Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 531 Die Chailiden
Aufstand der Immunen von Peter Griese
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 531 Die Chailiden
Aufstand der Immunen von Peter Griese
Atlans Kampf um die Befreiung der Chailiden
Seit Dezember des Jahres 3586, als die SOL unter dem Kommando der Solgeborenen auf große Fahrt ging und mit unbekanntem Ziel in den Tiefen des Sternenmeeres verschwand, sind mehr als zweihundert Jahre vergangen, und niemand hat in der Zwischenzeit etwas vom Verbleib des Generationenschiffs gehört. Im Jahr 3791 ist es jedoch soweit – und ein Mann kommt wieder in Kontakt mit dem verschollenen Schiff. Dieser Mann ist Atlan. Die Kosmokraten entlassen ihn, damit er sich um die SOL kümmert und sie einer neuen Bestimmung zuführt. Gegenwärtig hat die SOL ihren Flug im Chail‐System unterbrochen. Atlan, Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch sind von Bord gegangen und auf der Welt der Chailiden gelandet, um das Rätsel des Volkes der Meditierenden zu lösen. Atlans Bemühungen sind anfänglich nicht gerade von Erfolg gekrönt, doch als auch noch YʹMan, der seltsame Robot von Osath, die SOL verläßt und auf Chail auftaucht, kommt Bewegung in die bislang stagnierende Situation auf dem Planeten, und viele Chailiden beginnen ihr Verhältnis zu den Roxharen mit anderen Augen zu sehen. Auch bei den Roxharen selbst zeichnet sich eine unerwartete Entwicklung ab – es kommt zum AUFSTAND DER IMMUNEN …
Die Hauptpersonen des Romans: YʹMan ‐ Ein Roboter erkennt sich selbst. Atlan ‐ Der Arkonide bemüht sich um die Schaffung einer Friedenszelle. Zayger und Empter ‐ Zwei immune Roxharen. Mussumor ‐ Oberhaupt der Uralten von Chail. Gurdonar ‐ Ein Uralter erweist sich als hilfreich.
1. Das Kastell lag in einer einsamen Waldgegend auf der halben Strecke zwischen der Nebenzelle Chail, wie die Blaue Stadt genannt wurde, und der Chailidensiedlung Ushun. Die umgebenden Bäume ragten höher empor als die Mauern, die das quadratische Bauwerk von allen Seiten dicht umschlossen. Der Pflanzenwuchs war so dicht, daß selbst aus unmittelbarer Nähe nicht zu erkennen war, daß hier ein ausgedehnter Gebäudekomplex angelegt worden war. Der dichte und verfilzte Wald erfüllte zwei Funktionen für die Erbauer des Kastells. Er ergänzte die schon kaum überwindbaren Mauern, so daß eine Flucht aus dem Kastell so gut wie unmöglich war. Weiter sorgte er dafür, daß das Kastell nur auf dem Luftweg erreicht oder verlassen werden konnte. Natürlich erhöhte auch das die Sicherheit, denn die Erbauer und Lenker des Kastells hatten dafür gesorgt, daß es keine Luftfahrzeuge in seinem Bereich gab. Der Bewachungsmechanismus bestand aus einer Maschine, die fest in das Kastell eingebaut worden war. Sie verfügte über Sensoren, die auf optischem und akustischem Weg den ganzen Bereich überwachten. Außerdem besaß die Maschine eine Handvoll beweglicher Einheiten. Sie sorgten in erster Linie dafür, daß die Gefangenen zu essen und zu trinken bekamen. Zayger befand sich seit gut drei Chail‐Jahren in dem Kastell. Er gehörte damit zu den Insassen, die am längsten hier waren. (Drei Chail‐Jahre entsprachen etwa neun irdischen Jahren). Nur der alte
Empter war vor ihm hier gewesen. Er galt als ein bißchen verrückt, aber selbst Zayger war sich nicht sicher, ob es sich dabei nicht nur um ein raffiniertes Spiel handelte, mit dem Empter die Überwachungsmaschine in Sicherheit wiegen wollte. Schließlich war es Empter gewesen, dem es gelungen war, eine funktionierende Nachrichtenverbindung zu einem Verbündeten in der Freiheit aufzubauen. Das änderte aber nichts daran, daß Zayger derjenige unter den Gefangenen war, der von allen als Führer anerkannt wurde. Zayger strahlte trotz seiner langen Gefangenschaft Aktivität und Zuversicht aus. Resignation kannte er nicht. Immer wieder munterte er die anderen dreizehn Insassen des Kastells mit seinen Worten auf. Dabei achtete er sorgfältig darauf, daß die Überwachungsmaschine nichts merkte. Als die beweglichen Sensoren der Überwachungsmaschine das Abendessen gebracht hatten, traf sich Zayger mit Empter in einer Nische der Innenmauer. Dieser Platz galt als sicher. Die Maschine konnte in ihn nicht einsehen. Auch Istera, eine nicht mehr junge Roxharin, gesellte sich unauffällig zu ihnen. Das Gespräch begann mit alltäglichen Dingen, wie es das eintönige Essen oder das Wetter auf dem Planeten Chail waren. Erst als man nach einer Weile sicher war, daß keine der beweglichen Sensoren in der Nähe waren, wurde das Thema auf das eigentliche Anliegen der gefangenen Roxharen gelenkt. Und hier gab es nur einen Gesprächsstoff. Die baldige Flucht! Zayger öffnete eine kleine Dose, die unauffällig an seinem linken Oberarm in dem dichten blauen Fell zu hängen pflegte. Er stellte sich so, daß auch jetzt von den Hauptgebäuden aus keine Beobachtung möglich war. In dem Behälter krabbelte ein Insekt von Fingerlänge. Es reckte seinen mit kurzen Fühlern versehenen Kopf in die Höhe, als es die kühle Abendluft spürte. »Ein ausgewachsenes Exemplar der endgültigen Generation«,
erklärte der Roxhare zufrieden. »Es hat alle Prüfungen bestanden. Die Zucht war erfolgreich. Auch alle anderen dieser verfressenen Tiere funktionieren einwandfrei. Sarax hat den Duftstoff fertig. Es könnte losgehen.« »Nein.« Der alte Empter schüttelte ablehnend beide Hände. Dazu fletschte er seine Schneidezähne, was in der Gestensprache der Roxharen eine klare Ablehnung bedeutete. »Warum nicht?« Aus Isteras Worten sprach die Ungeduld der langjährigen Gefangenen. Die Roxharin gehörte zu den seltenen Angehörigen ihres Volkes, die ein fast weißes Fell besaßen. Außerdem war sie ungewöhnlich klein. Ganze zwei Meter maß ihr Körper, der einen Menschen an den Anblick eines übergroßen Nagers erinnert hätte. Empter strich sich über sein struppiges Fell. »Ich habe noch keine Nachricht von draußen«, meinte er abweisend. »Natürlich würde auch ich lieber heute als morgen das Kastell für immer verlassen. Ich lege aber großen Wert darauf, nicht schon nach wenigen Stunden oder Tagen wieder in diesem gräßlichen Gemäuer zu landen.« »Wann willst du uns endlich sagen«, fragte Zayger, »wer der geheimnisvolle Partner ist, mit dem du in Verbindung stehst? Allmählich macht mich deine Geheimniskrämerei nervös!« »Du wirst es erfahren, wenn du ihn siehst, Zayger.« Der Alte gab ein paar besonders hohe Töne von sich, als ob er sich amüsieren würde. »Alles, was du über ihn wissen mußt, habe ich dir gesagt. Er ist ein Roxhare, der wie du und ich und alle anderen Gefangenen die Existenz des geistigen Faktors leugnet.« »Ich leugne die Existenz des geistigen Faktors nicht«, widersprach Zayger heftig. »Ich behaupte lediglich, daß er keinen Einfluß auf mich ausübt. Und daß ich die von ihm gesetzten Grenzen verlassen kann, ohne sterben zu müssen.« »Zwischen deiner und meiner Formulierung besteht kein wesentlicher Unterschied.« Empter winkte ab. Unterdessen schloß Zayger den Behälter mit dem Insekt wieder.
»Wie groß ist die Kolonie«, fragte Istera neugierig, »die du gezüchtet hast?« »Es sind mehrere tausend«, lautete die bereitwillige Antwort. »Natürlich habe ich die Fresser nicht gezählt, aber es sind genug, um eine mehrere Meter breite Schneise in die Mauern zu brechen.« »Ich halte nichts von dieser Idee«, zwitscherte Empter sanft. »Wenn wir die Mauern überwunden haben, stehen wir vor einem undurchdringlichen Wald. Da würden dir deine Fresser auch nicht mehr helfen, selbst wenn du Milliarden von ihnen hättest.« »Das behauptest du.« Zayger knurrte unwillig. »Nein, nicht ich. Es handelt sich um eine sichere Information, die ich von meinem Freund da draußen habe.« »Immer wenn du eine vernünftige Erklärung abgeben sollst«, brauste nun die Roxharin auf und unterstützte damit Zayger, »redest du dich auf deinen geheimnisvollen Informanten heraus. Ich glaube, du bist doch verrückt.« »Natürlich bin ich verrückt.« Wieder schickte Empter ein paar leise Töne aus, die den beiden Roxharen zeigen sollten, daß er sich amüsierte. »Ich glaube ja nicht an die Macht des geistigen Faktors!« »Du redest nur um die eigentlichen Probleme herum.« Empter spürte die Ablehnung, die ihm entgegenschlug. Auch die nach hinten gedrehten Ohren Zaygers unterstrichen dies. »Es ist ganz anders«, versuchte der Alte behutsam zu erklären. »Ihr laßt mich nicht darlegen, wie wir die Freiheit gewinnen können, weil ihr nur euren falschen Ausbruchsplan im Kopf habt. Es entspricht der Wahrheit, daß wir von einem undurchdringlichen Wald umgeben sind. Deshalb wäre es falsch, die kostbaren Tierchen, die Zayger in mühevoller Arbeit gezüchtet hat, sinnlos einzusetzen. Ohne einen Gleiter kämen wir nie von hier weg. Und den bekommen wir nur von meinem Freund.« »Du weißt«, lehnte Zayger ab, »daß das ein völlig unsinniger Plan ist. Jeder Gleiter würde von der Überwachungsmaschine sofort vernichtet werden. Nur offiziell von der Nebenzelle Chail
angekündigte Fahrzeuge haben eine Chance, hier zu landen.« »Was du sagst, Zayger, ist absolut richtig.« Der Roxhare mit dem blauen Fell blickte den Alten verwundert an. An seinen Augen war deutlich zu erkennen, daß er an Empters Verstand zweifelte. »Manchmal kommt ihr Jungen nicht auf die nächstliegende Lösung.« Empter hob seine schmalen Hände in die Höhe, als wollte er Zayger beruhigen. »Du mußt dafür sorgen, Junge, daß Sarax den Duftstoff, der die Freßgier weckt, nicht auf die Mauern sprüht.« »Nicht?« Wieder sträubte sich Zaygers Fell voller Ablehnung. »Worauf denn?« Empter deutete auf das Hauptgebäude in der Mitte des Kastells. »Dort steht die Überwachungsmaschine. Die müßt ihr euch als Ziel aussuchen. Wenn sie gefallen ist, kann auch ein Gleiter landen. Es muß natürlich alles genau zeitlich abgestimmt werden, sonst kommen die Abhängigen und machen den ganzen Plan zunichte.« Zayger blickte durch die Dämmerung auf das Haus aus mächtigen Steinen, das noch keiner von ihnen je hatte betreten können. Er schwieg und dachte über das nach, was der Alte gesagt hatte. Seine Ohren zuckten erst unentschlossen hin und her, dann drehten sie sich zustimmend nach vorn. »Die verflixte Maschine«, sagte er leise, »weiß ich, ob es sie wirklich gibt?« »Ich weiß es«, behauptete Empter selbstsicher. »Und das sollte uns genügen. Schließlich habe ich meine Informationen von draußen.« »Vielleicht ist er doch nicht so verrückt«, vermutete Istera. K Zayger deutete der Roxharin mit einer Handbewegung an, daß sie schweigen sollte. Er dachte angestrengt nach. »Wann kann der Gleiter hier sein?« frage er dann den Alten. »Du mußt es mir einen Tag vorher sagen«, erklärte Empter. »Diese Zeit brauche ich, um eine entsprechende Nachricht abzuschicken.« Zayger öffnete leicht seinen Mund. Das kräftige Gebiß aus zwölf großen und breiten Zähnen wurde sichtbar. Gleichzeitig senkte er
seinen Kopf. Das bedeutete Zustimmung. »Und der geistige Faktor?« wollte Istera wissen. »Wenn er von unserem Plan erfährt?« »Er kann ihn ruhig kennen«, antwortete Zayger grimmig. »Der geistige Faktor besitzt Macht über die Abhängigen, aber nicht über uns.« Seine kleinen, schwarzen Augen richteten sich auf Empter. »Schicke die Information sofort los. Morgen abend möchte ich in Freiheit sein.« Der alte Roxhare begann in seinem Fell zu kramen. Nach einer Weile brachte er ein kleines Flugtier zum Vorschein, an dessen Bein eine kleine Hülse hing. Behutsam öffnete er den Verschluß. Eine kaum daumengroße Kunststoffplatte wurde sichtbar. Mit einem Fingernagel ritzte er mehrere Zeichen in die kleine Platte. Dann verschloß er die Hülse wieder. Noch einmal blickte er sich vorsichtig um. Aus dem Hauptgebäude ertönte das Signal, das den Gefangenen bedeutete, daß der Ausgang beendet war. Das Flugtier glitt aus der Hand des alten Roxharen und zog rasch in die Höhe. Noch bevor es über die Mauern des Kastells glitt, setzten sich die drei in Richtung ihrer Unterkunft in Bewegung. »Dann bis morgen, Freunde«, sagte Zayger. * Obwohl ich im Augenblick mit keiner erkennbaren Aufgabe befaßt war, arbeiteten alle Systeme meines Körpers auf vollen Touren. Seit zehn Tagen weilte ich jetzt auf diesem eigenartigen Planeten, der von seinen eigentlichen Bewohnern Chail genannt wurde. Was ich in dieser kurzen Zeitspanne in Erfahrung gebracht hatte, war mehr als ich zu hoffen gewagt hatte. Es war aber auch mehr, als ich trotz der Hochgeschwindigkeitssysteme meines Körpers sofort
verarbeiten konnte, denn die letzten Rätsel über die Kultur und die Zivilisation der Chailiden lagen noch im Dunkeln. Mit den Roxharen sah es nicht viel anders aus. Aber ich mußte auch noch aus anderen Gründen äußerst wachsam sein. Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch waren sicher untergebracht. Sie ruhten in dem Quartier, das sie schon bei dem ersten Besuch in Ushun benutzt hatten. Der Katzer hielt sich ausgezeichnet, denn er spielte seit Tagen den Chail‐Angepaßten. Das bedeutete, daß er scheinbar nicht mehr mit dem Gedanken spielte, zur SOL zurück zu wollen. Bei dem Magniden war das gleiche Verhalten vorhanden, aber hier war es keine Schauspielerei. Kölsch war dem mentalen Netz der Roxharen tatsächlich erlegen. Und gerade darin lag eine weitere Gefahr. Trotz der grundfriedlichen Einstellung, die Wajsto Kölsch an den Tag legte, würde er keine Sekunde zögern, um sich mit den Roxharen in Verbindung zu setzen, wenn Atlan wieder auftauchen würde. Atlan, mein Sorgenkind! Was mochte er in den letzten Tagen erlebt haben? Ich schlich in der Nähe der Hütte des Uralten herum, denn nach meinen Berechnungen und Überlegungen konnte der Arkonide nur hier auftauchen. Eigentlich wußte ich nicht genau, woher ich diese Sicherheit nahm. Irgendein System in meinem robotischen Körper gab mir die Erkenntnis, aber nur die nahe Zukunft würde beweisen, ob ich recht behalten würde. Aber mich beschäftigten noch andere Probleme. Seit der letzten Nacht hatte mich eine seltsame Unruhe ergriffen. Es war, als ob in mir verborgene Informationen nach draußen drängten. Der Kontakt mit AiʹSynn hatte vermutlich eine Sperre in meinen Erinnerungssektoren gelockert. Vielleicht würde sie sich ganz lösen, und dann wäre die Entscheidung nah. Noch war ich auf Vermutungen und Spekulationen angewiesen. Aber die lange Strecke von Osath zu dieser Welt mußte einen
tieferen Sinn haben. Und in die Zeit, die in meinem Dasein vor der Ankunft auf Osath lag, mußte Licht gebracht werden. Ich war mir ziemlich sicher, daß alle notwendigen Informationen darüber in mir gespeichert waren, aber irgendwelche Sperren den Zugriff zu diesen Daten verhinderten. Eigentlich war es lächerlich. Ich, ein hinreichend perfekter Roboter, konnte nicht über das Wissen verfügen, das in mir ruhte. Meine Logiksektionen bestätigten mir immer wieder, daß mein Auftraggeber mit dieser Verschleierungsmaßnahme einen bestimmten Sinn verfolgt haben mußte. Ich sah also keinen Grund, mich zu beunruhigen. Natürlich besaß ich Gefühle, die letztlich auch nur künstlicher Natur sein konnten. Diese galt es zu zügeln, um die begonnene Aufgabe zu einem sinnvollen Ende zu führen. Die Roxharen hatten bis jetzt meine Roboternatur nicht erkannt. Auch das war ein Rätsel, das gelöst werden mußte. Sie nannten mich Mann in der Rüstung und gaben mir bei jeder passenden Gelegenheit zu verstehen, daß sie mich für ein organisches Lebewesen hielten. Zugegeben, äußerlich glich ich in vielen Punkten einem Roxharen ebenso wie einem Chailiden oder einem Solaner. Für letztere war ich ein Mißgebauter, eine robotische Fehlproduktion, der Welt Osath, die sie Mausefalle‐VII genannt hatten. Dort war ich vor Monaten auf Atlan und seine Begleiter gestoßen. Mit dem Chailiden Akitar, der jetzt noch auf der SOL weilte und die Rückkehr nach seiner Heimat herbeisehnte, war ich in das Hantelschiff der Solaner gelangt. Ich fühlte mich zu Atlan hingezogen, weil mein Auftraggeber mich so präpariert hatte. Welche Hintergründe es dafür gegeben hatte, konnte ich wieder nur ahnen. Aber es stand für mich fest, daß mein Auftraggeber (den ich sowenig kannte, wie ich meinen Auftrag genau kannte) Atlan auf irgendeine Weise kennen mußte. Sonst wäre ich niemals auf Osath abgesetzt worden, um dort die Rolle eines besonders cleveren Mißgebauten zu spielen. Noch etwas sprach für die enge Bindung an Atlan oder die
Solaner. Von allen Lebewesen, denen ich begegnet war, ähnelte ich ihnen am meisten. Ohne Zweifel war ich nach einem humanoiden Vorbild geformt worden. Ich verfügte über einen Rumpf, aus dem zwei Beine, zwei Arme und ein Kopf wuchsen. Meine stumpfgraue Außenhülle ließ bei den Solanern nie einen Zweifel daran aufkommen, daß ich ein Roboter war. Meine Menschenähnlichkeit wurde durch einen winzigen Umstand jedoch unterstrichen. Ein Solaner hatte mir vor wenigen Wochen gesagt, daß mein Name YʹMan in einer für ihn unverständlichen Bindung zu dem Begriff Mensch stand. Ausdeuten können hatte er diese Behauptung jedoch nicht. Wenn ich mein Gesicht in einem Spiegel mit dem eines Solaners verglich, so wurde mir diese Ähnlichkeit, die in meinem früheren Dasein überhaupt keine Rolle gespielt hatte, so richtig bewußt. Sämtliche Sinnesorgane, wie Mund, Nase, Augen und Ohren, waren genau nachgebildet worden. Unter der Stirn hatte man sogar die Wülste über der Augenpartie angedeutet. Natürlich war alles aus Metall, und die Funktionen dieser Körperteile ließen sich nicht immer mit denen der Menschen vergleichen. So konnte ich beispielsweise meine Augen nicht bewegen. Für meine Art der optischen Wahrnehmung war dies aber nicht erforderlich. Der Hauptunterschied zu den Menschen war meine Größe. Ich schaffte ganze 1,33 Meter, was der Körpergröße eines etwas zwölfjährigen Kindes von der SOL entsprach. Ich wußte, daß ich kein Mißgebauter von Mausefalle VII war, und Atlan hatte schon angedeutet, daß er dies ebenfalls vermutete. Was aber war ich dann? Ein Roboter – das war ich ohne Zweifel. Aber mein Dasein mußte einen Sinn haben. Keine Macht des Kosmos würde eine so komplizierte Maschine aus purem Zufall oder aus reiner Spielerei bauen. Meine Gefühle waren zu echt, als daß ich mich in diesem Punkt irren konnte. Ich hatte nie das Bedürfnis empfunden, meinen eigenen Körper zu erforschen. Schon deshalb wußte ich zu wenig über mich selbst.
