gibt, wird erkennbar, dass die Lehrer, die bereits mit dem kompetenzorientierten Ansatz arbeiten, hier wohl noch länger auf eigenes professionelles Know-how und eigene Erfahrung angewiesen sind.
Förderung von Lernkompetenz in der Schule – Empirische Befunde
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deutlich verändertes Schülerverhalten, die gewachsene Schulunlust, besonders der älteren Schüler, die enormen Leistungsunterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern sowie die nicht zufrieden stellenden Ergebnisse der traditionellen Lern- und Unterrichtsformen und der damit verbundene Leidensdruck für alle Beteiligten. Die von uns befragten Schulen einigten sich im Rahmen ihrer Qualitätsentwicklung auf Konzepte der Lernkompetenzförderung. Wir haben die unterschiedlichen Wege der Entwicklungsarbeiten analysiert und kategorisiert. So vielfältig, wie die Anzahl der Schulen, die sich an der Netzwerkarbeit beteiligten, waren ihre Konzepte und Ansätze. Doch alle zielten auf Formen der impliziten und expliziten Befähigung der Schülerinnen und Schüler. 5.1
Schulen kommen indirekt über eine veränderte Lernkultur zur Förderung von Lernkompetenz
Eine solche implizite Förderstrategie wird vor allem von den Grundschulen bevorzugt. Die Schulen, die indirekt über eine veränderte Lernkultur zur Förderung von Lernkompetenz kommen, hatten oft schon eine Reihe kleinerer „Reforminseln“, d.h. einzelne engagierte und fortgebildete Lehrer/innen, die einschlägige Konzepte eingeführt hatten. Diese Schulen gehen in der Regel davon aus, dass eine veränderte Lernkultur, die auf selbstbestimmtes und selbstorganisiertes Lernen der Schüler/innen zielt und vielfältige Möglichkeiten des offenen und handlungsorientierten Unterrichts nutzt, fast zwangsläufig zur Förderung der Lernkompetenz beiträgt. In der Regel wird in diesen Schulen die Lernkompetenz nicht explizit als erstrangiges Leitziel formuliert, sondern den übrigen Aufgaben im Rahmen der Schulentwicklungsprozesse zugeordnet. Schulen mit einer vorwiegend impliziten Förderstrategie setzen vor allem darauf, dass sich die Reflexion der Lernprozesse „nebenbei“, gleichsam als „Nebenprodukt“ des Lernprozesses ergibt. Außerdem nutzen sie die im Lernprozess bei einzelnen Schülerinnen und Schüler situativ auftretenden Lernprobleme zur Vermittlung der benötigten Lern- und Arbeitstechniken. Dass eine solche Strategie nicht automatisch zur Förderung von Lernkompetenz führt, liegt nahe. Eine bewusste Reflexion und Evaluation der einzelnen Kompetenzen im Unterrichtsprozess ist unbedingt notwendig. An dieser Stelle gibt es einen weiteren Entwicklungsbedarf.
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Schulen streben auf direktem Weg eine explizite Förderung der Lernkompetenz an
Diesen Weg fanden wir vornehmlich im Bereich der Schulen der Sekundarstufe I u. II. Die Schulen hatten sich bereits mit dem Beginn ihrer Schulentwicklungsprozesse dafür entschieden, ein systematisches Kompetenztraining der Schüler als Grundlage ihrer fälligen Unterrichtsreform zu organisieren. Die Lernqualität und eine veränderte Lernkultur waren zwar auch hier im Blick. Doch frühzeitig hatte man die Notwendigkeit des ausdrücklichen Lernkompetenzerwerbs – oder eingeschränkter – des Methodenerwerbs der Schülerinnen und Schüler erkannt und als Voraussetzung für ein effektives Lernen eingeschätzt. Der Erwerb von Lernkompetenz ist in diesen Schulen ein explizites Leitziel, das auch im Schulprogramm Verankerung findet. Die Systematik ist nicht selten schon im Stundenplan ersichtlich: Neben separaten Trainingskursen und Arbeitsgemeinschaften fanden wir besondere Methodentage oder -wochen, häufig in Anlehnung an die Konzepte von Heinz Klippert. Eine bessere curriculare Einbettung erschien zunehmend erforderlich. Kontextarme Übungen erwiesen sich als weniger kreativ und motivierend; sie müssten durch kontextreiche Übungen ergänzt werden. Zu einer erfolgreicheren Förderung der Lernkompetenz gelangten diese Schulen besonders durch die Bindung ihres Methodentrainings an die Inhalte der jeweiligen Unterrichtsfächer. So arbeitet man hier bereits an schulinternen Lernkompetenz-Curricula und entwickelt entsprechende Unterrichtsmaterialien. Nicht zuletzt deshalb verfahren einige Schulen nach dem sogenannten „Leitfachansatz“: Dabei wird auf der Grundlage inhaltlicher Vereinbarungen im Kollegium bzw. eines speziellen schulinternen fächerübergreifenden und fächerverbindenden Methodencurriculums gearbeitet. Es gibt eine Lehrer/innenArbeitsgruppe, die mit der Erarbeitung der curricularen Standards und entsprechender Unterrichtsmaterialien sowie mit der Steuerung des Methodenlernens an der Schule beauftragt ist. Neben der Notwendigkeit der Erarbeitung derartiger Curricula wurde im zweiten Fall deutlich, dass die schulische Einbettung und Umsetzung der direkten Lernkompetenzförderung dann zu stärken oder zu ergänzen sind, wenn sie in Ansätze der impliziten Förderung integriert werden können. So wurde auch hier generell über eine Veränderung von Lernkulturen nachgedacht. Umgekehrt erkannten die Schulen, die auf indirektem Weg zur Lernkompetenzförderung kamen, dass die Schüler/innen mitunter die geforderten Methoden erst auf direktem Weg lernen mussten, um sie anwenden zu können (vgl. Czerwanski/Solzbacher/Vollstädt 2002: 106-116).11 11
Der dritte, deutlich seltener von uns festgestellte Weg schulischer Lernkompetenzförderung war eine Kombination der beiden zuvor gekennzeichneten. Wichtig scheint offenbar die Erfahrung,
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Gelingensbedingungen für Lernkompetenzförderung
Für alle hier beschriebenen Zugangsvarianten können aus den Ergebnissen der Recherche folgende Prinzipien für eine gelungene Lernkompetenzförderung abgeleitet werden, die in den befragten Schulen bereits mehr oder weniger gelebte Praxis sind: (1) eine schulinterne Strategie des Lernkompetenzerwerbs, (2) die Verfügbarkeit von Material, (3) die Lehrer/innenkooperation, (4) schulinterne Fortbildungen, (5) eine gelungene Gesamtkoordination durch Schulleitung und/oder Steuer gruppe, (6) die Unterstützung durch außerschulische Partner. Zu (1): Insgesamt sollte eine schulinterne Strategie davon ausgehen, dass Lernkompetenz nur an konkreten Inhalten erworben werden kann. Hier könnten Standards und Kerncurricula eine Hilfe sein. die beschriebenen Komponenten einer Hierarchisierung zugeführt werden müssen, d.h. Lernkompetenz muss schrittweise aufgebaut werden. Es bedarf also der Verständigung über Standards zwischen den Schulstufen (entlang der Lernbiographie von Schülerinnen und Schülern) und innerhalb der Schulen (z.B. zwischen den Fächern). Immer aber sollte bedacht werden, dass Schüler/innen einen ausreichenden individuellen Spielraum benötigen. Nicht selten setzten die Schulen die staatlichen Lehrpläne zugunsten gemeinsam erstellter schulischer Curricula teilweise außer Kraft. es der Befähigung der Schüler/innen zum zunehmend selbst gesteuerten Arbeiten bedarf. Das verlangt differenzierte Lernangebote, die sich tatsächlich in ihrer Inhaltlichkeit und ihrem Anspruchsniveau auch unterscheiden. Das stellte für die Befragten fachdidaktisch und schulorganisatorisch ein großes Problem dar. dass eine zunächst nur auf der Zielebene erfolgte Verständigung und Einigung stets eine organisatorische Verstetigung braucht, unabhängig davon, ob die Lernkompetenz der Schüler/innen implizit oder explizit gefördert werden soll. Die Schule muss konkret festlegen, auf welche Weise und in welchen Organisations- bzw. Lernformen die Förderung der Lernkompetenz realisiert werden soll. Mit Blick auf die Grundschule und die dort teilweise gesamtunterrichtlich angelegte Grundbildungsarbeit wäre zunächst zu fragen: Wie kann das kontextarme, d.h. direkte Methodenlernen im Sinne von Sockeltrainings (z.B. Computerlernen, Präsentation) gestaltet werden und wie kann es mit dem kontextreichen Methodenlernen einschließlich der Reflexion verbunden werden? Wie, in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt können in der Grundschule bereits fachspezifische Kompetenzen (z.B. Lesekompetenz oder Lernen durch Experimente im Sachunterricht) gelehrt bzw. erworben werden?
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als unverzichtbare Voraussetzungen für eine zielgerichtete Entwicklung die Reflexion der Lernprozesse und Lernergebnisse durch die Schüler/innen benötigt wird. Dabei kommt es nach Aussagen der Lehrkräfte vor allem darauf an, den Fortschritt mit Blick auf die Wege des Lernens zu hinterfragen. Trotz intensiver Bemühungen um eine ausgeprägte Feed-back Kultur sind die Lehrer/innen z.B. mit der Fähigkeit ihrer Schüler/innen zur Selbstreflexion noch nicht ganz zufrieden. Mehr und mehr greift man deshalb zu alternativen Formen der Leistungsermittlung und -bewertung bzw. Leistungsdokumentation im weitesten Sinne (z.B. zu Portfolios, Lerntagebüchern, Reflexionsbögen, Kompetenzrastern (rubrics) etc., die Transparenz und Akzeptanz schaffen helfen). alternative Leistungsbewertung mit individueller Lernberatung einhergehen sollte, um die Reflexionsfähigkeit zu unterstützen. Dass die Reflexionsfähigkeit der Schüler die Reflexionsfähigkeit von Lehrern voraussetzt, müsse ebenfalls betont werden, so die Befragten. Zu (2): Übereinstimmend legen die befragten Lehrkräfte großen Wert auf eine umfangreiche Materialsammlung, die für alle problemlos zugänglich ist und leicht ausgetauscht werden kann. Sie wird als Grundvoraussetzung für die offene Unterrichtsarbeit, für eine erfolgreiche Abstimmung und Kooperation im Kollegium und für die erforderliche Arbeitserleichterung im Unterrichtsalltag empfunden. Offenbar gelten die auf curricularen Vereinbarungen bezogenen und für alle Beteiligten verfügbaren Sammlungen von Unterrichtsmaterialien als geeignete Steuerungsinstrumente in diesen schulischen Bildungsprozessen. Tatsächlich fanden wir allerdings derartige Materialsammlungen nur an wenigen Schulen vor. Dieser Mangel wurde deutlich markiert und mit den hohen Kosten erklärt. Zu (3): Das bisher Beschriebene macht deutlich, dass Wesentliches davon abhängt, in welchem Maße die Kollegien miteinander kooperieren und die Förderung von Lernkompetenz koordinieren. Die inhaltlichen und didaktisch-methodischen Absprachen sollten auf verschiedenen Ebenen der Schule getroffen, eingehalten und gemeinsam reflektiert und auch evaluiert werden, darüber sind sich die Befragten einig. Für diese kollegialen Vereinbarungsprozesse gibt es an den untersuchten Schulen häufig fest installierte Zeitfenster. Das trifft aber weniger auf die Grundschulen zu. Einerseits scheinen die kollegialen Verständigungsprozesse und die Organisationsaufgaben in Grundschulen sowohl wegen des dort geltenden Klassenlehrer- und gemäßigten Fachlehrerprinzips als auch wegen der geringen Schulgröße wesentlich einfacher zu sein, als in Schulen der Sekundarstufen I und II. Vieles liegt in Klassenlehrerhand, das Arbeiten wird in Stundenblöcken und Lernbereichen organisiert etc. Andererseits fällt deswegen in Grundschulen das systematische an Fachdisziplinen orientierte Arbeiten und
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die „Aufgabenteilung“ schwerer, d.h. alle müssen alles machen – sowohl fachlich als auch organisatorisch. Zu (4): Schulinterne Fortbildungen werden als besonders effektiv empfunden, weil sie an die unmittelbare Situation vor Ort und die Bedürfnisse der Lehrkräfte anknüpfen und eine gemeinsame Verständigungsbasis im Kollegium schaffen. Problematischer erscheint es in allen Schulformen, Einzelfortbildungen in die Arbeit des gesamten Kollegiums „einzuspeisen“. So bestätigen unsere Recherchen, dass der bewusste Entschluss zu einer systematischeren Förderung der Lernkompetenz fast immer mit einem Konzept der schulinternen Fortbildung gekoppelt ist. Zu (5): Es wurde mehrfach davon berichtet, dass sich sichtbare Erfolge in der Umsetzung der Förderungskonzepte erst nach und nach einstellen, weil diese Prozesse besonderes Engagement benötigen, nur über längere Zeit zum Erfolg führen und nach Möglichkeit alle Lehrkräfte einer Schule einbeziehen sollten. Das weist auf die vorletzte Gelingensbedingung hin: Das bisher Dargestellte verlangt auf allen Ebenen der Förderung ein starkes Leitungsteam mit der Schulleitung an der Spitze. Daneben habe sich die Einrichtung einer Steuergruppe bewährt. Gleichzeitig gelte es, auch Eltern- und Schülervertreter in die Koordinations- und Steuerungsprozesse und in die Qualitätsentwicklung insgesamt mit einzubeziehen.12 Zudem sollte die Schulverwaltung und Schulaufsicht die Förderung von Lernkompetenz wohlwollend begleiten und für eine bestimmte Zeit einen „Schonraum“ gewähren oder Schulversuche unterstützen. Diese Ebene der Zusammenarbeit wurde als besonders defizitär und die Arbeit behindernd beschrieben. Zu (6): Die Unterstützung durch außerschulische Partner (Betriebe, kommunale Einrichtungen, Bibliotheken, Universitäten, Vereine) wurde uns als unbedingt lernkompetenzfördernd zurückgemeldet. Durch diese Form von Öffnung würden innerhalb des Unterrichts reale Handlungssituationen geschaffen, in denen Lernkompetenz angewendet werden kann und muss. Andere Untersuchungen bestätigen dies (vgl. Solzbacher/Minderop 2005). Es gibt zurzeit noch wenige Netzwerke, an denen Grundschulen maßgeblich beteiligt sind. Im Rahmen der Öffnung des Unterrichts und der Kooperation mit außerschulischen Lernorten konnten die Grundschulen in diesem Bereich aber bereits zahlreiche Erfahrungen sammeln (vgl. Czerwanski/Solzbacher/Vollstädt 2002: 117-135).
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Inwieweit man Elternhäuser miteinbeziehen kann, wird aktuell bei der Einführung der Bildungsstandards ebenfalls kritisch diskutiert und z.T. als „utopisch“ betrachtet (vgl. Herrmann 2003).
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Lernkompetenzförderung als Forschungs- und Entwicklungsaufgabe: Offene Fragen
Betrachten wir die Forschungsbedarfe, so fällt auf, dass die Kompetenzdebatte zurzeit stark von der Psychologie dominiert wird. In welchen Bereichen muss die Pädagogik (besonders die Schul- und Unterrichtsforschung) hier stärker tätig werden? Zentral scheint die Frage nach Kompetenzmodellen zu sein: Welche Kompetenzstufenmodelle sind sinnvoll? Derzeitig liegen empirisch abgesicherte Kompetenzstufenmodelle nur für einzelne Bereiche und Schülerpopulationen vor. Wie müssten Kompetenzmodelle aussehen, die z.B. die Entwicklung über die Jahrgangsstufen hinweg beschreiben können? Was in der Grundschule als Problemlöseaufgabe angesehen wird, könnte in der 9. Jahrgangsstufe eher als eine Routineaufgabe gelten und in der Sekundarstufe II als altersbezogenes Denken beschrieben werden (vgl. Klieme 2004: 13; Herrmann 2003: 634). Wie müssen Kompetenz-Operationalisierungen aussehen und wie müssen sie erarbeitet werden, damit sich daraus eine Richtschnur für Unterrichtshandeln von Lehrerinnen und Lehrern (aber auch von Schülerinnen und Schülern) ergibt?13 Sind Mindest- und Maximalkataloge vorstellbar? Dürfen oder müssen diese gar von Einzelschulen oder einzelnen Lehrkräften oder Teams modifizierbar sein, wie Kiper, Meyer u.a. unter Verweis auf eine alte Forderung von Christine Möller zur Lehrplanarbeit fordern (vgl. Kiper u.a. 2004: 32 f.)? Wie kann und muss eine solche Modifizierung aussehen? Bedenkenswert erscheint ebenfalls ein Einwand von Seiten der Bildungsgangdidaktik: Kompetenzkataloge ergeben möglicherweise „Sinn“ für die Lehrer/innen und beeinflussen deren Unterrichtshandeln. Das heißt indessen noch nicht, dass sich dadurch auch das Lernhandeln der Schüler/innen verändert. Aber letztlich geht es doch um Lernprozesse. Die zentralen Bereiche der Kompetenzentwicklung des Einzelnen sind möglicherweise andere als die des Faches. In diesem Zusammenhang wird z.B. von Kunze kritisch darauf hingewiesen, dass Schüler/innen mit ihrer Lebenswelt und ihren Bedürfnissen als „Kategorie“ in den Kompetenzkatalogen nicht auftauchen. Sonst müssten Kategorien wie „subjektives Interesse“ etc. in die Kataloge mit aufgenommen werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob und wie Schüler/innen an der Entwicklung von Kompetenzkatalogen beteiligt werden sollten. Würde dies im Hinblick auf Transparenz nach beiden Seiten nicht auch zu einem Kompetenzzuwachs führen können (vgl. Kunze 2005)? Als Schlussfolgerung daraus führt Kunze in Anleh13
Die Bildungsstandards sind z.B. noch sehr abstrakt und beispielhaft und haben nur einen sehr indirekten Bezug zum Unterricht.
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nung an Uwe Hericks an, dass dazu „authentische Situationen“ im Unterricht gehören würden. Darunter versteht sie wie Hericks Unterrichtsszenen, die für Schüler/innen hohe Bedeutsamkeit haben, weil sie ihre selbst gesetzten, eigenen Ziele anstreben. Dass Kinder intelligentes Wissen auch zu nutzen wissen, hängt, wie wir aus der Lernforschung wissen, wesentlich von der sachlogischen Systematik und der Art des Wissenserwerbs etwa in bestimmten situativen Kontexten ab. Inwieweit kann und muss man also im Hinblick auf Kompetenzmodelle einen ganz anderen Blickwinkel einnehmen als den der Standardsetzung? Bildung ist ein aktiver Prozess. Wie kann dies Kompetenzkataloge u.U. verändern (vgl. Kunze 2005)? Wie kann man Kompetenzen, besonders fächerübergreifende, messen bzw. feststellen? Und welche kann man überhaupt messen? Bildungsstandards und ihre Messung beziehen sich auf den „Output“, als dem unmittelbar feststellbaren Ergebnis eines Lernprozesses (die Performanz). Aber Kompetenzorientierung insgesamt bezieht sich wie dargestellt auf den „Outcome“, als der längerfristigen Prägung und Befähigung des Lerners im Hinblick auf zukünftige Aufgaben. Diesen Outcome bzw. diese Kompetenz kann man nicht messen. Hier gilt es eher schulformspezifische Diagnose- und Förderinstrumente zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln. In diesem Gebiet besteht erheblicher Forschungsbedarf (vgl. Herrmann 2003). Ebenso gilt es Konzepte zu Lernberatung und Reflexion schulformspezifisch zu entwickeln und zu erproben. Pädagogische Forschung muss zudem die Schulwirkungsforschung bzw. die Evaluationsforschung in diesem Bereich vorantreiben. Denn die Frage, ob das, was die Lehrkräfte an professionellem Know-how in die schulische Arbeit einbringen, tatsächlich auch zu den gewünschten Ergebnissen führt, fand in den von uns untersuchten Schulen und findet generell auch in der pädagogischen Wissenschaft gegenwärtig eher wenig Interesse. Das mag sicher auch daran liegen, dass es zurzeit keine zufriedenstellenden Kompetenzmodelle gibt. Eher hängt es aber vermutlich damit zusammen, dass es zu wenige oder naive Vorstellungen darüber gibt, wie „Bildungsstandards“ zu Unterrichtsstandards werden (vgl. Meyer/Klapper 2005). In diese Debatte gehört auch der nächste Einwand: Auf der einen Seite weisen Untersuchungen darauf hin, dass für die Förderung von Kompetenzen (wie überhaupt für die Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben) eine höhere Selbststeuerung vorteilhaft ist, also ein höheres Maß an Individualisierung. Auf der anderen Seite ist Schule strukturell und von ihrem Selbstverständnis her nicht auf individuellen Unterricht, sondern auf die Unterrichtung von Gruppen ausgerichtet. Ist die Forderung nach vermehrter Individualisierung durch neue LehrLernkulturen nicht generell ein Mythos und damit gar, wie Kunze anmerkt, eine Zumutung (vgl. Speck-Hamdan 2004, Kunze 2005)?
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Weiterhin muss von Seiten der Bildungspolitik und wo es sinnvoll erscheint auch von Seiten der Schulbegleitforschung gefragt werden, wie profund und schnell Kollegien in der Lage sind, nicht nur an der Konkretisierung von Kompetenzen zu arbeiten, sondern auch Strategien zur Umsetzung zu entwickeln, um individuell optimale Fördermöglichkeiten bereitstellen zu können. Das betrifft die Frage der Materialentwicklung, der, wie betont, eine hohe Bedeutung beigemessen wird. Zu fragen ist darüber hinaus: Welche Unterstützersysteme müssen etwa zur systematischen Fortbildung für die Verbesserung der Diagnosefähigkeit von Lehrkräften (als wichtiger Grundvoraussetzung von Kompetenzförderung) oder in Fragen (fach)didaktischer Lehrerkompetenz oder im Schulentwicklungsmanagement bereit gestellt werden (vgl. Weinert 2001: 83f.)? Müssen derartige Reformen durch die konkreten Situationen vor Ort, d.h. durch die Probleme und Fragestellungen der Einzelschule motiviert sein, um zu einer pädagogischen Umorientierung des Lehrpersonals zu führen (wie z.B. in unserer Untersuchung)? Anders gefragt: Was müssen Top-down-Verfahren Spezifisches leisten, was die Schulen selbst nicht leisten können (z.B. Bildungsstandards oder kompetenzorientierte Curricula) und was muss von der Schule selbst erarbeitet und geleistet werden? Michael Schratz und Ulrike Steiner-Löfflers Forschungen (vgl. Schratz u.a. 1997: 22ff.) belegen, dass Bottom-up motivierte Prozesse (also z.B. durch die Anziehungskraft einer erstrebenswerten Sache) die weitaus größeren Erfolgschancen versprechen. Schulentwicklung wird aber natürlich immer von Top-down Verfahren ebenso berührt. Betrachtet man die skandinavischen Länder, so hat man ebenfalls den Eindruck, dass den schuleigenen Curricula eine wichtige Rolle beigemessen wird. Wie können diese im Konzert mit Standards und Kerncurricula eingesetzt werden? Welche pädagogischen und organisatorischen Freiräume erhalten Schulen zukünftig für die Einführung hierfür notwendiger Reformen? Wie gestaltet man die Übergänge zwischen den Schulformen? Auf der Grundlage der oben dargestellten Untersuchung „Förderung von Lernkompetenz in der Schule“ wird seit März 2004 von einem Oldenburger Forschungsteam im Rahmen eines BLK-Versuchs untersucht, welche Erwartungen die Abnehmergruppen an die Bildungsarbeit der Grundschule haben. Neben differenzierten Informationen zu den Sach-, Selbst- und Sozialkompetenzansprüchen der einzelnen Schulen wird u.a. die Bedeutung von Noten in den Übergangsempfehlungen erörtert. Was muss die Grundschule leisten, was erwarten die weiterführenden Schulen und worauf meinen sie aufbauen zu können? Es wird deutlich, dass es hier noch viel Absprache- und Abstimmungsbedarf gibt (vgl. Solzbacher/Stehno 2005; Stehno u.a. 2005). Wie gestaltet man Kompetenzförderung in altersgemischten Klassen, z.B. in der Eingangsstufe?
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Und schließlich: Welche Bedeutung haben die unterschiedlich ausgeprägten Kompetenzen zukünftig, z.B. für Schullaufbahnempfehlungen? Wo werden zu diesem Zweck die Kompetenzstufen festgehalten? Sicher nicht in den Fachzensuren, hier bedarf es einer Reform der Leistungsbewertung bzw. -dokumentation. Welche Kompetenzen sind für welche Schulformen Mindestvoraussetzung? Im Bereich der (Lern-) Kompetenzförderung gibt es also in vielerlei Hinsicht Forschungs-, Entwicklungs- und Reflexionsbedarf. Denn, wie Weinert warnte: „Die Gefahr ist groß, dass alle in unserer Gesellschaft sich einig sind, den Erwerb von Schlüsselqualifikationen [gleiches gilt für Kompetenzen, d. A.] zu verlangen, dass aber allzu wenige hart daran arbeiten, den notwendigen Schritt vom Wünschbaren zum Machbaren zu machen“ (Weinert 1999: 41). Literatur Baumert, Jürgen u.a. (2001): Kapitel 1. Untersuchungsgegenstand, Fragestellungen und technische Grundlagen der Studie. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik im Vergleich. Opladen: Leske + Budrich, 15-68. Blankertz, Herwig (1969): Theorien und Modelle der Didaktik. München: Juventa. Czerwanski, Annette/Solzbacher, Claudia/Vollstädt, Witlof (Hrsg.) (2002): Förderung von Lernkompetenz in der Schule, (Bd. 1) und 2004 (Bd.2). Gütersloh: Verl. Bertelsmannstiftung. Herrmann, Ulrich (2003): „Bildungsstandards“ – Erwartungen und Bedingungen, Grenzen und Chancen. In: Zeitschrift für Pädagogik, 5, 625-639. Kiper, Hanna/Meyer, Hilbert/Mischke, Wolfgang/Wester, Franz (2004): Qualitätsentwicklung in Unterricht und Schule. Das Oldenburger Konzept. Oldenburg: DiZ. Klafki, Wolfgang (1967): Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim und Basel: Beltz. Klieme, Eckhard (2004): Was sind Kompetenzen und wie lassen sie sich messen? In: Pädagogik, 6, 10-13. Kommission der Europäischen Gemeinschaft (Hrsg.) (2000): Memorandum über Lebenslanges Lernen. Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen, Brüssel. Kunze, Ingrid (2005): Unterricht zwischen Individualisierung und Standardisierung. Eine Problematisierung aus bildungsgangdidaktischer Perspektive. Unveröffentlichter Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Wissen, Können, Handeln“ am 14.07.2005. Universität Osnabrück. Mertens, Dieter (1974): Schlüsselqualifikationen. Thesen zur Schulung für eine moderne Gesellschaft, Mitt Ab 4, 36–45. Meyer, Hilbert/Klapper, Andrea (2005): Unterrichtsstandards für ein kompetenzorientiertes Lehren und Lernen. Skript zum Vortrag auf der 14. Jahrestagung der DGfE - Kommission „Grundschulforschung und Pädagogik der Primarstufe“. Dortmund 21.9.05. Vortrag veröffentlicht in diesem Band. Schratz, Michael/Steiner-Löffler, Ulrike (1997): Der Innovationswürfel. In: Journal für Schulentwicklung 1. Solzbacher, Claudia (2001): Zwischen Verhalten, Arbeitstugenden und Kompetenzen: Kopfnoten und die Bewertung von Schlüsselqualifikationen. In: Solzbacher, Claudia/Freitag, Christine (Hrsg): Anpassen, verändern, abschaffen? Schulische Leistungsbewertung in der Diskussion. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 77-106.
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Solzbacher, Claudia/Stehno, Sabine (2005): Lernkompetenzförderung – eine Aufgabe für alle Schulstufen. In: Eckert, Ela/Fichten, Wolfgang (Hrsg.): Schulbegleitforschung. Erwartungen, Ergebnisse, Wirkungen. Münster und New York: Waxmann, 223-242. Solzbacher, Claudia/Minderop, Dorothea (Hrsg.) (2005): Qualitätsentwicklung durch Netzwerke. SchulVerwaltung spezial. Zeitschrift für SchulLeitung, SchulAufsicht und SchulKultur, Sonderausgabe Nr. 2. Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.) (2004): Individuelle Förderung. Alte und neue Herausforderungen. SchulVerwaltung spezial. Zeitschrift für SchulLeitung, SchulAufsicht und SchulKultur 2. Stehno, Sabine/Becker, Marianne/Böckmann, Nadine/Busch, Maike/Hartwiger, Anja/Kleenlof, Annabel/Lindemann, Jan (2005): Lernkompetenzerwartungen von Grund- und SekundarschulLehrkräften. Oldenburger Vordrucke 513. Oldenburg. Weinert, Franz E. (1999): Begabung und Lernen: Zur Entwicklung geistiger Leistungsunterschiede. In: Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.): Max-Planck-Gesellschaft Jahrbuch 1999. Göttingen. 35-48. Weinert, Franz E. (Hrsg.) (2001): Leistungsmessung in Schulen. Weinheim, Basel: Beltz. Weinert, Franz E. (2001): Qualifikation und Unterricht zwischen gesellschaftlichen Notwendigkeiten, pädagogischen Visionen und psychologischen Möglichkeiten. In: Melzer, Wolfgang/ Sandfuchs, Uwe (Hrsg.) (2001): Was Schule leistet. Funktionen und Aufgaben von Schule. Weinheim: Juventa-Verlag, 65-86.
Selbstregulationen von Kindern Frank Hellmich & Stephan Wernke
Ein wesentliches Ziel der Grundschularbeit ist, Schülerinnen und Schüler in den ersten Schuljahren zu befähigen, das Lernen selbst `in die Hand´ zu nehmen, sich selbstständig Ziele bei der Anfertigung von Aufgaben zu setzen und Problemstellungen im Unterricht auch dann erfolgssicher anzugehen, wenn auf den ersten Blick keine Lösungsideen parat sind. Während unter konzeptionellem, d.h. entwicklungsbezogenem Aspekt viele verschiedene Ideen vorhanden sind, wie Selbstregulationen bei Kindern in den einzelnen domänenspezifischen Unterrichtsfächern aufgebaut und entwickelt werden können, mangelt es zurzeit noch erheblich an empirischen Forschungsbeiträgen. Aus dem Bereich der empirischen Lehr- und Lernforschung ist bislang weitgehend ungeklärt, wie und unter welchen Bedingungen Selbstregulationen von Kindern im Grundschulunterricht aufgebaut werden können. Der vorliegende Beitrag fasst Ergebnisse aus einer empirischen Studie zusammen, an der insgesamt N=200 Schülerinnen und Schüler zu Beginn des fünften Schuljahres zu ihren selbstregulativen Kompetenzen im Mathematikunterricht befragt worden sind. Ziel der Untersuchung ist es gewesen, ein Fragebogeninstrument zu entwerfen, das in (nachfolgenden) experimentellen Studien zur Erfassung selbstregulativer Fähigkeiten eingesetzt werden kann. Die Befunde zeigen im Detail Möglichkeiten und Grenzen von Fragebogenverfahren zu selbstregulativen Kompetenzen bei sehr jungen Schülerinnen und Schülern. 1
Theoretischer Hintergrund
Unter Selbstregulation versteht man unter metakognitivem und motivationalem Aspekt all diejenigen Fähigkeiten, die auf der Verhaltensebene aktiv in den eigenen Lernprozess eingreifen (vgl. Gürtler 2003: 6). Eine sehr präzise, dieses Verständnis von selbstreguliertem Lernen stützende Definition bietet Schreiber (1998: 12): „Lernen kann dann als selbstreguliert beschrieben werden, wenn der
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Lerner seine Lernhandlung >selbst reguliert<, d.h. unter Einbeziehung von Informationen über seinen augenblicklichen Ist-Zustand Maßnahmen ergreift, die sein Lernen auf einen Soll-Zustand ausrichten“. Ein theoretisches Modell, das diese Überlegungen in Hinblick auf selbstreguliertes Lernen im Detail ausdifferenziert und für die Unterrichtspraxis in besonderer Weise handhabbar macht, ist das Modell von Boekaerts (1999). Folgt man diesem Modell, so werden unter selbstreguliertem Lernen diejenigen Kompetenzen gefasst, die (a) die Regulation des Selbst, (b) die Regulation des Verarbeitungsmodus und (c) die Regulation des Lernprozesses, d.h. metakognitive Aspekte des Lernens, betreffen. Die Regulation des Verarbeitungsmodus ist dabei gekennzeichnet durch die Wahl kognitiver Strategien der Informationsverarbeitung sowie durch das Wissen um deren Wert und Nutzen. Strategien sind dabei entweder bereichsspezifisch oder eher allgemeiner Natur. So werden Kinder beispielsweise in den einzelnen Unterrichtsfächern verschiedene Strategien parat haben, um spezifische Problemstellungen adäquat bearbeiten zu können. Eher allgemeine Strategien betreffen hingegen die Art und Weise, wie Schülerinnen und Schüler sich zum Beispiel Unterrichtsinhalte vor einer Klassenarbeit einprägen oder sich gedanklich Stützen schaffen. Strategien werden dabei häufig unbewusst eingesetzt, sie sind in der Regel automatisiert. Artelt, Demmrich und Baumert (2001: 272) erklären in diesem Zusammenhang: „Unter einer Strategie in diesem Sinne versteht man eine prinzipiell bewusstseinsfähige, häufig aber automatisierte Handlungsfolge, die unter bestimmten situativen Bedingungen aus dem Repertoire abgerufen und situationsadäquat eingesetzt wird (…). Idealerweise steht ein breites Repertoire an Strategien zur Verfügung, aus dem Lernende situationsangemessen auswählen“. Von einander unterscheiden lassen sich gemäß Boekaerts (1999) zwei verschiedene kognitive Strategien, die von Kindern aktiviert werden. Es handelt sich dabei um Elaborations- und Wiederholungsstrategien. Elaborationsstrategien werden von Lernenden genutzt, wenn es darum geht, Lerngegenstände zu verstehen und Bedeutungen dessen, was im Unterricht gelernt wird, zu explizieren. Für das Unterrichtsfach Mathematik bedeutet dies, dass Kinder bei der Bearbeitung von Mathematikaufgaben beispielsweise Formeln und Regeln in Hinblick auf das Verständnis hinterfragen oder Verknüpfungen zu bereits behandelten Aufgabenformaten herstellen. Wiederholungsstrategien werden dann eingesetzt, wenn für Lernende weniger das Verständnis der Unterrichtsinhalte zentral ist und eher darauf fokussiert wird, den Unterrichtsstoff möglichst präzise zu speichern, d.h. auswendig zu lernen. Auf den Mathematikunterricht bezogen würden diese Strategien vornehmlich dann bei Kindern eingesetzt werden, wenn es beispielsweise vor Klassenarbeiten gilt, sich möglichst rasch mathematische Formeln einzuprägen, um sie am nächsten Tag in einer Prüfungssituation parat zu haben.
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Unter der Regulation des Lernprozesses werden in der Literatur Strategien unter metakognitivem Aspekt verstanden. Hierzu zählen die Planung des Lernziels und der Mittel, die zur Zielerreichung notwendig sind, die Überwachung, z.B. des Lernfortschritts, die Steuerung, etwa durch Veränderung der Mittel, sowie die Evaluation, d.h. die Bewertung der Zielerreichung. Boekaerts (1999) nennt diese Facetten selbstregulierten Lernens Kontrollstrategien. Im Deutschunterricht sind metakognitive Strategien anzuwenden, wenn es zum Beispiel darum geht, literarische Texte oder Schriften, die den Erwerb und Gebrauch von Informationen stützen, zu erarbeiten. Um das Verständnis beim Lesen zu kontrollieren, kann es für verschiedene Kinder erleichternd sein, im Text Randnotizen anzufertigen, mit Textmarkern zu arbeiten oder kurze Zusammenfassungen einzelner Passagen zu schreiben. Unter der Regulation des Selbst wird schließlich die Wahl von Zielen und Ressourcen verstanden. Dies betrifft im Besonderen motivationale Faktoren bei Lehr- und Lernprozessen, nämlich die Fähigkeiten von Lernenden, „sich selbstständig Ziele zu setzen, sich selbst zu motivieren und Erfolge und Misserfolge angemessen zu verarbeiten“ (Artelt/Demmrich/Baumert 2001: 273). Im Detail bedeutet dies, bei der Bearbeitung von Aufgaben- oder Problemstellungen, beim Zuhören von Lehrerinnen- oder Lehrervorträgen oder längeren Klassengesprächen geduldig weiterzuarbeiten oder zuzuhören, auch wenn nicht alles auf Anhieb verstanden wird. Als weitere Voraussetzungen lassen sich unter der `Regulation des Selbst´ Mechanismen fassen, die das Aufrechterhalten der Motivation unter intrinsischem und/oder extrinsischem Aspekt, die Abschirmung von Lernvorgängen gegen konkurrierende Handlungsintentionen, d.h. volitionale Aspekte beim Lernen, die Misserfolgsbewältigung sowie Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und das Anstrengungsmanagement betreffen. Folgt man Artelt, Demmrich und Baumert (2001: 273), so stellen diese Aspekte Voraussetzungen dafür dar, „dass Lernprozesse überhaupt begonnen und ausgeführt werden“. Besonders Erfolge und Misserfolge bei zeitlich vorausgegangenen Lehr- und Lernsituationen gelten dabei im Bereich der Motivationsforschung als wichtige Informationsquellen für Zieladaptionen bei Lehr- und Lernprozessen. 2
Empirische Studien zur Förderung selbstregulierter Kompetenzen
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist aus dem Bereich der empirischen Lehr- und Lernforschung weitgehend unbeantwortet, inwiefern Selbstregulationen von Kindern im Grundschulunterricht gefördert werden können. Eine Studie jüngeren Datums, die im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Schwerpunktprogramms `Bildungsqualität von Schule´
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(BIQUA) durchgeführt worden ist, gibt besonders im Hinblick auf Fördermaßnahmen im Bereich der Selbstregulationen bei Schülerinnen und Schülern im Sekundarstufenalter Auskunft: Gürtler, Perels, Schmitz und Bruder (2002) berichten über eine Untersuchung, an der insgesamt 249 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 8 beteiligt gewesen sind. Im Rahmen eines dreifaktoriellen Versuchsplans wurden die Schülerinnen und Schüler verschiedenen Lerngruppen zugeordnet. Die einzelnen Gruppen bekamen dabei jeweils variiert verschiedene Trainings im Bereich des mathematischen Problemlösens (+/-), der Selbstregulation (+/-) und des Selbst-Monitorings (+/-). Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass sowohl Selbstregulationsstrategien als auch Problemlösekompetenzen bei Schülerinnen und Schülern gefördert werden können. Dabei zeigte sich im Detail, dass die Effekte dann besonders hoch waren, wenn beide Trainings, d.h. das Selbstregulationstraining und das Problemlösetraining, kombiniert wurden. Das Training im Bereich der Selbstregulation wurde realisiert, indem Schülerinnen und Schüler entdeckend lernten, selbstständige Übungsphasen durchführten und gezielt individuelles Feedback seitens der Lehrkräfte bekamen. Neben selbstregulativen Momenten wie Zielen, Volitionen, Motivationen, Ergebniseinschätzungen und Reflexionen, wurden die Schülerinnen und Schüler im Bereich mathematischer Strategien unterwiesen. Der letzte Aspekt wurde durch konkrete Unterweisungen wie „Vorwärts- und Rückwärtsarbeiten, Invarianzprinzip und heuristische Hilfsmittel“ (Gürtler/Perels/Schmitz/Bruder 2003: 230) realisiert. Zusammenfassend sollten die Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Unterrichtssequenzen lernen, bei Aufgabenstellungen das bisherige Vorgehen zu reflektieren, Aufgabenanalysen und Strategieplanungen vorzunehmen, zielgerichtet zu arbeiten und Lernvorgänge gegen konkurrierende Handlungsintentionen abzuschirmen. Darüber hinaus sollten sie erkennen, „dass sich Gedanken und Einstellungen auf die Lernleistung auswirken“ (Gürtler/ Perels/Schmitz/Bruder 2002: 231) und dass eigene Fehler bei Problemlöseprozessen häufig darin begründet sind, dass Zielsetzungen und Strategien nicht richtig ausgewählt wurden und/oder eine zu geringe Anstrengungsbereitschaft vorhanden gewesen ist. 3
Forschungsdesiderata
Im Rahmen der Unterrichtsforschung liegen bisweilen keine konkreten konzeptionellen Entwürfe vor, um Kinder im Grundschulalter im Bereich des selbstregulierten Lernens fördern zu können. Theoretisch plausibel ist, dass der Lernerfolg auch bei jungen Kindern durch selbstregulative Fähigkeiten gesteigert werden kann. Für die gegenwärtige Unterrichtsforschung wäre es wünschenswert,
Selbstregulationen von Kindern
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wenn konzeptionelle Ideen zu Trainings- oder Förderprogrammen im Bereich des selbstregulierten Lernens entwickelt werden würden, die anschließend im Rahmen experimenteller Studien in Hinblick auf ihre Effektivität geprüft werden könnten, um sie darauf folgend ggf. in die Unterrichtspraxis zu implementieren. Hierfür wäre es zusätzlich notwendig, Skalen zur Erfassung selbstregulierten Lernens zu konzipieren und sie empirisch bezüglich ihrer Messgenauigkeit zu evaluieren (vgl. Hellmich 2005a; Wernke 2005). An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag an. 4
Empirische Studie
4.1
Methodische Aspekte der Untersuchung
Für die Untersuchung wurden Skalen entwickelt, die – gemäß dem theoretischen Modell von Boekaerts (1999) – Aspekte selbstregulierten Lernens betreffen. Im Detail wurden Skalen zu den drei Bereichen (1) Regulation des Selbst, (2) Regulation des Lernprozesses und (3) Regulation des Verarbeitungsmodus konzipiert. Regulation des Selbst: Für die Erfassung dieses Aspekts wurden verschiedene Subskalen formuliert: eine Skala zum Selbstkonzept mathematischer Fähigkeiten („Ich bin ziemlich gut in Mathe.“), zwei Skalen zur Aufrechterhaltung der Motivation unter extrinsischem und intrinsischem Aspekt („In Mathe will ich möglichst viel lernen.“/ „In Mathe will ich gute Noten haben, damit meine Eltern stolz auf mich sind.“), eine Subskala zur Volition („In Mathe fällt es mir schwer, bei der Sache zu bleiben.“), eine Subskala zur Misserfolgsbewältigung („Wenn ich in Mathe Fehler mache, habe ich keine Lust mehr weiterzumachen.“) und eine weitere zu Selbstwirksamkeitsüberzeugungen („Wenn ich für Mathe übe, bin ich auch gut.“). Regulation des Verarbeitungsmodus: Für diesen Aspekt selbstregulierten Lernens wurden zwei Subskalen konzipiert: eine zur Erfassung der Verfügbarkeit von Elaborationsstrategien („Wenn wir in Mathe etwas Neues lernen, überlege ich mir, wie der neue Stoff mit dem zusammenhängt, was ich schon gelernt habe.“) und eine zum Gebrauch von Wiederholungsstrategien („Um mir den Lösungsweg einzuprägen, rechne ich die Matheaufgabe immer wieder durch.“).
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Frank Hellmich & Stephan Wernke
Regulation des Lernprozesses: Zur Erfassung der Regulation des Lernprozesses wurden Subskalen zur Planung („Ich mache mir einen Zeitplan, wann und was ich lernen will.“), zur Überwachung („In Mathe stelle ich mir selbst Fragen zu Aufgaben, um sicher zu gehen, dass ich alles verstanden habe.“) und zu Kontrollstrategien („Wenn ich etwas nicht verstanden habe, gehe ich es noch mal langsam durch.“) bei Lernprozessen formuliert. Als Antwortkategorien wurde eine fünfstufige Skala – von „stimmt überhaupt nicht“ bis „stimmt genau“ – vorgegeben. Das Datenmaterial wurde nach den Befragungen durch eine Faktorenanalyse geprüft. Abschließend wurden die Subskalen zusätzlich einer Reliabilitätsanalyse unterzogen und auf Eindimensionalität geprüft. 4.2
Stichprobe
An der Untersuchung sind insgesamt N=200 Schülerinnen und Schüler der Bildungsgänge `Haupt- und Realschule´ eines norddeutschen Schulzentrums (Jahrgangsstufe 5) beteiligt gewesen. Im Detail haben 105 Mädchen und 95 Jungen an der Befragung teilgenommen. 4.3
Durchführung der Untersuchung
Die Untersuchung wurde zu Beginn des ersten Schulhalbjahres in Klasse 5 durchgeführt. Die Befragungen haben jeweils im Klassenverband stattgefunden. Die Durchführungsobjektivität wurde dadurch gewährleistet, dass einer der beiden Autoren einheitlich die Befragungen nach einem zuvor fixierten Leitfaden durchgeführt hat. 4.4
Ergebnisse der empirischen Studie
Die Ergebnisse der Faktoren- und Reliabilitätsanalysen verdeutlichen, dass einige der theoretisch angenommenen Skalen zur Erfassung selbstregulativer Kompetenzen bestätigt werden können. Dies betrifft im Besonderen Subskalen, die zuvor dem Aspekt `Regulation des Selbst´ zugeordnet worden waren: Selbstkonzept mathematischer Fähigkeiten (Į=.89), intrinsische Motivation (Į=.89), extrinsische Motivation (Į=.80), Volition (Į=.79), Misserfolgsbewältigung
Selbstregulationen von Kindern
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(Į=.62) und Selbstwirksamkeit (Į=.77). Im Vergleich hierzu konnten jeweils die Subskalen zur Erfassung der beiden Aspekte `Regulation des Verarbeitungsmodus´ und `Regulation des Lernprozesses´ nicht bestätigt werden. Faktorenanalysen verdeutlichten eindimensionale Designs. Für beide Gesamtskalen liegen gute bis sehr gute Reliabilitätswerte vor (Gesamtskala `Regulation des Selbst´, Į=.88; Gesamtskala `Regulation des Lernprozesses’, Į=.90). Auf der Basis dieser Auswertungen wurden zusätzlich Ergebnisse unter deskriptivem Aspekt ermittelt: Im Detail verdeutlichen die Befunde, dass die meisten (ca. 70%) der befragten Kinder über nur negativ geprägte Selbstkonzepte ihrer mathematischen Fähigkeiten verfügen. Ebenso berichtet ein Großteil der Schülerinnen und Schüler über geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (ca. 70%), Schwierigkeiten bei der Verarbeitung von Misserfolgen (ca. 95%), geringe Motivation (ca. 75%) und Probleme, sich beim Lernen gegenüber konkurrierenden Handlungsintentionen abzuschirmen (ca. 80%). Darüber hinaus berichten die meisten Kinder, dass sie keine Strategien beim Lernen einsetzen (ca. 70%) oder ihre Lernprozesse bewusst planen, überwachen und kontrollieren (ca. 90%). Bei einer geschlechterdifferenten Betrachtung der Ergebnisse wird deutlich, dass sich Mädchen und Jungen bei den meisten der hier betrachteten Aspekte selbstregulierten Lernens nicht voneinander unterscheiden. Signifikante Unterschiede liegen – zugunsten der Mädchen – lediglich für die Subskalen `Selbstkonzept mathematischer Fähigkeiten´ (t=3,5; df=194; pd.001) und `Selbstwirksamkeitsüberzeugungen´ (t=3,6; df=196; pd.001) vor. Die bei der Untersuchung befragten Mädchen zeigen höher ausgeprägte Selbstkonzepte und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen als die Jungen. Unter korrelativem Aspekt verdeutlichen die Befunde enge Zusammenhänge zwischen den einzelnen untersuchten Subkompetenzen selbstregulierten Lernens. Die Ergebnisse sind im Detail in der Interkorrelationsmatrix in Tabelle 1 dargestellt. Im Durchschnitt ergeben sich schwache bis mittlere Korrelationen in Bezug auf die einzelnen Aspekte selbstregulierten Lernens. Der besonders hohe Zusammenhang zwischen der Verfügbarkeit von Strategien und dem Gebrauch von Metakognitionen deutet darauf hin, dass beide Konstrukte vermutlich nicht trennscharf voneinander betrachtet werden dürfen. Eine nachträgliche Faktorenanalyse über beide Skalen verweist auf Eindimensionalität dieser Skalen. Die Zusammenhänge zwischen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, Misserfolgsbewältigungen, mathematikbezogenen Selbstkonzepten und intrinsischen Motivationen wurden genauer betrachtet. Diese Zusammenhänge lassen sich in Form eines Pfadmodells darstellen, wobei Misserfolgsbewältigungen und mathematikbezogene Selbstkonzepte als proximale Bedingungen zur Vorhersage von intrinsischen Motivationen vermutet wurden, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen fungierten hingegen als distale Bedingung. Das zugehörige Pfadmodell
40
Frank Hellmich & Stephan Wernke
weist insgesamt gute teststatistische Werte auf (CMIN/DF=1,83). Generell wurden ca. sechzig Prozent der Gesamtvarianz aufgeklärt. Als signifikante Prädiktoren für intrinsische Motivationen bei Kindern der frühen Sekundarstufe wurden Selbstwirksamkeitsüberzeugungen (.39), mathematikbezogene Selbstkonzepte (.35) und Misserfolgsbewältigungen (.19) in eben dieser Reihenfolge ermittelt. Dabei zeigte sich im Detail, dass die postulierten Mediatoreffekte bestätigt werden konnten. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass sich die Effekte von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen auf intrinsische Motivationen bei Kindern des fünften Schuljahres vergrößern, wenn jeweils eine der Variablen – entweder Misserfolgsbewältigungen oder mathematikbezogene Selbstkonzepte – „zwischen-geschaltet“ ist. Dabei ist der totale Effekt des Mediators `Selbstkonzept mathematischer Fähigkeiten´ (.58) größer als derjenige des Mediators `Misserfolgsbewältigungen´ (.51).
1 2 3 4 5 6 7 8
Selbstkonzept Intrinsische Motivation Selbstwirksamkeit Extrinsische Motivation Volition Misserfolgsbewältigung Strategien Metakognition
1
2
3
4
5
6
7
.59 .50 .35 .47 .40 .43 .39
.60 .49 .51 .46 .68 .71
.38 .36 .42 .64 .63
.20 .23 .46 .47 .25 .32 .38 .40 .49 .84
Tabelle 1: Interkorrelationsmatrix; alle Korrelationen sind auf dem 1%-Niveau signifikant.
4.5
Diskussion der Befunde
Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen zusammenfassend Möglichkeiten und Grenzen der Erfassung von Selbstregulationen bei sehr jungen Schülerinnen und Schülern. Während in dieser Untersuchung theoretische Skalen zu affektiven und motivationalen Aspekten von Lernprozessen empirisch weitgehend bestätigt werden konnten, verdeutlichen die vorliegenden Ergebnisse allerdings Schwierigkeiten bei der Erfassung von Lernstrategien und Metakognitionen. Über Ursachen für diesen Sachverhalt kann an dieser Stelle allerhöchstens spekuliert werden. Möglicherweise sind die hier aufgetretenen Probleme bei der Erfassung dieser Aspekte selbstregulierten Lernens in der gewählten Stichprobe verankert. Bei einem Großteil der von uns befragten Kinder handelt es sich um Hauptschülerinnen und -schüler. Es ist nicht auszuschließen, dass leistungs-
Selbstregulationen von Kindern
41
schwächere Kinder vielleicht nur schwer Auskunft über ihre Lernprozesse und ihre Lernstrategien geben können. Erstaunlicherweise konnten die von uns entworfenen Skalen bei einer nachfolgenden Studie mit Kindern des vierten Grundschuljahres empirisch bestätigt werden (vgl. Hellmich/Hilmerich 2006). Die unter deskriptivem Aspekt ermittelten Befunde verdeutlichen weiterhin, dass die von uns befragten Schülerinnen und Schüler nur über mäßige Selbstkonzepte, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Motivationen verfügen. Sie berichten über nur seltenen Gebrauch von Metakognitionen und Lernstrategien. Es ist zu vermuten, dass diese Auffälligkeiten in einem engen Zusammenhang zu ihren tatsächlichen Leistungen im Unterrichtsfach stehen. Befunde aus der Lehr- und Lernforschung lassen dies vermuten. In nachfolgenden Untersuchungen sollte dies genauer `unter die Lupe´ genommen werden. Nur selten wird – besonders in den vergangenen zehn Jahren – dem Kompetenzaufbau leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler in theoretischen und empirischen Forschungsarbeiten Bedeutung geschenkt. Weitere Ergebnisse, die im Rahmen dieser empirischen Studie als erwartungswidrig gedeutet werden können, sind die ermittelten geschlechtsspezifischen Unterschiede bezüglich der mathematikbezogenen Selbstkonzepte und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Kinder. Während in vielen verschiedenen Untersuchungen weitgehend einheitlich bestätigt werden konnte, dass Jungen in der Regel im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich über positivere Selbstkonzepte ihrer Fähigkeiten berichten als Mädchen (vgl. Hellmich 2005b), zeigt sich in der vorliegenden Studie ein umgekehrtes Bild. Dieses Ergebnis müsste – wenn es auch nicht auf einer repräsentativen Datenbasis beruht – eine Einschränkung bisheriger Annahmen über geschlechtsspezifische Unterschiede zur Folge haben. Literatur Artelt, Cordula/Demmrich, Anke/Baumert, Jürgen (2001): Selbstreguliertes Lernen. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich, 271-299. Boekaerts, Monique (1999): Self-regulated learning: Where we are today. In: International Journal of Educational Research, 31, 445ff. Gürtler, Tina/Perels, Franziska/Schmitz, Bernhard/Bruder, Regina (2002): Training zur Förderung selbstregulativer Fähigkeiten in Kombination mit Problemlösen in Mathematik. Zeitschrift für Pädagogik. 45. Beiheft. Bildungsqualität von Schule: Schulische und außerschulische Bedingungen mathematischer, naturwissenschaftlicher und überfachlicher Kompetenzen, 222-239. Gürtler, Tina (2003): Trainingsprogramm zur Förderung selbstregulativer Kompetenz in Kombination mit Problemlösestrategien. PROSEKKO. Frankfurt a. M.: Peter Lang.
42
Frank Hellmich & Stephan Wernke
Hellmich, Frank (2005a): Förderung selbstregulierten Lernens in der Grundschule. In: Hellmich, Frank (Hrsg.): Lehren und Lernen nach IGLU – Grundschulunterricht heute. Oldenburg: DiZ, 265-276. Hellmich, Frank (2005b): Interessen, Selbstkonzepte und Kompetenzen. Untersuchungen zum Lernen von Mathematik bei Grundschulkindern. Oldenburg: DiZ. Hellmich, Frank/Hilmerich, Nina (2006, im Druck): Motivationen, Metakognitionen und Lernstrategien von Kindern im Grundschulalter. Oldenburg: Oldenburger VorDrucke. Schreiber, Beate (1998): Selbstreguliertes Lernen. Münster u.a.: Waxmann. Wernke, Stephan (2005): Selbstreguliertes Lernen in der Sekundarstufe. Oldenburg: DiZ/Oldenburger VorDrucke 521.
Kommunikative Kooperativität im kindergeleiteten Klassenrat Heike de Boer
1
Ethnografische Schulforschung im kindergeleiteten Klassenrat
Die Entwicklung von plausiblen Aussagen in Argumentationen setzt kollektive Argumentationen als Erfahrungsgegenstand voraus; hier bietet der Klassenrat ein geeignetes Erfahrungsfeld. Doch ist es sinnvoll, bereits Schülerinnen/Schüler im Anfangsunterricht die Klassenratsleitung anzuvertrauen? Ist es möglich, mit dem kindergeleiteten Klassenrat ein Gremium zu etablieren, in dem sich die typische Asymmetrie unterrichtlicher Kommunikation (vgl. Mehan 1979) umkehrt und in dem es zu vermehrten Fragen der Kinder untereinander und zu kooperativen Kommunikationsformen kommt? In einer anonymen schriftlichen Befragung von Schulkindern zum Ende des vierten Schuljahres antworten 17 von 19 Schüler/innen auf die Frage, wer den Klassenrat leiten sollte: die Kinder. Ihre Begründungen sind vielfältig und zeigen auf, welche Bedeutung sie der Klassenratsleitung geben: „weil ich es gut finde, wenn die Kinder auch mal etwas leiten können“, „den Klassenrat sollen Kinder leiten, weil sie da viel lernen“, „weil sie lernen, Verantwortung zu übernehmen“, „weil sie auch ausprobieren sollen, wie man so etwas macht“, „weil sie mehr Spaß rein bringen“, „weil die Kinder das auch mal machen sollten und nicht nur die Lehrerin“. Die Aussagen veranschaulichen, dass die Kinder sich die Klassenratsleitung zur selbst gewählten Lernaufgabe gemacht hatten. Nach vier Jahren Klassenratserfahrung stellte für die Schüler/innen die Leitung des Klassenrates die große Attraktivität dar und nicht das ursprünglich von der Lehrerin intendierte Ziel, Konflikte mit der Klasse gemeinsam lösen zu lernen. Diese Befragung markiert das Ende eines dreieinhalbjährigen Forschungsprozesses in einer Grundschulklasse, in der die interaktive Praxis des Klassen-
44
Heike de Boer
rates untersucht wurde.1 Mittels teilnehmender Beobachtung im Unterricht einer Grundschulklasse entstand eine umfangreiche Datensammlung. Neben videografierten und analysierten Klassenratssitzungen liegen Klassenratsprotokolle von 62 Sitzungen vor sowie Beobachtungsprotokolle zu Projekttagen und eine abschließende anonyme und schriftliche Befragung zum Klassenrat. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die analysierten Klassenratssequenzen, alle weiteren Daten fließen als ethnografisches Kontextwissen in die Analyse ein. Das videogestützte Beobachtungsmaterial wurde im Sinne der ethnomethodologischen Konversationsanalyse bearbeitet. Dabei wurde die Perspektive der Akteure im Klassenrat fokussiert, mit dem Ziel, zu rekonstruieren, welche Bedeutung die Schüler/innen dem Klassenrat geben. Im vorliegenden Beitrag wird ein Ausschnitt aus dieser Langzeituntersuchung vorgestellt und der Fokus auf den Anfangsunterricht gerichtet. Dabei wird zunächst die Struktur einer Klassenratssitzung mit den dazugehörigen Aufgaben des Klassenratspräsidenten/der -präsidentin dargestellt. Es folgt die Analyse eines Transkriptausschnittes, die in die Explikation kommunikativer Kooperativität im kindergeleiteten Klassenrat einmündet. In einem Ausblick wird die Differenz von pädagogischer Intention und pädagogischer Praxis als Konsequenz einer akteursbezogenen Perspektive auf den Klassenrat reflektiert. 2
Attraktivität des Rollenwechsels
Die Klassenlehrerin der beobachteten Klasse legte dem Ablauf des Klassenrates eine geregelte, wiederkehrende Struktur zu Grunde, um den Schülern/Schülerinnen mit der Rahmung eine Orientierung zu bieten. Nach einer einführenden Gesprächsrunde, in der rückgemeldet wurde, was in der vergangenen Woche gut gelungen war, folgte die Besprechung von Problemen und Schwierigkeiten. Anschließend wurden Wünsche und Anregungen für die folgende Woche gesammelt. Zum Abschluss des Klassenrates erhielten die moderierenden Kinder ein Feedback über ihre Leitung. Im Sinne der Lehrerin hatten die Moderatoren/ Moderatorinnen die Verantwortung dafür, dass der Klassenrat ordnungsgemäß ablaufen konnte. Das Amt der Klassenratsleitung auszufüllen schien mit einigen den Kindern attraktiv erscheinenden Aufgaben verbunden zu sein. Stets meldeten sich viele Schüler/innen, um das Amt des Präsidenten/der Präsidentin für die nächste Sitzung zu erhalten. Die amtierenden Präsidenten/Präsidentinnen wählten am Ende 1
Die Untersuchung wurde im Rahmen meiner Dissertation: „Klassenrat als interaktive Praxis“ durchgeführt.
Kommunikative Kooperativität im kindergeleiteten Klassenrat
45
einer Klassenratssitzung einen Jungen und ein Mädchen für die Leitung der Folgesitzung. Die Aufgaben der beiden leitenden Kinder waren vielfältig: Sie eröffneten den Klassenrat offiziell und sorgten für Aufmerksamkeit. Sie leiteten die verschiedenen Runden ein und forderten die Kinder zu Beiträgen auf. Sie hatten die Gesprächshoheit und wachten über die thematische Ordnung des Verfahrens; genauso wie über die Einhaltung kommunikativer Regeln, z.B. dass nacheinander gesprochen wurde, die einzelnen Kinder ausreden konnten und Wortbeiträge durch Meldungen gekennzeichnet wurden. Sie hatten die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass alle im Kreis aufmerksam waren, und mussten auf Verstöße der kommunikativen Ordnung aufmerksam machen. Sie beendeten den Klassenrat. Diese Aufgaben lagen sonst in der Hand der Lehrerin. Den Klassenrat leiten zu dürfen bedeutete somit qua Amtsausübung Autorität zu besitzen und sich auch jener schulisch bekannten Disziplinierungsmaßnahmen bedienen zu können, die Schüler/innen selbst sonst nur als Sanktion zu spüren bekamen. Obwohl die Kinderleitung erst Mitte des zweiten Schuljahres eingeführt wurde, hatten am Ende des Schuljahres bereits alle Kinder mindestens einmal die Leitungsfunktion im Klassenrat. 3
„Hättet ihr eine Lösung?“
Es ist Freitagmorgen, alle Kinder sitzen im Kreis. Die erste Klassenratsrunde ist bereits beendet. Die Präsidenten verlesen einen Beschwerdebrief, der sich in der Klassenratskiste befand. Nun liegt ein schwerwiegender Konflikt vor. Die beiden guten Freunde Christian und Marvin2 haben Streit. Lisa und Raphael leiten den Klassenrat zusammen. Es handelt sich um die erste von Kindern geleitete Sitzung und beiden ist anzumerken, dass sie dieses Amt mit Stolz ausfüllen. Nachdem zwischen den beiden Kontrahenten keine Einigung in Sicht ist, wendet sich Raphael an die zuhörenden Kinder und bezieht diese ein:
2
Die Namen der beteiligten Kinder sind anonymisiert.
46
Heike de Boer
Raphael: Ursel
4:
p
Raphael:
3
<
Hättet ihr 'ne Lösung? (wendet sich dem Kreis zu)
<
Gut, ich habe dann vielleicht auch noch einen Vorschlag.
<
Benjamin:
(scheint Ursel nicht zu hören) Äh, Benjamin? Ich glaub' dem Fatih nicht ganz, dass der, dass der Christian solche Sachen gemacht hat nur weil er dem
Raphael:
<
Marvin sein Freund ist.
<
(zu Benjamin) Ey, ich hab' ge-, ich hab' gefragt, gibt es eine Lösung dafür? Dominik? (schaut Raphael an) Äh, dass die's nicht mehr machen?
Dominik: Raphael:
p
(schaut auf das Blatt) Dass die's nicht mehr machen, müssen die's auch einhalten. (blickt hoch) Äh, Ursel?
Ursel:
Nee, sie war zuerst. (zeigt auf Marianna)
Raphael:
Äh, Marianna.
Junge:
Ey, Marianna.
Marianna:
Aber ich, aber, wenn jetzt der Christian doch könnte einfach weg gehen und halt sich verstecken und wenn was mit den anderen ist (unverständlich).
Raphael:
Wer, er? Der große starke Mann?
Raphael:
Dafür ist er (unverständlich). Das würde er nicht machen.
(lautes Gelächter)
Dominik?
Raphaels Aufforderung führt dazu, dass sich die zuhörenden Kinder einschalten. Benjamin äußert sich und gibt zu bedenken, dass Fatih mit Marvin befreundet sei. Raphael geht inhaltlich nicht auf Benjamin ein. Er zeigt auf, dass es um die Einhaltung der thematischen Ordnung geht und er dementsprechend eine Antwort auf seine Frage erwartet. Im weiteren Verlauf zeigt seine Reaktion auf Dominik, dass er die Rationalität seines Vorschlags prüft. Auch Mariannas Einwand hinterfragt er. Raphael begründet, dass Verstecken in seinen Augen ein Schwächezeugnis sei und suggeriert damit, dass starke Jungen nicht weglaufen 3
4
Folgende Transkriptionszeichen werden verwendet: „<“ Redeüberlappungen, „p“ leise, „pp“ sehr leise, „ge-“ Wortabbruch, „Ja, weil...“ Satzabbruch, (8) 8 Sek. Redepause. Ursel ist die Lehrerin.
Kommunikative Kooperativität im kindergeleiteten Klassenrat
47
dürfen und eine Konfliktsituation durchstehen müssen. Offensichtlich hält Raphael Christian für einen „starken Mann“, genauso wie sich selbst. Raphael übernimmt als Präsident die Kommentierung der Redebeiträge und trägt damit auch zu ihrer Bewertung bei. Er übernimmt die Rolle der Lehrerin. Im weiteren Verlauf der Diskussion äußert die Lehrerin, dass Christian und Marvin noch einmal außerhalb des Klassenrates miteinander reden müssten und schlägt vor, dass sie jemanden mit dazu nehmen. Die Kinder nehmen ihren Vorschlag an und diskutieren, wer als Begleitung in Frage kommen könnte. Sie wägen ab, in welcher Besetzung das Gespräch am ehesten störungsfrei ablaufen könnte. Raphael:
f
(zu Ursel) Ja, weil... Jetzt ist da ein Problem. Der Marvin will, dass der Fatih dazu kommt, und der Christian will, dass d e r Felix dazu kommt. Ein richtiges Problem. Wir wissen’s, Anna?
Anna:
Es könnten doch aber beide mitgehen.
Raphael:
Ja, das wär' auch 'ne gute Idee. (Tuba meldet sich.)
Raphael: Christian:
Felix? pp
Es gibt Streit, weil einmal haben wir gesagt...
Raphael:
Felix?
Felix:
Ich könnte doch auf Christian aufpassen, und der Fatih auf Marvin aufpassen.
Raphael:
Des wär' auch eine gute Idee. Äh, Maren?
Maren:
Jeder kann doch immer fünf Minuten drin bleiben. Dann wechseln die sich immer ab.
Raphael:
<
Oh, das finde ich sehr... Na, ja.
Lisa:
<
Umständlich.
