Überfall aus dem Weltraum Utopischer Roman von K. Richards I. Teil Wann und wo knüpft die Ursachenkette an, welche die ...
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Überfall aus dem Weltraum Utopischer Roman von K. Richards I. Teil Wann und wo knüpft die Ursachenkette an, welche die Ereignisse heraufführte, die die ganze Erdenwelt an den Rand des Abgrundes brachten? Bei nachträglicher Untersuchung dieser Frage kommen wir auf den 25. März 1966 und den Mongolenstaat in Innerasien. An jenem Tage vollzog sich die Besetzung des kurzlebigen Staatsgebildes durch internationale Luftgeschwader. Sie geschah im Auftrag des Erdparlaments, um eine Diktatur zu beseitigen, die den Weltfrieden mit überlegenen, von außerhalb der Erde her angesetzten Waffen bedrohte. Damals spielte sich ein wenig beachtetes Ereignis ab. Gegen Mittag dieses Tages löste sich die Hochnebeldecke auf, die lange über der Landschaft um Baktha Nor hing. Frühlingssonne schmolz die Schneeflocken in der Steppe zusammen. In der Stadt heulten Sirenen, meldeten Luftgefahr. Auf dem Flugfeld wurde Alarmstart angeordnet, denn Beobachter weit jenseits der Grenze hatten durch Funksignale die Annäherung großer Flugzeugverbände gemeldet. Piloten, Funker und Mechaniker liefen zu ihren Maschinen. Aus den Auspuffrohren an den Schwanzenden der Düsenjäger fauchten Flammenzungen, verbrannten das vertrocknete vorjährige Gras, das unter der Schneedecke zum Vorschein gekommen war. Rasch hintereinander startete das Dutzend Maschinen, gewann in zwei Minuten achttausend Meter Höhe und kreiste lange über Stadt und Flugfeld. Bis fern im Südwesten über der Bergkette flimmernde Sonnenstäubchen auftauchten, die rasch zu wohlgeordneten Libellenschwärmen heranwuchsen. 3
Es war eine hoffnungslos überlegene Streitmacht, die dort anflog. Nebeneinander, hintereinander und übereinander hielten die schnellen Kampf- und Transportmaschinen strenge Ordnung. Noch schnellere Jäger umschwärmten die Geschwader wie Hornissen. Der Führer der mongolischen Jagdstaffel beobachtete, daß die vier vorderen Verbände nach Überfliegen der Grenzgebirge Kurs auf andere Ziele nahmen, erst der fünfte flog auf Baktha Nor zu. Der Staffelführer hatte nicht die Absicht, sich diesem Gegner entgegenzuwerfen; die überwachenden Jagdund Kampfstaffeln hätten solchem Vorhaben ein schnelles Ende bereitet. Er setzte sich nach Nordosten ab, wo ein zerklüftetes, bewaldetes Bergland sich erstreckte. Immer an der Grenze der Sichtweite bleibend, beobachtete er, daß der Himmel über Baktha Nor sich weiß fleckte von vielen Wattebäuschen, entfalteten Schirmen abspringender Fallschirmsoldaten, die den Ort und die Industriewerke in Besitz nahmen. Doch als eine schwache seitliche Flugsicherung das Gebirge im Nordosten der Stadt anflog, wurde sie überraschend von der mongolischen Staffel angefallen. Im Umsehen waren die Maschinen in Einzelkämpfe verwickelt, zwei stürzten brennend ab, Flieger retteten sich durch Absprung. Die übrigen hatten alle Mühe, sich der Angreifer zu erwehren und mehrere von ihnen mußten wegen der erlittenen Schäden in der Steppe landen. In dieser Kampfphase ereignete es sich, daß plötzlich ein ungeheurer Dampfstrahl aus dem Waldgebirge aufwuchs und sich himmelwärts in unsichtbare Fernen verlor. Ein zweiter schoß unmittelbar daneben hoch, und ein dritter brach aus der gleichen Stelle des Gebirges hervor, noch ehe die anderen zickzackförmig in den verschieden bewegten Luftschichten verwehten. Die Explosionsschläge, von den Bergwänden vielfach zurückgeworfen, lösten starke Böen und Luftwirbel aus und brachten manches Flugzeug in Gefahr. Als die Minuten verstrichen waren, in denen dies die volle 4