Nun, da sich die vermuteten Sperren in meinen Speichern zu lockern begannen, war mein Interesse jedoch geweckt. Aus welchem Grund trieb mich in fast unregelmäßigen Zeitabständen etwas in das Vakuum? Automatisch tarnte ich diese Ereignisse als Unfälle. Der Grund dafür konnte nur sein, daß niemand etwas von dem erfahren sollte, was mir dort widerfuhr. Es war grotesk, denn ich selbst besaß nur Vermutungen über den Sinn dieser »Unfälle«. Welchen Sinn hatten die seltsamen hellen Würfel, die ich von Zeit zu Zeit aus meinem Körper absonderte? Sie erinnerten an die Konzentratwürfel der Solaner, aber eine einfache Überprüfung, die ich heimlich selbst durchgeführt hatte, hatte bewiesen, daß sie in ihrer chemischen Zusammensetzung nichts mit einem Nahrungskonzentrat gemeinsam hatten. Ich glaube, daß Akitar, der mir schon mehrmals heimlich gefolgt ist, einen oder zwei von diesen kleinen Würfeln gefunden hat. Anfangen konnte er damit bestimmt nichts. Was war, wenn ich mich einfach in der Person irrte, wenn ich Atlan zu helfen versuchte? So sehr unterschied er sich nicht von den anderen Solanern. Es war zum Verzweifeln, denn ich besaß keine Möglichkeit, um meine Programmierung auf ihren ursprünglichen Zustand und damit auf Richtigkeit zu überprüfen. Immer wenn ich bei meinen Überlegungen in die gefühlsmäßige Nähe dieser Verzweiflung geriet, kamen aus einem anderen Sektor meines Körpers beruhigende Impulse. Mein Erbauer schien mit Überlegungen gerechnet zu haben, wie ich sie jetzt anstellte. Das bedeutete wiederum, daß mit mir eigentlich alles in Ordnung sein mußte. Mit meinen eher tapsigen Schritten bewegte ich mich in der zunehmenden Dämmerung um die Hütte des Uralten herum, immer wachsam auf jedes Geräusch achtend. Ich wünschte mir, daß Atlan bald auftauchen würde, denn nur dann hatte ich einen neuen
Anstoß, der meine inneren Sperren weiter lockern würde. Meine Gedanken gingen noch einmal zurück in die Blaue Stadt und zu dem Roxharen AiʹSynn. Meine Erlebnisse dort hatten mir ein relativ klares Bild von den Roxharen und den Chailiden aufgezeigt. Jetzt brauchte ich einen kompetenten Gesprächspartner, um die Rätsel dieser beiden Völker zu lösen. Und um mein Rätsel zu lösen! fügte ich in Gedanken sofort hinzu. Fast hätte ich das leise Zischen aus der Hütte des Uralten überhört. Zu sehr war ich in meine Grübeleien versunken. Erst als das Geräusch eines in sich zusammenstürzenden Vakuums dumpf erklang, ruckte mein Kopf hoch. Jemand war per Teleportation in der Hütte des Uralten angekommen und wieder verschwunden. Vielleicht hatte er Atlan gebracht? Ich vernahm leise Schritte und verbarg mich hinter der Ecke einer anderen Hütte in unmittelbarer Nähe. Die Gestalt, die aus der dunklen Öffnung kroch, war der Arkonide. Noch bevor ich ihn ansprechen konnte, fühlte ich, wie die Sperre in meinem Innern wieder ein Stück zur Seite wich. Ich mußte Atlan etwas mitteilen! Aber ich wußte nicht, was das war. Noch nicht. Mein leiser Ruf schallte durch die Nacht. Atlan fuhr herum. »YʹMan!« Er konnte seine Überraschung im ersten Moment kaum verbergen. Mit mir hatte er bestimmt nicht gerechnet. »Ja, YʹMan«, antwortete ich. »Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch sind auch hier.« 2. Um ein Haar wäre der Ausbruchsplan schiefgegangen, noch bevor
Zayger alle Mitgefangenen informiert hatte. Sarax, der den duftenden Lockstoff für die Fresser zubereitet hatte, prahlte gegenüber einer jungen Roxharin so lautstark, daß der in der Nähe befindliche Außensensor der Überwachungsmaschine aufmerksam wurde. »Wiederhole, was du gesagt hast«, verlangte der plumpe Metallkasten. Seine äußere Form konnte Zayger aber nicht über die Reaktionsschnelligkeit und Wendigkeit der Tentakel hinwegtäuschen. »Ich habe gar nichts gesagt«, behauptete Sarax unsicher. Für Zayger stand fest, daß die Maschine einen Verdacht geschöpft hatte. Ausgerechnet jetzt befand er sich allein in der Nähe von Sarax und dessen Gesprächspartnerin. »Ich habe die Worte zerstören und Freiheit aufgenommen.« Der bewegliche Teil der Maschine rollte auf Sarax zu. »Damit ist ein begründeter Verdacht gegeben. Die Zentraleinheit hat eine Durchsuchung deines Körpers angeordnet.« Die Roxharin wich von Sarax zurück. Sie wollte mit der Durchsuchung nichts zu tun haben. Damit war Zayger auf sich allein gestellt. Sarax war zwar ein tüchtiger Chemiker, aber er hatte schon mehrfach seine Ungeschicklichkeit im Umgang mit der Maschine bewiesen. Zayger wußte, daß Sarax die beiden Beutel mit dem Duftstoff irgendwo an seinem Körper trug. Wo das war, war ihm unbekannt. Der Chemiker torkelte nervös vor der sich nähernden Einheit zurück. Er schickte einen hilfesuchenden Blick zu Zayger. Dabei sträubte sich sein braunes Fell. Zayger versuchte, irgendwo die beiden Beutel am Körper Saraxʹ zu erkennen, aber er fand keinen Hinweis. Schon fuhr die bewegliche Roboteinheit der Überwachungsmaschine ihre Tentakeln aus. Ein zweiter Roboter näherte sich schnell vom Hauptgebäude. Der erste Roboter umklammerte Sarax mit seinen langen
Tentakeln. Noch bevor der zweite mit der Absuchung des Körpers beginnen konnte, torkelte Empter aus einem Seitengang zwischen den Buschreihen hervor. Der alte, graupelzige Roxhare stieß schrille Schreie aus. Seine dünnen Arme ruderten durch die Luft. Der Mund war weit geöffnet, und sein Atem ging keuchend. »Er hat einen seiner Anfälle«, schrie Zayger die beiden beweglichen Einheiten der Maschine an. »Ihr müßt ihm helfen, sonst stirbt er.« Empter hatte in der Vergangenheit schon mehrfach ähnliche Anfälle gehabt. Sie waren immer glimpflich verlaufen, aber sie hatten mit dazu beigetragen, daß ihn die anderen Mitgefangenen (und wohl auch die Überwachungsmaschine) für nicht ganz zurechnungsfähig hielten. Früher hatte sich Zayger nie um diese Anfälle gekümmert. Nur einmal, so erinnerte sich der Roxhare mit dem blauen Fell, hatte Empter sein Interesse geweckt. Als der Anfall abgeklungen war, hatte der Alte damals behauptet, ein fremder Geist wäre in seinem Körper gewesen und hätte mit ihm gesprochen. Natürlich hatte ihm das niemand geglaubt, denn Empter galt nun einmal als schrullig oder verrückt. Gegenüber Zayger hatte der alte Roxhare später einmal geäußert, daß er nur über den Besuch des fremden Geistes den Kontakt zur Außenwelt hatte aufbauen können. Natürlich war das für Zayger, der im Grund ein nüchterner Roxhare war, zunächst auch nur Phantasterei gewesen. Aber eines Tages hatte ihm Empter den Beweis für den Kontakt geliefert, indem er ihm das kleine Flugtier vorgeführt hatte, das seine Botschaften zu dem Unbekannten brachte und von dort mit Antworten zurückkam. Zaygers Reaktion, sich in diesen Anfall des Alten einzumischen, war nur ein Instinktverhalten, mit dem er die beiden Beweglichen von dem armen Sarax ablenken wollte.
Die Roboter reagierten weder auf den torkelnden Empter, noch auf Zaygers Gebrüll. Sie kümmerten sich nur um Sarax, den sie mit den Tentakeln abtasteten. Der alte Empter stürmte schwankend auf die kleine Gruppe zu. Mit einer blitzschnellen Bewegung, die Zayger ihm nicht zugetraut hätte, wich er einem Tentakel aus, der ihn zurückhalten wollte. Er verkrallte sich für Sekunden in Saraxʹ Fell und stürzte dann jammernd zu Boden. Dort blieb er bewegungslos direkt zwischen den beiden Beweglichen liegen. Schaum bildete sich vor seinem breiten Mund. Langsam schlossen sich seine Augen, und der Körper gab noch ein letztes Zucken von sich. Zayger folgerte, daß es dem Alten wirklich schlecht erging. Er trat an den auf dem Boden verkrümmt kauernden Empter zu, aber die beiden beweglichen Einheiten hielten ihn zurück. »Hier findet eine Untersuchung statt«, belehrte ihn der eine Roboter, »in die sich niemand einmischen darf.« »Ich muß Empter helfen«, begehrte Zayger auf. »Ihr tut doch nichts für ihn.« »Es kommt eine andere Einheit«, wurde ihm erklärt, »die sich um ihn kümmert. Tritt zurück.« Zögernd kam Zayger der Anweisung nach. Die beiden Beweglichen setzten die Absuchung von Saraxʹ Körper fort. Aus dem Hauptgebäude näherte sich eine andere Einheit der Überwachungsmaschine. Es handelte sich um einen länglichen Kasten. Noch bevor sich der Kastenroboter dem bewegungslosen Alten genähert hatte, spürte Zayger einen sanften Aufprall an einem seiner Beine. Gleichzeitig bemerkte er, wie der Arm Empters, der unter dessen Körper verborgen war, kurz gezuckt hatte. Der Roxhare schaltete sofort. Er warf nur einen kurzen Blick zu Boden. Vor seinen Füßen lagen die beiden Beutel mit Saraxʹ Duftstoff. Empter hatte sie ihm unauffällig zugeworfen.
Das bedeutete aber auch, daß der Alte nur ein Schauspiel abzog. Er mußte Sarax, als er sich diesem torkelnd genähert hatte, die beiden Behälter blitzschnell aus dem Fell entfernt haben. Zayger tat so, als ob er interessiert die Durchsuchung von Sarax und den Abtransport des alten Roxharen beobachten würde. Dabei trat er unauffällig einen kleinen Schritt nach vorn, so daß die Beweglichen die im Gras liegenden Beutel auf keinem Fall mehr sehen konnten. Es dauerte eine Weile, dann zogen die Roboter ab. Zu Zaygers Enttäuschung nahmen sie Sarax und Empter mit. Der Alte gab immer noch keine Lebenszeichen von sich. Erst als Zayger ganz sicher war, daß ihn niemand mehr beobachtete, ließ er sich hockend im Gras nieder. Seine Hände glitten scheinbar zufällig durch das Gras. Kurz darauf hatte er die beiden Behälter in seinem blauen Fell an einem Oberschenkel verborgen. Langsam stand er auf und ging weiter. Zu dieser Zeit, es war kurz nach Mittag, hielten sich nicht alle Roxharen im Freien auf. Einige der Gefangenen zogen es vor, in der Unterkunft zu bleiben. Dort war die Überwachung durch in die Gebäudemauern eingebauten Sensoren noch stärker als in dem Außengelände. Er traf Istera, die unter einem Busch saß und die Augen geschlossen hielt. »Sie haben Sarax und Empter geschnappt«, sagte er leise. Das Recht, seinen Mitgefangenen diese Mitteilung zu machen, würde ihm die Überwachungsmaschine nicht verwehren. »Warum?« fragte Istera gelangweilt. Für Zayger war das ein Zeichen, daß sich die Roxharin beobachtet oder belauscht fühlte. Er beschränkte sich in dem, was er ihr sagte, auf das, was unverfänglich war und dem Sachverhalt insoweit entsprach, als dieser der Überwachungsmaschine bekannt sein mußte.
»Empter wird durchkommen«, tröstete Istera den heimlichen Führer der Gefangenen, als dieser geendet hatte. Sie wirkte dabei weiterhin nicht sonderlich interessiert, aber Zayger wußte, daß das nur Tarnung war. In Wirklichkeit wollte sie ihn trösten, denn sie hatte längst erkannt, daß Zayger an dem Alten hing. Schließlich setzte Zayger seinen Weg fort. Die Ausgangszeit war ohnehin bald abgelaufen. Als er noch einmal zu Istera zurückblickte, bemerkte er den Beweglichen, der reglos nur wenige Meter hinter dem Busch mit der Roxharin im dichten Gestrüpp stand. Die Maschine hatte also die Überwachung verstärkt. Für Zayger war dies ein Signal zu äußerster Vorsicht. Innerlich dankte er Istera, die ihn mit ihrem Verhalten geschickt gewarnt hatte. Sollte die Überwachungsmaschine einen konkreten Verdacht geschöpft haben? Zayger wußte es nicht, aber er mußte mit allem rechnen. Andererseits war sein Wille, das Kastell gewaltsam zu verlassen, so stark, daß er um keinen Preis von dem gefaßten Vorhaben ablassen würde. Die Abhängigen, die sich nicht an diesen Ort wagten, sollten ihn und die Immunen kennenlernen. Die Welt dort draußen war nicht in Ordnung. Nicht nur die Beeinflussung der Chailiden war Zayger ein Dorn im Auge. Viel schlimmer war für den Roxharen, daß er der festen Überzeugung war, daß sein eigenes Volk in eine ungewollte Anhängigkeit geraten war, die nichts Positives beinhalten konnte. Der geistige Faktor! Auch Zayger hatte ihn gespürt, als er noch auf Roxha gewesen war. Er hatte sich untergeordnet und die Grenzen, die der geistige Faktor im Leben der Roxharen gezogen hatte, anerkannt. Seine Immunität war erst auf Chail durchgebrochen. Sie war plötzlich aufgetreten. Für Zayger war es gewesen, als ob sich ihm unerwartet die Augen geöffnet hätten und als ob ihm jemand eine Fessel von seinen Gefühlen reißen wollte.
Wie seine Mitgefangenen hatte er völlig falsch reagiert. Er hatte seine Erkenntnisse herausgeschrien, weil er sich unter den vielen tausend Abhängigen isoliert gefühlt hatte. Gegen das Robotkommando, das ihn in einen verschlossenen Gleiter gesteckt hatte, hatte es kein Mittel gegeben. Erst hier im Kastell waren ihm die Zusammenhänge klar geworden. Er war nicht allein. Es gab andere Immune, die alle mehr oder weniger das gleiche Schicksal erlitten hatten. Zayger wußte nicht, wer oder was der geistige Faktor war. Es war ihm eigentlich auch gleichgültig, denn alles was er für diese Macht empfand, war ein Gemisch aus Abneigung und Haß. Er beschloß, noch vorsichtiger zu sein. Die beiden Beutel mit Saraxʹ Duftstoff mußten verschwinden. In sein Versteck, in dem er die Kolonie der Fresser aufbewahrte, konnte er sie unmöglich bringen. Die Nähe der Tiere zu dem Lockmittel würde zwangsläufig eine Katastrophe heraufbeschwören, denn unter dem Einfluß des Duftstoffs gab es kaum ein Material, das den gefräßigen Großinsekten widerstehen würde. Also suchte er sich einen unauffälligen Platz am Rand der großen Begrenzungsmauer. Dort legte er die beiden Behälter in einer Sandmulde ab. Dann deckte er ein paar Steine darüber. Er überprüfte das Versteck und fand, daß es unauffällig war. Danach begab er sich auf einem Umweg zum Eingang des Unterkunftsgebäudes, das neben dem Zentralgebäude mit der Überwachungsmaschine lag und etwa halb so groß war. Zayger war nicht überrascht, als im Eingang mehrere Tentakel nach ihm faßten und ihn festhielten. Er wehrte sich nicht gegen die Untersuchung seines Körpers, da er außer ein paar Nahrungsvorräten und erlaubten Gegenständen nichts Verdächtiges bei sich trug. Schließlich war die lästige Prozedur vorüber, und er konnte die
Gemeinschaftszelle aufsuchen. Er war froh, daß er so vorsichtig gewesen war und die beiden Behälter in dem Versteck untergebracht hatte. In der Gemeinschaftszelle erwarteten ihn die anderen. Seine Augen glitten unauffällig über die Gefangenen. Empter lag in einer Ecke auf einer Pritsche und stöhnte leise. Das bedeutete, daß er Zaygers Ankunft bemerkt hatte. Von Sarax fehlte jede Spur. »Sie haben ihn in ein anderes Gebäude gebracht«, erklärte ihm Istera. Zayger mußte so tun, als ob ihm das gleichgültig war. Seine Gedanken aber rasten. Der Plan war gefährdet. Die Überwachungsmaschine war durch irgendeinen Umstand besonders aufmerksam geworden, und das bedeutete Gefahr. »Wie soll es weitergehen mit uns?« fragte er laut. Das konnte alles mögliche bedeuten, und die verflixte Maschine sollte darüber nachdenken, was er wirklich wissen wollte. Die anderen Roxharen blickten Zayger schweigend und unsicher an. Keiner gab ihm eine Antwort. Er mußte an die Botschaft denken, die Empter an seinen Verbindungsmann geschickt hatte. Eigentlich ließ sich die Sache gar nicht mehr abblasen. Als ob der Alte seine Gedanken erraten hätte, räkelte er sich auf der Liege und sagte mit fester Stimme: »Es geht immer weiter mit uns. Und es geht so weiter, wie es begonnen hatte.« Zayger verstand den Sinn dieser Antwort. Auch die anderen mußten ihn verstehen. Seine Anwesenheit war für Empter ein Zeichen, daß die Maschine den Duftstoff nicht gefunden hatte. »Dann bis später«, meinte Zayger und strich sich über sein blaues Fell. »Ich lege mich etwas hin.« »Das ist gut, Junge.« Empter drehte sich zur Seite. »Ich muß mich
noch ausruhen. Wir sehen uns bestimmt heute abend.« Heute abend! dachte Zayger. * Atlan hatte natürlich nichts anderes im Sinn, als sofort zu Bjo Breiskoll und Wajsto Kölsch zu eilen. Ich hatte Mühe, ihn von diesem Unterfangen abzuhalten. Nur widerstrebend folgte er mir auf eine kleine, freie Fläche am Rand von Ushun, die mit niedrigen Büschen ringsum von den Hütten der Familien abgegrenzt war. »Du kannst nicht blindlings vorgehen«, belehrte ich ihn, als wir vor unerwünschten Zuhörern sicher waren. »Du würdest nur eine große Gefahr heraufbeschwören.« Der Arkonide starrte mich verständnislos an. »Also gut«, lenkte er schließlich ein. Sein Unwillen war ihm jedoch deutlich weiter anzumerken. »Was willst du? Worin siehst du eine Gefahr?« »Die Gefahr ist Wajsto Kölsch. Er ist dem Einfluß des mentalen Netzes der Roxharen völlig erlegen. Er hat nur noch eins im Sinn, nämlich auf diesem Planeten einen beschaulichen Lebensabend zu verbringen. Er hält dies für das natürlichste Bedürfnis und will, daß sich auch alle anderen Bewohner so verhalten. Breiskoll und ich haben uns ihm und den Roxharen angepaßt. Das heißt, wir spielen die vom mentalen Netz Beeinflußten. Dadurch lassen uns die Roxharen in Ruhe. Wenn du jetzt mit vollem Tatendrang hier aufkreuzt, würde Wajsto Kölsch nichts Eiligeres zu tun haben, als die Roxharen zu informieren.« Atlan nickte. Ich hatte ihn überzeugt. »Wir müssen ganz dringend unsere Erfahrungen über Chail und die Roxharen austauschen«, fuhr ich sogleich fort, denn eine innere Unruhe trieb mich an. »Es gibt Anzeichen, daß entscheidende
Änderungen unmittelbar bevorstehen.« »Woher willst du das wissen?« Atlan war mißtrauisch. »Ich habe in den vergangenen Tagen meine Erfahrungen gesammelt. Dadurch besitze ich ein recht gutes Bild über die Zustände auf diesem Planeten. Von den Uralten habe ich auch die wichtigsten Informationen über die Roxharen erhalten. Allerdings muß ich einräumen, daß vieles widersprüchlich erscheint.« Ich nickte, und dann begann ich zu erzählen, was ich seit meiner Ankunft auf Chail erlebt hätte. Atlan war ein aufmerksamer Zuhörer, der mich nicht einmal unterbrach. Seine Miene deutete jedoch nicht an, was er von dem hielt, worüber ich ihm berichtete. Zunächst erklärte ich ihm ganz sachlich, was sich zugetragen hatte. Ich sprach von der Ankunft und meinen Erlebnissen in der Blauen Stadt und über das mentale Netz, das ich für einen wunden Punkt in dem ganzen System Chail‐Chailiden‐Roxharen‐geistiger Faktor hielt. Auch die Fremden in dem blauen Turm wurden erwähnt. Als ich meinen zusammengefaßten Bericht beendet hatte, kam Atlan sofort auf das eigentliche Problem zu sprechen. »Welche Schlußfolgerungen ziehst du aus diesen Verhältnissen?« fragte er mich. »In aller Kürze gesagt«, antwortete ich ihm, »sehe ich die Sache so: Ich weiß, daß du im Auftrag der Kosmokraten in diesem Abschnitt des Universums unterwegs bist. Du kennst deinen Auftrag besser, als ich ihn kenne. Du sollst die SOL einer bestimmten Aufgabe zuführen. Das ist – zeitlich gesehen – deine letzte Aufgabe. Zuvor gilt es ein oder zwei andere Probleme zu lösen. Mit dem ersten Problem wirst du hier konfrontiert. Zwei mächtige Wesenheiten, die im Diesseits wirken, besitzen eigene Vorstellungen über die Zukunft dieses Raumabschnitts. Sie wirken beide auf die Völker und Welten ein, denen wir begegnen. Ohne Zweifel werden die Roxharen von dem, was sie geistigen Faktor nennen, beeinflußt. Sie selbst wiederum üben ihren Einfluß auf die Chailiden aus, indem sie diese auf andere
Welten transportieren, damit sie dort etwas erreichen, was die Absicht dieses geistigen Faktors zu sein scheint. Die meditierenden Chailiden bewirken, daß bei diesen Völkern die technische Entwicklung stagniert. Es sieht so aus, als wolle der geistige Faktor einen Sektor schaffen, in dem es keine Raumfahrt gibt.« »Bis jetzt folge ich deinen Vorstellungen«, räumte Atlan ein. »Nun aber zur Kernfrage. Es gibt zwei Wesenheiten, die ich als Superintelligenzen bezeichne. Die eine wirkt in meinem Sinn positiv, denn sie verlangt nach einer friedlichen Ordnung. Die andere verfolgt das Gegenteil.« Ich nickte nur, um ihn nicht zu unterbrechen. »Die Kernfrage ist doch wohl«, erklärte Atlan weiter, »in wessen Auftrag der geistige Faktor wirkt. Ist es die positive oder die negative Superintelligenz? Bei Wesen, die haushoch über uns stehen, ist im Ansatz nicht erkennbar, was sie wirklich wollen. Daher ist aus dem Roxharen‐Chailiden‐Problem auch nicht ablesbar, ob diese Entwicklung positiv oder negativ ist. Ich habe inzwischen meine klare Meinung dazu. Sie ändert sich auch nicht durch das, was du mir berichtet hast. Ich möchte aber genau wissen, wie du über alles denkst.« Ich schwieg und dachte nach. Atlan nutzte die Pause. Er trat einen Schritt auf mich zu und berührte meine Brust. »Und dann möchte ich noch etwas wissen«, gab er frei heraus zu. »In wessen Auftrag arbeitest du, YʹMan?« Diese Frage war ein Schock für mich. »Ich weiß es nicht«, stammelte ich verlegen. »Das ist barer Unsinn«, behauptete der Arkonide hart. »Du bist ein Roboter. Irgend jemand hat dich erbaut. Er hat dir etwas mitgegeben, was man allgemein als Programmierung bezeichnen könnte. Außerdem besitzt du spezielle Zusätze, die dir Gefühle verleihen. Du mußt dich doch kennen und wissen, wer dich geschickt hat.« Ich schüttelte traurig den Kopf und hoffte, daß die letzten Sperren
in meinen Speichern endgültig verschwinden würden. Mir war klar, daß ich diesem Mann helfen sollte, aber ich wußte nicht, warum es so war. »Es ist unmöglich, es dir zu erklären«, sagte ich ausweichend. »Versuche es«, beharrte Atlan. »Ich war jenseits der Materiequelle bei den Kosmokraten. Ich habe zwar keine Erinnerung an die Ereignisse dort, aber ich habe etwas mitgebracht, nämlich das Bewußtsein, eine positive Aufgabe zu erfüllen.« »Eine Aufgabe zu erfüllen«, echote ich. »Mir geht es nicht anders, nur weiß ich nicht, wer mir den Auftrag gegeben hat. Es ist alles zu verworren. Seit einiger Zeit spüre ich immer deutlicher, daß sich in meinen Speichern durch äußere Einflüsse gewisse Sperren lockern. So habe ich zum Beispiel erkannt, daß ich dir etwas mitteilen soll.« »Was?« Das eine Wort klang wie ein Peitschenhieb. Es klang in meinem Innern nach und setzte eine Antwort frei, die ich automatisch gab. »Du sollst in diesem Abschnitt des Kosmos für die Entstehung einer friedlichen Zone sorgen.« »Du sprichst von den Friedenszellen.« Ich zögerte einen Moment. Atlan trieb mich in seiner knappen Ausdrucksweise förmlich in die Enge. »So könnte man es nennen«, meinte ich matt. »So heißt es. Und dir ist das vollkommen bewußt.« »Nein, nein!« wehrte ich ab. »Du hast es aus mir herausgelockt. Mir war diese Aufgabe nicht bekannt.« »Du lügst!« »Vielleicht«, gab ich ehrlich zu. »Aber wenn ich lüge, dann geschieht es nicht bewußt. Es muß mit meiner Programmierung und meinem Auftraggeber zusammenhängen. Ich könnte dich gar nicht belügen, denn ich bin doch nur nach Osath geschickt worden, um dich zu treffen …« Erschrocken hielt ich inne, denn mein Bewußtseinssektor war von dem letzten Satz, der aus meinem Sprachgeber geflossen war, selbst