Diese Szene zeigt nur einen Ausschnitt aus einem längeren dichten Gespräch. Mehrere Kinder beteiligen sich und wechseln aus der Rolle der Zuhörer/innen in die der Vermittelnden und Vorschläge Produzierenden. Raphael und Lisa kommentieren ihre Vorschläge. Beide fühlen sich offensichtlich in ihrer Vermittlungskompetenz angesprochen und prüfen kollektiv die Rationalität der einzelnen Vorschläge. Besonders Raphael versucht, die Angebote der Kinder auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu überprüfen. Er wägt die Vor- und Nachteile der Ideen
48
Heike de Boer
ab und gewichtet die Aussagen nach Überzeugungskraft. Erkennbar wird, dass ein echter Kompromiss nur dann gefunden würde, wenn beide Kontrahenten einverstanden sind. Besonders Raphaels Interaktionshandeln zeigt in diesem Gespräch kooperativ-integrative Wirkungen. Er motiviert die zuhörenden Kinder, Lösungsideen zu entwickeln und zeigt, dass es um eine gemeinsame Suche geht. Raphaels interaktives Handeln führt zur Kooperativität im Kreis. „Was tut man, wenn man kooperativ ist?“ fragt der Gesprächsanalytiker Fiehler. Er benennt Phänomene, die als interaktive Leistung durch die Aktivitäten der Beteiligten hervorgebracht werden und daran erkennbar sind, dass diese sich Rückmeldungen und Bestätigungen zum Gesagten geben, gemeinsame Formulierungen finden, Wiederholungen und Strukturierungen vornehmen, Verständnis sichern und die Perspektiven wechseln (vgl. Fiehler 1999: 54f.). Fiehler verweist darauf, dass kommunikative Kooperativität eine Modalität gemeinsamen Handelns darstellt. Dies zeigt sich auch im vorliegenden Gesprächsausschnitt. Es wird deutlich, dass ein einzelner Beteiligter nicht alle Begründungen in dieser Form hätte bringen können. Die hervorgebrachten individuellen Vorschläge und Argumente haben sich erst in der Dynamik des Interaktionsprozesses entfaltet (vgl. auch Brandt 2004: 18). In Raphaels Aussagen finden sich Aspekte wieder, die zur kommunikativen Kooperativität beitragen: Raphael fragt im Gespräch nach und wiederholt einzelne Vorschläge. Er bestätigt und lobt einzelne Aussagen. Er prüft ihre Rationalität und nimmt dabei Bewertungen vor, ohne die Deutungshoheit für sich zu beanspruchen. Er trägt zur Strukturierung des Gesprächs bei und wirkt darauf hin, dass das zu lösende Problem entsprechend des Gesprächsprozesses weiter modifiziert wird. Es kommt in diesem Gesprächsausschnitt zu einer breiten Beteiligung und vielen Vorschlägen. Etliche Kinder melden sich zu Wort, sie beziehen sich aufeinander und nehmen zueinander Stellung. In Anlehnung an Krummheuer und Brandt (vgl. 2001: 56) wird dieser Wechsel als Indiz für ein interaktiv dichtes Gespräch verstanden. Das Zurücktreten der Lehrerin im Klassenrat ermöglicht hier eine Rollenverschiebung und bietet damit die Chance des Autonomiezuwachses für die Kinder. Der Gewinn von Autonomie drückt sich in den Interaktionen aus. Die Übernahme argumentativer Anteile der Kinder im Gespräch ist Ausdruck davon. Krappmann und Oswald (1995) machten mit ihren Untersuchungen zum Alltag von Schulkindern darauf aufmerksam, dass die sozialisatorische Relevanz der Gleichaltrigengruppe gute Voraussetzungen für ko-konstruktive Leis-
Kommunikative Kooperativität im kindergeleiteten Klassenrat
49
tungen mit sich bringe. So zeigt dieser kindergeleitete Klassenrat zu Beginn des zweiten Schuljahres bereits, dass diese Prozesse begünstigt werden und zur Entwicklung gegenseitiger Achtung in Kooperation unter „Gleichen“ führten. Zur Kooperation ist das gegenseitige kognitive Verstehen und Begründen nötig, aber auch das Helfen und Rücksichtnehmen. Beide Aspekte kommen hier zur Geltung. In diesem Prozess wird der Erwerb sozialer und kommunikativer Fähigkeiten gefördert. 4
Differenz zwischen pädagogischer Intention und pädagogischer Praxis
In dieser Untersuchung machte die Rekonstruktion der Akteursperspektive auf eine Differenz zwischen pädagogischen Intentionen und pädagogischer Praxis aufmerksam. Die primäre Intention, den Klassenrat als öffentliches Instrument der Konfliktlösung einzusetzen, geriet im Laufe der vier Grundschuljahre immer mehr in den Hintergrund. Obwohl im kindergeleiteten Klassenrat dichtere Interaktionen und komplexer werdende Argumentationen zu beobachten waren, kam es dennoch wiederholt zu Beschämungen einzelner, auch zu Profilierungen von Schülern/Schülerinnen auf Kosten anderer. Es zeigte sich, dass die Schüler/innen ein geteiltes Wissen darüber hatten, welche Verhaltensweisen in der Schule erwünscht waren. So vollzog sich das Verfahren als ein öffentlicher Balanceakt zwischen der Erfüllung schulischer Erwartungen, regelgeleitet Konflikte zu besprechen einerseits und das eigene Image in der kritischen Klassenöffentlichkeit zu pflegen andererseits.5 Dies führte dazu, dass die Kinder im vierten Schuljahr entschieden, keine interindividuellen Konflikte mehr im Klassenrat zu besprechen. Stattdessen wurde hierfür der Streitschlichterdienst eingeführt. Damit konnte die Beschämung einzelner im Klassenrat verhindert werden. Das Gespräch über die gemeinsame Sache provozierte mehr kommunikative Kooperativität als der interindividuelle Konfliktlösungsprozess. Die Moderation dieser Gespräche wurde dabei zur selbstbestimmten Lernaufgabe und führte zur stärkeren Verwiesenheit der Schüler/innen aufeinander.
5
Die Lehrerin erkannte dies. Ihre zunehmende Zurückhaltung und ihre im Laufe der Zeit klarer werdende Positionierung als Erwachsene und Repräsentantin der schulischen Ordnung machte sie für die Schüler/innen berechenbar und führte zur Zunahme von autonom wirkenden Handlungen der Schüler/innen.
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Heike de Boer
Literatur de Boer, Heike (2006): Klassenrat als interaktive Praxis. Auseinandersetzung – Kooperation – Imagepflege. Wiesbaden (im Erscheinen). Brandt, Birgit (2004): Kinder als Lernende. Partizipationsspielräume im Klassenzimmer. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Fiehler, Rainer (1999): Was tut man, wenn man „kooperativ“ ist? Eine gesprächsanalytische Explikation der Konzepte ‚Kooperation’ und ‚Kooperativität’. In: Mönnich, Annette/Jasolski, Ernst W. (Hrsg.): Kooperation und Kommunikation. München, Basel: E. Reinhardt. Krappmann, Lothar/Oswald, Hans (1995): Alltag der Schulkinder. Beobachtungen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Weinheim: Juventa. Krummheuer, Götz/Brandt, Birgit (2001): Paraphrase und Traduktion. Partizipationstheoretische Elemente einer Interaktionstheorie des Mathematiklernens in der Grundschule. Weinheim, Basel: Beltz. Mehan, Hugh (1979): Learning lessons. Cambridge (Mass.): Harvard Univ. Press.
Gruppenpuzzle – Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt im Mathematikunterricht der Primarstufe Nicole Orio
Das interdisziplinäre Projekt lässt sich der empirischen Bildungsforschung zuordnen. Es trägt den Arbeitstitel: Kooperatives Lernen im Mathematikunterricht der Primarstufe. Durchgeführt wird diese Untersuchung vom Institut für Didaktik der Mathematik und dem Institut für Pädagogische Psychologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Kooperatives Lernen findet hier in der spezifischen Ausprägung des Gruppenpuzzles statt. Der nachfolgende Beitrag richtet sich ausschließlich auf das Forschungsinteresse der Mathematikdidaktik. 1
Theoretischer Hintergrund
Die Studie basiert auf einem interaktionstheoretischen Forschungsansatz aus der Mathematikdidaktik. Er beruht auf Arbeiten von Bauersfeld, Krummheuer und Naujok (vgl. Bauersfeld 1978; Krummheuer 1997, 2003; Naujok 2000), die sich mit den sozialen Bedingungen mathematischen Lernens im Unterrichtsalltag beschäftigten. In diesem Theorieansatz gilt die soziale Interaktion als Konstituente von (schulischen) Lernprozessen. „Man geht davon aus, dass das Individuum seine Interpretation der Wirklichkeit vornehmlich in bzw. durch Erfahrungen in Interaktionssituationen vornimmt. Dort werden Bedeutungen gemeinsam ausgehandelt und stabilisiert“ (Naujok 2000: 23).
Diese interaktionstheoretischen Studien zum mathematischen Unterrichtsalltag haben, neben dem lehrergelenkten Unterricht, auch die Gruppenarbeit untersucht. Gruppenprozesse sind im Rahmen interaktionstheoretischer Arbeiten intensiv von Krummheuer und Naujok analysiert worden (vgl. Krummheuer 1997; Krummheuer/Naujok 1999; Krummheuer/Brandt 2001). Die bisherigen Arbeiten aus dieser Forschungsrichtung haben sich jedoch relativ abstinent zu Innova-
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Nicole Orio
tionsversuchen verhalten und vor allem die Erscheinungsform in den Blick genommen, bei der kein expliziter Innovationsanspruch formuliert war. Sie wurde häufig als der „alltägliche Mathematikunterricht“ (Krummheuer/ Fetzer 2005) bezeichnet. In dieser aktuellen interdisziplinären Studie, in der das theoretische Interesse auf der Analyse von Gruppenarbeitsprozessen liegt, wird dagegen ein derartiger expliziter Innovationsanspruch verfolgt. Es werden Gruppenpuzzles initiiert und in den Mathematikunterricht integriert. Hierbei werden neben interaktionsanalytischen Auswertungen auch Wissenstests entwickelt und eingesetzt. Aus interaktionstheoretischer Sicht ist besonders die Analyse dieses Unterrichts interessant, weil hier versucht wird, eine spezifische Form von Schülerkooperation, die systematisch vorbereitet wurde, zu implementieren. In den bisherigen Studien zur Interaktion in Gruppenarbeit haben sich die untersuchten Prozesse eher spontan ergeben. Untersuchungsinteresse ist dabei unter anderem die interaktive Hervorbringung kollektiver Argumentationsprozesse gewesen. Das hier so initiierte Gruppenpuzzle gibt derartige Argumentationsanlässe vor. Das ist für unsere Forschungsarbeit neu. 2
Gruppenpuzzle
Das Gruppenpuzzle, englisch Jigsaw, wurde von einer Gruppe amerikanischer Wissenschaftler um den Sozialpsychologen Elliot Aronson entwickelt (vgl. Aronson u.a. 1978). Es soll als kooperative Unterrichtsmethode neben dem Ziel, gemeinsam etwas zu lernen, vor allem das soziale Verhalten der Schüler untereinander fördern und Konkurrenzdenken vermindern. Im Gruppenpuzzle wird gegenseitige Verantwortlichkeit durch eine Aufgabenspezialisierung erreicht, die jeden Schüler zum unentbehrlichen Experten für ein Teilgebiet macht. Dazu werden die Lernenden in Stammgruppen mit vier bis fünf Mitgliedern eingeteilt. Der Lernstoff ist nach Inhaltsaspekten sequenziert, jedes Mitglied wählt einen anderen Teilbereich. Anschließend treffen sich die Lernenden in so genannten Expertengruppen. In dieser Erarbeitungsphase wird der Stoff von den Lernenden selbständig in den jeweiligen Expertengruppen bearbeitet und für die Vermittlung in den Stammgruppen aufbereitet. Die Lernenden, jetzt Experten in ihrem Teilbereich, kehren in die jeweiligen Stammgruppen zurück, um dort ihr Expertenwissen an die anderen Stammgruppenmitglieder weiterzugeben. In dieser Vermittlungsphase werden die einzelnen Wissensausschnitte der Experten, einem Puzzle gleich, in der Stammgruppe zu einem Ganzen zusammengesetzt. Die Schülerinnen und Schüler nehmen also wechselseitig Lehrer- und Schülerrollen ein und erarbeiten so die Inhalte aller Expertenthemen noch einmal gemeinsam.
Gruppenpuzzle – Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt
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In der Reflexionsphase schließlich werden die Erfahrungen während der Gruppenarbeit reflektiert und die Lernergebnisse für den gesamten Lernstoff evaluiert. 3
Projektziele
Im Rahmen dieses Forschungsprojekts werden die unterschiedlichen Lehr-/ Lernprozesse in der Gruppenarbeit unter verschiedenen interaktionistischen Aspekten (Themenkonstitution, Kooperation, Argumentation) rekonstruiert. Dafür werden die kollektiven Aufgabenbearbeitungsprozesse der Kinder während der Unterrichtseinheit beobacht, mit Hilfe von Videoaufnahmen dokumentiert und analysiert. Darüber hinaus wird die wissenschaftliche Theoriebildung zu mathematischen Lehr-/Lernprozessen im Rahmen dieser Arbeit weiterentwickelt sowie die Verbesserung mathematischen Lernens in schulischer Gruppenarbeit angestrebt. 4
Forschungsmethoden
Innerhalb der mathematikdidaktischen Unterrichtsforschung lässt sich die Studie der interpretativen Unterrichtsforschung zuordnen. „Charakteristikum dieses Ansatzes ist die detaillierte, quasi >mikroskopische< Auseinandersetzung mit Episoden aus dem Unterrichtsalltag“ (Krummheuer/Naujok 1999: 8). Unter dem Begriff „Unterrichtsalltag“ ist nicht die Erforschung des alltäglichen Unterrichts im Sinne von traditionellem bzw. „normalem“ Unterricht zu verstehen, vielmehr zielt er auf die Untersuchungsfrage, wie eine Lerngruppe ihren Unterrichtsalltag herstellt (vgl. ebd.: 17). Unser Forschungsdesign basiert auf qualitativen Methoden. Es finden Unterrichtsbeobachtungen in den teilnehmenden Grundschulklassen statt. Die Interaktionsprozesse im Unterricht werden mit Hilfe von Videoaufnahmen dokumentiert, ausschnittsweise transkribiert und (in Abstimmung mit dem jeweiligen Untersuchungsinteresse) anschließend verschiedenen Analyseverfahren (Interaktions-, Argumentations-, Partizipationsanalyse) unterworfen.
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Nicole Orio
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Projektverlauf und derzeitiger Forschungsstand
UE „Lagebeziehungen“
Datenerhebung Stand
UE „Symmetrie“
UE „Geometrische Körper“
Vortraining der GP-Klassen
Lehrertraining
An der Untersuchung nahmen vier Grundschulen im Rhein-Main-Gebiet teil. Insgesamt waren es 11 Klassen der Schulstufe 4 (sieben Gruppenpuzzle Klassen, vier lehrergeleitete Klassen). Die von unserem Kooperationspartner aus der Pädagogischen Psychologie konzipierten und von uns leicht modifizierten Mathematikunterrichtseinheiten zum Thema Geometrie wurden vergleichend im Gruppenpuzzle und in einem lehrergeleiteten Unterricht durchgeführt. Jede der drei Unterrichtseinheiten (Geometrische Körper, Symmetrie, Lagebeziehungen) bestand aus 6-8 Schulstunden. Zur Vorbereitung auf die Gruppenarbeit fand in den Gruppenpuzzle-Klassen ein Vortraining statt, das ca. drei Schulstunden umfasste. Das Institut für Didaktik der Mathematik führte die Unterrichtsbeobachtungen per Videodokumentation durch. Die Unterrichtsbeobachtungen fanden im alltäglichen Unterricht statt. Die Mathematikunterrichtseinheiten zum Gruppenpuzzle und für den lehrergeleiteten Unterricht wurden von den Lehrkräften nach unseren Vorgaben ein- und umgesetzt. Es lässt sich bei dieser Studie jedoch nicht von einem „experimentellen Setting“ sprechen. Videografiert wurden die vollständigen Unterrichtseinheiten an einer Schule. Aufgenommen wurde jeweils die Gesamtstundenzahl der Einheit in der Gruppenpuzzle Klasse sowie der lehrergeleiteten Klasse. Die Datenerhebung ist mittlerweile abgeschlossen. Derzeit befinden wir uns in der Phase der Datenauswertung.
Unterrichtsbeobachtungen durch Videoaufnahmen Okt 04 Nov 04 Dez 04 Jan 05 März 05
April-Sept. 05
Transkripte und Interaktionsanalysen Abbildung 1: Grafik zum Projektverlauf
Datenauswertung
Gruppenpuzzle – Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt
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Teilergebnisse zur ersten Unterrichtseinheit „Geometrische Körper“
Im Rahmen dieses interdisziplinären Forschungsprojekts arbeiten die beiden Institute Didaktik der Mathematik und Pädagogische Psychologie mit einer Methodentriangulation von qualitativen und quantitativen Verfahren. 6.1
Methodische Vorgehensweise
Die Auswertung wird nach mathematikdidaktischen Fragestellungen unter dem methodischen Gesichtspunkt der Komparation (vgl. Bohnsack 2000; Glaser/ Strauss 1967; Brandt/Krummheuer 2001) durchgeführt. Forschungsmethodisch gehen wir daher so vor, dass wir Gruppenprozesse auswählen und rekonstruieren, wie die Experten überdurchschnittlich erfolgreicher Stammgruppen bzw. weniger erfolgreicher Stammgruppen „instruktionale Vorstellungen“ für ihre Expertenaufgabe entwickeln und umsetzen. Mit dem Begriff „instruktionale Vorstellungen“ wird danach gefragt, welche Ideen die Kinder entwickeln, um ihre Rolle als Experten zu erfüllen. Darunter ist eine im weitesten Sinne „didaktische Auseinandersetzung“ der Gruppenmitglieder mit dem Expertenthema gemeint. Im Kontext dieser Arbeit ist unter „Didaktik“ aus der Schülerperspektive also der Blick auf die Handlungsideen der Experten zu verstehen. Mit dem so genutzten Begriff folgt eine strikte Abgrenzung zu einer angewandten Lehrerdidaktik. Wird in diesem Beitrag im Zusammenhang mit dem Experten/der Expertin von „Wissensvermittlung“ gesprochen, ist dies ebenfalls nicht gleich zu setzen mit einer pädagogisch professionellen Wissensvermittlung durch die Lehrkraft. Forschungsstrategisch haben wir im Sinne der Komparation, unter Nutzung der quantitativen Daten, nur unter den videografierten Stammgruppensitzungen die Stammgruppen ausgewählt, die sich abzüglich der Wissenspunkte des jeweiligen Experten im überdurchschnittlichen Wissenszuwachs maximal unterscheiden. Bezogen auf die erhobenen Videodokumente konnte diese Komparation zum Themengebiet „Quader“ der ersten Unterrichtseinheit „Geometrische Körper“ durchgeführt werden. Bei der Auswertung war von Interesse, inwieweit die Experten aus den verschiedenen Expertengruppen unterschiedliche bzw. ähnliche Strategien initiiert und umgesetzt haben. Auf der Basis der durchgeführten Interaktionsanalyse und ihrer Komparation konnten folgende Einsichten gewonnen werden.
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Teilergebnisse der beiden Interaktionsanalysen
Aus Platzgründen lässt sich die Analyse der beiden empirischen Beispiele nicht in ihrer Gesamtheit präsentieren. Nachfolgend werden die Untersuchungsergebnisse der Interaktionsanalyse der Stammgruppenarbeit und die Ergebnisse aus der Beobachtung der Expertenarbeit aufgezeigt, da sich die Experten dort für die Arbeit in den Stammgruppen vorbereiten sollen.
6.2.1 Die Expertengruppe Die Arbeit in der Expertengruppe zum Thema Quader kennzeichnet sich durch schnelle Aufgabenbearbeitung und richtiges Ausfüllen des Expertenheftes. Das Lösen der Aufgaben wird nur von zwei Schülern aktiv betrieben. Ein dritter Experte übernimmt lediglich organisatorische Aufgaben in seiner Expertengruppe. Eine Expertin, die für die inhaltliche Bearbeitung der Aufgaben verantwortlich ist, gehört später zu der durchschnittlich erfolgreicheren Stammgruppe. Lassen sich die Ergebnisse eindeutig und schnell als Zahl von Körpereigenschaften (z.B. Ecken, Kanten, Flächen) ausdrücken, so erfolgt ein Abgleich der Ergebnisse durch die Experten untereinander. Werden die Expertenmitglieder per Expertenheft dazu aufgefordert, ihr Ergebnis zu begründen und in der Gruppe gemeinsam zu überlegen, weshalb beim Zählen Fehler passieren können, erfolgen keine Absprachen der Experten. Die Teilaufgabenbearbeitung findet ein schnelles Ende. Die Ergebnisse der Interaktionsanalyse zeigen keine Hinweise auf die Entwicklung eines „didaktischen Konzepts“ zur Präsentation des Expertenthemas „Quader“ in der folgenden Stammgruppe auf. Die Schüler der Expertengruppe definieren ihre Erarbeitungsphase vorwiegend als Aufgabelösesituation. Als problematisch erweist sich die Struktur des Expertenheftes, dessen formaler Aufbau einem Deutschheft gleicht. Die mathematischen Aufgaben zeichnen sich durch Lückentexte aus, die vervollständigt werden müssen. Die Expertenkinder haben Schwierigkeiten, den mathematischen Inhalt zu erkennen und die Ergebnisse schriftlich zu fixieren. In Bezug auf das Expertenheft bleibt weiterhin festzuhalten, dass das Expertenheft für Kinder mit Lernschwierigkeiten, besonders einer Lese-Recht-Schreibschwäche, ungeeignet ist.
6.2.2 Die Stammgruppe Für die Interaktionsanalyse der Stammgruppenarbeit ist vor allem die Frage nach möglichen instruktionalen Aktivitäten der Quaderexpertin während der Er-
Gruppenpuzzle – Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt
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arbeitungsphase von Bedeutung. Außerdem wird untersucht, welche argumentativen Wege sie einzuschlagen versucht, um ihr Expertenwissen den anderen Stammgruppenmitgliedern näher zu bringen. Die Expertin scheint sich ihrer Rolle als „Wissensvermittlerin“ bewusst zu sein, obgleich in der Interaktionsanalyse zur Arbeit in der Expertengruppe kein Hinweis auf die Entwicklung eines „didaktischen Konzepts“ für die Stammgruppenphase zu finden ist. Die Expertin hat zwar entsprechend der Aufgabenstellung Vorbereitungen für die Stammgruppenarbeit getroffen, jedoch fehlen ihr ein didaktisches Konzept und Strategien für diese Vermittlungsphase. Dies lässt sich auf die schnelle Aufgabenbearbeitung in der Expertengruppe zurückführen, die sich negativ auf die Entwicklung von Vermittlungsstrategien auswirkt. Dieses Ergebnis ist besonders enttäuschend, da die Interaktionsanalyse zeigt, dass die Quaderexpertin neben ihrem „Expertenbewusstsein“ auch über das benötigte „Expertenwissen“ verfügt. Auch argumentativ ist die Expertin sehr zurückhaltend und nicht überzeugend für die Stammgruppe, so dass ihr die Expertenrolle im Verlauf des Aufgabenbearbeitungsprozesses nach und nach entzogen wird und andere Stammgruppenmitglieder die Expertenaufgabe übernehmen. Abschließend lässt sich noch hinzufügen, dass die Forderung nach einer textorientierten Ausformulierung des Ergebnisses dazu führt, dass der mathematische Inhalt in den Hintergrund gedrängt wird. 7
Resümee
Zusammenfassend kann man sagen, dass es in der ersten Unterrichtseinheit zum Thema „geometrische Körper“ der Expertengruppe Quader nicht gelungen ist, ein „didaktisches Konzept“ zur Präsentation ihres Expertenthemas zu entwickeln. Aus den Analyseergebnissen kann man folgern, dass dies nicht auf Schülerversagen zurückzuführen ist, da die Expertenkinder ansatzweise eine Idee ihrer Expertenrolle entwickelt haben. Die Umsetzung der Expertenrolle basiert auf deren eigenen handlungsleitenden Vorstellungen und wurde nicht durch den Einsatz der Methode des Gruppenpuzzles erreicht (vgl. auch Naujok 2000: 10). Vielmehr hängt diese Entwicklung einerseits mit der bisherigen methodischen Konzeption des Gruppenpuzzles und andererseits mit der Aufgabenkonzeption des Experten- und Stammgruppenheftes zusammen. Ihr textorientierter Aufbau verdrängt zum einen den mathematischen Inhalt und erweist sich zum anderen als ungeeignet für lese-rechtschreibschwache Schüler. Aus dieser Einsicht muss eine Überarbeitung bzw. Neukonzeption der beiden Hefte erfolgen. Als Differenzierungsmaßnahme für Kinder mit Lernschwäche ist zu überlegen, nur jeweils ein Heft an die Experten- und Stammgruppenmitglieder zu verteilen. Das
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fördert die kooperative Arbeit innerhalb der Gruppen und kann zur Überwindung zuvor genannter Schwierigkeiten beitragen. Um Raum für eine argumentative Auseinandersetzung der Schüler mit der Aufgabe zu schaffen, sollten solche Mathematikaufgaben gewählt werden, die bei den Kindern einen kognitiven Konflikt erzeugen oder problemhaltig sind. Die Problembewältigung zwingt die Mitglieder der Experten- bzw. Stammgruppen zu einem längeren Aufenthalt an einer zu bearbeitenden Aufgabe. Dieser zeitliche Aspekt begünstigt wiederum ein sicheres Auftreten des Expertenkindes in der Stammgruppe. Literatur Aronson, Elliot/Blaney, N./Stephan, C./Sikes, J./Snapp, M. (1978): The jigsaw classroom. Beverly Hills: CA Sage Publications, Inc. Bauersfeld, Heinrich (1978): Kommunikationsmuster im Mathematikunterricht. Eine Analyse am Beispiel der Handlungsverengung durch Antwortenerwartung. In: Bauersfeld, Heinrich (Hrsg.): Fallstudien und Analysen zum Mathematikunterricht. Hannover: Schroedel. Bohnsack, Ralf (2000): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in die Methodologie und Praxis qualitativer Sozialforschung. 4. überarb. Aufl. Opladen: Leske + Budrich. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L. (1967): The Discovery of Grounded Theory: Strategies for Qualitative Research. New York: Aldine. Krummheuer, Götz (1997): Narrativität und Lernen. Mikrosoziologische Studien zur sozialen Konstitution schulischen Lernens. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Krummheuer, Götz (2003): Wie wird Mathematiklernen im Unterricht der Grundschule zu ermöglichen versucht? – Strukturen des Argumentierens in alltäglichen Situationen des Mathematikunterrichts der Schule. In: Journal für Mathematik-Didaktik, 24, 2, 122-138. Krummheuer, Götz/Brandt, Birgit (2001): Paraphrase und Traduktion. Partizipationstheoretische Elemente einer Interaktionstheorie des Mathematiklernens in der Grundschule. Weinheim: Beltz. Krummheuer, Götz/Fetzer, Marei (2005): Der Alltag im Mathematikunterricht – Beobachten, Verstehen, Gestalten. München: Spektrum Akademischer Verlag. Krummheuer, Götz/Naujok, Natalie (1999): Grundlagen und Beispiele Interpretativer Unterrichtsforschung. Opladen: Leske + Budrich. Naujok, Natalie (2000). Schülerkooperation im Rahmen von Wochenplanunterricht – Analyse von Unterrichtsausschnitten aus der Grundschule. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Slavin, Robert E./Shlomo, S./Spencer, K./Hertz-Lazarowitz, R./Webb, C./Schmuck, R. (1983): Learning to Cooperate, Cooperating to Learn. New York/London: Plenum Press.
Zum Einfluss von Lebendbeobachtung auf das Wissen – eine vergleichende Untersuchung im Rahmen des Sachunterrichts Marcus Schrenk
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Theoretischer Rahmen und Fragestellung
Beim Einsatz lebender Tiere im Unterricht wird häufig eine hohe motivierende Funktion beobachtet (vgl. Gern/Schrenk 1998; Schrenk/Schlegel 2001). Rausch (1997) machte ähnliche Erfahrungen und führt dies auf den Erlebniseffekt zurück. Der englische Grundschullehrer James Herndon berichtete, dass seine Schülerinnen und Schüler von lebenden Eidechsen, die einige mit in die Schule brachten, so begeistert waren, dass ihm die Kontrolle über die Situation zeitweilig zu entgleiten drohte (zit. n. Schüler 1998). Hirnforscher verweisen darauf, dass Lernen in positiver emotionaler Gestimmtheit besonders erfolgreich ist (vgl. Spitzer 2002). Im Rahmen so genannter „heißer“ konstruktivistischer Theorien wird Lernen nicht mehr nur als kalte Kognition – „cold cognition“ (Pintrich/Marx/Boyle 1993) – verstanden. Neben kognitiven wird auch situativen und emotionalen Aspekten eine große Bedeutung eingeräumt. Morgan (1992) entwickelte eine theoretische Grundlage, um Bildungsprogramme in Naturbildungszentren zu evaluieren. Er untersuchte, welcher Zusammenhang zwischen dem Wissen von Schülerinnen und Schülern über Schlangen und der Möglichkeit, diesen Tieren real zu begegnen, bestand. Die Begegnungsmöglichkeiten variierten von gar keiner Realbegegnung über der Betrachtung im Terrarium oder dem Zuschauen, wie ein Erwachsener mit einer Schlange hantiert, bis zu der Möglichkeit, die Schlange selbst zu berühren. Unter Bezugnahme auf Theorien kognitiver Konsistenz geht Morgan davon aus, dass Wissen immer Bestandteil kognitiver Systeme ist und dadurch eine Verbindung zwischen Wissen und Emotionen besteht. In einem kognitiven System besteht ein Bedürfnis nach Homöostase, also Ausgleich. Hohe Motivation bedingt daher auch hohes Wissen und umgekehrt. Es wird folgende Hypothese formuliert: Emotionale und kognitive Aspekte des Lernens stehen in einem engen Zusammenhang. Ein starker persönlicher Bezug zur Thematik fördert Ausmaß und Nachhaltigkeit der In-
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Marcus Schrenk
formationsaufnahme. Es ist ein ausgeglichenes („balanced”) Verhältnis von persönlichem Bezug („Level of Involvement“) und erworbenem Wissen („Amount of Information”) anzustreben. 2
Einbindung von Klassen einer Grundschule in ein Eidechsenschutzprojekt
Im Verlauf des Eidechsenschutzprojekts wurde die seltene Mauereidechse (Podarcis muralis) auf einer Insel im Hochrhein wieder angesiedelt. Der Bau eines Speicherbeckens in den 1970er Jahren führte zum Verschwinden dieser Eidechsenart auf der Auinsel Dogern-Albbruck. Nach Beendigung der Baumaßnahme waren die Lebensbedingungen für diese Eidechsenart eher besser als zuvor. Die Insellage schloss aber eine natürliche Zuwanderung aus. Mauereidechsen haben mehrere Bruten im Jahr. Spät geschlüpfte Jungtiere haben allerdings nur geringe Chancen, den Winter zu überleben. Ohne nun bestehende Populationen zu schwächen, war es daher möglich, im Herbst Jungtiere aus sehr späten Bruten zu fangen und – statt sie sofort in die Winterstarre zu geben – erst einmal im Terrarium zu versorgen. Die IUCN (The World Conservation Union), ein weltweit organisierter Dachverband von Organisationen und Institutionen des Naturschutzes hat durch seine Unterorganisation die SSC (Species Survival Commission) Richtlinien für Wiederansiedelungen (re-introductions) formuliert. Ganz besonderer Wert wird dabei auch darauf gelegt, die lokale Bevölkerung für solche Maßnahmen aufgeschlossen zu machen. „A thorough assessment of attitudes of local people to the proposed project is necessary to ensure long-terme protection of the re-introduced population” (IUCN / SSC 1995). Aus diesem Grund wurde über die örtliche Grundschule die Bevölkerung in das Wiederansiedelungsprojekt integriert. 3
Design und Ablauf der Untersuchung
Zwei Schulklassen der Grundschule Dogern übernahmen die Betreuung von Eidechsen. Im Schuljahr 2001/02 war dies eine vierte Klasse und im Schuljahr 2002/03 eine dritte Klasse. Bevor die Schülerinnen und Schüler die Eidechsen versorgten und betreuten, erhielten sie Unterricht zum Thema im Umfang von 10 Schulstunden. Es wurden dabei folgende Bereiche behandelt: Verhalten und Lebensweise: Sonnen, Riechen mit der Zunge, Überwinterung, Abwerfen des Schwanzes, Häutung, Fortpflanzung.
Zum Einfluss von Lebendbeobachtung auf das Wissen
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Ökologie: Anpassung, Nahrung, Biodiversität einheimischer Eidechsen, natürliche Feinde, Gefährdung und Schutzmöglichkeiten. Systematische Stellung: vor allem Unterschied Amphibien – Reptilien. In den Schuljahren 2001/02 und 2002/03 wurde außerdem in vier weiteren Klassen von jeweils verschiedenen Studentinnen und Studenten der gleiche Unterricht wie in den Projektklassen gehalten. In zwei Klassen gab es für die Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit zur einmaligen Lebendbeobachtung einer an einem Schulvormittag mitgebrachten Eidechse. In den beiden anderen Klassen gab es keine Möglichkeit zur Lebendbeobachtung. Stattdessen konnten die Schülerinnen und Schüler einen Film aus der Reihe Löwenzahn zum Thema Eidechsen betrachten („Peter und die kleinen Drachen“). Eine Woche vor und vier Wochen nach dem Unterricht wurden die Klassen mittels eines Fragebogens zu ihrem Wissen und zur Einstellung gegenüber Eidechsen befragt. Zudem wurde eine Spätbefragung mit dem gleichen Instrument 28-30 Wochen nach dem Unterricht durchgeführt. 2 Projektklassen 2 Klassen 2 Klassen
3. und 4. Schuljahr: Unterricht zum Thema Eidechsen – Haltung der Tiere über mehrere Wochen in der Schule 3. Schuljahr: Der gleiche Unterricht – einmalige Lebendbeobachtung 3. Schuljahr: Der gleiche Unterricht – Keine Lebendbeobachtung - nur audiovisuelle Medien
Tabelle 1: Beteiligte Klassen
Test (14 Fragen Wissen, 5 Fragen Einstellung)
1. Woche 2. Woche 5. Woche 28.-30. Woche
10 Stunden Unterricht zum Thema Eidechsen Test Test
Nur in den Projektklassen: von der 2.-7. und 5.-23. Woche Versorgung der Eidechsen Tabelle 2: Zeitlicher Ablauf
Bei der Befragung wurden hauptsächlich Fragen gestellt, die durch Ankreuzen zu beantworten waren (Beispiel: Was fressen Eidechsen? Kreuze das richtige Futter an!). Einige Fragen mussten auch schriftlich beantwortet werden (Beispiel: Was machen Eidechsen im Winter?). Bei der Auswertung der Tests, die im Vorfeld der Unterrichtseinheit durchgeführt wurden, stellte sich heraus, dass Wohnlage und Klassenstufe signifi-
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Marcus Schrenk
kanten Einfluss auf das Vorwissen hatten. Eine der beteiligten 3. Klassen (ohne Lebendbeobachtung) stammte im Gegensatz zu den anderen Klassen aus einer Großstadt. Zudem gab es in dieser Klasse einen großen Anteil von Schülerinnen und Schülern, die über vergleichsweise geringe Kenntnisse der deutschen Sprache verfügten. Diese Klasse unterschied sich von den anderen so signifikant, dass sie nicht in die vergleichende Untersuchung zur Wirksamkeit des Unterrichts einbezogen werden konnte. Das gleiche galt für eine andere der beteiligten 3. Klassen (mit einmaliger Lebendbeobachtung). Sie stammte aus einer Weinbaugegend Württembergs. Im Gegensatz zu allen anderen beteiligten Ortschaften waren hier Eidechsen ausgesprochen häufig und für die Kinder zumindest von März bis Oktober ein alltäglicher Anblick. Die Schülerinnen und Schüler dieser Klasse hatten ein signifikant höheres Vorwissen. Die beteiligte Projektklasse der 4. Klassenstufe unterschied sich ebenfalls im Vorfeld signifikant von den anderen. In die vergleichende Untersuchung zur Wirksamkeit des Unterrichts konnten somit nur drei Klassen einbezogen werden. Gemeinsam war ihnen, dass es sich jeweils um die dritte Klassenstufe handelte, sie aus ländlichem Raum stammten und Eidechsen vor Ort nur gelegentlich zu beobachten waren. Eine Klasse war eine Projektklasse (mit mehrwöchiger Haltung), in je einer wurde keine bzw. nur eine einmalige Lebendbeobachtung durchgeführt. 4
Auswertung der Daten und wichtige Ergebnisse
Die Testauswertung erfolgte computerbasiert (SPSS Version 11) mittels nonparametrischer Verfahren. Um festzustellen, ob sich die verschiedenen Klassen zu den benannten Messzeitpunkten signifikant unterschieden, wurde der KruskalWallis-Test und beim Vergleich von nur zwei Klassen untereinander der ManWhitney-Test eingesetzt. Für den Vergleich ein und derselben Klasse von Messzeitpunkt zu Messzeitpunkt wurde der Wilcoxon-Test angewendet. Die folgenden Grafiken und Tabellen geben einen Überblick über die Ergebnisse zu den meisten Wissensfragen.
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Zum Einfluss von Lebendbeobachtung auf das Wissen
Klasse Haltung n = 25
Vor = 4,2 SD = 1,9 np n.s. Einmalige = 3,4 Lebendbeobachtung SD = 1,5 n = 24 np n.s. Film = 3,0 n = 19 SD = 1,3
o ***
Nach = 7,0 SD = 1,6 np n.s. = 6,4 SD = 1,5
o ***
np*** = 5,6 SD = 1,3
o ***
o ***
Spät = 6,8 SD = 1,6 np** = 5,6 SD = 1,7
o ***
np n.s. = 5,1 SD = 1,2
o *
Tabelle 3: Ergebnisse zur Variablen „Ökologie“ (Lebensraum, Nahrung, natürliche Feinde u.a.) zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten (n.s. = nicht signifkant; * = p < .05, ** p < .01, *** p < .001, = Arithmetisches Mittel, SD = Standardabweichung).
Klasse Haltung n = 25
Vor =3 SD = 2,1 np n.s. Einmalige = 2,9 Lebendbeobachtung SD = 1,7 n = 24 np n.s. Film = 2,3 n = 19 SD = 0,9
o ***
Nach = 4,5 SD = 2,2 np n.s. = 4,9 SD = 1,7
o ***
np*** = 2,9 SD = 0,9
o ***
o ***
Spät = 4,5 SD = 1,9 npn.s. = 4,0 SD = 1,4
o *
np *** = 2,4 SD = 1,0
o n.s.
Tabelle 4: Ergebnisse zur Variablen „Betrachtung“ (Zeichnen einer Eidechse und Identifikation von Fehlern in einer Skizze) zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten (n.s. = nicht signifkant; * = p < .05, ** p < .01, *** p < .001, = Arithmetisches Mittel, SD = Standardabweichung).
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Marcus Schrenk
Klasse Haltung n = 25
Vor = 2,1 SD = 1,7 np n.s. Einmalige = 1,9 Lebendbeobachtung SD = 1,5 n = 24 np n.s. Film = 1,9 n = 19 SD = 1,1
o ***
Nach = 5,1 SD = 1,5 np n.s. = 4,9 SD = 1,4
o ***
np* = 3,7 SD = 0,9
o ***
o ***
Spät = 4,8 SD = 0,9 np*** = 3,4 SD = 1,1
o *
np *** = 2,5 SD = 1,3
o n.s.
Tabelle 5: Ergebnisse zur Variablen „Verhalten“ (Sonnen, Schwanzabwurf, Fortpflanzung u.a.) zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten (n.s. = nicht signifkant; * = p < .05, ** p < .01, *** p < .001, = Arithmetisches Mittel, SD = Standardabweichung).
Der besseren Übersichtlichkeit wegen soll hier beispielhaft die Variable „Ökologie“ in Form einer Grafik dargestellt werden. Einmal mit den Ergebnissen des Vor-, Nach- und Spättests im Vergleich sowie nur mit Vor- und Spättest.
Grafik 1: Ergebnisse der Befragung zu der Variablen „Ökologie“ (Lebensraum, Nahrung, natürliche Feinde u.a.) zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten (n.s. = nicht signifkant; * = p < .05, ** p < .01, *** p < .001).
Zum Einfluss von Lebendbeobachtung auf das Wissen
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Grafik 2: Ergebnisse der Befragung zu der Variablen „Ökologie“ (Lebensraum, Nahrung, natürliche Feinde u.a.) im direkten Vergleich von Vor- u. Spätbefragung (Details s. Grafik 1/Tab. 1) (n.s. = nicht signifkant; * = p < .05, ** p < .01, *** p < .001).
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Interpretation, Analyse und Diskussion der Befragungsergebnisse
Da nur drei Schulklassen an der Erhebung beteiligt waren und der Unterricht von unterschiedlichen Lehrkräften gehalten wurde, sind die Ergebnisse mit der gebotenen Vorsicht zu interpretieren. Allerdings sind insofern die Bedingungen für alle Klassen gleich gewesen, als dass es sich jeweils um studentische Lehrkräfte handelte, die den Schülerinnen und Schülern unbekannt waren und die einen weitestgehend identischen Unterricht hielten. Die Plausibilität der Ergebnisse, gerade bei der Variablen „Betrachtung“, sprechen jedoch dafür, dass Lebendbeobachtung, sei es einmalig oder dauerhaft, tatsächlich messbaren Einfluss auf das Wissen hat. Insgesamt kann festgestellt werden, dass der Unterricht in allen drei Klassen zumindest kurzfristig zu allen dargestellten Variablen erfolgreich war. Jede Klasse zeigte vier Wochen nach dem Unterricht signifikant bis hoch signifikant bessere Ergebnisse als eine Woche davor.
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Marcus Schrenk
Auch langfristig zeigten sich bei den beiden Klassen mit Möglichkeit zur Lebendbeobachtung in allen Bereichen hochsignifikante Wirkungen des Unterrichts. Bei der Klasse, die keine Möglichkeit zur Lebendbeobachtung hatte, trifft dies nur auf die Variable „Ökologie“ zu. Bei der Variablen „Verhalten“ zeigt sich immerhin signifikanter Einfluss, aber keiner bei der Variablen „Betrachtung“ (Zeichnen einer Eidechse und Identifikation von Fehlern in einer Skizze). Kurzfristig gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen der Klasse, die Eidechsen versorgte und der, die eine Eidechse nur einmalig im Klassenzimmer beobachten konnte, langfristig aber doch. Zweifellos ist der Aufwand für Lebendbeobachtungen sowie für temporäre und dauerhafte Tierhaltung im Sachunterricht sehr hoch. Nicht zuletzt deshalb sind medial vermittelte Tierbegegnungen unverzichtbar. Die Ergebnisse dieser Untersuchung weisen jedoch darauf hin, dass die originale Begegnung mit Lebewesen positivere Effekte auf das Lernen hat. Nach Meinung des Autors sollte Formen der Begegnung mit Lebewesen im Biologieunterricht mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Literatur Gern, Alexandra/Schrenk, Marcus. (1998): Haustiere. In: Sache-Wort-Zahl, 15, 4-14. IUCN/SSC (1995): IUCN Guidelines for Re-introductions: Cambridge: IUCN Publications Services Unit. Morgan, J. Mark (1992): A Theoretical Basis for Evaluating Wildlife-Related Education Programs. The American Biology Teacher, Vol. 54, No. 3, March 1992. Pintrich, Paul R./Marx, Ronald W./Boyle, Robert A. (1993): Beyond cold conceptual change. The role of motivational beliefs and classroom contextual factors in the process of conceptual change. Review of Educational Research, 63, 167-199. Rausch, Karl-August (1997): Kinder und Natur – Auswahl und Behandlung biologischer Themen im Sachunterricht der Grundschule. In: Bayrhuber, H. et al. (Hrsg.): Biologie und Bildung: Kiel: IPN. Schrenk, Marcus/Schlegel, C. (2001): Der afrikanische Wüstenigel – Erfahrungen mit der Haltung und dem Einsatz im Sachunterricht. In: Die Grundschulzeitschrift, 145, 46 – 47. Schüler, Henning (1998): Vom neugierig sein – und neugierig bleiben. In: Die Grundschulzeitschrift, 112, 6-11. Spitzer, Manfred (2002): Lernen. Heidelberg: Spektrum.
Sachunterricht und Lautorientierter Schriftspracherwerb Markus Peschel
Kinder lernen Schreiben (und Lesen) mittlerweile überwiegend nach lautorientierten Verfahren wie z.B. „Lesen durch Schreiben“ (vgl. Hanke 1997/1998; Dehn 1994; Reichen 2002; Peschel 2001/2004). All diesen „neuen“ Verfahren im Schriftspracherwerb, ob es sich nun um „Lesen durch Schreiben“ (LDS) oder eine Fibel mit einer Anlauttabelle handelt, ist gemein, dass sie eine Annäherung an die Schrift über das differenzierte Abhören der Lautfolgen eines Wortes und die entsprechende Umsetzung in Schriftzeichen suchen. Dazu werden verschiedene Anlauttabellen mit unterschiedlichen Konzeptionen bzw. Schwerpunktsetzungen eingesetzt. Ohne auf die grundlegende Problematik der PhonemGraphem-Korrespondenz und die Entsprechungen in den Anlauttabellen einzugehen, möchte ich das Potential dieser ‚Schreibmöglichkeit von Anfang an’ (vgl. Bartnitzky 1998; Blumenstock 1993) in Bezug auf Fächerverbindungen zum Sachunterricht beleuchten. Die Wörter der Kinder stehen bei einem Schriftspracherwerb mittels Konzepten wie LDS im Mittelpunkt der Auseinandersetzung (vgl. Brügelmann 1997; Spitta 2000) und schaffen einen persönlichen Bezug. Wenn die Kinder von Anfang an schreiben können, ist aber von besonderem Interesse: Welche Wörter sind es, die im Sachunterricht eine (persönliche) Bedeutung für die Kinder haben? Was sind die Wörter der Kinder? Wie kann der Sachunterricht (im Anfangsunterricht) helfen, Schriftanlässe (wohlgemerkt: nicht Schreibanlässe) und Schreibwörter zu suchen bzw. zu finden? Was gibt es durch diese Schriftspracherwerbsmethode für (neue) Möglichkeiten für den Sachunterricht? Anhand von Kinderverschriftungen verschiedener Schuljahre aus dem Sachunterricht soll diesen Fragen nachgegangen werden. Dabei sollen Möglichkeiten eines fächerübergreifenden Unterrichts, bezogen auf Sachunterricht und Deutsch, aufgezeigt werden.
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Markus Peschel
Schreibanlässe Kristina, 1a, Dez. 2002 (4 1/2 Mon. Schule), Thema „Ausflug“
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ES WAR EINMAL EIN SCHÖNA TAK WO WIR IN DEN WALT GEHN WOLLTEN WIR WOLTEN SCHLETEN FAN WIR HABEN AUCH PIGNEG GEMACHT MAMA HAD KAKAU UND MAMA HADAUCH BRÖDCHEN MET UNDWIR WAR NAUFDEMEIS UND WIR HABEN EINE SPIZMAUS GESEN IM SCHNE. ENDE
Dieser Text stammt von einer „guten“ Schülerin, die aber zu Schulbeginn wenige Schrifterfahrungen mitbrachte und weder Lesen noch Schreiben konnte. Sie hat mit einer Anlauttabelle (vgl. Peschel 2004) viele Geschichten u.a. für die Dichterlesung oder die Leserunde in der Klasse geschrieben, die eher von deutschunterrichtlichen Thematiken ausgingen.2 Man könnte hier gut Hinweise zu einzelnen Wörtern, der Rechtschreibung oder der Auslautverhärtung geben, vor allem aber möchte ich die Bezüge zu sachunterrichtlichen Themen aufzeigen. Sowohl das Thema „Ausflug“ als auch die hier beginnende Tierbeobachtung könnten im Sachunterricht weiter verfolgt und intensiviert werden. Interessant ist der Schreibanlass aus dem privaten Bereich, den Kristina als Geschichte für die Dichterlesung genutzt hat. Viele Schreibanlässe sind in den letzten Jahren entwickelt und mittels verschiedener Programme und Studien propagiert und evaluiert worden. Besonders die BLK-Studie (vgl. Hüttis-Graff/Widmann 1996; Dehn/Hüttis-Graff/Kruse 1996) war eine treibende Kraft bei der Hinwendung zu Schreibanlässen aus dem Erfahrungshorizont der Kinder. Diese Studien mündeten in Unterrichtsvorschläge und wurden über Fortbildungen der Schulbehörde (Projekt Lesen und Schreiben, PLUS) in die (Hamburger) Schulen transportiert. So wurde im Deutschbereich z.B. zu Batman oder Arielle der Meerjungfrau geschrieben (vgl. Weinhold 1998/2000), es sind Kinderbriefe entwickelt worden, um Schrift in ihrem nor-
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Die Schreibungen sind bei allen Kindertexten mit Rechtschreibfehlern und Zeilenwechseln übernommen worden. Ausgangsschrift war die Druckschrift. Wenn im Folgenden von Fächerbezug oder Fächern wie Deutsch, Sachunterricht, Mathe etc. gesprochen wird, soll dies in erster Linie den Bezug zu bzw. die Orientierung an bestimmten Fächern verdeutlichen. Es ist besonders im Anfangsunterricht sicherlich illegitim von einer Trennung des Unterrichts in separate Fächer zu sprechen.
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malen Gebrauch zu nutzen, oder es wurden Geschichten z.B. zu Ausflügen für eine „Dichterlesung“ (vgl. Peschel 2003) geschrieben. Das Schreiben in anderen Fächern als dem Deutschunterricht – abgesehen vom Sachunterricht – ist dabei weniger entwickelt, und nur wenige Lehrerinnen3 nutzen die Möglichkeit, in anderen Fächern Schreibanlässe zu schaffen (z.B. in der Mathematik mittels Rechengeschichten oder Textaufgaben). Schriftfernere Fächer, die in erster Linie auf praktische Fertigkeiten abzielen, wie Sport oder Musik, haben Schreibanlässe in ihren Fachdidaktiken weniger entwickelt. Speziell im Sachunterricht gibt es allerdings viele Möglichkeiten, Schrift einzubinden und zu verschiedenen Lerninhalten zu schreiben, z.B.: Ausflüge, Regeln, Lieblingstiere, Beschreibungen, Experimente, Beobachtungen usw. Ein besonderes Augenmerk soll in dieser Betrachtung auf den Bereich des Experimentierens gelegt werden, da hier eine „Schnittmenge“ zwischen eher naturwissenschaftlich ausgerichtetem Sachunterricht und eher schreib-/rechtschreibausgerichtetem Deutschunterricht vermutet wird. Der Sachunterricht bietet durch Beobachtungen und Beschreibungen bei Experimentieraufgaben vielfältige Verknüpfungsmöglichkeiten zu Deutschinhalten an und wird meist von derselben Lehrerin erteilt. 2
Schreibanlässe aus dem Sachunterricht Volkof, 1. Klasse, Sept. 1999 (2 1/2 Mon. Schule) Volkof fragt mich, wie Dinosaurier geschrieben wird. Ich spreche es deutlich vor. Volkof: "Mit /d/! Oder ich schreibe Tyrannosaurus Rex." Jens-Jürgen: "Das fängt mit einem /t/ an." Ich erkläre, dass Tyrannosaurus Rex schwieriger zu schreiben ist, aber Volkof schreibt dennoch: TORANOSSAUROS REZ.
Diese Schreibung stammt aus einem Sachuntterichtsthema, bei dem es um Lieblingstiere und – im geplanten Anschluss – um die Weiterentwicklung der Unterrichtseinheit im Sinne von (Haus-)Tierhaltung, Klassifizierungen und Verhaltensweisen ging. Volkof nennt sein Lieblingstier, spezifiziert aber zunächst nicht, welchen Dinosaurier er beschreiben möchte (von der möglichen Fortführung im Sinne der Tierhaltung sei einmal abgesehen). Selbst das Wort „Dinosaurier“ ist schon recht schwierig zu schreiben, da es als sehr langes Wort viel Konzentration und Ausdauer in den ersten Schulwochen erfordert. Allerdings ist 3
Die feminine Form wird hier gebraucht, da der Frauenanteil an der Grundschule ca. 90% beträgt. Männliche Kollegen sind mitgemeint.
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es lautrein, und die meisten Lautfolgen sind leicht zu erhören. Auf die Verkürzung „Dino“ ließ sich Volkof von vornherein nicht ein! Allerdings wurde recht schnell deutlich, dass es Volkof auf einen ganz bestimmten Dinosaurier ankam: den größten, stärksten und gefährlichsten von allen, den Tyrannosaurus Rex. Dieses ihm so bedeutsame Wort, noch dazu in einer lateinischen Schreibung, schien nach meiner Auffassung eine zu große Herausforderung für einen Erstklässler in den ersten Schulwochen, aber Volkof ließ sich nicht beirren und konzentrierte sich für eine lange Zeit, ca. 15-20 Minuten, auf sein Vorhaben. Interessant ist hierbei, dass er den „Start“ gerne gemeinsam mit einem Erwachsenen besprechen wollte, die Hilfe und Unterstützung aber von einem Mitschüler bekam und aufnahm. Dieser arbeitete nebenher an einer eigenen Verschriftung, hatte aber Muße genug, Volkof beim Anlautieren zu helfen. Der von Reichen mit LDS erhoffte Aspekt, über bedeutsame Wörter einen „Lernsog“ (HüttisGraff 1997) zu erreichen, scheint in dieser Szene zu wirken. Man kann an diesem Beispiel ansatzweise ebenfalls erkennen, dass Wörter für andere Kinder Bedeutsamkeit erlangen bzw. reizvoll werden können. Dieser Prozess des Lautierens und Schreibens kann somit über den individuellen Prozess hinaus zu einem Partner- oder Gruppenerlebnis werden. Der Erfolg und Stolz von Volkof, dieses schwierige Wort fast richtig (!) geschrieben zu haben, ist m.E. evident. Den Möglichkeiten, die der Sachunterricht schafft, indem persönlich bedeutsame Inhalte verschriftet werden, gilt ein erhöhtes Augenmerk. Interventionen im Sinne des Deutschunterrichts können an dieser Schnittstelle ansetzen und die basale Schreibmotivation nutzen, um zu weiteren Auseinandersetzungen und Erkenntnissen mit Schrift und Schreibkonventionen zu gelangen. So könnte Volkof zumindest Reks erhören und zu der Laut-Buchstaben-Verbindung [ks] Æ <x> oder oder hingeführt werden. 3
Freies Beschreiben von Experimenten
Eine besondere Beschäftigung mit Schrift ist im Rahmen des Experimentierens im Sachunterricht zu finden. Die meisten Experimente – z.B. aus dem Werkstattunterricht, dem Wochenplan oder auch gemeinsame Experimente im Stuhlkreis – werden besprochen und/oder dokumentiert. Zum Beispiel fasziniert das Erlöschen einer Kerze unter einem umgestülpten Glas und fordert Nachfragen und Entdeckungen heraus. Aus Sicht der Sachunterrichtsdidaktik sind gerade das genaue Beobachten, Besprechen und Dokumentieren der Arbeitsschritte und -ergebnisse ein wichtiges Ziele. Obwohl der Schwerpunkt im Anfangsunterricht zunächst auf der mündlichen Besprechung liegt, schafft vor allem die Auseinandersetzung mit
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Schrift-Sprache eine dauerhafte und vertiefte Entwicklung der Sachunterrichtsziele. Bei den Zielsetzungen ist zwischen Zielen für die gesprochene und die geschriebene Sprache zu unterscheiden. Beide benötigen spezifische Unterstützungen und Formen (vgl. Brügelmann 1997; Augst/Dehn/Habersaat 1995). In einer Werkstatt können bei einem Experiment freie Schreibaufträge unterschiedlich formuliert werden, z.B.: Beschreibe, was du gemacht hast und was du herausgefunden hast. Schreibe es in dein Experimentierbuch. Schreibe deinen Versuch so auf, dass ihn andere nachmachen können. Erstelle für die Wandzeitung, Ausstellung etc. ein „Plakat“ mit deinem Versuch.
Sabrina, Sept. 2003 Kl. 3, Sachunterricht, Thema „Magnetismus“
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Eine Metall-Ausstelung Es gibt Drei Kisten. und man Muss Sachen Holen. wen man Denkt das Ein Magnet Sie An zieht. woh man eiSenstahl, Metall Samlung und Andere Metalle Drauf schreibt und Dan probiert man es Selbst aus Ende.
Aus einer solchen freien Beschreibungsaufgabe resultiert der Text von Sabrina. Von den Rechtschreibfehlern abgesehen, die einen guten Anlass zu Interventionen und Überarbeitungen geben, beschreibt Sabrina recht ausführlich, wie sie vorgegangen ist und was andere Kinder machen sollen. Die Verschriftung folgt zeitgetreu den einzelnen Schritten bei der Durchführung, was zeigt, dass Sabrina den Ablauf verstanden hat und nachvollziehbar beschreiben kann. Allerdings trennt Sabrina noch nicht zwischen Informationen, die für andere, die den Versuch noch vor sich haben, wichtig sind, und denen, die für sie bedeutsam waren. So ist z.B. die Box „Metallsammlung“ in erster Linie für sie als „Expertin“ wichtig. Überarbeitungen dieses Textes könnten dahin gehen, dass sie ihre Anleitung mit anderen Kindern ausprobiert und die einzelnen Schritte vergleicht, anpasst und erweitert. Der entscheidende Punkt ist m.E. jedoch: „und dann probiert man es selbst aus“, was einen deutlichen Arbeitsauftrag und Motivationsimpuls an andere Kinder bedeutet. Es selbst auszuprobieren, das scheint hier eine wesentliche Botschaft zu sein, denn es grenzt sich gegenüber einem „dann machst du das oder dies“ deutlich ab und verweist auf die persönliche Aktivität im Umgang mit Experimenten. 4
Der Text lag in Schreibschrift vor.
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Experimente: Naturwissenschaftliches Arbeiten
Was passiert, wenn man (zu früh) auf Interventionen im Sinne der Anbahnung Naturwissenschaftlichen Arbeitens abzielt, verdeutlicht ebenfalls ein Text von Sabrina, die vor genau diesem Dilemma stand: Sie sollte nicht mehr nur aufschreiben, was sie gemacht hatte, sondern sich an die zuvor besprochenen Konventionen halten. Diese wurden vorab und zwischenzeitlich im Unterricht mit den Kindern festgelegt (es ist übrigens mein eigener Unterricht, den ich hier kritisiere): Stelle eine Frage. Wenn du dabei Schwierigkeiten hast, lass dir helfen. Auf dem Aufgabenblatt gibt es meistens auch eine Hilfe. Zeichne auf, was du gemacht hast. Die Zeichnung soll anderen Kindern helfen, das Experiment nachzumachen.
Versuche eine Antwort zu finden (die auf deine Frage passt). Sabrina, Fortsetzung Sept. 2003, Kl. 3
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Frage: werden alle Metalle vom Magneten angezogen. Andwort: Nein. Nur Bistumte Metalle werden angezogen. Zum Beispiel Büro Klamern. Ende ZeichNung umblettern. Bitte
Frage Die Frage ist bei den meisten Arbeitsaufträgen oder vorgefertigten Werkstätten vorformuliert und durch den Werkstattcharakter meist auch nötig, da viele Arbeitsaufträge zur gleichen Zeit „abgewickelt“ werden und wenig Raum für die 5
Der Text lag in Schreibschrift vor.
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(ggf. gemeinsame) Entwicklung ist. Es ist für die Kinder daher eher ein Abschreiben der Frage bzw. der Aufgabenstellung als eine eigene Formulierung. Zudem tun sich Kinder meist wesentlich schwerer bei der Formulierung einer Frage als bei der Findung einer entsprechenden Antwort. Das von vielen Kindern schnell formulierte (und für sie zumeist ausreichende!) „wie geht das?“ ist im Sinne einer naturwissenschaftlichen Herangehensweise nicht differenziert genug. Besonders die unterschiedlichen Zielsetzungen in ähnlichen Experimenten erfordern eine spezielle Fragestellung, da auf die Unterschiede besonderer Erkenntniswert gelegt wird, z.B.: Wann wird das Metall angezogen? Wie richtet sich der Magnet aus? Wo (genau) muss man zwei Magnete aneinander halten, damit sie sich abstoßen? Zeichnung Die meisten Werkstattaufgaben – gekauft oder selbst erstellt – enthalten eine Zeichnung. Dies scheint hilfreich und nötig, da eine textliche Formulierung zu umfangreich wird. Durch die vorgegebene Zeichnung wird ein gewünschtes oder erwartetes Ergebnis suggeriert, das die Kinder dann versuchen umzusetzen. Auch die zeichnerische Auseinandersetzung ist daher eher ein Abmalen als eine eigene Gestaltung im Rahmen „freien“ Experimentierens. Abgesehen von der Unzufriedenheit mit dem Ergebnis, das meist nicht den Illustrationen von professionellen Grafikern entspricht, erleben die Kinder wieder eine „Arbeitsführung“. Es wird durch die vorgegebenen Hilfen zwar ein (vorzeigbares) Ergebnis erzielt, dieses enthält aber wenig eigene Anteile und voraussichtlich auch keine für die Kinder bedeutsamen und wesentlichen Elemente.6 Antwort Nach den vorhergehenden Erfahrungen stellt sich die Frage, warum sich die Kinder noch Mühe bei der Formulierung einer Antwort geben sollten, wenn doch schon sowohl die Frage als auch die Zeichnung vorgegeben war (und unzufrieden stellend erfüllt wurde). Zudem ist meist auch eine Lösung auf der Rückseite der Werkstattaufgabe zur Selbstkontrolle angeführt oder sie liegt an vereinbarten Orten bereit. Es wird durch den wohlformulierten und didaktisch angepassten Werkstatt-Auftrag inkl. einer erklärenden Zeichnung suggeriert, dass zur Lösung eher ein sauberes (Ab-)Arbeiten wichtig sei als eigene Gedanken. Die Loslösung von diesen vorgegebenen Strukturen und die bewusste Überwindung von Schemata erfordern m.E. eine sehr hohe Kompetenz der Kinder, ein großes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und ein großes Ver6
Hier deutet sich ein Forschungsbedarf in Bezug auf die Dokumentation von Experimentierergebnissen in freien oder gelenkten Experimentierformen an.
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trauen der Lehrer/innen in die Fähigkeiten der Schüler/innen. Es bleibt als Überarbeitungsansatz meist nur übrig, die Antwort in vollständigen Sätzen zu schreiben, was aber weniger ein Lernziel des Sachunterrichts ist. 5
Überarbeitungen
Wenn man sich die beiden Texte von Sabrina anschaut, so stellt man fest, dass die Textmenge und die Überarbeitungsmöglichkeiten im ersten Beispiel wesentlich größer sind. Darüber hinaus ist es ein individueller Text mit persönlichem Bezug, der von sich heraus eine andere Überarbeitungsmotivation bietet. Weiterhin wird im zweiten Text deutlich, dass Sabrina sich an die Konvention (Frage, Zeichnung, Antwort) anpassen kann, diese Anforderung dann aber reduziert und schematisch erfüllt. Die Überarbeitungsmöglichkeiten der beschriebenen Kindertexte veranschaulichen, dass die Ziele der Überarbeitung sehr vielfältig sein können. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind Überarbeitungen möglich in Bezug auf: Inhalte, Schreibfehler, Satzbau, einzelne Wörter, Fragestellung, Fragewörter, Zielrichtung, Zeichnung, Form (Buchstaben), Stifthaltung, Datum, Überschrift, Unterstreichungen, Handhaltung, Layout (Seitengestaltung), Heftführung, Umschlag, Antwortqualität, Sammelmappe, Ranzenordnung, Grafiken/Zeichnungen, Anspitzen…. Wenn man versucht, dies in fachspezifische Zielsetzungen zu untergliedern, dann sind die dem Sachunterricht zuzuordnenden Überarbeitungen: Naturwissenschaftliche Herangehensweise (u.a.: Entwickeln der Frage bzw. des Versuchs) Zeichnung Qualität der Antwort: Kann man mit der Antwort die Frage beantworten? Es interessieren aber auch Überarbeitungen mit Schwerpunktsetzung auf deutschfachliche Anteile: Rechtschreibung Buchstabenform Satzbau, Satzzeichen Den Interventionen der Lehrerin sollte an dieser Stelle besonderes Augenmerk gelten, denn zu viele oder in die verkehrte Richtung tendierende Forderungen bzgl. Überarbeitungen können zu Frustration führen. Eine Konzentration auf einige wenige Lernziele (‚die Antwort verbessern, so dass sie auf die Frage passt’
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oder ‚auf Stammprinzip achten: „umblättern“ wg. „Blatt“’ etc.) macht eine Überarbeitung erst möglich. Eine Intervention auf der „Deutsch-Ebene“ beeinflusst die „Sachunterrichts-Ebene“ und umgekehrt – eine Vermischung der Überarbeitungsziele determiniert aufgrund der umfangreichen Anforderungen die Chancen zur Überarbeitung und schafft durch die Nichterfüllbarkeit letztlich eine Demotivation bei den Kindern. 6
Schriftanlässe statt Schreibanlässe
Die anfangs angeklungene Unterscheidung von Schreibanlässen und Schriftanlässen möchte ich an dieser Stelle in aller Kürze aufgreifen. Schreibanlässe als Motivation zu schreiben resultieren in erster Linie aus dem Deutschunterricht und den didaktisch-methodischen Überlegungen der Lehrerin. Es wird angenommen, dass Schreiben ein Ziel im Unterricht ist, und es wird ein Anreiz gesucht, damit Kinder schreiben (vgl. Dehn 1994). Dies mündet meist in gut gemeinte und didaktisch gut geplante Einheiten, die Kindern zu Anreizen (Batman, Arielle, Lieblingstier, Anwesenheitsliste etc.) Schreibaufgaben anbieten bzw. von ihnen einfordern (vgl. Weinhold 2000). Schriftanlässe ist ein Kunstwort, um eine Diskrepanz herzustellen, die aufgrund fließender Übergänge in der schulischen Realität so nicht gegeben ist. Schriftanlässe bauen im Gegensatz zu Schreibanlässen auf Situationen und Notwendigkeiten auf, Schrift in seiner basalen Form als Kommunikationsmittel, Gedächtnisstütze, Publikationsmedium etc. zu nutzen. Sicherlich kann dies auch ein Ziel von Schreibanlässen sein, nur steht bei den Schriftanlässen das Ziel Publikation oder Kommunikation im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Schrift hat dabei immer die Funktion, Ideen und Gedanken zu fixieren bzw. zu transportieren. Schrift ist in dieser – wie oben erwähnt – künstlichen Differenzierung ein Medium und nicht das Ziel des Unterrichts. Nicht die Frage „Was könnte man dazu schreiben?“ sollten Kinder und Lehrer stellen, sondern Schrift als Instrument benutzen und fragen: „Wem willst du was mitteilen?“! Der Sachunterricht bietet dazu viele Chancen. Literatur Augst, Gerhard/Dehn, Mechthild/Habersaat, Steffi (1996): Lautschema und Schreibschema. Überlegungen zum Rechtschreiblernen. In: Dehn, Mechthild/Hüttis-Graff, Petra/Kruse, Norbert (Hrsg.): Elementare Schriftkultur. Schwierige Lernentwicklung und Unterrichtskonzept. Weinheim, Basel: Beltz, 122-129.
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Bartnitzky, Horst (1998): Die rechte weis aufs kürtzist lesen zu lernen. Oder: Was man aus der Didaktik-Geschichte lernen kann. In: Balhorn, Heiko/Barnitzky, Horst/Büchner, Inge (Hrsg.): Schatzkiste Sprache 1. Von den Wegen der Kinder in die Schrift. Frankfurt a. M., Hamburg: Arbeitskreis Grundschule, DGLS, 14-46. Blumenstock, Leonhard (1993): Schriftspracherwerb: mit oder ohne Fibel? In: Haarmann, Dieter (Hrsg.): Handbuch Grundschule. Bd. 2. Fachdidaktik: Inhalte und Bereiche grundlegender Bildung. Weinheim, Basel: Beltz, 81-99. Brügelmann, Hans (1986): ABC und Schriftsprache. Rätsel für Kinder, Lehrer und Forscher. Konstanz: Faude. Brügelmann, Hans (1996): Die Schrift entdecken. Beobachtungshilfen und methodische Ideen für einen offenen Anfangsunterricht im Lesen und Schreiben. 6. Aufl. Konstanz: Faude. Brügelmann, Hans (1997): Kinder auf dem Weg zur Schrift. Eine Fibel für Lehrer und Laien. 6. Aufl. Bottighofen: Libelle. Dehn, Mechthild (1994): Zeit für die Schrift. Lesenlernen und Schreibenkönnen. 4. überarb. Aufl. Bochum: Kamp. Dehn, Mechthild (1999): Texte und Kontexte. Schreiben als kulturelle Tätigkeit in der Grundschule. Berlin: Volk und Wissen. Dehn, Mechthild/Hüttis-Graff, Petra/Kruse, Norbert (Hrsg.) (1996): Elementare Schriftkultur. Schwierige Lernentwicklung und Unterrichtskonzept. Weinheim, Basel: Beltz. Hanke, Petra (1997): Schriftspracherwerbsprozesse von Kindern nach verschiedenen didaktisch-methodischen Ansätzen des Anfangsunterrichts. In: Glumpler, Edith/Luchtenberg, Sigrid (Hrsg.): Jahrbuch Grundschulforschung. Bd. 1. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 233-250. Hanke, Petra (1998): "Lesen durch Schreiben" (Jürgen Reichen) – ein "Leselehrgang"? In: Becher, Hans R. (Hrsg.): Taschenbuch Grundschule. 3., neubearb. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 184-197. Hüttis-Graff, Petra (1997): Lernschwierigkeiten – Lernchancen. Beobachten und Unterrichten. In: Die Grundschulzeitschrift, 11, 107, 8-13. Hüttis-Graff/Widmann, Bernd-Axel (Hrsg.) (1996): Elementare Schriftkultur als Prävention von Lese-/Rechtschreibschwierigkeiten und Analphabetismus bei Grundschulkindern. Abschlussbericht des Modellversuchs der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung. Hamburg: Amt für Schule. Peschel, Markus (2001): "Lesen durch Schreiben" von Jürgen Reichen. Darstellung und kritische Einschätzung. Marburg: Tectum Verlag. Peschel, Markus (2003): Die "Dichterlesung". Ein Element der schriftlichen Kommunikation beim Schriftspracherwerb mit "Lesen durch Schreiben". In: Panagiotopoulou, Argyro/Brügelmann, Hans (Hrsg.): Grundschulpädagogik meets Kindheitsforschung. Zum Wechselverständnis von schulischem Lernen und außerschulischen Erfahrungen im Grundschulalter. Opladen: Leske + Budrich, 145-149. Peschel, Markus (2004): Lesen durch Schreiben in offenen Lernsituationen. Eine qualitative Fallstudie in Hamburger ersten Klassen zum Konzept "Lesen durch Schreiben" von Jürgen Reichen. Berlin:Wissenschaftlicher Verlag Berlin. Spitta, Gudrun (2000): Welche Vorteile bietet die Arbeit mit dem Grundwortschatz? In: Valtin, Renate (Hrsg.): Rechtschreiben lernen in den Klassen 1-6. Grundlagen und didaktische Hilfen. Frankfurt a. M.: Arbeitskreis Grundschule, 77-80. Weinhold, Swantje (1998): Text als Herausforderung. Untersuchung zur Konzeptualisierung von Schriftsprachlichkeit am schulischen Schreibbeginn. Hamburg: Diss. als Manuskript gedruckt. Weinhold, Swantje (2000): Textkompetenz von Anfang an. Eine Aufgabe für Lernende und Lehrende. In: Hamburg macht Schule, 12, 4, 20-22.