Aufmerksamkeit der Besatzungen in Anspruch nahm, waren die Angreifer verschwunden. Sie hatten das oft geübte Manöver ausgeführt, einzeln, dicht über den Wipfeln der Bäume dahinbrausend, im Schluchtengewirr des Gebirges unterzutauchen, um sich erst dahinter wieder zu sammeln. Das auffällige Geschehen zog mehr Maschinen herbei. Eine Reservestaffel jagte heran, gerade auf die Abschußstelle der Riesenprojektile zu, um solche mußte es sich ja handeln. Sie gingen eiligst wieder auf größere Höhe, denn unten zerriß eine Serie von Explosionen die Erde, Wolken von Sand, Gestein und Ästen wurden hochgeschleudert, Flammen schlugen aus schwarzem Rauch. Im selben Maße, in dem durch Explosion und Brand die großflächigen Tarnnetze zerstört wurden, tauchten aus dem Gelände, das sich noch vor kurzem als ununterbrochenes Waldgebiet darstellte, breite Betonbahnen auf. An den Stellen, von welchen die Riesenraketen aufgestiegen waren, gähnten umfangreiche Trichter. Ringsum am Rande des wirklichen Waldes standen Hallen und Holzgebäude in Flammen. Es dauerte geraume Zeit, bis ein paar Hubschrauber die Landung wagten. Nichts geschah, niemand leistete Gegenwehr. Vor kurzem hatte man noch Menschen laufen sehen, jetzt war niemand mehr zu finden. Funksprüche mit Meldungen und Anfragen flogen durch den Äther. Bald wurde Gewißheit, daß man es mit dem Raumschiffhafen des Mongolenstaates zu tun hatte, dessen völlige Zerstörung vor einer Woche ein amtlicher Bericht gemeldet hatte. Hier befand sich der richtige Raumschiffhafen. Der falsche, die Scheinanlage, welche die Atombombe getroffen hatte, lag ein gutes Stück abseits in einem anderen Gebirgstal. In dem internationalen Stab, der das Unternehmen gegen den Mongolenstaat leitete, gab es einen Sachbearbeiter, dem wenig daran gelegen war, sich seine gute Beurteilung und Beförderungsaussicht dadurch zu verderben, daß er zugab, eine voreilige 5
Erfolgsmeldung ohne Überprüfung weitergegeben zu haben. So unterblieb die Berichtigung. Ein Augenzeugenbericht fand dennoch den Weg in die Presse. Doch über allen anderen sich überstürzenden Ereignissen der damaligen Zeit geriet das Vorkommnis in Vergessenheit, umsomehr, als Wochen, Monate und schließlich Jahre vergingen, ehe sich etwas ereignete, was die Erinnerung wieder wachrufen sollte. Was hatte sich abgespielt? Zwei Wochen vorher war die Hauptstadt Karakorum entsprechend dem Verdikt des Erdparlaments zerstört worden, mit dem Ergebnis, daß die einheitliche Leitung des Aufstandes des Gelben Bundes in Ostasien ausfiel, denn Karakorum war das Zentrum, in dem alle Fäden zusammenliefen. Was in dem Steppen- und Gebirgsstaat Mongolei noch übrig blieb, waren Garnisonen, Industriewerke und Wohnplätze in einigen, im Schnellbauverfahren aus dem Boden gewachsenen Städten. Übrig blieb auch der sorgsam getarnte Raketenhafen im Gebirge von Baktha Nor mit drei vollständig verwendungsbereiten Raumschiffen. Eins davon, Rak III, diente, wie vier andere des gleichen Typs, zur Verbindung mit der nun zerstörten Ätherstation des Mongolenstaates. Die anderen beiden, „Shogun“ und „Mikado“, waren bisher unerprobte Neubauten. Der große Vorsprung, den die Mongolen gegenüber allen anderen Ländern durch ihre praktische Erfahrung im Raumflug hatten, fand in Konstruktionen seinen Niederschlag, die besondere Vorkehrungen zum wasserdichten Verschluß der Antriebsund Steuerdüsen ermöglichten und ihre Verwendung als Luftund Wasserfahrzeuge garantierte. Ihr wesentlicher Vorteil vor allen anderen damaligen Raumflugzeugen war eine viel wirksamere Radioaktiv-Abschirmvorrichtung, die erst den Vorstoß in große Raumfernen möglich machte – und dazu waren die „Mikado“ und die „Shogun“ bestimmt. Niemand in den übrigen Ländern der Erde wußte von ihrem Vorhandensein. Beide 6
Typen waren vom japanischen Forscher Itogo entwickelt worden. Aufschluß darüber, was in den Tagen nach der Katastrophe von Karakorum in der Kolonie von Wissenschaftlern, Ingenieuren, Raumfliegern und Bodenpersonal auf dem Raketenflugplatz vor sich ging, geben die folgenden kurzen Aufzeichnungen Itogos. Sie stehen in seinem Notizbuch, das viel später unter phantastischen Umständen aufgefunden wurde. Wir setzen hierher eine sinngemäß ergänzte Übersetzung des lückenhaften und an vielen Stellen unleserlichen Textes: 18. März 1966. Nach der radikalen Vernichtung der Hauptstadt herrscht Durcheinander im ganzen Lande. Man hört, daß die einzelnen Garnisonen untereinander Verbindung aufgenommen haben, daß Oberst Sirdar militärische Führer zu einer Besprechung zusammenrief und mit ihnen eine neue Regierung bildete. Sun Yan Li, einziger überlebender Minister Subotais, verbreitete durch den Rundfunk einen Aufruf, in welchem er die Regierung Sirdar für ungesetzlich erklärt und verbietet, ihre Anordnungen zu befolgen. Er hat seinerseits ein neues Kabinett aus Politikern und Führern des Gelben Bundes ernannt. Heute Versammlung! Wir warten ab, bis sich wieder eine einheitliche Befehlsgewalt gebildet hat, die über unser Verhalten entscheidet. Vorsorglich werden die drei Raumschiffe beschleunigt startfertig gemacht. 