überrascht. Ich versuchte Atlan diesen Umstand zu erklären, aber er schüttelte nur den Kopf. »Woher will ich wissen«, fragte er mich dann, »ob ich dir überhaupt vertrauen kann?« »Habe ich dir das nicht zur Genüge bewiesen?« Ich empfand seine Frage als Beleidigung. »Vielleicht bist du nur eine Maschine«, fuhr der Arkonide fort, »die sich an meine Fersen heften mußte, um die Bildung der ersten Friedenszelle zu verhindern? Bis jetzt läuft alles nach deinem Plan, der vielleicht auch der Plan des geheimnisvollen geistigen Faktors ist. Es kann sich aber sehr bald alles ändern.« »Und du glaubst, daß ich dann dein Feind sein würde?« Ich war wirklich erschüttert. »Du darfst mich nicht falsch verstehen, YʹMan«, lenkte Atlan ein. »Aber wenn du objektiv bist, so mußt du zugeben, daß ich keinen Beweis für deine Aufrichtigkeit habe.« Was sollte ich ihm antworten? Ich wußte ja selbst nicht genau, woran ich war. Für mich stand aber fest, daß ich Atlan helfen sollte. Oder war ich nur ein Beobachter? Oder war ich in Wirklichkeit sein Gegner und wußte nur nichts davon? Für mich war die ganze Sache rätselhafter als für Atlan. Ich lenkte ihn auf unser ursprüngliches Thema zurück. »Die Chailiden, die auf andere Planeten gebracht worden sind«, sagte ich, »haben dort durchaus nicht immer das erreicht, was die Absicht der Roxharen gewesen ist. Es muß eine Vielzahl von Welten geben, auf denen sich eine brauchbare Synthese aus Technik und Meditation gebildet hat. Wenn es der Wille des geistigen Faktors war eine Zone ohne große Technik und ohne Raumfahrt zu schaffen, dann ist dieses Unterfangen an diesen Orten fehlgeschlagen.« Atlan nickte nur. Er ließ mich weitersprechen. »Aber auch die Roxharen haben Probleme mit sich selbst. Es gibt deutliche Anzeichen, daß sie überdrüssig werden. Seit 160 Jahren
verfrachten sie Chailiden auf andere Welten und sorgen für die Aufrechterhaltung des mentalen Netzes mit Hilfe einer hohen Technik und der meditierenden Uralten von Chail. Vielleicht bedeutet dein Hiersein und das der SOL nichts weiter, als daß ihr den Roxharen einen neuen Impuls geben sollt. Schließlich tun sie – oder der geistige Faktor – nichts anderes, als eine solche Friedenszelle aufzubauen. Keine Raumfahrt, keine Technik, kein Krieg.« »Deine Theorie hört sich gut an.« Ich hörte die Ablehnung aus seinen Worten heraus. »Diese Art von Friedenszelle, abgesehen davon, daß sie nicht richtig funktioniert, ist nicht in meinem Sinn. Ich sehe es anders. Die Roxharen manipulieren die Chailiden. Die Roxharen selbst stehen unter der Macht des Faktors X. Das alles stinkt zum Himmel, denn es beinhaltet keine Freiheit der Völker. Wir sind hier in eine Zone geraten, in deren Mittelpunkt die Welt der meditierenden Chailiden steht. Mit ihrer Hilfe und wahrscheinlich völlig gegen ihren wahren Willen, werden Hunderte von Völkern in ihrer freien Entfaltung behindert. Das ist keine Friedenszelle, sondern eine Vergewaltigung von intelligenten Wesen, die ohne Beispiel ist.« »Das kann ich mir nicht vorstellen«, widersprach ich. »Mir erscheint es wahrscheinlicher, daß die Roxharen in Wirklichkeit eine gute Tat vollbringen. Sie ahnen oder wissen es vielleicht nicht. Sie sind selbst in Zweifeln über die Möglichkeit einer echten geistigen Raumfahrt. Einerseits unterstützen sie die Chailiden bei solchen Versuchen, andererseits leugnen sie jede Möglichkeit dazu.« »Sie sind in ihrer Aufgabe unter dem Diktat des geistigen Faktors innerlich gespalten. Die geistige Raumfahrt ist durchaus möglich. In Hashilan habe ich von einem echten Fall erfahren. Allerdings kam der Chailide dabei ums Leben.« »Die Roxharen arbeiten für die positive Seite«, beharrte ich. »Es kann gar nicht anders sein. Daran ändert auch das mentale Netz nichts, das den Uralten etwas vorgaukelt.«
»Ich weiß nicht, wie du zu einer so unvernünftigen Ansicht kommen kannst«, antwortete Atlan. »Es muß mit deinen Vorstellungen von Freiheit zusammenhängen. Sie decken sich nicht mit meinen. Eine echte Friedenszelle kann nur von unabhängigen Völkern erfüllt sein.« »Vielleicht handelt es sich nur um eine Vorstufe«, versuchte ich ihn zu überzeugen. »Das wäre denkbar«, räumte Atlan überraschend ein. »Dann wird es höchste Zeit, daß das begonnene Werk vollendet wird.« »Und wie stellst du dir das vor?« Ich war wirklich neugierig. »Der positive Einfluß der Uralten muß bei anderen Völkern auf freiwilliger gegenseitiger Basis geschehen«, begann Atlan seinen Katalog von Forderungen aufzuzählen. »Das mentale Netz muß von den Chailiden genommen werden. Sie müssen erkennen, was sie mit ihren geistigen Kräften wirklich können und was sie nicht können. Die Roxharen müssen von Chail verschwinden, und schließlich muß unser Einfluß auf diese Völker entfernt werden.« Aus meinem Körper purzelte unauffällig ein kleiner heller Würfel zu Boden. Es war schon das drittemal, daß mir das heute passierte. Die Zeiten zwischen den Absonderungen wurden immer kürzer. Früher, so glaubte ich, hatte ich einmal gewußt, was das bedeutete. Jetzt wußte ich es nicht mehr. Aber wieder fühlte ich, daß die Sperre vor meinen Erinnerungssektoren ein Stück weiter gelockert wurde. »Ich muß dir noch etwas mitteilen«, sagte ich zusammenhanglos und rein instinktiv. »Du hast noch eine dritte Aufgabe. Du mußt dich innerlich auf das vorbereiten, was dich am Ende der langen Irrfahrt der SOL erwartet.« »Ich weiß«, antwortete Atlan ganz ruhig. »Die Ereignisse, die ich seit meiner Ankunft auf der SOL erlebt habe, haben mir gezeigt, daß ich eine Läuterung durchmachen muß, um für das bereit zu sein, was am Ende der Reise folgen wird.« »So ist es«, bestätigte ich ihm, obwohl ich dabei nicht meinen
Logiksektoren, sondern nur meinen Gefühlen folgte. »Bis du deine Aufgaben abgeschlossen hast, wird noch viel Zeit vergehen. Du solltest dich jetzt auf die aktuellen Probleme stürzen.« »Das möchte ich gern tun, YʹMan. Ich weiß nur nicht, was ich dabei mit dir anfangen soll. Unsere Meinungen über die Roxharen und Chailiden klaffen zu weit auseinander.« »Dann müssen wir einen Weg finden, um unsere Meinungsverschiedenheiten abzubauen«, schlug ich vor. Atlan sah mich erwartungsvoll an. »Wie stellst du dir das vor?« »Ich besitze Mittel und Möglichkeiten«, gestand ich ein, »einen Meditierenden dazu zu bringen, daß er seine wirklichen Erkenntnisse ausplaudert. Nur dadurch können wir das Wirrwarr um die Roxharen und Chailiden beseitigen. Dann dürfte eine Einigung zwischen uns auch kein Problem mehr sein.« »Die Meditierenden verhalten, sich gegenüber einem solchen Ansinnen stets ablehnend.« Ich spürte seine Skepsis sehr deutlich. »Du brauchst nur in meinen Vorschlag einzuwilligen«, erklärte ich ihm. »Den Rest besorge ich.« »Also gut«, sagte er. »Ein Versuch kann kaum schaden.« 3. Als die Zeit zum abendlichen Ausgang anbrach, hatten die Beweglichen Sarax immer noch nicht zurückgebracht. Zayger argwöhnte, daß die Überwachungsmaschine den Chemiker einem harten Verhör unterzogen hatte. Er wußte nicht, zu welchem Ergebnis dies führen konnte. Nur eins stand fest. Wenn Sarax den Ausbruchsplan auch nur zu einem Teil verraten hätte, dann wäre alles gescheitert. Sie würden wieder viele Jahre brauchen, um in aller Heimlichkeit einen neuen Versuch starten zu können. Zayger wollte nicht an diesen möglichen Verrat glauben. Es mußte
klappen, denn mehr als eine Chance besaßen sie nicht. Er bat seine Mitgefangenen, Empter auf seiner Liege ins Freie zu tragen. Einer der Roboter, der sich in dem Gemeinschaftsraum aufhielt, erhob dagegen keinen Protest. Zayger beobachtete die bewegliche Einheit mißtrauisch. Sie stand in ständiger Verbindung mit der Überwachungsmaschine und würde ihr jede verdächtige Reaktion unverzüglich mitteilen. Empter riskierte dennoch ein kurzes Augenzwinkern, als er auf der Liege an Zayger vorbeigetragen wurde. Der alte Roxhare hing mit gleicher Stärke an dem Ausbruchsplan wie Zayger. Nur wußte der nicht, wie es um den körperlichen Zustand des alten Graupelzes in Wirklichkeit bestellt war. Im Innenhof des Kastells verliefen sich die dreizehn Roxharen zwischen den kleinen Gebäuden und den Pflanzungen. Sie hatten noch Zeit. Zayger brauchte diese Zeit, denn noch stand nicht fest, wie man den Plan nun durchführen sollte. Da Sarax fehlte, mußte ein anderer den Duftstoff versprühen. Der Chemiker hatte immer behauptet, daß er sich dafür einen unfehlbaren Trick überlegt habe, den die Maschine in dem Zentralbau nicht durchschauen würde. Leider kannte Zayger diese Überlegungen nicht. Die Möglichkeiten, über Einzelheiten des Ausbruchs zu sprechen, waren zu gering gewesen. Er war gern bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Nur war das nicht möglich, weil praktisch gleichzeitig die Fresser aus dem Versteck herbeigeschafft werden mußten. Und das konnte nur er tun, weil niemand sonst wußte, wo er die Großinsekten verborgen hielt. Nach einer Weile suchte er wie zufällig die Nähe von Empter. Die anderen Roxharen hatten ihn mitten auf einer freien Fläche abgesetzt. Aus den jahrelangen Erfahrungen wußten die Gefangenen, daß dies ein relativ sicherer Ort war, um heimliche Gespräche zu führen, wenn keiner der Beweglichen in der Nähe
war. Gegen eine Beobachtung war man jedoch nicht geschützt. Als er neben der Liege stand, warf er einen kurzen Blick auf Empter. Der bewegte kaum sichtbar seine Lippen. »Gib mir das Zeug«, flüsterte der Alte. Zayger ließ sich nicht anmerken, daß er die Worte verstanden hatte. Er setzte seinen Weg mit gespielter Interesselosigkeit fort. Die Sonne Guel neigte sich langsam dem Horizont zu. Zayger wählte seinen Weg so, daß die Beweglichen nichts Verdächtiges dabei empfinden konnten. Schließlich erreichte er die Stelle, an der er die beiden Behälter mit Saraxʹ Duftstoff versteckt hatte. Er atmete erleichtert auf, als die Steine unverändert an der alten Stelle lagen. Da dies ein Platz war, der wegen der Pflanzungen nicht vom Hauptgebäude aus eingesehen werden konnte, war er relativ sicher. Roboteinheiten waren nicht in der Nähe. Er bückte sich rasch und nahm die beiden Beutel auf. Sofort hing er sie an eine Schlaufe an der rechten Seite seines Gurtes, der selbst unter dem dichten blauen Fell kaum erkennbar war. Dann machte er sich auf den Rückweg. Er hielt bei Istera an, die ihm zufällig begegnete, und verwickelte die Roxharin in ein kurzes Gespräch. Da er ziemlich laut redete, tauchte auch sofort einer der Beweglichen auf. Erst als dieser von der Belanglosigkeit der Unterhaltung überzeugt war, trollte er sich wieder. Dennoch wartete Zayger noch eine Weile ab, um nicht den geringsten Verdacht zu erwecken. Istera begleitete ihn noch ein Stück und nahm dann einen anderen Weg. Alles sah ganz normal und harmlos aus. Bei Empter standen zwei andere Gefangene. Zayger stutzte erst einen Moment, dann sah er den Vorteil der Situation. Er ging auf die kleine Gruppe zu. »Heh, Freunde«, rief er laut, »was gibt es zu erzählen? Ich schlafe vor Langeweile fast ein.« Er versetzte dem einen Roxharen einen heftigen, aber dennoch
freundschaftlichen Stoß mit dem linken Arm. Gleichzeitig glitt seine rechte Hand an die Hüfte und löste die beiden Beutel. Empter reagierte ganz ausgezeichnet. Er fing die Beutel auf und verbarg sie an seinem Körper. Die beiden anderen Roxharen verwickelten Zayger sofort in ein Gespräch. Die bewegliche Roboteinheit, die sich rasch näherte, hörte nur etwas von einem neuen Spiel, das die beiden erfunden hatten, und das sie Zayger jetzt beibringen wollten. Dabei entfernten sich die drei Gefangenen von Empter. Der Bewegliche blieb ganz in der Nähe stehen und hörte aufmerksam zu, wie einer der Roxharen das Spiel erklärte. Dadurch wurde jede Aufmerksamkeit von Empter abgelenkt. Als die Roboteinheit schließlich verschwand, sagte Zayger leise: »Bleibt in meiner Nähe. Ich brauche zwei Helfer.« »Du hast gewonnen, Zayger«, brüllte der eine Roxhare und gab damit unverfänglich sein Einverständnis. Die Geduld des blaupelzigen Roxharen wurde noch auf eine harte Probe gestellt. Er wußte nicht, was Empter tun würde. Von Zeit zu Zeit warf er dem Alten auf der Liege einen kurzen Blick zu, aber dort rührte sich nichts. Die Zeit des abendlichen Ausgangs neigte sich allmählich dem Ende zu. Die Schatten der Nacht von Chail griffen nach dem düsteren Gemäuer des Kastells. Dann endlich bemerkte Zayger das kleine Flugtier, das im Schatten eines dichten Baumes nach unten glitt und in Empters Hand landete. Um kein Risiko einzugehen, zügelte Zayger sein Verlangen und blieb in sicherer und unauffälliger Entfernung von der Liege. Ein Signal ertönte aus dem Zentralgebäude und verkündete, daß die letzte Phase des Ausgangs begonnen hatte. Kaum war der Ton verklungen, da drang ein urweltlicher Schrei durch die Abenddämmerung. Zayger brauchte einen Moment, um als Urheber des Schreis Empter zu erkennen.
Sofort eilten mehrere der Beweglichen und die meisten Gefangenen herbei. Empter schrie ohne Unterlaß und krümmte sich dabei auf seiner Liege, als ob er eine unsichtbare Fessel zerreißen wollte. »Hierbleiben!« zischte Zayger seinen Gesprächspartnern zu, die auch zu dem Alten laufen wollten. Plötzlich sprang Empter auf. Er reckte sich zur vollen Größe und richtete seine Arme auf den Zentralbau. »Du wunderbare Gottheit der Ruhe und Seligkeit«, schrillte seine Stimme überschlagend. »Wir danken dir für deine Güte. Laß dich segnen.« Er schritt erhaben auf das Zentralgebäude zu, wobei er immer schneller wurde. Sein Gang war eckig und ungelenk, als ob er eine Marionette wäre. Dabei brüllte er unablässig wilde Lobeshymnen vor sich hin, in denen er die Überwachungsmaschine als Segen der unterwürfigen Gefangenen bezeichnete. Die Beweglichen warteten ab, denn sie kannten ähnliche Anfälle des alten Roxharen. Nun war eine andere Einheit zuständig, und die näherte sich auch schon aus einem der Nebengebäude. Empter erreichte den Zentralbau. Mit einem letzten Aufstöhnen und dem Schrei: »Lebe für immer, die himmlische Maschine!« warf er sich mit ausgestreckten Armen zu Boden. Kaum jemand bemerkte, wie er dabei in einem hohen Bogen zwei Behälter auf das Gemäuer warf, wo diese zerplatzten. Dann war die für Empters Anfälle präparierte Einheit zur Stelle und nahm den Alten in einem Netz fest. »Kommt!« zischte Zayger seinen Begleitern zu. Die beiden Roxharen folgten ihm wortlos in das nahe Buschwerk. Über einen Trampelpfad gelangten sie an ein Stück Mauer, das vor Zaygers Zeit als Gefangener einmal einen Zweck erfüllt hatte. Zu dritt schoben sie schnell den Felsbrocken zur Seite, auf den Zayger deutete. Dahinter kamen drei stählerne Abfalltonnen zum Vorschein.
»Herausheben und umkippen«, befahl der Roxhare. »Und dann nichts wie weg.« Diese Arbeit war schnell durchgeführt. Mehrere Zehntausend der Großinsekten ergossen sich über den Boden. Im gleichen Augenblick erklang durch das Kastell das Signal zur Beendigung des Abendausgangs. Auf getrennten Wegen kehrten die drei Gefangenen zum Unterkunftsgebäude zurück. Zayger erblickte dort Empter, der sich noch im Netz des Roboters befand. Der Alte wirkte wieder völlig normal. Er setzte dem Beweglichen gerade auseinander, daß sein Anfall vorüber sei und daß er in Ruhe gelassen werden möchte. Zayger nickte Empter kaum sichtbar zu. Schließlich öffnete die Einheit das Netz und ließ den alten Roxharen frei. »Jetzt brauchen wir nur noch zu warten«, verkündete Empter laut. Ein anderer Beweglicher fragte sofort, was der Alte damit meinte, aber Empter gab der Maschine keine Antwort. Bevor sie in das Gebäude gingen, warfen Zayger und Empter einen vielsagenden Blick auf das Gemäuer, in dem die Überwachungsmaschine untergebracht war. »Ich habe keine der Sensoren getroffen«, flüsterte Empter zufrieden. »Sie hat es nicht einmal gemerkt. Es kann nicht lange dauern, bis die Fresser da sind.« »Was flüsterst du da?« bellte ihn einer der Beweglichen an. »Ich brauche noch einen Moment frische Luft«, antwortete Empter. »Bitte gewähre mir eine kurze Zeitspanne und einen Begleiter, falls mir übel werden sollte.« Der Bewegliche zögerte einen Moment mit der Antwort. »Nun sag schon etwas«, verlangte Empter. Das einzige Licht an der Oberseite des Roboters begann zu flackern. Der Bewegliche drehte sich einmal im Kreis, dann erlosch die Lampe und die Maschine stand still. »Komm!« Empter faßte Zaygers Hand und zog ihn zurück zum
Eingang des Gebäudes. Die beiden Roxharen beachteten den Beweglichen nicht und stürmten ins Freie. Die Dunkelheit hatte sich noch nicht ganz über die einsame Landschaft gesenkt. Von dem Zentralgebäude stand nur noch die Hälfte. Überall knirschte und knisterte es. In einem wilden Gewimmel kletterten die Großinsekten durch das zerfressene Gemäuer. Durch den Duftstoff gereizt, machten sie vor nichts halt. Die anderen Gefangenen kamen ebenfalls zu Zayger und Empter. Staunend betrachteten sie, wie die kleinen Fresser in rasender Geschwindigkeit das Gebäude bis auf den Grund vernichteten. Von der Maschine blieb nichts übrig. Als sich die Lawine der sich ständig vermehrenden Insekten dem hinteren Teil des Gemäuers näherten, erklang ein schauriger Schrei. »Sarax«, sagte Zayger matt. »Er ist das Opfer, das wir bringen mußten.« »Wie soll das weitergehen?« Istera drängte sich an Zaygers Seite. »Die Fresser vernichten alles. Sie werden auch noch über uns herfallen.« »Nein«, beruhigte der Roxhare die um ihn herumstehenden Gefangenen. »Soweit braucht es nicht zu kommen. Nach der zwanzigsten oder dreißigsten Vermehrungsperiode verlieren sie alle Lebenskraft und gehen ein. Bis es soweit ist, müssen wir uns in sicherer Entfernung von ihnen halten. Sie werden zuerst den Bereich vertilgen, der in der unmittelbaren Nähe des Reizstoffs liegt.« Empter stieß Zayger sanft in die Seite und deutete nach oben. Am nächtlichen Himmel schwebte ein großer Schatten über dem Kastell. Nun erblickten ihn auch die anderen Roxharen. »Mein Freund hat uns nicht im Stich gelassen«, jubelte Empter. Während der Gleiter abseits des zerstörten Zentralgebäudes zu Boden sank, wandte sich der Alte an die Mitgefangenen. »Freunde«, sagte er weich. »Die Zeit der Isolierung ist vorbei. Jetzt beginnt die Phase des Kampfes. Haltet zusammen und hört auf
Zayger. Ich bin ein alter Mann, aber ihr sollt wissen, daß meine Verrücktspielerei jetzt vorbei ist.« Sie drängten sich zu dem Gleiter hin, in dessen offenem Außenschott eine Gestalt sichtbar wurde. »AiʹSynn«, staunte Zayger. * Als ich Atlan sagte, daß ich bereits einen Uralten aus Ushun für unser Vorhaben ausgewählt hatte, wurde er wieder mißtrauisch. Vielleicht merkte er zu deutlich, daß ich eine bestimmte Absicht verfolgte. Daß ich dabei von den gleichen Interessen geleitet wurde, die auch er verfolgte, glaubte er mir nicht so recht. Dennoch folgte er mir bereitwillig durch die kleinen Häuser der Chailidensiedlung. »Du hast mir bis jetzt verschwiegen«, lenkte ich ihn ab, »was dir auf Chail widerfahren ist. Mich würde das schon interessieren, denn es könnte mein Bild von den Roxharen und den Chailiden nur abrunden.« »Mit den Roxharen bin ich direkt kaum in Berührung gekommen«, antwortete der Arkonide. »Als ich Gefahr lief, von ihnen entdeckt zu werden, wurde ich von einer Uralten nach Hashilan per Teleportation entführt. Dort lernte ich die Zentrale der Uralten und alle ihre Probleme kennen. Oberhaupt der besonderen Uralten ist ein gewisser Mussumor, ein kluger Kopf, der nur das Beste für sein Volk will. Er hat aber Gegenspieler, die teilweise radikaler sind. Targar ist einer von ihnen, der mit den derzeitigen Verhältnissen sehr unzufrieden ist. Ein anderer namens Sandun will die Lehre der meditierenden Chailiden in reinster Form bewahren. Er ist der eifrigste Verfechter der geistigen Raumfahrt. Die Wahrheit ist, daß selbst die erfahrensten Uralten nicht beurteilen können, ob die geistige Raumfahrt wirklich möglich ist. Der Versuch, den man mit
dem jungen Zasvog durchführte, genügt nicht als Beweis, denn er fand dabei den Tod. Im Zug der internen Auseinandersetzungen in Hashilan hat mich Mussumor von dort wegteleportiert. Später hat er mich dann wieder nach Ushun gebracht. Es ist so, daß es auch bei den Chailiden gärt. Zu vieles in ihrem Leben wird gelenkt. Innerhalb dieses Volkes sind es die Uralten. Sie wollen zwar nichts Böses und gängeln ihre Angehörigen auch nicht. Dennoch nehmen sie ihnen einen Teil ihrer natürlichen Freiheit. All das geschieht aber letztlich nur aus zwei Gründen. Diese sind das Meditationsbedürfnis der Chailiden, an dem ich nichts Nachteiliges erkennen kann. Und es ist der steuernde Einfluß der Roxharen mit dem mentalen Netz und den auf andere Planeten transportierten Chailiden.« Ich fand das bestätigt, was ich über die Chailiden erfahren hatte. Atlan hatte also direkt die Spitze dieses Volkes besucht. Das war mehr oder weniger unfreiwillig geschehen. Darauf sprach ich ihn an. »Die Uralten wollten nicht«, erklärte er mir, »daß ich mit den Roxharen in Berührung kam. Sie wissen zwar auch nicht, was sie mit mir anfangen können, aber sie suchen nach einer Chance, aus ihrem Dilemma zu entfliehen. Daß sie dabei alle möglichen Wünsche in den Vordergrund stellen, ist nur natürlich. Daß sie so viele verschiedene Wünsche haben, kennzeichnet die verworrene Situation, in der sie stecken. Ich glaube fest daran, daß die Chailiden ein durch und durch positives Volk sind. Bevor die Roxharen zu ihrer Welt kamen, haben sie als ein geistig sehr hoch stehendes, aber dennoch rein naturverbundenes Staatengebilde existiert. In diesen Zustand sollte man sie zurückführen.« »Auch die Roxharen sind kein böswilliges Volk«, behauptete ich. »Selbst das, was sie mit den Chailiden tun, muß nichts Negatives sein.« »Ich kenne deine Meinung«, sagte Atlan kühl. Es war wohl besser für mich, nichts mehr zu diesem Thema zu