Ökonomische Kompetenzen in der Primarstufe Katrin Hauenschild & Meike Wulfmeyer
Die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Lage in Deutschland wird von den meisten Menschen als problematisch empfunden. Das Damoklesschwert Arbeitslosigkeit bestimmt die Atmosphäre und beeinflusst politische Wahlen im Land. Diskussionen um soziale Sicherungssysteme, Steuerpolitik und mehr Eigenverantwortung der Bürger werden allerorts geführt und man ist stolz, ‚Exportweltmeister’ zu sein. Doch werden die Verflechtungen ökonomischer Vorgänge wirklich durchschaut und verstanden? Wie ist dies bei Kindern und wie sind sie in der Konsumgesellschaft positioniert? 1
Ökonomische Bildung im Sachunterricht der Grundschule
Der Bildungsauftrag der Grundschule zielt für alle Kinder auf Grundlagen, die im Laufe ihrer weiteren Schulbiografie ausgebaut werden. Hier schließen sich Überlegungen zur Allgemeinbildung von Klafki (1996) an, nach denen die Ziele Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Solidaritätsfähigkeit angebahnt werden sollen. Grundbildung oder Allgemeinbildung gilt auch in der Grundschule als Motor der Persönlichkeitsentwicklung und dient der Förderung der Autonomie des Individuums. Ökonomische Bildung ist ein Teil dieser Grundbildung; Wirtschaft ist ein einflussreicher Bereich zum Erlernen grundlegender Inhalte. Bildungstheoretisch und nach Klafki argumentiert sollen im Sinne der materialen Kategorie epochaltypische Schlüsselprobleme und die didaktischen Prinzipien Gegenwarts-, Zukunfts- und Gesellschaftsrelevanz als Kriterien für die Inhaltsauswahl angesetzt werden. Ökonomische Bildung begründet sich nach diesen Prinzipien und ist ein sozialwissenschaftlicher Lernbereich, der in der Grundschule dem Kernfach Sachunterricht zufällt, in dem Kinder sich kulturell bedeutsames Wissen erschließen, dieses Wissen kritisch reflektieren und so Problemlösefähigkeit erlangen sollen. Mit der Auswahl von Unterrichtsinhalten im Rahmen des öko-
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nomischen Lernens muss es gelingen, Kindern eine aktive Aneignung von Grundstrukturen des Wirtschaftslebens zu erschließen und so dazu beizutragen, typische Vorgänge und wirtschaftliche Prinzipien zu durchschauen, kritisch zu hinterfragen und im Rahmen ihrer eigenen Wirklichkeit auf aktuelle Geschehnisse und Prozesse übertragen zu können. Ziel ist es also, elementare Inhalte mit allgemeinbildender Relevanz zu finden, die in einem spezifischen Bereich, hier Wirtschaft, zur Erschließung der Welt beitragen und anhand derer exemplarisch Kenntnisse und Kompetenzen erworben werden können, die gleichzeitig vielfältige Transfermöglichkeiten bieten. Es geht um die Entwicklung von Kompetenzen im deklarativen (also Sachund Faktenwissen), prozeduralen (Orientierungswissen, verfahrensbezogene Fähigkeiten und Fertigkeiten) und metakognitiven Bereich (vgl. GDSU 2002). Hier stellt sich die Frage, wie die Grundschule diese Kompetenzen im Kontext von Wirtschaft anbahnen kann. 2
Handlungsorientierte ökonomische Bildung unter dem Leitbild Nachhaltige Entwicklung
Seit der Phase der Wissenschaftsorientierung in den 1970er Jahren, in der fachorientierte Konzeptionen verfolgt wurden, entstand in späteren Jahren neben dem konzeptionellen Ansatz der sog. Verbrauchererziehung auch der bis heute weit verbreitete Ansatz, Ökonomie als einen Bereich des politischen Lernens zu entwickeln (vgl. u.a. Rohe 1994; von Reeken 2001). Kinder setzen sich hier auf der Grundlage ihrer Alltagstheorien systematisch mit gesellschaftlichen, in diesem Fall also wirtschaftlichen Vorgängen und Beziehungen auseinander und können Kompetenzen entwickeln. Allerdings müssen Erfahrungsräume, in denen Kinder handeln können, auch tatsächlich bestehen oder geschaffen werden. Schülerfirmen sind hier eine gute Möglichkeit, Kindern bereits in der Grundschule einen solchen Erfahrungsraum anzubieten und handlungsorientierte ökonomische Bildung unter dem Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung zu realisieren. Nachhaltige Entwicklung impliziert eine bildungspolitische Innovationsaufgabe. Sie geht von einer Verknüpfung lokaler Ereignisse mit globalen Bezügen aus und fragt nach globaler Gerechtigkeit sowie nach Gerechtigkeit zwischen den Generationen (vgl. Hauenschild/Bolscho 2005). Ökonomische Geschehnisse und Entscheidungen bleiben niemals auf den Bereich der Ökonomie beschränkt, so dass ökonomisches Handeln nicht isoliert, sondern immer in Vernetzung mit gesellschaftlichen oder sozio-kulturellen und ökologischen Implikationen reflektiert wird. Trotz dieses Anspruchs der Retinität sollte die ökonomi-
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sche Komponente im Rahmen einer „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“ (BNE) unserer Ansicht nach besonders herausgestellt werden. Die Kompetenzen, die erworben werden sollen, bestimmen sich in Kombination mit den jeweiligen curricularen Inhalten ökonomischen Lernens. Basierend auf den Erkenntnissen von Aebli gehen wir zudem davon aus, dass Lernenden der Sinn eines Lerngegenstands besonders dann deutlich wird, wenn dieser in umfassende Handlungskontexte eingebunden ist und die Lernenden durch das Aufwerfen von Fragen zur Problemlösung motiviert werden (vgl. Aebli 1983: 293). 3
Ökonomische Kompetenzen
Handlungsorientierte Lehr-Lernarrangements tragen somit zur Entwicklung von Kompetenzen auf verschiedenen Ebenen bei. Generell ist unser Ansatz der ökonomischen Bildung auf eine Handlungskompetenz der Lernenden ausgerichtet. Diese Handlungskompetenz setzt sowohl Sachkompetenz, also das systematische Wissen über bereichsspezifische Phänomene, Probleme und Prinzipien, als auch Methodenkompetenz im Sinne des eigenverantwortlichen Strukturierens und kreativen Organisierens des Lernens in verschiedenen methodischen Settings (Planspiel, Befragungen, Projekt) voraus. Darüber hinaus werden überfachliche soziale und personale Kompetenzen angestrebt, die sich in Schlüsselqualifikationen wie der Bereitschaft und Fähigkeit zu Teamarbeit und zu Kommunikation zeigen. Ökonomische Kompetenz entwickelt sich somit in deklarativen, prozeduralen und in metakognitiven Kompetenzbereichen. Im Rahmen unseres Ansatzes eines handlungsorientierten ökonomischen Lernens werden unter dem Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung Handlungsund Gestaltungskompetenzen zur erfolgreichen und verantwortungsvollen Nutzung von Problemlösungen entwickelt, die auf Partizipation zielen und einen Zukunftsbezug haben (vgl. Weinert 2002: 27f.). Auch hier zeigt sich der Zusammenhang zu Klafki und seiner Vorstellung vom mündigen Bürger. In der englischsprachigen Kompetenzdebatte wird analog zu der viel diskutierten scientific literacy von economic literacy gesprochen. Die Forschungslage in diesem Bereich gestaltet sich nicht sehr umfangreich. Ergebnisse des amerikanischen National Council of Economic Education von 1999 deuten zwar auf kindliche Vorstellungen in diversen Wirtschaftsbereichen hin, allerdings scheinen diese wenig umfangreich. Für Deutschland liegen außer der Studie von Feldmann (1987), in der er Ergebnisse verschiedener empirischer Untersuchungen zum ökonomischen Bewusstsein zusammenfasst, kaum aktuelle Untersuchungen vor. Lediglich Lüdecke/Szesny (1999) haben mit dem wirtschaftskund-
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lichen Bildungs-Test von Beck-Krumm analog zum Test of Economic Literacy im Vergleich verschiedener Länder festgestellt, dass das Niveau wirtschaftskundlichen Wissens der deutschsprachigen Länder durchweg schlechter ist als das der anderen Länder. Als Barrieren ökonomischen Lernens gelten nach Walstad (1994: 119ff.) u.a. die unzureichende Repräsentanz und Qualität wirtschaftsbezogener Abschnitte in Schulbüchern und anderen Unterrichtsmaterialien und die inhaltliche Unverbindlichkeit, also das Fehlen eines Kerncurriculums. Der Mangel an einem Kerncurriculum führt vielerorts zu der Forderung nach einem gesonderten Fach ‚ökonomische Bildung’. Wir vertreten aber eher die Ansicht, dass der Bereich der Wirtschaft systematisch fächerübergreifend in den Grundschulunterricht integriert werden sollte (vgl. Wulfmeyer 2005). Grundschuldidaktische Vorschläge zu ökonomischem Lernen können sich hinsichtlich relevanter Inhalte jedoch nicht nur auf Ökonomie und Nachhaltige Entwicklung beschränken, vielmehr müssen sie die Lebenssituationen von Kindern, ihre individuelle Entwicklung, ihre Konstrukte und individuellen Lernprozesse berücksichtigen, um subjektive Lernprozesse zu realisieren. Hier setzt die Lehr-Lernforschung an, die die Untersuchung von Lernerperspektiven, Lernprozessen und -strategien mit dem Ziel der Verbesserung von Lehr-Lernprozessen fokussiert. Neben der fachlichen Klärung legt sie einen Schwerpunkt auf Vorstellungen, auf Erfahrungen und auf Werte von Lernern, also auf die Erforschung der Entwicklung von Kompetenzen, und liefert auf diese Weise wertvolle Grundlagen für die curriculare Entwicklung. 4
Empirische Begleitforschung
In einer Grundschule in Hannover wurde 2003 ein von Kindern selbst organisierter Einzelhandel für Schulbedarf implementiert, in dem sich Kinder einer jahrgangsübergreifenden Arbeitsgemeinschaft (3/4) an einem konkreten Beispiel handelnd und weitgehend eigenverantwortlich mit betriebswirtschaftlichen Vorgängen auseinander setzen. Von der Auswahl und (Nach-)Bestellung geeigneter Ware und deren Inventarisierung, über Preisfestlegung, Werbe- und Verkaufsstrategien bis hin zur Verwaltung von Umsatz und Gewinn übernehmen Schülerinnen und Schüler unternehmerische Aufgaben und können Wirtschaft erfahren, erproben und kognitiv durchdringen (vgl. Wulfmeyer/Hauenschild 2005). Für die Begleitforschung mit drei Untersuchungen in zwei Erhebungsphasen ist hier interessant, inwiefern die reflektierte Teilnahme am Wirtschaftsleben in diesem handlungsorientierten Projekt „Schülerladen“ Kompetenzen bei
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Grundschulkindern anbahnen kann und welche Kompetenzen im Einzelnen angesprochen werden. In der ersten Erhebungsphase vor Einrichtung des Schülerladens wurden im Kontext qualitativ orientierter Lehr-Lernforschung ökonomische Vorstellungen von Kindern in verschiedenen Bereichen von Wirtschaft exploriert (Vergleichgruppendesign: 24 Kinder der 3./4. Jahrgangsstufen, die Wirtschaftsunterricht hatten, 21 Kinder ohne Wirtschaftsunterricht). Die Ergebnisse zeigen zusammengefasst, dass die Kinder, die wirtschaftliche Themen im Unterricht erfahren haben, Vorstellungen von wirtschaftlichen Zusammenhängen entwickeln. Das zeigt sich z.B. in den Bereichen: Vorgänge in Banken, primäre und sekundäre Bedürfnisse und Produktionsprozesse. Hier kommt prozedurales Wissen zu Herstellung, Gewinnmaximierung, Vertrieb und Kriterien der Preisfestlegung sowie zu Wirkungszusammenhängen im Verkauf zum Ausdruck. Die Kinder können Kenntnisse im deklarativen und prozeduralen Bereich detaillierter verbalisieren als die Kinder aus der Kontrollgruppe; dennoch fällt es auch den Kindern, die sich bereits mit Wirtschaftsthemen auseinander gesetzt hatten, relativ schwer, ihr Wissen in weiteren Zusammenhängen anzuwenden und z.B. ökologische Faktoren einzubeziehen. In der zweiten Erhebungsphase nach Einrichtung des Schülerladens wurde die Implementation des Schülerladens hinsichtlich seiner Wirkungen auf das Schulleben und auf die Entwicklung von Kompetenzen bei den am Laden beteiligten Kindern evaluiert. Bei der ersten Untersuchung wurden problemzentrierte Interviews (vgl. Witzel 1985, 2000) mit indirekt Beteiligten (Schüler der Schule, Lehrkräfte, Eltern, andere Beteiligte) durchgeführt. Hier zeigt sich, dass die Akzeptanz des Ladens und die Begeisterung für das Projekt umso höher sind, je mehr Einblicke die Befragten in Abläufe und Organisation im Laden sowie über den begleitenden AG-Unterricht und das pädagogische Anliegen des Projekts haben. Die erwachsenen Befragten erwarten – neben Effekten auf die Förderung sozialer Fähigkeiten – besonders durch das interessengeleitete handlungsorientierte Lernen mit „Ernstcharakter“ und die positive Motivationslage einen Zuwachs an ökonomischen Kenntnissen bei den Kindern, die im Schülerladen tätig sind. Darüber hinaus befürworten sie die Stärkung überfachlicher Kompetenzen wie Verantwortungsbereitschaft, Selbstständigkeit und Teamfähigkeit, die auch in den metakognitiven Bereich hineinspielen. Die befragten Kinder der Schule bringen den im Laden tätigen Schülerinnen und Schülern hohe Anerkennung entgegen. Sie begrüßen das Sortiment sowie die Möglichkeit, täglich Schulbedarf erwerben zu können, und nehmen positive Veränderungen des Schullebens durch die Nutzung des Gewinns für die Gestaltung des Schulhofes wahr.
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Weder von den Erwachsenen noch von den nicht direkt beteiligten Kindern werden allerdings konkrete Bezüge zwischen der Schülerladenarbeit und umwelt- bzw. nachhaltigkeitsrelevanten Aspekten hergestellt. Über allgemeine Aussagen zur Umweltfreundlichkeit von Büromaterialien hinausgehend, z.B. Recycling-Papier, werden hier keine Zusammenhänge verbalisiert. In der zweiten Untersuchung der zweiten Erhebungsphase wurden aktionsorientierte Interviews speziell mit den Schülerladen-Kindern, während sie im Laden tätig waren, durchgeführt. Diese Interviewform wurde im Rahmen von Untersuchungen zum naturwissenschaftlichen Arbeiten zur Erhebung von Lernerperspektiven beim aktiven Handeln entwickelt (vgl. Hauenschild/Wulfmeyer 2004). Die im qualitativen Paradigma verortete Interviewkonzeption ist an das problemzentrierte Interview nach Witzel (1985) und an das fokussierte Interview nach Merton & Kendall (1956) angelehnt und zielt als Instrument für teilstrukturierte Studien auf die Erhebung bereichs- und themenspezifischer Lernervorstellungen in authentischen Lernsituationen mit Bezug auf konkrete Lernhandlungen. Das zentrale Merkmal des aktionsorientierten Interviews ist die Aktionsorientierung, die zum einen die Aktivität der Lerner, die direkte unterrichtsrelevante Handlungen durchführen, und zum anderen die gegenüber anderen Interviewformen erhöhte Aktivität des Forschers beschreibt, der die Schüler/innen bei der Durchführung ihrer Handlungen fragend begleitet. Die Prozessualität bezieht sich auf die verschiedenen Phasen des Lernprozesses sowie auf den Forschungsgegenstand und den Akt des Forschens selbst (vgl. Lamnek 1995: 24f.). Mit der Phasierung des Interviews wird dem Prozesscharakter Rechnung getragen. In lerntheoretischer Perspektive stehen Lernervorstellungen unmittelbar mit handlungsorientierten Lernerfahrungen im Zusammenhang; Voraussetzung für Denken ist das Vorwissen, das dazu befähigt, Handlungen zu antizipieren und zielgerichtet vorzugehen oder auch erworbenes Wissen tentativ anzuwenden und zu vertiefen. Mit den Phasen des Interviews – prä-aktional, aktional und post-aktional – wird dieser Prozess systematisch exploriert, indem die Lerner ihre Lernhandlungen im Gespräch explizieren. Explikation meint auf Lernerseite die Erklärung der eigenen Handlungen und auf der Forscherseite das Bestreben, die Befragten während der Datenerhebung verstärkt zur Verbalisierung ihrer Vorstellungen anzuregen. Explikation beinhaltet schließlich auch Reflexivität, die kritische Prüfung von Denken und Tun. Im Sinne der Zirkularität (vgl. Flick 1999) geht es beim Forscher um die Reflexion des Forschungsprozesses; auf Lernerseite zeigt die Verbalisierung der Vorstellungen in den verschiedenen Phasen des Lernprozes-
Ökonomische Kompetenzen in der Primarstufe
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ses die kognitive Durchdringung der Lernhandlungen an. Das aktionsorientierte Interview ist hier auf die verschiedenen Kompetenzbereiche gerichtet. Entlang der Merkmale wurden für das Interview folgende Phasen entwickelt: Nach einer Einführung in das Interview wurden in der prä-aktionalen Phase Angaben zu Aktivitäten auf inhaltlicher und methodischer Ebene, zur Organisation sowie zur Anfangs- und Verlaufsmotivation erhoben. Im Übergang zur aktionalen Phase sollten die Kinder Vermutungen zum bevorstehenden Verkauf äußern – Vorerfahrungen sollten sich hier in Antizipationsfähigkeiten ausdrücken. In der aktionalen Phase sollten die Kinder ihre Tätigkeiten inhaltlich und in der methodischen Vorgehensweise beschreiben und begründen. Wir differenzieren hier zwei Niveaustufen: deskriptive Aussagen (darstellend, erläuternd) und interpretative Aussagen (begründend, verstehend). Zum Abschluss der aktionalen Phase sollten die Kinder ihre Tätigkeit insgesamt reflektieren. In der post-aktionalen Phase lag das Erkenntnisinteresse zum einen in der Gesamteinschätzung der Kinder zum Schülerladen und zum anderen in der Einschätzung des eigenen Lernerfolgs allgemein und in Bezug auf Bildung für Nachhaltige Entwicklung. Im Gesprächsabschluss hatten die Kinder die Möglichkeit, Verbesserungsvorschläge anzubringen und sich frei zu äußern. Der Interviewleitfaden wurde in zwei Pretests erprobt. Es wurde eine Vollerhebung mit allen Schülerladenkindern durchgeführt. Die Interviews wurden mit MAXqda (Kuckartz 1999) fallübergreifend kodiert. Ergebnisse (prä-aktionale Phase): Alle Kinder sind seit der Eröffnung des Ladens vor einem ¾ Jahr im Schülerladen tätig. Ihre Verlaufsmotivation ist anhaltend hoch und sie arbeiten an mehreren Tagen der Woche im Schülerladen mit. Besonders gefällt den Kindern die gute Zusammenarbeit, die sich in einer rotierenden Aufgabenverteilung konkretisiert. Die Kinder können ihre Tätigkeiten zumeist detailliert beschreiben; sie haben einen guten Überblick über das Sortiment und können dessen Zweck benennen. Für die Detaillierung der Beschreibungen ist der begleitende Unterricht in der AG hilfreich, in der die täglichen Aufgaben wie auch Sonderaktionen vorbereitet werden. Im Rahmen antizipatorischen Denkens können die Kinder ihre Erwartungen an die anstehende Öffnungszeit auf der Grundlage ihrer Erfahrungen begründet verbalisieren. In der aktionalen Phase beschreiben und begründen die Kinder ihre Tätigkeiten umfassend auf inhaltlicher wie methodischer Ebene, so dass deklarative und prozedurale Kompetenzen ausgemacht werden können. Aus der Gesamteinschätzung in der post-aktionalen Phase wird deutlich, dass den Kindern in erster Linie der praktische Nutzen des Ladens (Einkaufs-
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Katrin Hauenschild & Meike Wulfmeyer
möglichkeit für alle Kinder, Anschaffung von Spielgeräten aus dem Gewinn) bewusst ist. Weniger transparent sind den Kindern die pädagogischen Intentionen: Sie können zwar ihre Tätigkeiten darstellen, diese jedoch nicht in für Wirtschaftslernen relevante Kontexte einordnen und ihre betriebswirtschaftlichen Erfahrungen auf ökonomische Prinzipien beziehen. Gleiches gilt hinsichtlich der Bildung für Nachhaltige Entwicklung: Die zwar nicht sehr zahlreichen, aber dennoch vorhandenen umweltfreundlichen Produkte im Schülerladen können zwar benannt, aber nicht in ihrem Nutzen begründet werden. Den Kindern fehlen hier grundlegende Kenntnisse, die eine Einordnung in komplexere Zusammenhänge, wie sie im Leitbild Nachhaltige Entwicklung angeboten werden, möglich machen. Um in Verbindung mit dem konkreten Tun Transferleistungen entfalten zu können und der Gefahr blinden Aktionismus’ vorzubeugen, ist eine zielgerichtete unterrichtliche Begleitung unerlässlich – die wiederum auf der forschungsgestützten Entwicklung curricularer Grundlagen basiert. Das aktionsorientierte Interview stellt hier eine Möglichkeit dar, Einblicke in „Denkwelten“ (Gropengießer 2003) zu gewinnen, die im handelnden Tun zur Sprache kommen und verschiedene Kompetenzbereiche berühren. 5
Ausblick
Die Ergebnisse unserer Forschung haben gezeigt, dass durch dieses Konzept der handlungsorientierten ökonomischen Bildung alle Kompetenzbereiche angesprochen werden. Schülerfirmen können den Ansprüchen gerecht werden, wenn sie auf einen begleitenden Unterricht bezogen sind, der die Kinder darin unterstützt, ihre praktisch erworbenen Kenntnisse systematisch zu vertiefen und ökonomische Einsichten zu gewinnen. Dazu müssen entsprechende Unterrichtsmaterialien für die Grundschule entwickelt werden. In einer Publikation (2006) werden sowohl die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen als auch das Konzept und die Unterrichtsmaterialien ausführlich dargestellt. Literatur Aebli, Hans (1983): Zwölf Grundformen des Lehrens. Eine allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage. Stuttgart: Klett-Cotta. BLK (1999): Bildung für eine nachhaltige Entwicklung – Gutachten zum Programm von Gerhard de Haan und Dorothee Harenberg, Freie Universität Berlin. Materialien zur Bildungsplanung und Forschungsförderung, Heft 72. Bonn. Feldmann, Klaus (1987): Die Entwicklung des ökonomischen Bewußtseins von Kindern und Jugendlichen. Hannover.
Ökonomische Kompetenzen in der Primarstufe
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II
Lehrkompetenzen
Unterrichtsstandards für ein kompetenzorientiertes Lernen und Lehren Hilbert Meyer & Andrea Klapper
Die Standard-Diskussion bewegt die Gemüter. Ob aber die Orientierung an Bildungsstandards tatsächlich zu einer besseren Unterrichtsqualität und zum Hinaufpurzeln auf der PISA-Ranking-Liste führen wird, ist noch völlig offen. Deshalb ist ein didaktischer Theorierahmen erforderlich, der das komplexe Zusammenspiel von Standardfestlegungen und Unterrichtsentwicklung klärt. In diesem Beitrag wollen wir dieser Frage nachgehen, indem wir (1.) genauer definieren, was kompetenzorientiertes Lernen und Lehren heißen kann; indem wir (2.) den Vorschlag machen, die von der KMK eingeführten Bildungsstandards durch Unterrichtsstandards zu ergänzen, um dann (3.) erste Überlegungen anzustellen, wie zehn von uns an anderer Stelle definierte „Merkmale guten Unterrichts“ zu solchen Unterrichtsstandards weiter entwickelt werden können. Wir versuchen also, die durch die KMK entwickelte Kontrolllogik der Bildungsstandards auf den Unterricht selbst zu übertragen, um abschließend (4.) zu diskutieren, welcher Preis dafür zu zahlen ist. 1
Lehr- und Lernkompetenzen
Eines der fatalen Ergebnisse der PISA-Studie 2000 lautete, dass deutsche Schülerinnen und Schüler insbesondere dort schwach sind, wo es darauf ankommt, das im Unterricht erworbene Wissen und Können miteinander zu vernetzen und dann in realen Sach-, Sinn- und Problemzusammenhängen anzuwenden. Die Kompetenzorientierung des Lehrens und Lernens soll dazu beitragen, diese Defizite zu beheben. Ob dies eine realistische Perspektive zur Qualitätssicherung ist, soll im Folgenden diskutiert werden.
90 1.1
Hilbert Meyer & Andrea Klapper
Was sind Kompetenzen?
Die akademische Diskussion zum Kompetenzbegriff ist unübersichtlich. Es ist unwahrscheinlich, dass sich diese Unübersichtlichkeit in den nächsten Jahren auflösen wird. Wir verwenden deshalb in pragmatischer Absicht das traditionelle, vor gut 25 Jahren in Deutschland etablierte Verständnis von Kompetenz als einem theoretischen Konstrukt zur Beschreibung eines anwendungsorientierten Wissens und Könnens von Lehrer/innen und Schüler/innen (vgl. Heursen 1983; Jank/Meyer 2002: 159 ff.): Eine kompetente Schülerin ist handlungsfähig. Sie hat kein „totes Wissen“ angehäuft; sie ist in der Lage, zielorientiert zu handeln und ihr erworbenes Wissen und Können in neuen Situationen zu aktivieren. Eine kompetente Lehrerin ist in der Lage, pädagogische Routineaufgaben sicher, elegant und kräftesparend zu erledigen. Sie ist aber auch bereit, schulische Herausforderungen anzunehmen und sich selbst Entwicklungsaufgaben zu setzen. Arbeitsdefinition 1: Eine Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, eine Leistung in immer wieder neuen Situationen zielbezogen, effektiv, elegant und unter Beachtung ethischer Regeln zu erbringen.
Kompetenzen sind komplex. Sie können nicht isoliert trainiert werden. Ihre Entwicklung ist immer in einen ganzheitlichen Lehr-Lernprozess eingebunden. Wer nur kompetenzorientiert unterrichten will, wird sein selbst gesetztes Ziel nicht erreichen. 1.2
Kompetenzstufenmodelle
Sich beim Unterrichten an Kompetenzen zu orientieren, stellt eine erhebliche, für die meisten deutschen Lehrerinnen und Lehrer neuartige Herausforderung dar. Wir haben deshalb in gemeinsamer Arbeit mit berufserfahrenen Lehrkräften ein Kompetenzstufenmodell „in pragmatischer Absicht“ erarbeitet, das sich bei der Unterrichtsentwicklung als Analyserahmen bewährt hat, selbst aber noch nicht empirisch abgesichert ist (vgl. Kiper u.a. 2003: 110-126; Meyer 2003, 2004: 168-173). Kompetenzstufenmodelle sollen dem/r Lehrer/in helfen, die Lernvoraussetzungen seiner/ihrer Schülerinnen und Schüler differenziert zu erfassen und zugleich die Richtung zu beschreiben, in die die individuellen Lernentwicklungsprozesse führen können. Das Modell stellt für uns keinen Ersatz,
Unterrichtsstandards für ein kompetenzorientiertes Lernen und Lehren
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sondern eine Ergänzung des akademischen Theoriediskurses dar. Dabei haben wir folgende Konstruktionsregeln für die genauere Beschreibung von Kompetenz aufgestellt: (1) Kompetenzen können nicht direkt beobachtet werden, sichtbar ist nur die auf Grundlage der Kompetenz realisierte Performanz. (2) Indikatoren helfen, das mit einer Kompetenz Gemeinte anschaulich zu machen. Sie können nicht logisch aus dem theoretischen Konstrukt abgeleitet werden. Vielmehr müssen sie von Fachleuten in einem kommunikativen Prozess erarbeitet werden. (3) Kompetenzen sind immer aus mehreren Dimensionen zusammengesetzt. (4) Anzahl und Umfang der Dimensionen bezeichnen wir als Kompetenzbreite. (5) Kompetenz ist immer gestuft. Kompetenzstufen beschreiben das Mehr oder Weniger der Realisierung von Wissen, Können und Urteilen im definierten Bereich. (6) Den Umfang der Stufung bezeichnen wir als Kompetenztiefe. (7) Dimensionierung und Stufung schaffen eine spezifische Tektonik, also einen in sich strukturierten Aufbau einzelner Kompetenzkonstrukte. (8) Die Tektonik muss in Theorie und Praxis vom Prozess des Kompetenzerwerbs unterschieden werden. (9) Die Stufung einzelner Kompetenzdimensionen erfolgt nach einem einheitlichen, bildungstheoretisch vorgegebenen und normativ gesetzten Stufungskriterium ("zunehmende Selbstständigkeit" oder „Kreativität“). Wir schlagen vor, vier1 Kompetenzstufen zu unterscheiden. Sie gelten für Lehrer/innenhandeln und Schüler/innenhandeln gleichermaßen. Das zugrunde gelegte Stufungskriterium haben wir aus den von den Praktikern vorgelegten Stufungsmodellen übernommen. Es ist das der wachsenden Selbstständigkeit des Denkens, Fühlens und Handelns. (1) naiv-ganzheitliches Nachvollziehen einer Handlung (2) Ausführen einer Handlung nach Vorgabe (3) Ausführung einer Handlung nach Einsicht (4) selbstständige Prozesssteuerung und ihre didaktische Reflexion
Lehrer/innen und Schüler/innen, die die höchste Stufe erreicht haben, sind in der Lage, den Lehr- und Lernprozess selbstständig zu initiieren, ihn nach definierten Kriterien zu steuern und die erreichten Ziele, die Erfolge und Misserfolge zu reflektieren. Stufe 4 könnte deshalb auch im Sinne Lothar Klingbergs (1990) als „didaktische Kompetenz“ bezeichnet werden. Sie bezieht sich auf die Fähigkeit 1
Bei Meyer, „Was ist guter Unterricht?“ (2004: 169), sind’s noch 5 Stufen. Wir haben uns entschieden, die letzten beiden Stufen zu fusionieren, weil sie eine Akzentuierung des Reflexionsund des Handlungskompetenzanteils derselben Stufe darstellen.
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Hilbert Meyer & Andrea Klapper
von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern, gemeinsam die Verantwortung für den Lehr-Lernprozess zu übernehmen. Wir waren bei der gemeinsamen Erarbeitung von Kompetenzstufenmodellen für Unterrichtsmethoden überrascht, dass es vielen Kolleginnen und Kollegen leichter fiel, die Stufen 3 und 4 als die Stufen 1 und 2 auszumalen. 1.3
Ein Beispiel
Melanie Fuchs, Grundschullehrerin in einer kleinen niedersächsischen Schule unterrichtet Mathematik in der 2. Klasse. Für die Unterrichtseinheit „Entwicklung kombinatorischer Fähigkeiten anhand von handlungsorientierten Aufgabenstellungen“ hat sie sich ein fachbezogenes Kompetenzstufenmodell ausgedacht. Stufungskriterien sind dabei die zunehmende Abstraktionsfähigkeit und der Grad der Selbstständigkeit des Schüler/innenhandelns. Melanie unterscheidet 5 Stufen: (1) trial and error – Die Schüler/innen finden Kombinationen durch Ausprobieren. (2) Sinnvolles Sichten und Vergleichen – Die Schüler/innen können gefundene Kombinationen vergleichen und so „Doppelte“ aussortieren. (3) Vervollständigen der gefundenen Kombinationen – Die Schüler/innen können ein Baumdiagramm mit allen möglichen Kombinationen nachvollziehen. Durch ein Betrachten der einzelnen Pfade können sie ihre gefundenen Kombinationen zuordnen und vervollständigen. (4) Ordnen der Kombinationen – Die Schüler/innen können die Kombinationen nach einem (zunächst vorgegebenen) Kriterium ordnen.
(5) Selbstständige Erarbeitung aller möglicher Kombinationen – Die Schüler/innen können selbstständig die Merkmale mit ihren Ausprägungen nennen und in einem Baumdiagramm darstellen.
Melanie berichtet: „Ich hatte in die Stunde 3 Hosen, 4 T-Shirts und 2 Mützen in Kindergröße mitgebracht. Die Schüler/innen sollten dann handelnd die möglichen Kombinationen erarbeiten und nach unterschiedlichen Kriterien ordnen. Dabei sollten sie auf gewonnene Einsichten aus den vorherigen Stunden (zur Herstellung von Baumdiagrammen) zurückgreifen und Analogien herstellen. Das Stufenmodell war bei der Stundenplanung und im Unterricht selbst überaus hilfreich. Es hat mir geholfen, die gezeigten Schüler/innenleistungen genauer zu analysieren und Differenzierungsangebote zu machen. Jede Aufgabe konnte ich
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einer Kompetenzstufe zuordnen. Es hat natürlich auch offene Aufgaben gegeben, z.B. „finde alle möglichen Kombinationen“ – dann konnten die Schüler/innen selbstgesteuert alle Stufen durchlaufen. Das ist in einer handlungsorientiert durchgeführten Unterrichtseinheit auch gar nicht so schwer. Wenn die Schüler/ innen selbstständig zusammenarbeiten, sieht man sehr schnell, auf welcher Stufe sie sich bewegen. Der Unterricht war lebendig. Das Hantieren und Rechnen hat allen Kindern viel Spaß gemacht.“ Melanies Unterrichtsstunde belegt, dass „Kompetenzorientierung“ keine Fiktion der Bildungspolitiker ist, sondern eine realistische Perspektive für die Gestaltung eines anspruchsvollen offenen Unterrichts darstellt. 1.4
Dimensionierung von Lern- und der Lehrkompetenzen
Was ist Lernkompetenz? Claudia Solzbacher definiert sie als „die Fähigkeit zum erfolgreichen Lern-Handeln“ (Solzbacher 2005: 9). Lernkompetenzen sind also Voraussetzung und Ergebnis von Lehr-Lernprozessen. Dabei hat sich im schulpädagogischen Diskurs der letzten Jahre die Unterscheidung von vier Teilkompetenzen durchgesetzt: die Sach-, die Methoden-, die Sozial- und die Selbstkompetenz (vgl. Czerwanski u.a. 2002: 30-32). In jeder dieser Hauptdimensionen macht es Sinn, mit Kompetenzstufenmodellen zu arbeiten (vgl. Fuchs 2003). Was ist Lehrkompetenz? Es gibt viele unterschiedliche Modelle zur theoretischen Erfassung – ein Theoriekonsens ist in weiter Ferne (vgl. AllemannGhionda/Terhart 2006). Wir schlagen deshalb vor, die folgenden drei, aus der abendländischen Philosophie übernommenen Grunddimensionen des Wissens, Könnens und Urteilens zugrunde zu legen (vgl. Jank/Meyer 2002: 146): (1) Ein/e kompetenzorientierte/r Lehrer/in wendet ein breites fachliches, fachdidaktisches und allgemeindidaktisches Wissen für die kompetenzorientierte Strukturierung von Unterricht an (das amerikanische Professionalisierungsforscher wie Lee Shulman als „pedagogical content knowledge“ bezeichnen). (2) Er/Sie hat ein breites didaktisch-methodisches Handlungsrepertoire, das Förder- und Differenzierungsstrategien einschließt, um mit diagnostizierten Lernschwierigkeiten in Abwägung zu den Lernvoraussetzungen umzugehen. (3) Er/Sie folgt einem ethischen Kode, der am Respekt vor den Schülerinnen und Schülern, an individueller Fürsorge und an der Gerechtigkeit gegenüber allen orientiert ist.
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Ein wesentlicher Baustein kompetenzorientierten Lehrens ist die Perspektivenkompetenz. Sie bezeichnet die Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern, Schüler/innenvorstellungen wahrzunehmen und zu verstehen, sich über verschiedene fachliche Ansprüche und Zugänge bewusst zu sein, um durch die Vermittlungsleistung zwischen beiden Komponenten nachhaltige Lehr-Lern-Prozesse zu initiieren. 1.5
Didaktische Ansprüche an kompetenzorientiertes Lehren und Lernen
Was tun? Wir müssen den Schülerinnen und Schülern beim Vernetzen und Anwenden ihres Wissens, Könnens und Urteilens helfen, indem wir stärker als bisher darauf achten, dass sie ein systematisches („kumulatives“) Wissen aufbauen, indem wir ihre Lernkompetenzen und ihr Selbstvertrauen stärken, so dass „lebenslanges Weiterlernen“ zu mehr als einem Schlagwort wird. Ein/e Lehrer/in, der/die diese Ziele verfolgt, sollte auf Dreierlei achten. (1) Er/Sie macht eine kompetenzorientierte didaktische Analyse : Er/Sie klärt durch eine Lernstrukturanalyse die Struktur des fachlichen Inhalts, der den Schülerinnen/Schülern vermittelt werden soll (Rekonstruktion der Operationen, die zum Ziel führen). Er/Sie klärt durch eine Lernstandsanalyse, welche Kompetenzen für die Lösung einer Aufgabe erforderlich sind und auf welchen unterschiedlichen Kompetenzstufen sich seine/ihre Schüler/innen bewegen. Er/Sie wählt den Zugang zu den Lerninhalten unter Beachtung der Zugänglichkeit der Inhalte für die Schüler/innen und versucht, Schüler/innenvorstellungen, Interessen und Motivationen mit den fachlichen Inhalten in Beziehung zu setzen. Er/Sie entwickelt vielfältige Differenzierungsstrategien, um das individuelle Fördern einerseits, das gemeinsame Lernen andererseits zu unterstützen. (2) Besonders wichtig ist die Entwicklung einer kompetenzorientierten Aufgabenkultur, wie dies im Stundenbeispiel von Melanie Fuchs angedeutet wird: Ein/e kompetenzorientierte/r Lehrer/in wählt die Aufgaben so aus, dass Schüler/innen mit unterschiedlichen Kompetenzniveaus sie individuell und zum Teil auch gemeinsam bearbeiten können.
Unterrichtsstandards für ein kompetenzorientiertes Lernen und Lehren
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Er/Sie versucht, den Schülerinnen und Schülern Angebote zum Erklimmen der nächst höheren Kompetenzstufe zu machen und stärkt dadurch zugleich ihre Selbstständigkeit. Darüber vergisst er/sie nicht, Lernsituationen zu schaffen, in denen die Schüler/innen ihre Sozialkompetenz entwickeln und das Selbstvertrauen stärken können. (3) Ein wesentliches weiteres Merkmal kompetenzorientierten Unterrichts ist die Förderung der Metakognition der Schüler/innen. Das bedeutet konkret, eine Selbstreflexions-, Gesprächs- und Feedbackkultur zu entfalten, in der die Schülerinnen und Schüler: sich ihrer Sach-/Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenzen bewusst werden können, sich ihre Lernmotivation bewusst machen und sie weiter entwickeln, Lernerfahrungen machen, die es ihnen erlauben, den Kompetenzaufbau mit einer persönlichen Sinnstiftung zu verknüpfen und sich als Konsequenz ihrer Reflexionen persönliche Entwicklungsaufgaben stellen. 2
Bildungs- und Unterrichtsstandards – Versuch einer begrifflichen Klärung
2.1
Was sind Bildungsstandards?
Bildungsstandards sind „performance-standards“. Sie beschreiben den Inhalt, den Umfang und die Qualität der durch Unterricht und Schule angestrebten Lernergebnisse (vgl. Klieme u.a. 2003; Oelkers 2003: 138). Arbeitsdefinition 2: Bildungsstandards definieren und normieren, welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe erworben haben sollen (vgl. Klieme u.a. 2003).
Das ist eine komplizierte Aufgabe. Deshalb sind in der akademischen Standardund Kompetenz-Diskussion drei Kriterien für die Ausformulierung von Bildungsstandards aufgestellt worden:
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(1) Bildungsstandards sollen sich an einem theoretischen Modell der Kompetenzentwicklung orientieren. (2) Sie sollen in sich gestuft dargestellt werden. (3) Und sie sollen standardisiert, d.h. in geeichte, national oder international gültige Messskalen übertragen worden sein. Die große Mehrzahl der von der KMK veröffentlichten Standards genügt diesen Kriterien nicht. 2.2
Was sollen Bildungsstandards bewirken?
Während die Wissenschaftler noch heftig darüber streiten, was die richtige Forschungsstrategie ist, um Standards im oben definierten Sinne zu entwickeln, hat sich die KMK schon lange festgelegt. Der Versuch, die Schulqualität durch Bildungsstandards zu steuern, ist beschlossene Sache. Die KMK begründet diese Entscheidung mit der auf den ersten Blick attraktiven Idee, dass die Freiräume der Schulen bei der Unterrichtsgestaltung wachsen werden: Nur das wird „von oben“ festgelegt, was am Ende eines Bildungsabschnitts erreicht sein soll. Dem dienen ausformulierte Bildungsstandards, Vergleichsarbeiten, Zentralabitur etc. Die Schulen haben dann freie Hand, zu entscheiden, auf welchem Weg sie zu den gewünschten Ergebnissen kommen. Fragt sich bloß, ob diese neue Freiheit ein Stochern im Nebel oder ein halbwegs zielorientiertes Vorgehen werden kann. Die Unterrichtsforschung hat zwar in den letzten zehn, fünfzehn Jahren erhebliche Fortschritte gemacht, aber wir sind weit davon entfernt, präzise Wirkungsmechanismen beschreiben zu können. Dies signalisiert die hohe schwarze Mauer in unserer Grafik (vgl. Abb. 1). Wie genau die Linien zwischen den Prozessen und den Produkten ablaufen, welche Kausalzusammenhänge im einzelnen und welche Wechselwirkungen stattfinden, wissen wir aber nicht. Das Lernen ist Gott sei Dank immer noch nicht zu mechanisieren. Deshalb ist und bleibt Unterricht ein schöpferischer, manchmal auch chaotischer Prozess. Bildungsstandards haben mithin einen sehr innigen, aber prinzipiell indirekten Bezug zum Unterricht. Ihre Legitimation erhalten sie durch den politischen Willen der Verantwortlichen und durch die empirische Absicherung. Aber man kann und darf nicht aus der Diagnose bestimmter Lernstände am Ende einer Ausbildungsphase deduzieren, was im Unterricht passieren soll – zum einen, weil man aus rein logischen Gründen aus dem, was ist, nicht ableiten darf, was sein soll, zum anderen, weil aus einem Lernergebnis
Unterrichtsstandards für ein kompetenzorientiertes Lernen und Lehren
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nicht logisch gefolgert werden kann, wie der Weg dorthin auszusehen hat. Deshalb halten wir die Hoffnung, die Unterrichtsqualität nur über Ausformulierung der Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten steuern zu wollen, für eine Illusion.
Abbildung 1: Steuerungsmechanismen unterrichtlichen Lehrens & Lernens
2.3
Was sind Unterrichtsstandards?
Der Begriff „Unterrichtsstandard“ ist unseres Erachtens bisher in Deutschland nicht gebräuchlich. Wir benutzen ihn im Sinne der von der US-Amerikanerin Diane Ravitch formulierten „Opportunity-to-learn-Standards“ (grenzen ihn also gegen die Input- und Performance-Standards ab; vgl. Oelkers 2003: 137ff.): Arbeitsdefinition 3: Unterrichtsstandards beschreiben Qualitätsstufen realen Unterrichts im definierten Qualitätsbereich, die auf der Grundlage vergleichender empirischer Forschungen gewonnen und auf der Grundlage einer Unterrichtstheorie gewichtet worden sind.
Unterrichtsstandards können Lehrkräften, Schulleitungen und Inspektoren helfen, die Qualität des Unterrichts verlässlich und nachprüfbar zu bestimmen. Allerdings sind Unterrichtsstandards in Deutschland nur erst ansatzweise und
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noch nirgendwo in empirisch abgesicherter Form erarbeitet worden.2 Es gibt bei uns auch noch keine Diskussion darüber, ob und wenn ja in wie viele Stufen diese Standards unterteilt werden sollen und ob man eher Regel- oder Mindeststandards formulieren sollte. 2.4
Viele Wege führen nach Rom
Die Formulierung der Unterrichtsstandards ist das eine – die Beschreibung der Wege, die zu hoher Unterrichtsqualität führen, ist etwas anderes. Wir wissen aus der didaktischen Theorie, aus der empirischen Unterrichtsforschung und aus der Professionalisierungsforschung, dass es keinen Königsweg zur hohen Unterrichtsqualität gibt. Gerade hochqualifizierter Unterricht in best-practice-Klassen hat ein je individuelles Profil, an dessen Zustandekommen die Lehrerin/der Lehrer einen entscheidenden Anteil hat: „Viele Wege führen nach Rom“ – das zeigen z.B. die Forschungsergebnisse zu best-practice-Klassen aus der SCHOLASTIK-Studie (vgl. Weinert/ Helmke 1997: 250). „Unterricht ist ein schöpferischer Prozess“, schrieb lange vor der Wiedervereinigung der DDR-Didaktiker Lothar Klingberg, um deutlich zu machen, dass die von der Partei und vom Staat vorgegebenen gesellschaftlichen und curricularen Normierungen nicht direkt in den Unterricht durchschlagen können und dürfen (vgl. Jank/Meyer 2002: 142). „Lehrerarbeit ist Handeln unter Unsicherheit“, konstatiert die Professionalisierungsforschung (vgl. Schön 1983). Und genau deshalb ist der Lehr-Lernprozess nicht technisch beherrschbar – auch nicht über die Formulierung von Bildungs- und/oder Unterrichtsstandards. Standardisierung der Bewertungsmaßstäbe des Unterrichts ist deshalb etwas völlig anderes als die Standardisierung des Unterrichts selbst. These 1: Standardisierung des Unterrichts ist schädlich. Sie behindert die Herausbildung eines hohen Niveaus. Standardisierung der Maßstäbe für Unterrichtsqualität macht Sinn. Sie erleichtert den Vergleich und die Ursachenforschung.
2
Interessante, leider noch nicht durch Effektivitätsstudien legitimierte Kataloge mit PerformanceStandards haben der Grundschulverband (2003) und das Bündnis reformpädagogisch engagierter Schulen (2005) vorgelegt.
Unterrichtsstandards für ein kompetenzorientiertes Lernen und Lehren
3
Merkmalskataloge guten Unterrichts als Instrumente der Qualitätssicherung
3.1
Kriterienmix
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Die empirische Unterrichtsforschung hat in den letzten zehn, fünfzehn Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Deshalb können wir heute sehr viel genauer als früher sagen, welche Merkmale alltäglichen Unterrichts zu dauerhaft hohen kognitiven, methodischen und sozialen Lernerfolgen beitragen. Wir haben diese Forschungsergebnisse didaktisch gewichtet, um zwei schlecht erforschte, aber wichtige Merkmale (Nr. 5 und 10) ergänzt und dann zu einem KRITERIENMIX zusammengefasst (vgl. Meyer 2004). Die 10 Merkmale sind keine Rezepte, sondern bewusst abstrakt belassene Maßstäbe für die Beurteilung des unterrichtlichen Handelns des Lehrers/der Lehrerin und der Schüler/innen. Der KRITERIENMIX kann deshalb bei der Unterrichtsentwicklung vielfältige Aufgaben übernehmen: Er kann zum Bestandteil eines Schulleitbildes gemacht werden; er kann von Lehrerinnen und Lehrern zur Klärung und Weiterentwicklung der persönlichen Theorie guten Unterrichts genutzt werden; er kann bei der Unterrichtsbeobachtung helfen; er kann als Referenzrahmen für Mitarbeiter/innengespräche, als Fixpunkt für Stundennachbesprechungen oder als Beobachtungsgrundlage für Schulinspektionen genommen werden. 10 Merkmale eines guten Unterrichts – Ein KRITERIENMIX 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.
Klare Strukturierung des Unterrichts Hoher Anteil echter Lernzeit Lernförderliches Klima Inhaltliche Klarheit Sinnstiftendes Kommunizieren Methodenvielfalt Individuelles Fördern Intelligentes Üben Transparente Leistungserwartungen Vorbereitete Umgebung
100
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Die Merkmale gelten für herkömmlichen, eher lehrer/innenzentrierten Unterricht ebenso wie für offene und schüler/innenorientierte Lernarrangements. Sie gelten für alle Schulstufen und Schulformen, sind aber fachdidaktisch neutral (und insofern ergänzungsbedürftig). Sie erfassen die Oberflächenstruktur des Unterrichts – nicht die Tiefenstruktur des Lernens und Lehrens (vgl. Oser/ Baeriswyl 2002). Sie bilden ein „Qualitätsnetzwerk“ von sich gegenseitig unterstützenden Faktoren erfolgreichen Unterrichts. Wie diese Synergieeffekte konkret ablaufen, ist aber noch wenig erforscht. Weil die 10 Merkmale aufgrund ihrer empirischen Basierung und bildungstheoretischen Verortung generelle Gültigkeit beanspruchen können, gelten sie auch für „kompetenzorientierten Unterricht“ im oben definierten Sinne. Deshalb die nächste These: These 2: Es gibt keine klaren Grenzen zwischen „gutem Unterricht“ im Sinne des KRITERIENMIX und „kompetenzorientiertem Unterricht“.
3.2
Kleinarbeitung der Merkmale guten Unterrichts zu Beobachtungsbogen
Die 10 Merkmale sind, wie oben angemerkt, noch zu abstrakt. Sie müssen kleingearbeitet werden, um die genannten Funktionen bei der Unterrichtsentwicklung erfüllen zu können. Einen ersten Schritt zur Kleinarbeitung stellen die beispielhaften Indikatorenkataloge in Meyer (vgl. 2004: 30 ff.) dar. Einen zweiten Schritt stellt die Weiterentwicklung der Indikatorenkataloge zu Beobachtungsbogen dar. Deshalb haben wir gemeinsam mit Studentinnen und Studenten zu jedem der zehn Merkmale einen solchen Bogen angelegt (vgl. Abbildung 2). Bei der Herstellung von Beobachtungsbogen muss man im Kopf behalten, dass die Indikatoren keine strenge Ableitung aus dem abstrakt definierten Merk-mal sind, sondern eine sinngemäße, d.h. von den Herstellern des Bogens für angemessen gehaltene Deutung darstellen. Deshalb plädieren wir im Rahmen unseres pragmatischen Ansatzes dafür, professionelle Lehrkräfte, aber auch Studierende und Referendarinnen und Referendare an der Ausformulierung der Standards zu beteiligen und nicht nur auf die Wissenschaftler zu setzen. Dies kann den Praktikern helfen, reflexive Distanz zum eigenen Unterrichtshandeln herzustellen. Es kann Theoretikern helfen, die Komplexität realen Unterrichts realistisch zu erfassen.
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Abbildung 2: Beobachtungsbogen zu Merkmalen guten Unterrichts Die Herstellung eines validen und reliablen Beobachtungsbogens durch Prak-tiker/innen unterscheidet sich nicht von der Arbeit professioneller Unterrichts-forscher/innen. Folgende Arbeitsschritte müssen durchlaufen werden: (1) Festlegung von Teilkriterien. Sie sind noch nicht beobachtbar, beschreiben aber wichtige Teilaspekte des Unterrichtsstandards. (2) Zuordnung von Indikatoren. Die Indikatoren müssen so konkret ausformuliert werden, dass sie direkt beobachtet werden können, sie sollten aber dennoch immer so abstrakt bleiben, dass mehrere Unterrichtsereignisse darunter subsummiert werden können. (Sonst würde der Beobachtungsbogen überlang und nicht mehr handhabbar.) (3) Überprüfung der Validität (= Gültigkeit) der vorgenommenen Kleinarbeitung. Eine Metapher kann helfen, den schwierigen Begriff zu verstehen: Wer einen Beobachtungsbogen herstellt, richtet sozusagen einen Fotoapparat auf die Unterrichtsrealität. Dabei muss er erstens sicherstellen, dass er ein Objektiv mit der gewünschten Brennweite gewählt hat (damit der Aus-
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3.3
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schnitt der Wirklichkeit, den er fotografiert, genau so groß bzw. klein ist, wie er es aus Forschungsgründen haben möchte). Der Fotograf muss zweitens aufpassen, dass er seine Kamera in die gewünschte Richtung hält, damit er genau jenen Ausschnitt erwischt, den er wirklich haben will. Überprüfung der Reliabilität (= Verlässlichkeit) der Datenerhebung. Sie besteht darin, dass für die Schärfe der Aufnahme gesorgt wird. Die Kamera muss präzise eingestellt sein; insbesondere muss die Blende den Lichtverhältnissen angepasst und die Entfernung richtig gemessen sein. Die Entwicklung der Fotos muss technisch einwandfrei ablaufen. Ein einfacher Trick zur Erhöhung der Reliabilität besteht darin, den Beobachtungsbogen von zwei oder drei Personen gleichzeitig ausfüllen zu lassen und dann nachzuschauen, ob die Kreuze oder Punkte an der selben Stelle gesetzt wurden (= Interrater-Reliabilität). Festlegung des Zeitmaßes (des Intervalls). Sie müssen entscheiden, ob Sie das Beobachtungsurteil über das Vorliegen eines Indikators nur einmal in einer Schulstunde oder wiederholt treffen wollen. Bei bestimmten Gütemerkmalen dürfte ein enger Zeitrahmen ungeschickt sein (z.B. bei den Gütemerkmalen 7, 8 und 9). Bei anderen (z.B. Nr. 1, 2, 3, 4, 6, 10) macht ein Zehn- oder Fünfzehn-Minuten-Rhythmus eher Sinn. Erfassung der Merkmalsstärken. Durch die drei Spalten „stark“/„mittel“/ „schwach“ des Beobachtungsbogens werden – prinzipiell subjektiv verbleibende – Urteile über die Merkmalsstärke abgegeben. Um die Reliabilität dieser Urteile zu erhöhen, müssen deshalb die Indikatoren genau genug definiert werden. Außerdem macht eine Beobachterschulung Sinn. Berechnung der Merkmalsstärken. Wir schlagen Ihnen vor, drei Merkmalsstärken zu definieren, die dann durch die Addition der bei den einzelnen Indikatoren vergebenen Stufenwerte berechnet werden können. Standardisierte Bewertung der Merkmalsausprägungen
Sehr viel anspruchsvoller als die Herstellung von Beobachtungsbogen ist der Versuch, das dritte Teilkriterium für Standards (s.o., Abschnitt 2.1) umzusetzen, nämlich die „Eichung“ der Standards, um zur verlässlichen Bestimmung der verschieden starken Merkmalsausprägungen zu kommen. Diese Arbeit ist kompliziert, weil hier empirische Forschungsergebnisse und normative Setzungen miteinander verschränkt werden müssen. Deshalb empfehlen wir auch hier, pragmatisch vorzugehen und die im Schulalltag immer schon vorgenommenen intuitiven Standardbildungen auszubauen.
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Ein Beispiel: ein Standard für „echte Lernzeit“ Im Schulalltag geht es immer wieder um die Frage, wie hoch der Anteil echter Lernzeit (time on task) in einer Stunde ist. Nun wissen wir aus der Studie von Michael Rutter (1980: 24), dass im Durchschnitt 15 bis 35 Prozent einer Unterrichtsstunde mit Abschweifungen, Organisationsaufgaben, Störungen, Medienvorbereitungen usw. vertan werden. Das gibt eine erste Orientierung, um z.B. den Standard zu formulieren: „In einer guten Unterrichtsstunde sollte nicht mehr als 20 Prozent für andere Aufgaben aufgewandt werden.“ Die Norm in diesem Beispiel ist noch nicht geeicht. Das wäre sie erst, wenn genaue Indikatoren für „echte“ und „unechte“ Lernzeit festgelegt würden und wenn ausgetestet worden ist, ob die Angabe „maximal 20 Prozent“ realistisch ist. Der Standard hätte auch heißen können „maximal 10 Prozent“. Was vernünftig ist, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab: von der Lehrkompetenz der Lehrer/innen, von den Lernvoraussetzungen der Schüler/innen, von Fachtraditionen, vom sozialen Umfeld und von den verfügbaren Ressourcen. 3.4
Ein Integrationsversuch
Nach diesen theoretischen und forschungspraktischen Klärungen kann nun das Zusammenspiel der einzelnen Standards und Kompetenzen grafisch dargestellt werden (vgl. Abbildung 3). Drei Ebenen müssen unterschieden werden: Die wolkige Ebene der guten Absichten und bildungspolitischen Setzungen, die beobachtbare Ebene realer Lehr- und Lernhandlungen und – in die Oberflächenebene integriert – die versteckte Ebene der für diese Handlungen erforderlichen Lehr- und Lernkompetenzen. Die wichtigste Botschaft der Abbildung lautet: Nur wenn Lehrer/innen und Schüler/innen kompetent zusammenarbeiten, entsteht Unterrichtsqualität. Anders ausgedrückt: Nicht nur die Lehrkraft, auch die Schüler/innen müssen didaktische Kompetenz entwickeln. Diese Behauptung ist eigentlich trivial. Aber sie zeigt noch einmal, wie kompliziert der Anspruch ist,
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Abbildung 3: Zusammenspiel von Performanz, Kompetenzen & Standards
über die Definition von Bildungsstandards die Unterrichtsqualität zu steuern. Wer nur in Bildungsstandards denkt, greift grundsätzlich zu kurz! Er würde sein didaktisch-methodisches Handeln zum „teaching for the test“ verkürzen. Deshalb behaupten wir: These 3: Die Qualitätssicherung über Unterrichtsstandards (= Prozessstandards) ist einfacher, direkter und deshalb effektiver als Qualitätssicherung über Bildungsstandards (= Produktstandards).
Das liegt zum einen daran, dass das Einhalten von Unterrichtsstandards leichter zu beobachten ist als der Erwerb von Kompetenzen; zum zweiten daran, dass es sehr schwierig ist, präzise Kausalzusammenhänge zwischen dem Lernerfolg und den Unterrichtsmaßnahmen herzustellen; zum dritten daran, dass aus empirisch abgesicherten Unterrichtsstandards sehr viel direkter auf Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung gefolgert werden kann, als aus den Spekulationen über die Monate und Jahre später abzuprüfenden Lernerfolge.
Unterrichtsstandards für ein kompetenzorientiertes Lernen und Lehren
4
Halbherziges Plädoyer für noch mehr Standards
4.1
Was bewirkt schulischer Unterricht?
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Es gibt die naive Vorstellung, 90 Prozent dessen, was zum Schluss beim Unterrichten „rauskommt“, sei eine Folge des Unterrichts. Das ist ein Trugschluss. Die empirischen Studien schwanken bei der Beurteilung von „school effectiveness“ noch immer stark. Während früher von skeptischen 10 Prozent Einfluss des Unterrichts (und damit des Lehrer/innenhandelns) ausgegangen wurde, wird heute mit Werten zwischen 15 bis maximal 45 Prozent gerechnet: These 4: Round about 25 Prozent des schulischen Lernerfolgs wird durch die Qualität des Unterrichts herbeigeführt – die anderen 75 Prozent durch Begabung, Elternhaus, Peergroups, Medien etc.
Eine solche These liefert einen statistischen Durchschnittswert. Sie stellt eine rabiate Vereinfachung komplizierter Forschungsbefunde dar (vgl. Meyer 2004: 155). Echte Statistiker würden sich wahrscheinlich sogar weigern, überhaupt eine Prozentangabe zu machen. Wir halten unsere These dennoch aufrecht, weil sie eine grobe Orientierung liefern soll – mehr nicht. 4.2
„Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“
Wenn die zehn Merkmale guten Unterrichts in 10 oder 15 Jahren zu operationalisierten und empirisch geeichten Unterrichtsstandards im Sinne der drei Kriterien von Abschnitt 2.1 weiterentwickelt worden sind, wäre eine deutlich stärkere Kontrolle des Faktors Unterrichtsqualität im Ensemble der übrigen Faktoren möglich. Aber wollen wir das? Das Kontrollinteresse entspringt unserer Fürsorgepflicht für die Schüler/innen, aber auch für die Lehrer/innen. Dem steht gegenüber: Die pädagogische Freiheit der Lehrkraft ist wichtig und aus der Struktur der den Lehrerinnen und Lehrern gestellten Aufgabe zwingend abzuleiten (s.o.). Deshalb ist es sehr wichtig, die Rahmenbedingungen für die Ausformulierung von Unterrichtsstandards festzulegen, damit klar ist, wer wann was mit den durch Unterrichtsstandards mess- und vergleichbar gemachten Daten anfangen darf. Wir plädieren deshalb für die Kombination einer top-down- und bottom-upStrategie. Die Eichung von Unterrichts- und Bildungsstandards kann nur in
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großen Instituten und mit erheblichen Finanzaufwendungen vorgenommen werden. Aber die Validitätsprüfung und die Implementation dieser Standards in die praktische Arbeit der Schulen kann nur gelingen, wenn die Lehrer/innen aktiv daran beteiligt werden, wenn ihr Fachverstand breit genutzt und wenn Spielräume für die Auslegung und Weiterentwicklung der Standards zugestanden werden. Davon ist zur Zeit noch nicht viel zu sehen. Die KMK bevorzugt offensichtlich eine top-down-Strategie. 4.3
Auf dem Wege zur „durchstandardisierten“ Republik?
Unsere Idee, Bildungsstandards durch Unterrichtsstandards zu ergänzen, mag Unbehagen wecken, weil wir damit insgesamt auf eine deutliche Zunahme der empirisch kontrollierbaren Anteile der Lehrer/innenarbeit lossteuern. Andererseits geht es nicht nur um unser Wohlbefinden als Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch um gerecht verteilte „opportunities to learn“ für die Schüler/innen. Deshalb muss der bekannte Slogan, dass noch kein Schwein vom Wiegen fett geworden ist, positiv gewendet werden: These 5: Durch vieles Wiegen ist noch kein Schwein fett geworden, sondern dadurch, nach dem Wiegen das richtige Futter zur rechten Zeit und in der richtigen Menge erhalten zu haben.
Dabei ist die Frage, ob das, was die KMK propagiert, auch so funktionieren wird, wie es sich die KMK vorstellt, noch nicht beantwortet. Wissenschaftliche Skepsis ist angebracht (vgl. mehrere Beiträge von Hans Brügelmann und Ulrich Herrmann). Auf jeden Fall gilt, dass die herkömmlichen Steuerungsinstrumente (Schulbücher, Lehrpläne, Ausbildungsvorschriften usw.) auf absehbare Zeit weiterwirken werden. Dies legt nahe, nicht nur bei den Bildungs- und Unterrichtsstandards, sondern auch beim „Input“ Standards zu setzen. Abbildung 4 malt aus, was auf uns zukommen könnte. Die Prozentangaben in der Zeichnung drücken unsere Skepsis gegenüber der Steuerungsmächtigkeit der Bildungsstandards aus: „Nur“ circa 25 Prozent der schulischen Lernerfolge der Schüler/innen werden durch die Unterrichtsqualität verursacht (s.o.). Diese durchschnittlich 25 Prozent können durch Bildungsstandards beeinflusst werden. Wir gehen deshalb – relativ optimistisch – von 10 Prozent „Steuerungsmächtigkeit“ der Bildungsstandards aus.
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Abbildung 4: Rahmenmodell
Da die anderen Einflussgrößen von Unterrichtsqualität noch schwerer zu erfassen und zu regulieren sind, plädieren wir – trotz gewerkschaftlicher Bauchschmerzen – halbherzig für die Einführung von Unterrichtsstandards und behaupten: These 6: Wenn überhaupt, so lässt sich die Unterrichtsqualität vernünftig nur über eine integrierte Strategie der Input-, Prozess- und Outputkontrolle steuern.
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Korrektur als Lehrerkompetenz: Bewertung oder Beratung? Bettina König
1
Alltagskorrekturen in der Grundschule – Ein Problemaufriss
Lehrkräfte1 „korrigieren“ in vielen Bereichen ihrer täglichen Arbeit: die verbale Rückmeldung während des Unterrichts ist hier genauso hinzuzuzählen wie die schriftliche Korrektur von Schülerniederschriften jeglicher Art. Im Folgenden soll die alltägliche schriftliche Korrektur ins Zentrum gerückt werden, wobei zunächst die aktuelle Forschungslage fokussiert und anschließend ein Forschungsvorhaben vorgestellt wird, das sich mit den alltäglichen schriftlichen ‚Korrekturen’ in der Grundschule befasst. 2
„Korrekturtätigkeit des Lehrers“ als Forschungsgegenstand der Grundschulpädagogik
Der Erwartung nach umfassen sowohl die Professionsforschung als auch die grundschulrelevanten Forschungen zur Leistungsmessung und -beurteilung sowie fachdidaktische Forschungen die tägliche schriftliche Korrekturarbeit des Lehrers. Inwieweit in diesen Bereichen das alltägliche schriftliche Korrigieren untersucht wird, soll nachfolgend geprüft werden. 2.1
Professionsforschung
Innerhalb der Professionsforschung wird „Korrektur“ sehr unterschiedlich thematisiert. Gutte klagt z.B. über deren Handhabung (vgl. 1994: 122ff.). Bauer u.a. benennen diese Tätigkeit als zentralen Bestandteil eines professionellen 1
Der besseren Lesbarkeit wegen wird im folgenden die Terminologie „Lehrkraft“ oder „Lehrer“ gewählt; sie umfasst sowohl den weiblichen als auch den männlichen Lehrer.
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Bettina König
Handlungsrepertoires (vgl. Bauer/Kopka/Brindt 1996: 128) und nach Grzesik ist ohne Korrektur der „Zyklus des Unterrichts nicht vollständig“ (2002: 293). Empirisch erhobene Daten findet man in den Belastungsstudien zur Lehrerarbeit. Betrachtet man alle Schularten, so nimmt die Korrektur zusammen mit der Bewertung ca. 10% der Arbeitszeit ein (vgl. Ulich 1996: 51). In der Rangreihe beruflicher Belastungen rangieren die Korrekturarbeiten und Notengebung je nach Erhebung auf Platz 1 oder 2 (vgl. ebd.: 57). Eine quantitative Untersuchung, die sich ausschließlich auf Grundschullehrerinnen und -lehrer bezieht, ergab das Ergebnis, dass von 108 befragten Lehrerinnen und Lehrern zum „Korrigieren von Schülerarbeiten (ohne Benoten)“ nur sieben diese Tätigkeit als „sehr belastend“ empfanden, 53 als „durchschnittlich belastend“ und 43 als „kaum belastend“. Fünf Lehrkräfte bezeichneten das Korrigieren sogar als „eher entspannend“ (vgl. Schönwälder 2000: 115). Auch Verbände, wie z.B. der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV), greifen diese Thematik auf, kommen aber zu ähnlichen Ergebnissen wie Schönwälder. Im Vergleich zu anderen Schulstufen wirkt sich die Korrekturtätigkeit der Grundschullehrer offensichtlich nicht als schwerwiegender Belastungsfaktor aus. Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten, dass innerhalb der Professionsforschung Korrekturen als Verpflichtung der Berufsarbeit wahrgenommen werden, die von wissenschaftlicher Seite durchgeführten Untersuchungen allerdings kaum die alltägliche Korrektur in der Grundschule fokussieren. Daten zur Methode und Funktion dieser Tätigkeit existieren nicht. 2.2
Forschungen zur Leistungsmessung und -beurteilung in der Grundschule
Jede Form der täglichen „Korrektur“ bezieht sich auf das, was der Schüler zuvor geleistet hat und steht damit im direkten Zusammenhang mit der Leistungsmessung und -beurteilung. Eine Reihe von Untersuchungen beziehen sich vorwiegend darauf, wie sehr ein Lehrerurteil den Testgütekriterien Objektivität, Validität und Reliabilität stand hält (vgl. Baumert u.a. 2001: 119 f.; Schrader/Helmke 2001). In weiteren Beiträgen zur Diagnostik in der Schule (vgl. Ingenkamp 1989a, 1989b; Lissmann 1992) wird die alltägliche Korrektur nicht aufgenommen. Daneben erfährt die grundschulpädagogische Streitfrage „Verbalgutachten versus Notengebung“ seit langem intensive Aufmerksamkeit in der Forschung (vgl. Götz 2005: 78; Bartnitzky/Portmann 2000; Ingenkamp 1989b; Ulbricht 1993; Valtin 2002). Obwohl einer schriftlichen Beurteilung notwendigerweise immer eine schriftliche Korrektur voraus geht, bleibt das Thema „Korrektur“ unbeachtet.
Korrektur als Lehrerkompetenz: Bewertung oder Beratung?