20. März 1966. Erneute Beratung, Feststellung, daß auf baldiges Eingreifen einer allgemein anerkannten Autorität, die über uns Beschluß faßt, nicht zu rechnen ist. Wir müssen selbst handeln. Yadawa will, daß die Raumschiffe ebenfalls nach China oder Japan starten, um sich dort der Aufstandsleitung zur Verfügung zu stel7
len. Die Raumschiffkapitäne, die Besatzungen und ein Teil des Bodenpersonals verweigern die Ausführung. Es wird geltend gemacht, daß die Raumschiffe als Kampfmittel auf der Erde völlig wertlos sind, daß sie dann bestimmt von Nichtfachleuten unzweckmäßig verwendet werden. Yadawa forderte schließlich Kapitän Kuro, Sprecher dieser Gruppe, auf: „So machen Sie einen vernünftigen Gegenvorschlag! Auch Sie wollen ja wohl unsere wertvollen Schiffe nicht kampflos dem Gegner ausliefern!“ Kuro machte den Gegenvorschlag, doch keinen vernünftigen! In Stichworten umrissen: Verwendung der Raumschiffe in unserem Element, im Weltall. Sofortiger Start zum Mond, wenn es sein muß, zum Mars oder zur Venus. Denn wer im Weltraum zuerst Fuß faßt, beherrscht die Erde! Die weitaus überwiegende Mehrzahl der Versammlung bekannte sich zu diesem wahnsinnigen Plan. 22. März 1966. Wieder Beratung, diesmal zu fünft. Irwin, Astrophysiker der Ätherstation, im Flugzeug von Kuro herangeholt, trifft ein. Lange Monate hindurch hat er von der Ätherstation aus seine spektroskopischen, bolometrischen, lichtanalytischen Beobachtungen gemacht, mit kleinen Instrumenten nur, aber unter Bedingungen, die alles in den Schatten stellen, was Beobachtern mit noch so kostbaren Fernrohren von der Erde aus möglich ist. Er kennt das Sonnensystem und weiß, daß es noch eine ferne Insel gibt, die als Lebensplatz für Menschen geeignet sein muß! Schnell entschloß man sich zu dem großen Abenteuer. 23. März 1966. Die Besatzungen sind eingeteilt. Ich selbst bleibe schon meines Alters wegen zurück mit der knappen Hälfte der Belegschaft 8
des Platzes. Der Start ist auf den 27. März 6 Uhr festgesetzt Das Ziel und die Einzelheiten sollen den Besatzungen erst während des Fluges bekanntgegeben werden, den Zurückbleibenden überhaupt nicht. Alles wird so vorbeireitet, daß bei überraschendem Einflug des Gegners, mit dem nach Agentenmeldungen täglich zu rechnen ist, sofort gestartet werden kann. Danach werden wir Zurückgebliebenen die vorbereitete Zerstörung des Platzes der Forschungslaboratorien und Wohngebäude sofort ins Werk setzen. Nochmals finden wir unter dem Datum 23. März 1966 eine flüchtig hingeworfene Eintragung: „Mittagsnachrichten der europäischen Sender: Alle Forscher, Ingenieure, Raumpiloten, die sich für die verbrecherischen Ziele des Gelben Bundes eingesetzt haben, werden vor ein internationales Gericht gestellt werden. Keinesfalls sollen sie zur weiteren Erforschung und Eroberung des Weltraumes zugelassen werden!“ Diese überhebliche, mindestens äußerst ungeschickte Meldung hat ihre Wirkung auf die nicht verfehlt, welche bisher nur mit halbem Herzen bei der Sache waren. Auch ich habe mich nun entschlossen, teilzunehmen auf der „Shogun“, unter Führung von Kapitän Kuro. Ein phantastisches Abenteuer, auch wenn es mit Untergang endet, ist immer noch ein besserer Abschluß eines tätigen Lebens als Internierung und Aburteilung! * Fast zwei Jahrzehnte waren über diesem Geschehnis verflossen. Im großen und ganzen Jahre des Beharrens, wenn auch nicht etwa ungestörten Friedens. Durch eine vorsichtige Politik der Verantwortlichen der Erde gelang es, den menschlichen Ver9