sagen, um ihn nicht noch mehr gegen mich aufzubringen. Außerdem näherten wir uns der Hütte, in der der Uralte, den ich für unser Experiment ausgewählt hatte, wohnte und meditierte. Der alte Mann hieß Gurdonar. Er gehörte zu einer der Familien von Ushun, aber er pflegte keinen engen Kontakt zu seinen Leuten. Ich fragte mich heimlich, ob ich Gurdonar aus diesem Grund ausgewählt hatte, aber ich konnte mir diese Frage nicht beantworten. Wieder spürte ich, daß mich irgend etwas leitete, was ich als Ersatz für einen passenden Ausdruck mit Instinkt bezeichnete. »Das ist die Hütte des Uralten Gurdonar.« Ich deutete auf das kleine Haus, das direkt unter einem weit ausladenden Riesenbaum stand. »Du warst schon einmal bei ihm?« fragte Atlan. Ich verneinte. »Bei meinem Rundgang heute nachmittag habe ich Gurdonar aus der Ferne gesehen. Er erschien mir für eine weitere Erforschung der Chailiden einfach geeignet. Vergiß nicht, daß ich es vorwiegend mit den Roxharen zu tun hatte.« »Und warum muß es gerade dieser Uralte sein?« Ich zögerte mit der Antwort, weil mir keine vernünftige Erklärung einfiel. »Vielleicht wäre jeder andere genauso gut geeignet«, meinte ich etwas matt. »Aber ich hielt Gurdonar einfach für die richtige Person.« »Von mir aus. Ich bin gespannt, wie du ihn zum Reden bringen willst.« »Du wirst es sehen und hören.« Ich war in diesem Punkt sehr zuversichtlich. Wir betraten leise die Hütte. Sie war äußerst spartanisch eingerichtet. Außer einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen und einer offenen Feuerstelle, in der die Glut längst erloschen war, erblickte ich nichts Nennenswertes im Licht einer einzelnen Kerze. Atlan trat auf eine einfache Blechschale, die er übersehen hatte. Es
gab ein klapperndes Geräusch auf dem harten Steinboden. Erschrocken hielt der Arkonide an und blickte entschuldigend zu mir herüber. »Er befindet sich im Zustand tiefster Meditation«, sagte ich ziemlich laut. »Da stören ihn Umgebungsgeräusche überhaupt nicht.« Gurdonar hockte in einer Ecke auf dem Boden. Seine Beine waren ebenso wie seine Arme verschränkt. Der Kopf blickte geradeaus, und die Augen waren halb geöffnet. »Wir können uns also ungeniert unterhalten«, meinte Atlan etwas sarkastisch. »Nun zeige du mir, wie du den Alten dazu bringen willst, daß er unsere Fragen beantwortet.« Ich hob eine Hand, um Atlan anzudeuten, daß er sich gedulden solle. Dann holte ich die kleine Phiole hervor und blickte prüfend auf den flüssigen Inhalt. »Was ist das?« fragte Atlan. »Wo hast du das her?« Ich hielt erschrocken inne, denn ich sah mich außerstande, diese Fragen zu beantworten. »Von Osath«, antwortete ich schließlich. Das war eine Lüge, aber die Wahrheit konnte ich ihm nicht sagen, weil ich sie selbst nicht kannte. »Es gab dort die verrücktesten Roboter. Einer von ihnen beschäftigte sich mit Drogen und ähnlichen Dingen. Er schwor auf die Wirkung dieses Stoffes bei meditierenden Lebewesen aller Art. Sogar Hypnotisierte soll man damit zum bewußten Sprechen bringen können.« Atlan war mit dieser erfundenen Erklärung zufrieden. Ich öffnete das kleine Fläschchen und hielt es Gurdonar unter die Nase, wo ich es leicht hin und her bewegte. »Ein betäubender Geruch«, sagte Atlan. »Du wirst den Alten höchstens aus der Trance reißen.« Der Uralte zeigte auch nach mehreren Minuten keine Regung. Länger brauchte ich nicht zu warten. »Gurdonar«, sagte ich. »Hier spricht YʹMan. Hörst du mich?« Der alte Chailide bewegte kaum seine Lippen, aber er antwortete
klar und verständlich: »Ja, YʹMan, ich höre dich.« Das folgende Verhör führte zunächst ich allein. Der Uralte reagierte auf jede Frage. Allein die Art, in der er antwortete, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß er die volle Wahrheit sagte. »Wo befindest du dich?« begann ich. »Auf einer Welt namens Sonnenschein. Ich gehe über grüne Wiesen und schlendere durch bunte Wälder, in denen mich die Tiere zutraulich beobachten. Die Luft ist warm und streicht behutsam über meinen Körper. In der Ferne stehen kleine Häuser, die mich an meine Heimat Chail erinnern. Es wohnen liebe goldene Vögel darin, die nur darauf warten, daß ich ihnen die Wohltaten der wahren Meditation bringe. Wenn es Abend wird, werde ich zu ihnen gehen und …« »Das genügt.« Ich mußte Gurdonar unterbrechen, sonst hätte dieser wahrscheinlich ohne Unterbrechung weitergeredet. »Hast du früher schon andere Welten besucht?« »Natürlich. Es müssen über 1000 gewesen sein. Ich habe alles gesehen und erlebt, was in den unermeßlichen Weiten des Kosmos an Leben existiert.« Natürlich stimmten die Verhältnisse bei dieser Aussage nicht, aber Atlan und ich waren uns ja darüber im klaren, daß der Chailide nicht wirklich mit seinem Geist auf anderen Welten geweilt hatte. Es war nur das mentale Netz, das er und die anderen Uralten in seiner Erhaltung auch noch unterstützten, und das von einer gewaltigen Technik in der Blauen Stadt aufrechterhalten wurde. Es gaukelte ihm die fremden Planeten vor. Noch während ich darüber nachdachte, begann Gurdonar von allen möglichen Planeten zu erzählen, auf denen er mit seinem Bewußtsein angeblich gewesen war. »Das ist schlimm«, warf Atlan ein. »Der gute alte Kerl glaubt das wirklich, was er sagt.« Ich unterbrach den Meditierenden erneut, denn wir wollten
schließlich mehr über die Chailiden und ihr Verhältnis zu den Roxharen erfahren. »Viele von deinem Volk sind auf andere Planeten gebracht worden, um dort als Lehrer wirksam zu sein. Welche Nachrichten habt ihr von ihnen bekommen?« »Das ist ein wunder Punkt«, bekannte Gurdonar. »Es muß wohl tatsächlich so sein, daß die Roxharen viele Auserwählte zu anderen Welten bringen. Obwohl dies schon seit langer Zeit geschieht, ist es uns bis heute nicht gelungen, zu einem der Abgesandten einen geistigen Kontakt herzustellen. Auch meine Suche nach einer Welt, auf der ein Chailide wirkt, war bisher erfolglos. Mussumor sagt, daß es auch den anderen Uralten nicht gelingt. Es muß wohl daran liegen, daß es einfach zu viele Planeten mit intelligenten Lebewesen im Weltall gibt.« Der letzte Satz klang so, als ob er eine verzweifelte Ausrede darstellen würde. Ich hakte sofort nach. »Geben sich die Uralten auf Chail mit diesem fehlenden Kontakt denn zufrieden?« »Nein, aber was sollen wir anders tun? Wir suchen immer weiter. Einmal glaubte ich fast, Erfolg gehabt zu haben. Ich weilte in einem anderen Körper, der etwas Besonders und doch etwas Vertrautes darstellte. Der Kontakt war nicht von Dauer, denn der Körper stieß mich mit einem Befehl ab.« Ich verstand nicht, was der Uralte damit meinte. Daher ging ich nicht weiter darauf ein. »Beunruhigt euch denn nicht die Tatsache, daß die ausgeschickten Lehrer kein Lebenszeichen von sich geben?« »Die Unruhe bei den Uralten ist groß. Einige meinen, die Roxharen würden uns betrügen. Vielleicht, so sagen sie, verwenden sie die Abgesandten für ganz andere Zwecke. Das kann aber nicht der Fall sein, denn dann hätten sich viele von ihnen bei uns gemeldet. Da aber solche Kontakte, also von der anderen Seite aus, auch nicht beobachtet werden können, nehme ich an, daß die Lehrer in ihrer Aufgabe und der Meditation aufgehen. Sie werden Chail
nicht vergessen, aber es spielt in ihrem Leben dann keine dominierende Rolle mehr.« »Das sind doch nur Vermutungen!« Gurdonar zögerte einen Moment. »Das kann sein«, sagte er dann. »Ich weiß es nicht. Die Roxharen sagen, daß die Abgesandten ihre Aufgabe zum Wohl anderer Völker erfüllen. Für uns gibt es keinen Zweifel, daß sie die Wahrheit sagen, auch wenn die Roxharen für einen meditierenden Geist in der Regel unerreichbar sind.« Atlan gab mir zu verstehen, daß er den Uralten etwas fragen wollte. Ich überließ ihm das Gespräch. »Ich bin Atlan«, sagte er einfach. »Würdest du mir auch ein paar Fragen beantworten?« »Natürlich, Atlan. Ich habe von dir gehört. Mussumor und Sandun haben mir von dir berichtet.« »Gut. Du sagtest eben, daß die Roxharen in der Regel für euch unerreichbar sind. Was meintest du damit? Wo liegt die Ausnahme?« »Ich erwähnte«, erklärte der Uralte, »daß ich bei einer geistigen Reise meines Bewußtseins einmal einen Körper erreichte, der mir vertraut erschien und der mich dennoch abstieß. Dieser Körper gehörte einem Roxharen. Er unterschied sich jedoch von allen anderen Roxharen, die ich bisher kennenlernte. Der Unterschied lag in seinem Bewußtsein. Es ließ mich eindringen, aber es blieb mir dennoch völlig verborgen. Ich erfuhr nicht einmal den Namen dieses Roxharen. Er besaß eine starke Persönlichkeit, denn den Befehl, den er mir gab, konnte ich nicht verweigern. Ich habe lange darüber gegrübelt, wo ich diesem Roxharen begegnet sein könnte. Schließlich kam ich zu dem Schluß, daß es auf Chail gewesen sein muß, obwohl ich mein Bewußtsein weit hinaus in das All geschickt hatte und es nach allem, was wir wissen, auf Chail keine zugänglichen Roxharen gibt.« »Wie kamst du zu diesem Ergebnis?« wollte Atlan wissen. »Als ich im Körper des anderen war, spürte ich über dessen
Nervensystem die Umgebung. Sie war mir unbekannt, aber es war Chail.« »Welchen Befehl hat dir der Roxhare gegeben?« »Eine merkwürdige Sache«, gestand Gurdonar. »Der Wirtskörper verlangte von mir, in die Blaue Stadt zu gehen und dort einen Text in großen roxharischen Lettern an eine Mauer zu schreiben. Der Text lautete: Bilopi, ich bin hier.« »Du hast die Anweisung ausgeführt?« »Ja. Der Geist, der es mir befahl, war sehr stark.« Ich überlegte, was diese merkwürdige Geschichte bedeuten könnte, aber ich kam zu keinem Resultat. Bilopi, das war zweifellos ein Name. Aber ich wußte genau, daß ich ihn noch nie gehört hatte. Daß Gurdonar nur in einem Roxharenkörper auf Chail gewesen sein konnte, war logisch. Atlan und ich wußten ja, daß die geistigen Reisen der Bewußtseinsinhalte der Uralten nur scheinbar durchgeführt wurden. Sie landeten stets in dem mentalen Netz von Chail, das den Planeten gegen die ganze Umgebung abschirmte. Es war aber das erstemal, daß ich von einem Fall hörte, in dem ein Chailide in den Körper eines Roxharen eindringen konnte. Wahrscheinlich würde sich dieses Rätsel nie lösen. »Kommen wir noch einmal auf die Lehrer zu sprechen«, verlangte Atlan, »die von den Roxharen zu anderen Planeten verschickt werden. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie ausnahmslos davon absehen, sich noch einmal mit den Uralten auf Chail in Verbindung zu setzen.« »Auch für uns ist das ein Rätsel. Ich sagte ja schon, daß wir sehr beunruhigt sind. Vielleicht hindert das mentale Netz an einer Kontaktaufnahme von draußen, obwohl dies meines Wissens nach bei den technischen Anteilen, die die Roxharen beisteuern, nicht so sein dürfte.« »Du sprichst von der Technik der Roxharen«, staunte Atlan. »Das ist für euch doch ein Buch mit sieben Siegeln.« »Absolut nicht«, widersprach der Uralte ganz ruhig. »Wir sind
eben so veranlagt, daß wir auf technische Errungenschaften im täglichen Leben überhaupt keinen Wert legen. Das heißt aber nicht, daß wir, insbesondere die Uralten aus Hashilan, nichts von der Technik verstehen würden. Ich kann dir das Prinzip eines Materietransmitters ebenso erklären wie das eines Hyperfunksenders. Wenn ich wollte, könnte ich die Maschinen bauen, die das Material zur Herstellung einer thermonuklearen Bombe liefern. Natürlich ist das rein theoretisch gemeint, denn unsere Mentalität läßt so etwas niemals zu. Du solltest das eigentlich wissen, oder glaubst du, die Roxharen würden unsere Lehrer auf hochtechnisierte Welten schicken, wenn sie von den dortigen Lebensumständen keine Ahnung hätten? Auf stark entwicklungsbedürftigen Welten sorgen sogar unsere Abgesandten dafür, daß die dortigen Völker ein vertretbares Minimum an technischen Kenntnissen erwerben, wenn das dem friedlichen Fortschritt dient.« Ich blickte Atlan an, und er blickte zurück. Auch ohne Worte verstand er meine Gedanken: Siehst du, die Roxharen führen doch eine positive Aufgabe durch. Aussprechen wollte ich diese Überlegung nicht, denn er hätte mir sofort geantwortet, daß der technische Aufschwung auf einigen Welten, der durch die Chailiden hervorgerufen wurde, nicht dem eigentlichen Bestreben der Roxharen entsprach. Das Gehörte stimmte mit dem überein, was ich in der Blauen Stadt erfahren hatte. Da Atlan keine weiteren Fragen an den Uralten hatte, ergriff ich wieder das Wort. »Gurdonar«, sagte ich, »wenn du aus der Meditation erwachst, sollst du dich an dieses Gespräch mit Atlan und mir erinnern. Erfülle uns dann eine Bitte. Berichte Mussumor von unserem Treffen und insbesondere von mir. Sage ihm, daß ich mit ihm sprechen möchte. Alles was Atlan und ich tun, dient nur euch und eurer Zukunft.«
Der Uralte rollte seine halbgeöffneten Augen und kehrte in die Realität zurück. Er blickte Atlan und mich lange an. »Du bist eine komplizierte Maschine, YʹMan«, meinte er dann, »aber ich werde deiner Bitte entsprechen.« 4. »Ja, AiʹSynn«, lächelte Empter. Er blickte Zayger durchdringend an, während die Immunen in den Gleiter stiegen. »Ich wußte, daß ihr euch kennt. Deshalb durfte ich seinen Namen nie erwähnen. Er war in all den Jahren meine Hoffnung. Wenn einer von euch seinen Namen erfahren hätte und hätte ihn unter dem Druck der Überwachungsmaschine verraten, dann wäre er verloren gewesen und wir auch. AiʹSynn ist mein Sohn, und das hier«, er nahm das kleine Flugtier aus seinem Fell, das ich so oft bei ihm beobachtet hatte, »das ist unser kleiner Bote Bilopi. Eigentlich heißt er ganz anders. Den Namen Bilopi haben nur AiʹSynn und ich auf Roxha verwendet.« »Kommt«, drängte AiʹSynn. »Ich bin die ewige Schauspielerei endgültig leid. Ich mußte alle möglichen Dinge vortäuschen, um von den Abhängigen nicht erkannt zu werden. Von künstlichen Krankheiten bis zu furchtbarem Liebeskummer war da alles dabei.« Empter berührte seinen Sohn, als er durch die Schleuse des Gleiters stieg. »Schauspielerei wurde in unserer Familie schon immer großgeschrieben.« »Wir müssen uns beeilen«, verlangte AiʹSynn noch einmal. »In der Nebenzelle Chail werden sie den Ausfall der Kastellüberwachung schon festgestellt haben. Es kann nicht lange dauern, dann wimmelt es hier von Abhängigen. Wenn sie erst merken, daß ihr nicht mehr im Kastell seid, dann wagen sie sich auch hierher.« Das Schott wurde geschlossen, und AiʹSynn steuerte das Fahrzeug in die Höhe. Als sie die Mauer des Gefängnisses überflogen, brachen
die Roxharen in verhaltenen Jubel aus. »Noch seid ihr nicht in Sicherheit«, warnte AiʹSynn und beschleunigte auf volle Leistung. »Ich bringe euch in ein vorbereitetes Versteck. Dort müßt ihr ausharren, bis ich nach und nach die wichtigsten Roxharen zu euch gebracht habe.« Zayger verstand nicht, was AiʹSynn damit meinte und bat ihn um eine Erklärung. »Ist euch nie aufgefallen«, fragte der Immune, »daß keine Abhängigen zum Kastell kamen? Habt ihr euch nie überlegt, warum das so ist? Jeder von euch wurde nur von speziellen Robotern behandelt, als seine Immunität gegen die Gesetze des geistigen Faktors bekannt wurden.« »Es ist mir aufgefallen«, gestand Zayger, »aber ich fand keinen Grund dafür.« »Anfangs habe ich es auch nicht gewußt. Als Empter verschwand, war ich noch zu jung und unbedeutend, als daß man mir irgend etwas über die Hintergründe gesagt hätte. Ich merkte nur, daß man mich ständig heimlich beobachtete. Zum Glück brach bei mir die Immunität zu einem Zeitpunkt durch, als ich bereits Erfahrungen gesammelt hatte. Ich konnte mein Bedürfnis, die neuen Erkenntnisse herauszuschreien, gut unterdrücken. Ich paßte mich an. Als ich dann allmählich mehr Anerkennung gewann und meine Umgebung von meiner Treue zu den Gesetzen des geistigen Faktors überzeugen konnte, erfuhr ich die Hintergründe. Wir, die Immunen, stellen einen hochbrisanten Machtfaktor da. Wenn mehr als drei von uns sich an einem Ort aufhalten, der nicht allzu groß ist, dann greift die Immunität schlagartig auf die Abhängigen über. Ein solcher Fall ist vor unserer Zeit auf Chail geschehen. Damals scheiterte die Revolte an einem Pulk von Raumschiffen unseres Volkes, der im Orbit um Chail stand. Die Immunen wurden radikal ausradiert. Dann wurde das Kastell gebaut und der ganze Bereich als Aufenthaltsort für die Abhängigen verboten. Ich brauche wohl nicht besonders zu erwähnen, daß die Abhängigen uns nicht als Immune sondern als
Faktorverbrecher bezeichnen. Die Tatsache, daß es uns gibt, wird geheimgehalten. Nur die Führungsspitze und ein spezielles Kommando weiß davon.« »Und woher weißt du es?« fragte Zayger, der die Neuigkeiten überrascht aufnahm. »Ich«, sagte AiʹSynn und fletschte sein Gebiß, »ich gehöre in Wirklichkeit zu dem Jagdkommando auf Faktorverbrecher.« Zayger schwieg und verfolgte den Flug durch die Nacht. »Wir erreichen gleich das Meer«, erläuterte AiʹSynn. »Dann kommt ein anderer Kontinent, den die Chailiden nicht bewohnen. Auch für die Roxharen ist er uninteressant. Dort ist euer Versteck. Für Nahrung und alle notwendigen Dinge habe ich vorgesorgt. Zunächst braucht ihr nichts weiter zu tun, als abzuwarten. Einen von euch würde ich gern mit in die Blaue Stadt nehmen, um ein paar hohe Roxharen zu kapern. Zu dritt würden wir wegen der Verbundwirkung der Immunen sofort auffallen.« »Ich werde dich begleiten«, sagte Zayger. »Zuerst möchte ich sehen, daß meine Freunde gut untergebracht sind.« * Zwei Stunden später waren Zayger und AiʹSynn mit dem Gleiter auf dem Rückflug in Richtung der Blauen Stadt. Sie nutzten die Flugzeit, um Zayger über das zu informieren, was sich in den letzten Jahren auf Chail ereignet hatte. So erfuhr der Roxhare auch von der Ankunft der Fremden und von AiʹSynns Begegnung mit dem Roboter YʹMan. Große Bedeutung maßen beide Immunen diesen Ereignissen nicht bei, denn sie konnten nicht beurteilen, ob YʹMan und die Neuankömmlinge für ihre Pläne nützlich sein könnten. Zayger mußte seine Vorstellungen über das Vorgehen gegen die Abhängigen in einigen Punkten revidieren, denn AiʹSynn bestand
darauf, daß man nicht nur die Bindung der Roxharen an den geistigen Faktor beseitigen müsse, sondern vor allem das mentale Netz zerstören sollte. Dadurch, so hoffte er, würde man das Vertrauen der Chailiden gewinnen können. Als sie die Blaue Stadt erreichten, waren alle wichtigen Punkte besprochen. Ein genauer Plan lag damit noch nicht fest. »Wird man dich nicht gerade jetzt vermissen«, wollte Zayger wissen, »wo wir aus dem Kastell ausgebrochen sind? Schließlich gehörst du zu den Verbrecherjägern.« »Man wird mich suchen«, gab AiʹSynn zu, »aber ich bin offiziell beurlaubt. Außerdem führe ich noch eine normale Aufgabe im Rahmen unserer 5000 Roxharen durch, die hier leben. Ich rechne damit, daß in meiner Unterkunft eine Nachricht für mich liegt.« Sie erreichten den Ring von Wohnanlagen, der das eigentliche Zentrum der Stadt umschloß. Das war in der Sprache der Roxharen die Nebenzelle Chail. Die Wohnanlagen waren teilweise hochtechnisiert. In dem Gebäude, in dem AiʹSynn seine Unterkunft hatte, gab es sogar einen Antigravlift. Es war so, wie AiʹSynn vermutet hatte. Das Kommunikationsgerät hielt einen Bildtext bereit. Der Roxhare wurde aufgefordert, sich nach seiner Rückkehr in der Einsatzzentrale des geheimen Jagdkommandos zu melden. AiʹSynn kümmerte sich nicht um diese Aufforderung. Er trat an das Fenster und winkte Zayger zu sich. »Siehst du dort drüben die orangerote Kuppel?« Er deutete in Richtung des Zentrums der Blauen Stadt. »Das Herzstück der Anlage zur Erzeugung des mentalen Netzes«, sagte Zayger. »Richtig. Das gedrungene Gebäude daneben ist das neue Hauptquartier unserer Leute auf Chail. In der obersten Etage sitzt PhinʹSar, der seit zwei Jahren hier der Aufseher ist. Ich glaube, du kennst ihn nicht. Daher wird auch er dich nicht kennen. Wir werden
ihn aufsuchen und mit einer Geschichte, die ich mir schon zurechtgelegt habe, in meinen Gleiter locken. Dort nehmen wir ihn fest und bringen ihn zu den Immunen bei Empter. PhinʹSar muß der erste sein, der immun wird. Niemand weiß besser über unsere Organisation Bescheid als er. Wenn PhinʹSar auf unserer Seite ist, ist uns der Erfolg sicher.« Zayger war mit diesem Vorgehen einverstanden. Sie starteten erneut mit dem Fluggleiter und landeten kurz darauf auf einer Plattform, die an der Außenseite des Zentralgebäudes angebracht war. Über einen Korridor gelangten sie zu dem Raum, in dem nach AiʹSynns Meinung der Chef der Roxharen sein mußte. Sie begegneten niemand, denn die 5000 Roxharen, die durchschnittlich auf Chail weilten, verliefen sich in der riesigen Stadt. Ein Wachroboter ließ AiʹSynn anstandslos passieren, als dieser seinen Sonderausweis vorzeigte. Zayger gab er als seinen Begleiter aus. Dem ging alles zu schnell und zu glatt, aber er verließ sich auf AiʹSynn. Nach einer letzten Türkontrolle standen sie endlich vor dem Führer der Roxharen. PhinʹSar war allein in dem Raum. Er saß hinter einem großen Tisch, auf dem mehrere Kommunikationsgeräte und Bildschirme aufgestellt waren. Er blickte AiʹSynn und dessen Begleiter ruhig an. Bevor einer der Immunen etwas sagen konnte, eröffnete der Aufseher das Gespräch. »AiʹSynn bei dem entflohenen Zayger«, stellte er gelassen fest. »Ich hatte immer den Verdacht, daß du ein Verbrecher bist. Was du jetzt getan hast, ist mehr als ein Verbrechen gegen die Gesetze des geistigen Faktors und unseres Volkes.« Zayger blickte AiʹSynn entsetzt an. »Ich habe euch genau beobachten lassen. Wo befinden sich die anderen Flüchtlinge?« AiʹSynn verlor binnen weniger Sekunden seine Beherrschung.