2.3
111
Aussagen der grundschulrelevanten Fachdidaktiken Deutsch und Mathematik
In der Praxis sind aus dem Deutsch- und Mathematikunterricht hervorgehende Korrekturen für Lehrkräfte vordringlich. Daher ist zu prüfen, inwieweit die fachdidaktische Forschung diese Bedeutung widerspiegelt. In der Didaktik des Deutschunterrichts der Grundschule werden Korrekturen sehr häufig angesprochen und gehören gerade in den Teilbereichen Schriftspracherwerb, Rechtschreibunterricht und Aufsatzerziehung zum methodischdidaktischen Handeln des Lehrers (vgl. Augst/Dehn 2002; Dehn 1994a; Köhler 2004: 137ff.). Eine zentrale Veränderung im Schriftspracherwerb brachten vor allem Brügelmann, Spitta und Dehn durch ihre Forschungen im Erstlesen und Erstschreiben sowie der veränderten Sichtweise des Fehlers (vgl. Brügelmann/ Brinkmann 1998; Dehn 1994a; Spitta 1999), der demnach als Indikator für die Entwicklungsstufe des Schülers Bedeutung erhält. Fehler sind „konstruktive Versuche des Kindes, Wörter mit den Strategien zu verschriften bzw. zu entschlüsseln, die ihm nach seiner Erfahrung zur Verfügung stehen.“ (Brügelmann/ Brinkmann 1994: 44) Dies impliziert einen anderen Umgang als mit Fehlern, die als Defizit gelten und „ausgemerzt“ werden müssen. Die Literatur spiegelt unterschiedliche Positionen zur Korrektur wider. Während der Lehrer bei den einen eine beratende Funktion für den sich entwickelnden Schüler einnimmt (vgl. Lechner 1995; Süselbeck 2001; Spitta 1994), geben die anderen ein ausgearbeitetes „Korrekturinstrumentarium“ an die Hand, um möglichst effektiv zu sein (vgl. Gutmann 1969; Greil 1989). In der Aufsatzerziehung unterscheiden sich lehrgangsähnliche Ansätze (vgl. Beck/Hofen 1990, 2003) von dem Ansatz des freien Schreibens und der Schreibkonferenz (vgl. Spitta 1992, 1994), was letztlich Auswirkungen auf die Korrekturtätigkeit einschließt. Die Mathematikdidaktik der Sekundarstufe konzentriert sich in ihren Forschungen auf Fehleranalyse (vgl. Strecker 1999) und gibt somit Hinweise auf die schriftliche Korrekturtätigkeit der Lehrkraft. Im Bereich der Grundschulmathematik untersuchte Renkl die Auswirkungen von Aufgaben- und Rückmeldungscharakteristika, insbesondere der mündlichen Rückmeldung im Unterricht (vgl. Renkl 1991). Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Deutschdidaktik schon seit jeher das Thema „Korrektur“ im Blickfeld hat und sich in der Literatur breite Diskussionen, jedoch keinerlei qualitativ oder quantitativ erhobene Daten finden lassen. In der grundschulrelevanten Mathematikdidaktik wird die Korrektur allenfalls tangiert. Für die Grundschulen existiert keine wissenschaftliche Untersuchung, die sich in spezieller Art und Weise mit der alltäglichen schriftlichen Korrektur auseinandersetzt.
112 2.4
Bettina König
Beratung im Bereich der Grundschule
Die schriftliche Korrektur ist eine Rückmeldung an den Schüler, die – so vermutet man in diesem Zusammenhang – den Zweck der Beratung erfüllen muss. Zwar existieren zahlreiche Veröffentlichungen zur Beratung von Eltern und Schülern (vgl. Henig/Keller 2000), Schullaufbahnberatungen und der Supervision sowie Lehrerberatung (vgl. Lüttge 1981; Lukesch/Nöldner/ Peez 1989). Allerdings ist damit in jedem Fall eine mündliche Beratung gemeint und nicht die, die ein Lehrer seinen Schülern in Form von Kommentaren, korrigierenden Notizen, Bemerkungen u.ä. in schriftlichen Äußerungen präsentiert. 2.5
Fazit
Unter dieser Perspektive wurde betont, dass die Forschung die schriftliche Korrektur immer wieder unter verschiedenen Fragestellungen aufnimmt, es nach derzeitigem Kenntnisstand jedoch keine Untersuchung gibt, die sich mit der Korrekturtätigkeit im allgemeinen und der alltäglichen schriftlichen Korrekturarbeit von Grundschullehrkräften im besonderen beschäftigt. Hier setzt das folgend skizzierte Vorhaben an. 3
3.1
Vorstellung des Forschungsvorhabens: Alltägliche schriftliche „Korrekturen“ in der Grundschule Intention der Untersuchung
Die Untersuchung bezieht sich auf die schriftlichen Korrekturtätigkeiten, die Grundschullehrkräfte tagtäglich vollziehen. Ziele sind, die Funktion der alltäglichen Korrektur, deren methodische Konkretisierungsformen und deren Begründung zu erheben. Kurz: Was wird wie und mit welchen Zielen korrigiert? Die Begrifflichkeit „korrigieren“ greift dabei die umgangssprachliche Bedeutung auf und meint jegliche schriftliche Äußerung des Lehrers in Schülerarbeiten vom einfachen Abhaken und Namenskürzel bis hin zur ausführlichen Würdigung.
Korrektur als Lehrerkompetenz: Bewertung oder Beratung?
3.2
113
Methode: Experteninterview (qualitatives Interview)
Die als qualitative Studie angelegte Untersuchung basiert auf der Grundlage von Experteninterviews und arbeitet hypothesengenerierend. Dieser Expertenansatz fragt nach Wissensstrukturen, durch die sich Experten von Laien und erfahrene Mitglieder einer Berufsgruppe von Anfängern unterscheiden, oder er fragt nach Spitzenleistungen, die wiederholt erbracht werden. Als Experte für den Bereich der täglichen Korrektur wird folglich jede Grundschullehrkraft angesehen, die bereits mehrere Jahre aktiv im Dienst ist und sich in ihrem korrekturspezifischen Wissen als Experte gegenüber Laien und Novizen auszeichnet (vgl. Bromme 1992; Hitzler/Honer/Maeder 1994: 21ff.). 4
Interviewausschnitte aus der Voruntersuchung
4.1
Der Interviewleitfaden
Der Leitfaden, der durch das Interview führt, umfasst drei große Fragenkomplexe: Was (und was nicht) wird wie (also mit welcher Methode) korrigiert und welche Ziele werden dabei verfolgt? Da sich in der Erprobung herausgestellt hat, dass vielen Lehrkräften diese Arbeit zu selbstverständlich erscheint, um sie detailliert zu benennen, wurden diese Fragenkomplexe ineinander verflochten. Außerdem wird nach Emotionen, Arbeitszeit, Arbeitsbewältigung bzw. Reduktionsmaßnahmen, Beeinflussung durch andere sowie nach dem Ideal der Korrektur gefragt. 4.2
Beispielfälle aus der Voruntersuchung
Wie unterschiedlich die Zielsetzung von korrigierenden Grundschullehrkräften sein kann, zeigen die Kategorien, die aus zwei Interviews der Voruntersuchung ermittelt wurden. Sie bieten sich besonders zum Vergleich an, da es sich bei beiden befragten Personen um Lehrerinnen handelt, die jahrelange Berufspraxis in den Jahrgangsstufen 3 und 4 der Grundschule als Klassenleitung haben; zusätzlich sind sowohl der Zeitpunkt der Interviewaufnahme als auch das soziale Gefüge der Schülerschaft ähnlich, obwohl es sich um unterschiedliche Schulen in unterschiedlichen Schulamtsbezirken handelt.
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Lehrerin 1: Paraphrase Rückmeldung für Schüler bzgl. der Leistung, Ordnung, Verständnis der Aufgabe Anerkennung für Schüler Rückmeldung um Respekt zu zeigen
Konzeptualisierung 1. Korrektur dient der Rückmeldung
Verbesserung der Schülerleistung
Korrektur als Möglichkeit zur Hilfestellung 2. Hilfestellung für den Schüler für den Schüler
Erziehung zu gewisser Ordnung Erziehung zu fachlich grundlegender Genauigkeit
Lehrerin 2: Paraphrase Korrektur ist entscheidend für die Motivation des Schülers
Ziel: tägliche Kontrolle
3. Erziehung einer Arbeitshaltung: Ordnung + fachliche Korrektheit
Konzeptualisierung 1. Korrektur dient der Kontrolle des Schülers
Æ Genaue Planung + Organisation notwendig
Kontrolle des Schülers, um ihn „auf dem Weg“ zu halten
Korrektur sollte den Präsentationszwecken
2. Positive und negative Verstärkung
der Schüler gerecht werden
Korrektur = ständige Kontrolle Erziehung zu einer Arbeitshaltung der Pflichterfüllung Schülerarbeit honorieren Durch Korrektur unerledigte Arbeit aufdecken
3. Erziehung einer Arbeitshaltung: Pflichterfüllung
Zusammenfassend lassen sich sehr divergierende Zielsetzungen der beiden Lehrkräfte feststellen, was einen Einblick in die Bandbreite der Korrekturzielrichtungen der Lehrerschaft in der Grundschule erahnen lässt. Keine der beiden Lehrerinnen lässt sich einseitig auf die Zielrichtung „Bewertung“ oder „Beratung“ festlegen, wohl aber lässt sich bei Lehrerin 1 eine implizierte Hilfestellung bzw. Beratung erkennen. In den Aussagen der Lehrerin 2 dagegen dominiert eindeutig die Kontrollfunktion gegenüber dem Schüler. Beide Lehrerinnen nutzen lieber das Gespräch, um dem Schüler ausführlichere Informationen – welcher Art auch immer – zu geben. Inwieweit sich diese Ergebnisse bestätigen, bleibt abzuwarten.
Korrektur als Lehrerkompetenz: Bewertung oder Beratung?
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Bettina König
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II
Lehrkompetenzen
„Denken in Möglichkeiten“ – Vielfaltskompetenzen fördern von Anfang an Bettina Blanck
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Konzeptuelle Ausgangsüberlegungen
Es gibt vielfältige Möglichkeiten, wie Menschen individuell oder gemeinsam mit vorhandener oder fehlender Vielfalt und insbesondere vorhandenen oder fehlenden Alternativen umgehen können. Hier sollen allein solche Vielfaltskompetenzen bedacht werden, die ihre leitende Orientierung in einem „Denken in Möglichkeiten“ haben. Grundlage eines „Denkens in Möglichkeiten“ ist das Konzept einer Erwägungsorientierung (z.B. Blanck 2004a). Mit dem Konzept einer Erwägungsorientierung wird ein möglichst verantwortbarer Umgang mit jeweiliger Vielfalt und insbesondere Alternativen angestrebt. Ausgang hierfür ist die Überlegung, dass Positionen (Lösungen, Antworten usw.) zu bestimmten Problemen (Fragen, Aufgaben usw.) umso besser als die vorerst „besten“ oder „richtigen“ begründet und verantwortbar sind, je umfassender sie in einem problemadäquat zu bedenkenden Spektrum von jeweiligen Alternativen verortet werden können. Deshalb sind zu erwägende Alternativen nicht nur in der Genese von Lösungen relevant, sondern sie sollten als eine Geltungsbedingung bewahrt werden. Mit dem Erwägungskonzept wird zwischen einer Erwägungsebene und einer Lösungsebene (sowie Realisierungsebene) unterschieden. Während auf der Erwägungsebene für einen radikalen Pluralismus plädiert wird, soll Vielfalt (Pluralität) auf der Lösungs- und Realisierungsebene mit Bezug auf die erwogene Vielfalt eingeschränkt werden können1. Da man nicht immer alles erwägen kann und es häufig auch sinnvoll ist, nicht zu erwägen, ist Erwägungsorientierung vor allem als eine reflexive Haltung zu verstehen. Diese mag sich etwa darin äußern, dass man gerade in Fällen, wo nur wenig erwogen werden konnte, 1
Hier hat das Erwägungskonzept Nähen zum Konzept des Negativen Wissens von Fritz Oser und Maria Spychiger (2005), bei dem Wissen um negativ bewertete Lösungen dazu beiträgt, das, was „richtig“ ist, besser zu verstehen (s. insbes. die Funktionen des Negativen Wissens S. 31ff.).
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„vorsichtiger“ mit vorerst gewählten Lösungen umgeht und sich z.B. für mögliche Verbesserungen engagiert. Vielfaltskompetenzen2, die von einem „Denken in Möglichkeiten“ leben, zeigen sich vor allem: in einem kompetenten, begründungsorientierten Umgang mit Vielfalt und Alternativen in Entscheidungszusammenhängen, in der Fähigkeit, Entscheidungen Anderer sowie deskriptive und präskriptive Konzepte in ihrer Begründungs- und Verantwortungsqualität einzuschätzen, in der Fähigkeit, jeweilige Positionen, Lösungen usw. in einem Spektrum zu erwägender Alternativen verorten zu können, in der Fähigkeit, unterschiedliche Positionen miteinander zu vermitteln und z.B. zu klären, inwiefern es sich um „echte“ Alternativen oder miteinander vereinbare Positionen handelt, in der Fähigkeit, mit Anderen Entscheidungen zu treffen und unterschiedliche Weisen von Abstimmungen zu gestalten sowie verschiedene Wege für den Umgang mit denen, die „unterlegen“ sind, zu kennen und praktizieren zu können, in der Fähigkeit, die Gleichwertigkeit von Positionen in dezisionären Konstellationen zu erkennen, in denen nicht mit hinreichenden Gründen eine Position einer anderen vorgezogen werden kann, woraus etwa eine Haltung der Toleranz resultieren mag, in der Fähigkeit, „einseitige“, „dogmatische“ oder „fundamentalistische“ Positionen und Verhaltensweisen durch die Angabe und ein Wissen um problemadäquate Alternativen kritisieren und mit Gründen ggf. auch „bekämpfen“ zu können, in der Fähigkeit, jeweilige Grenzen des Bedenkens und Berücksichtigens von Vielfalt und insbesondere Alternativen zu erfassen, im Wissen um Nicht-Wissen verantwortungsvoll mit Vielfalt und insbesondere Alternativen umgehen zu können, im Gewinnen von reflexiver Sicherheit im Umgang mit Unsicherheiten und Ungewissheiten.
Wesentliche Voraussetzung für solche Vielfaltskompetenzen ist eine Unterstützung des „Denkens in Möglichkeiten“ durch reflexiv-methodische Kompetenzen bei der Erschließung, der Bestimmung und Klärung sowie der Bewahrung von jeweiliger Vielfalt und Alternativen. Die Bewahrung bzw. die Orientierung an Bewahrung von jeweiliger Vielfalt und jeweiligen Alternativen (die Erwä2
Die folgende Aufzählung ist weder vollständig noch trennscharf, d.h. die einzelnen Kompetenzen hängen mehr oder weniger eng zusammen. Es wäre Aufgabe einer entfalteteren Erwägungsdidaktik, hier noch zu systematischeren Angaben zu gelangen.
„Denken in Möglichkeiten“ – Vielfaltskompetenzen fördern von Anfang an
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gungs-Geltungsbedingung) macht Denken zu einem „Denken in Möglichkeiten“, das sich damit von einem bloßen „Denken über Möglichkeiten“, welches sich eben nicht auch zugleich „in Möglichkeiten“ bewegen muss, unterscheidet. Aber werden die angedeuteten Vielfaltskompetenzen eines „Denkens in Möglichkeiten“ nicht schon längst im Grundschulunterricht verfolgt? Es wird doch der Umgang mit Vielfalt bereits auf unterschiedliche Weise in die Gestaltung von Grundschulunterricht einbezogen: angefangen von den Richtlinien und Lehrplänen, über allgemeine und umfassende pädagogische Konzepte, wie etwa die einer „Pädagogik der Vielfalt“ von Annedore Prengel (1995) oder die Überlegungen von Herwart Kemper zu einer „dialogischen Erziehung“ (1999) bis hin zu fachdidaktischen Konzepten, wie z.B. „mathe 2000“ (vgl. Müller u.a. 1997). Hier – wie bei vielen weiteren pädagogischen Konzepten, die sich für ein subjektorientiertes Lernen auf eigenen Wegen einsetzen – bieten sich in der Tat vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten und Anregungen für die Entfaltung eines erwägungsdidaktischen Ansatzes des „Denkens in Möglichkeiten“ an. Den Unterschied zwischen bisherigen Konzepten zur Förderung von Vielfaltskompetenzen und dem hier vorgeschlagenen Ansatz sehe ich in der Integration verschiedener Aspekte sowie der argumentativen Stärkung durch die Erwägungs-Geltungsbedingung. Erwägungsorientierung verändert die Art der methodischen Aufbereitung und Erschließung von präskriptiven und deskriptiven Konzepten. Ein „Denken in Möglichkeiten“ wird auf die fachlichen Inhalte, wie Methoden und Wege ihrer Erschließung angewendet (vgl. Girmes 1999: 71). In diesem Zusammenhang gilt es auch erwägungsunterstützende Materialien und Methoden gemeinsam mit den Lernenden zu erfinden, weiter zu entwickeln sowie individuelles Lernen auf eigenen Wegen mit der gemeinsamen Erarbeitung von intersubjektivem Wissen und Werten zu verbinden. 2
Förderung eines „Denkens in Möglichkeiten“ im Grundschulunterricht
Einige Beispiele sollen nun unterschiedliche Aspekte der Förderung eines „Denkens in Möglichkeiten“ verdeutlichen. Sie lassen sich mit folgenden Stichworten beschreiben: scheinbar verschieden und dennoch gleich bzw. scheinbar gleich und dennoch verschieden, Wissen um mögliche Lösungen nutzen für Hypothesen, Möglichkeiten als Dispositionen verstehen, Gleiches verschieden oder gleich sehen,
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entdecken von Einfalt in der Vielfalt und Entwicklung „echter“ Alternativen, Vielfalt verschieden klären und erfassen, verschiedene Möglichkeiten, alle Alternativen zu finden, wissen, wo Grenzen der Erfassung von Vielfalt liegen, in der Einheit der Vielfalt Ausnahmen entdecken. Beispiel „Arbeit mit Würfelmehrlingen“ ab der 1. Klasse: Bei der Arbeit mit Würfelmehrlingen geht es darum herauszufinden, wie viele unterschiedliche Würfelmehrlinge sich aus einer jeweils bestimmten Anzahl von Würfeln bauen lassen, die „Fläche auf Fläche“ aneinander geklebt werden. Die Arbeit mit Würfelmehrlingen fordert dazu heraus, sich mit unterschiedlichen Aspekten der Bestimmung von „echten Alternativen“ zu befassen und mit den Fragen danach auseinanderzusetzen, ob man alle Alternativen finden und wie man dies wissen kann. Es gibt Würfelmehrlinge, die sehen auf Grund ihrer Lage im Raum ungleich aus, sind aber gleich, was sich feststellen lässt, wenn man sie durch Drehbzw. Kippbewegungen ineinander überführt. Es gibt Würfelmehrlinge, die sehen gleich aus, sind aber nicht ineinander überführbar, sondern erweisen sich als spiegelsymmetrisch. Klebt man die Würfelmehrlinge „Fläche auf Fläche“, so kann man alle möglichen Mehrlinge herausfinden. Klebt man nicht „Fläche auf Fläche“, gibt es eine nicht bestimmbare Zahl an Mehrlingen. Bei der Arbeit mit Würfelmehrlingen können sich sowohl in die Phasen des Ausprobierens und Bauens als auch in die Phasen des Vergleichens, Überlegens und Vermutens alle Kinder mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten einbringen und voneinander lernen. Dabei sollten die Kinder möglichst mit gegensätzlichen Aufgaben und Herausforderungen konfrontiert werden (näheres zur Arbeit mit Würfelfünflingen in einer 1. Klasse vgl. Blanck 2004b). Beispiel „Arbeit mit der Drei-Fach-Schüttelbox“ in einer 1. Klasse: Die „Drei-Fach-Schüttelbox“ ist ein Beispiel, wie die Zielsetzung der Förderung eines „Denkens in Möglichkeiten“ zur Umgestaltung eines Arbeitsmittels zur Zahlzerlegung führen kann. Die Schüttelboxen, mit denen ich gearbeitet habe, bestehen aus durchsichtigen Boxen, in denen es 2 bzw. 3 nach oben offene Fächer gibt, in die Perlen fallen können, wenn man die Boxen geschüttelt hat. Die Sicht auf den Inhalt des einen Faches bei der Zwei-Fach-Schüttelbox bzw. die Sicht auf den Inhalt von zwei Fächern bei der Drei-Fach-Schüttelbox ist mit einem bzw. zwei hochklappbaren Pappen abdeckbar.
„Denken in Möglichkeiten“ – Vielfaltskompetenzen fördern von Anfang an
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Abbildung 1: Von der bekannten Zwei-Fach-Schüttelbox …
Abbildung 2: … zur Drei-Fach-Schüttelbox
Während es mit der Zwei-Fach-Schüttelbox immer nur eine Antwortmöglichkeit gibt, sobald man die Perlen in dem einen sichtbaren Fach kennt, sind bei der Drei-Fach-Schüttelbox unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten zu erwägen. Sind drei Perlen in dem einen Fach einer Drei-Fach-Schüttelbox mit insgesamt 9 Perlen sichtbar, so gibt es – unter Beachtung der verschiedenen Stellen, an denen sich die Perlen befinden können – 7 Möglichkeiten, wie die weiteren 6 Perlen auf die anderen beiden Fächer verteilt sein mögen. Selbst wenn man nicht wissen kann, was der Fall ist, hat man, wenn man alle möglichen Lösungen erwägt, auch die schließlich richtige Lösung mitgedacht. Die Kinder können erkennen, dass ein Unterschied besteht, ob man zu einer Aufgabe die Lösung eindeutig wissen oder ob man zwar adäquate Lösungsmöglichkeiten erwägen kann, die faktisch vorliegende Lösung aber nicht wissen kann. Das richtige Wissen um alle denkbaren Möglichkeiten lässt hier also Hypothesen aufstellen, von denen eine den tatsächlichen Fall miterfassen lässt. Trotz
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des Nicht-Wissens angesichts zweier abgedeckter Fächer, kann man durch entsprechendes vollständiges Erwägen eine reflexive Sicherheit im Umgang mit diesem Nicht-Wissen erlangen. Darüber hinaus fordert die Drei-Fach-Schüttelbox weit mehr als die Zwei-Fach-Schüttelbox dazu heraus, der Frage nachzugehen, wie viele Möglichkeiten der Verteilung der jeweiligen Perlenmenge es wohl insgesamt gibt und wie man dies rauskriegen kann. Die Kinder einer 1. Klasse können so erfahren, dass selbst zu einer kleinen Anzahl von z.B. 3 Perlen, für die es – unter Beachtung der Stellen, an denen sich die Perlen befinden – nur 4 Verteilungsmöglichkeiten auf zwei Fächer gibt, aber 10 Verteilungsmöglichkeiten auf drei Fächer existieren. Beispiel „Nutzung schaltalgebraischer Kombinatoriken bei der Arbeit mit Schaltungen für elektrische Stromkreise“ in einer 4. Klasse: In diesem Falle wurde ein „Denken in Möglichkeiten“ beim Bau von Reihen- und Parallelschaltung durch die Einbeziehung der entsprechenden schaltalgebraischen Kombinatoriken vertieft. Dabei mag man so vorgehen, dass die Kinder zunächst Schaltungen mit mehreren Einfachschaltern bauen. Bauen sie unterschiedliche Schaltungen – Reihen- und Parallelschaltung –, so kann man diese dann miteinander vergleichen. Ein anderer sehr motivierender Einstieg ist, dass Kinder die Innenbeleuchtung eines Auto beim Öffnen der vorderen Türen untersuchen: linke vordere Tür rechte vordere Tür Licht 1. Zeile 2. Zeile: 3. Zeile: 4. Zeile:
auf auf zu zu
auf zu auf zu
leuchtet leuchtet leuchtet leuchtet nicht
Abbildung 3: Auto-Innenbeleuchtung bei einigen Autos
Ein Vergleich dieser Parallelschaltung (ODER-Schaltung) mit einer Reihenschaltung (UND-Schaltung) verdeutlicht, dass ein Wissen um nur eine Realisierungsmöglichkeit (eine Disposition) allein nicht ausreichen kann, um zu erkennen, welche Schaltung vorliegt. Weiß ich z.B. nur, dass das Licht leuchtet, wenn die linke und rechte vordere Tür auf sind, so könnte sowohl eine Reihen- wie eine Parallelschaltung vorliegen. Auch wenn immer nur ein Schaltungszustand (eine Zeile) zu einer Zeit realisiert sein kann, muss ich um die anderen Schaltungsmöglichkeiten (die jeweils drei anderen Zeilen) wissen, um die Schaltung insgesamt sicher bestimmen zu können. Im Vergleich zu anderen Kombinatoriken erfahren die Kinder hier, dass alternative Lösungsmöglichkeiten in diesem Fall nicht durch die einzelnen Zeilen repräsentiert werden, sondern unterschiedliche kombinatorische Tafeln insgesamt für Alternativen stehen (Kombinatorik zweiter Stufe).
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Beispiel „Vielfältige Klassifikationen finden am Beispiel der Sortierung von Obstsorten“ in einer 2. Klasse: Wie vielfältig der Umgang mit Vielfalt und Alternativen ausfallen kann, mag man erleben, wenn Kinder unterschiedliche Obstsorten sortieren. In einer 2. Klasse sortierten die Kinder z.B. nach Farben, nach Größe, Form, danach, ob man die Früchte mit Schale essen kann oder nicht, ob man alles essen kann oder nur einen Teil, ob sie mehrere Kerne oder einen Stein haben. Die einzelnen Merkmale wurden auch miteinander kombiniert und für Sortierungen genutzt. Jeweilige Sortierungen führten zu bestimmten Hypothesen und Fragen, etwa: Kann man – wie bei Apfel und Birne – bei allen Obstsorten mit Kernen die Schale mitessen? Apfelsine und Zitrone, aber auch die Kiwi widerlegten diese Vermutung. Die Kinder können hier ganz unterschiedliche Vielfaltskompetenzen entwickeln. Sie können aktiv nach selbst gesetzten Regeln Sortierungen vornehmen. Sie sind angesichts der Sortierungen anderer Kinder aufgefordert herauszufinden, nach welchen Regeln und Kriterien diese ihre Sortierungsvorschläge gemacht haben. Dabei müssen sie weiterhin auch darauf achten, ob die Regeln eine richtige Anwendung finden oder ob es vielleicht Obstsorten gibt, die nicht von der Sortierung erfasst werden. Die Frage: „Könnte es auch noch anders sein?“ gelangt hier zu keinem Abschluss, der behaupten ließ, nun habe man alle möglichen Klassifikationen gefunden. Dies kann zu einer „Forschungshaltung“, einem forschenden Habitus, führen, bei dem die Kinder nicht frustriert, sondern geradezu erfreut sind, wenn Ausnahmen auftauchen, die bisherige Klassifikationen relativieren und vielleicht sogar verbessern lassen. Es ist hierbei m.E. wichtig, deutlich zu machen, dass dies auch für die geltenden biologischen Taxonomien zutrifft, wenn man etwa allgemein „Säugetiere“ als lebendgebärende Tiere bestimmt, obwohl es auch den Ameisenigel gibt, ein eierlegendes Säugetier. Beispiel „Den »Unterlegenen« auch mal eine Chance geben“: Bei dem letzten Beispiel geht es um den veränderten Blick auf den Umgang mit Vielfalt und Alternativen bei gemeinsamen Entscheidungen und Abstimmungen. Die Kinder einer 2. Klasse waren es gewohnt, im Sportunterricht darüber abzustimmen, welches Spiel sie wählen wollten. Da die „Fußballfraktion“ weitaus größer war als die „Basettball-“, „Brennball-“ und „Volleyballfraktion“, kam bei den „unterlegenen Kindern“ bald eine Unlust auf, überhaupt noch abzustimmen. Dies war ein guter Anlass, gemeinsam darüber nachzudenken, welche anderen Möglichkeiten es gibt, mit der Vielfalt an Interessen in einer Klasse umzugehen. Die Kinder schlugen vor, dass man zwar nach wie vor am häufigsten Fußball spielen könnte, aber wenigstens hin und wieder auch die anderen Kinder mit ihren Interessen berücksichtigen sollte. Beim Nachdenken darüber, wie man zu gemeinsamen Abstimmungen gelangen kann, mag die Art der Abstimmungsweise in den Blick geraten und man kann mit den Kindern ein spannendes Pro-
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jekt zur Erforschung von unterschiedlichen Abstimmungsweisen starten, bei dem bald deutlich wird, dass es einen Unterschied macht, ob man zwischen zwei, drei oder mehr Möglichkeiten abstimmt, oder ob man statt einer Stimmabgabe über eine Reihe von paarweisen Abstimmungen, bei denen die jeweilige Paarung bedeutsam ist, oder mit Hilfe von Rankinglisten, bei denen jedes Kind unterschiedliche Punktzahlen auf die Möglichkeiten verteilen kann, abstimmt. Die Reihe der Beispiele ließe sich mit einer Vielzahl weiterer Beispiele fortsetzen, wie sie im Grundschulunterricht bereits praktiziert werden. Ein Beispiel dafür, dass es zuweilen auch darum geht, Vielfalt allererst zu gewinnen und für die Einzelnen in ihren Potenzialen zu erschließen, ist die Auseinandersetzung mit Stereotypen, etwa beim Thema „Jungen und Mädchen“. Entscheidend für die Förderung eines „Denkens in Möglichkeiten“ ist, dass verschiedene Umgangsweisen mit Vielfalt und Alternativen untereinander verglichen und reflektiert werden. Die Vollständigkeit aller problemadäquaten Alternativen, wie sie durch kombinatorisches oder auch durchspielendes Vorgehen z.B. bei der Arbeit mit den Würfelmehrlingen erreicht werden kann, ist mit der Art von Alternativenzusammenstellungen bei Klassifikationen und der Vielfalt an Möglichkeiten, wie eine Geschichte enden kann, zu vergleichen. „Denken in Möglichkeiten“ führt in unterschiedlichen Situationen – bezogen auf das, was gelernt und wie gelernt wird, das individuelle wie gemeinsame Lernen, das Zusammenleben und Arbeiten in und außerhalb der Schule – zur Frage: „Könnte es auch anders sein?“ und zur Konsequenz, diese Frage sich selbst und Anderen immer wieder neu zu stellen, um eigene Antworten und Verhaltensweisen im Bewusstsein um diese Frage verantworten zu können. Literatur Blanck, Bettina (2004a): Erwägungsorientierung. In: Information Philosophie. 32, 1, 42-47. Blanck, Bettina (2004b): „Wir helfen dem kleinen Würfel...“ – Entdeckendes Lernen mit Würfelmehrlingen in einer 1. Klasse. In: Praxis Grundschule, 27, 5, 52-56. Girmes, Renate (1999): Wissensgesellschaft und Allgemeine Didaktik. Bildungsaufgaben in der posttraditionalen Gesellschaft. In: Die Deutsche Schule, 5. Beiheft, 67-82. Kemper, Herwart (1999): Dialogische Erziehung. Zur konstitutiven und regulativen Bedeutung eines „Wissens des Nichtwissens“. In: Kemper, Herwart u.a. (Hrsg.): Schule – Bildung – Wissenschaft. Dia-Logik in der Vielfalt. Rudolstadt/Jena: Hain Verlag, 17-38. Müller, Gerhard N./Steinbring, Heinz/Wittmann, Erich Ch. (1997): 10 Jahre „mathe 2000“. Bilanz und Perspektiven. Leipzig u.a.: Ernst Klett. Oser, Fritz/Spychiger, Maria (2005): Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim, Basel: Beltz. Prengel, Annedore (1995): Pädagogik der Vielfalt. Opladen: Leske + Budrich.
Von Anfang an mit den Kindern! Auf dem Weg zu einer „diagnostischen Expertise“ Silvia-Iris Beutel
Wenn es darum geht, den Zusammenhang von Lernförderung, Leistungsrückmeldung und Gerechtigkeit als pädagogische Aufgabe zu entfalten, scheint die Grundschule mit ihrem Anspruch an die Leistungsbeurteilung als einem Kernelement professionellen pädagogischen Handelns geradezu prädestiniert. Die überfachliche schulpädagogische Dimension des Zusammenhangs von Anerkennung und Förderung des Lernens und der Leistung legt dies ebenso nahe wie die Einsicht darin, dass dies für eine pädagogische Schulentwicklung nur dann gewinnbringend zu leisten ist, wenn die schulische Erfahrung der Kinder „von Anfang an“ durch eine solche Wahrnehmung lernförderlicher Leistungsbeurteilung geprägt ist. Gelingt es der Grundschule, beim Wechselspiel von „Leistungsförderung und Leistungsbeurteilung“ eine durch Forschungen nachweisbare förderliche Praxis zu kultivieren, wird es mittelfristig möglich sein, daraus auch für das Sekundarschulwesen wirksame Folgerungen und Praxisanregungen zu entwickeln. „Von Anfang an mit den Kindern“ heißt deshalb übersetzt: Lernen und Leistung können bei Kindern nur gemeinsam in gegenseitiger Anerkennung, nicht im Gegeneinander von Lehrenden und Schülerschaft, von Kindern und Schule gefördert werden. Es darf vorausgesetzt werden, dass dieser Zusammenhang in der Erziehungswissenschaft präsent ist. Dass jedoch die alltägliche pädagogische Praxis in den Schulen von einem Selbstverständnis ausgeht, das eine anerkennungsorientierte und auf Gerechtigkeit zielende Zeugnispraxis einschließt, darf zumindest bezweifelt werden. Wenn wir danach fragen, wie Leistungen von Kindern angemessen diagnostiziert, bewertet und vor allem kommuniziert werden können, zeigt sich ein Feld, zu dem die Kinder selbst Auskunft geben können. Die Kenntnis ihrer subjektiven und individuellen Rezeption ist aus heutiger Sicht unerlässlich, will man den Herausforderungen der Leistungsbeurteilung begegnen und sich durch deren professionelle Handhabung zugleich für die Förderung des Lernens der Kinder engagieren.
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Mein Beitrag entfaltet den Zusammenhang von Lernförderung und Leistungsbeurteilung in vier Schritten: Zuerst soll das Lernen von Kindern an Beobachtungen und Phänomenen des Unterrichts beleuchtet (1.), in einem zweiten Schritt der Zusammenhang von Lernen und Leistung problematisiert werden (2.). Ein dritter Schritt führt vor dem Hintergrund eigener Forschungsarbeiten zu einem schulpädagogischen Kernproblem: Das Verhältnis von Leistungsbeurteilung zur Wahrnehmung der Leistungsurteile bei den Kindern (3.), bevor abschließend das Vorausgegangene in Blick auf aktuelle Erfordernisse der Lehrerbildung (4.) gebündelt wird. 1
Das Lernen von Kindern – Phänomen und Eigenart
Um der Lernentwicklung von Kindern und Jugendlichen gerecht werden zu können, ist es notwendig, das Denken und Lernen der Kinder als eigenen Zugang zur Welterfahrung zu verstehen. Die folgenden Überlegungen sollen dies verdeutlichen. Beispiel 1 konfrontiert uns mit der Art und Weise, wie Kinder Zahlen und Zahlenräume auffassen. Es ist von den Mathematikdidaktikern Hartmut Spiegel und Christoph Selter dokumentiert worden (2003: 12f.). „Vor den Zweitklässlern liegt eine Tabelle, in der von links oben nach rechts unten die Zahlen von 1 bis 100 eingetragen worden sind. Die Lehrerin zeigt auf 41, 51, 61 und 71 und fragt, was daran besonders sei.
41 42 43 44 45 etc. 51 52 53 54 55 etc. 61 62 63 64 65 etc. 71 72 73 74 75 etc. Lina meldet sich: ‚Die haben alle dieselbe Vorderzahl!’ Im ersten Moment ist die Lehrerin überrascht. Hat Lina den Aufbau der Zahlen aus Zehnern und Einern noch nicht richtig verstanden, weiß sie nicht, dass 41 aus vier Zehnern und einem Einer besteht? Ist ihr die Struktur dieser Tabelle unklar? Hat sie nicht aufgepasst? Oder hat sie eine Wahrnehmungsstörung, so dass sie zunächst die Einer und dann die Zehner sieht? Vielleicht hat sich Lina aber auch etwas Vernünftiges überlegt. Die Lehrerin fragt: „Wie meinst du das?” – „Na, erst kommt ein-undvierzig, dann ein-undfünfzig, dann ein-undsechzig, dann ein-undsiebzig. Immer die Eins vorne!“, sagt Lina ganz selbstverständlich. Und die Lehrerin versteht.” (a.a.O.)
Von Anfang an mit den Kindern!
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Lina hat die sprachliche Erstnennung der „Einer“ vor den „Zehnern“ im Blick. Sie hat von der Aussprache und nicht von der Darstellungsform der Zahlen her argumentiert! Jedenfalls hat sie mit einer eigenen, kindertypischen Logik eine für ihr Denken richtige, weil begründbare, ja zwangsläufige Antwort gegeben. Beispiel 2 beleuchtet, wie originäre kognitive Leistungen von Kindern in der Schule abgewertet werden können: In einer zweiten Klasse hospitiere ich mit einer Studentin. Das Thema ist die Festigung des Alphabets. Die Lehrerin lässt dieses mehrfach aufsagen und heftet schließlich fünf Wörter an die Tafel: Senf, Sahne, Salz, Schnitzel, Saft. Ihre Frage dazu: Wie können die Wörter sortiert werden? Nach kurzem Nachdenken meldet sich ein Junge: „Nach der Größe“, so sagt er, „denn Senf ist kleiner als Schnitzel“. Die Lehrerin schüttelt den Kopf, sagt laut „Nein“ und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf ein anderes Mädchen. Sie sucht ein Kind, das die Wörter nach dem zweiten und dritten Buchstaben alphabetisch sortiert. Sie kümmert sich nicht im Ansatz um die Überlegungen des Jungen, der doch auf der Basis seiner empirischen Wahrnehmungen – dass nämlich auf dem Essensteller die Senfportion immer kleiner ist als das Schnitzel – etwas durchaus Vernünftiges gedacht hat. Die pure Ablehnung dieses auf Alltagsempirie gründenden Gedankens des Kindes zugunsten der vorgegebenen didaktischen Logik in der Aufgabenstellung und -bearbeitung hat folgende pädagogische Konsequenz: Sie unterstellt dem Jungen, nicht nachgedacht, nicht das „Richtige“ (das didaktische Konstrukt und Antwortziel der Lehrerin) erkannt zu haben. Sie gibt ihm damit das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben und lässt ihn im Übrigen auch mit den Folgen dieser Kommunikationsniederlage allein. Ein „Fehler“ in solch einseitiger Kommunikation ist immer ein Versagen des Kindes. Praktisch gesehen aber ging es hier um einen Verstehens-Fehler zwischen Kind und Lehrerin. Die Erfahrungswelt und Wahrnehmung des Jungen versucht dem aber voraussichtlich zu widerstehen, denn schließlich ist in der Erfahrungswelt des Kindes der Senf trotz des Lehrerurteils weiterhin kleiner als das Schnitzel. Kommunikation über einen Gedanken und eine Verstehensleistung und damit Förderung des Lernens durch didaktisches Anknüpfen an das eigenständige konstruktive Denken des Jungen kann hierbei allerdings nicht entstehen. In beiden Beispielen ist klar zu erkennen, dass bemessen am curricularen Lernziel – hinter dem offensichtlichen Fehler eine eigene Verstehensweise der Kinder steckt, eine selbstständige kognitive Struktur und Aktivität und vor allem eine Anstrengung, die es zu würdigen gilt, um das Lernen der Kinder zu öffnen und uns als professionell handelnde Pädagogen auf die Eigengesetzlichkeit der Denk- und Darstellungsweisen von Kindern einzulassen. Dies gilt sowohl für die Mathematik im ersten als auch für den Deutschunterricht im zweiten Beispiel.
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Lernen und Leistung – ein Zusammenhang
Wenn man die Leistungsbeurteilung in der Schule seit der Zeit der klassischen Reformpädagogik anfangs des 20. Jahrhunderts betrachtet, fällt auf, dass ein Spannungsverhältnis zwischen Fachleistung und Lernleistung besteht. Es basiert auf verschiedenen Bezugssystemen, um einerseits fachliche Leistungen zu bewerten und andererseits eine „pädagogische“ Auskunft über das Lern- und Sozialverhalten der Schülerinnen und Schüler zu geben. Diesen beiden differierenden Anforderungen professionell zu begegnen, ist die entscheidende Herausforderung, um der Lernentwicklung von Kindern und Jugendlichen fachlich und pädagogisch zugleich gerecht zu werden. Dazu stelle ich fünf Thesen zur Diskussion. Erste These: Dass die Leistungsbeurteilung lernförderlicher und differenzierter werden muss, ist heute eine weit verbreitete Erkenntnis in pädagogischer Wissenschaft und Praxis. Die über die letzten drei Jahrzehnte geführten Schulreformdebatten haben erkennen lassen, dass der Leistungsbeurteilung eine Schlüsselstellung für die Institution Schule zukommt. Es gilt, sie „ (...) für die pädagogische Aufgabe der Schule zurück zu gewinnen und in den Prozess des Lernens, des Korrigierens und Beratens einzubinden“ (Flitner 1999: 244). Dennoch scheinen vorliegende Reformkonzepte – wie etwa Lernentwicklungsberichte, Portfolios, kommunikative Lerndiagnose, Notenzeugnisse mit Kommentar – und die Ergebnisse vorliegender empirischer Untersuchungen noch nicht breit rezipiert zu werden. Es bleibt zu hoffen, dass die aktuellen Diskussionen um das Verhältnis von Schule und Leistung ein neuerliches Nachdenken über einen pädagogischen Begriff von Leistung und eine lernförderliche Praxis der Leistungsbeurteilung begünstigen. Zweite These: Pädagogisch gesehen muss Leistung als Ausdruck von Wissen, Wollen und Handeln der Kinder in ihrer jeweiligen Entwicklungssituation konzipiert werden. Leistung im pädagogischen Sinne ist deshalb eine Kategorie, die nicht in erster Linie durch Vorgaben von Lehr- und Stoffplänen, schulische Traditionen oder gesellschaftliche Anforderungen – also all dem, was im weitesten Sinne curricular gebunden ist – bestimmt wird. Vielmehr ist sie durch die Qualität des Lernens der Kinder bedingt und hängt damit wesentlich von der Qualität des Unterrichts ab. Im Prinzip entspricht eine kompetenzorientierte Rekonstruktion schulischer Lehrpläne durch „Bildungs- und Lernstandards“ diesem Gedanken eher, als dies das tradierte Curriculum oder der gegenstandsprozessorientierte Lehrplan bislang getan haben. Es sei aber dennoch vorsichtig gefragt, ob die Rekonstruktion schulischen Lernens in den Vorstellungen, Erfahrungen und inneren Bildern der Lehrerinnen und Lehrer so ohne weiteres von einem lehrplan- und gegenstandsorientierten Fokus hin auf eine kompetenzori-
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entierte Sichtweise und ein entsprechendes Lernen (mit einer ebensolchen Didaktik, die auf Verstehen und Handeln zielt) möglich ist? Hier ist die anhaltende und breitenwirksame Fortbildung und ein zu vermittelndes, besser gesagt, zu kultivierendes „verständnisintensives Lernen“ (Fauser 2002) als Teil des berufsbegleitenden Selbstverständnisses von professionellem Lehrerhandeln vonnöten. Dritte These: Leistung lässt sich als Antwort und Ergebnis des Lernens verstehen. Auf Seiten der Lernenden kann sich Leistung vielfältig entfalten und zeigen, sie ist jedoch nicht alleine durch das Erreichen curricularer Normen und Standards bemessbar. Spiegel/Selter (2003: 100ff.) benennen im Blick auf die Mathematik deshalb nicht nur fachliche Kompetenzen, die im Unterricht gefördert werden müssen, sondern auch Elemente wie Fantasie, Strukturierungsfähigkeit, Fähigkeit zum Wechsel zwischen verschiedenen Vorstellungsebenen und eine Reihe begabungsförderlicher allgemeiner Persönlichkeitsmerkmale wie: hohe geistige Aktivität, intellektuelle Neugierde, Anstrengungsbereitschaft, Freude am Problemlösen, Konzentrationsfähigkeit, Beharrlichkeit, Selbstständigkeit und Kooperationsfähigkeit. Auch für die Fachdidaktik ist unterrichtliches Handeln längst nicht mehr an Lehrplanvorgaben und curriculare Konstrukte gebunden, sondern an die kognitiven und sozio-moralischen Bedingungen des Lernens in seiner entwicklungstheoretischen Begründung. Ist das aber – müssen wir uns fragen – in den Schulen in jedem Falle auch schon so weit „gute Praxis“ oder müssen nicht Erziehungswissenschaft und Schulentwicklung hier weit stärker gefordert werden, als dies bislang der Fall ist? Vierte These: Lernen und Leisten stehen semantisch und sprachgeschichtlich in einem Wechselverhältnis, beide Begriffe entstammen einer Wurzel: „jemandem folgen, nachgehen, ihn begleiten“ (Grimm 1984: 722). Die abstrakte Bedeutung „befolgen oder tun dessen, was einem als eine Schuldigkeit vorgeschrieben oder auferlegt ist“ (ebd.), ist schon im Mittelalter nachweisbar. Parallel dazu entsteht die Begriffsbedeutung von Leistung als einer subjektiven Fähigkeit. In der Erziehungsdiskussion taucht der Leistungsbegriff in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts (Furck 1972; Klafki 1985; Jürgens 1992) und damit erst sehr spät auf. Es entwickelt sich im Verhältnis der beiden Begriffe Lernen und Leistung ein Pflichtkonzept, in dem festgehalten wird, dass der Lernende gegenüber dem Lehrenden eine Leistung zu erbringen hat. Dieses einseitige Konzept einer Bringschuld des Lernenden, das beiden Begriffen noch heute unterschwellig innewohnt, muss im Bewusstsein des Lehrers und der Lehrerin modifiziert werden: Leistungen dürfen gefordert, sie müssen aber auch gefördert werden. Überdies entspricht einer „guten Leistung“ der Kinder und Jugendlichen in der Schule auch die Erfordernis einer „guten Leistung“ ihrer Lehrpersonen. „Leistung“ ist ohne „Lernen“ nicht denkbar und eine im pädagogischen Sinne leistungsbezogene Schule muss ihr Lernkonzept so entfalten, dass
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es sich an den Heranwachsenden orientiert. Das heißt aber auch: Leistung und Lernen sind ein untrennbarer und konstruktiver Zusammenhang. Wenn es um Leistung und deren Bewertung geht, rückt pädagogisch gesehen immer das Lernen in den Blick. Wenn also schlechte Leistungen „beurteilt“ oder diagnostiziert werden, muss schon nach der Qualität des Lernens und dessen unterrichtlichen und schulischen Voraussetzungen gefragt werden dürfen – und nicht alleine nach dem Versagen von Kindern, Jugendlichen und Elternhäusern! Fünfte These: Ein pädagogisches Leistungsverständnis muss Misserfolge beim Lernen möglichst gering zu halten versuchen und bei deren Bewertung differenzierte und lernförderliche Strategien einsetzen. Individualisierung als Element der didaktischen Planung von Lernen ist infolgedessen ein wesentlicher Bestandteil einer entsprechenden pädagogischen Praxis. Dabei gilt es, in einem binnendifferenzierten Lernarrangement das Geschehen bei den einzelnen Lernenden genau im Blick zu halten und zu dokumentieren. Diese fünf Thesen zusammenfassend lässt sich festhalten: Leistungsbewertung ist Lernberatung. Sie soll vorrangig den Schülerinnen und Schülern eine transparente, gerechte und zum weiteren Lernen ermutigende Rückmeldung geben. Es ist bekannt, dass in der Schulpraxis dafür nicht in zureichender Weise die Voraussetzungen gegeben sind und bis heute deshalb berechtigte Forderungen nach einer Professionalisierung des Beurteilungsgeschäftes in der Lehrerausbildung und -fortbildung bestehen. 3
Wahrnehmung von Leistungsurteilen bei Kindern
Die Frage, wie eine kindgerechte und lernförderliche Leistungsbeurteilung aussehen kann, ist in Forschungsarbeiten jüngeren Datums durch den Blick auf Rezeptionsprozesse von Zeugnissen bei den Kindern und Jugendlichen selbst aufgegriffen worden (vgl. Maier 2002; Valtin 2002; Beutel 2005). Zur Darstellung soll auf die Forschungen, die im Kontext des Forschungsprojektes „LeiHS – Leistungsbeurteilung an Hamburger Schulen“ (Lütgert u.a. 2001) stattgefunden haben, zurückgegriffen werden. Ergänzend zu den dort durchgeführten quantitativen Untersuchungen, mit denen Wirkung, Einschätzung und Prioritätensetzung in Blick auf verschiedene Hamburger Zeugnisformen erhoben werden konnten (vgl. Jachmann 2003), wurde mit einem qualitativen Design insbesondere nach Rezeptionsprozessen von Zeugnissen durch Grundschulkinder gefragt (vgl. Beutel 2005). Eingebettet sind die hierbei gewonnenen Befunde in Auswertungen von Berichtszeugnissen und Notenzeugnissen, in denen Wortanteile eine Rolle spielen. Analysiert werden deren pädagogische, diagnostische und sprachliche Qualität.
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Die Ergebnisse lassen sich folgendermaßen bündeln: Im besten Fall werden verbale Formen der Zeugnisgebung als „Literatur“ konstituiert. Die Lehrenden richten dann ein besonderes Augenmerk auf kindspezifische Formen der Rezeption und des Gespräches: Die „narrative“ Form der Welterschließung, in der das Leben und der Alltag mit Hilfe von „Geschichten“ bewältigt wird, steht im Mittelpunkt dieses Zuganges und Kinder verstehen ihre „Geschichten“. Lehrerinnen und Lehrer müssen verschiedene Herangehensweisen an die Texte fördern. Sie müssen eine Atmosphäre des als Selbstverständlichkeit zu empfindenden Gespräches über Zeugnisse kultivieren, wenn diese dem Ideal der Lernförderung verpflichtet werden sollen, und sie müssen vor allem ein Auge darauf haben, dass alle Kinder diese Möglichkeit zur Kommunikation über ihr Lernen nutzen oder nutzen können. Gerade die sprachbetonten Zeugnisformen sollten von daher im Blick auf ihre kommunikative Seite entfaltet werden. Das beginnt bereits damit, dass Zeugnisse auf Verstehen angelegt sein sollten. Der Sprachgestus muss altersadäquat, die Begriffe sollten kindgerecht sein, wenn es die Grundschule betrifft. Bei den Zeugnissen, die Sprache und Ziffernzensuren kombinieren, ist sicherzustellen, dass die Sprache von den Beurteilten auch gesprochen bzw. verstanden werden kann – ein häufiges Problem gerade in einer „multiethnisch“ geprägten Schulpraxis (nicht nur) in Hamburg (vgl. Beutel 2004). Zeugnisse können als mit dem Lernen und Handeln der Kinder verbundenes Instrument zu einer wertvollen Textsorte werden. Dies gilt, wenn es gelingt, einen zur Kommunikation über die Zeugnisse einladenden Kontext zu schaffen. Die von mir geführten Interviews verdeutlichen, wie wichtig den Kindern ein solches Gespräch ist. Dieser kommunikative Bezugspunkt schafft Verantwortlichkeiten und Chancen zugleich: Einerseits wird die Möglichkeit eröffnet, in ein kontinuierliches Gespräch über das Lernen einzutreten. Andererseits müssen über diese Formen persönlicher Entwicklung auch adäquate Formen des Umgangs mit diesen Persönlichkeitswerten entstehen. Eine Verantwortung der Schule für gelingende Kommunikation gibt es auch dort, wo aufgrund sprachlicher Defizite und geringer schulischer Leistungen die Kinder durch Zeugnisse oder Lernberichte allein kaum, jedenfalls selten verhaltensfördernd erreicht werden. Gerade im Umgang mit der Schülerklientel, die Lernschwierigkeiten, möglicherweise aber auch Sprachdefizite hat, muss sich eine lernförderliche Beurteilung von Schülerleistungen bewähren. Diese Studie hat gezeigt, dass Kinder ein umfangreiches und in vielen Fällen hochdifferenziertes Wissen über ihr Verhältnis zum Lernen und zur Leistung besitzen. Sie unterscheiden zwischen verschiedenen Normen, an denen Leistungen gemessen werden, sie reagieren sehr genau auf den Redegestus von Lernberichten und konfrontieren die Geschichten, Beobachtungen und Urteile, die in
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textorientierten Zeugnissen über sie getroffen werden, mit ihrer eigenen Beobachtung. Auch zu Notenzeugnissen haben sie ein sehr bewusstes Wahrnehmungsverhältnis. Die Interviewanalysen belegen darüber hinaus, dass Kinder Hinweise zur Verbesserung ihres Lernens erhalten möchten. Kritik, die Kindern nachvollziehbar ist, kann durchaus ausgesprochen werden, solange sie sich am zu kritisierenden Sachverhalt orientiert. Insgesamt gesehen wird auch durch diese Untersuchungen erkennbar, dass die Professionalisierung der Beurteilungskompetenz der Lehrenden durch eine Kultur der Kommunikation im Kollegium, vor allem aber durch den Dialog mit den Lernenden ergänzt werden muss. Diese Einsicht stellt die Pädagogik in Wissenschaft und Praxis vor eine Fortbildungsaufgabe, die die Leistungsbeurteilung im Ganzen betrifft! 4
Kinder verstehen – Eine unerledigte Aufgabe der Lehrer/innenbildung
Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass im Zuge der Qualitätsdebatten um Schule und die darauf gerichtete Anforderung, sie müsse ihre Effektivität insgesamt steigern – sei das nun angesichts der PISA-Ergebnisse oder sei es im Rahmen der anderen internationalen Vergleichsuntersuchungen wie TIMSS, IGLU und CIVICS – zwei Hauptlinien in den Blick kommen: Einerseits die Stärkung der Schulautonomie und der darauf aufbauende Wettbewerb um Verbesserung der pädagogischen Qualität, der andererseits eine Reform und Optimierung der Lehrer/innenbildung hin in Richtung auf eine Stärkung der berufswissenschaftlichen Anteile nach sich zieht. Was folgt nun aus den hier angerissenen Aspekten für die Fundierung eines solchen pädagogischen Handlungswissens? Generell müssen Lehrerinnen und Lehrer daran erinnert werden, dass sie ein Fürsorge- oder Patenschaftsverhältnis für ihre Lernenden haben und nicht primär die Effektivität des Schulwesens und der gesellschaftlichen Anforderungen an das Schulwesen bedienen müssen. Ferner muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass Mehrperspektivität und verschiedene Bezugsnormen bei der Beurteilung zwingende Voraussetzungen professionellen Lehrer/innenhandelns sind und nicht alleine ein ohnehin schwieriges Geschäft noch schwieriger machen. In der Folge sollte es darum gehen, das Bezugsnormenkonzept bei der Leistungsbeurteilung bewußt anzuwenden und dessen kritisch-selbstreflexive Vergegenwärtigung und Nutzung in der Lehrer/innenbildung zu stärken. In jüngerer Zeit hat Helmke (2003) vehement auf den Professionalisierungsbedarf in dieser Frage hingewiesen und den Zusammenhang zwischen dieser dringlich auszubildenden Fähigkeit professionellen Lehrer/innenhandelns
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und der Qualität von Schule und Unterricht herausgestellt. Er spricht ausdrücklich von einer „Expertise“, die von ihm als umfassenderes Konzept (gegenüber der „Kompetenz“) zur Kennzeichnung eines handlungsleitenden pädagogischen Grundlagenwissens ausgeführt wird. Es geht dabei um eine Expertise, die „ (...) sowohl methodisches und prozedurales Wissen (Verfügbarkeit von Methoden zur Einschätzung von Schülerleistungen und zur Selbstdiagnose) als auch konzeptuelles Wissen (Kenntnis von Urteilstendenzen und -fehlern) und darüber hinaus noch ein hohes Niveau an zutreffender Orientiertheit“ (ebd.: 85) erforderlich macht. So gefasst wird „diagnostische Expertise“ eine schulpraktisch wirksame Komponente, die die bislang im schulischen Alltag verbreitete Praxis von Leistungsbeurteilung erweitert. „Diagnostische Expertise“ ist die anzustrebende Grundlage für eine qualitative Erhöhung des in der Schule notwendigen Praxiswissens, sie ist zugleich die Basis für eine Leistungsbeurteilung und Zertifizierung von schulischem Lernen, das der Kommunikation mit den Lernenden und damit der Lernförderung geschuldet ist. Literatur Beutel, Silvia-Iris (2004): „Grundschulkinder sind mehr als 1, 2, 3 oder 4“ – Wie Lehrende sich über Leistungen verständigen. In: Bartnitzky, Horst/Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Leistungen der Kinder wahrnehmen – würdigen – fördern. Bd 118. Frankfurt a. M.: Grundschulverband: 160 ff. Beutel, Silvia-Iris (2005): Zeugnisse aus Kindersicht. Schriftenreihe der Max-Traeger-Stiftung, Bd. 42. Weinheim, München: Juventa. Fauser, Peter (2002): Lernen als innere Wirklichkeit. In: Neue Sammlung, 42, 2, 39-68. Flitner, Andreas (1999): Reform der Erziehung. Impulse des 20. Jahrhunderts. Erw. Neuausgabe München: Piper. Furck, Carl-Ludwig (1972): Das pädagogische Problem der Leistung in der Schule. 4. Aufl. Weinheim: Beltz. Grimm, Jacob u. Wilhelm (1984): Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, Erstausgabe Leipzig 1885. München: dtv. Helmke, Andreas (2003): Unterrichtsqualität: erfassen, bewerten, verbessern. Seelze-Velber: Kallmeyer. Jachmann, Michael (2003): Noten oder Berichte? Die schulische Beurteilungspraxis aus der Sicht von Schülern, Lehrern und Eltern. Opladen: Leske + Budrich. Jürgens, Eiko (1992): Leistung und Beurteilung in der Schule. Eine Einführung in Leistungs- und Bewertungsfragen aus pädagogischer Sicht. Seelze: Friedrich Verlag. Klafki, Wolfgang (1985): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim, Basel: Beltz. Lütgert, Will/Tillmann, Klaus-Jürgen/Beutel, Silvia-Iris/Jachmann, Michael/Vollstädt, Witlof (2001): Leistungsbeurteilung und Leistungsrückmeldungen an Hamburger Schulen. Bericht über ein Forschungsprojekt. Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg (Hrsg.). Hamburg. Maier, Markus (2001): Das Verbalzeugnis in der Grundschule – Anspruch und Wirklichkeit. Landau: Verlag für Empirische Pädagogik.
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Spiegel, Hartmut/Selter, Christof (2003): Kinder & Mathematik. Was Erwachsene wissen sollten. Seelze-Velber: Kallmeyer. Valtin, Renate (2002): Was ist ein gutes Zeugnis? Noten und verbale Beurteilungen auf dem Prüfstand. Weinheim, München: Juventa.
Heterogene Lerngruppen aus grundschulpädagogischer Sicht unter besonderer Berücksichtigung von Kindern in Armutslagen Susanne Miller
Seit 1989 hat sich laut einer Unicef Studie (2005) die Zahl der in Armut lebenden Kinder in West-Deutschland verdoppelt. Der Paritätische Wohlfahrtsverband veröffentlichte aktuelle Zahlen, nach denen jedes 7. Kind unter 15 Jahren in Armut lebt, regionale Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland sind erheblich (vgl. Martens 2005). Allein seit Einführung der Hartz IV- Reform wird ein Anstieg von 965.000 Kindern auf 1,5 Millionen Kinder verzeichnet. Als arm gilt eine Familie in Deutschland dann, wenn sie mit weniger als 60% bzw. 50% des durchschnittlich verfügbaren Einkommens auskommen muss (sog. relative Armut). Ein besonders hohes Risiko, von Armut betroffen zu sein, haben Kinder nicht-deutscher Herkunft, Kinder von Alleinerziehenden, Kinder von Arbeitslosen, Kinder aus kinderreichen Familien und Kinder mit Eltern eines niedrigen Bildungshintergrunds. Kinderarmut – dies zeigt auch die rege Diskussion in der Presse ist in Deutschland zu einem erheblichen gesellschaftspolitischen Problem geworden. Da die Probleme der Kinderarmut und der Bildungschancen sehr eng zusammen hängen, stellt sich auch für die Schulpädagogik die Aufgabe, Kinderarmut in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken und zwar Armut in seiner Mehrdimensionalität von ökonomischer, kultureller und sozialer Unterversorgung. Gerade die Bedeutung des ökonomischen Kapitals wird aber nach meiner Einschätzung im schulischen Kontext häufig vernachlässigt oder unterschätzt. Im Folgenden gehe ich der Frage nach, welche theoretischen und empirischen Anknüpfungspunkte es für eine stärkere Berücksichtigung der mit Kinderarmut zusammenhängenden Fragen in der Schulpädagogik gibt, um dann am Beispiel erster Ergebnisse aus einem eigenen qualitativen Forschungsprojekt vorzustellen, wie die Herstellungsprozesse von Bildungsungleichheit von Armut betroffener Kinder in der Schule konkret aussehen können.
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Theoretische Anknüpfungspunkte
Den Ort, an dem die mit Kinderarmut zusammenhängenden schulpädagogischen Fragen theoretisch bearbeitet werden könnten, sehe ich in den Ansätzen zur Pädagogik der Vielfalt (vgl. Prengel 1995; Preuss-Lausitz 1993; Hinz 1999; Wenning 2004), in denen Heterogenität als gleichberechtigte Verschiedenheit anerkannt wird. Unter der Denkfigur der egalitären Differenz und einer Wertschätzung der Vielfalt wird auf der Basis von Perspektivitätstheorien die Verschiedenheit von Schülerinnen und Schülern nicht mehr als lästige Tatsache beklagt, sondern als bereichernde, produktive Grundlage des offenen Unterrichts begrüßt (vgl. Prengel 1999: 42). Obwohl in verschiedenen Texten der genannten Autoren das Problem der Armut und sozialen Benachteiligung durchaus auch expliziert wird, fehlt es an einer systematischen Einbeziehung der Armutskategorie. Im Mittelpunkt des Interesses stehen häufig weiterhin die drei pädagogischen Bewegungen, die die Verschiedenheit von Kindern und Jugendlichen fokussieren und sich für eine Demokratisierung und mehr Chancengleichheit einsetzen, dies sind die "Interkulturelle Pädagogik", die „Feministische Pädagogik" und die "Integrative Pädagogik". In diesen drei Bereichen ist der Forschungsstand entsprechend ausgeprägt, während "Kinderarmut" in der schulpädagogischen Auseinandersetzung nur selten thematisiert wird, so auch Graumann (vgl. 2001: 70). Gerd Iben stellt ebenfalls fest: „... die wissenschaftliche Pädagogik, die Schulpädagogik und Lehrerbildung sind in dieser Frage ausgesprochen indisponiert" (Iben 2002: 36). Andreas Hinz hat beispielsweise bereits den Versuch unternommen, die Tragfähigkeit einer Pädagogik der Vielfalt für Armutsgebiete zu klären und zu stärken (vgl. Hinz 1998). 2
Empirische Grundlage
Es liegt auf der Hand, dass Lehrerinnen und Lehrer die Lebenswelten der sozial randständigen Kinder zumindest kennen und verstehen müssen, wenn sie in ihrem Unterricht daran anknüpfen wollen und eine Diskriminierung verhindern möchten. Die Grundschulpädagogik trägt durch die disziplinäre Annäherung an die Kindheitsforschung dazu bei, hierfür eine fundierte empirische Grundlage zu schaffen und eine wissenschaftliche Auseinandersetzung über die verschiedenen Lebenswelten von Kindern zu führen. Auf die Kinderarmutsforschung bezogen kann konstatiert werden, dass hier in Übereinstimmung mit der "neuen" Kindheitsforschung Kinder auch als soziale Akteure in den Blick geraten. Beispielsweise in Studien von Antje Richter (2000), Karl-August Chassé (2003) und der sog. AWO-Studie von Hock, Holz u.a. (2000 u. 2003) werden im Rahmen eines
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multidimensionalen Armutskonzepts die vielfältigen Lebenslagen der Kinder und ihrer Familien auch in ihren subjektiven Sichtweisen und Bewältigungsstrategien untersucht. Wir wissen aus der mittlerweile relativ umfangreichen Armutsforschung, dass finanzielle Armut vielfältige Folgen haben kann u.a. im gesundheitlichen Bereich, im psychosozialen Wohlbefinden, in der sprachlichen und motorischen Entwicklung von Kindern etc. (vgl. auch Walper 1999, 2005). Die Forschungslage zu Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen der Kinderarmut kann systematisiert werden in unterschiedliche fachdisziplinäre Zugänge, wobei der Schwerpunkt auf sozialpolitischen, soziologischen und sozialpädagogischen Perspektiven liegt. Eine dezidiert schulpädagogische Forschung mit dem Fokus auf Kinderarmut ist bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Toppe 2001) bisher noch nicht zu verzeichnen. Eine Perspektive eröffnen die Studien von Elke Nyssen/Helmut Stange (2003) sowie von Thomas Müller (2005), er ist in einer Lehrerbefragung der Frage nachgegangen, wie Kinderarmut aus der Perspektive von Sonderschullehrerinnen und -lehrern wahrgenommen wird. Insgesamt wurden 23 Interviews in der Oberpfalz an Förderschulen durchgeführt und ausgewertet. Interessanterweise attestiert Müller Sonderschullehrerinnen und -lehrern im Ergebnis, die Lebenswelten ihrer Schülerinnen und Schüler kaum zu kennen. Wörtlich heißt es: „Die Aussagen über die Möglichkeiten der Schüler an kulturellen Produkten wie Kino, Theater oder Sportvereinen teilzuhaben, müssen als relativ undifferenziert eingestuft werden. Konkrete Aussagen wurden kaum getroffen, was wohl daran liegen dürfe, dass ein Großteil der befragten Lehrer nicht weiß, womit, mit wem und wie ihre Schüler die Zeit außerhalb der Schule verbringen.“ (Müller 2005: 238) Ebenso ernüchternd bilanziert Müller die Planung und Gestaltung des Unterrichts: Zwei Drittel hätten sich über Konsequenzen für ihren Unterricht noch keine Gedanken gemacht, Kinderarmut sei nicht handlungsleitend (vgl. Müller 2005: 241). Die Studie macht damit nach meiner Einschätzung sehr ausdrücklich auf die Notwendigkeit einer stärkeren schulpädagogischen Auseinandersetzung mit der Armutsproblematik aufmerksam, die sicherlich auch und gerade für die allgemeine Schule gilt. 3
Bildungsungleichheit in der Grundschule
In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion wird die soziale Benachteiligung insbesondere seit Veröffentlichung der Leistungsvergleichsstudien wieder vermehrt zum Thema gemacht, da in keinem anderen Land der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg so eng ist wie in Deutschland. Es geht dabei nicht nur um die sog. Benachteiligungen, die die Kinder aus bildungsfernen und armen Familien mitbringen, sondern auch um die Hervorbrin-
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gung der Bildungsungleichheit durch das Schulsystem selbst. Oft richtet sich die Kritik auf das gegliederte Schulsystem. Die Kritik bleibt aber zumeist auf den Übergang zu den verschiedenen Sekundarschulen beschränkt, obwohl die Selektionsquoten auch bereits vor und innerhalb der Grundschulzeit erheblich sind, hiervon sind Kinder aus einfachen sozialen Verhältnissen und aus Migrationsfamilien besonders stark betroffen (vgl. Krohne/Meier/Tillmann 2004; Tillmann 2004). Innerhalb dieses schulstrukturellen, auf Homogenisierung angelegten Rahmens agieren Lehrerinnen und Lehrer aber auch als Professionelle in einem eigenen Handlungsspielraum. Es gibt einige empirische Hinweise darauf, dass Lehrerinnen und Lehrer Heterogenität vornehmlich als Belastung empfinden (vgl. Roeder 1997; Fölling-Albers 1995; Reh 2005) trotz der eingängigen pädagogischen Rhetorik um die „Heterogenität als Chance“. Sabine Reh (2005) nennt dies eine herrschende Mentalität, die es Lehrkräften erschwert, mit heterogenen Lerngruppen umzugehen. Ditton (1995: 98) hat bereits vor zehn Jahren darauf hingewiesen, dass die Studien zur Bildungsbeteiligung zwar notwendige und wichtige Informationen zum Stand und zur Entwicklung von "Ungleichheit" darstellten, sie aber keine Überprüfung der relevanten (Mikro-) Bedingungen und Prozesse im Verlauf der Schulzeit böten. Genau an diesem Punkt setzt mein eigenes Forschungsprojekt an. Es sollen nicht nur die Erscheinungsformen von Armut in der Grundschule sichtbar gemacht werden, sondern vor allem auch die Herstellungsprozesse von Armut in der und durch die Grundschule. Damit wird ein Armutsverständnis, das jeweils nur an den Lebenslagen und Sozialisationsbedingungen der Kinder in Armut anknüpft, erweitert. 4
Selektionsentscheidungen
Nachfolgend skizziere ich erste Ergebnisse aus dem eigenen Forschungsprojekt "Soziale Ungleichheit an der Grundschule aus der Sicht von Lehrerinnen und Lehrern“, welches ich im Jahr 2003 in einer niedersächsischen Stadt, die besonders von Arbeitslosigkeit und einer hohen Sozialhilfebedürftigkeit betroffen ist, durchgeführt habe. An fünf Grundschulen habe ich mit den Schulleitungen und den jeweiligen Klassenlehrerinnen und -lehrern der zweiten Schuljahre leitfadengestützte Experteninterviews geführt. Die Perspektive richtet sich damit nicht nur auf einzelne Lehrerinnen und Lehrer, sondern auch auf die Einzelschule als Motor für Schul- und Unterrichtsentwicklung. Eine Kooperation mit dem Gesundheitsamt ermöglichte es, die Daten der Schuleingangsuntersuchung dieses Jahrgangs schulbezogen auswerten zu können. Damit liegt eine gewisse Vergleichbarkeit der fünf Schulen in ihrer Ausgangsbasis vor. Von drei Fragenkomplexen galt einer der Frage, wie Lehrerinnen und Lehrer am Beispiel von
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Einzelfällen negativ und positiv verlaufende Lernkarrieren im Zusammenhang mit den spezifischen häuslichen Umfeldbedingungen beschreiben und wie sie ihre eigene Rolle schildern. Aus diesem großen Bereich beschränke ich mich hier auf das Thema „Entscheidung über die Meldung zur Sonderschule bzw. Förderschule“. Zur Konkretisierung habe ich drei typische, gekürzte Fallbeschreibungen von drei verschiedenen Lehrerinnen ausgewählt, von denen eine Selektion einzelner Schülerinnen und Schüler in Betracht gezogen wird. Die Überweisung zur Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen ist für Kinder, die zu 90% aus sozial benachteiligten Familien stammen, einer der nachhaltigsten Entscheidungen, sie werden aus der allgemeinen Schule ausgesondert und für behindert erklärt. Der Weg zurück kommt statistisch gesehen äußerst selten vor, Zukunfts- und Lebensperspektiven werden determiniert, d.h. der Weg in die Armut wird wahrscheinlich. Soziale Ungleichheit und Armut werden also überspitzt formuliert genau hier durch Schule mit hergestellt. 1 Mustafa: Sonderschulüberweisung hängt von häuslicher Förderung ab Mustafa wurde von der Grundschullehrerin Frau A. im ersten Schuljahr zur Sonderschule gemeldet. Sie begründet ihre Entscheidung: „weil ich eigentlich selber gerne wissen wollte: was ist mit dem Kind?“ Der Junge sei bereits in der Vorschule und auch im Schulkindergarten gewesen. Die Leiterin des Schulkindergartens habe sie gebeten, den Jungen überprüfen zu lassen. Sie hätte wissen wollen: „Was sind da für Defizite bei dem Kind?“ Zum Halbjahr sei dann von der Sonderschullehrkraft festgestellt worden, dass Mustafa in allen Bereichen zurück sei. Es sei aber auch festgestellt worden, der Junge könne viel aufholen, wenn er zu Hause ein bisschen mehr Unterstützung hätte. „Also nicht nur sprachliche Unterstützung, sondern auch dass jemand seine Hausaufgaben kontrolliert, bei kleinen Diktaten mal vorher mit ihm übt, mal was liest“. Dies habe er zu Hause nicht gehabt. Die Lehrerin betont, sie habe schon vorher versucht, dies der Mutter zu signalisieren.„Das hat sie von mir nicht wahrgenommen, aber diese Sonderschulüberprüfung hat etwas in ihr bewegt. Das hat sie sehr erschreckt, was ja vielleicht im Nachhinein ganz positiv für das Kind war, denn sie hat sich dann jemanden gesucht, der mit dem Kind täglich übt“. Im zweiten Halbjahr habe der Junge daraufhin große Fortschritte gemacht. Er sei immer noch einer der schwächsten Schüler, aber er könne im unteren Bereich ganz gut mitarbeiten. Er habe das Lesen im Grunde zu Hause gelernt. 1
Nachfolgend gebe ich sehr nah am Wortlaut der transkribierten Interviews den jeweiligen Inhaltsausschnitt wieder.