nichtungstrieb soweit zu zügeln, daß eine neue Explosion in einem Weltkrieg vermieden wurde. Die Lage war durch das Nebeneinander von vier großen Staatenbünden bestimmt, der NAF, USA, EAU, FHA (in deutschen Worten: Nordasiatische Föderation, Vereinigte Staaten von Amerika, Europa-AfrikaUnion, Hispanischer Bund in Südamerika). Bisweilen arbeiteten sie zusammen, manchmal machten sie sich in scharfem Gegensatz zueinander die Einflußgebiete in den übrigen Ländern der Erde streitig. Streitfälle schlichtete das WP, das WeltParlament oder World Parliament. Aus der Folge vieler Konferenzen leuchtete ein Ereignis heraus, der Abschluß des Vertrages von Lake Succes. Müde der unablässigen Bedrohung durch hundertprozentige Zerstörungsund Menschenvertilgungsmittel, war man zu dem Entschluß gekommen, alle „Superwaffen“ zu vernichten und ihre Neuherstellung mit wirksamen Mitteln zu verhindern. Dadurch war der Großkrieg praktisch ausgeschaltet, es stand zu hoffen, daß man mit den kleineren Unruheherden im Laufe weiterer organischer Entwicklung fertig werden würde. Die tiefgehenden Gegensätze zwischen den Nationen und Staatenbünden entluden sich nur noch auf dem Gebiet wirtschaftlichen Wettkampfes. Auf diese sehr summarische Schilderung der politischen Verhältnisse soll eine ebenso flüchtige Skizze des für unsere Erzählung Wesentlichen, der Entwicklung der Raumfahrt, folgen. Die ersten Raumschiffe, mit denen es gelang, zum Mond und zum Mars vorzustoßen, wurden nach einem von Itogo erfundenen Prinzip angetrieben, welches die durch Atomkernaktionen verstärkte Explosivkraft verwendete, die sich bei Verbrennung von Wasserstoff in reinem Sauerstoff ergibt. Bald danach gelang es, den Atomkraftantrieb unmittelbar zu verwenden in Form von Atompatronen, in denen diese ungeheure Energiequelle gebändigt und kontrolliert wirksam wurde. 10
Die Geldmittel der Staaten und privater Gesellschaften flossen nach den ersten Erfolgen reichlich. Es gab viele Starts von Raumschiffen, der schon fertiggestellten in Amerika und England und neuerbauter in Deutschland, Frankreich, Rußland und Kanada. Der erwartete Run nach Mondschätzen blieb allerdings aus, bei der Kostspieligkeit des Antriebs war es immer noch rationeller, nach Diamanten, Gold und Platin unter dem Grönland- oder Antarktiseis zu suchen als auf dem Mond. Eine kanadische Expedition, die die Südhalbkugel das Planeten Mars durchforschte, fand sie noch unwirtlicher als die nördliche. Russische Raumflieger erreichten zuerst die noch nie betretene Abseite des Mondes, die in keiner Weise anders ist als die Vorderseite. Dann zerschellte die englische Rakete Lord Duncans mit diesem selbst bei der dritten Mondlandung. Kurz hintereinander suchten vier Raumexpeditionen die Venus zu erreichen, zwei amerikanische, eine deutsche, eine französische. Keine von ihnen kam zurück, ebenso eine russische, die sogar in den Bereich des Planeten Jupiter vorstoßen wollte. Nach dem unheimlichen Gesetz der Serie trat noch eine weitere Reihe von Unglücksfällen ein; die alten Pioniere der Raumfahrt kamen zumeist dabei um. Man sah ein, daß die Konstruktionen doch noch zu roh waren, die erste Erfolgsserie nur ein Zufall. Die Raumflieger hätte das alles nicht abgehalten, immer neue Versuche zu unternehmen. Aber eine allgemeine Ernüchterung war eingetreten, es fanden sich bald keine Geldgeber mehr, die ihr Vermögen wagten. Der Raumfahrtausschuß des WP prüfte die Ursache der Unglücksfälle, eine Sachverständigenkommission bezeichnete als Hauptgrund der Unfälle die bisher unterschätzte radioaktive Nebenwirkung bei allen verwendeten Antriebsarten, wenigstens bei längerer Flugdauer. Alle „Fernflüge“ wurden daraufhin untersagt, bis eine völlig zuverlässige Abschirmung gefunden sein würde, nur Raumschiffe für die Verbindung Erde – Mond noch 11
zugelassen. Für eine Reihe von Jahren waren alle Anstrengungen und Geldmittel dazu zusammengefaßt, auf dem Mond eine feste Station zu errichten. Es war die erste gemeinsame Großunternehmung der Menschheit. Erst achtzehn Jahre nach den ersten geglückten Raumflügen erfand Professor Corteau in Lille einen wirksamen Schutz gegen radioaktive Strahlung, das neuerbaute große Raumschiff „Atlantis“ wurde damit ausgerüstet. Generalingenieur Olafson, Konstrukteur des erfolgreichen Raumschiffes „Terra“, in dem er den Mars erreichte, setzte durch, daß mit der „Atlantis“ der Venusplanet angesteuert wurde. Er selbst leitete die Expedition mit einer Besatzung von 28 Köpfen. Unter nie erlebter Anteilnahme der ganzen Weltöffentlichkeit startete die „Atlantis“ von St. Kilda