Plötzlich lag eine Waffe in seiner Hand, die er zuvor in seinem Fell verborgen gehalten hatte. Bevor er etwas damit ausrichten konnte, öffnete sich an einer Seitenwand eine Klappe. Ein Feuerstrahl zischte durch den Raum und traf den Immunen in die Brust. Leblos sank er zu Boden. Zayger blickte sich um. Er suchte nach einem Fluchtweg. Seine Augen flackerten panikerfüllt. Alles war schiefgegangen, das stand fest. »Ich lasse dich am Leben«, sagte PhinʹSar noch immer gelassen. »Das setzt allerdings voraus, daß du dich vernünftig verhältst.« Zayger sackte in sich zusammen. Er gab auf. Eine Gruppe Roboter marschierte in den Raum und nahm in fest. Sein Körper wurde durchsucht, aber er trug nichts bei sich, was dem Aufseher gefährlich erschien. Als man ihn abführen wollte, warf er einen letzten Blick auf AiʹSynn. Aus dem Fell des toten Roxharen krabbelte das Flugtier Bilopi. »Darf ich den Kleinen mitnehmen?« fragte er PhinʹSar und deutete auf Bilopi. »Von mir aus«, antwortete der Roxhare gönnerhaft im Gefühl des Triumphs. »Zuvor mußt du mir noch eine Frage beantworten. Wo befinden sich die anderen Gefangenen?« »Ich weiß es nicht.« Zayger hob das Flugtier auf und steckte es in eine Tasche an seinem Gürtel. »AiʹSynn hat sie weggebracht. Er meinte, es wäre besser, wenn ich den Ort nicht kenne, denn wir könnten in eine Falle geraten. Es ist ja auch so gekommen.« »Es ist egal.« PhinʹSar wirkte sehr überheblich. »Wir finden die Verbrecher auch so.« Er gab den Robotern ein Zeichen. Daraufhin zerrten sie Zayger aus dem Raum. Sie sperrten ihn in eine ausbruchssichere Zelle, die nur ein winziges Fenster besaß. Kaum war Zayger allein, da nahm er Bilopi heraus und kritzelte ein paar Worte auf das Plättchen in dem
kleinen Behälter am Fuß. Er wußte nicht, ob das Flugtier zu Empter finden würde, denn dieser befand sich jetzt an einem anderen Ort, der außerdem viel weiter entfernt war als das Kastell. Aber es war das einzige, was er tun konnte. Vielleicht erreichte Bilopi den alten Empter. Dann waren die Immunen wenigstens gewarnt. Die Fensteröffnung war gerade groß genug, um das Tier ins Freie zu lassen. Zayger konnte ihm nur Sekunden nachblicken. Dann hockte er sich auf den einzigen Stuhl und begann nachzudenken. Eins stand für ihn fest. Aufgeben würde er nie. * Wir waren in Hashilan. Mussumor und seine Uralten hatten Atlan, Breiskoll und mich per Teleportation in die klosterähnliche Anlage geholt. Auch unser unfreiwilliger nächtlicher Gesprächspartner Gurdonar war hier. Ich bestaunte die steinernen Gebäude, die abseits der chailidischen Siedlungen in einem unzugänglichen und wildromantischen Gebirge erbaut worden waren. Die meist in den Fels gehauenen Wege zogen sich wie ein feines, unregelmäßiges Gitter durch die oft mehrstöckigen Häuser und Bauten, die an einigen Stellen regelrecht mit dem Berg verwachsen waren. Der Anblick von Hashilan weckte in mir neue Gefühle. Ich spürte die Ruhe und Geborgenheit, die von diesem Ort ausging, und die mir Sicherheit gab. Gleichzeitig hatte ich aber auch das Gefühl, das alles zu kennen, obwohl ich nach meinen Erinnerungssektoren genau wußte, daß ich das erstemal hier war. Für einen Moment dachte ich an Wajsto Kölsch, der auf eigenen Wunsch in Ushun geblieben war. Der Magnide war dem Einfluß des
mentalen Netzes so vollkommen erlegen, daß er für die wirklichen Geschehnisse auf Chail keine Spur von Interesse mehr zeigte. Ich lernte Mussumor, Sandun und Targar kennen und erfuhr etwas von der inneren Unruhe, die hier im geistigen Zentrum des chailidischen Volkes herrschte. Das Oberhaupt der Uralten bat uns in eine Gartenanlage am Rand eines Gebirgsbachs, der quer durch Hashilan floß. Man setzte sich auf einfache Holzbänke. Nur ich blieb stehen, da es für mich als Roboter ein solches Bedürfnis nicht gab. »Wir haben uns schneller wiedergetroffen, als ich es vermutet hätte«, eröffnete Mussumor das Gespräch, an Atlan gewandt. »Du weißt, daß ich mit den verschiedenen Strömungen in meinem eigenen Bereich genügend Sorgen habe, Wenn du also erneut darum gebeten hast, Hashilan aufzusuchen, so muß das wohl einen besonderen Grund haben.« »Der eigentliche Grund ist YʹMan.« Atlan deutete auf mich. »Es war seine Idee, sich mit den führenden Uralten zu treffen. YʹMan weilt erst seit wenigen Tagen auf Chail. Er hat in der kurzen Zeit jedoch viel über die Roxharen erfahren. Deshalb erscheint es uns richtig, mit euch darüber zu sprechen.« »So ist es«, mischte ich mich in die Unterhaltung. »Die Roxharen waren nicht in der Lage zu erkennen, daß ich ein Roboter bin. Sie nennen mich Mann in der Rüstung. Diese Tatsache ist für mich ein absolutes Rätsel, denn sie verfügen über eine hohe Technik und eine überdurchschnittliche Intelligenz.« »Es gibt für alles eine Erklärung«, sagte Mussumor. Atlan zog seine Stirn kraus. »Was hast du noch in Erfahrung gebracht?« Ich kam nicht direkt auf das zu sprechen, was ich den Uralten eigentlich mitteilen wollte, denn dafür schien es mir noch zu früh. So berichtete ich im wesentlichen das, was ich schon Atlan gesagt hatte. Die Uralten folgten meinen Worten ganz genau. Von Zeit zu Zeit warfen sie sich untereinander Blicke zu, die ich jedoch nicht deuten konnte.
Dann lenkte ich allmählich auf das eigentliche Problem zu. »Ich habe ein Wissen über die kosmische Konstellation in diesem Raumsektor angesammelt oder mitbekommen, das für das weitere Leben der Chailiden von Bedeutung ist. Außerdem habe ich etwas über das mentale Netz erfahren, was euch sicher Unbehagen bereiten wird.« »Sprich zuerst über das angesammelte Wissen«, verlangte Mussumor. »Zugegeben, daß ich die Herkunft dieser Informationen nicht genau erklären kann«, fuhr ich wahrheitsgemäß fort. »Ich bin aber davon überzeugt, daß ich nichts Falsches sage. Außerdem hat Atlan, der in einem bedeutenden Auftrag für hohe Mächte unterwegs ist, meine Ansichten bestätigt.« »Bitte, komm auf den Kern der Sache zu sprechen, YʹMan.« Das Oberhaupt der Chailiden zeigte eine Spur von Ungeduld. »Das Universum ist angefüllt von Mächten«, erklärte ich den Uralten, »die teilweise positive und teilweise negative Ziele verfolgen. Man könnte es auch Ordnung und Chaos nennen. Die tieferen Gründe, warum es so ist, bleiben mir verborgen. Hinter diesen Mächten stehen wieder andere, die beobachten, lenken oder eingreifen. Je höher diese Wesen stehen, um so weniger spürbar wird jedoch der direkte Einfluß ihrer Maßnahmen auf die einzelnen Völker. Die noch spürbaren Mächte hat Atlan Superintelligenzen genannt. In eurem Raumsektor sind seit Jahren die Auswirkungen dieser Superintelligenzen spürbar. Wie gesagt, die Mittel und Ziele sind oft für euch oder für mich gar nicht oder nur verschwommen erkennbar. Atlan stimmt mit mir darin überein, daß dieser Raumsektor eine solche Einflußzone darstellt. In der Beurteilung der wirksamen Kräfte und ihrer Quellen gehen unsere Meinungen auseinander. Während er in der Kette ,Superintelligenz‐geistiger‐ Faktor‐Roxharen‐Uralte‐Chailidenʹ eine Folge von Manipulationen sieht, die letztlich negativen Charakter haben, bin ich davon überzeugt, daß insbesondere die Roxharen mit eurer Hilfe, den
ausgeschickten Lehrern, etwas Positives vollbringen, nämlich das, was auch Atlan will. Ich spreche von einer Raumzone, die im Entstehen ist, in der die friedlichen Kräfte das Geschehen diktieren. Nach meinen Erfahrungen über die Roxharen muß ich einräumen, daß nicht allerorts es nach diesem positiven Plan verläuft. Eure Lehrer haben auf verschiedenen Welten ganz unterschiedlichen Einfluß ausgeübt und damit auch verschiedene Wirkungen erzielt. Die Palette reicht vom Aussterben jeglicher Technik und der Hinwendung zu einem rein geistigen Leben bis zur Synthese aus Technik und Meditation, die einen deutlichen Aufschwung nach sich zieht. Atlan nennt sein Ziel die Bildung von Friedenszellen. Ich möchte diese Bemühungen in jeder Hinsicht unterstützen.« »Das sind hochinteressante Aussagen«, bestätigte Mussumor zufrieden. Seine Augen glänzten, als er seine Blicke über die Uralten gleiten ließ. Immer mehr Chailiden hatten sich inzwischen hier versammelt. »Du wolltest noch etwas berichten«, fuhr Mussumor fort, »was uns weniger gut gefallen würde.« Ich warf Atlan einen Blick zu. Der Arkonide nickte kurz. »Es geht um das mentale Netz«, begann ich zögernd. »Es wird durch einen Teil eurer Bewußtseinsinhalte gespeist. Eine technische Station der Roxharen in der Blauen Stadt, die sie Nebenzelle Chail nennen, verstärkt diese geistigen Impulse und baut ein Feld auf, das den ganzen Planeten umschließt. Offiziell sagen die Roxharen, daß mit dem mentalen Netz Fremde von Chail ferngehalten werden sollen und daß solche, die dennoch auf dem Planeten landen, absolut friedlich und naturverbunden werden. Auf die Chailiden selbst hat das mentale Netz kaum einen Einfluß, es sei denn, es würde gegen einen von euch wirksam werden, der sehr lange Zeit nicht auf Chail war.« »Akitar«, sagte Sandun. »Du weißt von ihm?« staunte ich. Der Uralte lächelte nur. »Bitte sprich weiter. Was weißt du noch
über das mentale Netz?« »Auf die Roxharen wirkt es überhaupt nicht. Für sie gelten nur die Gesetze des geistigen Faktors, und diese sind für sie stärker als alles andere. Aber das mentale Netz hat noch eine andere Wirkung.« Ich stockte und brachte einfach kein Wort mehr heraus. Mir war klar, daß die Uralten liebe und positive Wesen waren, die keiner Seele etwas antun konnten. Wenn ich weitersprechen würde, würde ich den schönsten Traum ihres Daseins zerstören. Atlan half mir aus der Klemme. Er ergriff das Wort. »Es ist so«, erklärte er, »wie ich es einigen von euch schon gesagt habe. Euer Ziel, eine geistige Raumfahrt durchzuführen, ist ein Traum. Die Roxharen haben sich diesen Wunsch zunutze gemacht. Wenn einer von euch glaubt, während seiner Meditation mit seinem Bewußtsein auf einer anderen Welt zu weilen, so befindet er sich in Wirklichkeit nur im Innern der Struktur des mentalen Netzes. Dort werden ihm Dinge vorgegaukelt, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Keiner von euch hat je mit seinem Geist Chail verlassen. Und Zasvog fand bei dem Versuch, seinen ganzen Körper auf einen anderen Planeten zu versetzen, den Tod. Ihr seht also, daß die Roxharen versuchen, euch in jeder Beziehung auf eurer Welt festzuhalten. Ihr sollt nicht erfahren, was auf anderen Planeten geschieht. Eure ausgeschickten Lehrer können von draußen das Netz nicht durchdringen. Und ihr könnt es von hier aus nicht. Das ist die ganze traurige Wahrheit.« »Ich glaube dir kein Wort«, sagte Sandun. »Ich auch nicht«, bekräftigte Targar. Auch die anderen Uralten zeigten ihre ablehnende Haltung. »Stimmt das, was Atlan sagt?« fragte mich Mussumor. »Er hat die Wahrheit gesagt«, antwortete ich. »Dann«, sagte das Oberhaupt der Uralten dumpf, »müssen wir unsere Ansichten in einigen Punkten revidieren.« Ich wunderte mich, daß man meinen Worten mehr Glauben schenkte als denen von Atlan. Auch der Arkonide war von dieser
Erkenntnis überrascht. Er bemerkte jedoch nichts dazu. Sein Gesichtsausdruck verriet mir aber, daß er angestrengt nachdachte. Ausgerechnet in diesem Augenblick – ich stand mitten in dem Kreis von Uralten – mußte ich wieder einen der kleinen Würfel absondern. Das weiße Ding polterte auf den Steinboden. Auch Atlan und Bjo Breiskoll bemerkten den Vorgang. Mussumor trat auf mich zu und bückte sich. Er hob den Würfel auf und betrachtete ihn interessiert. »Das müßte eigentlich der letzte sein«, sagte er und hielt das Stückchen in die Höhe. Ich verstand überhaupt nichts und blickte mich hilfesuchend um. Gleichzeitig spürte ich, wie eine Sperre in meinem Innern fiel. Meine Blicke gingen über die Bauten von Hashilan. Auf halber Höhe des Bergrückens gab es eine dunkle Öffnung, die in das Innere des Gebirges führte. Ich sah ein paar Uralte, die dort oben an dem Höhleneingang standen. Plötzlich wußte ich, daß ich dort schon einmal gewesen war. »Ich glaube, Mussumor«, sagte Atlan langsam, »du mußt uns etwas erklären.« Der Uralte nickte. »Die Steine sind ins Rollen gekommen. Die Saat ist aufgegangen, aber die Früchte sehen anders aus, als wir gedacht haben. Ich sehe, daß du, Atlan, bereits beginnst, die Zusammenhänge zu erahnen. Es ist so, daß für uns die Meditation das höchste Ziel darstellt. Wir werden auch nach eurem Bericht über die wahre Struktur des mentalen Netzes nicht aufhören, die geistige Raumfahrt anzustreben. Auch unsere friedliche Naturverbundenheit und die Ablehnung jeglicher Technik werden wir beibehalten.« »Jeglicher Technik?« fragt Atlan. »Einmal habt ihr bestimmt dagegen verstoßen.« Mussumor nickte. »Es wissen nur wenige Eingeweihte«, erklärte er offen, »daß es so ist. Als ich das Amt des Oberhaupts von Hashilan übernahm, war es
mein erklärtes Ziel, Licht in unser Verhältnis zu den Roxharen zu bringen. Scheinbar unterstützten die Fremden unsere Bemühungen. Sie begünstigten sie tatsächlich, und sie ließen uns Uralte völlig in Ruhe, solange sie genügend chailidische Lehrer bekamen, die andere Planeten mit den Zellen der Roxharen erreichten. Dadurch konnten wir unsere Gedanken hinaustragen in das All. Da ich von unserer Friedlichkeit überzeugt bin, hoffte ich, daß sich über kurz oder lang ein Erfolg dieser Abgesandten zeigen würde. Es gab aber kein Echo. Es dauerte 160 Jahre, und in dieser Zeit geschah nichts, was die Richtigkeit unseres Verhaltens bestätigte. Was wir erfuhren, war das, was die Roxharen uns sagten, oder was wir gelegentlich aus ihren Gedanken aufschnappen konnten. Dieses Teilwissen genügte mir nicht. Deshalb entwickelten wir einen Plan, um die wahren Verhältnisse zu ergründen. Zusammen mit ein paar Vertrauten bauten wir dort oben in der Höhle eine Maschine, in die wir einen winzigen Teil unserer Überkräfte einspeisten. Diese Maschine war außerdem in der Lage, mit Hilfe eines empfindlichen Sensors die geistigen Strömungen des Kosmos in sich aufzunehmen und als Informationen zu sammeln. Damit sie ihre Herkunft nicht verraten konnte, programmierten wir entsprechende Sperren ein, die sich erst lösen würden, wenn die Maschine dem vorgesehenen Ziel näherkam. Sie würde sich dabei automatisch nach solchen Teilzielen umsehen, die in unserem Sinn positiv waren. Dementsprechend sollte sie auch die Lebewesen aussuchen und auf sie reagieren, ohne selbst zu wissen, warum sie es tat.« »Diese Maschine«, sagte Atlan, »ist YʹMan.« Ich wußte inzwischen, daß es so war. Mussumor nickte. »Als wir nach vielen Jahren nichts von ihm hörten, schleusten wir mit einer roxharischen Zelle heimlich den jungen Akitar aus. Er war für uns sozusagen ein lebendes Ebenbild zu YʹMan. Auch er sollte Informationen für uns sammeln, ohne zu wissen, warum er es tat. Wir statteten ihn mit einem inneren Drang aus, nach Chail zurückzukehren. Ihr könnt uns sicher sagen, was
sich draußen im All zugetragen hat. Akitars Bewußtseinssperre werden wir lösen, wenn er wieder in Hashilan ist. Er ist in Wirklichkeit ein besonders befähigter Uralter.« Nun sah ich völlig klar. Meine seltsamen Unfälle, die mich zwangen, in das Vakuum zu gehen, hatten zu nichts anderem gedient, als von Zeit zu Zeit dort die geistigen Strömungen des Kosmos zu empfangen, weil sich Normalmaterie für diesen Empfang als hinderlich erwiesen hatte. Ich hatte tatsächlich brauchbare Erkenntnisse gewonnen und sogar einen Teil von dem, was Atlan unsichtbar umgab, entschlüsselt. Wie ich schon immer vermutet hatte, war es kein Zufall gewesen, daß Akitar und ich zusammengeführt wurden. Als der Arkonide auf Osath aufgetaucht war, hatten meine Sensoren auf das Positive, daß von diesem Mann ausging, angesprochen. Ich hatte mich praktisch von Anfang an zu Atlan hingezogen gefühlt. Ich stand einsam zwischen den Uralten, die in heftige Diskussionen verwickelt waren. Von den Anwesenden hatte niemand etwas von Mussumors heimlichen Aktivitäten gewußt. Atlan trat schließlich auf mich zu. Dann tat er etwas, was mein inneres Ungleichgewicht schnell stabilisierte. Er drückte meine Hand. Ich war eben ein bißchen mehr als ein normaler Roboter. Aber ich war zu wenig Chailide oder Solaner oder Arkonide, denn weinen konnte ich nicht. Sonst wären jetzt bestimmt Tränen aus meinen starren Augen geflossen. 5. Empter stand in der sternklaren Nacht vor der Höhle, in der AiʹSynn die entflohenen Immunen untergebracht hatte. Der alte Roxhare war
voller Sorgen, denn seit drei Tagen waren sein Sohn und Zayger jetzt weg, und noch gab es kein Lebenszeichen von ihnen. Auch das kleine Funkgerät, daß AiʹSynn ihm für Notfälle hinterlassen hatte, schwieg beharrlich. Empter wagte es nicht, selbst einen Anruf zu starten, denn wenn etwas mit den beiden schiefgegangen sein sollte, würde er womöglich durch den Funkanruf ihr Versteck verraten. Bei den anderen befreiten Roxharen machte sich allmählich Unruhe breit. Zwar hatten sie genügend Nahrungsvorräte, um es hier noch mehrere Tage auszuhalten, aber sie waren völlig isoliert. Insofern hatte sich die Situation zur Gefangenschaft im Kastell nur wenig geändert. Es war lange nach Mitternacht, als der Alte aufblickte. Das leise Geräusch über seinem Kopf kannte er gut. Bilopi kehrte zurück. Das kleine Flugtier sank völlig erschöpft auf seiner ausgestreckten Hand nieder. Empter konnte sich vorstellen, welche Mühen der treue Flieger gehabt hatte, um die große Entfernung zu überwinden, wenn AiʹSynn ihn von der Nebenzelle Chail aus losgeschickt hatte. Der alte Roxhare ahnte sofort, daß etwas nicht stimmte, denn der Einsatz von Bilopi war nicht mit AiʹSynn abgesprochen gewesen. Trotzdem blieb er ruhig, während er die kleine Kapsel öffnete. Was er im fahlen Licht der Nacht las, ließ sein Fell vor Schrecken weit abstehen. AiʹSynn tot. Bin gefangen. Vorsicht. Zayger. Er fütterte Bilopi geistesabwesend, denn diese Nachricht war ein schwerer Schlag. Alle ihre geheimen Pläne waren damit weit weggerückt von jeder Chance auf Verwirklichung. Empter behielt seine Gedanken für sich. Er wollte die anderen Immunen, die auch zum Teil schliefen, von den üblen Informationen verschonen. Ihre Lage war nicht nur hoffnungslos. Sie war auch sinnlos. In ihrem Versteck waren sie wahrscheinlich noch sicher. Zumindest so lange, wie Zayger den Roxharen in der Blauen Stadt
diesen Ort verheimlichen konnte. In dieser Beziehung verließ sich Empter auf Zayger, denn der war ein cleverer Bursche. Er mußte jedoch auch schmerzlich daran denken, daß sie praktisch keine Möglichkeit hatten, diesen Ort zu verlassen. Ein Fahrzeug stand ihnen nicht zur Verfügung. An Waffen hatte AiʹSynn gerade soviel hinterlassen, daß sie auf Jagd gehen konnten, um sich im Notfall zu ernähren. Die Umgebung war rauh und unberührt. Selbst ein längerer Fußmarsch wäre sinnlos gewesen, denn irgendwann würde man vielleicht unter großen Strapazen das Meer erreichen, und dann wäre man endgültig gescheitert. Um den anderen Kontinent mit der Nebenzelle Chail zu erreichen, fehlte es an jeglicher Möglichkeit. Er verbarg die kleine Hülse und Bilopi an seinem Körper. Ihr Vorhaben war gescheitert. Sie waren vom Regen in die Traufe geraten und kein bißchen besser dran als im Kastell. Er erinnerte sich daran, daß Zayger immer wieder gesagt hatte, daß es in jeder Situation einen Ausweg gab. Empter wünschte sich, daß er etwas von dem ungebrochenen Mut des jungen Blaupelzigen gehabt hätte. Er war ein Alter, der zwar an den Idealen der Immunen mit gleicher Leidenschaft hing wie die Jungen, aber er spürte, daß seine Lebenskräfte zu erlahmen begannen. In dieser Situation gab es keinen Ausweg! Mit dieser niederschmetternden Erkenntnis mußte er leben. Istera kam aus der Höhle. »Du bist noch wach?« fragte sie erstaunt. »Ja, ich konnte nicht schlafen. In meinem Alter braucht man nicht mehr viel Ruhe.« »Noch immer keine Nachricht von Zayger?« »Doch«, antwortete Empter. »Bilopi ist gekommen, mein treuer Bote. AiʹSynn ist tot, und Zayger wurde gefangen.« Gegen seinen ursprünglichen Willen hatte er die Wahrheit direkt ausgeplaudert. Istera schwieg betreten.
»Was soll jetzt geschehen?« fragte sie dann matt. »Lege dich wieder schlafen« bat Empter. »Ich werde einen Ausweg finden.« Er dachte an das Funkgerät, mit dem er die Zentrale in der Nebenzelle Chail jederzeit erreichen könnte. Man würde einen Trupp Jagdroboter schicken und die Faktorverbrecher in ein neues Gefängnis bringen. War das der gesuchte Ausweg? Istera schlich wortlos in die Höhle zurück. Empter blickte ihr nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war. Dann zog er das Funkgerät heraus und suchte alle Kanäle ab. Nirgends entdeckte er einen Hinweis. Die Jagdkommandos, die sicher schon seit Tagen unterwegs waren, verständigten sich mit anderen Methoden. Schließlich schaltete er den Kanal ein, mit dem er die Zentrale des Obermeisters rufen konnte. Ein Finger lag auf der Sendetaste, aber er zögerte noch. Vielleicht gab es doch noch einen anderen Weg. Er überdachte noch einmal sein bisheriges Leben. Ausgangspunkt war seine Heimat Roxha, auf der der geistige Faktor als eine ganz natürliche Selbstverständlichkeit seit einer Ewigkeit das Leben der Roxharen gelenkt hatte und noch heute lenkte. Erst auf Chail war Empter immun geworden. Es mußte hier einen Einfluß geben, der mehr oder weniger zufällig einige wenige Roxharen in seinen Bann zog. Der natürliche Zwang des geistigen Faktors wurde unter diesem Einfluß weggewischt. Die Immunen waren die absolute Minderheit. Vielleicht einer von 10.000 Roxharen erlebte das Glück der inneren Befreiung, das in den Augen der Masse ein Verbrechen war. Empter schrieb diesen Vorgang der Immunwerdung den Chailiden zu, die ein durch und durch vergeistigtes Volk waren. Sicher handelte es sich dabei nicht um einen absichtlichen Prozeß. Die Chailiden waren viel zu friedlich, um aktiv gegen ein anderes Lebewesen vorzugehen. Die Chailiden! Empter zog ruckartig den Finger von der
Sendetaste des Funkgeräts. Jetzt wußte er, was er zu tun hatte. Er suchte sich einen bequemen Platz in der Nähe des Höhleneingangs. Dort hockte er sich entspannt hin und öffnete seinen Geist. »Es darf keine Barriere mehr in mir geben«, sagte der alte Roxhare halblaut. Seine Gedanken gingen zurück an ein Ereignis im Kastell, durch das er in den Ruf geraten war, verrückt zu sein. In Wirklichkeit war es das Erlebnis gewesen, das ihm die Herstellung des Kontakts zu AiʹSynn ermöglicht hatte. Er war unabhängig von den Grenzen des geistigen Faktors. Wenn er es wollte, würde ein suchendes Bewußtsein in seinen Körper gelangen können. Es hing nur von seinem freien Willen ab, ob er es erneut abstoßen würde. Empter war sich darüber im klaren, daß es sehr lange dauern könnte oder das es vielleicht nie mehr in seinem Leben eintreten würde, aber das war die Chance. »Komm«, flüsterte er kaum hörbar. »Ich bin empfangsbereit.« * Ich weilte nun schon einige Tage in Hashilan. Alles Wissenswerte über meine Entstehung und meinen Auftrag wurde fast automatisch in meinen Speichern freigelegt. Was dann noch unklar war, wurde mir von Mussumor und seinen Eingeweihten beantwortet. Nun erst verstand ich, was mich so zu Atlan hingezogen hatte, warum sich Akitar mit seinem Wunsch, nach Chail zurückzukehren, uns angeschlossen hatte, und warum ich überhaupt so gehandelt hatte, seit ich auf Chail gelandet war. Damit war mein persönliches Problem geklärt. Ich empfand echte Freude darüber. Die Uralten nahmen mich in ihre Gemeinschaft auf.