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Chantalle: Überaltert, läge in einer anderen Klasse im Rahmen Von Chantalle berichtet Lehrerin B., dass sie die erste Klasse wiederholt habe und nun die zweite Klasse bei ihr wiederhole. Sie habe jetzt die Sonderschulüberprüfung eingeleitet: „Und das war mir einfach zu haarig. Man muss ja selber erst einmal beobachten. Und ich habe dann festgestellt: irgendwie reicht es nicht.“ Zu Hause strenge man sich daraufhin jetzt deutlich an, durch die Übung seien Erfolge sichtbar. Am kommenden Donnerstag sei nun die Überprüfung zur Sonderschule für Lernbehinderte. Im Verwandtenkreis seien schon etliche auf der Sonderschule. „ Die Tante und die ganze Kinderschar haben wir schon dahin überwiesen. Da ist also wenig zu holen, aber sie bemüht sich im Augenblick. Sie wird wirklich zu Hause trainiert. Sie tun alles, aber ich weiß nicht, ob es reicht“. Das Verfahren sei ihr als Absicherung sehr wichtig. Zum familiären Hintergrund berichtet die Lehrerin, es seien insgesamt sechs Kinder in der deutschen Familie. Der Vater sei häufiger arbeitslos, es gäbe kein gesichertes Arbeitsverhältnis. Die Mutter tue sich auch sehr schwer. Die Lehrerin vermutet, auch die Mutter sei über die Sonderschule nicht hinausgekommen. „Und wenn man mit ihr redet, dann merkt man es ganz stark. Sie ist grammatikalisch nicht auf der Höhe“. Das Kind habe Sprachschwierigkeiten. Bei einem anderen Kollegen sei es so, dass es in der Klasse noch schlechtere gibt. Dort läge Chantalle im Rahmen. „Aber betrachtet man ihr Alter – und ich denke, das muss man machen – die kommt bald in die Pubertät und ist noch in der Grundschule – sehe ich im Diktat immer noch sechs Fehler, ich sehe Schwierigkeiten in Mathematik, weswegen ich sie auch gemeldet habe.“ Anton: Sonderpädagogischer Förderbedarf ist familienbedingt Anton kommt nach Auskunft der Lehrerin N. aus einer Familie mit acht Kindern, die Familie sei geistig nicht gerade auf der Höhe. Aus der Familie habe sie zwei Kinder in der Klasse. Der Junge, Anton, komme bestimmt zur Sonderschule, für das Mädchen könne es auch anstehen. Zwei Kinder der Familie seien schon auf der Sonderschule. Anton sei ein kleiner zurückgebliebener Junge, der aussehe wie acht und schon elf werde. Die Mutter spreche sehr schlecht Deutsch. „Der Vater scheint seit kurzem arbeitslos zu sein. Und dann mit acht Kindern. Man kann aber nicht sagen, dass die ungepflegt sind. Aber ich denke schon: die mit den acht Kindern werden sicherlich sparsam sein. Es gibt ja heute eine ganze Menge Kindergeld – anders als noch vor etlichen Jahren – damit werden die schon irgendwie zurecht kommen, denke ich“. Die geistige Armut sei in der Familie auf jeden Fall beheimatet. Die Mutter habe gar keine Zeit, sich um die schulischen Belange der Kinder zu kümmern, und sie habe auch keine Ahnung,
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was in der Schule läuft. „Ich habe auch noch nicht gesehen oder gehört, dass die ein Buch haben. Sie haben ganz große Probleme, in der Schule in irgendeiner Weise mitzuhalten. Ich denke, dass das auch wirklich familienbedingt ist, wenn schon zwei Kinder auf der Sonderschule sind.“ Im letzten Jahr sei er schon einmal überprüft worden. Damals sei eine junge Kollegin von der Sonderschule da gewesen. Die habe sich mit der damaligen Klassenlehrerin angelegt. Was sie jetzt beobachte, sei im letzten Jahr schon genau so gewesen. „Diese junge Sonderschullehrerin war der Meinung, es seien vor allem seine sprachlichen Probleme. Einer, der ganz schwer Zutrauen fasst und wenig sagt, wenn überhaupt.“ Die kurzen Passagen mussten hier aus dem Gesamtzusammenhang der Interviews gelöst werden und können jetzt auch nicht im Kontext interpretiert werden. Allerdings illustrieren sie, dass der eingangs positive Blick auf die grundschulpädagogische Reflexion zur Heterogenität durchaus Relativierungen bedarf. Im ersten Fallbeispiel von Mustafa wird ausgedrückt, wie stark das Schulschicksal eines Kindes von der häuslichen Unterstützung und Förderung abhängig sein kann. Das bereits schon in Gang gesetzte Sonderschulverfahren konnte aufgehalten werden, weil häusliche Unterstützung als aussichtsreich eingeschätzt wurde und die Eltern, durch das Verfahren erschreckt, nun für Nachhilfe sorgen. In den Augen der Lehrerin ist der Fall scheinbar recht positiv verlaufen, denn der durch das Sonderschulverfahren ausgelöste Schreck der Mutter hat im Nachhinein etwas Positives bewirkt, da der Junge gute Fortschritte erzielt hat. Was heißt dieses Fallbeispiel aber für die Wahrnehmung von Unterversorgungslagen? Gibt es selbst im Nachhinein aus der Perspektive der Lehrerin nicht zu denken, dass hier ein Kind auf der Kippe zur Sonderschule stand, nur weil niemand zu Hause mit ihm geübt hat? Wie selbstverständlich setzt das System Schule und auch diese Lehrerin die häusliche Förderung voraus? Was passiert mit Kindern, deren Eltern beispielsweise auf Grund von Armut und/oder eigener Bildungsdefizite nicht für zusätzliches häusliches Üben aufkommen können? Sind hier möglicherweise erste Grenzen im Umgang mit Heterogenität erkennbar? In den anderen Fällen ist zu erkennen, dass die Lehrerinnen durchaus die materielle Armut, die Lebensprobleme der Familien und auch die geringe geistig-kulturellen Anregungen wahrnehmen und kennen. Materielle Not wird aber, wie eingangs vermutet, eher gering geschätzt: So wird die Arbeitslosigkeit eines Vaters von acht Kindern dem hohen Bezug des Kindergeldes gegenüber gestellt und vermutet, sie würden schon irgendwie zurecht kommen. Die sog. geistige Armut wird von Lehrerinnen im Vergleich dazu gravierender eingeschätzt, allerdings häufig als ein familienbedingtes Schicksal interpretiert. Wenn bereits andere Familienangehörige (vgl. Fallbeispiel 2 und 3) auf der Sonderschule sind
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oder waren, wird es als Indiz gewertet, dass von dem Kind auch nicht viel zu erwarten sei – es scheint, als spielten diffuse Vererbungstheorien eine nicht unerhebliche Rolle in den Erklärungsmustern. Teilweise werden auch die typischen Gründe der Überalterung ins Feld geführt, d.h. die vorherigen Selektionen in den Schulkindergärten bzw. Klassenwiederholungen vormals als Förderung gedacht, werden nun zum Stigma. In manchen Interviews spiegelt sich allerdings auch eine gewisse Hilflosigkeit der Grundschullehrerinnen wider, sie wissen nicht, was mit dem Kind los ist und wollen sich durch die Überprüfung vergewissern. Obwohl den Grundschullehrerinnen dann teilweise sogar explizit von den Sonderschullehrerinnen vor Augen geführt wird, dass das Fehlen sprachlicher Fähigkeiten oder der häuslichen Unterstützung der Grund für die Leistungsprobleme sein könnten also eine soziale Benachteiligung für alle Beteiligten offenkundig ist wird die Sonderschulüberweisung nicht grundsätzlich infrage gestellt. Maßnahmen zur aktiven Unterstützung der Verhinderung einer Sonderschulüberweisung werden zumindest in diesen Interviewausschnitten, bei denen die Kinder schon weitgehend gelabelt sind, fast überhaupt nicht benannt. Neu an dieser Feststellung ist nicht, dass es vornehmlich Kinder in Armut und aus sozial benachteiligten Familien sind, die zur Sonderschule überwiesen werden. Neu ist aber, wie bewusst Lehrerinnen im System Schule an diesem benachteiligenden Prozess mitarbeiten. Dies ist, wie bereits oben erwähnt, durch unser Schulsystem, das auf Homogenisierung aufbaut, auch so angelegt, deshalb soll und kann das Handeln der einzelnen Lehrerinnen keineswegs moralisch gewertet werden. Außerdem gibt es für Lehrerinnen gegenwärtig auch wenig Unterstützungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten, wenn sie im Rahmen des oben erwähnten Handlungsspielraums mit sozialer und kultureller Heterogenität in ihren Klassen produktiv umgehen und insbesondere Kinder in Armut nicht selektieren möchten. 5
Perspektive und Ausblick
Wenn die Grundschulpädagogik aus gegebenem Anlass zukünftig verstärkt die Gruppe der armen Kinder in den Fokus nimmt, besteht die Gefahr, möglicherweise selber ungewollt dazu beizutragen, die hierarchisch strukturierte Differenz noch zu verschärfen. Aus einer konstruktivistischen Perspektive wurde diese Gefahr für die Geschlechter-, Integrations- und Interkulturellen Pädagogiken bereits verschiedentlich reflektiert. Einen Lösungsweg sehe ich darin, sowohl in der theoretischen Auseinandersetzung und Forschung als auch in der Unterrichtspraxis stets eine kritische Reflexionshaltung im Hinblick auf diese Gefahr einzunehmen. Die Berücksichtigung der Kinder, die unter Armutsbedingungen
Heterogene Lerngruppen aus grundschulpädagogischer Sicht
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aufwachsen, sollte dabei meiner Meinung nach die Pädagogik der Vielfalt allerdings keineswegs um eine neue, zusätzliche Gruppe erweitern. Die Benachteiligungen, die bisher getrennt unter den Aspekten Kultur und Behinderung betrachtet wurden, könnten vielmehr unter der Armutsperspektive eine Querstruktur bilden. Schultheoretischen Erkenntnisgewinn verspreche ich mir aber nicht nur durch die empirische und theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik, vielmehr sehe ich durch das Aufgreifen dieser disziplinüberspannenden Problematik auch die Chance, die Schnittbereiche sowohl zwischen der allgemeinen Pädagogik und Sonderpädagogik als auch der Schul- und Sozialpädagogik zu erforschen und die traditionellen Grenzen zwischen diesen Disziplinen zu überwinden. Literatur Chassé, Karl August/Zander, Margherita/Rasch, Konstanze (2003): Meine Familie ist arm. Wie Kinder im Grundschulalter Armut erleben und bewältigen. Opladen: Leske + Budrich. Ditton, Hartmut (1995): Ungleichheitsforschung. In: Rolff, Hans-Günter (Hrsg.): Zukunftsfelder von Schulforschung. Weinheim: Beltz, 89-124. Fölling-Albers, Maria (1995): Veränderte Kindheit – veränderte Schulkinder: Eine Einführung. In: Fölling-Albers, Maria (Hrsg.): Schulkinder heute. Auswirkungen veränderter Kindheit auf Unterricht und Schulleben. Weinheim, Basel: Beltz. Graumann, Olga (2001): Armut unter Kindern und Jugendlichen in ihrer Bedeutung für Schule. In: Graumann, Olga/Mrochen, Siegfried (Hrsg.): Schule in Not. Eine Institution auf der Suche nach Verbündeten. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, 69-87. Hinz, Andreas (1998): Pädagogik der Vielfalt – ein Ansatz auch für Schulen in Armutsgebieten? Überlegungen zu einer theoretischen Weiterentwicklung. In: Hildeschmidt, Anne/Schnell, Irmtraud (Hrsg.): Integrationspädagogik. Auf dem Weg zu einer Schule für alle. Weinheim, München: Juventa, 127-144. Hock, Beate/Holz, Gerda/Wüstendörfer, Werner (2000): Frühe Folgen - langfristige Konsequenzen? Armut und Benachteiligung im Vorschulalter. Vierter Zwischenbericht zu einer Studie im Auftrag des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt. Frankfurt a. M.: ISS-Eigenverlag. Holz, Gerda/Skoluda, Susanne (2003): Armut im frühen Grundschulalter. Abschlussbericht der vertiefenden Untersuchung zu Lebenssituation, Ressourcen und Bewältigungshandeln von Kindern im Auftrag des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt. Frankfurt a. M.: ISS-Eigenverlag. Iben, Gerd (2002): Armut in der Schule. Das Bild der Armut. In: Pädagogik, 54, 6, 34-37. Krohne, Julia Ann/Meier, Ulrich/Tillmann, Klaus-Jürgen (2004): Sitzenbleiben, Geschlecht und Migration – Klassenwiederholungen im Spiegel der PISA-Daten. In: Zeitschrift für Pädagogik, 50, 3, 373-391. Martens, Rudolf (2005): Erste quantitative Bilanz nach Hartz IV. Jedes siebte Kind lebt auf Sozialhilfeniveau. URL: http://www.infothek.paritaet.org/pid/fachinfos.nsf/ (30.09.2005). Müller, Thomas (2005): Armut von Kindern an Förderschulen: Beschreibung und Analyse des Phänomens der Armut von Kindern an Förderschulen sowie empirische Untersuchung seiner Wahrnehmung bei Förderschullehrern. Hamburg: Kovac.
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Susanne Miller
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Die Überweisung in die Sonderschule: Typische Fälle und Benachteiligungsmuster Brigitte Kottmann
Der folgende Beitrag befasst sich mit einer Gruppe von Kindern, für die das Motto der Dortmunder Tagung „Auf den Anfang kommt es an ...“ in besonderem Maße gelten müsste, da sie häufig bereits zu Beginn ihrer Schullaufbahn aus der Regelschule ausgesondert und durch die Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf in die Zuständigkeit des Sonderschulsystems überwiesen werden. Im Anschluss an eine kurze theoretische Einführung und die Erläuterung der Fragestellung bzw. des methodischen Vorgehens möchte ich einige zentrale Ergebnisse meiner Dissertation vorstellen, die sich in empirischer Form mit dieser von der allgemeinen Schultheorie bisher weitgehend vernachlässigten Thematik befasst. 1
Einführung in die Thematik
Selektion findet in der Grundschule durch die Zurückstellung vom Schulbesuch, durch die Wiederholung von Klassen sowie durch die unterschiedlichen Übergänge zu den weiterführenden Schulen statt. Quer zu diesen Selektionsstufen können Kinder durch ein administrativ geregeltes Feststellungsverfahren in die Zuständigkeit des Sonderschulsystems überwiesen werden. Rolff (1997: 187) bezeichnet die Überweisung in die Sonderschule als „härteste soziale Selektion“ und das extremste Beispiel für die schichtspezifische Auslese durch die Schule. Dennoch wird diese Thematik von der allgemeinen Pädagogik bzw. der Grundschulpädagogik und auch von der Sonderpädagogik bisher wenig beachtet. Im Jahr 1994 wurden von der Kultusministerkonferenz die „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik
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Brigitte Kottmann
Deutschand“ veröffentlicht (vgl. KMK 1994)1. Diese Empfehlungen verfolgen u.a. das Ziel, Integration als Normalfall und die Regelschule als Förderort neben der Sonderschule zu etablieren. Anstelle der „Sonderschulbedürftigkeit“ eines Kindes wird nun von seinem „sonderpädagogischen Förderbedarf“ ausgegangen. Entgegen der Intentionen der KMK-Empfehlungen ist jedoch auch 10 Jahre danach die Beschulung in der Sonderschule der Normalfall: Lediglich ein Anteil von etwa 13% der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird integrativ beschult (vgl. KMK 2005). Der Begriff bzw. die Zuschreibung von sonderpädagogischem Förderbedarf ist umstritten. Die Kritik kann hier nur kurz angerissen werden: Eberwein (1995: 471) verweist beispielsweise darauf, dass jedes Kind einen individuellen Förderbedarf hat und somit die Frage nach zusätzlichem oder besonderem Förderbedarf problematisch ist. Bleidick (1999: 32) und Schröder (2000: 77) kritisieren die Zirkularität der KMK-Definition, welche im Prinzip lediglich aussagt, dass sonderpädagogischer Förderbedarf dort vorliegt, wo Kinder und Jugendliche sonderpädagogischer Förderung bedürfen. Hinz (1997: 160) kritisiert Feststellungsverfahren, da sie grundsätzlich suggerieren, man könne eindeutige Entscheidungen treffen. Gomolla und Radtke (2002: 258) warnen davor, dass unscharfe Kriterien flexibel angewandt werden, was die Gefahr von Ermessensspielräumen und institutioneller Diskriminierung (beispielsweise von Kindern mit Migrationshintergrund) erhöht. Mehrere Autoren skandalieren, dass die Etikettierung von Kindern mit Ressourcen „belohnt“ wird, was als „EtikettierungsRessourcen-Dilemma“ (Füssel/Kretschmann 1993: 43) bezeichnet wird. Neben der Unschärfe des Begriffs „sonderpädagogischer Förderbedarf“ wird letztendlich auch die Dominanz der Sonderpädagogik kritisiert, die durch die Zuschreibung von sonderpädagogischem Förderbedarf ihre eigene Schülerschaft rekrutiert (vgl. Hänsel 2003). Die Gruppe der Kinder mit so genannten Lern- und Entwicklungsstörungen, d.h. der Behinderungskategorien Lernbehinderung, Erziehungsschwierigkeit und Sprachbehinderung bzw. den Förderschwerpunkten „Lernen“, „Sprache und Sprechen“ sowie „Emotionale und soziale Entwicklung“, stellt mit fast 70% die größte Gruppe aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Dabei handelt es sich um Behinderungskategorien bzw. Förderschwerpunkte, die 1
Nordrhein-Westfalen veränderte daraufhin 1995 das Überweisungsverfahren, das nun durch die „Verordnung über die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und die Entscheidung über den Förderort“ (VO-SF) geregelt ist. Seit dem 01.09.2005 ist das Verfahren in die AO-SF (Ausbildungsordnung Sonderpädagogische Förderung) integriert, die auch die Umbenennung von Sonderschulen in Förderschulen beinhaltet (vgl. www.bildungsserver.nrw.de). In dem hier vorliegenden Text werden überwiegend die Begrifflichkeiten verwendet, die zum Zeitpunkt der Untersuchung aktuell waren.
Die Überweisung in die Sonderschule
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hauptsächlich während der Schulzeit relevant sind, die überproportional häufig mit sozialer Benachteiligung korrespondieren und als „grundschulnahe“ Förderschwerpunkte bezeichnet werden können. Der signifikante Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsbenachteiligung ist nicht erst seit der PISA-Studie bekannt. Das gilt insbesondere für die Schülerinnen und Schüler der Sonderschule für Lernbehinderte, die von mehr als 50% aller Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf besucht wird. Wocken (2000: 499) resümiert: „Die Sonderschüler bilden das Schlusslicht und sind die ärmsten Schüler aller Schulen.“ Vor allem Kornmann (vgl. 2003) weist seit Jahren nachdrücklich auf die Überrepräsentanz von ausländischen Schülerinnen und Schülern an Sonderschulen für Lernbehinderte hin und kritisiert, dass Kinder mit einem Migrationshintergrund im Jahr 2000 in der BRD ein 2,1-mal so großes Risiko hatten, zu einer Sonderschule für Lernbehinderte überwiesen zu werden, wie deutsche Kinder, in NRW ist das Risiko sogar 2,6-mal so groß (vgl. auch Gomolla/Radtke 2002). Die Studie von Haeberlin u.a. (1990) zeigt zudem, dass lernbehinderte Kinder an der Sonderschule geringere Lernfortschritte machen als lernbehinderte Kinder, die in der allgemeinen Schule verbleiben, so dass die Segregation auch aus dieser Perspektive kritikwürdig ist. Trotzdem wächst die Gruppe der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf stetig: Im Jahr 2004 galten etwa 5,5% aller Schülerinnen und Schüler als sonderpädagogisch förderbedürftig. Die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist in der Zeit von 1991 bis 2004 um 41,2% angestiegen, die Zahl der Schüler/innen ohne Förderbedarf jedoch nur um 15,1% (vgl. KMK 2005). 2
Beschreibung meiner Fragestellung und des methodischen Vorgehens
In meiner Dissertation habe ich die im Rahmen einer sonderpädagogischen Überprüfung erstellten Gutachten zur Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf als empirisches Material genutzt, um die Umsetzung des Verfahrens gemäß VO-SF quantitativ und qualitativ zu analysieren. Die Gutachten bieten sich als Datengrundlage an, da sie ausführliche Informationen über die Kinder enthalten, aber auch als Schnittstelle zwischen allgemeiner Schule und Sonderschule bzw. zwischen Etikettierung und Nicht-Ettikettierung gesehen werden können. Dabei geht es nicht darum, die beteiligten Gutachterinnen und Gutachter zu kritisieren, sondern bestehende strukturelle Zusammenhänge des aktuellen Schulsystems zu untersuchen und zu hinterfragen. Die aus grundschul-
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Brigitte Kottmann
pädagogischer Perspektive vorgenommene Analyse fokussiert sowohl Strukturen der Gesamtgruppe als auch die individuellen Situationen und Schullaufbahnen der einzelnen Kinder und zeigt auf diese Weise wiederkehrende Muster von Benachteiligung und Selektion auf. Die zentralen Fragestellungen der Gutachtenanalyse lauteten: Bei welchen Kindern wird ein Verfahren gemäß VO-SF durchgeführt? Wie sind Jungen und Mädchen vertreten? Wie alt sind die Kinder und welcher Herkunft sind sie? Wie ist ihre bisherige Bildungskarriere verlaufen? Wie verläuft das Verfahren und welche Entscheidungen über die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs werden getroffen? Sind Unterschiede im Hinblick auf den Förderschwerpunkt oder die Herkunft der Kinder zu konstatieren? Gibt es Muster bezüglich der verschiedenen Schulkarrieren der Kinder? Es wurde eine Vollerhebung sämtlicher Überweisungsgutachten (der drei genannten Förderschwerpunkte) eines Schuljahres (1999/2000) eines nordrheinwestfälischen Schulamtsbezirks durchgeführt, so dass die Datengrundlage aus insgesamt 167 Gutachten besteht, davon 102 mit dem vermuteten Förderschwerpunkt „Lernen“, 34 mit dem vermuteten Förderschwerpunkt „Sprache und Sprechen“ sowie 31 mit dem vermuteten Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“. Mit Hilfe eines Erhebungsbogens wurden aus allen Gutachten quantitative und qualitative Daten entnommen. In quantitativer Hinsicht erfolgte eine statistische Analyse von univariaten und bivariaten Verteilungen (Häufigkeiten und Mittelwerte) sowie eine multivariate Analyse (Clusteranalyse). Die qualitativen Daten wurden mittels einer Inhaltsanalyse untersucht und interpretiert. 3
Zentrale Ergebnisse der Untersuchung
Die im ersten Analyseschritt durchgeführte quantitative Auswertung zeigt, dass insgesamt 90% der Verfahren auch zu einer Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf führen. Somit muss die häufig zu Beginn des Verfahrens gegenüber den Eltern formulierte Behauptung, eine Überprüfung sei unverbindlich, angezweifelt werden. Die Analysen belegen, dass bei den einzelnen Förderschwerpunkten Unterschiede auffallen: Vor allem beim Förderschwerpunkt „Lernen“ sind überwiegend sozial benachteiligte Kinder, Kinder mit einem Migrationshintergrund und Kinder mit Selektionserfahrungen von einem VO-SF betroffen. Etwa 40% der Kinder sind Mädchen, so dass bei diesem Förderschwerpunkt das Geschlechterverhältnis relativ ausgeglichen ist. Von allen von einem VO-SF betroffenen Migrantenkindern wurde bei 85,7% der Förderschwerpunkt „Lernen“ vermutet.
Die Überweisung in die Sonderschule
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Der Förderschwerpunkt „Sprache und Sprechen“ wird von deutschen Kindern (82,1%) dominiert. Diese sozial eher begünstigten Kinder – etwa drei Viertel sind Jungen – werden direkt in die Sprachheilschule eingeschult. Zum Förderschwerpunkt „Emotionale und soziale Entwicklung“ gehören ebenfalls fast ausschließlich Jungen (97,1%). Diese Gruppe ist aber – im Hinblick auf die familiären Hintergründe, die soziale und ethnische Herkunft und bisherige Selektionserfahrungen – eher heterogen. Auffällig ist der hohe Anteil von Kindern alleinerziehender Mütter (54,8%). Mit Hilfe der im zweiten Analyseschritt durchgeführten multivariaten Clusteranalyse wurden verschiedene Typen von Kindergruppen identifiziert, bei denen einzelne Strukturmomente der Benachteiligung auffallen. Die Cluster sind in sich möglichst homogen und verhalten sich zueinander möglichst heterogen. Die Analyse zeigt, dass Muster im Hinblick auf die verschiedenen Schulkarrieren der Kinder festgestellt werden können. Es wurden sechs strukturtypische Gruppen identifiziert, die sich deutlich voneinander abgrenzen: (1) die sozial benachteiligten lernbehinderten deutschen Mädchen (15,5%), (2) die sozial benachteiligten lernbehinderten Migranten (13,8%), (3) die überalterten sitzengebliebenen lernbehinderten Jungen (12,6%), (4) die früh überwiesenen deutschen Jungen mit Erziehungsschwierigkeit oder Sprachbehinderung (35,9%), (5) die zurückgestellten lernbehinderten Jungen (13,2%) und (6) die Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf (9,0%)2. Dabei bestätigt die Clusteranalyse die bereits in der theoretischen Auseinandersetzung und in der quantitativen Analyse herausgearbeiteten Strukturmomente von Benachteiligung: Erstens wirkt sich eine unterprivilegierte Herkunft benachteiligend für die Kinder aus, ebenso – zweitens – ein durch das Verfahren erfolgter Schulformwechsel, der im Gegensatz zu einer sofortigen Einschulung beispielsweise an der Sprachheilschule eher als Misserfolg empfunden werden kann. Drittens sind aus einer förderungsorientierten Perspektive Kinder, die keinen Kindergarten besucht haben und bereits von schulischer Selektion betroffen waren, deutlich benachteiligt. Viertens ist bezüglich einer möglichen Partizipation der Eltern wichtig, ob deren Meinung zum Verfahren ernst genommen wird und ob sie sich aktiv daran beteiligen. Und fünftens ist in institutioneller Hinsicht bedeutsam, welcher Förderort, d.h. Sonderschule oder Integration, aber
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Eine tabellarische Übersicht mit detaillierten Informationen und Daten zu den einzelnen Clustern findet sich in der Veröffentlichung der Dissertation (Kottmann 2006).
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auch welche Art von Sonderschule (mit zielgleicher oder zieldifferenter Beschulung) zugewiesen wird. Besonders kritikwürdig ist das Ergebnis, dass Kinder, bei denen mehrere Indikatoren für eine soziale Benachteiligung sprechen, früher von einem Verfahren betroffen sind. Beim Cluster 2, den sozial benachteiligten lernbehinderten Migranten, besuchen die Kinder im Mittelwert die Klasse 1,2. Obwohl lediglich ein Drittel der Eltern mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf ihrer Kinder einverstanden ist, werden die Verfahren am schnellsten abgeschlossen (3 Monate Dauer). Somit kann für diese Untersuchung die Schlussfolgerung gezogen werden, dass sozial benachteiligte Kinder nicht nur in einem besonders hohen Maße von schulischer Selektion betroffen sind, sondern auch noch zu einem innerhalb ihrer Bildungskarriere besonders frühen Zeitpunkt. Der dritte Analyseschritt, die qualitative Analyse der Gutachtentexte, zeigt, dass die Gutachten sehr häufig als Legitimationsgutachten einzuordnen sind, die die Überweisung eines Kindes in eine sonderpädagogische Zuständigkeit begründen und absichern. An der Etikettierung und Selektion sowie der defektorientierten und differenztheoretischen Argumentation hat sich durch die Neukonzeption des Verfahrens nichts Wesentliches verändert. Zwar sind eine Reihe von Ansätzen im Sinne der Ziele des VO-SF, beispielsweise im Hinblick auf Förderdiagnostik, zu erkennen, diese werden aber häufig der Intelligenzdiagnostik untergeordnet. 4
Schlussfolgerungen
Die Überrepräsentanz bestimmter Gruppen – der sozial Benachteiligten, der Kinder mit Migrationshintergrund, der Jungen –, die durch die Daten nachdrücklich belegt werden konnte, ist auch auf die aktive Benachteiligung durch Schule zurückzuführen, die bestimmte Kinder kategorisiert und etikettiert. Somit ist die Sonderschule nicht nur eine Schule, die von sozial benachteiligten Kindern besucht wird, sondern die Sonderschule ist auch für die soziale Benachteiligung der Kinder mit verantwortlich. Die Daten zeigen, dass Benachteiligung auch durch das Verfahren selbst hergestellt und/oder manifestiert wird. Die Schülerinnen und Schüler werden in ihrer Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit als dauerhaft eingeschränkt behauptet, und sie werden durch eine Überweisung zu einer Sonderschule tatsächlich in ihren Bildungsmöglichkeiten eingeschränkt, indem sie dem gemeinsamen Lernen in der Regelschule entzogen werden, in der sie auch von Anregungen anderer Kinder profitieren könnten, die eventuell sozial besser gestellt sind (vgl. Hänsel 2003: 603). Auch Böttcher und Klemm weisen darauf hin, dass Kinder aus bildungsfernen Schichten aus-
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schließlich in der Schule die Gelegenheit haben, „den gesellschaftlichen Kernbestand an Wissen kennenzulernen, der nötig ist für eine kritisch-kompetente Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und ihnen die Chance gibt, ihrem sozialen Schicksal zu entkommen“ (Böttcher/Klemm 2000: 37). Meines Erachtens zeigt die Untersuchung, dass das selektive System sich insgesamt als höchst fragwürdig erweist, da es sehr viele Ressourcen darauf verwendet, die Schüler/innen zu sortieren und umzustufen. Das Vorhandensein der einzelnen beschriebenen Selektionsstufen ist in der Regel kontraproduktiv für die betroffenen Schülerinnen und Schüler, und dabei handelt es sich häufig um Kinder ohne Kapital und ohne Lobby. Den sozial benachteiligten Kindern mit Migrationshintergrund, die eine Sonderschule für Lernbehinderte besuchen, wird somit an der Regelschule kaum eine Chance gegeben. Diese Kinder kommen einer neuen Figur der Bildungsbenachteiligung sehr nahe – das katholische Arbeitermädchen vom Lande, das in den 60er Jahren die am stärksten benachteiligten Gruppen repräsentierte, wird aktuell vom sozial schwachen Migrantenjungen an der Sonderschule für Lernbehinderte abgelöst. Literatur Bleidick, Ulrich (1999): Behinderung als pädagogische Aufgabe. Behinderungsbegriff und behindertenpädagogische Theorie. Stuttgart: Kohlhammer. Böttcher, Wolfgang/Klemm, Klaus (2000): Das Bildungswesen und die Reproduktion von herkunftsbedingter Benachteiligung. In: Frommelt, Bernd/Klemm, Klaus/Rösner, Ernst/Tillmann, Klaus-Jürgen (Hrsg.): Schule am Ausgang des 20. Jahrhunderts. Gesellschaftliche Ungleichheit, Modernisierung und Steuerungsprobleme im Prozeß der Schulentwicklung. Weinheim, München: Juventa, 11-43. Eberwein, Hans (1995): Zur Kritik des sonderpädagogischen Paradigmas und des Behinderungsbegriffs. Rückwirkungen auf das Selbstverständnis von Sonder- und Integrationspädagogik. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 46, 10, 468-476. Füssel, Hans-Peter/Kretschmann, Rudolf (1993): Gemeinsamer Unterricht für behinderte und nichtbehinderte Kinder. Pädagogische und juristische Voraussetzungen. Witterschlick, Bonn. Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2002): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. Opladen: Leske + Budrich. Haeberlin, Urs/Bless, Gérard/Moser, Urs/Klaghofer, Richard (1990): Die Integration von Lernbehinderten. Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen. Bern, Stuttgart, Wien: Paul Haupt. Hänsel, Dagmar (2003): Die Sonderschule – ein blinder Fleck in der Schulsystemforschung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 49, 4, 594-612. Hinz, Andreas (1997): „Integrative Diagnostik“ zwischen Ressourcenbeschaffung und Verstehensprozessen. In: Meißner, Klaus (Hrsg.): Integration – Schulentwicklung durch integrative Erziehung. Berlin, 159-169. Kornmann, Reimer/Kornmann, Aline (2003): Erneuter Anstieg der Überrepräsentation ausländischer Kinder in Schulen für Lernbehinderte. In: Zeitschrift für Heilpädagogik, 54, 7, 286-289.
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Brigitte Kottmann
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Konzeption und Ergebnisse von Förderunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund Agi Schründer-Lenzen & Stephan Mücke
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Rahmenbedingungen des Förderunterrichts
Im Schuljahr 2004/05 wurde einer Gruppe von insgesamt 136 Kindern aus sozialen Brennpunktlagen Berlins unterrichtsergänzender Förderunterricht durch studentische Honorarkräfte1 erteilt. Die Förderung fand jeweils in Kleingruppen von vier bis sechs Schülerinnen und Schülern statt, die zu diesem Zeitpunkt die dritte Klasse der Grundschule besuchten. Die Rekrutierung der Stichprobe erfolgte auf Grund der Datenlage aus der Berliner Längsschnittuntersuchung zur Lesekompetenzentwicklung von Grundschulkindern (BeLesen vgl. Merkens/ Schründer-Lenzen u.a. 2004; Schründer-Lenzen 2004 a, b; Schründer-Lenzen/ Merkens 2006), in der die Schulleistungsentwicklung insbesondere von Kindern mit Migrationshintergrund von der ersten bis zur vierten Klasse in einem echten Längsschnitt verfolgt wird. Im Zentrum des Förderunterrichts stand dementsprechend eine Unterstützung der Lesekompetenzentwicklung von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache. Durchgeführt wurde ein materialbasiertes Lesetraining, das jeweils ein- bis zweimal wöchentlich 90 Minuten dauerte. In der wissenschaftlichen Begleitung wurden Trainingsmodule entwickelt2, die die Studierenden nach Anleitung implementierten. Die bereits seit der ersten Klasse erhobenen Daten der Förderkinder zeigen, dass die schriftsprachliche Lernentwicklung dieser Kinder von Anfang an als risikobelastet eingeschätzt werden muss, da im Vergleich zu den Normwerten standardisierter Lese- und Rechtschreibtests zu allen Messzeitpunkten Prozentrangplätze < 25 erreicht werden. Die mit der „Hamburger Schreibprobe“ (vgl. May u.a. 2003) erhobene Rechtschreibleistung nimmt zwar im Verlauf der ersten beiden Schuljahre zu, gleichwohl gelingt es den Kindern nicht, den Abstand 1 2
Das Projekt wird durch den „Verein Berliner Kaufleute und Industrieller“ (VBKI) finanziert. Projektteam: Karin Becher, Anja Bossen, Havva Engin, Renate Heusinger, Ute Ruprecht.
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Agi Schründer-Lenzen & Stephan Mücke
zu den Normwerten zu verringern. Besonders eindringlich zeigt sich diese Tendenz im Bereich der Lesekompetenzentwicklung, wie sie mit der „Würzburger Leise Leseprobe“ (vgl. Küspert/Schneider 1998) gemessen wird. Dieses Testverfahren, das durch einfache Bild-Wort-Zuordnungen insbesondere die basale Leselernentwicklung über die Feststellung der Lesegeschwindigkeit misst, verdeutlichte, dass am Ende des zweiten Schuljahres die von den Förderkindern durchschnittlich erreichten Ergebnisse noch unter den Normwerten blieben, die monolinguale Gruppen am Ende der ersten Klasse im Durchschnitt erreichen. Eine genauere Betrachtung der Datenausgangslage machte darüber hinaus deutlich, dass die Gruppe der Förderkinder in sich äußerst heterogen ist. Diese auch statistisch bedeutsame Differenz der Lernausgangslage der Förderkinder machte es notwendig, zwei unterschiedliche Trainingsschwerpunkte zu setzen, auf die mit der Bezeichnung „basale Leseförderung“ und „Förderung von Lesestrategien“ hingewiesen werden soll. Die Effektstärke der Differenz zwischen beiden Fördergruppen hat von der ersten zur zweiten Klasse kontinuierlich von d = - 0,66 bis d = - 1,13 zu Lasten der basalen Fördergruppe zugenommen. Die Kinder dieser Fördergruppe befinden sich damit am Ende des zweiten Schuljahres auf einem Niveau, das noch nicht einem einjährigen Lesealter entspricht. Das sinnverstehende Lesen konnte am Ende der zweiten Klasse mit dem ELFETest (vgl. Lenhard/Schneider 2006) erstmals erfasst werden, wobei hier nicht die Differenz innerhalb der Gruppe der Förderkinder das bedeutsame Ergebnis ist (d = - 0,27), sondern der Abstand der gesamten Fördergruppe zu den Normwerten der Eichstichprobe (Effektstärke d = -1,86). 2
Theoretische Bezugspunkte der Trainingsstudie
Die skizzierte Lernausgangslage der Förderkinder ließ es sinnvoll erscheinen, sich in der Konzeption des Förderunterrichts vornehmlich auf eine Unterstützung basaler Lesefähigkeiten zu konzentrieren. Insofern ist die Effektivität vorhandener Förderkonzepte für die hier gegebene Risikogruppe von Kindern mit Migrationshintergrund einzuschätzen. Als förderdiagnostisch besonders erfolgreich hat sich das entwicklungsorientierte Modell der Lesekompetenz (vgl. Scheerer-Neumann 1998) erwiesen, in dem die Förderung phonologischer Bewusstheit zentral ist. Die positiven Auswirkungen einer Stimulierung dieser schriftsprachlichen Vorläuferfähigkeit auf die Entwicklung der Lesekompetenz sind insbesondere für das Vorschulalter an unauffälligen Stichproben gut belegt (vgl. Lundberg u.a. 1988; Übersicht bei Bus/v. Ijzendoorn 1999; Schneider/Stengard 1999; Ehri u.a. 2001). In den im Anfangsunterricht durchgeführten Trainingsstudien zeigt sich die über die pho-
Konzeption und Ergebnisse von Förderunterricht
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nologische Bewusstheit hinausgehende Unterstützung der Wortbewusstheit und syntaktischen Reflexion als förderlich (vgl. Kirschhock 2004). Für den Anfang des Schriftspracherwerbs scheinen bereits morphologische Trainingsschwerpunkte auch ohne phonologisches Training sinnvoll (vgl. Lyster 1997, 2002; Elbro/Arnbak 1996). Schneider (2004) plädiert daher gerade im Hinblick auf Risikogruppen für eine kombinierte Risikobestimmung und Frühförderung, die auf Unterstützung phonologischer Bewusstheit sowie der allgemeinen Sprachentwicklung abzielen. Er hat hierbei allerdings sprachentwicklungsverzögerte Kinder im Blick. Gleichwohl konnte die Wirksamkeit phonologischen Trainings auch für Kinder mit Migrationshintergrund nachgewiesen werden (vgl. Stuart 1999; Gräsel/Gutenberg 2004; Weber u.a. 2004). Allerdings gibt es auch Untersuchungen, die für bilinguale Kinder gerade im Bereich phonologischer Bewusstheit eher von einer Überlegenheit mehrsprachiger Kinder ausgehen (vgl. Bruck/Genesee 1995; Campbell/Sais 1995) und andere, die diesen Background Skill in Kombination mit metakognitiven Strategien als eher neutral einstufen (vgl. Bialystok 2002). Der Zusammenhang zwischen phonologischer Bewusstheit und Zweisprachigkeit scheint auch je nach Erstsprache unterschiedlich beeinflusst zu werden (vgl. Bialystok u.a. 2003), so dass die Befundlage insgesamt uneinheitlich bleibt (vgl. Bialystok 2001). Nicht unproblematisch ist auch die Erwartung an Transfereffekte einer Förderung phonologischer Bewusstheit auf die Steigerung der Lesekompetenz, sofern damit anspruchsvollere Worterkennungsaufgaben gemeint sind. Fördererfolg scheint somit vornehmlich in einer Steigerung der Dekodierfähigkeit möglich, die sich in einer Erhöhung der Lesegeschwindigkeit zeigt (vgl. Ehri u.a. 2001). Förderkonzepte, die auf die hierarchiehohen Prozesse des sinnverstehenden Lesens auf der Textebene abzielen, konzentrieren sich insbesondere auf eine Förderung von Lernstrategien, Lesemotivation und verbalem Selbstkonzept. Ein systematischer Überblick über die entsprechenden Trainingsstudien ist gerade von Streblow (2004) zusammengestellt worden. Bekannt ist gleichermaßen, dass die interindividuellen Unterschiede der Lesekompetenz sich vornehmlich durch Intelligenz, Arbeitsgedächtnis und bereichsspezifisches Vorwissen erklären, wobei für mehrsprachige Kinder dem Umfang des Wortschatzes eine herausgehobene Stellung zukommt (vgl. Verhoeven 2000). Ebenso bedeutsam könnte die Verfügung über formal-sprachliche Strukturen der Zielsprache Deutsch sein, wie es in sprachsystematischen Ansätzen für Deutsch als Zweitsprache herausgestellt (vgl. Belke 2003; Rösch 2003) und in ersten Interventionsstudien wie dem „Jacobs Summer Camp“ belegt wird (vgl. Stanat/Müller 2005). Ein auch in der Didaktik des Deutschen als Fremdsprache gängiges Element der Unterrichtsgestaltung ist die Verwendung von Sprachspielen, Liedern
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und Reimen, mit denen Aspekte des Pattern Drill, der Artikulationsschulung und der Förderung des Hörverständnisses kombiniert werden (vgl. Häusser mann/Piepho 1996). Inwieweit ein Einsatz musikalisch-rhythmischer Übungsformen jedoch geeignet ist, die gängigen Aufgabenformate phonologischer und linguistischer Trainings für den Zweitspracherwerb zu erweitern, ist bislang weder theoretisch noch empirisch genauer untersucht worden. 3
Zur Konzeption des Trainings
Die materialbasierte Förderung besteht aus einem musikalisch-rhythmisch unterstützten Training des Hörverständnisses einerseits und in einem auf der Einübung von Lesestrategien basierenden Training des Leseverständnisses andererseits. Die Trainingsmodule zur Förderung basaler Leseprozesse sehen vor: Üben einzelner Laute und Lautkombinationen Bewusstmachen von Buchstaben-Laut-Zuordnung Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen Unterstützung von Silbensegmentierung und Wortakzent Aktivierung von Reimmustern Rhythmisierung von Wort- und Satzmelodie Betonung von Artikulation und Intonation Die Trainingsmodule zur Förderung des sinnverstehenden Lesens auf der Textebene konzentrieren sich auf die Einübung von Lesestrategien, die für den Grundschulunterricht bedeutsam sind: Organisationsstrategien (Vorwissen aktivieren, markieren, visualisieren) Wiederholungsstrategien (zusammenfassen, „roter Faden“) Elaborationsstrategien (W-Fragen) Der Einsatz der Trainingsmodule verbindet sich mit folgenden forschungsleitenden Fragen: Lassen sich Effekte von Förderunterricht für Kinder nichtdeutscher Herkunftssprache nachweisen? Kommt es zu unterschiedlichen Fördereffekten hinsichtlich der zentralen Bereiche der Lesekompetenzentwicklung in Relation zur Art des Trainings? Ist es auch in der dritten/vierten Klasse noch lernförderlich, basale Lesefertigkeiten durch Unterstützung des Hörverständnisses und der phonologi-
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Konzeption und Ergebnisse von Förderunterricht
schen Bewusstheit von Kindern nichtdeutscher Herkunftssprache zu trainieren, sofern sich ihr Lesealter in der Zweitsprache noch auf Anfangsniveau befindet? Da der Förderunterricht insgesamt auf zwei Jahre angelegt ist, stand im ersten Förderjahr die Pilotierung eines Förderkonzepts im Vordergrund, das die aus den Trainingskonzepten der phonologischen Bewusstheit bekannten Aufgabenformate für eine multilinguale Lerngruppe modifiziert, erweitert und altersentsprechend musikalisch-rhythmisch arrangiert. 4
Ergebnisse der Intervention
Das sinnverstehende Lesen auf der Textebene konnte für die Stichprobe erstmals zum Ende der zweiten Klasse mit dem ELFE-Test (vgl. Lenhard/Schneider, im Druck) erhoben werden. Vergleicht man den Lernstand der Förderkinder in dem Schuljahr vor der Förderung (Ende 2. Klasse) mit dem Ende des Förderjahres (3. Klasse), so zeigt sich, dass die Lernentwicklung der Förderkinder einen nicht unerwarteten Verlauf genommen hat: Der Abstand zwischen beiden Trainingsgruppen hat sich weiter ausgebaut (vgl. Tabelle 1). Da dieses Ergebnis auch der Lernentwicklung in anderen Schulleistungsbereichen während der ersten beiden Schuljahre entspricht, ist die lesestrategisch geförderte Gruppe wohl insgesamt als leistungsstärker anzusehen. Messzeitpunkt
basale Leseförderung MW (SD)
Lesestrategie MW (SD)
Effektstärke d
Ende 2. Klasse
3,1
(1,8)
3,9
(2,0)
- 0,42
Ende 3. Klasse
6,0
(2,4)
8,3
(3,4)
- 0,78
Tabelle 1: Vergleich des Lernstandes im ELFE-Test (Textverständnis) zwischen den Fördergruppen nach Messzeitpunkten/Schuljahren
Betrachtet man die Effektstärke der Differenz zwischen den Mittelwerten der Eichstichprobe und den jeweiligen Trainingsgruppen (vgl. Tabelle 2), so wird deutlich, dass die Gruppe der Kinder, die ein lesestrategisches Training erhielten, im Förderzeitraum ihren Abstand zu den Normwerten verringern konnten, wohingegen für die Gruppe der Kinder, die basal gefördert wurden, im Verlauf der dritten Klasse ein zunehmendes Zurückbleiben hinter den Normvorgaben festzustellen ist. Hierbei muss man allerdings berücksichtigen, dass dieser Bereich der Lesekompetenz für diese Gruppe der Kinder auch nicht Gegenstand
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Agi Schründer-Lenzen & Stephan Mücke
der Förderung war. Für die lesestrategisch geförderten Kinder ist aber im Trainingszeitraum ein erhöhter Lernerfolg in dem trainingsspezifischen Bereich des sinnverstehenden Lesens feststellbar. Vergleich für den ELFE-Test (Textverständnis)
Ende Klasse 2 Effektstärke d
Ende Klasse 3 Effektstärke d
Eichstichprobe vs. Lesestrategie
-1,63
-1,27
Eichstichprobe vs. basale Förderung
-1,91
-2,05
Tabelle 2: Vergleich der Effektstärken im ELFE-Test (Textverständnis) zum Ende der 2. Klasse und 3. Klasse zwischen Eichstichprobe und Fördergruppen
Die Lernentwicklung der Förderkinder im Bereich der basalen Lesekompetenz ist im Förderzeitraum durch eine Verringerung des Abstandes der basal geförderten Kinder zu den Normwerten der Eichstichprobe gekennzeichnet. Die lesestrategisch geförderten Kinder haben sich demgegenüber im Hinblick auf dieses Kriterium nur unwesentlich im Vergleich zur Lernentwicklung während des 2. Schuljahres verbessern können (vgl. Tabelle 3). Vergleich für den WLLP-Test (basales Lesen)
Ende Klasse 2 Effektstärke d
Ende Klasse 3 Effektstärke d
Eichstichprobe vs. Lesestrategie
-1,29
-1,23
Eichstichprobe vs. basale Förderung
-2,23
-1,83
Tabelle 3: Vergleich der Effektstärken im WLLP-Test (basales Lesen) zum Ende der 2. Klasse und 3. Klasse zwischen Eichstichprobe und Fördergruppen
Betrachtet man nicht den Lernstand, sondern die Lernzuwachsraten im basalen Lesen vor dem Training (Ende 2. Klasse) und im Trainingszeitraum (Ende 3. Klasse) aufgrund der Differenz der Mittelwerte, die jeweils zu Beginn bzw. zum Ende des Schuljahres erreicht werden, so wird deutlich, dass die Kinder, die basal gefördert wurden, im Hinblick auf dieses Kriterium sogar mehr gelernt haben als die anderen Förderkinder, die ein Lesestrategietraining erhielten (vgl. Tabelle 4).
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Konzeption und Ergebnisse von Förderunterricht
Lernzuwachs (insgesamt)
basale Leseförderung MW (SD)
Lesestrategie MW (SD)
Effektstärke d
2. Schuljahr
24
(14)
30
(13)
- 0,48
3. Schuljahr
28
(14)
22
(12)
0,45
Tabelle 4: Lernzuwachs im WLLP-Test (basales Lesen) im 2. und 3. Schuljahr nach Fördergruppen
Da aus den teilnehmenden BeLesen-Klassen immer nur einige Kinder gefördert wurden, ist es sinnvoll, den Lernzuwachs der Förderkinder mit dem Lernzuwachs der übrigen Mitschülerinnen und Mitschüler zu vergleichen. Während für das zweite Schuljahr die Lernzuwachsraten der später geförderten Kinder noch unterhalb ihrer Mitschüler/innen lagen, hat sich dieses Verhältnis unter den Fördermaßnahmen umgekehrt: Für den Verlauf des dritten Schuljahres können die geförderten Kinder im basalen Lesen (WLLP-Test) einen höheren Lernzuwachs erreichen als die nicht geförderten Mitschüler/innen (vgl. Tabelle 5). Lernzuwachs (insgesamt)
geförderte Kinder MW (SD)
nicht geförderte Kinder MW (SD)
Effektstärke d
2. Schuljahr
28
(13)
32
(14)
- 0,30
3. Schuljahr
24
(13)
22
(15)
0,14
Tabelle 5: Lernzuwachs im WLLP-Test (basales Lesen) im 2. und 3. Schulhalbjahr nach geförderten und nicht geförderten Kindern
Innerhalb des Förderzeitraumes ist zu zwei Messzeitpunkten (Mitte und Ende der 3. Klasse) auch ein selbstentwickelter C-Test durchgeführt worden, der darauf hinweist, dass die Leistungsdifferenz zwischen den Förderkindern sich insbesondere durch ein unterschiedliches Niveau in der Beherrschung der Verkehrssprache erklärt. Die Effektstärke der Differenz zwischen den Gruppen beträgt d = 0,88 und bleibt auch während des Förderzeitraumes konstant. Die allgemeine Sprachentwicklung bleibt damit unbeeinflusst von der Art des Lesetrainings.
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Agi Schründer-Lenzen & Stephan Mücke
Diskussion
Da der Schulunterricht der Stichprobe in der 2. und 3. Klasse keinen gravierenden Veränderungen wie etwa einem Lehrerwechsel unterlag, hat der Vergleich der Lernzuwachsraten der geförderten Schüler/innen in dem Schuljahr vor der Förderung und während der Förderung eine gewisse Bedeutung. Gut belegt wird der Erfolg der Fördermaßnahme aber durch den Vergleich der Kinder mit bzw. ohne Intervention innerhalb derselben Klasse. Der signifikant erhöhte Lernzuwachs der Förderkinder ist andererseits nicht überraschend, da eine Erhöhung der Lernzeit zu den am besten belegten Maßnahmen der Steigerung von Lernerfolg gehört. Insofern ist hier die Konzentration der Lernzuwachsraten in den unterschiedlichen Dimensionen der Lesekompetenz zu beachten. Die Trainingserfolge sind jeweils trainingsspezifisch, so dass auch eine bereichsspezifische Wirksamkeit der Trainingsmaßnahmen angenommen werden kann. Der bisherige Trainingsverlauf zeigt aber auch, dass ein Transfer der Förderung basaler Leseprozesse auf die hierarchiehohen Prozesse des Textverständnisses nicht festgestellt werden konnte. Ähnliche Einschränkungen sind aus den Trainings zur phonologischen Bewusstheit bekannt. Literatur Belke, G. (2003): Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Sprachspiele, Spracherwerb und Sprachvermittlung. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren Bialystok, E. (2001): Bilingualism in development. Language, literacy & cognition. Cambridge: Cambridge University Press. Bialystok, E. (2002): Acquisition of Literacy in Bilingual Children: A Framework for Research. In: Language Learning, 52, 1, 159-199. Bialystok, E./Majumber, S./Martin, M.M. (2003): Developing phonological awerness: Is there a bilingual advantage? In: Applied Psycholinguistics, 24 (I), 27-44. Bruck, M./Genesee, F. (1995): Phonological awareness in young second language learners. In: Journal of Child Language, 22, 307-324. Bus, A.G./van Ijzendoorn, M.H. (1999): Phonological awareness and early reading: A meta-analysis of experimental training studies. In: Journal of Educational Psychology, 91, 403-414. Campbell, R./Sais, E. (1995): Accelerated metalinguistic (phonological) awareness in bilingual children. In: British Journal of Development Psychology, 13, 61-68. Ehri, L.C./Nunes, S.R./Willows, D.M./Schuster, B.V./Yaghoub-Zadeh, Z./Shanahan, T. (2001): Phoemic awareness instruction helps children learn to read: Evidence from the National Reading Panel´s meta-analysis. In: Reading Research Quarterly, 36, 250-287. Elbro, C./Arnbak, E. (1996): The role of morpheme recognition and morphological awareness in dyslexia. In: Annals of Dyslexia, 46, 209-240. Gräsel, C./Gutenberg, N. (2004): Zwischenbericht zum Forschungsprojekt Hören – Lauschen-Lernen: Umsetzung und Evaluation des Würzburger Trainingsprogramms zur Vorbereitung auf den Erwerb der Schriftsprache. Saarbrücken: Universität des Saarlandes.
Konzeption und Ergebnisse von Förderunterricht
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Anthropologisch Konstantes versus sozio-kulturell Differentes in Aktionsräumen und Verhaltensmustern von Kindern in drei Kontinenten - dokumentiert an Kinderfotos Astrid Kaiser
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Problemstellung
Kind ist eine Hyperkategorie, die in vielen gesellschaftlichen Kontexten und nicht zuletzt auch im Zusammenhang von Lehr-Lern-Prozessen eine bedeutsame Rolle spielt. Im System der Rechtsprechung fungiert die Kategorie „Kindeswohl“ entscheidungsrelevant, sozialpädagogisch wird das Kriterium kindgemäß angelegt und in der gegenwärtigen didaktischen Literatur steht die Kategorie „Kindorientierung“ an zentraler Stelle. Didaktische Entwürfe, die als kindorientiert bezeichnet werden, genießen hohe Rezeption. „Kind“ gilt als weitgehend positive Kategorie, auch wenn es abgesehen vom Alterskriterium keine spezifischen allgemein gültigen Kriterien gibt. Andererseits wird mit der Kategorie der Veränderten Kindheit ein kulturpessimistischer Trend rezipiert, der mit Kind nicht positive Heilerwartungen verknüpft, sondern negativ bewertete gesellschaftliche Trends, die als konträr zum eigentlichen Kindheitsideal gesehen werden wie Familiendiskontinuität, Medienkonsum oder generell Konsumorientierung. Sowohl in dieser negativen Deutung als auch in der Überhöhung genießt die Kategorie des Kindes einen außerordentlich hohen Stellenwert und bleibt zugleich undefiniert. 2
Stand der Forschung
Im Gegensatz zur universellen Verwendung der Kategorie „Kind“ im gesellschaftlichen Kontext erfasst die empirische Kindheits- bzw. Kinderforschung nur ein enges Segment. Sie bezieht sich neben der historisch systematischen Forschung auf drei empirische Forschungsdiskurse:
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Astrid Kaiser
Der historisch-systematische Versuch der Interpretation von Kindheit im Wandel (vgl. Neuhäuser 2000; Rülcker 2000; Behnken 1990; Aries1978; DeMause 1980). Der empirische Ansatz, Kinder in zumeist dual strukturierten Beziehungen zu untersuchen verweist auf Differenzen verschiedener, oft kontrastiert gegenüber gestellter Subkategorien von Kindern: Mädchen/Jungen, ausländische/einheimische Kinder, Unter-/Mittelschichtkinder, als behindert/nichtbehindert bezeichnete Kinder (vgl. Flade 1999; Glumpler 1993; Kaiser 1996; Hengst 1999; Wischer/Werning 2000). Ansätze, die analog zur Jugendforschung das Denken von Kindern im Kontext des sozialen Wandels untersuchen; Kindersurveys des DJI, Studien zur Identitätswahrnehmung von Kindern gehören in diesen Kontext. Es geht um die Rekonstruktion des jeweiligen kulturellen Kontextes von Kindern (Muchow/Muchow 1998; Deutsches Jugendinstitut 1993; Behnken/Zinnecker 1999; Zinnecker/Silbereisen 1996; Zeiher/Zeiher 1994; Rusch 1998; Kaiser 2000; Geiling/Heinzel 2000; Leuzinger-Bohleber/ Garlichs 1993). Empirische Studien, welche die Entwicklungs-, Sozialisations- und Lernmöglichkeiten von Kindern untersuchen (vgl. Fromme/Vollmer 1999). Während die Forschungen zu diesen Bereichen der Differenz von Kindern im sozialen Wandel sehr breit und aspektreich entwickelt sind, fällt auf, dass die Frage nach der Definition von Kind nicht Gegenstand empirischer Forschung ist, allerdings im gesellschaftlichen Kontext als Universalkategorie häufig verwendet wird. Die Frage nach der anthropologischen Konstitution von Kind wird in der Erziehungswissenschaft weitgehend der Spekulation überlassen. Seit den pädagogischen Klassikern der Reformpädagogik werden unterschiedliche Kataloge anthropologischer Konstanten ohne empirische Überprüfung aufgestellt. Else Petersen (1965) unterscheidet aus den mehrere Jahrzehnte langen Beobachtungen an der Jena-Plan-Schule vier Grundkräfte, nämlich Bewegungsdrang (vgl. Petersen 1965: 40ff.), Drang zu selbstständigem Tun (vgl. ebd.: 45ff.), Gesellungsdrang (vgl. ebd.: 69f.) und Verlangen nach straffer Führung (vgl. ebd.: 96). Ein in anderen Aufstellungen besonders häufig betonter Bereich ist die kindliche Entdeckerlust oder Neugier (vgl. Meiers 1994: 33). Soll wiederum sieht bei Kindern das „Bedürfnis nach Geborgenheit und den Drang nach Aneignung und Aktivität“ (Soll 1988: 16). Schreier hält den „Werksinn“ (Schreier 1994: 61) für eine wesentliche anthropologische Charakterisierung von Kindern. Bislang sind derartige Kategorisierungen Ausdruck subjektiven Erfahrungswissens und nicht der empirischen Überprüfung. Lediglich Du BoisReymond (1994) hat sich mit vergleichenden Methoden der anthropologischen Kindheitsforschung gewidmet.
Anthropologisch Konstantes versus sozio-kulturell Differentes
165
Im hier skizzierten Projekt soll durch eine kulturübergreifende empirische Studie überprüft werden, welche Kategorien kindlichen Verhaltens als anthropologisch konstant bezeichnet werden können. Der empirische Ansatz liegt darin, Kinder in verschiedenen kulturellen Kontexten methodisch kontrolliert zu beobachten. Die Forschungsfrage in der Untersuchung ist, welche Kategorien bei den sichtbaren Handlungsmustern von Kindern und situativen Kontexten ihrer Präsenz in der Öffentlichkeit zu identifizieren sind, welche kulturübergreifend konstant oder kulturell spezifisch ausgeprägt sind. Die Frage nach der qualitativen Definition von Kind im Sinne anthropologischer Konstanz soll aus umfangreichen bildlichen Datensätzen durch inhaltsanalytische Auswertungsmethoden von Kinderfotos aus drei Kontinenten vergleichend dokumentiert und analysiert werden. Die Fragestellung bezieht sich auf Aktionsformen, situative und soziale Kontexte von Kindern im öffentlichen Raum. Die Daten sollen Aufschluss darüber geben, welche anthropologischen Konstanten sich in welcher Ausprägung in den verschiedenen Kulturräumen nachweisen lassen. In diesem Projekt soll also kulturübergreifend untersucht werden, welche Handlungsformen und situativen Kontexte bei der Präsenz von Kindern in der Öffentlichkeit kulturübergreifend konstant sind und welche kulturell spezifisch ausgeprägt sind. Die Frage nach Differenz und Konstanz wird anhand von Kinderfotos vergleichend dokumentiert und analysiert. 3
Erhebungsmethode
Die gängigen Forschungsmethoden der Fotoanalyse (vgl. Ehrenspeck/Schäffer 2002) sind mehr auf qualitative Analyse orientiert, allerdings lassen sich aus der dokumentarischen Analyse (vgl. Bohnsack 2002) wichtige Dimensionen für ein dieser Fragestellung angemessenes Design entwickeln. Als Forschungsgegenstand werden Fotografien von Kindern in verschiedenen Kontexten gewählt. Diese Bilder werden zufällig in verschiedenen kontrastierenden Kulturräumen, nämlich Südamerika, Südostasien und Europa gesammelt und als Dokumente von kindlichem Handeln und Kinderleben betrachtet. Es werden jeweils für jeden der drei Kontinente ca. 15.000 Kinderfotos mit Kindern in der Öffentlichkeit in die Untersuchung einbezogen. Die Untersuchung wird für Asien exemplarisch in Laos, Vietnam, Kambodscha und Thailand sowie für Südamerika in Chile, Argentinien, Peru und Venezuela durchgeführt. Die europäische Stichprobe besteht aus den Ländern Deutschland, Irland, Zypern und weiteren ausgewählten Ländern aus Osteuropa, Südeuropa und Nordeuropa. Bislang liegen bereits die kompletten Datensätze aus Südostasien, Südamerika und Deutschland vor.
166
Astrid Kaiser
Auswertungsmethode: Im Pretest wurde das System der Kategorienbildung überprüft. Dabei wurden zwei Wege beschritten, nämlich zunächst der induktive Hypothesen generierende Weg, bei dem zwei unabhängige Rater/innen das Material zuordnen. In einer zweiten Variante wird ein vorgegebenes Kategorienraster gewählt und dasselbe Fotomaterial auch wieder zwei verschiedenen Rater/innen zur Kategorisierung vorgelegt. Für die Gesamtauswertung wurde die Auswertungsmethode gewählt, die sich im Pretest als besonders effektiv erwiesen hat. Auswertungsmethodisch konkret wurde im Pretest eine offene Kategorisierung durch verschiedene Rater/innen vorgenommen. Da die jeweiligen Kategoriensysteme sehr unterschiedlich dimensioniert waren, wurde diese offene Methode als nicht praktikabel für einen überprüfbaren Forschungsprozess angesehen. Die Ratingergebnisse wurden in einem weiteren Durchlauf zu einem einheitlichen Kategoriensystem zusammengeführt. Für diese Methodenvariante wurde von der Projektleiterin zunächst ein deskriptiver Kategorienkatalog aus dem Datenmaterial entwickelt und von mehreren unabhängig extern beurteilenden Personen ergänzt. Dabei sind die äußerlich sichtbaren Handlungsformen wie auch die sozialen und räumlichen Kontexte jeweils kategorial ausdifferenziert. Die Kategorien zum Kontext wie zu den Handlungsmustern wurden auf der Basis des Fotomaterials gebildet, während das letzte Auswertungsraster zu anthropologisch übergreifenden Handlungsmustern von Kindern aus der pädagogischen Literatur zusammen gestellt wurde. Von Langeveld (1978) über Petersen (1965) und Kobi (1970) bis zu neueren Schriften (vgl. Matthews 1989; Popp 1994; Schreier 1994; Beck 1994; Meiers 1994; Hopf 1993) finden wir immer wieder Setzungen, wie Kinder generell sind, ohne dass sie bisher empirisch überprüft wurden. Hier wurden die in der Literatur auffindbaren Dimensionen in einen für die Auswertung praktikablen Katalog von möglicherweise für alle Kinder gemeinsamen Handlungsmustern zusammengefasst. In den ersten Auswertungsbereichen werden jeweils nur die Oberkategorien vorgestellt: Kind und Handlungsmuster - Fortbewegung - Arbeitswelt - Kulturelles Handeln - Grundbedürfnisse befriedigend - Lernen und Interesse - Spielen - Emotionen zeigend
Anthropologisch Konstantes versus sozio-kulturell Differentes
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Kind und Kontext - Kind und sozialer Kontext - Kind und räumlicher Kontext Qualität der Handlung/Situation – Anthropologisch Konstantes - intensives, emotionales Erleben - sich bewegen - handelnd tätig sein - selbstständig tätig sein - geborgen sein - gemeinsam mit anderen Kindern sein - Freundschaft erleben - Spaß haben - Wunsch, ernst genommen werden - Sinn suchen - Liebe zum Detail und zu kleinen Dingen - Liebe zur Natur - Liebe zum Schönen - gern entdecken und enträtseln Da die Bildung von Kategorien in Form qualitativer Interpretation der Fotos erheblichen subjektiven Einflüssen unterliegt, ist vorgesehen, das gesamte Datenmaterial dreimal mit Hilfe des Programmes Atlas-ti kategorisieren zu lassen. Die Auswertungsergebnisse der Kategorisierungen können durch das Programm abgeglichen und bei differenten Zuordnungen von Kategorien in group-reflection modifiziert werden. 4
Hypothesen
Die bisherigen ersten Auswertungen belegen, dass sich im sozialen Kontext deutliche Differenzen in den untersuchten Ländern zeigen. Die Zahl der begleitenden Erwachsenen, die Geschlechterverteilung, die Art der Tätigkeiten in der Öffentlichkeit unterscheiden sich beträchtlich. In Südamerika finden wir immer wieder Kinder in öffentlichen Handlungskontexten wie Demonstrationen, während sie in Europa eher auf Zweiersituationen bezogen sind. In Südostasien finden viele alltägliche Aktivitäten wie Essen in der Öffentlichkeit statt, die in Europa eher im privat verschlossenen häuslichen Kontext anzusiedeln sind. Dies sieht allerdings anders aus, wenn wir nach der Qualität der Handlungsmuster von Kindern ohne Berücksichtigung des konkreten Kontextes schauen. Die anthropologischen Handlungsqualitäten sind aufgrund der Erhebungs-
168
Astrid Kaiser
methode durch Fotos nicht in allen Subkategorien deutlich aufspürbar. Die Subkategorien Entdeckungsfreude und Bewegungsdrang, Freude am sozialen Miteinander von Kindern, Geborgenheitssuche und Wunsch nach eigenen Erfahrungen, Interesse an Tieren und konzentrierte Beschäftigung mit Dingen scheinen aber in allen Kulturen in einem vergleichbar hohen Ausmaß auffindbar zu sein. Literatur Aries, Philippe (1978): Geschichte der Kindheit. München: DTV Wissenschaft. Beck, Gertrud (1994): Raum zum Leben – Zeit zum Lernen. In: Erziehung & Wissenschaft Schleswig-Holstein, 14, 1/2. Behnken, Imbke (Hrsg.) (1990): Stadtgesellschaft und Kindheit im Prozeß der Zivilisation. Opladen: Leske + Budrich. Behnken, Imbke/Zinnecker, Jürgen (1999): Sport und Bewegung als Kinderkultur. In: PAD Forum, 27/12, 6, 465-466. Bohnsack, Ralf (2002): Die dokumentarische Methode in der Bild- und Fotodokumentation. In: Ehrenspeck, Yvonne/Schäffer, Burkhard (2002): Film- und Fotoanalyse in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Opladen: Leske + Budrich, 87-108. De Mause, Lloyd (Hrsg.) (1980): Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.) (1993): Was für Kinder. Aufwachsen in Deutschland. Ein Handbuch. München: Juventa. Du Bois-Reymond, Manuela u.a. (1994): Kinderleben. Modernisierung von Kindheit im interkulturellen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Ehrenspeck, Yvonne/Schäffer, Burkhard (2002): Film- und Fotoanalyse in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Opladen: Leske + Budrich. Flade, Antje (1999): Die Umwelten von Mädchen und Jungen. In: PAD Forum 27./12, 6, 465-466. Fromme, Johannes/Vollmer, Nikolaus (1999): Mediensozialisation oder Medienkultur. Lernprozesse im Umgang mit interaktiven Medien. In: Fromme, Johannes/Kommer, Sven/Mansel, Jürgen/ Treumann, Klaus-Peter (Hrsg.): Selbstsozialisation, Kinderkultur und Mediennutzung. Opladen: Leske + Budrich, 200–224. Geiling, Ute/Heinzel, Friederike (Hrsg.) (2000): Erinnerungsreise – Kindheit in der DDR. Studierende erforschen ihre Kindheiten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Glumpler, Edith (1993): Kleine Mädchen wollen mehr als die Hälfte – Berufswünsche von Mädchen und Jungen. In: Pfister, Gertrud/Valtin, Renate (Hrsg.): MädchenStärken. Frankfurt a. M.: Arbeitskreis Grundschule, 51-66. Hengst, Heinz (1999): „Jungen tun das irgendwie weniger ...“. In: PAD Forum 27./12, 6, 465-466. Hopf, Arnulf (1993): Grundschularbeit heute. München: Ehrenwirth. Kaiser, Astrid (1996): Lernvoraussetzungen von Mädchen und Jungen für sozialwissenschaftlichen Sachunterricht. 2. Aufl. Oldenburg: ZpB-Verlag. Kaiser, Astrid (2000): Idole, Stars und Helden von Kindern. In: Astrid Kaiser/Röhner, Charlotte (Hrsg.): Kinder im 21. Jahrhundert. Münster: Lit. Verlag, 49-62. Kaiser, Astrid (2003): Zukunftsbilder von Kindern der Welt. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Kaiser, Astrid/Röhner, Charlotte (Hrsg.) (2000): Kinder im 21. Jahrhundert. Münster: Lit. Verlag. Kobi, Emil (1970): Lernen und Lehren: Ergebnisse der Lernpsychologie und deren Verwertung im Unterricht. Bern: Haupt.