vor der schottischen Küste. Olafson erreichte das lockende Ziel ebensowenig wie seine Vorgänger. Auf halbem Wege machte er freiwillig kehrt, weil der größere Teil der Besatzung unter der unvorhergesehen starken Wirkung kurzwelliger Sonnenstrahlung erkrankte. Als einzige neue Erkenntnis brachte die kostspielige Expedition mit, daß es zwischen Erde und Venus eine Grenze gibt, jenseits derer diese Höhenstrahlung so sprunghaft an Intensität zunimmt, daß alle Verspiegelungen und jeder Metallschutz durchschlagen werden. Man kannte nun den Grund des Unterganges der früheren vier Venusexpeditionen. Dieser fruchtlose Versuch hatte noch Nachwirkungen. Olafson, den man stürmisch gefeiert und mit Ehrungen überhäuft hatte, mußte die betrübliche Erfahrung machen, daß man nun ebenso bereit war, ihn persönlich für das Scheiten verantwortlich zu machen. Man warf ihm schlechte Auswahl der Mannschaft, den Mangel an jeglichen Vorversuchen und sogar fehlenden Wagemut vor. Der hitzige Streit darüber wurde zwar durch den Spruch hoher wissenschaftlicher Instanzen beigelegt, die die Instrumente und Aufzeichnungen eingehend prüften, 12
aber Olafson war ein erledigter Mann, man trug ihm nicht mehr die Leitung der nächsten Expedition an. Diese, finanziert von den größten wissenschaftlichen Gesellschaften, setzte sich ein bescheideneres Ziel. Sie bekam die Aufgabe, den Kleinplaneten Eros zu erreichen, um einige wichtige Probleme zu lösen. Die Expedition bestand aus den besten deutschen und englischen Raumfliegern und sollte mit der „Atlantis“ von St. Kilda aus starten. Eine Zeitlang war unentschieden, ob der Engländer Andrew Peyton oder der Deutsche Thomas Hulk die Führung übernehmen würde. Schließlich trat Hulk zurück, schied freiwillig von der Teilnahme aus. Hulk gehörte zur jüngeren Generation der Raumflieger, er hatte an vielen Raumflügen zum Mond und zuletzt an der gescheiterten Venusexpedition teilgenommen, galt zur Zeit als der Mann mit der größten Erfahrung auf dem schwierigen Gebiet der Raumschiffnavigation. Als Grund für den plötzlichen Rücktritt Hulks ging durch die Presse die Notiz, daß nach erneuter ärztlicher Untersuchung seine Gesundheit so angegriffen sei, daß er sich besser nicht nochmals monatelang dem Leben unter so künstlichen Bedingungen aussetzte. Den wahren Grund erfuhren oder ahnten nur die Nächstbeteiligten, er hieß – Eva Maria. Eva Maria Kovacz, gefeierte Schauspielerin von internationalem Ruf. Hulk hatte sie in Biarritz kennen gelernt, wo beide sich erholten. Sie fanden Gefallen aneinander. Hulk, der scheinbar unheilbare Junggeselle, verliebte sich. Sie heirateten noch in Biarritz und unternahmen eine Hochzeitsreise rings um das Mittelmeer. Hulk und Frau Eva Maria hätten unter normalen Umständen nach einer Anzahl von Zusammenstößen sich sicherlich aneinander angepaßt, denn das, was sie nach unerforschlichen Gesetzen zueinander trieb, war stärker als das Trennende. Einstweilen spannte sich die Polarität der Gegensätze zwi13
schen den beiden jungen Eheleute mehr und mehr, bis dann eine entscheidende Wendung eintrat. Sie bahnte sich in einer Umgebung an, in der sie am wenigsten daran dachten. Sie ruderten auf der Bucht von Saloniki in den Abend hinein. Beide hingen, jedes für sich, ihren Gedanken nach. Als das Ehepaar später ins Hotel zurückkam, wollte niemand glauben, als sie vorgaben, nichts davon zu wissen, daß in Saloniki wie anderswo heute abend die erste Übertragung vom Mond unmittelbar auf irdische Sender gezeigt werden sollte. Die Übertragung fand in einem Freilichtkino inmitten des Häusermeeres statt. Die erwartungsvolle Stille wurde nur von gedämpft herüberschallendem Straßenlärm durchbrochen. Der Sprecher machte eine Handbewegung rundherum und seine Worte klangen auf: „An diesem Raum, von dem aus ich spreche, fällt nur auf, daß er nichts auffallendes an sich hat. Er könnte ebenso gut im Senderaum einer europäischen Großstadt liegen, anstatt 300 Meter unter dem Normalniveau des Mare Crisium auf dem Mond. Rund 400 000 Kilometer Raumluft trennen uns. Unseren Vätern wäre es noch als ein unerhörtes Wunder erschienen, heute, da Sie kaum eine Zeitschrift in die Hand nehmen können, ohne auf das Wort Lunopolis zu