Sie akzeptierten mich als ein hochstehendes Wesen, was mir Mussumor mehrmals versicherte. Ich trüge, so erklärte er mir, von vielen Uralten einen Teil in mir. Diese Einzelteile seien zwar in technischmaschineller Form vorhanden, aber sie erklärten meine Gefühle. Außerdem versicherte mir das Oberhaupt der Uralten, daß ich über mehr Erfahrungen verfügte als sie alle zusammen, was die Welt jenseits des mentalen Netzes betraf. Die Chailiden und Atlan waren sich nicht darüber einig, was nun weiter geschehen solle. Es entsprach einfach nicht der Mentalität dieser Leute, gegen irgend etwas gewaltsam vorzugehen. Die internen Streitigkeiten zwischen den maßgeblichen Uralten, hier insbesondere zwischen Mussumor, Sandun und Targar, klangen rasch ab. In einem Punkt fand man einen gemeinsamen Standpunkt. Das mentale Netz sollte von den Meditierenden nicht mehr unterstützt werden. Keiner wußte, ob das Netz dadurch zusammenbrechen würde oder ob die Roxharen allein mit technischen Mitteln für seine Aufrechterhaltung sorgen konnten. Mein Vorschlag, nach der Blauen Stadt zu gehen und die Wahrheit über diesen Punkt herauszufinden, unterstützten die Uralten nicht. Ihnen schien das Risiko, ich könnte dabei verlorengehen, einfach zu groß. Atlan zielte bei seinen Überlegungen auf einen anderen Punkt ab. Ihm kam es darauf an, in dieser Region des Weltalls eine erste echte Friedenszelle zu bilden. Die Chailiden, so meinte er, seien der ideale Garantiefaktor dafür. Nur müßte sich dieses Volk frei entfalten und nicht mehr manipuliert werden. Von meinen Überlegungen, die Roxharen würden auch einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der Friedenszelle leisten können, wollte er nichts wissen. Mussumor unterstützte Atlan dabei indirekt, denn der Uralte war inzwischen zu der Ansicht gekommen, daß der geistige Faktor der Roxharen keine positive Macht sei. Beweisen konnte er das nicht, zumal niemand wußte, wer
oder was dieser geistige Faktor überhaupt war. Einige der Uralten bezweifelten seine Existenz sogar. Auch drängte Atlan darauf, daß bald etwas geschehe. Die SOL stand nur unweit von Chail. Und wenn er, Breiskoll und Kölsch sich nicht irgendwann melden würden, würde der High Sideryt die Geduld verlieren. Was dann geschehen würde, konnte niemand vorhersagen. Atlan ging sogar soweit, daß er die Vermutung äußerte, die SOL könnte ohne ihn und seine Begleiter abziehen. Ich glaubte, er wollte damit nur die Chailiden zu einem gemeinschaftlichen Handeln drängen. Erst als Breiskoll an Akitar erinnerte, der immer noch auf der SOL weilte, gewann Atlan ein paar Freunde unter den Uralten, die für ein schnelles Handeln waren. Am vierten Tag nach meiner Ankunft verkündete Mussumor einen gemeinschaftlichen Beschluß der wichtigsten Uralten. Ein paar Beobachter wurden in die Blaue Stadt geschickt. Mit Einbruch der Abenddämmerung sollten sich alle Uralten mit ihren geistigen Anteilen aus dem mentalen Netz zurückziehen. Es zeigte sich jetzt, wie gut das Informationsnetz der Chailiden funktionierte, denn schon eine Stunde später wußten alle Uralten, die nicht in Hashilan waren, von diesem Vorhaben. Zur Überwachung des Zustands des mentalen Netzes wurden mehrere Uralte eingeteilt, die überprüfen sollten, ob sie weiterhin ihre scheinbaren Bewußtseinsreisen durchführen konnten. Am Abend traf ich mich mit Atlan und Bjo Breiskoll auf unserem alten Versammlungsplatz. Es war etwa eine Stunde nach dem Zeitpunkt, zu dem sich die Meditierenden aus dem mentalen Netz zurückziehen sollten. Breiskoll, der unter dem Einfluß des Netzes seine telepathischen Fähigkeiten nicht richtig entfalten konnte, schüttelte den Kopf. »Nach meinem Dafürhalten hat sich nichts geändert«, behauptete der Mutant. »Ich kann die SOL noch immer nicht erreichen.« Wenig später kam Mussumor zu uns. Er besaß genaue
Informationen über den Stand der Entwicklung. »Das mentale Netz hat sich in seiner Zusammensetzung verändert«, berichtete er, »aber es ist nicht zusammengebrochen. Die scheinbaren Planetenreisen sind nicht mehr möglich, aber das heißt nicht, daß das mentale Netz verschwunden ist. Wir können unsere ausgeschickten Lehrer nicht erreichen. Unsere Beobachter in der Blauen Stadt berichten, daß die Roxharen unseren Rückzug schnell bemerkt haben. Sie haben eine Art Zusatzschaltung in Betrieb genommen, die jetzt auf künstliche Weise die wichtigsten Komponenten stabilisiert. Unser Rückzug war also ein Fehlschlag. Alles, was wir damit erreicht haben, ist der Zorn der Roxharen. Sie haben uns aufgefordert, unverzüglich die alte Tätigkeit wieder aufzunehmen. Was verwunderlich ist, ist folgendes: Die Roxharen meinen, wir seien von einigen ihrer eigenen Leute angestiftet worden. Ich habe keinen Verdacht, wie sie zu diesem Schluß kommen konnten.« Ich beriet mich mit Atlan, aber wir wußten auch keine Antwort auf diese Frage. Mussumor zog sich schließlich wieder zurück. Er betonte jedoch, daß er seine Leute sofort auffordern wolle, das mentale Netz wieder mit ihren geistigen Kräften zu unterstützen. Atlan hatte dagegen keine Einwände, und auch ich wußte nichts dazu zu sagen. Wir begaben uns in die uns zugewiesene Unterkunft, als Gurdonar unseren Weg kreuzte. Der Uralte wirkte sehr erregt. »Ich muß sofort zu Mussumor«, rief er. »Ich habe eine Entdeckung gemacht, die alles in einem neuen Licht erscheinen läßt.« Atlan und ich schlossen uns Gurdonar an. In der Klause des Oberhaupts der Uralten berichtete Gurdonar. Er war bei dem Versuch, Kontakt zu den Lehrern auf anderen Planeten aufzunehmen, mehr zufällig auf ein aufnahmebereites Bewußtsein gestoßen. »Es war ein Roxhare«, erzählte der Uralte. »Er suchte förmlich den Kontakt zu mir. Dadurch konnte ich in ihn eindringen. Es war der
gleiche Roxhare, den ich vor langer Zeit schon einmal zufällig besucht habe. Damals stieß er mich bald wieder ab. Diesmal war es anders. Er heißt Empter, und was er mich hat wissen lassen, ist phantastisch. Es gibt eine kleine Gruppe Roxharen, die sich als Immune bezeichnet. Diese Leute sind unabhängig von dem geistigen Faktor. Sie waren jahrelang Gefangene der Roxharen. Jetzt hocken sie in einer Höhle auf einem anderen Kontinent und sind in arger Not. Ihr Führer wurde in der Blauen Stadt gefangengenommen. Ein anderer wichtiger Mann der Immunen wurde von den Roxharen getötet. Das wichtigste aber ist, daß diese Immunen glauben, sie könnten die Angehörigen ihres Volkes, die sie als Abhängige bezeichnen, allein durch ihre Gegenwart heilen. Sie bitten uns um Hilfe.« Atlan und ich blickten uns an. Der Arkonide war von diesen Informationen nicht weniger überrascht als ich. Hier kam ein Machtfaktor ins Spiel, mit dem wir nicht gerechnet hatten. Wir berieten uns mit Mussumor. Für den war es selbstverständlich, daß man Hilfe leisten mußte. Allerdings übersah er nicht die Gefahr, die er heraufbeschwören würde, wenn sich durch das Eingreifen der Chailiden ein interner Konflikt bei den Roxharen ergab. Er wollte sich auf keinem Fall schuldig machen. »Ich möchte diese Angelegenheit gern klären«, verlangte Atlan nachdrücklich. »Ich verstehe, daß ihr mit einer Hilfeleistung in ein Dilemma geraten könnt. Daher mache ich euch den Vorschlag, es allein zu versuchen. Bjo Breiskoll wird mir helfen. Alles Notwendige besitzen wir bis auf eine Ausnahme. Wir haben kein Transportmittel. Unsere Space‐Jet können wir nicht erreichen. Daher bitte ich um ein oder zwei Uralte, die teleportieren können.« Bevor Mussumor antworten konnte, mischte ich mich ein. »Es ist selbstverständlich«, behauptete ich, »daß ich dabei bin.« Das Oberhaupt der Uralten überlegte kurz. »YʹMan kann unsere Interessen vertreten«, meinte er. »Er kann gar nicht anders, denn er ist ja unser Produkt. Wenn ihr Teleporter
haben möchtet, so habe ich nichts dagegen. Ihr müßt sie allerdings selbst finden.« »Einen habt ihr«, erklärte Gurdonar. »Mich. Ich schaffe es auch allein, euch nach und nach zu den Immunen zu bringen.« »Worauf warten wir noch?« fragte ich. Gurdonar faßte Atlan an und verschwand mit ihm. Sekunden später war er zurück und teleportierte Breiskoll fort. Dann nahm er mich mit auf die Reise. Bevor ich Hashilan verließ, trat Mussumor auf mich zu. »Paß auf dich auf, YʹMan«, sagte er eindringlich. »Wenn wir Chailiden der Kern einer galaktischen Friedenszelle werden sollen, dann brauchen wir dich noch.« Ich konnte ihm keine Antwort mehr geben, denn Gurdonar teleportierte schon davon. 6. Auch die immunen Roxharen waren nicht in der Lage, in mir meine robotische Natur zu erkennen. Ich wußte inzwischen, daß dies auf eine besondere Maßnahme meiner Erbauer zurückzuführen war, die in meinen Körper einen sogenannten Imager eingebaut hatten, der nur auf Roxharen wirkte. Vor Empter und seiner kleinen Gruppe brauchte ich dieses Geheimnis nicht mehr zu bewahren. Ich klärte sie über meine wahre Beschaffenheit auf. Der alte Roxhare war sichtlich überrascht, als außer dem erwarteten Uralten Gurdonar noch Atlan, Breiskoll und ich auftauchten. Er faßte aber Vertrauen zu uns, als Atlan ihm von seinen Vorstellungen und Absichten erzählte. »Ich weiß«, sagte Empter, »daß es ein großes Ziel ist, das wir ehemaligen Gefangenen uns gesetzt haben. Aber wir wollen unser Volk von dem Zwang des geistigen Faktors befreien. Wahrscheinlich
wird uns das nur zu einem Teil gelingen. Wenn aber eine Keimzelle von Immunen gegründet wird, wird sich diese immer weiter ausbreiten. Am Ende wird die völlige Befreiung stehen.« Die Gedanken der Immunen lagen für Bjo Breiskoll völlig frei. Er bestätigte immer wieder, daß der alte Roxhare mit dem grauen Fell nur die Wahrheit sagte. Alles andere Wissenswerte holte sich Breiskoll direkt aus Empter. Schon wenig später wußte ich praktisch alles, was sich im Leben dieser kleinen Gruppe ereignet hatte. Empter machte keinen Hehl daraus, daß er über die Ausrüstung, die wir mitführten, sehr enttäuscht war. »Damit können wir nichts erreichen. Mein Sohn AiʹSynn war erfahrener als ihr und besser ausgestattet. Aber auch er scheiterte.« Trotz Gurdonars Anwesenheit vertrat Atlan nachhaltig die Ansicht, daß das mentale Netz zerstört werden müsse, weil es eine nicht vertretbare Manipulation der Chailiden darstelle. Empter war das weniger bedeutend. Ihm kam es auf die Befreiung seines Volkes an. Ich griff schließlich in die endlos zu werdende Diskussion ein und schlug einen Kompromiß vor. Wenn wir alle, also Atlan, Breiskoll und ich, uns mit den Immunen verbündeten, hätten wir eine Chance, beiden Völkern zu helfen. Dabei gab ich Atlan sehr deutlich zu verstehen, daß die Roxharen doch ein positives Volk sein müßten, wie man am Beispiel dieser Immunen sehe. »Der geistige Faktor gängelt die Roxharen schon seit einer halben Ewigkeit«, widersprach der Arkonide. »Durch ihn ist schon viel Unrecht geschehen. Sicher, letztlich wurde durch die Roxharen auch Positives erzielt, indem sie die friedlichen Chailiden zu anderen Welten transportierten. Ich vermag in dem geistigen Faktor dennoch nichts Gutes zu erkennen.« Ich brach dieses Thema von mir aus ab, denn ich fühlte, daß Atlan und ich darüber nie einig werden würden. Gurdonar meldete sich zu Wort.
»Ich erkenne an, daß YʹMan die Aktion gegen die Roxharen und das mentale Netz unterstützen will. Er spricht im Sinn aller Uralten. Meine Meinung ist aber die von Mussumor. Wir dürfen nicht gewaltsam in die Geschehnisse eingreifen. Ihr seid auf mich angewiesen, denn wenn ich euch verlasse, sitzt ihr hier fest. Es wäre mir angenehm, wenn ich mich erst mit Mussumor und anderen Uralten beraten könnte, bevor etwas geschieht.« »Wir wollen nichts Gewalttätiges«, erklärte ich rasch. »Die Befreiung der abhängigen Roxharen kannst du nur gutheißen. Die Abschaltung des mentalen Netzes ist ein technischer Vorgang. Ihr müßtet euch an eure Ziele erinnern, nämlich an ein natürliches Leben. Hat in dieser Vorstellung eine Manipulationsmaschine Platz, die von einem anderen Volk auf unserem Planeten errichtet worden ist?« »Das mentale Netz dient auch zu unserem Schutz«, erinnerte Gurdonar. »Ich möchte erst mit Mussumor sprechen.« Wir entließen den Uralten, der uns noch einmal versicherte, daß er in jedem Fall zurückkommen würde, egal welche Entscheidung das Oberhaupt von Hashilan und seine Berater treffen würden. Gurdonar ließ uns fast eine Stunde warten. Ich wurde allmählich unruhig, denn ich hatte eigentlich nicht damit gerechnet, daß die Uralten gegen unser Vorgehen etwas einzuwenden hätten. Ich erlebte eine Enttäuschung. Der Beschluß der Uralten war ein fauler Kompromiß, für den ich kein Verständnis aufbringen konnte. »Es wurde mir gestattet«, erklärte Gurdonar etwas abweisend, »einen von euch in die Blaue Stadt zu bringen. Alle anderen dürfen nur nach Hashilan.« Atlan runzelte die Stirn. »Das ist keine kluge Entscheidung«, murrte er, und ich pflichtete ihm bei. »Es ist die großzügigste Entscheidung, die wir treffen konnten«, behauptete Gurdonar. »Es ist etwas geschehen, was ihr noch nicht wissen könnt. Durch unseren zeitweisen Rückzug aus dem
mentalen Netz und die Flucht der Immunen sind die Roxharen aufgeschreckt. Sie haben uns ziemlich unmißverständlich zu verstehen gegeben, daß sie diese Entwicklung nicht nur mißbilligen. Wenn sie feststellen sollten, daß die Chailiden offen oder versteckt etwas gegen sie unternehmen würden, so hätte das für uns nur Nachteile. Mussumor konnte also gar keinen anderen Entschluß fassen.« »Eine offene Drohung also«, folgerte ich. »Damit haben wir einen Punkt erreicht, den wir unter allen Umständen verhindern wollten. Es droht ein offener Konflikt. Er könnte sich ausweiten und auch die SOL einbeziehen, wenn die Roxharen merken, daß Atlan, Breiskoll und ich mitmischen. Es sieht düster aus, Freunde.« Atlan gab mir recht. »Es sieht nicht nach der Bildung einer Friedenszelle aus«, räumte er ein. »Entschließt euch«, verlangte Gurdonar. Für mich stand fest, wer in die Blaue Stadt gehen würde. Nur einer hatte die Chance, dort etwas zu erreichen. »Ich gehe«, sagte ich und sah Atlans Unwillen. »Die anderen sollten aber an diesem Ort bleiben. Wenn die Roxharen erfahren sollten, daß Atlan und die Immunen in Hashilan sind, würden sie das schon als Provokation auffassen.« »Warum du?« fragte Atlan. »Weil ich der Mann in der Rüstung bin«, behauptete ich mit dem Brustton der Überzeugung. »Die Roxharen halten mich für ein harmloses Fremdlebewesen, das dem Einfluß des mentalen Netzes erlegen ist.« »Und was willst du dort tun?« wollte Atlan weiter wissen. »Die Zeit drängt. Die SOL wartet nicht ewig.« »Ich komme zurück«, beteuerte ich. »Wir brauchen ein Fahrzeug.« Zum Abschied winkte ich kurz. Gurdonar schlang seine Arme um mich, und die Umgebung verschwand.
* Atlan und Bjo Breiskoll suchten sich ein Lager für den Rest der Nacht. Der Arkonide war mit der jüngsten Entwicklung sehr unzufrieden. Er lag lange auf seiner Decke und grübelte nach. Was würde Chart Deccon tun, wenn kein Lebenszeichen von ihm oder Wajsto Kölsch kam? Atlan konnte nur Vermutungen anstellen. Auch mußte er annehmen, daß sich die Roxharen gegenüber der SOL nicht weniger drohend verhielten als gegenüber den Chailiden. Ihm mißfiel, daß die Verantwortung für alles, was weiter geschehen würde, praktisch allein bei YʹMan lag. Zwar zweifelte er nicht an der Aufrichtigkeit des Roboters, aber daß er selbst durch die Umstände zum Abwarten und Nichtstun verdammt war, widersprach seiner ganzen Einstellung. Schließlich sank er doch noch in einen kurzen Schlaf. Als draußen der Morgen graute, war er schnell auf den Beinen. Empter kam zu ihm. Gemeinsam verließen sie die Höhle. Etwa 50 Roboter mit ausgefahrenen Waffenarmen standen im Halbkreis vor dem Höhleneingang. »Ihr seid festgenommen und steht unter unserer Bewachung«, erklärte eine der Maschinen. »Sagt den anderen, daß jeder Widerstand zwecklos ist. Sie sollen in der Höhle bleiben. Wenn das Kastell wieder aufgebaut ist, schaffen wir euch dorthin.« Jetzt ruhte wirklich alle Verantwortung bei YʹMan. * In der Blauen Stadt war es dunkel. Gurdonar verschwand sofort wieder, als er mich in der Nähe des Zentrums abgesetzt hatte. Ich war allein. Empters Kenntnisse über die Nebenzelle Chail hatten mir nichts
Neues gebracht. Ich kannte die Stadt von meinem ersten Aufenthalt besser als der alte Roxhare. Nur wußte ich nicht, wohin man Zayger gebracht haben konnte. Ich war mir darüber im klaren, daß ich allein kaum etwas ausrichten konnte. Vor allem wußte ich nicht, wo die Roxharen ihre Gleiter abstellten. Ich wählte den direkten Weg zum Zentralgebäude. Zwei Roxharen, die mir begegneten, schenkten mir keine Beachtung. Da ich in dieser Zone noch nie gewesen war, hatte ich erhebliche Orientierungsschwierigkeiten. Als ich zwischen zwei eng beieinander stehenden Häusern durch die Dunkelheit tappte, bewegte sich plötzlich ein leuchtendes Etwas vor mir. Das Ding schwebte ein paar Meter über mir in der Luft. Ich schaltete meine Nachtseheinrichtung auf volle Stärke. Der Körper pendelte langsam quer zu meiner Blickrichtung hin und her. Er hatte die Form eines Eies und leuchtete schwach in hellgrünen und hellroten Farben. Das ganze Ding war etwa so groß wie mein Kopf. Auch vermeinte ich eine flüsternde Stimme zu hören, die pausenlos das gleiche Wort sagte. Ich zögerte, denn ich mußte vermuten, daß es sich hier um ein Produkt der roxharischen Technik handelte. Das seltsame Ei sank langsam nach unten. Ich sah genau, daß es tatsächlich völlig frei über dem Boden schwebte. Als es in Höhe meines Kopfes war, bewegte es sich langsam von mir fort. Dabei wisperte die Stimme unaufhörlich. Ich mußte annehmen, daß sie aus dem schwach leuchtenden Ei kam. Obwohl ich ein Roboter war, fühlte ich mich seltsam berührt. Es war, als ob mich dieses Ding hypnotisieren wollte. Ohne Nachdenken folgte ich ihm. Sobald ich meine Füße voreinander setzte, wurde das Ei schneller. Sein Licht begann etwas zu pulsieren, als wolle es mich anlocken. Unser Weg führte uns um mehrere Häuserblocks, bis das Ei
endlich vor einem Nebeneingang des Zentralgebäudes anhielt. Mir kam eine ganz verrückte Idee. Irgendjemand oder irgend etwas wollte mir helfen! Ich verrannte mich förmlich in diesen Gedanken. Inzwischen empfand ich die wispernde Stimme als etwas Natürliches. Ich wurde erst aus meinen Träumen gerissen, als das leuchtende Ei seinen Weg fortsetzte. Es glitt durch die geschlossene Tür, als wäre diese gar nicht vorhanden und verschwand damit aus meinem Blickfeld. Verdutzt blieb ich stehen und wartete. Nach einer Weile kam das Ding an der Stelle wieder zum Vorschein, an der es durch die Tür gegangen war. Unmittelbar darauf bewegte es sich wieder in das Innere des Gebäudes. Ich suchte nach einem Mechanismus, der mir den Eingang öffnen sollte. Als der Türflügel schließlich zur Seite glitt, hing das Ei wenige Schritte vor mir in einem beleuchteten Gang. Ich konnte seine Oberfläche jetzt besser erkennen. Sie bestand aus vielen kleinen Sechsecken, die nahtlos ineinander übergingen. Andere äußere Kennzeichen trug das Ding nicht. Es bewegte sich sofort weiter auf einen Antigravschacht zu und verschwand darin. Ich schalt mich einen Narren, daß ich hinter diesem seltsamen Ding hereilte, ohne an meine Sicherheit zu denken. Aber da war etwas Unbegreifliches, das von dem Ei ausging und mich ihm weiter folgen ließ. Natürlich wartete es in dem Schacht, bis ich zur Stelle war. Da es hier sehr eng war, kam ich für einen Augenblick so nah an es heran, daß ich nach ihm fassen konnte. Meine Hand glitt durch den Eikörper, als ob dieser nicht vorhanden wäre. Auch spürte ich nichts, nur die flüsternde Stimme war für einen Moment etwas lauter und deutlicher zu vernehmen. In einem der oberen Stockwerke verließ das Ei den Schacht. Inzwischen war ich davon überzeugt, daß es sich um eine raffinierte Projektion handeln mußte. Am Ende des Korridors, durch den das glänzende Ei glitt, hielt es
vor einer verriegelten Tür an. Dort wartete es, bis ich direkt unter ihm stand. Es schwebte herab und umrundete meinen Körper mehrmals. Dabei drehte es sich um seine Längsachse, so daß ich den Pseudokörper von allen Seiten sehen konnte. Nirgends gab es eine Abweichung von dem gleichmäßigen Muster aus sechseckigen Formen. Plötzlich schoß das Ei senkrecht in die Höhe. Es brauchte keine Sekunde; um in der gut fünf Meter hohen Decke zu verschwinden. Damit erstarb auch die wispernde Stimme. Hier stand ich nun und wußte nicht, was mit mir geschehen war. Wenn dieses Pseudowesen wirklich eine gute Absicht gehabt hatte, so vermutete ich, dann hatte es mich an einen bestimmten Ort geführt. Die Verriegelung der Tür konnte meinen starken mechanischen Kräften nichts entgegensetzen. Eine Alarmanlage hatte ich nicht bemerkt. Also brach ich den Eingang regelrecht auf. Dahinter befand sich ein kleiner Raum, der schwach beleuchtet war. Ein winziges Fenster war in die gegenüberliegende Außenmauer eingelassen. Von einer einfachen Pritsche erhob sich schlaftrunken ein Roxhare. Er blickte mich durchdringend an. »Wer bist du?« fragte er zögernd. Ich sah den Roxharen genau an. Meine Gedanken rasten. »Ich werde dir sagen, wer ich bin«, antwortete ich. »Aber laß mich zuerst raten, wer du bist. Du bist der Immune Zayger.« »Natürlich«, wunderte sich der Roxhare. »Ich heiße YʹMan. Ich bin dein Freund«, erklärte ich. »Ich komme von Empter und bin in Wirklichkeit ein Roboter der Chailiden. Genügt das?« Der Roxhare schaltete unheimlich schnell. »Dann nichts wie weg von hier«, sagte er, und seine Augen funkelten.