Anthropologisch Konstantes versus sozio-kulturell Differentes
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III Neue Schuleingangsphase
Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern – eine aktuelle Bestandsaufnahme Gabriele Faust
Dieser Beitrag ist der gegenwärtigen Einschulungssituation in den 16 Bundesländern gewidmet. Seit 1992 erproben 15 Bundesländer die neue Schuleingangsstufe in Schulversuchen.1 Dieses Einschulungsmodell sieht den Verzicht auf Zurückstellungen und die Einschulung aller schulpflichtigen Kinder sowie derjenigen, deren Eltern eine vorzeitige Einschulung wünschen, vor. Hat sich dieses Modell inzwischen durchgesetzt? Wie ist der Stand nach dem Ende der Schulversuche? Und vor allem: Wie wird die neue Schuleingangsstufe verwirklicht? Spezielle schulvorbereitende Einrichtungen für schulpflichtige, aber noch nicht schulfähige Kinder können unter diesen Umständen aufgegeben werden, weil ihr Personal diese Kinder in die Schulanfangsklasse integriert fördert. Außerdem sollte die Anforderung der Schulfähigkeit in den gesetzlichen Einschulungsbestimmungen keine Rolle mehr spielen. Die Veränderung der Einschulung sollte sich darüber hinaus – mit gewissen Zeitverzögerungen – in den Einschulungsstatistiken des Statistischen Bundesamts niederschlagen. Deshalb basiert dieser Beitrag (1.) auf zwei Umfragen des Arbeitskreises Grundschule e.V./Der Grundschulverband unter den Grundschulreferenten der 16 Bundesländer. Die erste Umfrage fand im Jahr 2000 statt und bezog sich auf den damaligen Stand der Schulversuche zur neuen Schuleingangsstufe. Die Ergebnisse wurden 2001 veröffentlicht (vgl. Faust-Siehl 2001). Im Frühjahr 2005 wurden die Grundschulreferenten der Bundesländer erneut befragt, nunmehr zum Stand der neuen Schuleingangsstufe nach dem Ende der meisten Schulversuche..2 Außerdem wurden (2.) die Einschulungsregelungen der Schulgesetze
1 2
Der Name hebt die „neue“ von der „alten“ Eingangsstufe der Bildungsreformzeit ab (vgl. Götz 2005). Der Fragebogen wurde von G. Faust entworfen und von A. Speck-Hamdan und M. Lassek ergänzt. Am 15.4.2005 lagen die Antworten aller Länder vor. Die tabellarische Übersicht wurde den
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Gabriele Faust
der 16 Bundesländer ausgewertet. Als weitere Datengrundlage wird (3.) die aktuellste Einschulungsstatistik des Statistischen Bundesamts zu den Schuljahren 2003/04 und 2004/05 herangezogen. 1
Die neue Schuleingangsstufe als Reformmodell der Einschulung
Die Mehrzahl der Bundesländer orientiert sich gegenwärtig bei der Einschulung am Alter und an der Schulfähigkeit des Kindes. Wer bis zum sog. „Stichtag“ sechs Jahre alt geworden ist, wird eingeschult, es sei denn, er oder sie ist nicht „schulfähig“: Wer auf Grund seiner geistigen, seelischen oder körperlichen Entwicklung, seines Verhaltens oder – neu – seiner deutschen Sprachkenntnisse vermutlich nicht erfolgreich am Unterricht teilnehmen kann, wird zurückgestellt. Umgekehrt können jüngere Kinder aufgenommen werden, wenn die Voraussetzungen des Kindes einen erfolgreichen Schulbesuch erwarten lassen. Ein Beispiel für diese Art der gesetzlichen Vorgaben stellt die Einschulungsregelung des Bundeslands Rheinland-Pfalz dar: Landesgesetz über die Schulen in Rheinland Pfalz vom 6.11.1974, zuletzt geändert am 10.1.1996: „§ 45 Beginn des Schulbesuchs Alle Kinder, die vor dem 30. Juni das sechste Lebensjahr vollenden, besuchen die Schule mit dem Anfang des Schuljahres. § 46 Vorzeitige Aufnahme, Zurückstellung vom Schulbesuch (1) Kinder, die in der Zeit vom 30. Juni bis 30. Dezember einschließlich das sechste Lebensjahr vollenden, werden auf Antrag der Eltern in die Schule aufgenommen, wenn auf Grund ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung zu erwarten ist, dass sie mit Erfolg am Unterricht teilnehmen werden. (…) (2) Kinder, die körperlich oder geistig noch nicht genügend entwickelt sind, um mit Erfolg am Unterricht teilzunehmen, können höchstens einmal für die Dauer eines Schuljahres vom Besuch der Grundschule oder der Sonderschule zurückgestellt werden. Die Entscheidung trifft die Schulbehörde; sie kann für die zurückgestellten Kinder den Besuch eines Schulkindergartens oder Sonderschulkindergartens anordnen.“
Auf dieser gesetzlichen Grundlage werden die schulfähigen Kinder von den nicht-schulfähigen getrennt. Diese Gruppenbildung ist daher als „segregativ“ gekennzeichnet worden (vgl. Faust-Siehl 2001: 194 f.). Sie versucht die Homogenität der Schulanfangsklasse zu sichern. Fast vierzig Jahre lang, nämlich seit
Grundschulreferenten im Herbst 2005 noch einmal zur Prüfung zugesandt. Allerdings antworteten darauf nur acht Länder.
Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern
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dem Hamburger Abkommen der Bundesländer von 1964, war der 30. Juni bundesweit einheitlich der Stichtag. In wenigen Bundesländern wird bei der Einschulung auf das Kriterium der Schulfähigkeit verzichtet. Entscheidend ist nur noch das Alter. Außerdem werden alle jüngeren Kinder eingeschult, deren Eltern das wollen. Zurückstellungen sollen nur noch aus erheblichen gesundheitlichen Gründen oder im Ausnahmefall erfolgen. In diesen Bundesländern ist das Alters- und Entwicklungsspektrum in den Schulanfangsklassen besonders groß. Die Art der Einschulung entspricht dem Modell der neuen Schuleingangsstufe, in dem die unterschiedlichen Persönlichkeits- und Lernvoraussetzungen der Kinder als Bereicherung verstanden werden, mit der Zielperspektive des „Erhalts der Heterogenität“ (so der Antrag zum hessischen BLK-Modellversuch von 1994, vgl. Burk u.a. 1998: 15ff.). Auch dafür ein aktuelles Schulgesetz-Beispiel: Brandenburgisches Schulgesetz vom 2.8.2002, zuletzt geändert 24.5.2005, § 37: „(2) Die Schulpflicht beginnt für Kinder, die vor dem 1. Juli das sechste Lebensjahr vollendet haben, am 1. August desselben Kalenderjahres. (3) Kinder, die in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember das sechste Lebensjahr vollenden, werden auf Antrag der Eltern zu Beginn des Schuljahres (…) in die Schule aufgenommen. 3 Mit der Aufnahme in die Schule beginnt die Schulpflicht.“
Am Aufkommen dieser Art der Einschulung und der neuen Schuleingangsstufe sind gesellschaftliche, bildungspolitische und fachliche Entwicklungen beteiligt; u.a. die Kritik, dass die Forderung nach Schulfähigkeit als Hürde vor der Schule wirken würde – dies betrifft nicht die förderdiagnostische Feststellung von Schulfähigkeit! , das Problem, dass die unter schulischen Bedingungen einsetzbare Einschulungsdiagnostik keine sichere Trennung schulfähiger und nichtschulfähiger Kinder erlaubt, der Nachweis, dass Zurückstellungen mehr von den schulischen Bedingungen als von den Fähigkeiten der Kinder abhängen (vgl. Mader 1989), außerdem hohe Zurückstellungsraten bei wenigen vorzeitigen Einschulungen, nicht ausreichende Förderplätze in den schulvorbereitenden Einrichtungen, Zweifel am Erfolg des Zurückstellungsjahrs, schließlich auch Diskussionen, ob nicht das Einschulungs- und als Folge das Berufseintrittsalter in Deutschland im europäischen Vergleich zu hoch sei. Insbesondere die Schulversuche zur Integration von Kindern mit Behinderungen erschütterten die segregative und stützten die „integrative Strategie“. Wenn nämlich die Grundschule erfolgreich geistig behinderte Kinder aufnehmen kann, warum nicht die „nur“ „Nicht-Schulfähigen“? 3
Im Brandenburgischen und im Berliner Schulgesetz finden sich keine Aussagen über Zurückstellungen.
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Gabriele Faust
Die neue Schuleingangsstufe wurde in den letzten 15 Jahren entwickelt. Sie beschränkt sich auf die ersten beiden Schulklassen und ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Diagnostik bei der Einschulung und im weiteren Verlauf, aber nicht um die nicht schulfähigen Kinder auszulesen, sondern zur Förderung. Über die Verweildauer wird nach den Lernfortschritten entschieden; sie kann zwischen einem Jahr und drei Jahren betragen. Dies ist im Bildungswesen einzigartig. Damit die Kinder, die länger oder kürzer als zwei Jahre für die ersten beiden Klassen brauchen, nicht zum „Sitzenbleiben“ oder „Springen“ gezwungen werden, sind jahrgangsübergreifende Lerngruppen erforderlich. In den meisten neuen Schuleingangsstufen setzen sie sich aus Erst- und Zweitklässlern zusammen. Jeweils zum Schuljahrsende wechselt ungefähr die Hälfte der Lerngruppe in die dritte Klasse, zur anderen Hälfte kommt ein neuer Jahrgang Erstklässler dazu. Länger verweilende Kinder werden nach drei Jahren zusammen mit den später hinzugekommenen Erstklässlern versetzt; kürzer verweilende Kinder rücken schon nach nur einem Jahr mit den Zweitklässlern in Klasse 3 vor. In beiden Fällen bleiben die Kinder also mit einem Teil ihrer Lerngruppe weiter zusammen. Die Verkürzung der Verweildauer ist nur deshalb möglich, weil die schnell lernenden Kinder in der besonders anregenden Lernumwelt mit den Älteren mitlernen können. Anders als beim „Sitzenbleiben“ wird das längere Verweilen nach außen hin weniger offensichtlich. Dadurch wird die Gefahr als „Wiederholer“ stigmatisiert zu werden reduziert, in der Lerngruppe können diese Kinder als besonders erfahrene Schüler und Helfer eingesetzt werden und die Eltern geben leichter ihre Zustimmung. Unter herkömmlichen Bedingungen werden zurückgestellte Kinder in den Schulkindergärten sozialpädagogisch gefördert. Diese Förderung wird jetzt auch in der Schulanfangsklasse angeboten. Auf die Lehrer/innen kommt dadurch Teamarbeit als neue Aufgabe zu. Die besonders heterogene Zusammensetzung dieser Lerngruppen erfordert einen hochdifferenzierten Unterricht, der den Lehrpersonen hohe diagnostische und didaktische Kompetenzen abverlangt. Weil der Unterricht in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen als besonders schwierig gilt und vor allem am Anfang sehr aufwändig ist, werden zusätzliche Ressourcen in Form von speziellen Lernmaterialien, Absenkungen der Klassengröße oder zeitweisen Doppelbesetzungen, z.B. durch die stundenweise Mitarbeit einer Sozialpädagogin, für nötig gehalten. Da in den 1990er
Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern
2
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Jahren in manchen Bundesländern zeitlich parallel vorübergehend die ganze Halbtagsschule eingeführt wurde, konnte außerdem vielfach eine längere tägliche Schulzeit angeboten werden. Falls Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der Lerngruppe sind, werden zusätzlich sonderpädagogische Förderangebote als notwendig erachtet. Wenige Schulen nehmen auch zur Schuljahrsmitte Kinder auf (halbjährliche Einschulung). Wenn der Schuleinstieg zweimal im Jahr möglich ist, können die Eltern flexibler entscheiden, wann ihr Kind in die Schule kommen soll. Das lange Warten auf den nächsten Schuljahrsanfang entfällt. Der Unterricht geht ohnehin auf unterschiedliche Voraussetzungen ein, so dass die halbjährliche Einschulung in dieser Hinsicht keine zusätzlichen Anforderungen stellt. Die Lehrer/innen müssen sich zwar zweimal jährlich auf den Schulanfang einrichten, haben aber den Vorteil, dass jedes Mal nur eine relativ kleine Gruppe hinzukommt. Das Kennenlernen der neuen Schüler fällt dadurch leichter. Der zweite Einschulungstermin ist außerdem ein sehr flexibles zusätzliches Instrument zur besseren Passung von Schule und Kind: z.B. können lernfreudige Kinder ein halbes Jahr früher kommen und die Eingangsstufe in 1½ Jahren durchlaufen. Oder Kinder mit Rückständen kommen schon zum Halbjahr und bleiben 2½ Jahre. Die Lehrkräfte benötigen Fortbildungen und Beratung bei der Einführung. Flankierend schließlich müssen Eltern und Öffentlichkeit über die neue Form der Einschulung informiert werden. Auch unter den neuen Bedingungen soll die Grundschule mit dem Kindergarten zusammenarbeiten. Schulversuche zur neuen Schuleingangsstufe und ausgewählte Ergebnisse
Zwischen 1992 und 2001 beginnen in 14 Bundesländern Schulversuche, darunter auch neue Länder. Als 15. Land hat Mecklenburg-Vorpommern 2005 einen bis 2007 geplanten Schulversuch mit 16 Schulen gestartet. Nur im Saarland wird die neue Schuleingangsstufe bislang weder erprobt noch angeboten. Der mit Abstand größte Schulversuch läuft ab 1997 in Baden-Württemberg. Hier stehen mehrere Modelle auf dem Prüfstand, von denen das Modell A der neuen Schuleingangsstufe entspricht. Allen Schulversuchen gemeinsam sind die Grundideen der Schulaufnahme ohne vorherige Auslese nach Schulfähigkeit und der Flexibilisierung der Verweildauer. Übereinstimmend werden zudem hochdifferenzierte Unterrichtsgestaltung, Förderdiagnostik sowie sonderpädago-
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Gabriele Faust
gische Förderung bei anerkanntem Förderbedarf erprobt. Außerdem werden überall Fortbildungs- und Begleitmaßnahmen angeboten. In drei anderen zentralen Merkmalen unterscheiden sich die Schulversuche (vgl. Tabelle 1, S. 180f., linke Hälfte, Spalten 1ff.). Schon bei den Schulversuchen verzichtet die Hälfte der Länder teilweise grundsätzlich auf die Jahrgangsmischung, teilweise sind jahrgangsübergreifende Lerngruppen möglich, aber nicht verpflichtend (Spalte 4). Überwiegend ist sozialpädagogisches Fachpersonal in den neuen Schulanfangsklassen tätig. Dies ist auch deshalb möglich, weil die Sozialpädagoginnen aus den schulvorbereitenden Einrichtungen, die nun in den Schulen aufgehen, zur Verfügung stehen. In den neuen Ländern können Horterzieher/innen, die dort die gleihe Ausbildung wie die Lehrkräfte haben, eingesetzt werden, oder es ist auf Grund des starken Geburtenrückgangs genügend Lehrpersonal frei (Spalte 5). In den Schulversuchen erhalten die Klassen zusätzliche Ressourcen: Die Mitarbeit der Sozialpädagoginnen erlaubt zeitweise Doppelbesetzungen, durch die damaligen Ansätze zu ganzen Halbtagsschulen steht mehr Unterrichtszeit zur Verfügung, teilweise können auch die Klassen verkleinert werden (Spalte 6). Verdächtig oft antworten die Grundschulreferenten aber auch, dass zusätzliche Ressourcen „vorgesehen“ oder „möglich“ seien (Einzelheiten vgl. FaustSiehl 2001: 240-249). Nur in vier Ländern sind alle drei Voraussetzungen vorhanden, nämlich in Hessen, Thüringen, Brandenburg und in Hamburg, dort aber nur in zwei Schulen. Ein zweiter Einschulungstermin wird nur in Hessen, wo die Zahl während des Schulversuchs auf 9 Schulen steigt, und in Baden-Württemberg erprobt (ursprünglich in 19, inzwischen in 44 Schulen). Diese freiwillige Ausweitung zeigt, dass darin trotz der Zusatzbelastung Vorteile gesehen werden. Vor allem kürzere Verweildauern, die hier auch 1½ Jahre betragen können, werden somit erleichtert. Eltern und Schule können dadurch sowohl den Schuleintritt als auch die voraussichtliche Dauer der ersten zwei Klassen flexibel auf das Geburtsdatum und die Voraussetzungen des Kindes abstimmen. Der zweite Einschulungstermin führt auch zu einem niedrigeren Schuleintrittsalter. Allerdings müssen die Schulen mit diesem Instrument umgehen können. Einzelne flexible Einschulungen während des Schuljahrs werden auch aus Brandenburg berichtet (vgl. Liebers 2004a: 39). Die wissenschaftliche Begleitung der Schulversuche (Spalte 7) wurde einschließlich zahlreicher „grauer Papiere“ anlässlich der Umfrage des Jahres 2000 aufgearbeitet (vgl. Faust-Siehl 2001: 231-236). Die Situation hat sich in den letzten fünf Jahren nicht grundsätzlich geändert. Nach wie vor konzentrieren sich mehrere Untersuchungen auf der Basis eines Handlungsforschungsansatzes auf die Begleitung der Reformen (vgl. Carle/Berthold 2004; Ramseger u.a. 2004). Die Forscher sind mit dem Ziel der Unterstützung in die Umsetzung des
Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern
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Programms involviert und greifen auf der Systemebene immer wieder auch ein. Die Dokumentation der Vorgänge im Feld erfolgt qualitativ und mit großem Aufwand. Auf die Absicherung der Interpretationen wird teilweise große Sorgfalt verwendet („Triangulation“ und „Validierung im Diskurs“, vgl. Ramseger u.a. 2004: 21ff.). Die hauptsächlichen Methoden sind (vornehmlich teilnehmende) Beobachtung, Befragung der Akteure im Feld und der Eltern, Leitfadeninterviews mit den Protagonisten sowie Analysen von Diskussionen und Texten. Entwicklung und Forschung sind somit nicht streng getrennt. Dies ist vertretbar, aber die wissenschaftliche Begleitung stellt dadurch die Verhältnisse, die sie untersucht, teilweise selbst mit her. Durch Befragungen und Interviews werden vornehmlich subjektive Sichtweisen und Meinungen aufgenommen. Die Schulversuche werden so keiner aussagekräftigen Kontrolle ausgesetzt. Dazu wären standardisierte Instrumente zu verwenden, die Leistungsentwicklung der Kinder im Schulversuch dürfte nicht ausgeklammert werden und die Forscher/innen müssten Distanz zum Feld halten. Vor allem müsste für die nach 15 Jahren immer noch ausstehende vergleichende Evaluation eine ausreichend große Zahl von Versuchsklassen mit Kontrollklassen verglichen werden. Nach wie vor gilt: „Die neue Schuleingangsstufe wird (…) erprobt, aber nicht untersucht. Die anscheinende Bewährung ersetzt die Analyse. Sollte dieses Modell breit eingeführt werden, könnte es sich rächen, dass nicht begleitend (…) gründliche Untersuchungen durchgeführt wurden.“ (Faust-Siehl 2001: 234) Vor allem wurde die Varianz in den Versuchen nicht dazu genutzt, um die notwendigen Rahmenbedingungen zu ermitteln.4 Dabei muss in Zukunft genauer geprüft werden, ob die Schulen und Klassen überhaupt die Modellbedingungen einhalten. Im Thüringer Schulversuch z.B. wurden 6,5% der schulpflichtigen Kinder der drei Einschulungsjahrgänge nicht eingeschult, sondern gingen „Sonderwege“, d.h. sie wurden zurückgestellt oder in eine Diagnose- und Förderklasse an einer anderen Grundschule eingeschult. 5,7% der Schulanfänger/innen des Jahrgangs 2000/01 wurden während des Schulversuchs in Förderschulen umgeschult. Mit sechs Kindern dieses Jahrgangs (1,2%) an 14 Schulen war außerdem die Zahl der Kinder mit einer kürzeren Verweilzeit recht gering (vgl. Carle/Berthold 2004: 65f.). Aufgrund von El-
4
Im Rahmen eines Workshops am Ende der Tagung „Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar- und Primarbereich“, Universität Bamberg, verabschiedeten 37 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Wissenschaft, Lehrerfortbildung, Schulverwaltung und Schulpraxis u.a. aus den deutschen Bundesländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen und zwei Schweizer Kantonen am 4.4.2003 eine Resolution zu den unverzichtbaren Grundsätzen für wissenschaftliche Begleitforschung in Schulreformprojekten.
Anzahl der Schulen
x
2, dann 7, später mehr
1992 - 1995, 1999 - 2002, 2001 - 2004
1993 - 1995
ca. 1994 - 1996
1994 - 1999, 1999 - 2004
2005 - 2007
1994 - 2002
Brandenburg
Bremen
Hamburg
Hessen
Mecklenburg-Vorp.
Niedersachsen
10 bzw. 9
16
6 bzw. 5, spät. 29/30
x
-
x
x
x
2, dann 4, später 20, 100
1998 - 2004
Berlin
2
x
25, dann 45 bzw. 43, später 70
x, im Modell A
(4)
x
600, inges. 82 im Modell A
(3)
(auch) jgüb. Lerngruppen
26
seit 1997
BadenWürttemberg
1998 - 2002
(2)
Land
Bayern
Schulversuch von – bis
(1)
Sozialpäd. in der Klasse x
x
x
x
x
x
x
-
(x)
(5)
mehr Zeit Doppelbesetzg kleine Klasse (x)
x
x
x
(x)
x
x
(x)
x
(6)
wissenschaft. Begleitung x
-
x
-
x
(x)
x
teilweise vor Ort
x
(7)
Regeleinrichtung x, nicht überall
-
zurzeit Übergangsregelung
-
x, nicht überall
x, nicht überall (121 Schulen)
x, ab 2005/06
möglich
(8)
x
-
möglich
möglich
möglich
-
-
2 - 4 WStd. nach Klassengröße
noch offen
bei Integration x
2 WStd. Anschubfinanzierung
wenn noch vorhanden x
5 - 8 WStd.
Absenkung Klassengr. um 1 K., Reduzierung um 5 K. mögl., mehr Std. b. bes. Belastungen
bis zu 5 WStd.
(11)
x
x
2005/06: 48 Schulen, dann ca. 150 Schulen, spätestens 2007/08 alle 408 Schulen
x
-
(10)
Sozialpäd. in der Klasse
x
noch offen
jgüb. Lerngruppen (9)
Ressourcen 1
1999 – 2003
Thüringen
-
x
14, später insges. 25
-
(x)
-
-
(x)
5, später 12
-
(auch) jgüb. Lerngruppen (4)
Sozialpäd. in der Klasse x
(x)
-
x
-
x
(x)
(5)
mehr Zeit Doppelbesetzg kleine Klasse x
-
-
x
x
x
-
(6)
wissenschaft. Begleitung x
x
-
(x)
(x)
-
(x)
(7)
Regeleinrichtung
möglich
möglich
ab 1998, „Schulen verschieden weit“ Projekt zur Schulentwicklung
-
x
-
im Allgemeinen -
möglich
(9)
jgüb. Lerngruppen
-
x, ab 2005/06
x, ab 2004/05
x, nicht überall
x, ab 2005/06
(8)
-
wenn vorhanden
ab 2005 2 WStd.
-
-
-
x (1 pro Zug) -
-
3 WStd. bei jgüb. Lerngruppen
wenn vorhanden -
-
(11)
x
(10)
Sozialpäd. in der Klasse
Abkürzungen: x = ja; (x) = eingeschränkt ja; - = nein; jgüb = jahrgangsübergreifend; WStd. = Wochenstunden
Quelle: Umfrage des Grundschulverbands unter den Grundschulreferenten der Bundesländer, Stand 15.4.2005, teilweise erg. d. mündliche Nachfragen Anmerkungen: 1: Darunter fallen Stundenzuschläge, Klassenverkleinerungen und Doppelbesetzungen. Nicht erfasst werden zusätzliche Zuweisungen je nach der Situation vor Ort. Außerdem: Nach dem Ende der Schulversuche sonderpädagogisches Fachpersonal in der Klasse im Rahmen von Integrationsmaßnahmen in allen Bundesländern. 2: Zurückstellungen nur reduziert.
Tabelle 1: Die neue Schuleingangsphase in den Bundesländern (Stand September 2005) Die linke Hälfte der Tabelle zeigt die Bedingungen während der Schulversuche, die rechte den aktuellen Stand nach deren Ende.
1994 - 1997
SchleswigHolstein
-
1997 - 2000, 2000 - 2003
SachsenAnhalt
Saarland
25
2001 - 2004 2
Sachsen
4 später 17, evtl. mehr
2, später 20
1995 - 1998
7
(3)
RheinlandPfalz
Land
1999 - 2004
(2)
Anzahl der Schulen
NordrheinWestfalen
Schulversuch von – bis
(1)
Ressourcen 1
182
Gabriele Faust
ternwünschen oder schulärztlicher Entscheidungen wurden auch in Brandenburg 3,2% der schulpflichtigen Kinder zurückgestellt (vgl. Liebers 2004c: 171). Der Verzicht auf Zurückstellungen und die variable Verweildauer gehören jedoch zu den zentralen Merkmalen der neuen Schuleingangsstufen. Schulklassen, die Schulanfänger/innen bei der Aufnahme auslesen oder Teile der Schülerschaft während der ersten beiden Klassen abgeben, arbeiten unter anderen Bedingungen als Klassen, die alle Kinder aufnehmen und bis zum Ende der Eingangsstufe unterrichten. Sie können daher in evtl. vergleichenden Evaluationen nicht als neue Eingangsstufen eingestuft werden. Zum niedersächsischen Schulversuch liegt eine nachträgliche Analyse der Schulberichte ergänzt durch Diskussionen mit den Schulen vor (vgl. Carle/ Berthold 2003). Der nordrhein-westfälische Schulversuch dokumentiert die Entwicklungen der sieben Schulen in umfangreichen Erfahrungsberichten. Eine systematische Auswertung der Umgestaltung der Eingangsstufe stand hier allerdings nicht im Mittelpunkt, vielmehr ging es um den Aufbau von Netzwerken der Modellschulen mit Partnern in der Umgebung (vgl. Kropp/Mika 2004). Darüber hinaus werden nach wie vor Einzelaspekte untersucht (vgl. Hanke/Hein 2005; Kucharz/Wagener 2005). Vor allem in Baden-Württemberg werden die Persönlichkeits- und Lernentwicklung der Kinder systematisch erforscht. In dieser empirisch-quantitativen längsschnittlichen Begleituntersuchung zeigten sich bei der kognitiven und motivationalen Entwicklung der Kinder und im Sozialverhalten keine Unterschiede zwischen Versuchs- und Vergleichsklassen. In den Schulleistungen – vor allem im Deutschbereich – waren die Kinder der jahrgangsübergreifenden Lerngruppen tendenziell überlegen, im Rechtschreiben Mitte Klasse 2 waren die Unterschiede im Zwischenbericht statistisch signifikant. Wenn berücksichtigt wird, dass die Versuchsklassen niemanden zurückstellen, also eigentlich unter schwierigeren Ausgangsbedingungen arbeiten, sprechen Ergebnisse dieser Art für die integrative Einschulung (vgl. Hasselhorn/Thiel 2000, Abschlussbericht ist noch nicht freigegeben). Auch in einer Begleituntersuchung des brandenburgischen Versuchs FLEX 20 erzielten die Versuchsklassen in den landesweiten Vergleichsarbeiten am Ende der Klasse 2 Ergebnisse, die sich von denen einer Landesstichprobe herkömmlicher Grundschulklassen nicht signifikant unterschieden (vgl. Liebers 2004b: 163ff., unter Verwendung von Daten und Auswertungen von Krüsken). Ähnlich wie in den „Kontrollklassen“ liegt ein Teil der FLEXKlassen unter den zu erwartenden Werten, ein Teil darüber. Dies macht darauf aufmerksam, dass wohl auch bei der neuen Schuleingangsstufe die Konzeption allein nicht für bessere oder schlechtere Schülerleistungen verantwortlich zu machen ist, sondern dass es auf die Qualität der Umsetzung ankommt. Aussage-
Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern
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kräftige Vergleichsuntersuchungen müssen deshalb die Schul- und vor allem die Unterrichtsqualität in den einzelnen Klassen erfassen (so auch Hanke 2005: 7). Die Akzeptanz der neuen Schuleingangsstufe beim Personal und bei den Eltern ist im Allgemeinen hoch, allerdings von der Art der Umsetzung abhängig. Die Sozialpädagoginnen stimmen dem neuen Modell sogar noch stärker zu als die Lehrer/innen. Bei der schulstatistischen Auswertung, die für den ebenfalls noch nicht vorgelegten hessischen Abschlussbericht durchgeführt wurde, ergaben sich Ressourcenvorteile für das neue Modell (eigene Berechnungen: 8% bei den Schulen mit halbjährlicher Einschulung, sonst 4%). Die Raten der länger verweilenden Kinder sind geringer als die früheren Zurückstellungsraten der Schulen. Die Anzahl der kürzer verweilenden Kinder stieg und mehr Kinder wurden vorzeitig eingeschult. Nach Aussage der Grundschulreferenten in der Umfrage von 2005 hat sich das auch bei den Schulversuchen in Baden-Württemberg, Brandenburg, Bremen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt herausgestellt. Das heißt, die neue Schuleingangsstufe kostet zusätzliches Personal, bringt aber auch Ressourcen. Bei der praktischen Umsetzung bleibt der jahrgangsübergreifende Unterricht eine schwierige Aufgabe. Inzwischen ist deutlicher zu sehen, dass die Lerngruppen nicht nur im gewohnten Sinn heterogen sind, sondern aufgrund ihrer Zusammensetzung einen Unterricht erfordern, der sowohl auf die Zielgruppe der schneller als auch die der langsamer lernenden Kinder zugeschnitten ist. Dies ist ohne Teilungskräfte kaum zu leisten. Unter günstigen Bedingungen, d.h. wenn Sonderpädagoginnen und -pädagogen in der Klasse mitarbeiten, können beträchtliche Anteile der Kinder förderdiagnostisch beobachtet bzw. begleitet werden (so in einem Teil der FLEX-Klassen zunächst bis zu ca. 20%, allerdings mit abnehmender Tendenz im zweiten bzw. dritten Schulbesuchsjahr, vgl. Autorenkollektiv 2004). Noch nicht geklärt ist, ob die Schule bzw. die Lehrkräfte vor dem Aufbau einer neuen Schuleingangsstufe bereits über Erfahrungen mit differenziertem und individualisiertem Unterricht verfügen sollten oder ob diese Kompetenzen auch erst im Schulversuch erworben werden können (so z.B. in Thüringen und Brandenburg; in Brandenburg absolvierten die Lehrkräfte allerdings vor dem Schulversuch eine 40-stündige Fortbildung einschließlich eines Hospitationstags, vgl. Liebers 2004a: 31f.; die Schulaufsichtsbeamten, Schulleiter/innen und in der FLEX eingesetzten Sonderpädagoginnen und -pädagogen wurden ebenfalls fortgebildet). Auch die Material- und Aufgabenentwicklung für jahrgangsübergreifende Lerngruppen am Schulanfang kommt allmählich in Gang (vgl. die FLEX-Handbücher, Liebers 2004a: 32; Müller/Wittmann 2005). Zunehmend mehr stehen damit den Lehrkräften Hilfen für die Unterrichtsgestaltung zur Verfügung.
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Gabriele Faust
Stand der neuen Schuleingangsstufe nach den Schulversuchen
Im Frühjahr 2005 wurden die Grundschulreferenten der Bundesländer schriftlich zum damaligen Stand der Einschulung befragt. Der Fragebogen erhob Informationen zu vier Teilbereichen, die im vorliegenden Beitrag im Hinblick auf die ersten beiden Punkte ausgewertet werden: (1) Rechtliche Grundlagen, z.B. Stichtage (2) Stand der neuen Schuleingangsstufe (3) Zusammenarbeit Kindergarten – Grundschule (4) Sprachstandserhebung und Sprachförderung Ist die neue Schuleingangsstufe Regeleinrichtung geworden (vgl. rechte Hälfte der Tabelle 1, Spalte 8ff.)? Zwei Schulversuche sind noch nicht endgültig ausgewertet (Baden-Württemberg und Hessen). Die Berichte der wissenschaftlichen Begleitung liegen zwar teilweise seit Monaten vor, sind aber noch nicht veröffentlicht. In Hessen erlaubt eine Übergangsregelung den Schulen die Fortführung und das neue Schulgesetz sieht diese Organisationsform bereits vor. Mecklenburg-Vorpommern hat seinen Schulversuch gerade erst begonnen. In vier Ländern ist die neue Schuleingangsstufe flächendeckend Regeleinrichtung, allerdings eher perspektivisch, denn: in Sachsen zwar seit dem Schuljahr 2004/05, aber mit fragwürdigen Rahmenbedingungen, in den drei Ländern Berlin, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt seit diesem Schuljahr. Sechs weitere Länder haben das integrative Einschulungsmodell zwar zur Regeleinrichtung gemacht, setzen es aber nicht überall um (z.B. Rheinland-Pfalz) bzw. die Schulen sind „verschieden weit“ (Schleswig-Holstein) oder es wird als „Projekt zur Schulentwicklung“ gekennzeichnet (Thüringen). In Bayern ist die „Altersgemischte Eingangsphase“ möglich, teils aus freien Stücken, teils aufgrund der Schülerzahlen gezwungenermaßen. Das Saarland führt, wie bereits gesagt, als inzwischen einziges Bundesland keine neuen Schuleingangsstufen. In Bezug auf Hamburg muss offen bleiben, ob die in dieser Weise arbeitenden Schulen, die in diesem Bundesland definitiv bestehen, dem Modell zuzurechnen sind oder nicht. Wie sieht es mit den modellnotwendigen Merkmalen und den Rahmenbedingungen aus? Die jahrgangsübergreifende Lerngruppe (Spalte 9) gehört in Bayern und in der Brandenburgischen „Flexibilisierten Eingangsstufe“ zum Konzept. In Berlin steigert sich die Zahl der Schulen, die jahrgangsübergreifend unterrichten, spätestens 2007/08 sollen alle 408 in dieser Weise vorgehen. In acht Ländern ist diese Lerngruppenbildung „möglich“. Man nimmt damit Rücksicht auf die Schulen, die sich vielfach dem jahrgangsübergreifenden Unterricht nicht gewachsen fühlen. In der Rückmeldung auf die Umfrageergebnisse, die den Grundschulreferenten noch einmal vorgelegt wurden, wird von Thüringen
Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern
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ausdrücklich betont, dass die jahrgangsübergreifende Lernorganisation das Ziel ist. Demgegenüber werden in Rheinland-Pfalz im Allgemeinen und in Sachsen ausschließlich Jahrgangsklassen geführt. In Baden-Württemberg ist noch offen, wie die Schulversuche fortgesetzt werden. Sozialpädagogisches Fachpersonal zur Förderung der Kinder, die sonst zurückgestellt worden wären, arbeitet noch in fünf Ländern in unterschiedlichem Umfang mit (Spalte 10). „Wenn vorhanden“ bezieht sich auf die Sozialpädagoginnen, die an den schulvorbereitenden Einrichtungen tätig waren und bei der Einführung der integrativen Einschulung an die Schulen wechselten. Da aber nur ein Teil der Schulen Schulkindergärten hatte, verfügt nicht jede Schule darüber. Hinzu kommt, dass viele in den 1970er Jahren eingestellte Sozialpädagoginnen demnächst aus Altersgründen ausscheiden werden bzw. bereits im Ruhestand sind. Ohne sozialpädagogische Fachkräfte arbeiten die neuen Schuleingangsstufen in Bayern, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen. In Hessen ist noch offen, ob die Mitarbeit wie im Schulversuch, wo dies ein wesentliches Element war, bei einer eventuellen Ausweitung fortgesetzt werden kann, ebenso in Baden-Württemberg. Die zusätzlichen Ressourcen (Spalte 11) wurden weitgehend abgebaut, was allerdings beim Übergang von einem begrenzten Schulversuch zur Regeleinrichtung nicht überrascht. In Baden-Württemberg und Hessen sind eventuelle Ressourcen noch unklar, Bremen gewährt zwei Lehrer-Wochenstunden als Anschub, Thüringen ab diesem Schuljahr ebenfalls, wahrscheinlich sogar auf Dauer, in Brandenburg sind es sogar fünf bis acht Lehrer-Wochenstunden5, in Bayern bis zu fünf Wochenstunden. In Berlin wird sowohl die Klassengröße reduziert (generell mindestens um einen Schüler auf 25, möglich ist die Reduzierung um bis zu fünf Schüler/innen auf eine Klassengröße von 20) als auch mehr Zeit eingeräumt. Abhängig von der Klassenzusammensetzung, vor allem bei vielen Kindern mit fremder Muttersprache, können Stundenzuschläge dazukommen. In den drei Ländern Hamburg, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz hängen zusätzliche Stunden ebenfalls von der Lerngruppenzusammensetzung ab. Die vier Länder Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein führen die neue Schuleingangsstufe ressourcenneutral. In Sachsen soll die neue Schuleingangsstufe sogar in Jahrgangsklassen, ohne Sozialpädagogen und unter Regelbedingungen umgesetzt werden. Wo dies geschieht, ist von der neuen Schuleingangsstufe nur der Name geblieben. Aus der Tabelle geht eine grundlegende Veränderung nicht hervor: In allen Ländern wird mittlerweile in der 5
Im Schulversuch FLEX 20 wurden jeder Klasse zusätzlich fünf Grundschullehrer- und fünf Sonderpädagogenwochenstunden zugewiesen. Der Arbeitsmehraufwand im Versuch wurde durch zwei Abminderungsstunden abgegolten.
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Schulanfangsklasse integrativ sonderpädagogisch gefördert, wenn die Ressourcen zur Verfügung stehen. Zusammenfassend ist zum Stand nach den Schulversuchen festzuhalten, dass die neue Schuleingangsstufe immer noch auf dem Weg ist. Mehrere Schulgesetze sehen die neue Schuleingangsstufe inzwischen vor: Berlin, NordrheinWestfalen und Sachsen-Anhalt, also drei der Länder, die sie eingeführt haben, außerdem Hessen als Möglichkeit, Niedersachsen und Thüringen. Als Beispiel die Formulierung aus dem Schulgesetz Sachsen-Anhalts: Schulgesetz Sachsen-Anhalt vom 1.8.2005, § 4 (3): „Der 1. und 2. Schuljahrgang in der Grundschule bilden die Schuleingangsphase. Der Besuch kann entsprechend der Lernentwicklung der Schülerin oder des Schülers ein bis drei Jahre dauern. Die oberste Schulbehörde regelt die nähere Ausgestaltung der Schuleingangsphase durch Verordnung.“
In der Mehrzahl der Länder soll sie allerdings ohne die zentralen Modellbestandteile der jahrgangsübergreifenden Lerngruppen und des zusätzlichen sozialpädagogischen Personals verwirklicht werden. Wie sollen unter diesen Bedingungen die herkömmlicherweise zurückgestellten Kinder gefördert werden? Bei Jahrgangsklassen ist es unangebracht, von „längerem Verweilen“ zu reden. Für schätzungsweise 3-5% der Schulanfänger/innen wird dadurch von vornherein „Sitzenbleiben“ einkalkuliert. Der Verzicht auf die Zurückstellung wird vermutlich die Klassenwiederholungen im ersten und zweiten Schuljahr ansteigen lassen, zumal die bislang für notwendig gehaltene sozialpädagogische Förderung vielfach nicht mehr angeboten wird. Auch das kürzere Verweilen setzt voraus, dass die Erstklässler mit den Zweitklässlern und anhand von deren Aufgaben „mitlernen“ können. Springen ist dafür ein ungeeigneter Ersatz. 4
Aktuelle Einschulungsregelungen
Die neue Schuleingangsstufe wurde in den 1990er Jahren entwickelt. In der gleichen Zeit wurde über die Stichtagsregelung und das Einschulungsalter in Deutschland diskutiert. Der Schulausschuss der Kultusministerkonferenz setzte 1995 eine Arbeitsgruppe ein, die Experten aus Pädagogik und Psychologie zu Zurückstellung, vorzeitiger Einschulung, schulvorbereitender Förderung und deren langfristigen Auswirkungen befragte. 1997 sprechen sich die Länder in den „Empfehlungen zum Schulanfang“ der Kultusministerkonferenz für eine möglichst weitgehende Reduzierung der Zurückstellungen und die Ermutigung der Eltern zu mehr vorzeitigen Einschulungen aus. Durch Stichtagsveränderungen sollen regulär mehr Kinder des Jahrgangs eingeschult werden. Dazu sollen die
Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern
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Länder ihren Stichtag zwischen dem 30.6. und 30.9. festlegen können. In begründeten Ausnahmefällen sollen auch Kinder eingeschult werden, die erst nach dem 31.12. ihr sechstes Lebensjahr vollenden. Diese Übereinkunft löst das Hamburger Abkommen von 1964 ab, die Beschlüsse zur vorzeitigen Einschulung von 1968 und Zurückstellung von 1967 werden explizit aufgehoben (vgl. Burk/Faust-Siehl 1999). Zurückstellungen erweisen sich wenige Jahre später zusammen mit Klassenwiederholungen auch in der PISA-Studie von 2000 als ein wichtiger Nachteil des deutschen Bildungswesens. Bei ca. 36% der deutschen 15-Jährigen ist die Schullaufbahn um ein oder sogar zwei Jahre verzögert (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001: 473f.). Seither wurden die gesetzlichen Schulpflichtbestimmungen erheblich verändert. Einige Bundesländer erließen neue Schulgesetze, andere ergänzten oder veränderten die bestehenden (Abruf vom 11. bzw. 12.9.2005). Erstmals sehen zwei Bundesländer nur noch das Alter als Kriterium für die Einschulung vor und Aussagen über Zurückstellungen fehlen ganz (Berlin und Brandenburg vgl. Tab. 2). In fünf weiteren sind Zurückstellungen nur noch „aus erheblichen gesundheitlichen Gründen“ bzw. „im Ausnahmefall“ zulässig. Dazu gehören die vier Länder, in denen die neue Schuleingangsstufe Regeleinrichtung ist. In diesen sieben Ländern sind in den Schulgesetzen keine schulvorbereitenden EinKriterium
Land
Schulvorbereitende Einrichtungen?
nur das Alter zählt Zurückstellung nur „aus erheblichen gesundheitlichen Gründen“ Zurückstellung nur „im Ausnahmefall“, Verpflichtung auf Förderung Schulfähigkeitskriterien: geistig, seelisch, körperlich, sozial
Berlin, Brandenburg Bremen, NordrheinWestfalen Sachsen, SachsenAnhalt, Thüringen
-
Zusätzlich: sprachlich
Baden-Württemberg, Bayern, MecklenburgVorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein Hessen, Hamburg
Förderung in Kindertagesstätte, Hort, Grund- oder Förderschule Grundschulförderklasse, Schulkindergarten, Vorklasse, Vorschulklasse, Diagnose-Förderklasse
Saarland: Zurückstellung nur bei „medizinischer Indikation“, aber integrative Förderung vorgesehen und Schulkindergärten vorhanden Tabelle 2: Neue Einschulungsregelungen in den Bundesländern – Kriterien für Einschulung und Zurückstellung sowie Existenz schulvorbereitender Einrichtungen
richtungen mehr vorgesehen. Dies ist letztlich nur konsequent, denn die Förderung soll ja für die Kinder, die trotz geistiger, seelischer, körperlicher, sozialer oder sprachlicher Entwicklungsrückstände eingeschult werden, in der Schule – bei den ausnahmsweise Zurückgestellten in der Kindertagesstätte oder im Hort
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bzw. in Förderschuleinrichtungen – erfolgen. Unter diesen Ländern sind vier neue Länder, in denen es vor und nach der Wende ohnehin keine schulvorbereitenden Einrichtungen gab. Die andere Gruppe bilden die acht Länder, die bei Zurückstellungen und vorzeitigen Einschulungen an der Schulfähigkeit des Kindes als Einschulungskriterium festhalten und nach wie vor schulvorbereitende Einrichtungen für die Zurückgestellten führen. Als einziges neues Bundesland gehört MecklenburgVorpommern dazu. Hier gibt es gleich zwei Arten schulvorbereitender Einrichtungen, und zwar die Vorklasse für „entwicklungsverzögerte“ und die Diagnose-Förderklasse für „stark entwicklungsverzögerte“ Kinder. In Hamburg und Hessen ist das neue Schulfähigkeitskriterium ausreichender deutscher Sprachkenntnisse in den Schulgesetzen verankert worden. Zu geringe Deutschkenntnisse unter den in Deutschland üblichen „Submersions“-Bedingungen können dazu führen, dass die Kinder mit der doppelten Lernaufgabe, nämlich der Sprache und dem Schulstoff, überfordert sind (vgl. Hopf 2005). Zwar wird die Sprachförderung nun endlich systematisch angeboten, aber es ist zu fragen, ob nicht die Diagnose zu spät und in fragwürdiger Form erfolgt und eine FörderungsdauStichtag bleibt 30.6. Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Sachsen Sachsen-Anhalt Saarland Schleswig-Holstein
Stichtagsverlegungen (auch geplant) Baden-Württemberg: 30.9. (bis 2007/08) Bayern: 31.12. (bis 2010/11) Berlin: 31.12. Brandenburg: 30.9. Rheinland-Pfalz: 31.8. (ab 2008/09) Thüringen: 1.8.
Tabelle 3: Stichtagsregelungen in den Bundesländern
er von wenigen Monaten mit begrenzten Stunden in sehr heterogenen Gruppen ausreicht, zumal sie nicht in die Grundschule hinein fortgesetzt wird (vgl. Faust 2004: 41f.). Angesichts der ca. fünf- bis zehnjährigen Dauer der Förderung, die von den Experten im Interesse des Schulerfolgs für notwendig gehalten wird (vgl. Reich/Roth 2002: 35), handelt es sich wohl eher um Notmaßnahmen. Als 16. Land nimmt das Saarland eine Zwischenstellung ein. Hier sollen Zurückstellungen auf die „medizinische Indikation“ begrenzt werden und die Förderung
Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern
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soll möglichst integrativ in der Schulanfangsklasse stattfinden. Allerdings gibt es hier nach wie vor Schulkindergärten.6 Auch die Stichtagsregelungen haben sich in der Zwischenzeit verändert (vgl. Tab. 3). Zehn Länder wollen derzeit noch am 30.6. festhalten. BadenWürttemberg und Bayern schieben jedes Schuljahr den Stichtag um einen Monat hinaus, bis schließlich der 30.9. (Baden-Württemberg) bzw. der 31.12. (Bayern) erreicht ist. In Bayern sollen sich allerdings Eltern von Kindern, die nach dem 30.9. geboren sind, für eine Zurückstellung entscheiden können. Berlin hat den Schritt zum 31.12. in einem Zug gewagt, d.h. dort sind im Schuljahr 2005/06 1½ Einschulungsjahrgänge eingeschult worden und die Altersspanne der fristgemäßen Schulanfänger/innen reicht von 5½ bis knapp über sieben Jahre. Als neues Instrument ist außerdem die „Stichtagsflexibilisierung“ (vgl. Übersicht 1) hinzugekommen, erstmals in Baden-Württemberg, das diese Möglichkeit nach den KMK-„Empfehlungen zum Schulanfang“ 1997 mit großem Erfolg den Eltern anbot. Dabei ist das Entscheidende, dass das Kind durch die Anmeldung der Erziehungsberechtigten schulpflichtig wird. Schulgesetz Baden-Württemberg vom 1.8.1983, zuletzt geändert 25.7.2000, § 73 (1): „Mit dem Beginn des Schuljahres sind alle Kinder, die bis 30. Juni des laufenden Kalenderjahres das sechste Lebensjahr vollendet haben, verpflichtet, die Grundschule zu besuchen. Dasselbe gilt für die Kinder, die bis zum 30. September des laufenden Kalenderjahres das sechste Lebensjahr vollendet haben und von den Erziehungsberechtigten in der Grundschule angemeldet wurden.“ Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen
30.6. des Folgejahrs, Schulleiter/-in entscheidet 31.12. 31.3. des Folgejahrs 31.12., Ausnahmen 30.7. des Folgejahrs möglich mit Nachweis 31.12.
Rheinland-Pfalz Sachsen
30.12. 30.9.
Übersicht 1: Stichtagsflexibilisierungen in den Bundesländern
Sechs Länder bieten dies den Eltern an, teilweise bis 30.9. als sechstem Geburtstag (Sachsen) oder 31.12. (Bayern, Brandenburg, Bremen). Berlin und BadenWürttemberg ziehen die Grenze sogar erst im Folgejahr. In Baden-Württemberg 6
Im Saarland liegt eine doppelte gesetzliche Grundlage vor. Zu beachten sind sowohl das Gesetz über die Schulpflicht im Saarland (Schulpflichtgesetz) vom 11.3.1966 i.d.F. vom 21.8.1996, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 8.3.2005, als auch das Gesetz zur Ordnung des Schulwesens im Saarland (Schulordnungsgesetz) vom 5.5.1965 i.d.F. vom 21.8.1996, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 13.7.2005.
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ist der ehemalige flexible Einschulungstermin 30.9. inzwischen zum regulären Stichtag geworden. Die flexible Einschulung wird auf das ganze sechste Lebensjahr ausgeweitet. Eine Regelung für die vorzeitige Einschulung fehlt. In diesem Bundesland können somit auf Elternwunsch echte Fünfjährige eingeschult werden, allerdings entscheidet hier die Schulleitung darüber. In Brandenburg sind Ausnahmen bis zum 30.7. des Folgejahres möglich, jedoch sollte der Nachweis erbracht sein, dass die Schule mit Erfolg besucht werden kann. 31.12. als Grenze
Mecklenburg-Vorp. Saarland
30.6. d. Folgejahrs als Grenze Bremen Sachsen-Anhalt
Keine untere Grenze
Bayern Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Sachsen Hamburg Schleswig-Holstein
Keine Regelung vorgesehen Baden-Württem. Berlin Brandenburg Rheinland-Pfalz
Thüringen: bis 1.8. d. Folgejahrs Tabelle 4: Rechtliche Regelungen für vorzeitige Einschulungen in den Bundesländern
Zusätzlich gibt es noch immer die vorzeitigen Einschulungen, bei denen sich ebenfalls die Altersgrenze für die Einschulung weit nach unten verlagert hat (vgl. Tab. 4). Zwei Länder halten noch am 31.12. des Einschulungsjahrs fest, wobei im Saarland jüngere Kinder mit Gutachten eingeschult werden können. Zwei Länder sehen den 30.6. des Folgejahrs vor, was ebenfalls die Einschulung von Fünfjährigen möglich macht, und in sieben Ländern gibt es keine untere Grenze mehr (in Hessen nach dem 31.12. Geborene nur mit Gutachten). Allerdings werden bei der vorzeitigen Einschulung anders als bei der Flexibilisierung Bedingungen gestellt. Auch Länder, die bei der Normaleinschulung auf die Schulfähigkeit des Kindes als Kriterium verzichten, fordern diese hier ein (Bremen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt). Im Regelfall entscheidet die Schulleitung, teilweise wird auch ein Gutachten eingeholt. Vier Länder sehen keine vorzeitige Einschulung vor, wahrscheinlich weil die Stichtagsflexibilisierung schon genügend Spielraum für eine frühzeitige Einschulung eröffnet. In einem weiteren Analyseschritt werden nun die neuesten Einschulungsstatistiken des Statistischen Bundesamts herangezogen, aus denen für jedes Bundesland und die Schuljahre 2003/04 und 2004/05 die Anzahlen der Einschulungen und der „Nichteinschulungen“ hervorgehen.7 Dadurch soll u.a. ermittelt 7
Die Zahlen sind auf Anfrage zu erhalten. Den zuständigen Mitarbeiterinnen wird hiermit gedankt.
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werden, von welchen Zurückstellungsraten derzeit in den Ländern auszugehen ist. In den Tabellen wird bei den Nichteinschulungen nach „Zurückstellungen“ und „Befreiungen“ unterschieden. Bei den Einschulungen werden die Anzahlen insgesamt, die vorzeitigen, fristgemäßen und verspäteten Einschulungen sowie die der Geistigbehinderten angegeben. Zurückstellungen im Schuljahr 2003/04 sollten also mehr oder weniger den verspäteten Einschulungen des Schuljahrs 2004/05 entsprechen. Land Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen Deutschland insgesamt alte Länder neue Länder einschl. Berlin
Rate verspätete Einschulungen Schuljahr 2003/04 5,2% 3,5% 5,6% 7,2% 4,4% 3,2% 6,6% 9,1% 6,0% 4,5% 4,8% 2,0% 8,4% 3,6% 6,7% 4,6% 5,1% 4,9% 6,4%
Rate verspätete Einschulungen Schuljahr 2004/05 5,2% 3,6% 5,0% 6,9% 7,7% 2,7% 8,7% 8,1% 6,3% 4,1% 4,1% 5,1% 7,5% 3,9% 7,0% 8,6% 5,3% 5,0% 6,6%
Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1, 2003/04 bzw. 2004/05 Berechnungsmodus: Die Angaben beziehen sich auf die Prozentanteile der verspätet Eingeschulten an den Eingeschulten insgesamt. Bei den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Thüringen wurden die verspätet Eingeschulten und die Eingeschulten insgesamt an Grundschulen und Integrierten Gesamtschulen addiert. Verspätet Eingeschulte und Einschulungen insgesamt an Freien Waldorfschulen und Sonderschulen wurden nicht berücksichtigt. Tabelle 5: Verspätete Einschulungen in den Bundesländern
Gegenüber dem Schuljahr 1999/2000 sind die Raten der verspäteten Einschulungen beträchtlich zurückgegangen und betragen nun deutschlandweit nur noch ca. 5%. Im Schuljahr 1999/2000 lag die Quote in Deutschland insgesamt bei 6,6%, wobei auf die alten Länder damals noch einschließlich Berlin 6,2% und
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auf die neuen ohne Berlin 9,8% entfielen (vgl. Roßbach 2001: 161). Nach wie vor wird in den neuen Ländern häufiger als in den alten zurückgestellt bzw. verspätet eingeschult. In Tabelle 5 sind die sieben alten und neuen Länder hervorgehoben, die in ihren schulgesetzlichen Regelungen Zurückstellungen entweder nicht mehr vorsehen (Berlin und Brandenburg) oder auf Ausnahmen beschränken wollen (Bremen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen) und auf schulvorbereitende Einrichtungen für schulpflichtige, aber noch nicht schulfähige Kinder verzichten. Da diese Regelung in Sachsen schon im Schuljahr 2004/05 in Kraft trat, müssten sich die Auswirkungen zumindest bei diesem Bundesland bereits zeigen. Zwar sinkt 2004/05 die Rate gegenüber dem vorhergehenden Schuljahr, aber noch immer wird in Sachsen ca. jedes 13. Kind verspätet eingeschult. Eine durchgehende Systematik, wonach entweder die Späteinschulungen zunehmen oder zurückgehen oder wonach sich zumindest die sieben zuvor genannten Länder mit niedrigeren Zahlen von den anderen abheben, ist in der Tabelle nicht zu erkennen.8 Zukünftig wird es eine wichtige Frage, ob die in diesen sieben Ländern beabsichtigte integrative Förderung in der Grundschule gelingt, vor allem wenn berücksichtigt wird, dass in mehreren dieser Länder am Schuleingang nicht die Rahmenbedingungen vorliegen, die z.B. im Modell der neuen Schuleingangsstufe die Förderung sehr heterogener Lerngruppen und einen zielgruppenspezifischen Unterricht für langsamer und schneller lernende Schulanfänger ermöglichen. Auch auf die Kindertageseinrichtungen kommen in diesen Ländern erhöhte Anforderungen zu, sollen doch nun vor allem sie dazu beitragen, dass die Schule möglichst ohne Bruch an die Voraussetzungen anschließen kann, die die Kinder mit in die Schule bringen. Wenn es keine schulvorbereitenden Einrichtungen mehr gibt, müssen Kindertagesstätte, Grundschule oder Förderschule diese Aufgabe übernehmen. In Berlin und Brandenburg wurden die Erzieher/innen in den Kindertageseinrichtungen durch breit angelegte Fortbildungsprogramme darauf vorbereitet. In beiden Bundesländern liegen außerdem – wie inzwischen in allen 16 Bundesländern (vgl. Diskowski 2005) – Bildungspläne für die vorschulischen Kindertagesstätten vor. Im Mittelpunkt des Berliner Bildungsprogramms z.B. stehen sieben Bildungsbereiche, in denen die Kinder 8
In der Statistik für das Schuljahr 2003/04 ist beim Bundesland Bremen die Rubrik „Nichteinschulungen“ leer, was zunächst die Vermutung stützt, dass alle Kinder eingeschult wurden. Ein Jahr später allerdings werden in der Statistik des Schuljahrs 2004/05 bei 6.048 Einschulungen insgesamt 464 verspätete Einschulungen aufgeführt. Daraus errechnet sich im Nachhinein für 2003/04 eine Zurückstellungsquote von 7,7%. Leere Spalten in der Rubrik „Nichteinschulungen“ finden sich in der Schulstatistik 2004/05 erneut beim Bundesland Bremen, außerdem bei den Ländern Hamburg und Rheinland-Pfalz. Erst anhand der Schulstatistik 2005/06 wird sich prüfen lassen, ob tatsächlich auf Zurückstellungen verzichtet wurde oder nur die Zahlen nicht gemeldet wurden.
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schon vor dem Eintritt in den Kindergarten Erfahrungen gemacht haben und die – im Sinne anschlussfähiger Bildungsprozesse – auch in der Grundschule wichtig sind (vgl. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2004). Im Bildungsbereich „Kommunikation: Sprachen, Schriftkultur und Medien“ z.B. sollen Schrift, gegenwärtige und vergangene Schriftkulturen und Schriftzeichen Teil der anregenden Umgebung werden. Zu den Zielen gehört, dass die Kinder Schreibgeräte und -utensilien experimentierend nutzen und den eigenen Namen schreiben. Sie sollen u.a. die Schönheit von Schrift(en) entdecken, erkennen, dass Schriftzeichen Bedeutung tragen, Zeichen erkennen und sich Notizen machen (vgl. ebd.: 62-69). Reichen diese offenen, auf Entdeckungen und den Reichtum möglicher Erfahrungen setzenden Ziele als Schulvorbereitung aus? Das Bildungsprogramm enthält keine spezifisch darauf abgestimmten Beobachtungshilfen, die z.B. „Minimalerfahrungen“ konkretisieren würden. Ein Plan garantiert außerdem bekanntlich noch nicht, dass und vor allem wie er umgesetzt wird. Bei den vorzeitigen Einschulungen steigen die Zahlen im Gegensatz zu den verspäteten Einschulungen mit einer Ausnahme deutschlandweit an (vgl. Tab. 6). Im Schuljahr 2004/05 wird die Rate für die alten Länder sogar zweistellig. Nur in Sachsen nehmen die Zahlen der vorzeitig Eingeschulten ab und liegen bundesweit am niedrigsten. Da die Raten im Schuljahr 1999/2000 für Deutschland insgesamt 4,0% betrugen (alte Länder mit Berlin 4,3%, neue Länder ohne Berlin 1,6%, vgl. Roßbach 2001: 161), ist dies ein eklatanter Anstieg in nur fünf Jahren. Spitzenreiter ist Bremen, das einzige Land, in dem die Raten für die vorzeitig Eingeschulten schon 1999/2000 zweistellig waren. Auffallend sind einerseits die hohen Raten in den Ländern, die ihren Stichtag für die Einschulung auf den 31.12. verlegt haben (Berlin) bzw. bis 2010/11 verlegen wollen (Bayern), die Einschulung bis zum 30.6. des Folgejahrs „flexibilisierten“ (Baden-Württemberg) oder für die vorzeitige Einschulung keine untere Grenze mehr vorsehen (Hessen). Andererseits sind die Raten aber auch in Ländern hoch, die den Stichtag 30.6. beibehalten (z.B. Bremen, Hamburg und Hessen). Möglicherweise überlagern sich hier traditionelle Einschulungshaltungen, besondere Bedingungen in Stadtstaaten und Vorwegnahmen von gesetzlichen Regelungen in einigen Bundesländern, die die vorzeitige Einschulung erleichterten. Zusammenfassend ist zu den neuen Einschulungsregelungen festzuhalten, dass sowohl durch die Stichtagsverlegungen als auch durch die Flexibilisierung und die Erleichterung der vorzeitigen Einschulung die Schultüren weit für jüngere Kinder geöffnet wurden. Zunehmend jüngere Kinder sollen mit dem Ziel, Zurückstellungen möglichst ganz zu vermeiden, eingeschult werden. Der Probelauf, ob die Eltern das annehmen und die Schule damit zurechtkommt, ist allerdings erst im Gange.
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Land Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen Deutschland insgesamt alte Länder neue Länder einschl. Berlin
Rate vorzeitige Einschulungen Schuljahr 2003/04 10,4% 9,3% 9,3% 6,7% 17,8% 11,4% 11,7% 2,8% 7,7% 6,9% 6,1% 8,4% 2,4% 2,6% 6,5% 1,8% 8,1% 8,6% 4,7%
Rate vorzeitige Einschulungen Schuljahr 2004/05 11,9% 11,5% 13,7% 7,5% 18,5% 12,7% 12,7% 2,9% 8,2% 8,2% 8,1% 8,8% 1,1% 2,9% 6,7% 2,3% 9,3% 10,0% 5,5%
Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1, 2003/04 bzw. 2004/05 Berechnungsmodus: Die Angaben beziehen sich auf die Prozentanteile der vorzeitig Eingeschulten an den Eingeschulten insgesamt. Bei den Bundesländern Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Niedersachsen und Thüringen wurden die vorzeitig Eingeschulten und die Eingeschulten insgesamt an Grundschulen und Integrierten Gesamtschulen addiert. Vorzeitig Eingeschulte und Einschulungen insgesamt an Freien Waldorfschulen und Sonderschulen sind nicht berücksichtigt. Tabelle 6: Vorzeitige Einschulungen in den Bundesländern
5
Fazit
In den beschriebenen Veränderungen steckt (1.) eine positive Botschaft: Die Einschulung ohne vorherige Auslese nach Schulfähigkeit und der Verzicht auf Zurückstellungen scheinen in das aktuelle Selbstverständnis der Grundschule eingegangen zu sein. Die Bereitschaft zu individuelleren Lösungen beim Zeitpunkt des Schuleintritts und der Dauer der ersten beiden Klassenstufen ist gewachsen. Auch die jahrgangsübergreifenden Lerngruppen gewinnen zunehmend an Boden. Dieses Umdenken kommt z.B. in Thüringen zum Ausdruck, wo sich alle Grundschulen „(…) mit der Intention der Schuleingangsphase vertraut ma-
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chen und ihr inhaltliches Konzept darauf abstellen (…)“ müssen (Erläuterungen zur Umfrage, zu 2.1 vom April 2005). Umso wichtiger ist es, dass die Lerngruppen am Schulanfang Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen erfolgreich fördern können. Die Bilanz zur neuen Schuleingangsstufe hat jedoch gezeigt, dass (2.) das Modell, das mit dieser Veränderung der Einschulung eng verbunden und für die Realisierung dieser Perspektiven genuin geeignet ist, nicht flächendeckend und weithin ohne die modellnotwendigen Rahmenbedingungen realisiert wird. Parallel werden die schulvorbereitenden Einrichtungen aufgegeben. Bei nicht gelingender Förderung werden in den ersten Grundschuljahren die Sitzenbleiberraten und die Anträge auf Umschulung in Förderschulen ansteigen. In dieser Situation gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird die neue Schuleingangsstufe als intelligente Lösung konsequent vor allem mit jahrgangsübergreifenden Lerngruppen! eingeführt, oder die „alte“ Einschulung mit der Schulfähigkeitsbedingung und den schulvorbereitenden Einrichtungen muss bis zu diesem Zeitpunkt als schlechter Ersatz erhalten bleiben. 1951 veranlasste das verbreitete Schulversagen am Anfang der Grundschule Artur Kern zur Entwicklung eines Schulfähigkeitstests und die Kultusminister zur Heraufsetzung des Einschulungsalters (vgl. Kern 1951). Beginnt die Veränderung der Einschulung damit also noch einmal von vorn? Da die Schulversuche nicht systematisch beforscht wurden, sind (3.) keine Aussagen möglich, welche Rahmenbedingungen für den Erfolg des Konzepts erforderlich sind. Wird Förderung durch Sozialpädagoginnen gebraucht oder können Erzieher/innen oder Lehrer/innen dies leisten? Wie lange muss der Schultag dauern? Wie viele Stunden davon in Doppelbesetzung? Verantwortliche Implementationsentscheidungen setzen unabhängige empirische Bildungsforschung voraus, damit dann auf dieser Grundlage mit ökonomischem Mitteleinsatz geprüfte Modelle in der Breite verwirklicht werden können. Das Forschungsdefizit betrifft auch die Formen und Auswirkungen der jahrgangsübergreifenden Unterrichtsgestaltung. Da zumindest die angehenden Grundschullehrer/innen dafür auszubilden wären und dies vielerorts nicht geschieht, besteht (4.) auch ein Qualifikationsdefizit. Die Auswertung des dritten und vierten Teils der Umfrage, über die hier nicht berichtet wird, zeigt (5.), dass inzwischen neue Vorhaben im Vordergrund der Länderbemühungen stehen. Nunmehr sind die Abstimmung von Vor- und Grundschulbereich durch stufenübergreifende Bildungspläne und die Sprachstandserhebung und Sprachförderung von Kindern ohne ausreichende Deutschkenntnisse aktuell. Erneut legen die Länder hierzu eine Fülle von Maßnahmen vor. Auf Evaluierung und systematische Entwicklung wird erneut verzichtet.