stoßen, klingt es schon banal. Auch dieses technische Wunder ist längst zum Alltag geworden. Wenn Sie später mit oder ohne Begleitung durch die Straßen Ihrer Heimatstadt heimwärts gehen und eine feine Sichel über den Häusern hängt, dann bitte ich Sie, sich einmal eindringlich vorzustellen, daß von dort meine Stimme zu Ihnen drang. Erst dann werden Sie ganz würdigen können, was die Männer vollbracht haben, deren Werk ich Ihnen in dieser Vortragsfolge vor Augen führen will. Bisher sind wenig authentische Berichte und Reportagen über die Mondstadt zu lesen und zu hören gewesen. Aus technischen Gründen ist es nicht immer möglich, Fern14
sehaufnahmen zu senden. Was ich Ihnen jetzt zeigen werde, sind Farbfilme, die vor zehn Stunden bei Sonnenaufgang auf dem Ringwall des Kraters Valier angefertigt wurden. Während sie über den Sender laufen und gleichzeitig hier im Senderaum im Bildfeld des Empfängers erscheinen, gebe ich Ihnen die Erklärungen. Ich schalte ein. Wir sind auf der Gipfelfläche des Ringwalls, der die Ebene des Mare Crisium um 1200 Meter überragt. Unseren Standort wählten wir an der höchstgelegenen Stelle. Von hier aus hat man den weitesten Blick über das noch im Bereiche der Nacht liegende Mare Crisium, eine Fläche von der Ausdehnung der britischen Inseln ohne Irland. Die Nacht ist nicht dunkel, sondern von der Erdscheibe heller erleuchtet als irdische Landschaft in einer Vollmondnacht. Nur in den Schluchten und Schattenbezirken, in die ihr blaugraues Licht nicht eindringt, lagert bleierne Finsternis. Im Schein des Erdlichts bin ich heraufgeklettert, mit vierzehn Astronomen und Ingenieuren der Mondstadt, unter denen sich der Kommandant von Lunopolis, Generalingenieur Dr. Bratt und der Chef des Nachrichtenwesens, Chefingenieur Lee befanden. Für Alpinisten auf Erden wäre der Aufstieg eine sehr anständige Tagesleistung gewesen. Wir schafften es in knapp drei Stunden. Sie bemerkten ein verhülltes Etwas auf dem höchsten Punkt des Mondkraters Valier und davor im Halbkreis zwei Dutzend Menschen, anzusehen wie Taucher auf dem Meeresgrund. Einer der Taucher, es ist Generalingenieur Bratt, hebt den Arm, die Hülle fällt von dem Monument, es ist ein mächtiges Steinkreuz, ein Gipfelkreuz, auf dem in erzenen Buchstaben die Namen aller Opfer der Raumfahrt von Valier bis zu den letzten hier in der Mondstadt verunglückten Männern verzeichnet sind. 15
Für Sie ist es eine stumme Feier, wir hörten seine Worte mittels der in den Taucherhelmen eingebauten Kleinsprechgeräte.“ Die Stimme der Sprechers wurde wieder sachlich. „Die erste sichtbare Auswirkung des Vertrages von Lake Success ist Lunopolis, die in wenigen Jahren entstandene Menschenstadt auf dem Mond, unser Stolz. Der Mond stellt eine ideale Basis für astronomische Forschungen dar, denn keine Lufthülle hindert. So unendlich überlegen ist diese – erst vor drei Wochen in Betrieb genommene – Sternwarte denen der Erde, daß deren kostbare Instrumente – nicht gerade nur noch Schrottwert haben, – aber künftig nur noch für Hilfsaufgaben zu gebrauchen sind. Ich komme auf dieses Thema in einer der nächsten Sendungen, bei Besichtigung der Auswertezentrale, zurück, verwende die übrige Zeit lieber, um Sie noch einen Blick auf den Mondspiegel werfen zu lassen. Die Linsen unseres Aufnahmekoffers sind jetzt von einem Felsvorsprung aus nach unten gerichtet, auf die Mareebene im Osten, die vom ersten Sonnenlicht getroffen wird. Auf den ersten Blick erkennen Sie, daß der Spiegel, der das ganze Blickfeld ausfüllt, nicht eine homogene Schicht ist, sondern einem sehr engen blitzenden Gitter oder einem Gewebe aus Silberfäden gleicht. Wenn Sie schärfer hinsehen, bemerken Sie unabsehbare Ketten von Lichtpunkten auf der ganzen Fläche. Im Fernglas lösen sich die Lichtpunkte zu sich fast berührenden winzigen Schrägflächen auf, in Wahrheit sind es 10 x 10 Meter große, ebene, quadratische Spiegelflächen aus millimeterdünnem Metall. Jede einzelne ruht auf einer mannshohen Stütze. Das Spiegelblech ist gerade so stark, daß es sich bei der geringen Mondanziehung nicht verbiegt. Alle Spiegelzellen haben die gleiche Neigung. Fernelektrisch eingerichtet durch eine ganz einfache, doch genau arbeitende Vorrichtung, drehen sie sich mit dem Sonnenstand. Die Spiegelanlage, an der ständig weitergearbeitet wird, bedeckt die Fläche mehrerer irdischer 16