* Wir gelangten unbehelligt ins Freie. Zayger folgte mir blindlings. Draußen legten wir eine gute Strecke zurück, um nicht in der unmittelbaren Nähe des Zentralgebäudes zu bleiben. Dann zog ich den Roxharen in eine dunkle Seitengasse. »Ich muß wissen, was geschehen ist.« Er kam meiner Aufforderung sofort nach und erzählte mir alles über den erfolglosen Versuch, den Aufseher der Nebenzelle Chail, PhinʹSar, zu entführen, was zu AiʹSynns Tod geführt hatte. Dann berichtete ich, was sich inzwischen zugetragen hatte. Dabei erwähnte ich natürlich auch Atlan und die Probleme der Uralten, sowie das merkwürdige leuchtende Ei, das mich zu Zayger geführt hatte. Ich schloß mit der Bemerkung, daß wir dringend einen Gleiter benötigten. »Merkwürdig«, antwortete Zayger. »Mit dem Ei kann ich nichts anfangen. Ich kenne es nicht. Und was das Fahrzeug betrifft, so dürfte sich das machen lassen. AiʹSynns Gleiter wäre zu riskant. Ich weiß aber noch aus der Zeit vor meiner Gefangennahme, wohin wir uns wenden müssen.« »Dann nichts wie weiter«, drängte ich. »Man wird deine Flucht sicher bald bemerken.« Zayger zögerte noch einen Moment. »Ich würde zu gern diesen PhinʹSar mitnehmen. Ohne ihn ist alles vergebens. Erst wenn er nicht mehr zu den Abhängigen gehört, haben wir eine Chance, und dein Freund Atlan kann seine Friedenszelle begründen.« »Nach deiner Erzählung ist der Raum des Roxharenchefs gut gesichert. Ich wüßte nicht, wie wir das schaffen sollten.« »Wir müssen warten, bis er das Gebäude verläßt«, meinte Zayger. »Erst brauchen wir einen Gleiter.« Er willigte schließlich ein.
Durch die nächtliche Stadt schlichen wir in Richtung der äußeren Regionen, wo nach Meinung Zaygers die Fluggleiter der Roxharen abgestellt waren. Es gab mitten in der Stadt auch einen kleinen Raumhafen, in dessen Nähe wir uns jetzt befanden. Hier herrschte jetzt noch Leben. »Wir müssen den Platz umgehen«, erläuterte mir Zayger. »Dabei kommen wir an einem kleinen Vergnügungsviertel vorbei, das der geistige Faktor den Abhängigen gestattet hat. Dort können wir sicher ein paar Neuigkeiten aufschnappen.« »Du willst dich doch nicht unter deine Leute wagen«, fragte ich entsetzt. »Das wäre zu gefährlich.« »Natürlich nicht«, beruhigte mich der Roxhare. »Du wirst sehen, daß es geht.« Am Rand dieser Seite des Raumhafens, auf dem nur wenige Zellen der Roxharen standen, weil sich die meisten in einem Orbit um Chail befanden, gab es eine Reihe niedriger Hütten. Zayger steuerte auf eine zu, die im Dunkeln lag. »Es gibt hier Informationsautomaten für Neuankömmlinge«, erklärte er mir. »Dort erfahren wir die offiziellen Nachrichten der Roxharen. Von uns Immunen werden sie zwar aller Wahrscheinlichkeit nichts direkt erwähnen, aber ich kenne mich mit der Art der Darstellung aus.« Er ging zielstrebig auf eine der niedrigen Hütten zu. Die Lichter waren hier bereits erloschen. Erst ein paar hundert Meter weiter erklangen noch Geräusche aus einem halboffenen Haus. »Das ist die Informationszelle.« Zayger deutete auf einen Glaskasten, in dem ein kleines Licht brannte und der eine Tastatur mit einem Bildschirm enthielt. »Ich rufe nur die wichtigsten Meldungen der letzten Stunden ab«, erläuterte er mir, während seine Finger über die Tasten huschten. Was ich jetzt erfuhr, war wenig erfreulich. Die aktuellste Nachricht war die von der Flucht des Verbrechers Zayger. Sein Bild wurde gezeigt. Außerdem kam der Hinweis, daß er vermutlich einen oder
mehrere Helfer gehabt habe. Die Roxharen in der Blauen Stadt hatten wirklich schnell reagiert. Dann kam eine Erfolgsmeldung, die sich auf die Flucht einer ganzen Verbrecherclique aus dem Kastell bezog. Man hatte das Versteck ausfindig gemacht und alle erwischt. Auch zwei Fremde, die man bislang für nicht gefährlich gehalten hatte, waren unter den Gefangenen. Die Bilder von Atlan und Bjo Breiskoll bestätigten endgültig, daß die Roxharen das geheime Versteck auf dem anderen Kontinent entdeckt hatten. Alle anderen Nachrichten waren für mich uninteressant. »Komm«, drängte ich Zayger. »Was wir gehört und gesehen haben, genügt mir. Es bedeutet, daß jetzt nur noch wir zwei auf freiem Fuß sind. Auf die Chailiden können wir nicht zählen. Sie sind von Natur aus zu gehemmt. Und zu der SOL habe ich keine Verbindung.« Ich bezweifelte, ob es unter den veränderten Verhältnissen überhaupt noch Sinn hatte, sich gegen die Roxharen zu stellen. Gemeinsam mit Zayger hatte ich keine Chance, Atlan und die Immunen aus der Gewalt der Roboter zu befreien. Wir umrundeten den Raumhafen. Auf unserem Weg lag alles im Dunkeln, aber wir waren dennoch vorsichtig, denn Zayger meinte, man würde Robotpatrouillen ausschicken. Die Hangars mit den Gleitern waren zu unserem Glück nicht bewacht. Die Roxharen fühlten sich in der Nebenzelle Chail ganz sicher, denn sie vertrauten auf das mentale Netz, das jegliche Aggressionen rasch abbaute. Die Chailiden waren von Natur aus friedfertig. Zayger machte ein Fahrzeug startklar. »Was jetzt?« fragte er mich unsicher. »Empter können wir zwei nicht heraushauen. Aber wir könnten PhinʹSar schnappen.« »Und dann?« Ich streckte abwehrend beide Hände von mir. »Wenn die anderen Immunen noch in Freiheit und für uns
erreichbar wären, hätte es einen Sinn, den Aufseher zu entführen. Doch das ist vorbei.« »Es stimmt leider, was du sagst«, gab Zayger kleinlaut zu. »Aber was sollen wir dann tun?« »Es gibt nur noch einen Weg«, behauptete ich. »Wir brauchen Helfer. Aber wir haben keine. Also müssen wir welche besorgen. Ich könnte nach Hashilan zurückkehren und versuchen, Mussumor zu überreden, die Gefangenen per Teleportation aus dem Versteck zu holen. Dabei könnte man die Wachroboter überraschen. Ich weiß aber nicht, ob die Uralten diesem Plan zustimmen. Sie sind sehr vorsichtig, denn die Roxharen haben ihnen eine ziemlich deutliche Warnung zukommen lassen. Es ist eigentlich eher eine Drohung. Wenn ich mit leeren Händen komme, sind unsere Chancen gering.« »Worauf willst du hinaus, YʹMan?« Ich deutete auf den Kuppelbau, in dem die Anlage zur Verstärkung und Aufrechterhaltung des mentalen Netzes von Chail untergebracht war. Das Bauwerk hob sich deutlich gegen den Nachthimmel ab. Auf seiner Spitze brannten zwei Warnlichter für die Raumzellen der Roxharen. »Du meinst«, folgerte Zayger, »wir sollten versuchen, das mentale Netz zu zerstören.« Ich nickte. »Das läßt sich machen«, behauptete der Immune zuversichtlich. 7. Wenn Mussumor mich in dieser Nacht erlebt hätte, wäre er wahrscheinlich ob meines Tuns verzweifelt gewesen. Obwohl ich von den Uralten erbaut worden war und meine Gedanken sich aus Anteilen der weisen Chailiden zusammensetzten, entwickelte ich regelrecht aggressive Gefühle. Mein Ziel war es, die ganze Anlage, die von den Roxharen für das mentale Netz erbaut worden war, so
nachhaltig zu zerstören, daß an eine Wiederinbetriebnahme nicht zu denken war. Es mußte in mir einen Grund für dieses Handeln geben. Von den Uralten konnten meine Gefühle nicht abstammen. Also, so folgerte ich, gehen sie auf das zurück, was ich im Lauf meines Lebens angesammelt hatte. Darunter waren sowohl die persönlichen Erlebnisse auf Osath oder in der SOL zu verstehen, als auch das, was ich mit meinem empfindlichen geistigen Sensor aus den kosmischen Strömungen in mich aufgenommen hatte. Es war eine traurige Tatsache, aber das Universum war angefüllt mit negativen Emotionen und Wünschen. Davon hatte ich wohl eine Portion zuviel zu spüren bekommen, denn sonst hätte ich niemals die Grundprogrammierung der Uralten überwinden können. Was Zayger und ich vorhatten, war der Bau einer ferngesteuerten Bombe, die den orangeroten Kuppelbau mit den umliegenden blauen Gebäuden vernichten sollte. Von meinen ersten Aufenthalten wußte ich, daß sich dort zur Nachtzeit keine Roxharen aufhielten. Wir arbeiteten drei Stunden in der Dunkelheit. Der Roxhare beschrieb mir genau, wo ich in den abgestellten Zellen auf dem kleinen Raumhafen die Sprengsätze finden würde. Ich machte mich auf den Weg, um die Bomben zu besorgen, während er einen Gleiter so präparierte, das dieser ferngelenkt sein Ziel sicher erreichen würde. Ich schlich über die Betonfläche des Raumhafens auf die erste Zelle zu und drang in sie ein. Auch hier gab es keine Bewachung, weil die Roxharen dies nicht für notwendig erachteten. Als ich mit vier Bomben zu Zayger zurückkehrte, war dieser noch mit seiner Arbeit beschäftigt. Ich half ihm dabei, so gut es ging. Als der Morgen graute, waren wir fertig. Vorsorglich stellten wir einen zweiten Gleiter bereit, mit dem wir nach vollendeter Tat fliehen wollten. »Wir haben nur diesen einen Versuch«, sagte der Roxhare. »Wenn es nicht klappt, wird es im Nu hier von Roxharen und Robotern
wimmeln.« »Es wäre besser«, vermutete ich, »wenn wir vorher verschwinden. Außerdem wird es bald Tag. Dann sind wir noch mehr gefährdet.« Zayger erklärte mir, daß das nicht ginge. Die in aller Eile gebaute Fernsteuerung mußte von ihm per Sicht eingesetzt werden. Mir war plötzlich nicht mehr sehr wohl, und ich bekam Zweifel, ob ich richtig gehandelt hatte. Der Roxhare zog mich wortlos in unseren Gleiter. Ich glaubte fast, daß er meine plötzlichen Skrupel bemerkt hatte. Die Lenkung des Fahrzeugs bereitete mir keine Schwierigkeiten. So hatte Zayger beide Hände frei, um unseren Bombensatz ins Zielgebiet zu steuern. Ich beobachtete, wie der Gleiter unter uns abhob und rasch an Höhe gewann. »Weiter weg«, rief der Roxhare mir zu. Ich zog die Maschine noch höher und beschleunigte in Richtung des nahen Stadtrands der Nebenzelle Chail. »Anhalten«, kam Zaygers nächstes Kommando. »Und wenden.« Die Hände des Roxharen zitterten, während sie über die Kontrollen der Fernsteuerung glitten. Der Gleiter mit den Bomben war nur noch als winziger Punkt in der Ferne zu sehen. Zayger drückte einen Knopf, der mit einem gelben Kreuz markiert war. Der Gleiter schwenkte dicht neben dem Kuppelbau steil nach unten und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich hatte auf einmal das Gefühl, daß die Sache nicht klappen würde. Wir wußten nichts über die Sicherungsmaßnahmen der Roxharen. Zayger hatte behauptet, daß es zu seiner Zeit keine gegeben habe und auch in den 160 Jahren davor nicht. Das mentale Netz selbst war sein eigener Schutzfaktor. Die Sekunden vergingen unendlich langsam. »Schiefgegangen«, murmelte ich. Im gleichen Moment schossen im Innern der Blauen Stadt vier
Flammensäulen in die Höhe. Zayger schloß geblendet seine Augen. »Unauffällig verschwinden«, rief er, noch bevor das Grollen der Explosionen uns erreichte. Ich konnte meinen Blick von den in die Höhe geschleuderten Gesteinsmassen gar nicht trennen. Die gewaltige Explosion war für mich etwas völlig Neues. Der Roxhare griff in die Steuerung unseres Gleiters und beschleunigte. Wir ließen die Stadt hinter uns und flogen hinaus in das freie Land. »Ich glaube, es war ein Fehler«, stöhnte ich noch benommen. »Man kann mit einem Gewaltakt wie diesem keinen Frieden erzeugen.« Plötzlich überwogen in mir wieder die Gedanken der Uralten. »Du irrst dich, YʹMan«, entgegnete mir Zayger. »Ich habe genügend Gewalt in meinem Leben zu spüren bekommen. Diese Explosion und die Vernichtung des mentalen Netzes war Gewalt. Da hast du recht. Das mentale Netz jedoch war eine viel größere Gewalt. Die wahre Gewalt ist meist nicht äußerlich sichtbar.« Ich blickte zur Blauen Stadt zurück, über der sich eine dichte Rauchwolke bildete, und schwieg. Noch bevor wir die Waldzone erreichten, erklangen aus den Ortungsanlagen des Gleiters mehrere Signale. Zayger wurde nervös. »Was ist los?« fragte ich ihn. Er deutete nach oben. »Zwei roxharische Patrouillen. Sie haben mich aufgefordert, den Erkennungscode zu senden. Den kenne ich aber nicht. Mit meiner Antwort scheinen sie nicht sonderlich zufrieden zu sein.« Das Funkgerät schaltete sich selbständig ein, und die herrische Stimme eines Roxharen erklang: »Gleiter 417! Sofort anhalten, oder wir eröffnen das Feuer!« Zayger drehte sich zu mir um. »Kannst du mit der Bordkanone umgehen?« Ich verneinte. Das hätte gerade noch gefehlt, daß ich wild umherschießen sollte. Auf Osath war es manchmal schon schlimm
genug gewesen mit den Gewalttätigkeiten. »Dann übernimm die Steuerung und versuche ihnen auszuweichen«, verlangte der Roxhare. Ich kam der Aufforderung nach, aber ich fühlte mich elend. Immer deutlicher sah ich, daß der Angriff auf die Station des mentalen Netzes ein Fehler gewesen war. Wir hatten viel zu überhastet agiert.. Meine Gefühle waren in totaler Unordnung. Als dann auch noch das Geschütz unseres Gleiters aufbellte, war es ganz aus. »Ausweichmanöver!« brüllte Zayger mir zu. Ich wußte nicht mehr, was ich tun sollte. So zog ich den Gleiter einfach immer weiter in die Höhe. Ein kurzer Blick zurück zeigte mir, daß unsere beiden Verfolger schnell den Abstand verkürzten. Ein Flammenstrahl zischte dicht über uns hinweg. »Seitlich ausweichen!« Ich hörte Zaygers Worte, aber ich wollte sie nicht mehr verstehen. Daher flog ich in einer geraden und ansteigenden Linie weiter. Wieder dröhnte unser Geschütz auf. Zayger rief etwas, was wie ein böser Fluch klang. »YʹMan«, sagte ich zu mir selbst. »Was hast du angerichtet?« Mir fielen Mussumors Abschiedsworte ein. Paß auf dich auf, YʹMan, hatte er eindringlich gesagt. Wenn wir Chailiden der Kern einer galaktischen Friedenszelle werden sollen, dann brauchen wir dich noch. Als Pilot hatte ich offensichtlich versagt, denn ich konnte keine von Zaygers Anweisungen mehr ausführen. Plötzlich riß mich etwas nach hinten. Dann folgte ein schauerlicher Krach. Der Gleiter war von den Verfolgern ins Heck getroffen worden. Ich sah zu allen Seiten die Trümmer auseinanderfliegen. Die Steuerung reagierte nicht mehr. Der Gleiter neigte sich nach vorn und raste mit der Spitze voran auf die Oberfläche von Chail zu. Neben mir versuchte Zayger, mit beiden Händen irgendwo Halt
zu finden. Ich zog ihn zu mir hoch. »Es ist aus, mein Freund«, sagte ich dumpf. Der Wind zerrte an dem immer schneller abstürzenden Wrack, aus dem es für uns keine Entkommenschance mehr gab. Die Oberfläche kam rasend schnell näher. * Der roxharische Chef und Aufseher auf Chail war ein erfahrener Mann. PhinʹSar trug ein Fell, dem man die vielen Lebensjahre nicht ansah. Seit fünf Chailjahren war er der Herr dieses Planeten und damit Aufseher über rund 5000 Roxharen. Aufregende Ereignisse hatte es während seines Aufenthalts auf der fremden Welt kaum gegeben. So hatte sich PhinʹSar schon zufrieden mit seiner Dienstzeit in der Fremde abgefunden. Nach nur einem weiteren Jahr würde er gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin SoonʹKum nach Roxha zurückkehren können. Der geistige Faktor seines Volkes bestimmte die Ereignisse. Er war zwar hier nicht unmittelbar zugegen, aber jeder – oder fast jeder Roxhare richtete sich nach den von ihm aufgestellten Gesetzen und empfand diese als natürliche Gegebenheit. Mit dem Auftauchen des fremden Hantelschiffs im Guel‐System war alles anders geworden. Die Ruhe und Beschaulichkeit waren endgültig dahin. Anfangs hatte PhinʹSar geglaubt, daß sich diese Angelegenheit mit der gleichen Routine erledigen würde, wie alle anderen früheren Begegnungen mit Fremden, die sich von dem Planeten Chail angezogen fühlten. Das mentale Netz aus den Ursprungsimpulsen der Meditierenden und der Verstärkeranlage in der Nebenzelle Chail sorgte für ein
stabiles Gleichgewicht. Wer nicht von vornherein an einer Landung gehindert wurde, gewann auf Chail schnell das Bedürfnis, für immer hier zu bleiben und ein friedliches und naturverbundenes Leben zu führen, wie es die Chailiden selbst taten. Es gab eine Vielzahl Angehöriger fremder Völker auf dieser Welt. Natürlich waren das keine großen Gruppen, und schon allein deswegen fielen sie nicht ins Gewicht. Auch das Auftauchen eines Fremden, der sich Atlan nannte und der sich offensichtlich der Wirkung des mentalen Netzes entziehen konnte, hatte PhinʹSar nicht beunruhigt. Über kurz oder lang würden sich seine Leute um diesen Atlan kümmern. Eine Einzelperson oder eine Gruppe von drei oder vier Mann konnte nach Meinung des roxharischen Aufsehers keinen Schaden anrichten. Selbst als sich bei PhinʹSar der Verdacht erhärtete, daß die Chailiden den Fremden bewußt vor ihm verbargen, hatte er darin keinen Grund für besondere Maßnahmen gesehen. Zu dieser Zeit waren die Eigenmächtigkeiten seines Adjutanten Beng´Tut noch eine willkommene Abwechslung gewesen. Daß der Narr es gewagt hatte, ausgerechnet seiner, PhinʹSars, Lebenspartnerin SoonʹKum nachzustellen, war nicht nur eine bodenlose Frechheit, es war auch sein Pech. In solchen Dingen kannte PhinʹSar keine Nachsicht. Die Bestrafung war vorgesehen. Vorläufig hatte sich Beng´Tut der Vollstreckung entzogen. Er war angeblich bei einer merkwürdigen Geheimorganisation untergetaucht. Für den roxharischen Aufseher war es nur eine Frage der Zeit, bis seine Leute ihn gefunden haben würden. Wirklich aktiv war PhinʹSar erst geworden, als er von dem Ausbruch der Faktorverbrecher erfahren hatte. Diese stellten eine ernstzunehmende Gefahr dar. Er hatte sofort Jagdkommandos aus Robotern angesetzt und selbst Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Wie sehr sich diese Vorsicht bezahlt machte, hatte er bald gespürt.
Prompt waren ihm zwei der Verbrecher in die Falle gegangen. Während der Phase, in der er verstärkt nach den Flüchtlingen suchen ließ, hatte er die zweite böse Überraschung erlebt. Ohne Ankündigung hatten die Uralten sich aus dem mentalen Netz zurückgezogen. Das Netz war zwar automatisch auf einen Notbetrieb geschaltet worden, aber es erfüllte in dieser Zeit nicht seine volle Funktion. Hier war bei PhinʹSar erstmals der Verdacht aufgetreten, daß die Chailiden etwas mit den flüchtigen Faktorverbrechern zu tun haben könnten. Die Ereignisse fielen zu deutlich in die gleiche Zeit. Seine Warnung an die Uralten hatte jedoch schnell Erfolg gezeigt. Sie waren in das mentale Netz zurückgekehrt. Damit war ein großer Unsicherheitsfaktor beseitigt gewesen. Schon hatte PhinʹSar angenommen, nun sei alles wieder im Lot, als er neue und wenig erfreuliche Nachrichten erhielt. Der gefangene Faktorverbrecher Zayger war entkommen. Alle Spuren wiesen darauf hin, daß er mit Hilfe von außen fliehen konnte. Wer der Helfer war, blieb ein Rätsel. PhinʹSars Trost war es, daß fast zur gleichen Zeit auch eine positive Meldung einlief. Die Roboter des Jagdkommandos hatten die flüchtigen Faktorverbrecher gefunden und gestellt. Da diese Geschichte weitab von der Nebenzelle Chail stattgefunden hatte, drohte den Roxharen von den Verbrechern auch keine Gefahr. PhinʹSar wußte als verantwortlicher Führer sehr genau, wie die Anwesenheit mehrerer Faktorverbrecher auf gesunde Roxharen wirkte. Er hatte sofort die Anweisung gegeben, mit dem Wiederaufbau des Kastells zu beginnen, damit die Verbrecher an einen sicheren Ort gebracht werden konnten. Noch während PhinʹSar nachgrübelte, wie die beiden Fremden – Atlan und Bjo Breiskoll – zu den Verbrechern gestoßen sein konnten, erfolgte die Sprengung der Steuerstation des mentalen Netzes.