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Schließlich: Die neue Schuleingangsstufe beschränkt sich auf die ersten beiden Klassenstufen. Ein echter Brückenschlag zwischen Kindergarten und Grundschule, der davon getragen ist, dass beide Stufen aufeinander abgestimmt und zusammen mit den Eltern die Lern- und Bildungsbiographie der Kinder gestalten, bleibt (6.) bislang in Deutschland anders als z.B. in der deutschsprachigen Schweiz und in den Niederlanden ein Desiderat. Literatur Autorenkollektiv unter der Leitung von Rittel, Dietmar (2004): Begleituntersuchung zum FLEXModellprojekt zur diagnostischen Klärung der Schülerpopulation 2002 – Schülerinnen und Schüler unter förderdiagnostischer Lernbeobachtung. In: Abschlussbericht und Begleituntersuchungen zum Schulversuch „Flexible Schuleingangsphase“ FLEX 20. Optimierung des Schulanfangs – fachliches und soziales Lernen in einer integrierten Eingangsphase im Land Brandenburg (2001-2004). Teil II. Ludwigsfelde-Struveshof: Landesinstitut für Schule und Medien Brandenburg, 85-118. Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) i.d.F. vom 31.5.2000, zuletzt geändert am 26.7.2005. Brandenburgisches Schulgesetz vom 2.8.2002, zuletzt geändert 24.5.2005. Bremisches Schulgesetz vom 20.12.1994. Burk, Karlheinz/Mangelsdorf, Marei/Schoeler, Udo u.a. (Hrsg.) (1998): Die neue Schuleingangsstufe. Lernen und Lehren in entwicklungsheterogenen Gruppen. Weinheim: Beltz. Burk, Karlheinz/Faust-Siehl, Gabriele (1999): Gesetzliche Grundlagen zum Schulanfang. In: Brügelmann, Hans/Fölling-Albers, Maria/Richter, Sigrun/Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Jahrbuch Grundschule. Fragen der Praxis – Befunde der Forschung. Seelze: Kallmeyer, 82-84. Carle, Ursula/Berthold, Barbara (2003): Neustrukturierung des Schulanfangs in Niedersachsen. Abschlussauswertung. Bremen: Typoskript. Carle, Ursula/Berthold, Barbara (2004): Schuleingangsphase entwickeln, Leistung fördern. Wie 15 Staatliche Grundschulen in Thüringen die flexible, jahrgangsgemischte und integrative Schuleingangsphase einrichten. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Diskowski, Detlef (2005): Synopse zu den Bildungsplänen der Länder. Ohne Ort: Pestalozzi-FröbelVerband. Faust-Siehl, Gabriele (2001): Die neue Schuleingangsstufe in den Bundesländern. In: Faust-Siehl, Gabriele/Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Schulanfang ohne Umwege. Mehr Flexibilität im Bildungswesen. Beiträge zur Reform der Grundschule, Bd. 111. Frankfurt a. M.: Grundschulverband, Arbeitskreis Grundschule, 194-252. Faust, Gabriele (2004): Individuelle Förderung beim Übergang in die Grundschule. Maßnahmen zur früheren Abstimmung der Lernprozesse. In: SchulVerwaltung spezial, 2, 40-42. Gesetz über die Schulpflicht im Saarland (Schulpflichtgesetz) vom 11.3.1966 i.d.F. vom 21.8.1996, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 8.3.2005. Gesetz zur Ordnung des Schulwesens im Saarland (Schulordnungsgesetz) vom 5.5.1965 i.d.F. vom 21.8.1996, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 13.7.2005. Götz, Margarete (2005): Schuleingangsstufe. In: Einsiedler, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik. 2., überarb. Aufl. Bad Heilbrunn/Obb: Klinkhardt, 82–91.
Die neue Schuleingangsstufe und die Einschulung in den Bundesländern
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Gabriele Faust
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Unterrichtsgestaltung in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe Margarete Götz
Unter den Reforminitiativen, die im Laufe der 1990er Jahre in den einzelnen Bundesländern zur Optimierung der Schulanfangsphase eingeleitet wurden, gilt der baden-württembergische Modellversuch als einer der elaboriertesten (vgl. Einsiedler 2003). Er wurde 1997 unter dem Motto „Schulanfang auf neuen Wegen“ gestartet und schloss von Anfang an eine wissenschaftliche Begleituntersuchung ein, die zwischenzeitlich abgeschlossen ist. Mit den nachfolgenden Ausführungen wird aus der wissenschaftlichen Begleituntersuchung eine Teilstudie vorgestellt, mit deren Durchführung Daten zur Unterrichtsgestaltung unter den Bedingungen der Jahrgangsheterogenität erhoben wurden. Bevor die Teilstudie in ihrer methodischen Anlage wie in ausgewählten Ergebnissen skizziert wird, soll vorab die veränderte Schuleingangsstufe kurz charakterisiert werden. 1
Kennzeichnung der Schuleingangsstufe
Der baden-württembergische Modellversuch ist relativ breit angelegt, denn er umfasst mehrere Modellvarianten (vgl. Götz/Neuhaus-Siemon 1999). Die pädagogisch anspruchsvollste, die hier betrachtet werden soll, repräsentiert das sog. A-Modell. Es ist weitgehend mit dem identisch, was in der einschlägigen Literatur als „neue Schuleingangsstufe“ bezeichnet wird (vgl. Faust-Siehl 2001). Für das A-Modell sind kennzeichnend: (1) die Zusammenfassung der Jahrgangsstufen 1 und 2 zu einer organisatorischen und pädagogischen Einheit, also zu einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe, (2) die Flexibilisierung der Verweildauer in den ersten beiden Grundschuljahren, die je nach individuellem Lernzeitbedarf 1 bis 3 Jahre umfassen kann,
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Margarete Götz
(3) der Verzicht auf Zurückstellungen von altersmäßig schulpflichtigen Kindern, (4) der Wegfall von Schulfähigkeitsüberprüfungen, (5) vorzeitige Einschulungen auf Wunsch der Eltern. Das A-Modell wird in Baden-Württemberg in zwei Versionen erprobt, die sich durch die Anzahl der Einschulungstermine unterscheiden. Während das sog. A1-Modell wie bisher üblich einen einzigen Einschulungstermin im September anbietet, kommt beim A2-Modell ein weiterer Termin im Februar oder März hinzu. 2
Anlage und Durchführung der wissenschaftlichen Begleituntersuchung
Zeitnah zum Beginn der Reforminitiative setzte das baden-württembergische Kultusministerium zur wissenschaftlichen Begleitung des Modellversuchs eine Projektgruppe ein. Zu deren Auftrag gehörte es u.a., die Auswirkungen der veränderten Schuleingangsstufe auf die Unterrichtsgestaltung zu untersuchen. Um darüber empirisch gesicherte Daten zu erhalten, wurde eine Vergleichsuntersuchung konzipiert, in die als Kontrollgruppen Grundschulklassen einbezogen wurden, die einen jahrgangshomogenen Anfangsunterricht und die herkömmliche Einschulungspraxis mit der Möglichkeit der Zurückstellung altersmäßig schulpflichtiger Kinder praktizierten. Vom Team der wissenschaftlichen Begleitung wurde ursprünglich geplant, Daten über die standardisierte Beobachtung des Unterrichtsgeschehens durch geschultes Personal zu gewinnen. Da das Vorhaben aus Kostengründen nicht realisierbar war, wurde ein speziell auf die Untersuchungsziele ausgerichteter Lehrerfragebogen neu entwickelt und in einer Pilotphase erprobt. Er bestand in der Endfassung weitgehend aus einem zweigeteilten Katalog von Fragen. Der erste Teil diente der Erhebung von Vergleichsdaten zur Unterrichtsgestaltung und enthielt daher Fragen, die für die Lehrerinnen in den AModellklassen und in den Kontrollklassen identisch waren. Inhaltlich bezogen sich die Fragen u.a. auf den zeitorganisatorischen Ablauf des Unterrichts, auf Art und Umfang der praktizierten Unterrichtsformen wie der eingesetzten Differenzierungsmaßnahmen für spezielle Schülergruppen. Der zweite Teil umfasste nur von den Lehrerinnen der A-Modelle zu beantwortende Fragen, mit denen Daten zur Akzeptanz der Jahrgangsmischung wie zu deren wahrgenommenen Vor- und Nachteilen gewonnen werden sollten. Die
Unterrichtsgestaltung in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe
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weitaus überwiegende Anzahl der Fragen musste mit Auswahlantworten quantifizierender oder qualifizierender Art beantwortet werden. Eingesetzt wurde der Lehrerfragebogen in den A-Modellklassen und in den Vergleichsklassen jeweils im Frühsommer des Schuljahres. Im Rahmen der Hauptuntersuchung der wissenschaftlichen Begleitung geschah das insgesamt zu drei Erhebungszeitpunkten bei drei Untersuchungskohorten, den Einschulungsjahrgängen 1998/99, 1999/00 und 2000/01. Für die Hauptuntersuchung lagen insgesamt 186 ausgefüllte Fragebogen vor, von denen 82 aus A1-Modellklassen, 56 aus A2-Modellklassen und 52 aus Vergleichsklassen stammten. Auf deren Auswertung stützen sich die nachfolgend mitgeteilten ausgewählten Ergebnisse, auf deren vollständige und detaillierte Darstellung hier aus Platzgründen verzichtet werden muss (vgl. Arbeitskreis 2005). 3
Ausgewählte Befunde zur Unterrichtsgestaltung
Da alle Lehrerinnen in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe der A-Modellklassen vor ihrer Teilnahme am Schulversuch in jahrgangsgetrennten Klassen unterrichtet hatten, wurden zunächst die von den Lehrerinnen selbst wahrgenommenen Veränderungen ihrer eigenen Unterrichtspraxis erhoben. Die Mehrzahl der befragten Lehrerinnen gibt übereinstimmend zu allen Erhebungszeitpunkten an, dass sich ihre eigene Unterrichtspraxis durch den Wechsel von der Jahrgangshomogenität zur Jahrgangsheterogenität in unterrichtsmethodischer Hinsicht stark verändert hat. An der Spitze der Veränderungen rangieren dabei die Intensivierung individualisierender und differenzierender Unterrichtsmaßnahmen sowie der vermehrte Einsatz von Freiarbeit und Werkstattunterricht. Diesen Angaben zufolge liegt in der gesteigerten Anwendung subjektbezogener Unterrichtsmethoden die auffallende unterrichtliche Veränderung, die die Lehrerinnen unter den Bedingungen der Jahrgangsmischung vollzogen haben. Ob und inwieweit dieser Befund zugleich ein bedeutsames Unterscheidungsmerkmal im Unterrichtsarrangement zwischen jahrgangshomogenen und jahrgangsheterogenen Klassen markiert, darüber gibt die Vergleichserhebung Aufschluss, also die Auswertung der Fragen, die für jahrgangsgemischte AModellklassen und jahrgangshomogene Kontrollklassen identisch waren. Mit der ersten dieser Fragen sollte der Anteil frontaler Unterrichtsphasen an der wöchentlichen Unterrichtszeit erfasst werden und zwar in den Kernfächern Deutsch, Mathematik und Sachunterricht. Dazu wurde eine Antwortskala mit gestuften Häufigkeiten vorgegeben. Die Auswertung der Antworten über Mittelwertvergleiche veranschaulicht für die drei untersuchten Einschulungsjahrgänge die nachfolgende Grafik beispielhaft für das Unterrichtsfach Deutsch.
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Abbildung 1: Frontale Unterrichtsphasen Deutsch (Mittelwertvergleich)
Wie für Deutsch liefert die Auswertung der Daten auch für Mathematik ein stabiles Ergebnismuster. In beiden Fächern wird zu allen drei Erhebungszeitpunkten in den A-Modellklassen, also in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe, signifikant weniger häufig Frontalunterricht erteilt als bei den jahrgangsgetrennten Vergleichsklassen.1 Beim Sachunterricht tritt dieses Resultat nur zu einem Erhebungszeitpunkt auf. Der Befund spricht zumindest mit Blick auf die Fächer Deutsch und Mathematik dafür, dass die in der Schuleingangsstufe vorliegende Jahrgangsmischung eine Reduktion des Frontalunterrichts begünstigt. Als Konsequenz daraus kann eine Steigerung binnendifferenzierten Lernens durch eine extensive Anwendung individualisierender Unterrichtsformen erwartet werden. Diese Annahme erfährt durch die weiteren Untersuchungsergebnisse zwar eine empirische Bestätigung, allerdings in einem ausgesprochen einseitigen Sinne. Er wird sichtbar, wenn man die erhobenen Daten zu praktizierten Unterrichtsformen mit Differenzierungsanspruch betrachtet. Im Einzelnen handelt es sich dabei um Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit, Lernzirkel und Freiarbeit. Während zur Auftretenshäufigkeit der genannten Unterrichtsformen in den drei Grundschulfächern Deutsch, Mathematik und Sachunterricht Daten erhoben wurden, wurde für den Deutschunterricht noch zusätzlich nach der Praktizierung des Kreisgespräches und der freien Lesestunde gefragt, für den Mathematikun-
1
Für alle Auswertungen war ein Signifikanzniveau von Į .05 festgelegt.
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terricht nach der freien Übungsstunde und für den Sachunterricht nach der Einsatzhäufigkeit des Lern- bzw. Unterrichtsganges wie des Kreisgespräches. An dieser Stelle muss darauf verzichtet werden, im Durchgang durch die abgefragten Unterrichtsformen für jedes der drei Grundschulfächer die Einzelergebnisse zu präsentieren (vgl. Arbeitskreis 2005). Sofern hier Unterschiede zwischen den Kontrollklassen und den A-Modellklassen feststellbar sind, fallen sie zumeist nur tendenziell aus. Sie variieren zudem von Fach zu Fach, was darauf hindeutet, dass die Auftretenshäufigkeit der Unterrichtsformen weniger von der Jahrgangsheterogenität bzw. Jahrgangshomogenität abhängig ist als vielmehr von fachspezifischen curricularen Vorgaben. Eine Ausnahme stellt der Befund zur Freiarbeit dar, der belegt, dass sich neben dem Rückgang frontaler Unterweisung die Unterrichtsgestaltung unter den Bedingungen von Jahrgangshomogenität und -heterogenität noch in einer weiteren Merkmalsausprägung unterscheidet. Als einzige Unterrichtsform wird die Freiarbeit in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe sowohl in Deutsch wie in Mathematik und im Sachunterricht signifikant häufiger eingesetzt als in den jahrgangsgetrennten Vergleichsklassen, ein Ergebnis, das sich zu allen Erhebungszeitpunkten wiederholt und daher stabil ist. Die nachfolgende Abbildung verdeutlicht die Auftretenshäufigkeit der Freiarbeit am Beispiel des Unterrichtsfaches Deutsch.
Abbildung 2: Deutsch – Freiarbeit (Mittelwertvergleich)
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Margarete Götz
Aus den ermittelten Einzelresultaten zu den Unterrichtsformen mit Differenzierungsanspruch geht hervor, dass sich die Unterrichtsgestaltung in jahrgangsgemischten und jahrgangsgetrennten Klassen signifikant in der Auftretenshäufigkeit der Freiarbeit unterscheidet, ein Ergebnis, das bei keiner der anderen nachgefragten Unterrichtsformen auftritt. Demnach scheint aus Lehrerinnensicht die Freiarbeit die prädestinierte Unterrichtsform zu sein, die der großen Bandbreite an heterogenen Lernausgangslagen in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe gerecht wird. Für die auffallend einseitige Bevorzugung der Freiarbeit gegenüber anderen Differenzierungsformen sind mehrere Erklärungsgründe denkbar. Zum einen lässt sich die Freiarbeit in einem breiten Konkretisierungsspektrum unter Einschluss etwa von Partner-, Einzel- und Gruppenarbeit realisieren, so dass diese gar nicht mehr als von der Freiarbeit losgelöste und gesonderte Möglichkeiten der Differenzierung von den befragten Lehrerinnen wahrgenommen werden. Zum anderen könnte die in Kreisen der Grundschulpädagogik anzutreffende Favorisierung der Freiarbeit als innovatives Unterrichtskonzept die dominante Bevorzugung dieser Unterrichtsform in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe erklären. Was auch immer zutreffend sein mag, in jedem Fall muss bei diesem Untersuchungsbefund mitbedacht werden, dass die auf Lehrerinnenangaben beruhenden Daten weder Aussagen über die Qualität der praktizierten Freiarbeit zulassen noch über deren mögliche Wirkungseffekte auf die Lern-, Leistungsund Sozialentwicklung der Grundschüler und Grundschülerinnen in der Eingangsstufe. 4
Zusammenfassung
In der Zusammenschau deuten die vorstehend berichteten Befunde darauf hin, dass durch die Jahrgangsmischung in der Schuleingangsstufe des baden-württembergischen Modellversuchs eine Pädagogisierung des Anfangsunterrichts initiiert wurde. Das manifestiert sich in empirisch nachweisbarer Stabilität am augenfälligsten in der gegenüber den Vergleichsklassen deutlich verminderten Auftretenshäufigkeit frontaler Unterrichtsphasen und der gleichzeitig gesteigerten Praktizierung der Freien Arbeit, einer Unterrichtsform, mit deren Realisierung die Förderung von selbstgesteuertem und eigenverantwortlichem Lernen beansprucht wird. Jenseits der Freien Arbeit lässt sich im Vergleich zu den jahrgangshomogenen Kontrollklassen keine eindeutige und ausgeprägte Bevorzugung unterrichtlicher Differenzierungsformen in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe erkennen, obwohl die befragten Lehrerinnen die Intensivierung differenzierender Unterrichtsmaßnahmen als einen durch die Jahrgangs-
Unterrichtsgestaltung in der jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe
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heterogenität ausgelösten Veränderungseffekt ihrer eigenen Unterrichtspraxis angeben. Das weist darauf hin, dass die Freie Arbeit für die jahrgangsgemischte Schuleingangsstufe als geeignete Standardform der Differenzierung betrachtet und eingesetzt wird. Wenn es zutrifft dafür sprechen die Befunde einiger empirischer Untersuchungen zum offenen Unterricht (vgl. z.B. Poerschke 1999) , dass insbesondere lernschwache Kinder von einer nachhelfenden Instruktion mehr profitieren als von offenen Lernsituationen, dann könnte mit Blick auf diese Schülergruppe die extensive Praktizierung der freien Arbeit in der Schuleingangsstufe mit Nachteilseffekten für die Lern- und Leistungsentwicklung verbunden sein. Diese Befürchtung bestätigen die Ergebnisse der baden-württembergischen Begleituntersuchung insofern nicht, als die auf Schülerebene erhobenen Daten zeigen, dass trotz teilweise ungünstigerer Startbedingungen Kinder und hier auch die sog. Risikokinder – in der jahrgangsgemischten Eingangsstufe in ihrer Lern- und Leistungsentwicklung am Ende der Grundschulzeit keine Rückstände aufweisen im Vergleich zu Kindern in jahrgangsgetrennten Klassen (vgl. Arbeitskreis 2005). So gesehen ist es den Lehrerinnen im baden-württembergischen Modellversuch gelungen, der großen Bandbreite an unterschiedlichen Lernausgangslagen in der jahrgangsgemischten Eingangsstufe durch die praktizierte Unterrichtsgestaltung gerecht zu werden. Literatur Arbeitskreis Wissenschaftliche Begleitung „Schulanfang auf neuen Wegen“ (2005): Schulanfang auf neuen Wegen. Abschlussbericht zum Schulversuch. Einsiedler, Wolfgang (2003): Unterricht in der Grundschule. In: Cortina, Kai S./Baumert, Jürgen/ Leschinsky, Achim/Mayer, Karl Ulrich/Trommer, Luitgard (Hrsg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 285-341. Faust-Siehl, Gabriele (2001): Die neue Schuleingangsstufe in den Bundesländern. In: Faust-Siehl, Gabriele/Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Schulanfang ohne Umwege. Frankfurt a. M.: Grundschulverband-Arbeitskreis Grundschule e.V., 194-252. Götz, Margarete/Neuhaus-Siemon, Elisabeth (1999): Schulanfang auf neuen Wegen – Der Modellversuch in Baden-Württemberg. In: Brügelmann, Hans/Fölling-Albers, Maria/Richter, Sigrun/ Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Jahrbuch Grundschule. Fragen der Praxis – Befunde der Forschung. Seelze/Velber: Kallmeyersche Verlagsbuchhandlung, 35-41. Poerschke, Jan (1999): Anfangsunterricht und Lesefähigkeit. Münster: Waxmann.
Unterrichtsentwicklung in der Schuleingangsphase: Wie lassen sich Anknüpfungspunkte zu ihrer Unterstützung bestimmen? Barbara Berthold
Aus grundschulpädagogischer Perspektive sind Reformbestrebungen am Schulanfang darauf auszurichten, allen Kindern gute Ausgangsbedingungen für schulische Bildungsprozesse zu bieten. Diesem Ziel ist auch das Modell der flexiblen, jahrgangsgemischten und integrativen Schuleingangsphase1 verpflichtet. Es wird in seinen heutigen Varianten in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland seit Mitte der 1990er Jahre erprobt.2 Mit Abschluss der ersten Modellversuche ist es als mögliche Gestaltungsform in neuere Schulgesetze eingegangen.3 Unstrittig ist, dass sich das Modell umsetzen lässt. Zahlreiche Praxisbeispiele belegen dies, das prominenteste darunter bietet zweifelsohne die Laborschule Bielefeld (vgl. Autorenteam Laborschule 2005). Aus der Baden-Württembergischen Begleituntersuchung liegen überdies erste Befunde hinsichtlich der motivationalen, sozialen und kognitiven Entwicklung vor: Es lassen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Kindern in jahrgangsgemischten Schuleingangsphasen und denjenigen in jahrgangshomogenen Kontrollklassen feststellen (vgl. Arbeitskreis Wissenschaftliche Begleitung 2002). Um jedoch einen Vorteil zu erreichen, muss es gelingen, den Unterricht so zu gestalten, dass er allen Kindern gerecht wird und ihre Heterogenität als Ressource nutzt. Gerade die Modellkomponente des jahrgangsgemischten Unterrichts wird aber von Lehrerinnen und Lehrern als große didaktisch-methodische Herausforderung benannt. Hier schließt meine Studie an, deren Anliegen es ist, Anknüpfungspunkte für die Unterstützung von Unterrichtsentwicklungsprozessen zu analysieren. Die Daten entstammen der wissenschaftlichen Begleitunter1 2 3
Das Modell wird auch als ‚Neue Eingangsstufe’ oder ‚(Neue) Schuleingangsstufe’ bezeichnet. Zum Vergleich der aktuellen Maßnahmen und Debatten mit früheren Reformbestrebungen in der Schulanfangsphase vgl. Götz (2004, 2005). Vgl. dazu die Ergebnisse einer eigenen schriftlichen Befragung der Kultusbehörden der Länder der Bundesrepublik (Stand Juli 2005) unter http://www.grundschulpaedagogik.uni-bremen.de/ archiv/; auch Faust-Siehl (2001); Prengel u.a. (2001).
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Barbara Berthold
suchung des Thüringer Schulversuchs ‚Veränderte Schuleingangsphase’, die in den Jahren 2000 bis 2003 unter der Leitung von Prof. Dr. Ursula Carle, Universität Bremen, durchgeführt wurde.4 In diesem Beitrag wird der Untersuchungsplan der Studie vorgestellt, einzelne Bausteine werden ausführlich begründet. Vorliegende Untersuchungsergebnisse bilden die Folie, vor der die Relevanz der Forschungsabsicht dargelegt wird. Ich stelle die Charakterisierung der flexiblen, jahrgangsgemischten und integrativen Schuleingangsphase voran, da dem beschriebenen Zielmodell im Prozess der Analyse besondere Bedeutung zukommt. 1
Zielmodell: Charakteristische Merkmale der Schuleingangsphase
Die meisten der in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland favorisierten Modelle sehen vor, dass Kinder aus den ersten beiden Schuljahren der Grundschule in jahrgangsgemischten Lerngruppen unterrichtet werden. Ehemals zurückgestellte Kinder sowie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden in der Regel in diese Lerngruppen integriert. Alle Kinder haben die Möglichkeit, die Schuleingangsphase in einem, in zwei oder in drei Jahr/en zu durchlaufen. In dieser Zeit soll den Schülerinnen und Schülern eine Förderung widerfahren, die auf Individualisierung und Differenzierung setzt, aber auch die Chancen aufgreift, die gemeinsames Lernen bietet. Unter diesen Zielsetzungen erhält die Gestaltung des Unterrichts besondere Bedeutung: Lernumgebungen sind auszuarbeiten, Unterrichtskonzepte einzusetzen, die die Potenziale der jahrgangsgemischten Lerngruppe nutzen. Damit eng verknüpft sind alle Leistungsfragen: die Erhebung von Lernentwicklung und Lernständen, ihre Dokumentation, nicht zuletzt die Rückkopplung an die didaktisch-methodischen Entscheidungen. Es werden zeitliche und räumliche Strukturen benötigt, Regeln und Verfahrensweisen für gemeinsame und individuelle Lernprozesse: Patenschaften, Tutoren, zeitliche Blöcke, Arbeitsorte, die unterschiedlichen Anforderungen genügen. Das gilt auch für die verschiedenen Pädagoginnen und Pädagogen die, so sieht es das Zielmodell vor, in multiprofessionellen Teams in der Schuleingangsphase arbeiten. Sollen doch ihre verschiedenen Spezialkompetenzen aus Sozial-, Sonder- und Grundschulpädagogik gemeinsam für die Schülerinnen und Schüler wirksam werden.
4
Der Abschlussbericht wurde im Jahr 2004 vorgelegt (vgl. Carle/Berthold 2004); Zwischenberichte sind verfügbar unter: http://www.grundschulpaedagogik.uni-bremen.de/forschung/thueringen/ index. html.
Unterrichtsentwicklung in der Schuleingangsphase
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Dieses komplexe Modell zur Neugestaltung der Schulanfangsphase fußt auf Erträgen aus der Sozialisations- und Lehr-Lernforschung. Es stellt pädagogische wie didaktisch-methodische Ansprüche an Lehrerinnen bzw. Lehrer, Schule und Unterricht gemäß diesen Vorgaben zu verändern. Das skizzierte Feld der Unterrichtsentwicklung wird im Rahmen meiner Studie erkundet, um empirisch begründet Aussagen darüber treffen zu können, wie sich die nötigen Entwicklungen unterstützen lassen. Noch liegen dazu kaum Ergebnisse vor. 2
Ausgangslage: Forschungsstand und Ableitung der Forschungsfragen
Eine von mir durchgeführte vergleichende Betrachtung von Untersuchungsfragen, -designs und Ergebnissen der Forschungs- und Entwicklungsprojekte zur Schuleingangsphase in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland verweist nicht nur darauf, dass sich das Modell umsetzen lässt, vielmehr zeigt sich auch, dass davon Innovationen für die Schul- und Unterrichtsentwicklung ausgehen und dass es von den beteiligten Lehrkräften, auch von Eltern, als günstiger Gestaltungsrahmen für die Schulanfangsphase angesehen wird. Erste Untersuchungsergebnisse zur motivationalen, sozialen und kognitiven Entwicklung belegen, dass sich die Entwicklung von Schülerinnen und Schülern in jahrgangsgemischten Lerngruppen nicht von derjenigen in Jahrgangsklassen unterscheidet. Außer Frage steht jedoch, dass die Umsetzung des Modells an Lehrkräfte, an Schulleitungen, ferner an Schulbehörden und Ministerien sowie Unterstützungssysteme, soweit sie existieren, hohe Herausforderungen stellt. Beklagt wird allerorten die fehlende Qualifikation. Wie die nötigen Entwicklungen für den pädagogisch-didaktischen Umgang mit der Heterogenität, der sich mit den vorgelegten Studien immer mehr als bedeutsamstes Kriterium herausstellt (vgl. Hanke 2005), gut unterstützt werden können, ist bisher nicht so umfassend geklärt, wie man es sich für ein Reformprojekt erhoffen würde, das in den Ländern der Bundesrepublik weit reichend umgesetzt wird. Die Befunde lassen sich auch durch Ergebnisse der IGLU-Studie bekräftigen (z.B. Bos u. a. 2004). Sie verweisen auf die Notwendigkeit, frühzeitiger als bisher und mit mehr Nachdruck an der Qualifizierung der Lehrpersonen für einen individualisierten und differenzierten Unterricht zu arbeiten. Das Problem ist offensichtlich und allseits bekannt. Und dennoch scheint seine Lösung nicht trivial zu sein. Denn positive Ansätze und Beispiele fruchteten nicht überall, führten sogar mancherorts zu Resignation. Benötigt werden Antworten, die echte Orientierungshilfe sein können. Das sind voraussichtlich solche, die Probleme im Prozess der Unterrichtsentwick-
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Barbara Berthold
lung in ihrem Kontext offen legen, Ursachen benennen und Möglichkeiten der Bewältigung aufzeigen. Daher richtet sich meine Auswertung zunächst auf die Engpässe5 der Entwicklung. Nach ihrer Offenlegung wird der Verlauf der Unterrichtsentwicklungsprozesse darauf hin untersucht, ob sich Entwicklungsmuster nachzeichnen und Unterstützungsmaßnahmen ableiten lassen. Besonders wird nach dem Personalentwicklungsbedarf zu fragen sein. 3
Untersuchungsplan: Methodisches Vorgehen und seine Begründung
Zur Beantwortung der skizzierten Forschungsfragen werden die Unterrichtsentwicklungsprozesse von 15 Grundschulen untersucht, die im Rahmen des Thüringer Schulversuchs jahrgangsgemischte Lerngruppen in der Schuleingangsphase eingerichtet haben.6 Die Analyse wird an den Daten der im Jahr 2004 abgeschlossenen wissenschaftlichen Begleituntersuchung vorgenommen (vgl. Carle/Berthold 2004). Dies ist bei der Untersuchungsplanung besonders zu beachten, einerseits wegen meiner Mitarbeit daran, andererseits hinsichtlich der Eignung des Datenmaterials für die beabsichtigte Studie. Der Einschätzung und Aufbereitung der Datengrundlage kommt vor dem Beginn der eigentlichen Auswertung mithin besondere Bedeutung zu. 3.1
Bewertung und Bereitstellung der Datengrundlage
Die hier darzustellende Studie kommt einer Sekundäranalyse gleich, ist doch der Prozess der Datenerhebung von den Prozessen der Datenverarbeitung und der Dateninterpretation abgetrennt (vgl. Klingemann/Mochmann 1975: 178). Statt eigene Erhebungen zu Grunde zu legen, wird in der Analyse auf vorliegende Datensätze zurückgegriffen, die unter spezifiziertem Fokus neu verarbeitet und 5
6
Die Engpasssicht orientiert sich an einem systemischen Verständnis von Engpässen (vgl. Carle 2000). Engpässe sind diejenigen Elemente eines Systems, die den Systementwicklungsprozess ins Stocken bringen. Sie werden in diesem Denkmodell nicht als Engpässe an sich betrachtet, sondern werden dies erst beim Übergang von einem Systemzustand zu einem anderen, also z.B. in einem Unterrichtsentwicklungsprozess wie er im Rahmen des Schulversuchs ‚Veränderte Schuleingangsphase in Thüringen’ zu bewältigen war. So bieten schulinterne Lehrpläne, die an Jahrgangsklassen orientiert, vor dem Schulversuch gut brauchbar waren, für die Arbeit in jahrgangsgemischten Lerngruppen nun keine Orientierung mehr. Die Engpässe übernehmen Hinweisfunktion für Maßnahmen zum Ausbau der Systemleistung. Der Schulversuch begann an den Schulen mit dem 2. Schulhalbjahr 1999/2000 und endete mit dem Schuljahr 2002/2003.
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interpretiert werden. Skepsis rufen Sekundäranalysen gerade deshalb hervor, weil sie sich auf vorhandenes Datenmaterial beschränken, das zu speziellen Fragen erhoben wurde und dem charakteristischen Kontext der Primärstudie entstammt, hier der wissenschaftlichen Begleituntersuchung des Thüringer Schulversuchs ‚Veränderte Schuleingangsphase’. Eine Beurteilung der Datenbasis auf ihre Brauchbarkeit für die Fragestellung der Sekundäranalyse ist daher unerlässlich (vgl. Kromrey 1998: 510f.). Vor Beginn der Auswertung wurde die Eignung der Primärstudie darum zunächst geprüft unter Rückgriff auf die Kriterien ‚Passung der Stichprobe und Fragestellung’, ‚Passung der Methoden, Datengrundlage und Datendokumentation’ (vgl. Medjedovic/Witzel 2005). Ferner war die Rolle der Forscherin im Prozess der wissenschaftlichen Begleituntersuchung und in der nachgängigen Untersuchung zu diskutieren (vgl. Heaton 1998, 2004). Dann wurde das vorliegende Datenmaterial sortiert und klassifiziert, um einen Überblick über seine Beschaffenheit und Potenziale zu gewinnen.7 Ich entschied mich dafür, mit Einzelfallbetrachtungen zu beginnen, leitete die Kriterien zur Auswahl des Datenmaterials für die Sekundäranalyse aus dem Pool der Primärstudie aus oben beschriebenen eher methodischen bzw. methodologischen und inhaltlich-thematischen Überlegungen zur Unterrichtsentwicklung ab. In Folge der jeweils zu begründenden Entscheidungen wurde für jede Schule ein Datensatz zusammengestellt. Für jedes Erhebungsjahr der Primärstudie finden sich darin Daten wieder, die aus Gruppendiskussionsverfahren, aus schriftlichen Befragungen, auch aus Unterrichtsbeobachtungen resultieren. Die Vielfalt der Daten, ihre unterschiedlichen Formate und Bezugspunkte im unterrichtlichen Geschehen sind im Sinne von Machbarkeitsüberlegungen genauer zu betrachten. Es handelt sich um verbale und visuelle Daten, die unterschiedliche Wirklichkeitsausschnitte ‚erfassen’, z.B. das Geschehen in einer Unterrichtsstunde, eine Diskussion im Kollegium etc. Sie geben bedingt durch die jeweilige Erhebungssituation sowie das eingesetzte Erhebungsverfahren verschiedene Perspektiven wieder.8 Sind die unterschiedlichen Datentypen über7
8
Kriterien waren u.a. die Unterscheidung in ‚Roh-Daten’ lediglich für die Auswertung in der Primärstudie aufbereitete Erhebungsprodukte wie Transkripte, Unterrichtsbeobachtungsprotokolle und Zwischenprodukte Zwischenauswertungsprodukte bzw. Ergebnisse der Primärstudie. Geprüft wurden die Erhebungsverfahren der Primärstudie, die Aufbereitungsart und die von den Daten wiedergegebenen Perspektiven, auch die fokussierte Ebene Schule, Lerngruppe, Kind. Auch wenn man von den Einflussfaktoren einer Interviewsituation absieht, lässt sich aus Schulleitungsinterviews vorrangig die Sicht der Schulleiterin bzw. des Schulleiters rekonstruieren; in die Unterrichtsprotokolle sind, auch wenn sie leitfadengestützt erstellt wurden, die Vorannahmen und Wahrnehmungen der Beobachterinnen bzw. Beobachter eingegangen. Sie beziehen sich auf Interaktionen, die Lernumgebung, auch Materialien. Die Fotos aus den Unterrichtshospitationen sind Momentaufnahmen, zeigen Ausschnitte, die die Fotografin bzw. der Fotograf im Moment der
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haupt miteinander zu kombinieren? Welchen Erkenntniswert kann die Kombination bringen? Wo liegen ihre Grenzen? Dies sind die dringendsten Fragen, die im Vorfeld der Analyse beantwortet werden mussten. Im Interesse der Studie ist es, nach erfolgreichem Abschluss der Auswertung Entwicklungsmuster vorzulegen, deren Fokus Engpässe bzw. ‚Kernprobleme’ im Unterrichtsentwicklungsprozess bilden. Beschrieben werden sollen die Problementwicklungen in ihrem Kontext aus Bedingungen/Ursachen, Konsequenzen/Wirkungen, Überwindungsstrategien etc., um von dort auf Ansatzpunkte für eine Unterstützung zu schließen. Es geht darum, ein Spektrum an möglichen Ursachen, Wirkungen, Strategien etc. zu erarbeiten, das sehr wohl den Anspruch hat, empirisch gewonnen und gegenstandsverankert zu sein, den Ergebnisaussagen jedoch den Charakter von Hypothesen verleiht. Das schränkt ihren Geltungsbereich ein, unterstützt aber das Ansinnen, unterschiedliche Datenformate produktiv zu verwenden. Hier greift das Prinzip der Triangulation, verstanden als Instrument der Hypothesengenerierung (vgl. Lamnek 2005: 160).9 In diesem Sinne wird die Kombination der aus unterschiedlichen Erhebungsmethoden resultierenden Datentypen in meiner Studie als Bereicherung verstanden. Der Untersuchungsgegenstand wird von mehreren Seiten ausgeleuchtet, dies verleiht mehr Tiefe und Breite. Wenn Widersprüche auftreten, z.B. in der Interpretation von Gruppendiskussionen und Unterrichtsprotokollen eines Erhebungszeitpunktes, werden die differierenden Aussagen als Standpunkte aufgenommen, die helfen, die Situation besser zu verstehen.
Aufnahme für wichtig hielt, teils ‚eingefrorene’ Interaktionen, teils Arbeitsmaterialien der Schülerinnen und Schüler. 9
Eingang in die empirische Sozialforschung fanden die Verfahren der Triangulation vor allem unter dem Anspruch, eine Strategie zur Validierung der Ergebnisse bereitzustellen. Die Kombination verschiedener Daten, Forscher, Theorien und Methoden dienen in diesem Verständnis zur Bestimmung der Validität von Forschungsergebnissen; je übereinstimmender die vorgelegten Ergebnisse, desto höher ist ihr Grad an Validität einzuschätzen. In Folge einer regen erkenntnistheoretischen Diskussion (vgl. z.B. Lamnek 2005; Schründer-Lenzen 2003) um das Potenzial der Triangulation als Strategie zur Validierung „ (…) hat sich (der Fokus) jedoch zunehmend in Richtung der Anreicherung und Vervollständigung der Erkenntnis und der Überschreitung der (immer begrenzten) Erkenntnismöglichkeiten der Einzelmethoden verlagert“ (Flick 2002: 331).
Unterrichtsentwicklung in der Schuleingangsphase
3.2
213
Auswertung
Die Auswertung10 wurde als Schrittfolge mit unterschiedlichen Akzentuierungen konzipiert. Sie wird an mehrere Materialdurchläufe gekoppelt, die sukzessive immer wieder für jede Schule durchgeführt werden. Es handelt sich dabei zusammenfassend um drei größere Auswertungsgänge: Thematische Klassifikation: Es werden Argumente ausgewählt, die sich auf Unterrichtsentwicklung beziehen und auf Probleme damit. Bewertende Klassifikation: Die Problemhaltigkeit der ausgewählten Aussagen wird eingeschätzt, die Kernproblemkategorien’ werden bestimmt. Ausarbeitung der Entwicklungsmuster: Die ‚Kernproblemkategorien’ werden durch systematisches Fragenstellen expliziert. Die Interpretation zielt auf die Reduktion des Materials durch Kategorisierung. Das Kategoriensystem wird zwischen den einzelnen Auswertungsgängen jeweils überarbeitet und zunehmend verdichtet bis am Ende diejenigen Kategorien bestimmt sind, die die Zentren der Entwicklungsmuster bilden. Um dem Anspruch der Analyse Rechnung zu tragen, werden stets latente Sinngehalte mit berücksichtigt. Dieses Prinzip wurde bereits in dem ersten, nunmehr abgeschlossenen, Interpretationsgang angewendet. Mittels eines vorab definierten Sets an ‚deduktiven’ Kategorien11 wurde das Material ‚durchkämmt’, um Themen herauszufiltern, die auf problembehaftete Aspekte im Unterrichtsentwicklungsprozess verweisen. Relevante Passagen in dem vorwiegend als Text zu behandelnden Datenmaterial wurden mit Kategorien belegt. Als ‚Problem’ wurde zunächst all das aufgefasst, was einen Entwicklungsabstand von dem oben dargelegten Zielmodell vermuten ließ. Eine Bestimmung des Problemgehalts fand noch nicht statt. Diese wird im zweiten Auswertungsgang vorgenommen, um dann auch Problementwicklungen aufdecken zu können. Dazu lehne ich mich an die von Mayring beschriebene ‚Strukturierende Inhaltsanalyse’ an, insbesondere an die 10
11
Die Auswertung wird rechnergestützt vorgenommen, nur so ist die zur Verfügung stehende Datenmenge zu bewältigen, sind Auswertungsprozeduren nachvollziehbar, Ergebnisse in den Daten verankert zu halten. Eine Aufnahme ‚induktiver Kategorien’ wurde damit nicht ausgeschlossen. Das Kategoriensystem wurde nicht als starr aufgefasst, auf die Vorteile, die die Ableitung von Auswertungsgesichtspunkten aus dem Material bieten, sollte nicht verzichtet werden.
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Barbara Berthold
‚skalierende Strukturierung’, deren Ziel es ist, Material auf einer Skala, zumeist einer Ordinalskala, einzuschätzen (vgl. Mayring 1990: 86). Zunutze machte ich mir die genaue Definition von Kategorien bereits vor dem ersten Auswertungsgang, hinzu kommt die Zuweisung von Ankerbeispielen, um der Kategorisierung Richtung zu geben (vgl. Mayring 1990: 77), und die Beschreibung von Einschätzungsdimensionen zur Bestimmung des Grades an Problemhaltigkeit. Die Kategorien werden dementsprechend überarbeitet. Es folgt ein weiterer Materialdurchgang zur Anpassung und Bewertung der zuvor kategorisierten Passagen. Nach einem synoptischen Vergleich der kategorisierten und nunmehr skalierten Aussagen wird die Entwicklung der einzelnen Kategorien über den Schulversuchszeitraum zunächst für jede Schule einzeln geprüft. Das verschafft einen auf Probleme fokussierten Überblick über die Unterrichtsentwicklung der einzelnen Schule und bereitet die neuerliche Schärfung und Auswahl von Kategorien vor. Systematische Suchabfragen werden durchgeführt: Welchen Kategorien wurde häufig der höchste Grad an Problemhaltigkeit zugewiesen? Auf wie viele Schulen sind diese verteilt? etc. Ziel ist es, diejenigen Kategorien auszuwählen, die die Zentren der Entwicklungsmuster, die ‚Kernproblemkategorien’, bilden und somit in den nächsten Auswertungsgang eingehen. Der dritte Auswertungsschritt dient der Bestimmung der Entwicklungsmuster. Die Bedingungsgefüge der ‚Kernproblemkategorien’ werden aufgezeigt, um letztendlich Anknüpfungspunkte für die Verbesserung der Unterrichtsentwicklungsprozesse zu benennen. An die Daten werden entlang der identifizierten ‚Kernproblemkategorien’ systematische Fragen nach ihren Bedingungen, von den Schulen angewandten Überwindungsstrategien und Konsequenzen herangetragen.12 4
Zwischenfazit: Arbeitsstand und Ausblick
Der erste Auswertungsschritt ist abgeschlossen, die folgenden sind umrissen. Um den speziellen Herausforderungen einer Sekundäranalyse zu begegnen, waren vor dem eigentlichen Auswertungsbeginn umfangreiche Klärungen vorzunehmen. Besondere Bedeutung kommt meiner Beteiligung an der Primärstudie zu, die der Interpretation mittels Kontext- und Erfahrungswissen nutzt, aber auch zur vorschnellen Ableitung von Ergebnissen führen kann. Dieser Problematik wird einerseits mit dem beschriebenen mehrstufigen Auswertungsver12
Anstoß dazu gab die Auseinandersetzung mit dem von Strauss und Corbin beschriebenen ‚paradigmatischen Modell’, das es ermögliche, systematisch über Daten nachzudenken und sie miteinander in Beziehung zu setzen (vgl. Strauss/Corbin 1996: 78f.).
Unterrichtsentwicklung in der Schuleingangsphase
215
fahren zu begegnen versucht, andererseits werden erste Interpretationsansätze, auch Fragen, die im Laufe der Auswertung entstehen, schriftlich festgehalten. Auf diesen Ideensammlungen13 gründen problemfokussierte knappe Beschreibungen der Unterrichtsentwicklungsprozesse jeder Schule, die nach dem ersten Auswertungsschritt angefertigt wurden. Sie helfen Vorannahmen offen zu legen, ‚blinde Flecken’ zu bekämpfen. Es handelt sich um die Darstellung von Einsichten in einem frühen Stadium der Analyse, die weiter ausgearbeitet, ggf. revidiert werden müssen. Vor dem Hintergrund der voranschreitenden Analyse können die Beschreibungen einen ersten Hinweis auf die potenziellen Kernprobleme bei der Einrichtung flexibler, jahrgangsgemischter und integrativer Schuleingangsphasen geben. Es zeichnet sich ab, dass besonders die Ausrichtung der unterrichtsbezogenen Tätigkeiten14 an der Jahrgangsklasse auch noch nach Einrichtung der jahrgangsgemischten Lerngruppen eine entscheidende Hürde darstellt, die schnell überwunden werden sollte, um den Raum für binnendifferenziertes und individualisiertes Unterrichten zu eröffnen. Das scheint besonders dann zu gelingen, wenn der Erwerb didaktisch-methodischer Kenntnisse mit dem Erwerb lerntheoretischen Wissens einher geht und pädagogische Haltungen berührt werden. Es bleibt abzuwarten, ob sich dies nach den nächsten Analyseschritten bestätigen und weiter explizieren lässt. Literatur Arbeitskreis Wissenschaftliche Begleitung (2002): Schulanfang auf neuen Wegen. Vorläufiger Abschlussbericht zur Eingangsstufe an Grundschulen. Verfügbar unter: http://www.kultus ministerium.baden-wuerttemberg.de/extsites/grundschule/grundschule-bw/downloads.htm [15.11.2005]. Autorenteam Laborschule (2005): So funktioniert die Offene Schuleingangsstufe. Das Beispiel der Laborschule Bielefeld. Mühlheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr. Bos, Wilfried/Lankes, Eva-Maria/Prenzel, Manfred/Schwippert, Knut/Valtin, Renate/Walther, Gerd (2004): IGLU – Ergebnisse im internationalen und nationalen Vergleich – Erste Konsequenzen für die Grundschule. In: Carle, Ursula/Unckel, Anne (Hrsg.): Entwicklungszeiten. Forschungsperspektiven für die Grundschule. Jahrbuch Grundschulforschung Bd. 8. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 30-50. Carle, Ursula (2000): Was bewegt die Schule? Internationale Bilanz, praktische Erfahrungen, neue systemische Möglichkeiten für Schulreform, Lehrerbildung, Schulentwicklung und Qualitätssteigerung. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 13 14
Vgl. z. B. Strauss und Corbin (1996: 169-192). Z.B. die fach- und schuljahrgangsbezogene Erstellung von Stoffverteilungsplänen, die Konstruktion und Bereitstellung von Aufgabenangeboten, das Aufstellen von Kriterien für die Leistungsbewertung.
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Carle, Ursula/Berthold, Barbara (2004): Schuleingangsphase entwickeln. Leistung fördern. Wie 15 Staatliche Grundschulen in Thüringen die flexible, jahrgangsgemischte und integrative Schuleingangsphase einrichten. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Faust-Siehl, Gabriele (2001): Die neue Schuleingangsstufe in den Bundesländern. In: Faust-Siehl, Gabriele/Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Schulanfang ohne Umwege. Mehr Flexibilität im Bildungswesen. Beiträge zur Reform des Bildungswesens. Bd. 111. Frankfurt a. M. Grundschulverband/Arbeitskreis Grundschule e. V., 194-252. Flick, Uwe (2003): Triangulation in der qualitativen Forschung. In: Flick, Uwe/Kardorff, Ernst von/ Steinke, Ines (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 309-318. Götz, Margarete (2004): Die neue Schuleingangsstufe in Deutschland: Alter Wein in neuen Schläuchen? In: Faust, Gabriele/Götz, Margarete/Hacker, Hartmut/Roßbach, Hans-Günther (Hrsg.): Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar- und Primarbereich. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, 254-272. Götz, Margarete (2005): Schuleingangsstufe. In: Einsiedler, Wolfgang/Götz, Margarete/Hacker, Hartmut/Kahlert, Joachim/Keck, Rudolf W./Sandfuchs, Uwe (Hrsg.): Handbuch Grundschulpädagogik und Grundschuldidaktik. 2. Aufl. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, 82-91. Hanke, Petra (2005): Jahrgangsbezogen oder jahrgangsübergreifend? Neugestaltung der Schuleingangsphase als pädagogisch-didaktische Herausforderung für Grundschulen in NRW. In: Schule heute. Zeitschrift des Verbandes Bildung und Erziehung, 44, 5, 3-8. Heaton, Janet (1998): Secondary Analysis of Qualitative Data. Social Research Update. Issue 22. Verfügbar unter http://www.soc.surrey.ac.uk/ [15.11.2005]. Heaton, Janet (2004): Reworking Qualitative Data. London: Sage. Klingemann, Hans D./Mochmann, Ekkehard (1975): Sekundäranalyse. In: Koolwijk, Jürgen van/ Wieken-Mayser, Maria (Hrsg.): Techniken der empirischen Sozialforschung. Bd. 2: Untersuchungsformen. München: Oldenbourg. Kromrey, Helmut (1998): Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der Datenerhebung und Datenauswertung. 8. überarb. u. erw. Aufl. Opladen: Leske + Budrich. Lamnek, Siegfried (2005): Qualitative Sozialforschung. 4. vollst. überarb. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz. Mayring, Philipp (1990): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 2. durchges. Aufl. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. Medjedovic, Irena/Witzel, Andreas (2005): Sekundäranalyse qualitativer Interviews. Verwendung von Kodierungen der Primärstudie am Beispiel einer Untersuchung des Arbeitsprozesswissens junger Facharbeiter. Forum Qualitative Sozialforschung [Online Journal], 6 (1), Art. 46. Verfügbar unter http://www.qualitative-research.net/fqs-texte/1-05/05-1-46-d.htm [15.11.2005]. Prengel, Annedore/Geiling, Ute/Carle, Ursula (2001): Schulen für Kinder. Flexible Eingangsphase und feste Öffnungszeiten in der Grundschule. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt. Schründer-Lenzen, Agi (2003): Triangulation und idealtypisches Verstehen in der (Re-)Konstruktion subjektiver Theorien. In: Friebertshäuser, Barbara/Prengel, Annedore (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim, München: Juventa, 107-117. Strauss, Anselm/Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory: Grundlagen Qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
IBA - Integrierter Bildungsauftrag von Kindergarten und Grundschule. Lösungsansätze und Strategien für eine systemische Neustrukturierung des Schulanfangs Tassilo Knauf & Elke Schubert
1
Problemlage
Die Ergebnisse von PISA 2000 und 2003 haben erneut transparent gemacht, dass das Bildungssystem in der BRD gegenüber den Bildungssystemen der anderen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften durch einen besonders hohen Grad an horizontaler und vertikaler Zersplitterung geprägt und benachteiligt ist. Heranwachsende müssen während ihrer Schullaufbahn mehrfach Selektionsschwellen überwinden, werden in Teilgruppen aufgeteilt und an den Schnittstellen des Bildungssystems gezwungen, sich auf neue Orte, Zeitsysteme, Personen, Ziele, Bildungsgrundsätze und Methoden einzustellen. Darunter leiden Effektivität und Effizienz unseres Bildungssystems, nicht zuletzt auch im Bereich von Kindergarten und Grundschule. Für die Schnittstelle zwischen Elementar- und Primarbereich ergeben sich aus der kritischen Auswertung der internationalen Vergleichsstudien PISA, TIMSS und IGLU sowie weiterer Untersuchungen folgende Problemsektoren, die sich vor allem in der Schule ausprägen, Entsprechungen aber auch im Elementarbereich haben (vgl. ausführlich Knauf/Schubert 2005: 16ff.): eine unangemessen scharfe strukturelle, institutionelle und mentale Trennung zwischen Elementar- und Primarbereich, ein Festhalten an einem traditionellen, stoffbezogenen Bildungsbegriff, eine unterentwickelte, kaum Differenzierungs- und Individualisierungschancen nutzende Lernkultur, ein Mangel an diagnostischer Kompetenz, ein hohes Maß an Unsicherheit vieler Eltern in Hinblick auf die Möglichkeiten unterstützender Begleitung der Lern- und Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder.
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Ausgehend von den genannten Problembereichen entwickelt der vorliegende Beitrag aus einer systemischen Perspektive Lösungsansätze und Strategien für eine Neustrukturierung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule und konkretisiert diese am Beispiel des von den Autoren konzipierten Modellprojektes IBA (Integrierter Bildungsauftrag von Kindergarten und Grundschule). 2
Zentrale Zielperspektiven und Entwicklungsaufgaben
Kernidee des IBA-Projektes ist eine die Lern-, Bildungs- und Persönlichkeitsentwicklung von Kindern fördernde Intervention im Bereich der Schnittstelle zwischen Elementar- und Primarbereich mit dem Ziel einer signifikanten Verbesserung der Anschlussfähigkeit von Bildungs-, Erziehungs- und Lernprozessen in beiden institutionellen Bereichen. Im Einzelnen geht es uns dabei um folgende Zielperspektiven und Entwicklungsaufgaben: (1) Grenzen im Bildungssystem überwinden: Entwicklung, Gestaltung und Zusammenführung integrativer struktureller und pädagogischer Elemente im Schnittstellenbereich von Kindertageseinrichtung und Grundschule. (2) Die Einschulung flexibilisieren: Erprobung flexibler Einschulungstermine auf der Grundlage differenzierter Entwicklungs- und Fähigkeitseinschätzungen und der subjektiven Schulbereitschaft des Kindes sowie auf der Basis gemeinsamer Entscheidungen aller Beteiligten. (3) Den Bildungsauftrag umsetzen: Stärkung von Lernkompetenz und Entwicklungspotenzialen von Kindergarten- und Grundschulkindern als Grundlage lebenslangen Lernens. (4) Eine neue Lernkultur entwickeln: Gestaltung pädagogischer Praxisstrukturen vor Ort – Entwicklung und Stärkung von „Good-Practice-Beispielen“ als Ausgangspunkt und Motor von Bildungsinnovationen. (5) Diagnostische Kompetenz fördern: Entwicklung und Erprobung eines an der individuellen Entwicklung und Förderung der Kinder orientierten gemeinsamen diagnostischen Inventars von pädagogischen Fachkräften in Kindertageseinrichtungen und Grundschullehrer/innen. (6) Die Elternrolle stärken: Aktivierung der Erziehungspartnerschaft mit den Eltern.
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3
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Strategien der Problemlösung
Bei den oben genannten Entwicklungsaufgaben und den im Folgenden für einige Bereiche exemplarisch ausgeführten Lösungsstrategien orientieren wir uns an den acht Schlüsselelementen einer qualitätsorientierten Politik für die Weiterentwicklung von Frühförderung und vorschulischer Bildung, wie sie von der OECD zu Beginn des neuen Jahrhunderts formuliert wurden (vgl. OECD 2001). Eine weitere Grundlage bildet die Analyse der strukturellen Konzepte für den Übergang vom Elementar- in den Primarbereich in den benachbarten europäischen Bildungssystemen (vgl. Oberhuemer 2004; Knauf 2004). 3.1
Schritte zur Problemlösung: Grenzen im Bildungswesen überwinden
Die für den individuellen Bildungserfolg negativen Effekte der Zersplitterung des Bildungswesens können am ehesten ausgeglichen werden, wenn an entscheidenden (Schnitt-)Stellen Grenzziehungen überwunden werden. Dafür reichen Appelle an die pädagogischen Handlungsträger, Brücken zwischen separaten Bildungsbereichen herzustellen, nicht aus. Dies belegen die konkreten Vorgaben in den gemeinsamen Erlassen von Kultus- und Sozialministerien der alten Bundesländer in den Jahren 1978/79, die weitgehend in entsprechenden Empfehlungen der Ständigen Kultusministerkonferenz von 1994 übernommen wurden (vgl. Knauf 2004: 314). Es bedarf vielmehr einer systemischen Vernetzung auf der politisch-administrativen, institutionellen, professionsbezogenen, methodisch-lernkulturellen, individualbiografischen und familialen Ebene, die nur gelingen kann, wenn auf allen beteiligten Ebenen pass- und anschlussfähige „Entwicklungsaufgaben“ wahrgenommen werden: auf der Politik- und administrativen Ebene die Entwicklung und Implementierung von wertorientierten Leitbildern, auf der Institutionsebene die Ausprägung eines Selbstverständnisses als lernende Organisation, die sich in Prozessen der Organisationsentwicklung selber reflektiert und prüft (Selbstevaluation), sich Ziele setzt und Strategien der Zielerreichung erprobt, auf der Ebene der professionellen Akteure (Lehrkräfte, pädagogische Fachkräfte) die Sensibilisierung für Störungen als Ausgangspunkt für das Aufgreifen von Impulsen, die den Rahmen gewohnter Berufsidentitäten in Verantwortung und Respekt gegenüber dem Kind erweitern und bereichern (Change-Management) (vgl. Mary/Nordholt 2004),
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auf der Ebene der Kinder die Gewissheit, dass sie als Träger von Potenzialen und Kompetenzen gesehen werden, dass ihre Unverwechselbarkeit und Würde geachtet und sie vor Ausgrenzung und Missachtung geschützt werden (vgl. Knauf 2000, 2001; Liebers/Prengel 2004: 9), auf der Ebene der Eltern die Herausforderung, im Dialog mit Pädagog(inn)en als Ko-Expert(inn)en ihrer Kinder ein differenziertes Bild ihres eigenen Kindes zu entwickeln und an der Stärkung der Fähigkeiten und Potenziale dieses unverwechselbaren Individuums mitzuwirken. 3.2
Schritte zur Problemlösung: Die Einschulung flexibilisieren
Um eine für alle Beteiligten zufrieden stellende Umsetzung der Flexibilisierung der Einschulung zu erreichen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass der Wechsel von der Bildungseinrichtung Kindergarten in die Bildungseinrichtung Grundschule ein niederschwelliger Übergang wird. Aus diesem Grunde sollten Kinder mit Personen, Aktionsstrukturen und Räumen in der Grundschule, in die sie eingeschult werden, bereits im Vorfeld vertraut gemacht machen, sich die Lernkulturen in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen aneinander annähern, aufeinander bezogene Verfahren der diagnostischen Erfassung von Entwicklungen und Fähigkeitsprofilen entwickelt, erprobt, evaluiert und implementiert werden. Das bisher für die Einschulung zentrale Kriterium der Schulfähigkeit sollte verstanden werden als ein gesellschaftliches Konstrukt, das zwischen verschiedenen Akteuren (Schule, Kindertageseinrichtung, Eltern, Politik und interessierten Gruppen der Öffentlichkeit) ausgehandelt wird und historischen Wandlungen unterworfen ist (vgl. Nickel 1996; Kammermeyer 2000, 2001). So spielt die Kategorie Schulfähigkeit beispielsweise im niederländischen oder schwedischen Schulsystem praktisch keine Rolle, obwohl in beiden Ländern unterschiedliche Einschulungsmodalitäten (Früh- bzw. Späteinschulung) praktiziert werden. Schulfähigkeit sollte entsprechend nicht mehr als personenbezogenes Einschulungskriterium, sondern als Ziel betrachtet werden, an dessen Erreichung alle an der Erziehung und Bildung des Kindes beteiligten Personen mitwirken. Damit die Einschulung den einschneidenden Charakter eines Initiationsritus verliert und zu einem persönlichen Übergangsritual wie der Geburtstag wird, sollten folgende Kriterien erfüllt sein:
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die relative Vertrautheit des Kindes mit den personalen und sozialökologischen Bedingungen der neuen Situation als Grundlage individueller Schulbereitschaft, die gemeinsame Auswertung der differenzierten Entwicklungsdokumente über das einzelne Kind durch Erzieher/innen, Grundschullehrer/innen und Eltern, die gemeinsame Entscheidung aller Beteiligten, in der Regel auch des Kindes, nach Absprache mit dem örtlichen Gesundheitsamt (Schularzt) und der zuständigen Schulbehörde. 3.3
Schritte zur Problemlösung: Diagnostische Kompetenz fördern
In Kindertageseinrichtungen wie in Grundschulen besteht ein gleichermaßen hoher Bedarf an systematischer Anwendung differenzierter diagnostischer Instrumente. Deren Anwendungsbereiche und Funktionen sind breiter, als dies in den ersten Reaktionen auf die PISA-Studie angenommen wurde. Vor allem folgende Aufgaben stehen im Vordergrund: Präzisierung der Kenntnisse über individuelle Entwicklungsprozesse und die Ausprägung von Kompetenzprofilen (z.B. in Hinblick auf spezifische Begabungen und Hochbegabungen, aber auch auf „Teilleistungsstörungen“, Entwicklungsverzögerungen, besondere Förderbedarfe), Ermittlung differenzierter Grundlagen für eine individuelle Förderpraxis, insbesondere in den Bereichen sprachlicher u.a. Basiskompetenzen, Ermittlung von Grundlagen für die pädagogische Gestaltung der Kita- und der Grundschulpraxis in Hinblick auf die Entwicklungs- und Bildungsbedürfnisse der Kinder, Ermittlung von Grundlagen für die Einrichtungskonzeption unter Einschluss der Entscheidungen über Raumgestaltung, Gestaltung des Außengeländes, Materialbeschaffung und -präsentation, Öffnungszeiten und Zeitstrukturierung sowie Arbeitsteilung im Team und Formen der Zusammenarbeit mit den Eltern, Ermittlung von Grundlagen für eine differenzierte Elterninformation und -beratung, Entwicklung gemeinsamer Konzepte und Formen der pädagogischen Diagnostik von Kindertageseinrichtung und Grundschule auf der Grundlage datenrechtlicher Sicherungen.
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Die Mehrzahl der in den letzten Jahren neu entwickelten diagnostischen Instrumente konzentriert sich immer noch vorrangig auf die Erhebung von Entwicklungsverzögerungen, -störungen und Fähigkeitsdefiziten, um Ansatzpunkte für ausgleichende Maßnahmen zu erhalten. Der funktionale Zusammenhang von Diagnostik und Förderung ist vom Grundsatz her richtig. Probleme ergeben sich allerdings, wenn die eingesetzten diagnostischen Instrumente eine defizitorientierte Sicht auf das Kind verstärken und den Blick auf die Stärken des Individuums verstellen, wenn diagnostische Verfahren und darauf aufbauende Fördermaßnahmen speziell für einzelne „Problemgruppen“ den Zusammenhang der pädagogischen Gestaltung des gemeinsamen Kita-Tages fragmentieren, wenn diagnostische Verfahren vorrangig von externen Experten realisiert und damit Professionalität und Verantwortung der Erzieherin in der Kindertageseinrichtung destabilisiert werden. Diagnostische Verfahren in Kindertageseinrichtung und Grundschule sollten sich an einem ganzheitlichen Bild vom Kind als Träger von Stärken und Schwächen und eines unverwechselbaren Persönlichkeitsprofils orientieren, an den Erfahrungen von Erzieher/innen anknüpfen und deren Kompetenzen als Kenner/innen der einzelnen Kinder in der Einrichtung nutzen, eine Überformung des Kindergartenalltags durch Tests und isolierte Problemgruppenförderung vermeiden, als Ergebnis eine qualitative Persönlichkeits- und Kompetenzeinschätzung und kein quantitatives Kinder-Ranking anstreben, die Stärkung von Selbstbildungskompetenz und die Stabilisierung von Schlüsselqualifikationen im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft mit reflektieren, die Probleme selektiver Wahrnehmung und der Subjektivität von Urteilsbildung reduzieren. Diese Forderungen lassen sich am ehesten durch einen Methoden-Mix erfüllen. Wir empfehlen Kindertageseinrichtungen in diesem Zusammenhang unser Konzept der „Individuellen Entwicklungserfassung“ (IEE), zu dem zumindest die drei Elemente „Kurzzeitbeobachtung“, „Portfolio“, „Entwicklungs- und Kompetenzprofil“ gehören sollten (vgl. Knauf 2005, 2005a; Knauf/Schubert 2004, 2005).
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Die Kurzzeitbeobachtung1 hält einen nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Ausschnitt von Aktion und Interaktion eines oder mehrerer Kinder in einer unmittelbar protokollierten Prozessdokumentation fest. In Anlehnung an die „Leuvener Engagiertheitsskala“ werden nach Leu (2002) die konkreten Beobachtungen nach den Kriterien Interesse, Engagiertheit der Interessenverfolgung, Problemlösefähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Perspektivenwechsel und soziale Verantwortung mit wenigen Stichworten interpretiert. Wir empfehlen, auch die motorischen Fähigkeiten und die Wahrnehmungsfähigkeiten als Kriterien für die Interpretation der Beobachtung heran zu ziehen. Nachfragen bei dem beobachteten Kind können als zusätzliche Quellen für die Interpretation genutzt werden. Mit Hilfe des Portfolios2, einer im Kindergarten meist über drei Jahre geführten Entwicklungsdokumentation, lassen sich mit der zunehmenden Fülle und Dichte der Materialien Entwicklungsschübe und Entwicklungsverlangsamungen ausmachen. Eltern erleben bei den „Entwicklungsgesprächen“ mit den Erzieher/innen das Datenfundament des Portfolios als einen großen Gewinn, den die Erzieher/innen ihrerseits als Kompetenz-, Professionalitäts- und Statusgewinn verbuchen können. Das Entwicklungs- und Kompetenzprofil (EKP)3 wird als standardisiertes Instrument für jedes Kind innerhalb der in der Regel dreijährigen Kindergartenzeit zwei- bis dreimal eingesetzt, um horizontal (sozial) und vertikal vergleichende, also auf die individuelle Entwicklung bezogene Daten zu gewinnen. Grundlage für die Erstellung des Profils sind die im Portfolio gesammelten Entwicklungsdokumente. Mit Hilfe der im Rahmen des Entwicklungs- und Kompe1
Kurzzeitbeobachtungen werden seit mehr als 30 Jahren in den städtischen Kindertageseinrichtungen in Reggio Emilia praktiziert. Sie wurden von Margret Carr in Neuseeland und Hans Rudolf Leu (DJI) als „Bildungs- und Lerngeschichten“ theoretisch und praktisch weiterentwickelt (vgl. Leu 2002).
2
Das Portfolio, eine kontinuierlich fortgeschriebene Sammlung verschiedenster Entwicklungsdokumente über und für jedes Kind, enthält die dokumentierten Kurzzeitbeobachtungen, Kinderzeichnungen, Fotos des Kindes in verschiedenen Aktionen und sozialen Konstellationen, notierte Kinderäußerungen sowie Beobachtungsnotizen oder Bemerkungen der Erzieher/innen. Alle Entwicklungsdokumente werden datiert, so dass eine Art Mini-Archiv für das einzelne Kind entsteht. Die Entwicklung des Kindes lässt sich an Hand der archivierten Dokumente nachvollziehen und illustrieren, z.B. wenn alle Dokumente in einer Zeitleiste angeordnet werden.
3
Das von den Autoren konzipierte Entwicklungs- und Kompetenzprofil wird seit 2004 an etwa 55 Kindertageseinrichtungen in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, demnächst auch in Einrichtungen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erprobt. Das EKP enthält Entwicklungs- und Kompetenzkriterien, die sich auf die Bereiche Motorik, Wahrnehmung, Soziale Kompetenz und Wertorientierung, Selbst-, Methoden- und Sachkompetenz beziehen. Zum Ausprägungsgrad der jeweiligen Kriterien können in einer fünfteiligen Skala Aussagen gemacht werden. Dabei sind die Quellen der Einschätzung (konkrete Beobachtung oder Gesamteindruck) zu benennen. Zu allen Kriterien können Kommentare notiert werden.