Großstädte, sie hat einen Großteil der Arbeitsleistung des letzten Jahrzehnts erfordert. Dieser aus Einzelzellen bestehende Riesenspiegel ist ideal korrosionsfrei, und es ist errechnet worden, daß erst nach dreihundert Jahren eine Reinigung nötig werden wird, weil erst dann eine merkbare Trübung durch Meteorstaub spürbar sein wird. Als allgemein bekannt kann ich voraussetzen, daß der Mondspiegel das rückgestrahlte Sonnenlicht auf eine quadratmeilengroße Fläche des grönländischen Inlandeises wirft und dort eine Temperatur von 40 - 50 Celsiusgraden erzeugt. Mit dieser Wärme werden im Lauf von Jahrzehnten die Eiskappen unserer Pole abgeschmolzen werden, so allmählich, daß keine Wetterkatastrophen und keine Überschwemmungen eintreten. Erst kommende Generationen haben den Gewinn davon, Neulandflächen für Ansiedlung und Anbau. Wir sehen und hören uns wieder bei den nächsten Sendungen, um dann miteinander die astronomischen, selenologischen biologischen und Strahlungsforschungsstätten zu besuchen. Ich werde einen Querschnitt durch den Verlauf eines Arbeitstages geben, Ihnen die im Bau befindliche Raumschiffwerft und die neue große Raumschiffhalle zeigen, die Schalterzentralen für Mondspiegel, Sender und Sternwarte, und schließlich Wohnungen und Werkstätten der Forscher und Werkmänner. Wir werden in das neu entdeckte, wasser- und luftführende THöhlensystem tief unter dem Sockel des Gebirges hinabsteigen und der Landung eines Raumschiffes beiwohnen. Auch die kapitalkräftigen unter Ihnen müssen einstweilen noch mit diesen Schilderungen vorlieb nehmen, bis der Touristenverkehr zum Mond freigegeben wird. Ich verabschiede mich von meinen Hörern!“ Das Ehepaar Hulk kam erst spät nachts ins Hotelzimmer zurück und fand dort ein Telegramm vor: „Peyton bei Erprobung neuer 17
Bremszündsätze schwer verletzt. Drahtet unverzüglich, ob bereit, Leitung Erosexpedition zu übernehmen!“ Hulk brummte etwas Unverständliches, drehte das Papier in den Händen und reichte es schließlich seiner Frau, die auf dem Bettrand saß. Sie las und sagte: „Sie sollen einen anderen beauftragen!“ Hulk seufzte: „Das geht nicht. Man muß sein eigenes Glück für ein großes Ziel, für das Wohl der Menschheit, zum Opfer bringen …“ Er verbesserte sich: „Nicht zum Opfer bringen, für ein paar Monate zurückstellen können. Dann bin ich wieder bei dir!“ In Eva Marias Augen kam ein fremder Ausdruck, ihr Mund blieb hochmütig geschlossen. Erst als Hulk wieder zum Sprechen ansetzen wollte, kam sie ihm zuvor: „,Zum Opfer bringen’ war das richtige Wort! Du hast dich sehr schnell dazu entschlossen. Alles, was du sonst sagst – Wohl der Menschheit –, sind nur abgestandene Ideologien. Ich soll dir wohl zureden, soll edelmütig zurückstehen!“ „So hast du noch nie gesprochen! Versteh mich doch. Jeder, der einmal dort draußen war, im unendlichen Raum, den zieht es mit unwiderstehlicher Gewalt wieder zurück.“ „Wie du meinst!“ sagte sie kühl. „Wenn du mich zum Opfer bringen, zurückstellen willst, um einer sogenannten Aufgabe willen – bitte!“ Hulk hielt es für besser, zu schweigen. In der letzten Stunde des Abschieds, als der Koloß des Raumschiffes „Atlantis“ startbereit auf der schrägen Anlaufbahn in St. Kilda lag, umlagert von einer unübersehbaren Menge, nahm er nochmals einen Anlauf, mit ihr zu sprechen. In diesem Augenblick kamen ein Herr und eine Dame rasch auf sie zu. Ein breitschultriger, weißhaariger Hüne und eins vornehme Dame mit aschblondem Haar, in das sich silberne Fäden mischten – Olafson und Frau Nora, des Nestorehepaar 18