Der Roxhare zog sehr schnell die richtigen Schlußfolgerungen. Zumindest meinte er das. Hinter der Befreiung der Faktorverbrecher und der Zerstörung des mentalen Netzes konnte nur eine Macht stecken. Seit vielen Tagen stand das riesige Hantelraumschiff der Fremden unweit von Chail. Bis jetzt hatte er es mehr oder weniger geduldet, weil er der Ansicht gewesen war, alles würde sich in der üblichen Weise regulieren. Die Fremden würden entweder abziehen oder auf Chail in Frieden leben wollen. Durch die Zerstörung des mentalen Netzes war es dem Roxharen ganz deutlich geworden, daß er die Fremden unterschätzt hatte. Diesen Fehler galt es schnell zu beheben. Bevor er einen Bericht nach Roxha absetzte, traf er seine Maßnahmen. Alle verfügbaren Kräfte auf Chail wurden zur Suche der Attentäter auf das mentale Netz eingesetzt. Ein Robotkommando bekam den Auftrag, die beiden Fremden, die bei den Faktorverbrechern angetroffen worden waren, sowie den dritten Fremden (Wajsto Kölsch), der aller Wahrscheinlichkeit nach noch in Ushun weilte, in die Nebenzelle Chail zu holen. Die Chailiden wurden höflich, aber sehr bestimmt darum gebeten, sich aus allen Aktionen der Roxharen herauszuhalten. In diesem Punkt rechnete PhinʹSar mit dem schnellsten Erfolg. Der letzte Befehl von PhinʹSar jedoch hatte die größte Bedeutung. Sämtliche Zellen, die er verfügbar hatte, starteten aus dem Orbit um den Planeten und nahmen Kurs auf das fremde Hantelschiff. Dort bildeten sie einen undurchdringlichen Ring aus kampfbereiten Einheiten um das fremde Schiff. Das Ultimatum an die Fremden wollte er erst formulieren, wenn er mit den drei Gefangenen gesprochen hatte. Also mußte PhinʹSar abwarten. Die nächste wichtige Meldung, die bei ihm einlief, besagte, daß es seinen Patrouillen gelungen war, die Attentäter zu stellen. Bei dem
folgenden Kampf war der Gleiter der flüchtigen Verbrecher angeschossen worden und anschließend abgestürzt. Bei dem Aufprall auf die Oberfläche von Chail war eine heftige Detonation erfolgt, die das Fahrzeug und seine Insassen vollkommen zerstört hatte. Er hatte diese Information gerade gelesen, als eine Nachricht von Roxha einging. Der geistige Faktor hatte die Roxharen wissen lassen, daß über den Wiederaufbau des mentalen Netzes erst entschieden werden konnte, wenn der Gegner im Guel‐System identifiziert war. Damit lag das weitere Vorgehen PhinʹSars fest. Er wartete auf die Ankunft der drei Fremden, die sich in seiner Gewalt befanden. * Mussumor erwachte von einer inneren Unruhe. Er wußte im ersten Moment nicht, ob er meditiert oder geschlafen hatte. Durch das offene Fenster seiner privaten Kammer sah er, daß der neue Tag nicht mehr fern war. Sein Kopf summte. Der Uralte merkte, daß etwas nicht stimmte. Er eilte hinaus auf den Versammlungsplatz. Dort sah er mehrere andere Uralte, die sich zu dieser ungewöhnlichen Stunde versammelt hatten. Die Chailiden waren sichtlich erregt, aber keiner sprach ein Wort. Das Oberhaupt von Hashilan öffnete seinen Geist und spürte, was gesehenen war. Das mentale Netz der Roxharen war erloschen. Zu seiner Verwunderung fühlte der Uralte eine Art von Freiheit, die ihm bislang in seinem Leben unbekannt geblieben war. Ein anderer Chailide erschien per Teleportation. »Jemand hat die Station des mentalen Netzes in der Blauen Stadt gesprengt«, berichtete der Mann.
Mussumor stand noch in dem neuen Gefühl des weggefallenen Zwanges. Eine Vielzahl von Eindrücken und Empfindungen prasselte auf ihn hernieder. Er konnte sie gar nicht alle verarbeiten, aber es war eine Information darunter, die ihn instinktiv handeln ließ. Vor den Augen der Uralten teleportierte Mussumor davon. Als die letzten Energien des mentalen Netzes verflogen waren, spürten alle Uralten die Veränderung. Zu dem Gefühl einer neuen Freiheit kamen entscheidende andere Erkenntnisse. »Ich empfange die Botschaften unserer Lehrer«, sagte Gurdonar. Die anderen Uralten pflichteten ihm bei. Hundert oder tausend chailidische Bewußtseinsinhalte suchten gleichzeitig Kontakt zu den Brüdern in der Heimat. Es brach ein regelrechtes Chaos aus, bis nach und nach jeder seinen Gesprächspartner gefunden hatte. Aber das war nicht die einzige Entdeckung. Auch die SOL mit ihren vielen tausend Lebewesen lag jetzt offen vor den Gedanken der Chailiden. »Akitar ist da«, rief einer der Uralten, der zu Mussumors Vertrauten gehörte. »Wir können schon bald seine geistige Sperre beseitigen und ihn nach Chail holen.« Inzwischen befanden sich einige hundert Chailiden von Hashilan auf dem Versammlungsplatz. Sie taumelten in dem neuen Gefühl durcheinander, bis jemand nach Mussumor rief. Sandun, Targar und Gurdonar stellten sich in der Mitte der Uralten auf. Allmählich beruhigten sich die Chailiden. »Er teleportierte weg«, sagte Keliar. »Ich war als eine der ersten hier draußen. Als Mussumor kam, blickte er sich nur kurz um, und dann verschwand er.« »Wir müssen uns beraten«, verlangte Targar. »Was soll jetzt geschehen? Mit unseren Kräften allein können wir das mentale Netz nicht wieder aufbauen. Chail liegt damit schutzlos vor jedem Eindringling, und ihr alle spürt, daß dort draußen ein mächtiges Raumschiff wartet.«
»Es ist das Schiff, mit dem einer von uns zurückkehrt«, sagte eine Chailidin. »Akitar ist an Bord. Akitar, den Mussumor ausgeschickt hat, um gemeinsam mit YʹMan die Wahrheit zu finden.« »Das ist jetzt unwichtig«, behauptete Gurdonar. »Es zählt allein, daß das mentale Netz nicht mehr existiert. Die Folgen sind unabsehbar. Die Roxharen werden vermuten, daß wir die Urheber sind. Ich wage nicht, mir vorzustellen, welche Folgen das für uns haben könnte. Schließlich haben wir uns schon einmal aus dem Netz zurückgezogen, und die Roxharen haben sehr unfreundlich darauf reagiert. Sie haben sich bis jetzt uns gegenüber friedlich verhalten, weil wir keine Aggressionen zeigten. Wen anders als uns sollten sie die Schuld an den Vorkommnissen geben?« »Den Fremden aus dem großen Raumschiff«, vermutete Sandun. »Atlan und seinen Leuten.« Targar trat auf Gurdonar zu. »Ihr denkt in den falschen Bahnen«, behauptete er überheblich. »Gurdonar, wen hast du in die Blaue Stadt gebracht?« Der Uralte stutzte. »YʹMan, den Roboter«, antwortete er dann. »Nur YʹMan, so wie wir es beschlossen hatten.« »Dann kann auch nur YʹMan der Urheber der Sprengung sein«, folgerte Targar. »Fast bin ich geneigt zu glauben, daß Mussumor das gewußt hat. Vielleicht hat er es nur geahnt und ist deswegen so schnell verschwunden, als das mentale Netz zusammenbrach. Sicher ist er jetzt unterwegs, um seinen Schützling zu suchen. Mussumor hat uns hintergangen.« »YʹMan kann es nicht getan haben«, widersprach die Uralte, die zu Mussumors Vertrauten gehörte. »Er wurde nach unseren geistigen Vorstellungen gebaut. Er wäre zu einer solchen Tat nicht in der Lage gewesen.« »Es ist barer Unsinn«, mischte sich Gurdonar in das Gespräch, »Mussumor zu beschuldigen. Deine Absichten, Targar, sind klar erkennbar.« »Für uns gilt nur ein Gesetz.« Sandun sah eine Gelegenheit, sich
selbst ins Bild zu setzen. »Das ist die Lehre von der wahren und vollkommnen Meditation. Daran können auch die Roxharen nichts ändern.« Die Uralten spürten deutlich, daß der alte, unterschwellige Streit zwischen den maßgeblichen Leuten um das Amt des Oberhaupts von Hashilan wieder aufzuflammen drohte. Insbesondere Targar und Sandun wollten offensichtlich die Gunst der Stunde und die augenblickliche Verwirrung benutzen, um mehr Einfluß zu gewinnen. Auch Gurdonar, der durch die jüngsten Ereignisse mit dem Auftauchen YʹMans in aller Munde war, schien sich an diesem Gerangel beteiligen zu wollen. Außerdem war Mussumor im Augenblick nicht in Hashilan, und keiner der Uralten wußte genau, was geschehen war. Die Situation war prekär. Sie entspannte sich erst etwas, als ein weiterer Chailide aus der Blauen Stadt eintraf und eine neue Mitteilung der Roxharen brachte. Darin wurden die Chailiden aufgefordert, sich nicht in die augenblicklichen Angelegenheiten einzumischen. »Ich glaube«, ergänzte der Ankömmling, »die Roxharen vermuten hinter dem Anschlag die Fremden von dem Raumschiff.« »Damit sind wir unsere Hauptsorge los«, erklärte Sandun. »Wir können uns in Ruhe der Meditation hingeben und Neuigkeiten von Lehrern auf den fernen Welten erfahren.« »Wir sollten uns um Atlan und Bjo Breiskoll kümmern«, schlug Gurdonar vor. »Das werden wir nicht tun«, lehnte Sandun ab, und erstaunlicherweise pflichtete ihm Targar sofort bei. »Die Roxharen würden das als eine unerwünschte Einmischung in ihre Angelegenheiten betrachten.« Die überwiegende Mehrzahl der Uralten unterstützte diesen Vorschlag ebenfalls. »Dann bleibt uns nur eins«, sagte Gurdonar unzufrieden, »nämlich
auf die Rückkehr Mussumors zu warten. Noch ist er unser Oberhaupt.« »Noch«, betonte Targar und handelte sich damit einen wenig freundlichen Blick Sanduns ein. Gurdonar richtete noch einen Appell an alle Uralten, in dieser kritischen Situation zusammenzuhalten und sich nicht von den Unruhen anstecken zu lassen. Er hatte damit wenig Erfolg, denn es fehlte die ordnende und glättende Hand Mussumors. Der Tag verging, ohne daß das Oberhaupt wieder erschien. 8. Es spielte sich alles innerhalb von sechs Sekunden ab. Am Beginn dieser kleinen Zeitspanne raste unser Gleiter mit hoher Geschwindigkeit senkrecht nach unten auf die Planetenoberfläche zu. Wir hatten etwa noch einen Abstand von 50 Metern bis zum Boden. Am Ende dieser sechs Sekunden würde das Luftfahrzeug auf dem steinigen Boden aufschlagen und in einer Explosion zerschellen. Ich dachte noch einmal darüber nach, was ich falsch gemacht hatte. Dabei erkannte ich, daß Gewalt gegen die Roxharen der falsche Weg gewesen war. Zayger stand neben mir. Er klammerte sich an die Rücklehne eines Sessels. Sein großer Mund war vor Angst und Panik weit geöffnet. Ich schloß meine Augen, um das Ende nicht zu bewußt zu erleben, denn durch die Gefühle, die mir die Uralten bei meiner Erschaffung eingepflanzt hatten, hing ich an meinem Dasein wie ein Chailide an seinem Leben. Die ganze Widersprüchlichkeit meiner Existenz, ein buntes Gemisch aus freigelegten chailidischen Charakterzügen und angesammelten Erfahrungen und Kenntnissen aus meinen Erlebnissen auf Osath, tobte sich in mir aus.
»Festhalten«, brüllte eine Stimme neben mir, die mir bekannt und vertraut vorkam. »Ich muß euch beide auf einmal mitnehmen.« Bruchteile von Sekunden vor dem Aufschlag öffnete ich meine Sehsinne. Neben mir stand Mussumor. Er krallte eine Hand um den Roxharen und versuchte mit der anderen, um meinen Körper zu fassen. Ich gab mir einen Ruck, der mich in seine Nähe brachte. In diesem Augenblick schlug der Gleiter auf. Gleichzeitig teleportierte Mussumor. Ich hörte noch für einen Moment das Krachen einer Explosion, dann verschwand die Umgebung. Wie ich später erfuhr, teleportierte der Uralte rein instinktiv. Seine Übersinne orientierten sich nach einem Etwas, das ihm und Zayger und mir helfen sollte. So erklärte er es wenigstens. Das muß der Grund gewesen sein, daß wir nicht nach Hashilan gelangten. Es kann aber auch an der großen Entfernung zur Heimstatt der Uralten gelegen haben. Als die Umgebung wieder auftauchte, stand ich auf einer freien Fläche in einem dichten Waldgebiet. Neben mir sank Mussumor stöhnend zu Boden. In seiner Brust steckte ein Trümmerstück des Roxharengleiters, das von dem Aufprall auf die Oberfläche herrühren mußte. Der Uralte hatte seinen Übersinn um einen winzigen Bruchteil einer Sekunde zu spät aktiviert. Auch Zayger war schwer verletzt. Sein linker Unterarm war nur noch eine große, offene Wunde. Ich kümmerte mich zuerst um den Chailiden. Von medizinischen Dingen verstand ich nicht viel. Was ich wußte, stammte praktisch von den Solanern. Auf Osath hatte ich mich mit Verletzungen organischer Wesen nie befassen müssen. In dem Wissensschatz, den mir die Uralten mitgegeben hatten, fand ich keine Informationen darüber, wie man einen Schwerverletzten behandelt. Zunächst entfernte ich das Trümmerstück aus Mussumors Brust. Die Wunde war so tief, daß ich das Schlimmste befürchten mußte.
Ausgerechnet er, der Zayger und mich vor der Vernichtung und dem Tod gerettet hatte, würde selbst an seiner Tat zugrunde gehen. Der Roxhare war bei voller Besinnung geblieben, während sich Mussumor nicht mehr regte. Sein Atem ging flach und stockend. Zayger reichte mir wortlos ein paar stoffähnliche Fetzen, die er irgendwo in seinem Fell eingerollt verborgen gehalten hatte. Einen davon band ich um die Brust des Uralten und zog ihn so fest, daß die Blutung eingedämmt wurde. Mit den beiden anderen Fetzen verband ich notdürftig Zaygers verletzten Arm. Mussumor lag unterdessen stöhnend auf dem Boden. Der Roxhare und ich waren so in unsere Tätigkeit vertieft, daß wir unsere Umgebung nicht beobachteten. Ich fuhr erst herum, als in meiner Nähe eine Stimme erklang. »Das sieht nicht besonders kunstvoll aus«, sagte ein eindeutig weibliches Wesen. Als ich aufblickte, sah ich etwa ein Dutzend Gestalten, die einen Kreis um uns bildeten. Eine Roxharin trat auf mich zu und drängte sich an mir vorbei. Sie nahm meinen Notverband ab, den ich Zayger angelegt hatte, und schüttelte mit dem Kopf. »Ich glaube«, meinte sie, »wir können das besser.« Ich musterte die plötzlich aufgetauchten Wesen, während aus dem nahen Unterholz noch weitere auf uns zukamen. Irgendwo in meinen Speichern gab es einen spürbaren Knacks, denn das, was ich sah, war eigentlich unmöglich. Ich sah ein paar Roxharen, einige, Chailiden, die eindeutig keine Uralten waren, sowie Fremdlebewesen anderer Welten, wie ich sie im blauen Turm kennengelernt hatte. »Wo bin ich gelandet?« fragte ich nicht gerade sonderlich selbstbewußt. Ein junger Chailide trat auf mich zu. In seinem Gürtel steckte eine schwere Waffe, wie ich sie noch nie bei den Chailiden gesehen oder
auch nur vermutet hätte. »Du bist der Roboter YʹMan«, sagte er zu mir. »Wir haben von dir gehört. Das dort ist der Uralte Mussumor, der aus dem geheimnisvollen Hashilan stammen soll. Den Roxharen kenne ich nicht.« »Es ist Zayger, ein Faktorverbrecher«, rief eine roxharische Stimme aus der Schar der Umherstehenden. Der junge Chailide nickte. »Dann will ich dir sagen, wo du gelandet bist, Roboter«, fuhr er mir zugewandt fort. »Du befindest dich im Stützpunkt der Rebellen der Grünen Sichel von NarʹBon. Für lange Erklärungen ist jetzt aber keine Zeit. Wir müssen uns um die Verletzten kümmern.« Ich sagte nichts. Das also war der von AiʹSynn erwähnte Verein. Aus dem Wald brachten sie eine Liege, auf die sie vorsichtig den Uralten legten. Zayger konnte sich aus eigener Kraft bewegen. Dann erklärte man mir, daß ich folgen solle, weil der Aufenthalt unter freiem Himmel immer ein Risiko sei. »Wovor?« wollte ich wissen. »Vor übereifrigen Roxharen«, antwortete eine Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf einen Roxharen, der sein Gebiß fletschte. »Bist du auch ein Immuner?« fragte ich. »Ich bin kein Faktorverbrecher«, bekam ich zur Antwort. »Ich folge den Gesetzen des geistigen Faktors aber nur, wenn ich dazu Lust habe. Und seit einiger Zeit habe ich keine Lust.« Ich hatte in der Blauen Stadt von Roxharen gehört, die das Leben auf Chail einfach satt hatten. Sicher, das waren keine Immunen wie Zayger und die anderen Gefangenen aus dem Kastell, aber sie folgten nicht oder nicht immer den Anweisungen ihrer Herrn. In dem Wald hatten die Rebellen ein kleines Dorf aufgebaut. Ich zählte etwa fünfundzwanzig Angehörige dieser Gruppe. Nach den Hütten konnten es aber auch wesentlich mehr sein. Ein alter Chailide kam uns entgegen.
»Ich werde mich um Mussumor kümmern«, versprach er. »Bringt ihn in meine Hütte.« Um mich kümmerte sich eigentlich niemand. Ich stellte aber fest, daß sich stets eine bewaffnete Person in meiner Nähe befand. Zayger erging es ganz anders. Er wurde sofort in heftige Gespräche der Rebellen verwickelt. Man stellte ihm viele Fragen gleichzeitig, während zwei Roxharinnen sich bemühten, seine Wunden richtig zu verbinden. Erst als der Immune erwähnte, daß ich ihn in der Blauen Stadt befreit hatte und daß wir gemeinsam die Anlage des mentalen Netzes zerstört hatten, wurde ich anerkannt. Nun konnte ich auch an den Gesprächen teilnehmen. Die Roxharen, die zu dem seltsamen Rebellenbund gehörten, waren ausnahmslos keine Immunen. Sie hatten seelisch mit dem geistigen Faktor gebrochen, weil sie die Taten ihres eigenen Volkes für Unrecht hielten. Aus ihren Worten konnte ich entnehmen, daß sie sich in einer problematischen Lage befanden. Ein ständiger Widerstreit zwischen Faktorgehorsam und Eigenwillen bestimmte ihre Worte und Handlungen. Aber alle waren darauf versessen, immun zu werden. Sie wußten aus einer Quelle, die sie nicht erwähnten, daß mehrere Immune an einem Ort heilend auf abhängige Roxharen wirkten. Ich wollte mich nicht in das Gespräch drängen, aber eine Frage erschien mir wichtig. »Ihr nennt euch Geheimbund«, sagte ich. »Welches Ziel habt ihr euch wirklich gesetzt?« Ein älterer Roxhare, der neben einem jungen Chailiden stand, beantwortete meine Frage. »Freiheit für alle«, erklärte er bereitwillig. »Vor allem für die Chailiden, denn die sind ein hochgeistiges und friedliches Volk. Das bedeutet aber auch, daß wir Roxharen von unserem Handeln ablassen müssen und daß die Angehörigen anderer Völker, die mehr oder weniger gezwungen auf Chail und insbesondere im
blauen Turm der Nebenzelle Chail festgehalten werden, selbst entscheiden können sollen, was mit ihnen geschieht.« »Und was bedeutet die Grüne Sichel von NarʹBon?« »Das wirst du zur rechten Zeit erfahren«, antwortete der junge Chailide. »Wir haben innerhalb des eigenen Volkes auch Restriktionen und Grenzen, die wir abbauen wollen. Damit hat es etwas zu tun. Wir müssen erst wissen, ob du und Mussumor auf unserer Seite seid.« »Für den Uralten kann ich nicht antworten«, entgegnete ich. »Aber was mich betrifft, so unterstütze ich alles, was der Bildung einer kosmischen Friedenszelle betrifft, in deren Mittelpunkt der Planet Chail steht. Selbstverständlich zähle ich dazu die Freiheit aller Völker in dieser Zone. Die Chancen für eine Realisierung dieser Friedenszelle sind nicht schlecht. Es weilt ein Mensch auf Chail, der den Namen Atlan trägt.« »Wir haben von ihm gehört«, warf der Roxhare ein. »Gut. Dieser Atlan hat hier an diesem Ort nur ein Ziel, nämlich die Bildung der Friedenszelle.« »Berichte uns mehr darüber.« Weitere Rebellen gesellten sich zu den beiden. Sie lauschten schweigend meinen Worten, als ich ihnen von der kosmischen Konstellation der Kräfte, von positiven und negativen Einflüssen und deren Wirkungen erzählte. Ich wurde erst unterbrochen, als der alte Chailide, in dessen Hütte man Mussumor gebracht hatte, in den Kreis trat. »Der Uralte wünscht dich zu sehen«, sagte er. »Es geht ihm schlecht, aber er wird nicht sterben.« Ich vergaß sofort die wißbegierigen Rebellen und eilte in die Hütte. Mussumor lag auf einer Liege und sah mir ernst entgegen. Über seiner Brust spannte sich ein sauberer und ordentlicher Verband. »YʹMan«, flüsterte er. »Was haben wir angerichtet? Ist das der richtige Weg zum Frieden? Stellt sich Atlan so die Bildung der Friedenszelle vor?«
Ich blieb neben seiner Liege stehen und drehte ihm meinen Kopf so zu, daß er das Gefühl haben mußte, ich würde ihm direkt in die Augen sehen. »Es mag für dich schockierend sein, Mussumor«, antwortete ich, wobei ich mich um einen sanften Klang meiner Kunststimme bemühte. »Was geschehen ist, mußte geschehen. Es werden noch weitere Taten folgen, die den Uralten nicht gefallen werden. Aber die wirkliche Befreiung deines Volkes kann nicht nur auf geistigem Weg erfolgen. Überall im Universum findet eine ständige Auseinandersetzung statt. Ich habe die Wehen dieser Kämpfe zu spüren bekommen. Sie haben mich in deinem Sinn negativ verändert. In Wirklichkeit bin ich jedoch nur der Wahrheit nähergekommen, und das wolltest du auch. Schließlich habt ihr mich so gebaut.« »Ich will nicht abstreiten, YʹMan«, antwortete mir der Uralte mit schwacher Stimme, »daß du die Dinge richtiger siehst als wir. Durch den Wegfall des mentalen Netzes haben wir etwas von der Freiheit zu spüren bekommen, die wir nicht kannten. Innerlich unterstütze ich das Ziel deines Freundes Atlan und seiner Leute. Es wäre eine wunderbare Aufgabe, Chail zum Zentrum einer übergreifenden Friedenszelle werden zu lassen. Ich kann jedoch nicht daran glauben, denn die jüngste Entwicklung und diese Rebellen, bei denen wir zufällig gelandet sind, widersprechen allen friedlichen Bemühungen.« »Auch der Frieden will erkämpft sein«, belehrte ich ihn. »Nur durch Meditation und Übertragung geistiger Anteile kann man ihn nicht erreichen.« Mussumor ging nicht auf meinen Einwand ein. »Ich kann wegen meiner Verletzungen nicht mehr teleportieren«, klagte er. »Ich kann nicht einmal mein Bewußtsein zu einem anderen Uralten schicken, um mit ihm meine Gedanken auszutauschen. Alles, was mir gelungen ist, war das Abhören von ein paar Informationen. Danach sieht es nicht gut aus. Die Uralten in
Hashilan sind sich nicht einig. Natürlich haben sie die SOL nach dem Wegfall des mentalen Netzes entdeckt. Auch das scheint sie zu beunruhigen. Die von den Roxharen auf andere Welten transportierten Lehrer haben sich zu Hunderten gemeldet. Sie überschwemmen Hashilan mit einer Flut von widersprüchlichen Informationen. Und was noch schlimmer ist, die Roxharen sehen in Atlan und der SOL inzwischen einen Feind. Sie haben mit ihren Zellen das große Schiff umzingelt. Atlan und seine Helfer schaffen sie in die Blaue Stadt, um die Gefangenen als Druckmittel gegen die SOL zu verwenden. Das ist die Situation.« Ich schwieg und dachte über seine Worte nach. »Kannst du mir sagen, YʹMan«, fuhr Mussumor nach einer Weile noch leiser fort, »wie aus dieser Lage eine Friedenszelle gebildet werden soll? Ich weiß es nicht, denn Chail befindet sich in einem Aufruhr, wie es ihn noch nie in seiner langen Geschichte erlebt hat.« ENDE Nach jahrhundertelanger Stagnation beginnen sich auf Chail nun die Ereignisse zu überschlagen. Die Roxharen kämpfen darum, das Heft weiter in der Hand zu halten, doch die Stunde ihrer Niederlage scheint nahe. Atlan und YʹMan bemühen sich, die Weichen für eine neue Zukunft der Chailiden zu stellen. Ihr Ziel beinhaltet DIE FRIEDENSZELLE … DIE FRIEDENSZELLE – das ist auch der Titel des Atlan‐Bandes der nächsten Woche. Der Roman wurde ebenfalls von Peter Griese geschrieben.