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tenzprofils gesammelten Daten können sehr präzise Einschätzungen zur Information und Beratung der Eltern, zur Akzentuierung der pädagogischen Arbeit und zur Initiierung notwendiger Fördermaßnahmen getroffen werden. Das EKP vermeidet eine defizitorientierte Sicht auf das Kind, denn es veranlasst die Erzieher/in vorrangig die Fähigkeiten und geleisteten Entwicklungsschritte zu erfassen. Es ist nicht nur auf die gesellschaftlich als bedeutungsvoll eingeschätzten Qualifikationen des Individuums konzentriert, sondern orientiert sich an einem ganzheitlichen Bild vom Kind, das sich auf seine geistige, körperliche, emotionale und soziale Entwicklung bezieht. Die hier skizzierten Entwicklungslinien und Schritte zur Problemlösung sind gebunden an Prozesse der vorsichtigen Veränderung pädagogischer Professionalität. Kern einer solchen Professionsveränderung ist der Perspektivenwechsel von der pädagogischen Einzelarbeit des professionellen Akteurs am Kind hin zu vernetzten Arbeitsprozessen im Team. Besondere Berücksichtigung sollten systemische Aspekte des Lebenszusammenhangs von Kindern in Familie, sozialem Nahbereich und in einer veränderten Lebensumwelt mit Tendenzen zur Verinselung, Verhäuslichung, Mediatisierung und soziokulturell geprägten Biographisierung finden. Lebenslanges professionales Lernen in den pädagogischen Bereichen der Elementarerziehung und der Grundschule bedarf der immer wieder neuen Schärfung des Blicks für sozialökologische und kulturelle Veränderungen kindlicher Lebensumwelten und der immer wieder neuen Erprobung von Kooperationsbeziehungen in professionellen, semi-professionellen und nichtprofessionellen Netzwerken. 4
Qualitätsmerkmale einer veränderten Schnittstellenstruktur und -gestaltung
Im Einzelnen geht es im Rahmen des IBA-Projektes um folgende Kernpunkte und Lösungsschritte für eine qualitative Neugestaltung der Schnittstelle zwischen Elementar- und Primarbereich: Auf kommunaler Ebene werden durch die Schul- und Jugendhilfeträger Leitbilder für eine gemeinsame Entwicklungsförderung jüngerer Kinder durch Familie, Kindergarten und Schule formuliert. Kindertageseinrichtungen, Grundschule und Elternvertreter gestalten Kontrakte für einen formalen Rahmen und eine inhaltliche Füllung von wechselseitiger Kommunikation und Kooperation. In Kindertageseinrichtung und Grundschule werden regelmäßig Räume, personelle und sächliche Ressourcen entsprechend den getroffenen Verein-
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barungen wechselseitig zur Verfügung gestellt, um ein differenziertes und zugleich verzahntes Erfahrungsspektrum für entwicklungsfördernde Aktivitäten der Kinder bereit zu stellen. Durch gemeinsame Planung sowie durch gemeinsame oder aufeinander bezogene Gestaltung pädagogischer Situationen und Handlungsstrategien werden die pädagogisch dysfunktionalen Grenzen zwischen Überzeugungen, Haltungen und professionellen Praktiken von Erzieherinnen/Erziehern und Grundschullehrkräften abgebaut. In Kindertageseinrichtung und Grundschule werden die Instrumente pädagogischer Diagnostik aufeinander abgestimmt. Die gewonnenen diagnostischen Daten werden partiell gemeinsam ausgewertet und dienen als Grundlage für die individuelle und gemeinsame Förderung der Kinder in der Schuleingangsphase. Die Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern, Erzieherinnen und Grundschullehrkräften wird durch Intensivierung informativer, beratender und partizipativer Elemente gestärkt. Auf Grund der Stärkung der schulischen Lernvoraussetzungen und des Abbaus von Fremdheit gegenüber dem neuen System Schule auf Seiten der Kinder sowie im Zusammenhang mit einer verbesserten und aufeinander abgestimmten pädagogischen Diagnostik in Kindertageseinrichtung und Grundschule werden Kinder zu individuell geeigneten Zeiten eingeschult und können besser gefördert werden. Die Leistungen des Modellprojektes zur Qualitätsentwicklung und -sicherung
Die Umsetzung des Konzepts findet an ausgewählten Projektstandorten statt, die unterschiedliche sozialgeografische und soziokulturelle Rahmenbedingungen repräsentieren. Gestützt durch Maßnahmen der Organisationsentwicklung und des Qualitätsmanagements wird in wissenschaftlich begleiteten Fallstudien erprobt und evaluiert, inwieweit die genannten Qualitätsmerkmale in pädagogischen Handlungsfeldern implementiert werden können, welche Kompetenzen bei den pädagogisch professionellen Akteurinnen und Akteuren gestärkt werden müssen, wie das Verhältnis von subjektiven Bereitschaften und Abwehrverhalten ausgeprägt ist,
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welche strukturellen sowie personalen Bedingungen für die Implementation der Qualitätsmerkmale förderlich und welche hinderlich sind, welche Unterstützungsstrategien und Einzelmaßnahmen dem Implementationsprozess zugute kommen, welche Empfehlungen dem Bereich der Politik zur Weiterentwicklung der Schnittstelle zwischen Elementar- und Primarbereich gegeben werden können, welche Erkenntnisse für die Gestaltung einer wirkungsvollen Disseminations- und Transferstrategie gewonnen werden können. Literatur Kammermeyer, Gisela (2000): Schulfähigkeit – Kriterien und diagnostische/prognostische Kompetenz von Lehrerinnen, Lehrern und Erzieherinnen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. Kammermeyer, Gisela (2001): Schulfähigkeit. In: Faust-Siehl, Gabriele/Speck-Hamdan, Angelika (Hrsg.): Schulanfang ohne Umwege. Mehr Flexibilität im Bildungswesen. Frankfurt a. M.: Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule e.V., 96-118. Knauf, Tassilo (2000): Anfangsunterricht. In: Becher, Hans Rudolf u.a. (Hrsg.): Taschenbuch Grundschule. 4. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 70-85. Knauf, Tassilo (2001): Einführung in die Grundschuldidaktik. Stuttgart: Kohlhammer. Knauf, Tassilo (2004): Vom Kindergarten in die Grundschule. Notwendige Entwicklungen nach PISA. In: Die Deutsche Schule, 4, 313-321. Knauf, Tassilo (2005): Beobachtung und Dokumentation: Stärken statt Defizitorientierung. In: KiTa aktuell Ausgabe Nord, 5, 100-105. Knauf, Tassilo (2005a): Stärken – statt Defizitorientierung. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Guck mal. Dokumentation des Fachkongresses 19./20. Nov. 2004. Gütersloh: Bertelsmann, 95-115. Knauf, Tassilo/Schubert, Elke (2004): Entwicklungs- und Kompetenzprofil (EKP) für den Elementarbereich. Essen. Knauf, Tassilo/Schubert, Elke (2005): Der Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Grundlagen, Lösungsansätze und Strategien für eine systemische Neustrukturierung des Schulanfangs. In: Der Paritätische Landesverband NRW e.V. (Hrsg.): Bahn frei! Vom Kindergarten in die Grundschule. Wuppertal, 16-33. Leu, Hans Rudolf (2002): Zum Bildungsauftrag von Kindertagesstätten. Bildungs- und Lerngeschichten von Kindern. In: DJI-Bulletin Winter 2002, 8-12. Liebers, Katrin/Prengel, Annedore (2004): Lernstandsanalyse im Anfangsunterricht. Ein Leitfaden für die ersten sechs Schulwochen. Potsdam, Ludwigsfelde: Universität Potsdam Mary, Michael/Nordholt, Henny (2004): Change: Lust auf Veränderung. Berg. Gladbach: B. Lübbe. Nickel, Horst (1996): Die Einschulung als pädagogisch-psychologische Herausforderung. In: Haarmann, Dieter (Hrsg.): Handbuch Grundschule. Bd. 1. 3. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz, 88-100. Oberhuemer, Pamela (2004): Übergang in die Pflichtschulen: Reformstrategien in Europa. In: Diskowski, Detlef/Hammes-Di Bernardo, Eva (Hrsg.): Lernkulturen und Bildungsstandards. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 152-164. OECD (2001). Starting Strong. Early Childhood Education and Care. Paris: OECD.
III Neue Schuleingangsphase
„Sich von Zielen leiten lassen“ – Schritte auf dem Weg zur Anschlussfähigkeit Jan von der Gathen
Die größte Gefahr in der aktuellen Diskussion um Anschlussfähigkeit besteht darin, dass die abgebende Institution „Kindergarten“ ausschließlich auf die vorbereitende Funktion für die aufnehmende Institution „Grundschule“ reduziert wird. Damit wird einer Instrumentalisierung des Bildungsweges und einer ausschließlichen Funktionalität von Bildung (Anwendbarkeit und Verwertbarkeit) der Boden bereitet. Die institutionelle, personelle, methodisch-didaktische und „curriculare“ Disparität wird vermutlich nur durch eine prozessorientierte Kooperation von Erzieherinnen/Erziehern und Grundschullehrkräften teilweise abgebaut werden können (vgl. Hacker 2004: 280). Die Frage darf demnach nicht lauten „getrennt oder gemeinsam?“, die Frage kann nur lauten „wie gemeinsam?“. 1
Gestaltung des Übergangs: Fünf Schritte auf dem Weg zur „Anschlussfähigkeit“
Bis heute ist der Wechsel vom Kindergarten zur Grundschule oftmals suboptimal gestaltet. Zu oft gibt es eine institutionsvermittelnde Abstimmung auf niedrigem Niveau. Denn Übergänge sind „nicht nur von Kindern und ihren Eltern zu bewältigen. Angesichts der derzeitigen bildungspolitischen Reformprozesse befinden sich auch vorschulische und schulische Einrichtungen selbst in Übergangssituationen. Das gilt für Kindertageseinrichtungen, wenn sie ihr situatives Konzept zu einem bildungsorientierten verändern. Das trifft aber auch für einen großen Teil der Schulen für den Wechsel von einer ‚Unterrichtsstundenschule’ hin zu einer Halbtagsgrundschule“ (Fölling-Albers 2004: 9) zu. Zunächst sollten die in der Profession „Erzieher/in“ und „Grundschullehrkraft“ Tätigen anschlussfähig werden. Sie sollten sich auf der Ebene des Einzelkindergartens bzw. der Einzelschule auf grundlegende Indikatoren für „An-
228
Jan von der Gathen
schlussfähigkeit“ des Bildungsweges „vom Kindergarten zur Grundschule“ einigen. Für eine konkrete Zusammenarbeit von Erzieherinnen und Erziehern sowie Grundschullehrkräften sind demnach „verfasste“ Orte und Zeiten für Kooperation zu schaffen. Die Kindergärten des Schulbezirkes müssen sich der betreffenden Grundschule öffnen, wie auch die Grundschule bereits frühzeitig Interesse an der Arbeit der Einrichtung und den potenziellen Schülerinnen und Schülern zeigen muss. Wie kann der Prozess gestaltet werden? In der Schulentwicklung ist seit langem das Instrument der „Leitbildentwicklung“ eingeführt und weitgehend anerkannt. Zu Beginn eines Prozesses, in dessen Verlauf eine programmatische (Neu-)Ausrichtung einer Bildungsinstitution gefunden werden soll, steht zunächst die Formulierung eines Leitbildes. Es sollte möglichst bündig und kurz formuliert sein, je prägnanter desto einprägsamer. „Ein Leitbild soll Ausdruck des gemeinsamen Grundes und des Zukunftswillens einer Schule sein. Im Leitbild werden die Grundideen artikuliert, nach denen sich eine Schule ausrichten will, nach innen wie nach außen. (...) Ein Leitbild kann man nicht von anderen übernehmen, man muss es selbst gebären. Und niemand kann ein Leitbild für andere produzieren.“ (Philipp/Rolff 1999: 15) Um eine gemeinsame, institutionsübergreifende Basis für die Diskussionen, Programme, Projekte und Vorhaben innerhalb des Übergangs zu erarbeiten, kann die Leitbildentwicklung vielen Irritationen und Missverständnissen vorbeugen. Die Suche nach dem „gemeinsamen Nenner“ bezüglich der Anschlussfähigkeit des elementar- auf den primarbezogenen Bildungsauftrages und das Aufeinanderbeziehen der beiden Bildungseinrichtungen ist im Idealfall ein Prozess in fünf Schritten: (1) einen Leitsatz formulieren (2) Vorgaben suchen (3) Kriterien/Qualitätsmerkmale festlegen (4) Indikatoren formulieren (5) Evaluationsmethoden/-instrumente auswählen. 2
Anschlussfähigkeit konkret
Als Pilotversuch wurde im nördlichen Schulbezirk einer Großstadt im Ruhrgebiet im vergangenen Schuljahr ein „Übergangsprojekt“ durchgeführt. Erzieherinnen von vier betroffenen Kindertageseinrichtungen und Lehrkräfte der auf-
„Sich von Zielen leiten lassen“ – Schritte auf dem Weg zur Anschlussfähigkeit
229
nehmenden Grundschule im sozialen Brennpunkt haben dabei über einen Zeitraum von acht Monaten orientiert an der Leitbildarbeit kooperiert. Wie wurde der Prozess konkret gestaltet? Nach mehreren Vorbereitungstreffen der Erzieher/innen mit einigen Grundschullehrkräften startete die externe Beratung und Begleitung im November letzten Jahres, also 10 Monate vor dem Wechsel der Kinder vom Kindergarten zur Grundschule. Es folgten vier weitere gemeinsame Sitzungen, die mit einer Abschlussreflexion kurz vor den Sommerferien endeten. Erste Sitzung: Im Fokus der ersten Sitzung stand die gemeinsame Zielfindung. Vorab wurde sich auf einen Leitsatz geeinigt: „Den Übergang gemeinsam gestalten“. Dieser sollte sowohl auf die Arbeitsgruppe als auch auf die Kindergarten- und Schulkinder bezogen werden. Danach wurden differenzierte Ziele und Indikatoren auf unterschiedlichen Ebenen erarbeitet, die als Arbeitsgrundlage für den weiteren Prozess genutzt wurden. Außerdem wurden Indikatoren auf Ebene der Kinder, Eltern und der Kooperation festgelegt, anhand derer die Zielerreichung abgelesen werden konnte. Zweite Sitzung: Nun stand die Teambildung an: Ein „Tandem“ bestand aus Vertreterinnen einer Einrichtung und einer Grundschullehrerin. Die nächsten Schritte der Kooperation wurden geplant und mögliche inhaltliche Ausrichtungen der Projekte diskutiert. Folgende potenzielle Inhalte für die Arbeit mit dem verbindenden Element des Bilderbuches „Wo die wilden Kerle wohnen“ wurden festgehalten: Naturwissenschaftliches Lernen (z.B. Wind, Wasser oder Steine-Projekt) Soziales Lernen (z.B. Ich und die Anderen) Musisch-kreatives Lernen (Theater-Projekt). Dritte Sitzung: Hier wurde eine inhaltliche Zuspitzung vorgenommen und mit Hilfe eines Planungsrasters in den Tandems das weitere Vorgehen vereinbart. Ergebnis war eine Festlegung auf vier Projekte zu den Themen Theater, Naturwissenschaft, Ernährung und Literatur. Vierte Sitzung: Nach einem Austausch zum aktuellen Stand der Projekte wurden die Beobachtungen und Einzelprojektdokumentationen durch Externe geplant. Außerdem
230
Jan von der Gathen
wurde die externe Evaluation des Projektes vorgestellt und abschließend festgelegt. Fünfte Sitzung: Zwei Wochen nach Durchführung der Projekte und der abschließenden Präsentation trafen sich alle Beteiligten, um kritisch zu reflektieren: Wo lagen die Stärken und Schwächen? 3
Projektevaluation auf der Ebene der beteiligten Kinder
Der potenzielle „Erfolg“ eines Projektes lässt sich am besten bei den unmittelbar Beteiligten ergründen. Deshalb wurde bewusst die Ebene der Kinder für die Evaluation gewählt. Es wurden Kindergartenkinder der unterschiedlichen Einrichtungen zum Verlauf des Projektes befragt. Diese Befragung vollzog sich in zwei Wellen. Zwei Wochen vor Projektstart und zwei Wochen nach Projektende wurden die leitfadengestützten Interviews (ca. zehn Minuten) in den Einrichtungen geführt. Anhand des folgenden Leitfadens wurden die insgesamt 16 Kinder (vier pro Einrichtung) befragt: Wie heißt Du? Wie alt bist Du? Erzähle etwas über die Arbeit im Projekt! (nach Projektende) Ich möchte gerne wissen, wie Dir die Zeit im Kindergarten bisher gefallen hat. Was kannst Du schon, wenn Du nach den Ferien zur Grundschule gehst? Was machst Du besonders gerne? Nach den Sommerferien gehst Du in die Schule. In welche Schule gehst Du dann? Warum gehst Du in die Schule? Kennst Du Kinder, die schon auf dieser Schule sind? Wie stellst Du Dir die Grundschule vor? Wie stellst Du Dir die Lehrerin vor? Ist die so wie die Erzieherin hier im Kindergarten? Worauf freust Du Dich? Was ist komisch, wenn Du an die Schule denkst? Möchtest Du noch etwas sagen? Nach der wortgetreuen Transkription folgte eine inhaltsanalytische Auswertung nach Mayring. Die Codierung wurde streng in semantischen Einheiten vollzogen. Folgende ausgewählte Ergebnisse sind zu berichten.
„Sich von Zielen leiten lassen“ – Schritte auf dem Weg zur Anschlussfähigkeit
231
Vor Beginn des Projektes hatten die Kinder keine genaue Vorstellung von der Grundschule. Lediglich das Ziel, dort lernen zu wollen, war präsent. Einige Kinder nahmen bereits an vorschulischen Förderangeboten in den Lernbereichen „Mathematik“ und „Sprache“ in den Räumen der Grundschule teil. Nur diese hatten geringe Vorstellungen über das konkrete Schulhaus und dessen Inventar. Es gab kein Kind, das Angst vor der Schule äußerte. Nach Abschluss des Projektes war bei der Mehrzahl der Kinder eine Veränderung in der Beschreibung festzustellen. Sie äußerten sich selbstbewusst über das Übergangsprojekt und konnten konkrete Inhalte beschreiben. Sie verbanden mit der Grundschule positive Erfahrungen auf der inhaltlichen und personalen Ebene. Der Name der Lehrerin war nun fast allen Kindern geläufig. Das vorher „Unbekannte“ wurde durch Selbstaneignung zum „Vertrauten“. 4
Ausblick
Ein Pilotprojekt soll möglichst Erfahrungen und Ergebnisse sammeln, die Hinweise für zukünftige Entwicklungen geben können. Aufgrund des Projektes „Den Übergang gemeinsam gestalten“ lassen sich folgende Perspektiven aufzeigen. Das Projekt sollte in einem kleineren Rahmen für die zukünftigen Schulanfänger/innen als regelmäßige „Einrichtung“ installiert werden. Es muss „verfasste“ Orte und Zeiten für die Kooperation der beteiligten Professionen geben. Ansonsten ergibt sich die Kooperation in Beliebigkeit. Eine gemeinsame und systematische Leitbildentwicklung erleichtert offenbar die inhaltliche und die persönliche Zusammenarbeit. Der zeitliche Aufwand war groß, könnte jedoch durch Übernahme des Konzeptes minimiert werden. Aus Sicht der Erzieherinnen und Lehrkräfte wird der Erfolg bestätigt. Die Zusammenarbeit sowohl der Kinder als auch der Erwachsenen verlief wie selbstverständlich, die Kinder konnten ihre „neue“ Schule angstfrei erleben und mit viel Freude und Spaß kennen lernen. Außerdem sind die Kindergartenkinder selbstsicher geworden und haben erlebt, dass Schulkinder auch nicht alles wissen. Die Ebene der kollegialen Kooperation wurde als Plattform einer „Begegnung auf Augenhöhe“ erfahren. Durch die kooperative Festlegung von Leitbild und Zielen wurde eine gemeinsame Sprache gefunden, die für eine „Anschlussfähigkeit der Professionen“ grundlegend erscheint.
232
Jan von der Gathen
Literatur Fölling-Albers, Maria (2004): Geleitwort. In: Denner, Liselotte/Schumacher, Eva (Hrsg.): Übergänge im Elementar- und Primarbereich reflektieren und gestalten. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt, 7-10. Gathen, Jan von der (2005): Anschlussfähig?! Durch ein gemeinsames Leitbild Übergänge erleichtern. In: Grundschule, 37, 1, 8-11. Gathen, Jan von der/Schultebraucks-Burgkart, Gisela (2004): Zielführendes Arbeiten in der Grundschule – durch eine abgestimmte Kooperation Unterricht entwickeln. In: Buchen, Herbert/ Horster, Leonhard/Pantel, Gerhard/Rolff, Hans-Günter (Hrsg.): Schulleitung und Schulentwicklung. Erfahrungen - Konzepte - Strategien (Loseblattsammlung). E 1.13, Berlin: Raabe, 1-14 Hacker, Hartmut (2004): Die Anschlussfähigkeit von vorschulischer und schulischer Bildung. In: Faust, Gabriele/Götz, Margarete/Hacker, Hartmut/Rossbach, Hans-Günther (Hrsg.): Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar- und Primarbereich. Bad Heilbrunn/ Klinkhardt, 273-284. Philipp, Elmar/ Rolff, Hans-Günter (1999): Schulprogramme und Leitbilder entwickeln. Weinheim, Basel: Beltz.
Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule aus Sicht der Erzieherinnen Judith Flender
1
Bildung im Elementarbereich
Seit August 2003 sind in Nordrhein-Westfalen die neuen Bildungsvereinbarungen für den Elementarbereich in Kraft (vgl. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder 2003). Mit ihnen verpflichten sich die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege, Kirchen und die Kommunen, den Bildungsauftrag im Elementarbereich zu stärken und vereinbaren eine bildungsfördernde Begleitung der Kinder in den Tageseinrichtungen (vgl. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder 2003: 5). Es wird dabei ein umfassender Bildungsbegriff zugrunde gelegt, der alle Entwicklungsbereiche, so z.B. die motorische, die kognitive und die emotionale Entwicklung des Kindes einschließt. Durch gesonderte Förderung und Unterstützung benachteiligter Kinder soll mit der Bildungsarbeit im Kindergarten ein Beitrag zur Chancengleichheit geleistet werden, indem alle Kinder individuell auf „künftige Lebens- und Lernaufgaben“ (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder 2003: 6) vorzubereiten sind. Besondere Berücksichtigung finden in den Bildungsvereinbarungen die Bildungsprozesse der Kinder im letzten Jahr vor der Einschulung. Diese Kinder sollen intensiv auf den Übergang zur Grundschule vorbereitet werden und die Schulfähigkeit erlangen. Dazu werden im Schulfähigkeitsprofil (vgl. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes NRW 2004b), welches die Bildungsvereinbarungen ergänzt, für das Lernen im Anfangsunterricht unerlässliche Kompetenzen der Bereiche Wahrnehmung, Motorik, Personale und Soziale Kompetenzen, Umgang mit Aufgaben und fachliches Wissen genannt und Hinweise auf Möglichkeiten zu deren Förderung im Kindergarten gegeben. Mit den Bildungsvereinbarungen kommen auf die Erzieherinnen im Kindergarten neue Aufgaben zu. Die dabei vordringlichste Aufgabe ist die gezielte Beobachtung der Kinder, ihrer Entwicklung und ihres Verhaltens. Die Beobachtung und die sich anschließende Dokumentation dienen dazu, benachteiligte
234
Judith Flender
Kinder zu identifizieren und sie einer gezielten Förderung zuzuführen. Benachteiligungen dürften sich dabei vor allem darin zeigen, dass altersrelevante Entwicklungsschritte bisher nicht stattgefunden haben oder unangemessene Verhaltensweisen gezeigt werden. Bezogen auf den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule steht die Erzieherin vor der Aufgabe, die Schulfähigkeit der Kinder zu fördern und den Übergang zur Grundschule möglichst ohne Brüche für das Kind zu gestalten. Dabei fordern die Bildungsvereinbarungen im Besonderen eine Kooperation der Kindertagesstätten mit den Grundschulen, indem 1) die Bildungsdokumentation, d.h. die Dokumentation der kontinuierlichen Begleitung des Kindes in den genannten Kompetenzbereichen, weitergegeben wird, 2) gegenseitige Hospitationen und 3) gemeinsame Weiterbildungen sowie 4) gemeinsame Konferenzen von pädagogischen Kräften in Kindergarten und Grundschule durchgeführt werden. Derzeit liegen nur wenige Informationen darüber vor, wie Erzieherinnen den Übergang der Kinder vom Kindergarten in die Grundschule gestalten. Aus diesem Grund hat die Forschungsgruppe Früherkennung an der Universität Dortmund eine Befragung durchgeführt und Leiterinnen von Kindergärten in Nordrhein-Westfalen um eine Einschätzung zur aktuellen Praxis gebeten (vgl. Tröster/Flender/Reineke, in Vorb.). 2
Befragung zu den Bildungsvereinbarungen
Für die Befragung zur Gestaltung des Übergangs vom Kindergarten zur Grundschule und zur Umsetzung der Bildungsvereinbarungen wurden 500 Fragebögen an Kindergärten in Nordrhein-Westfalen verschickt. Die Adressen wurden zum Teil über das Internet recherchiert, zum Teil wurden Einrichtungen angeschrieben, mit denen bereits vorher eine Kooperation bestanden hatte (vgl. Tröster/ Flender/Reineke 2005). Insgesamt wurden 144 auswertbare Fragebögen zurückgesandt, was einer Quote von 28,8% entspricht. Die meisten Einrichtungen hatten als Träger die evangelische Kirche (22,9%), eine Stadt/Gemeinde (22,9%) oder die katholische Kirche (19,4%). Die Mehrheit der Kindertagesstätten lag zudem im städtischen Einzugsgebiet (66,7%). Im Durchschnitt besuchten 65,7 Kinder (SD=26,44) die Einrichtungen, die im Mittel 2,9 Gruppen (SD=1,14) umfassten. Die Leitungskräfte waren fast ausschließlich Frauen (94,4%), sie waren zwischen 25 und 61 Jahre alt (M=45,4; SD=7,49) und befanden sich durchschnittlich 12,5 Jahre (SD=7,91) in leitender Stellung.
235
Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule
2.1
Förderung der demnächst schulpflichtigen Kinder
Wie Abbildung 1 zeigt, werden Spiel- und pädagogische Aktivitäten zu allen im Schulfähigkeitsprofil genannten Kompetenzbereichen in mehr als zwei Drittel der Einrichtungen mehrmals wöchentlich durchgeführt. Besonders die Förderung sozialer und personaler Kompetenzen und der Sprache hat einen hohen Stellenwert im Rahmen des Kindergartenalltags. Hier geben jeweils 90% der Leiterinnen an, diese Kompetenzen täglich bzw. mehrmals wöchentlich zu fördern. Zu welchen Bildungsbereichen werden in der Einrichtung Spiel- und pädagogische Aktivitäten durchgeführt? vorschulische Mathematik
39,1
30,5
Erschließung der Lebenswelt
45,7
Wahrnehmung
48
Umgang mit Aufgaben
31 33,3 34,9
51,9
Motorik
56,3
31,7
Sprache
56,5
33,6
personale / soziale Kompetenzen
23,3
66,7 0
10
20
täglich
30
40
50
60
70
80
90
100
mehrmals wöchentlich
Abbildung 1: Häufigkeit der Spiel- und pädagogischen Aktivitäten zu den Bildungsbereichen des Schulfähigkeitsprofils NRW (in Prozent).
2.2
Aktivitäten beim Übergang zur Grundschule
Auch um die demnächst schulpflichtigen Kinder und ihre Eltern auf den Übergang vom Kindergarten zur Grundschule vorzubereiten, werden seitens des Kindergartens viele Aktivitäten angeboten.
236
Judith Flender
Wodurch bereiten Sie in Ihrer Einrichtung die Kinder und deren Eltern auf die Einschulung vor? In Verantwortung von In Verantwortung von Kindergarten und Grundschule Kindergarten und Grundschule Gemeinsame Fortbildungen (KiTa und 2,1 Schule) Erzieherinnen hospitieren 11,9 in Schule Austausch über Fortschritte des Kindes in 14,1 der Schule Schulkinder berichten in 17,4 KiTa
19
Lehrer hospitieren in KiTa Weitergabe der Bildungsdokumentation
20,8
Gemeinsame Konferenzen von KiTa und Schule
21,1
Absprache über Klassenzusammensetzung
21,5
Kooperationsbeauftragte
22,7 83,1
Kinder besuchen Schule
In Verantwortung des Kindergartens In Verantwortung des Kindergartens
51,8
Elternbriefe / Broschüren
67,9
Elternabende Bildung von Vorschulgruppen
83,1
Einzelberatung der Eltern
84,4 0
20
40
60
80
100
Abbildung 2: Regelmäßige Aktivitäten zur Vorbereitung der Kinder und deren Eltern auf die Einschulung (Angaben in Prozent).
Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule
237
Wie in Abbildung 2 dargestellt, werden in nahezu allen Einrichtungen die Eltern der demnächst schulpflichtigen Kinder regelmäßig durch Einzelberatung (84,4%) oder Elternabende (67,9%) in den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule miteinbezogen. Für die Kinder ist in nahezu allen Einrichtungen der Besuch der Grundschule (83,1%) und die Bildung von Vorschulgruppen (83%) fester Bestandteil der Vorbereitung auf die Grundschule. Der Besuch der Grundschule ist jedoch die einzige Aktivität, die Kindergarten und Grundschule gemeinsam anbieten andere Aktivitäten, die eine Kooperation mit der Grundschule erfordern, finden sehr viel seltener statt, auch wenn sie explizit in den Bildungsvereinbarungen empfohlen werden. So wird nur in 20,8% der Grundschule die Bildungsdokumentation zur Verfügung gestellt, gegenseitige Besuche und Hospitationen finden nur in 11,9% (Erzieherinnen besuchen Anfangsunterricht) bzw. 19% (Lehrerinnen besuchen Kindergarten) statt. Gemeinsame Einschulungskonferenzen nennen ein Fünftel der Einrichtungen (21,1%), die Durchführung gemeinsamer Fortbildungen lediglich 2,1% der Leiterinnen. Betrachtet man ausschließlich die Aktivitäten in gemeinsamer Verantwortung von Kindergarten und Grundschule, so zeigt sich, dass 39 Einrichtungen (27,1%) die Durchführung einer dieser Aktivitäten angeben. In 13 Einrichtungen (9,0%) wird keine Aktivität, die eine Kooperation mit der Grundschule erfordert, durchgeführt. In den übrigen 92 Einrichtungen (63,9%) finden jedoch mindestens zwei Aktivitäten in Kooperation mit den Grundschulen statt. Somit lässt sich feststellen, dass seitens des Kindergartens eine Vielzahl von Aktivitäten zum Übergang vom Kindergarten in die Grundschule durchgeführt wird. Die Aktivitäten finden jedoch zumeist innerhalb des Kindergartens statt. Aktivitäten in Zusammenarbeit mit den Grundschulen sind weitaus seltener – in 30% der befragten Einrichtungen gibt es keinen bzw. nur einen Berührungspunkt mit den Grundschulen. 2.3
Probleme bei der Zusammenarbeit
Die Kooperation von Kindergarten und Grundschule wird in den Bildungsvereinbarungen explizit gefordert, die Leiterinnen der Kindertagesstätten sehen hier jedoch mehrere Probleme (Abbildung 3). Wie zu erwarten spielen mangelnde/s Zeit und Personal im Kindergarten eine Rolle: 74,4% der Befragten geben dies als Grund an. Einen Mangel an Zeit- und Personalressourcen in der Grundschule sehen zudem 91,0% der Befragten als Ursache für Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit. Ein gewichtiges Hindernis in der Zusammenarbeit von Kindergarten und Grundschule erscheint den Befragten zudem die mangelnde Informiertheit über die Arbeitsweisen des jeweiligen Kooperationspartners. Nahezu
238
Judith Flender
90% aller Befragten sehen als zutreffend an, dass sie über die Arbeitsweisen in der Grundschule nicht ausreichend informiert sind bzw. die Grundschulen das pädagogische Konzept der Kindergärten nicht kennen. Welche Schwierigkeiten ergeben sich in der Zusammenarbeit mit den Grundschulen? 30,3
Grundschulen fehlt Zeit und Personal
23,8
36,9
Grundschulen kennen pädagogische Konzeption der Kindertagesstätten nicht
23,3
40,6
26,3
Mangelnde Informationen über die Arbeit in der Grundschule
23,3
40,6
26,3
Kindertagesstätten fehlen Zeit und Personal
21,1
Grundschulen sehen keine Notwendigkeit für 7,6 Kooperation Pädagogische Konzeption in KiTa ist mit Erwartungen der Grundschule nur schwer zu vereinbaren
26
14,2
Grundschulen halten Arbeit in Kindertagesstätte für unwichtig
7,8
Persönliche Differenzen zwischen Erzieherinnen und Lehrerinnen
36,8 20,6
28,3 26,4
4,5 0
trifft genau zu
16,5
trifft überwiegend zu
20
40
60
80
100
trifft etwas zu
Abbildung 3: Probleme in der Zusammenarbeit von Kindergarten und Grundschule aus Sicht der Erzieher/innen (Angaben in Prozent).
Zusammenfassend ist somit zu sagen, dass der Bildungsauftrag eine wichtige Rolle im Kindergarten spielt, die Kooperation mit der Grundschule, d.h. das Ineinandergreifen der Bildungsinstitutionen jedoch vielfach zu wünschen übrig lässt. Als Grund dafür wird von den Erzieherinnen vor allem mangelnde Informiertheit über die Arbeitsweisen in der Grundschule bzw. Unkenntnis der Grundschullehrer/innen über die pädagogische Konzeption im Kindergarten angegeben. Scheinbar gelingt es den Erzieherinnen nicht, die relevanten Informa-
Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule
239
tionen, die sie über die Kinder und ihre dreijährige Bildungsgeschichte im Kindergarten gesammelt haben, in brauchbarer Form an die Grundschule zu übermitteln. Auf der anderen Seite wissen die Grundschullehrerinnen nicht, welche Kompetenzen bereits im Kindergarten gefördert wurden und welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sie deshalb bei den Kindern voraussetzen können. Unabdingbar für eine Kooperation scheint daher eine Verständigung über das Erreichen der Fertigkeiten und Fähigkeiten der Kinder in den für das Lernen im Anfangsunterricht relevanten Kompetenzbereichen. Ein Verfahren, welches die standardisierte Erhebung der Fertigkeiten erlaubt und gezielte Hinweise auf den Förderbedarf der Kinder gibt, ist das Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten, DESK 3-6 (Tröster/Flender/Reineke 2004). 3
Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten DESK 3-6
Das Dortmunder Entwicklungsscreening DESK 3-6 ist ein standardisierter Beobachtungsbogen, mit dem die Erzieherin im Kindergarten Kinder bei der Lösung altersrelevanter Entwicklungsaufgaben beobachtet und Kinder mit nicht altersgemäßer Entwicklung zuverlässig identifizieren kann. Das DESK 3-6 liegt in drei altersentsprechenden Versionen für 3-jährige, 4-jährige und für 5- und 6-jährige Kinder vor und beinhaltet jeweils 45 Entwicklungsaufgaben für die 3- und 4-jährigen Kinder und 50 Entwicklungsaufgaben für die 5- und 6-jährigen Kinder. Die Entwicklungsaufgaben sind vier Entwicklungsbereichen zugeordnet: 1) Grobmotorik (GM). Aufgaben zum Bereich Grobmotorik beziehen sich auf Körperkoordination, Gleichgewicht, Geschicklichkeit und Beweglichkeit des Kindes. Beispielitems sind: „Springt dreimal hintereinander in den seitlichen Grätschstand und zurück“, „Führt Überkreuzbewegungen aus“. 2) Feinmotorik (FM). Aufgaben zur Feinmotorik überprüfen die Auge-HandKoordination, Handgeschicklichkeit und die Präzision von Handbewegungen. Beispielitems sind: „Reißt Papierschnipsel“, „Schneidet mit der Schere auf einer geraden Linie“. 3) Sprache und Kognition (SK). Mit den Aufgaben des Bereiches Sprache und Kognition werden zum einen Sprachproduktion, Sprachverständnis und kommunikative Fähigkeiten überprüft. Zudem beziehen sich die Aufgaben auf Gedächtnisleistung, Problemlösefähigkeit und die Fähigkeit zum abstrakten Denken. Sprache und Kommunikation werden von den Autoren zu einem Entwicklungsbereich zusammengefasst, da „zur Bewältigung kom-
240
Judith Flender
plexer Anforderungen, die im Kindergarten beobachtet werden können, in der Regel sowohl sprachliche, als auch kognitive Kompetenzen benötigt werden“ (Tröster u.a. 2004: 37). Beispielitems sind: „Benennt mindestens 6 dargebotene Farben“, „Legt ein Puzzle mit mindestens 12 Teilen“, „Setzt die Vergangenheitsform ein“. 4) Soziale Entwicklung (SE). Mit den Aufgaben zur Sozialen Entwicklung soll zum einen die Selbstständigkeitsentwicklung des Kindes überprüft werden, d.h. die Fähigkeit, Alltagsanforderungen ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Zum anderen wird die Beachtung sozialer Regeln, was vor allem für die älteren Kindergartenkinder wichtig ist, überprüft. Beispielitems sind: „Hört Anleitungen und Erzählungen der Erzieherin aufmerksam zu“, „Trennt sich leicht von der Mutter / dem Vater“, „Wäscht sich die Hände selbstständig“. Die Aufgabenzusammenstellung des DESK 3-6 erfolgte über das 90%-Kriterium: Für die einzelnen Entwicklungsbereiche der drei Altersversionen wurden Entwicklungsaufgaben zusammengestellt, für die in ersten Untersuchungen sichergestellt werden konnte, dass sie von 70-90% der Kinder diesen Alters gelöst werden (vgl. Tröster u.a. 2004). Die Erzieherin beurteilt jeweils auf einer dreistufigen Antwortskala, ob das Kind die Aufgabe löst, unsicher/unvollständig löst oder nicht löst. Für den Bereich der Sozialen Entwicklung ist von ihr anzugeben, ob das Kind das Verhalten oft, manchmal oder nie zeigt. Kriterien zur Durchführung und zur Auswertung der Aufgaben werden angegeben. Zur Auswertung des DESK 3-6 werden die sicher gelösten Aufgaben zusammengezählt. In Normtabellen kann dann für jeden Entwicklungsbereich und für den Gesamtwert der Normwert in Stanine-Normen abgelesen werden. Aus dem Normwert ergibt sich der Screening-Befund („auffällig“: Stn = 1, „fraglich“: Stn = 2 und „unauffällig“: Stn t 3). Die Normen sind für die 3- und 4jährigen Kinder in Halbjahresschritten und für die 5- und 6-jährigen Kinder in Jahresschritten angegeben. Ferner liegen Normen für Kinder mit nicht deutscher Muttersprache und Normen getrennt für Jungen und Mädchen vor. Welche Rolle kommt nun dem DESK 3-6 beim Übergang vom Kindergarten zur Grundschule zu? In Studien zur prognostischen Validität konnte gezeigt werden, dass sich durch den Screeningbefund des DESK 3-6 sowohl die Einschulungsempfehlung als auch schulrelevante Auffälligkeiten der Kinder vorhersagen ließen (vgl. Tröster u.a. 2004). Im ersten Fall lag die Sensitivität bei 80,0%, die Spezifität bei 80,1%, für die Vorhersage schulrelevanter Auffälligkeiten lag die Sensitivität bei 84,2%, die Spezifität bei 78,7%. In einer neueren Studie von Reineke (in Druck) konnte zudem die Schulbewährung bis zum Anfang der Klasse 2 aufgrund der Ergebnisse des DESK 3-6 vorhergesagt werden.
Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule
4
241
Fazit
Mit dem DESK 3-6 können Kompetenzen, von denen angenommen wird, dass sie von Bedeutung für das spätere Lernen sind, bereits im Kindergarten gezielt beobachtet werden. Kinder, denen die nötigen Kompetenzen fehlen, werden frühzeitig erkannt und können individuell gefördert werden. Das DESK 3-6 ermöglicht somit eine Basis für die gemeinsame Gestaltung des Übergangs vom Kindergarten in die Grundschule: Erzieherinnen geben Auskunft über die für den Anfangsunterricht relevanten Kompetenzen des Kindes – Lehrerinnen können an die Lern- und Bildungsgeschichte des Kindes anknüpfen. Diese Möglichkeit der Zusammenarbeit ist von besonderer Bedeutung, da die Ergebnisse der Befragung der Leiterinnen von Kindertagesstätten zeigen, dass Bildung im Kindergarten einen hohen Stellenwert hat, die notwendige Verzahnung der Bildungsinstitutionen jedoch noch nicht gelungen ist. Ohne diese wird es aber nicht möglich sein, eine frühe und wenn nötig langfristige individuelle Förderung der Kinder anzubieten und somit Chancengleichheit, wie sie in den Bildungsvereinbarungen gefordert wird, sicherzustellen. Literatur Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes NRW (2003): Bildungsvereinbarungen NRW. Fundament stärken und erfolgreich starten. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes NRW (2003b): Erfolgreich starten! Schulfähigkeitsprofil als Brücke zwischen Kindergarten und Grundschule. Reineke, Dirk (in Druck). Die Vorhersage des Schulerfolgs durch das Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten DESK 3-6. Tröster, Heinrich/Flender, Judith/Reineke, Dirk (2004): Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten DESK 3-6. Göttingen: Hogrefe. Tröster, Heinrich/Flender, Judith/Reineke, Dirk (2005): Dortmunder Entwicklungsscreening für den Kindergarten (DESK 3-6). Kindheit und Entwicklung, 14, 3, 140-149. Tröster, Heinrich/Flender, Judith/Reineke, Dirk (in Druck): Die Umsetzung der Bildungsvereinbarungen in nordrhein-westfälischen Kindergärten. Eine Befragung der Leiterinnen. Tröster, Heinrich/Reineke, Dirk (2006): Wie gut können Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten von Schulanfängern bereits im Kindergarten entdeckt werden! In: Psychologie in Erziehung und Unterricht, 52, 1, 22-31.
„ … ich sitze hier eigentlich nicht als Schulleiter, sondern als jemand, der irgendwann mal in die Schule gekommen ist.“ Friederike Heinzel
Dies ist der dritte Satz aus der Einstiegssequenz eines Erzählcafés an einer Grundschule zum Thema „Schulanfang“, durchgeführt im Rahmen eines Lehrforschungsprojektes. Eigentlich wollte eine Studentin das Erzählcafé von Beginn an moderieren, doch kurz vorher bat der Schulleiter darum, die Anwesenden begrüßen und das Gespräch eröffnen zu können. Mit diesem Satz ruft sich der Schulleiter gewissermaßen selbst zur Ordnung, um sich in den Kreis der gleichberechtigt Erzählenden einzureihen. Welche generationenspezifischen Erinnerungen in diesem Erzählcafé mit dem Schulanfang verbunden werden, wie die Beteiligten interagieren und warum die Methode des Erzählcafés zur Kompetenzentwicklung in Grundschule und Lehrerbildung beitragen kann, davon handelt der folgende Text. 1
Skizze des Lehrforschungsprojekts
In Schule und Unterricht, in schulischen Vermittlungs- und Aneignungsprozessen geht es immer auch um die Gestaltung von Generationenbeziehungen. Alterstypische Orientierungsmuster und biografische Erfahrungen haben Einfluss auf Lehrer-Schüler-Interaktionen. Dabei sind die Rückerinnerungen an die eigene Kindheit bedeutsam dafür, wie Lehrerinnen und Lehrer die Lebenswelt und Erfahrungen heutiger Kinder wahrnehmen. Vor diesem Hintergrund wurden im Rahmen einer zweisemestrigen Lehrveranstaltung mit verschiedenen Altersgruppen (Kindern, Lehrkräften, Studentinnen und Studenten des Lehramts an Grundschulen sowie Frauen und Männern im Rentenalter) Erzählcafés zu den Themenfeldern Kindheit und Schule initiiert und diese Gespräche analysiert. Unter einem Erzählcafé ist ein moderiertes Rundgespräch zu verstehen, in welchem die Teilnehmenden – als Zeugen ihrer Zeit und Mitglieder ihrer Generation – aus ihrem Leben berichten. Dabei
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soll das biographische Erzählen die Chance bieten, die eigenen Erinnerungen, sowohl durch Identifikation mit der eigenen Generation als auch durch Abgrenzung zu anderen Generationen, lebendig werden zu lassen (vgl. Liebau 1997: 55). Die zweisemestrige Veranstaltung umfasste folgende Phasen: 1. Semester
Theoriephase mit Literaturstudium zu den Themen: Wandel der Kindheit, „Generation“ als Begriff und Strukturkategorie, Biographiearbeit
Kennenlernen der Methode „Erzählcafé“ im Rahmen eines Workshops mit Regina Meyer von der „Freien Altenarbeit“ Göttingen (vgl. Meyer/Bosse 2002)
Erstes Erzählcafé in Kooperation mit der „Freien Altenarbeit“ und der Albanischule in Göttingen
Konzeption und Durchführung von Erzählcafés Entwicklung von Fragestellungen Zwischensemester
Durchführung weiterer Erzählcafés Transkription aller Erzählcafés
2. Semester
Einführung in die Dokumentarische Methode durch Dr. Iris Nentwig-Gesemann, Berlin
Vorstellung der Tiefenhermeneutik (weitere Auswertungsmethode)
Schreibwerkstatt mit Gabriele Ruhmann, Schreibzentrum der Ruhr-Universität Dortmund
Zwischensemester und danach
Durchführung weiterer Erzählcafés Analysieren Schreiben (Examensarbeiten, Forschungsberichte, Zeitschriftenartikel)
Neun Erzählcafés zu den Themenfeldern „Kindheit und Schule“ wurden im Rahmen des Lehrforschungsprojektes von den Studierenden konzipiert, moderiert, videografiert und analysiert, davon eines zum Thema „Erster Schultag und Schulanfang“. Weitere Themen von Erzählcafés waren z.B. „Spielen und Spielzeug“, „Freunde und Freundschaft in der Kindheit“, „Erinnerungen an Schule“ oder „Meine Kindheit mit Pferden“ (vgl. Alexi 2004a, 2004b; Kleinow 2005; Zollitsch 2005; Wiemann 2005; Zeybeck 2006).
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Das Erzählcafé zum Thema „Schulanfang“
Durchgeführt wurde das Erzählcafé zum Thema „Schulanfang“ an einer reformorientierten Grundschule mit Eingangsstufe in der Nähe von Kassel. Teilgenommen haben 18 Personen, zehn Kinder, davon drei Jungen und sieben Mädchen (die jüngste Generation), zwei Lehrerinnen und der Schulleiter (die mittlere Generation) sowie vier Rentnerinnen (die älteste Generation). Moderiert und mit der Videokamera aufgezeichnet wurde es von Studentinnen, die am Lehrforschungsprojekt teilnahmen. Die Teilnehmenden berichteten nach einer Vorstellungsrunde in einer ausführlichen Erzählphase von ihren Erinnerungen an den ersten Schultag und die erste Schulzeit. Anschließend verfassten sie in Gruppen Gedichte zum Thema „Schulanfang“. Mit einer gemeinsamen Abschlussreflexion endete das Erzählcafé. In der folgenden Übersicht ist zusammengestellt, welche Themen in der gemeinsamen Erzählphase angesprochen wurden. Rentnerinnen (älteste Generation)
Lehrerinnen/Schulleiter (mittlere Generation)
Grundschulkinder (jüngste Generation)
Frau N (geb. 1931) Ältere Schüler singen zur Begrüßung/Kantor als Lehrer/Schüchternheit der Schüler/Schulbänke; Tintenfass und Schiefertafeln/Aufstehen bei Eintritt des Lehrers/Hände falten/ Melden statt Reinrufen/Kinder kannten noch keine Zahlen/ Viele der Kinder im Krieg gefallen/keine Schnuckereien in der Zuckertüte
Frau L (geb. 1966) Geruch der Schultüte/ endlich in die Schule/ Schule stand für Großwerden/Vorspiel der größeren Kinder/liebe Lehrerin/gerne Schlingen ins Heft gemalt
Gisa Begrüßung durch Ältere am Nachmittag auf Wiese/Einschulung in „so eine Art Vorschule“/Helferin oder Helfer aus der ersten Klasse/Blume als Geschenk
Frau P (geb. 1946) Schultüte mit „ein klein wenig Schokolade“/nur zwei Schulklassen in der Schule/Mädchen trugen handgestrickte
Frau K (geb. 1977) Erster Schultag am Geburtstag/Begrüßung durch Lied/Enttäuschung, weil man am ersten Schultag nichts lernte/Lehrerin (Mitte dreißig) als alt empfunden Herr M (geb. 1956) Einschulung mit Strickstrümpfen, kurzen Hosen und neuen Schuhen/ 54 Kinder in der Klasse,
Eva Zuerst Kirche dann Wiese/ Singen der älteren Kinder/ Blume bekommen Carla Namen wurden aufgerufen/ Patenkinder halfen bis in erste Klasse Hanna Einschulung ein Jahr später, in die erste Klasse der Gruppe/Geschichte in der Kirche gehört/Versammlung auf
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Rentnerinnen (älteste Generation)
Lehrerinnen/Schulleiter (mittlere Generation)
Grundschulkinder (jüngste Generation)
Strümpfe, Röcke und Schürzen/Dreierbänke/ Noten für Schrift, Fleiß und Betragen/Gebet oder Lied am Morgen/ Taschentücher im Täschchen mussten sein
deshalb zwei Einschulungsfotos/ Erinnerung an Gerüche wie Bohnerwachs und Geräusche wie das Gleiten des Griffels auf der Tafel/Lehrer als Vorbild/Einschulungsfoto mit Füller, obwohl man den erst später benutzen durfte
Wiese/man bekam Paten und Blumen
Frau O (geb. 1930) Angst vor der Schule am Anfang/Strafen bei mangelnder Sauberkeit und Ordnung/gute aber strenge Lehrerin/viel Theater gespielt/Angst vor dem Hausmeister Frau Q (geb. 1926) Weinen der Kinder/ Zuckertüte musste zu Hause bleiben/Jungen aus den Bergen kamen barfuß
Jan Konnte vor Aufregung nicht schlafen/Klassenfoto mit Schultüten auf Wiese beim Sandkasten Betty Aufregung/Lied der älteren Kinder/die Patin Franziska/ Hören einer Geschichte in d. Klasse/Inhalt der Schultüte (auf Nachfrage von Frau N) Jan, Gisa, Danny, Carla, Hanna berichten dann über den Inhalt der Schultüten mit Süßigkeiten, Schreibutensilien oder Stofftieren. Arne und Felix teilen ebenfalls den Inhalt ihrer Schultüten mit. Arne erzählt außerdem von seinem Schulpatenkind.
Die Zusammenstellung der Themen zeigt, dass die jüngste Generation fast ausschließlich vom ersten Schultag berichtet, während die ältere und mittlere Generation zudem über ihre Erinnerungen aus der ersten Schulzeit spricht. Bei der jüngsten Generation geht es immer wieder um die Paten aus der Schuleingangsstufe und den Empfang durch diese schulerfahrenen Gleichaltrigen. Bei der ältesten Generation stehen Erinnerungen an Disziplin, Ordnung und Entbehrungen im Vordergrund. Die mittlere Generation thematisiert erste Erfahrungen mit Schule. Ein großes Thema für die älteste und die jüngste Generation sind die Schultüten und deren Vergleich. Was die Art der Thematisierung betrifft, ergab die Analyse, dass sich die Kinder in ihren Berichten sehr stark wiederholen, während die Erwachsenen auch darauf achten neue Aspekte ins Spiel zu bringen und anschaulich zu erzählen. Zudem sind in die Erzählungen der ältesten Generation Belehrungen, Ver-
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gleiche und Wertungen eingebettet. Auch in den Berichten der mittleren Generation finden sich Vergleiche, doch bemühen sich die beiden Lehrerinnen und der Schulleiter überdies, interessante Geschichten zu erzählen und nicht zu werten. Die Betrachtung der Redeverteilung ergab folgendes Bild: Die älteste Generation beginnt mit dem Erzählen; nach Ermunterung durch die Moderatorin folgt dann die jüngste Generation und zuletzt spricht, wiederum nach Aufforderung der Moderatorin, die mittlere Generation. Die Redeeinheiten der Kinder sind kürzer als die der Erwachsenen. Die älteste Generation hat die höchsten Redeanteile, stellt besonders häufig Fragen oder gibt Kommentare ab. In allen, im Rahmen des Lehrforschungsprojektes durchgeführten und analysierten Erzählcafés wiederholt sich dieses Bild. Es zeigt sich, dass sich die Generationen in der Art der Kommunikation, in der Häufigkeit und Länge der Kommunikationseinheiten und in der Positionierung im Gespräch unterscheiden. Das Verhalten der Teilnehmenden entspricht dabei weitgehend den Erwartungen an ihre Generationsangehörigkeit. Die Angehörigen der ältesten Generation agieren als Experten der Vergangenheit; ihre Beiträge enthalten Belehrungen, sie konstruieren Erzähllinien und äußern sich ausführlich und detailliert. Durch Verhaltensweisen wie Unterbrechen, Kommentieren oder Nachfragen erhält die älteste Generation eine dominante Rolle in den Erzählcafés. Oft betonen ihre Angehörigen, wie zufrieden oder glücklich sie als Kinder waren, selbst dann, wenn von Strenge oder Armut berichtet wird. Die mittlere Generation (Lehrer/innen und/oder Studierende) erfüllt gewöhnlich eine bilaterale Rolle: entweder schließt man sich der älteren Generation an oder man stellt sich auf die Seite der Jüngsten. Meist versuchen die Angehörigen der mittleren Generation in den Erzählcafés Brücken zu bauen. Sie entwirft sich in den Erzählcafés damit als vermittelnde Generation. Interessant ist dies besonders in Bezug auf die Erzählung von Herrn M., der im pädagogischen Sinne der mittleren Generation angehört, allerdings eher an Erfahrungen und Erlebnisse der ältesten Generation anzuknüpfen vermag.1 Die Erzähler/innen der jüngsten Generation beschreiben die eigene Kindheit neutral, ihre Aussagen sind situationsgebunden und sie nehmen die Schülerrolle aktiv an. Die Kinder melden sich, lassen den Erwachsenen den Vortritt, hören aufmerksam zu und antworten meist höflich auf Fragen. 1
Der pädagogische Generationenbegriff (vgl. Sünkel 1996) unterscheidet zwischen vermittelnder und aneignender Generation. Der soziologische Generationenbegriff (vgl. Mannheim 1928/1964; Lüscher 1993) dient der Unterscheidung kollektiver historischer bzw. sozialer Gruppierungen, die aufgrund gemeinsamen Aufwachsens kollektive Interessen oder kulturelle Ausrichtungen zeigen.
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Nun soll die Einstiegspassage vorgestellt und interpretiert werden. Hier stehen der Schulleiter und die moderierende Studentin (beide Angehörige der vermittelnden Generation) im Zentrum. Sie stellen sich den Anforderungen des Erzählcafés und handeln ihre Rollen in der ungewohnten Situation aus. 3
Einstiegspassage Schulleiter (Herr M): Ich hab´ grad’ vor drei Minuten erfahren, Erzählcafé ist also eine Methode, die äh in einigen größeren Städten, wie zum Beispiel Göttingen schon erprobt wurde in der letzten Zeit und wo es darum ging, dass sozusagen verschiedene Generationen zusammen kommen und sich über ein Thema unterhalten. Dort ging es wohl in erster Linie um äh die Zeit des Nationalsozialismus. Heut’ Abend, heute geht’s um etwas anderes, wobei das vielleicht doch noch’ne Rolle spielt, es geht um den Schulanfang und die äh (schaut auf das Namenschild) die Frau (Nachname der Studentin), hier jetzt nur als (Vorname der Studentin) zu identifizieren, ist mit ihren beiden Kollegen, Kollegin und Kollege, von der Universität Kassel jetzt hier und wird uns gleich aufklären, worum es geht. Ich bin auch gespannt, weil ich sitze hier eigentlich nicht als Schulleiter, sondern als jemand, der auch irgendwann ´mal in die Schule gekommen ist. Ja, wenn ich’s richtig sehe und dann wünsche ich ´nen erfolgreichen Nachmittag. Wie lang wird’s denn dauern? Studentin: Ja so ungefähr anderthalb Stunden, denke ich mal. Ja. Schulleiter (Herr M): Ich darf mich herzlich bedanken für Ihre Bereitschaft. Die Frau (Name) nimmt, ist eine erfahrene Oma, die äh (lacht) auch schon bei uns war und erzählt dann von früher. So Punkt. Es gibt noch andere erfahrene Omas. Studentin: Dankeschön, ich möchte mich auch bei allen bedanken, die hier sind, dass ihr gekommen seid, dass Sie gekommen sind und ja ich freu’ mich einfach, dass ihr hier seid und ich hoffe, dass wir ja auch schöne anderthalb Stunden haben werden. Ja, warum ich euch hier eingeladen habe ist, ich möchte gerne mit euch, mit Ihnen über euren ersten Schultag reden. Also was ihr für Erinnerungen habt an den Schultag, an den ersten und auch was für Erinnerungen ihr an die erste Schulzeit habt. So die ersten paar Wochen. Was ihr da noch wisst von. (…) (…)
Zunächst werden in dieser Anfangssequenz des Erzählcafés Erklärungen gegeben, Verantwortlichkeiten geklärt und es wird Dank bekundet. Der Schulleiter (Herr M.) eröffnet den Kreis, indem er die Veranstaltung als „Erzählcafé“ deklariert und anschließend die Methode erläutert, wobei er auf Informationen zurückgreift, die er erst kurz vor Beginn der Veranstaltung erhalten hat. Er liefert eine abstrakte Beschreibung, die mehr an die Erwachsenen als an die Kinder gerichtet ist. Er geht wohl davon aus, dass die Seniorinnen als Gäste an seiner Schule eher seiner Aufmerksamkeit bedürfen und Erklärungen benötigen. Er nennt auch schon das Thema des Erzählcafés „Schulanfang“. Dass der Schul-
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leiter ein routinierter Moderator ist, sich allerdings in einer mehrfach ungewohnten Anfangssituation befindet, wird an seinem Versprecher deutlich („Heut’ Abend, heute geht’s um etwas anderes …). In der Regel sitzt er in Runden mit erwachsenen Gästen, in welchen er als Moderator tätig ist, wohl eher am Abend zusammen. Das hier beschriebene Erzählcafé fand aber am Nachmittag statt. Die Moderatorin und die Kameraleute werden von Herrn M. als „Kollegin und Kollege von der Universität Kassel“ vorgestellt. Durch die Bezeichnung „Kollegen“ wird Solidarität signalisiert und die gemeinsame berufliche Position und Verantwortung unterstrichen. Herr M. nennt zuerst den Nachnamen, dann aber – ihrem Namensschild folgend – den Vornamen der studentischen Moderatorin. Diese Korrektur verweist auf eine Irritation, da sich die Studentin durch die Gestaltung ihres Namensschildes nicht eindeutig als Kollegin ausweist. Die Wahl des Vornamens gibt vielleicht zur Befürchtung Anlass, dass sie sich von ihrer Erwachsenenrolle distanziert oder vor ihrer Verantwortung zurückweichen könnte. Nachdem der Schulleiter die Zuständigkeiten zu klären versucht hat, nimmt er persönlich Stellung und hebt hervor, er sei „auch gespannt“. Diese Aussage erfordert allerdings eine Begründung, die er in Form einer theoretisch-argumentativen Stellungnahme liefert, denn „ich sitze hier eigentlich nicht als Schulleiter, sondern als jemand, der auch irgendwann ´mal in die Schule gekommen ist“. Damit stellt er sich auf eine Ebene mit den Teilnehmenden des Erzählcafés und versucht seine Schulleiterrolle auszublenden. Er betont, dass er selbst zu den Teilnehmenden gehört und einen Perspektivenwechsel zu vollziehen hat: vom Schulleiter und Verantwortlichen zum biografischen Erzähler, ehemaligen Schüler und Teilnehmer. Schließlich geht es um ein Thema, zu dem alle Anwesenden etwas zu berichten haben. Um das Wort nun an die Moderatorin zu übergeben und einen inhaltlich sinnvollen Übergang zu ermöglichen, fragt Herr M. nach der Dauer der Veranstaltung. Die Moderatorin gibt den Zeitrahmen vor und unterstreicht damit ihre Bereitschaft die Leitung zu übernehmen. Noch einmal ergreift Herr M. nun das Wort, da er sich noch bei den Senior/innen für deren Teilnahme bedanken will. Indem er die Erfahrenheit der älteren Generation betont, möchte er wiederum Achtung bekunden und integrieren. Mit dem dann folgenden Ausspruch „Punkt“ ruft er sich selbst zur Ordnung, versucht sich in seinem Redefluss zu zügeln und übergibt nun endgültig die Verantwortung an die studentische Moderatorin. Diese unterstreicht durch ihr „Dankeschön“, dass sie den Part des Schulleiters jetzt für beendet hält und ihm nun die Leitung abnehmen wird. Sie bemüht sich in ihrer eigenen Begrüßung durch persönliche Anrede der Kinder („Ihr“) und höfliche Anrede der Erwachsenen („Sie“) alle Anwesenden einzubeziehen, wobei sie mehr zur vertraulichen Form tendiert und sich damit den Kindern
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stärker zuwendet und zudem die Gleichstellung der Teilnehmenden im Erzählcafé betont. In der Anfangssequenz des Erzählcafés handelt die vermittelnde Generation Verantwortlichkeiten und Rollenbeziehungen im Arbeitsprozess aus. Der Schulleiter zeigt sich als Professioneller, übernimmt die Eröffnung der Situation und fordert dann Kompetenz und Verantwortung von der Studentin ein. Die Studentin handelt angemessen, indem sie sich zunächst zurückhält und dann die Leitung des Erzählcafés kompetent übernimmt. Insgesamt zeichnen sich Anfangssituationen durch Unsicherheiten und komplexe Anforderungen aus. Dies gilt für die in diesem Erzählcafé thematisierte biografische Situation des Schulanfangs ebenso wie für die hier dokumentierte und analysierte Einstiegssequenz. 4
Das Erzählcafé als Methode zur Stärkung sozialer Kompetenzen von Kindern und Förderung von Reflexions- und Handlungskompetenz in der Lehrerbildung
Für die beteiligten Kinder wird im Erzählcafé die Thematisierung „überindividueller“ Erfahrungen möglich und sie können sich als Angehörige einer Generation wahrnehmen. Kinder lernen von Geburt an in intergenerativen und generativen Bezügen. Im sozialen Dialog und ko-konstruktiven Prozess findet Bildung statt. Im „Erzählcafé“ wird Interaktion der Generationen gewissermaßen inszeniert und so als bewusstes Erfahrungsfeld geöffnet. Kommunikative und kooperative Anforderungen sind zu bewältigen. Neben interaktionalen kommen auch kulturelle und partizipatorische Dimensionen von Bildungsprozessen zum Tragen. Das Erzählcafé trägt darüber hinaus zur Ausbildung und Festigung von Schlüsselqualifikationen wie Erzählen, Zuhören, Diskutieren und sich Ausdrücken bei. Es stellt eine authentische Situation her, in der die eigene Meinung mit anderen Stellungnahmen verglichen und relativiert werden kann. In den Erzählcafés müssen die Kinder lernen ihren eigenen Standpunkt zu vertreten, damit eine Abgrenzung zu den anderen Generationen überhaupt möglich wird. Sie müssen ihre Erfahrungen anschaulich beschreiben können, um ein besseres Verständnis für ihre Sichtweisen zu erreichen. Durch den Umgang mit alten Menschen werden zudem soziale Kompetenzen gefördert. Ferner können Kinder in den Erzählcafés die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer unabhängig von Rollenzuschreibungen wahrnehmen, nämlich als Personen mit eigener Vergangenheit und Kindheit. Nicht zuletzt stellen Erzählcafés einen Beitrag zum historischen Lernen dar.
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Für die beteiligten Studierenden, Lehrerinnen und Lehrer sind Erzählcafés Veranstaltungen der Lehrerbildung und dienen der Förderung professioneller Kompetenzen, weil sie die Reflexion des Verhältnisses von vermittelnder und aneignender Generation anbieten. Sie können dazu beitragen Gemeinsamkeiten zu entdecken, Unterschiede zu konstatieren, Einstellungen oder auch Vorurteile zu erkennen, Pauschalisierungen zu vermeiden und neue Perspektiven des Verstehens zu erschließen. In unseren Erzählcafés wurde deutlich, dass die Gesprächsrunden insgesamt auf Verständigung angelegt waren und „intergenerative Nähe“ angestrebt wurde (vgl. Zollitsch 2005: 105). Für die mittlere Generation, die professionell mit Kindern arbeitet oder – im Fall der Studierenden – arbeiten möchte, bieten Erzählcafés zu Themen der Kindheit die Möglichkeit, Schülerinnen und Schüler als Kinder mit eigener Generationenlagerung wahrzunehmen und als eigenständige Generation mit ebenfalls spezifischen Spielen, Freizeitbeschäftigungen und Ansichten oder Verhaltensweisen anzuerkennen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für einen sinnvollen Umgang mit der Tatsache des gesellschaftlichen Wandels und für einen gelungenen Dialog der Generationen. Da im Kontext ihrer bilateralen Position eine Identifizierung der mittleren Generation mit der Kindergeneration möglich ist und die Differenz in den Erfahrungen der unterschiedlichen Generationen sehr deutlich wird, können Erzählcafés dazu beitragen, die einseitig negativen Betrachtungsweisen von heutigen Kindheiten durch die Erwachsenengeneration zu überwinden. Vor diesem Hintergrund kann mehr Bewusstsein für die Aufgaben der mittleren Generation im Hinblick auf pädagogische Vermittlungskompetenz entstehen. Nicht zuletzt erfolgt für die vermittelnde Generation eine Konfrontation mit den eigenen subjektiven Erfahrungen, Wünschen und Vorstellungen. Die Prägung der eigenen Generation wird in Erinnerung gerufen und damit der Hintergrund des doppelten Blicks auf Kinder, der immer vergleichend und wertend zwischen eigener und heutiger Kindheit pendelt (vgl. Fuhs 1999; Heinzel 2002, 2005 a,b). Die Reflexion dieser spezifischen Herausforderung erscheint mir wesentlich, um in komplexen pädagogischen Situationen angemessen, verantwortlich und kompetent handeln und pädagogische Generationenbeziehungen produktiv gestalten zu können. Erzählcafés zum Thema Kindheit können damit einen Beitrag zur Förderung von Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz in der Lehrer/innenbildung leisten.
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Literatur Alexi, Sarah (2004a): Generationen im Gespräch – Dokumentation und Auswertung von Erzählcafés zum Thema „Spielen in der Kindheit“. Kassel (unv. Examensarbeit). Alexi, Sarah (2004b): Kindheit früher und heute. Das Erzählcafé als Treffpunkt verschiedener Generationen. In: Polis. Report der Vereinigung für politische Bildung, 3, 16-17. Fuhs, Burkhard (1999): Kinderwelten aus Elternsicht. Zur Modernisierung von Kindheit. Opladen: Leske + Budrich. Heinzel, Friederike (2002): Der Blick auf die Kinder und der Blick zurück. In: Grundschulunterricht, 9, 9-12. Heinzel, Friederike (2005a): Kindheit irritiert Schule – Über Passungsversuche in einem Spannungsfeld. In: Breidenstein, Georg/Prengel, Annedore (Hrsg.): Schulforschung und Kindheitsforschung – ein Gegensatz? Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 37-54. Heinzel, Friederike (2005b): Traktat vom schwierigen Kind oder pädagogischer Optimismus? In: Heinzel, Friederike/Geiling, Ute: Demokratische Perspektiven in der Pädagogik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 114-125. Heinzel, Friederike/Alexi, Sarah (2006): Generationendifferenz als Anlass pädagogischer Selbstreflexion. In: Dauber, Heinrich/Zwiebel, Ralf (Hrsg.): Professionelle Selbstreflexion aus pädagogischer und psychoanalytischer Sicht. Bad Heibromm: Klinkhardt, 191-202. Kleinow, Jana (2005): Zur Gesprächsstruktur des Erzählcafés an der Grundschule U. Kassel (unv. Examensarbeit). Liebau, Eckart (1997): Das Generationenverhältnis. Über das Zusammenleben in Familie und Gesellschaft. Weinheim, München: Juventa-Verlag. Lüscher, Kurt/Schultheis, Franz (Hrsg.) (1993): Generationenbeziehungen in 'post-modernen' Gesellschaften. Konstanz: Universitätsverlag. Mannheim, Karl (1964): Das Problem der Generationen. In: Mannheim, Karl: Wissenssoziologie, Soziologische Texte 28. Neuwied (ursprünglich: Karl Mannheim: Das Problem der Generationen. Kölner Viertelsjahreshefte für Soziologie 7 (1928), 157-185; 7 (1928), 309-330). Meyer, Regina/Bosse, Susanne (2002): Das Göttinger Erzählcafé. Eine Möglichkeit des öffentlichen Erinnerns. In: Heinzelmann, Martin (Hrsg.): Facetten des Alters. Gestern – Heute – Morgen. Ein Göttinger Stadtlesebuch. Göttingen: Die Werkstatt, 157-170. Sünkel, Wolfgang (1996): Der pädagogische Generationenbegriff. Schleiermacher und die Folgen. In: Liebau, Eckart/Wulf, Christoph (Hrsg.): Generation. Versuche über eine pädagogisch-anthropologische Grundbedingung. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 280-285. Wiemann, Anke (2005): Was macht für Kinder oder Erwachsene ein Erlebnis zu einem erzählenswerten Erlebnis? Analyse eines Erzählcafés zum Thema Ponies und Pferde. Kassel (unv. Examensarbeit). Zeybek, Durdane (2006): Zettelwirtschaft – Ein Erzählcafé zum Thema "Schule - früher und heute". In: Grundschulunterricht, 1, 45-46. Zollitsch, Schulamith Ruth (2005): Einstellungen und Vorurteile der Generationen zueinander – Untersuchung ausgewählter Erzählcafés. Kassel (unv. Examensarbeit).