der Raumfahrt. Olafson kam Hulk zuvor und machte seine Frau und sich Eva Maria bekannt. Frau Nora sagte: „Wir haben Sie beobachtet, das gibt uns Mut zu einem Vorschlag. Verzeihen Sie, daß es in der letzten Minute geschieht, wir konnten nicht eher zu Ihnen vordringen. Wir fühlen nach, wie Sie sich mit diesem Abschied quälen. Ihre junge Frau wird sehr einsam sein! Wie wäre es, wenn Sie reisen würden, mit uns zusammen, Frau Hulk! Wir sind im Begriff, nach Insulinde, nach Celebes, abzureisen, zu meinem Bruder, der dort eine Pflanzung besitzt. Schicksalsgenossen können Sie besser verstehen als alle anderen, auch wir kennen die Qualen der Trennung und Sehnsucht!“ Wer Frau Eva Maria während dieser Unterhaltung scharf beobachtet hätte, würde bemerkt haben, daß sie nacheinander erstaunt, ablehnend, unschlüssig war, endlich lächelte, offenbar bezwungen von der Freundlichkeit dieses Anerbietens. „Danke, gern!“ sagte sie zögernd. Hulk beugte sich über Frau Noras Hand und küßte sie; er wollte noch Worte des Dankes sagen, doch Olafson und Nora hatten sich schon entfernt, um die beiden in den letzten Minuten sich selbst zu überlassen. Sie fanden aber nichts anderes als alltägliche Worte. Noch einen Augenblick stellten sie sich den Linsen der Bildberichterstatter, dann war es Zeit für Hulk, an Bord zu gehen. Rasch sagte sie ihm Lebewohl, tränenlos wandte sie sich ab, um mit dem Ehepaar Olafson einen Schutzbunker aufzusuchen. * Nun waren sie schon sechs Wochen auf Celebes, dieser zerrissensten und in ihrem Innern unzugänglichsten der großen Sundainseln, deren anbaufähige Gebiete erst in den letzten Jahrzehnten großzügiger Plantagenwirtschaft erschlossen worden 19
waren. Das Haus, welches Olafsons Schwager Holmgreen bewohnte, lag inmitten einer meilenbreiten, hügeligen Küstenlandschaft, die das Gebirge im Nordufer der Tukala-Halbinsel ausspart. Rund um das zweistöckige Wohngebäude erstreckten sich die Pflanzungen. In ihnen gedieh fast alles, was die verschwenderische Natur dieses Landstriches wachsen läßt: Kokospalmen, Kaffee, Tabak, Reis. Frau Olafson saß in der Bibliothek, als der Apparat läutete. „Eine schlechte Nachricht?“ fragte sie bestürzt, als sie die Stimme ihres Bevollmächtigten in Norwegen erkannte. „Nein, nein, ein Lebenszeichen der Erosexpedition. Nach Wochen das erste, leider stark verstümmelt wegen zu geringer Lautstärke. Ich lese vor: Empfangsstelle LCM Lunopolis … nach Landung aufgefunden … Überreste Itogos … dringende Warnung … droht … unbekannte Gewalten … Eva Maria und die Freunde …“ „Ich habe mitgeschrieben.“ „Der Text ist leicht zu ergänzen, aber es ist nicht zu ersehen, vor welcher Gefahr er warnen will! Empfangsstelle LCM überwacht weiter die Welle der ‚Atlantis’!“ Frau Nora wanderte im Zimmer hin und her. In den Tagen nach dem Start waren noch Sprüche der Erosexpedition übermittelt worden, Grüße an die Zurückgebliebenen, Nachrichten vom bisher glatten Verlauf. Dies alles hatte Hulks Frau auffällig wenig erregt, auch nicht, daß dann mit größer werdender Entfernung die Funksprüche ausblieben. Frau Hulk schien die Abwesenheit ihres Mannes wenig auszumachen. Auf einer Gesellschaft hatte sie Angele Soriano getroffen, einen Fremden, den man allgemein mißtrauisch beobachtete. Er war das Oberhaupt einer Sekte, die sich „Erwählte des letzten Gerichts“ nannte. Frau Nora Olafson ließ sich in einen Sessel fallen. Ob Eva Maria ihren Kummer über die ausbleibenden Nachrichten nur verbarg? 20
Jetzt war wieder Nachricht da. Vielleicht würden die Grüße aus Weltenferne die Wirkung ausüben, die Vorhaltungen sicher nicht erzielen konnten. Sie wollte wachbleiben, bis Frau Hulk zurückkam. Olafson hatte sich seinem Schwager angeschlossen, der sich auf den Außenstationen Bericht über die Leistungen des Tages erstatten ließ. Holmgreen redete zu Olafson von der Fundstelle oben im Gebirge, die zu seinem Besitz gehörte. Dort war das Reich von Holmgreens erwachsenem Sohn Per. „Hättest du nicht Lust, einmal hinaufzufliegen?“ fragte er. „Du bist doch Jäger. Oben gibt es genug Hirsche und Wildschweine. Per kann dir zwei von den Eingeborenen mitgeben. Du kannst dein Standquartier bei der Hütte aufschlagen, es ist angenehm kühl da oben!“ Olafson ging sogleich darauf ein. „Ja, ich glaube, daß es mir gut tun, mich ablenken könnte. Wann fliegt denn ein Flugzeug hinauf?“ „Das nächste schon morgen früh! Unser Pilot fliegt zur Hütte und überbringt allerlei Bedarf.“ „Gut, dann werde ich morgen früh mitfliegen. Ich brauche nicht viel Vorbereitung. Eine Jagdflinte suche ich mir noch heute abend aus, und du läßt mich morgen früh ans Flugzeug bringen!“ Holmgreen stimmte zu. „Gewiß läßt sich das machen!“ Sie hatten den Abendspaziergang weiter als sonst ausgedehnt und kamen auf dem Heimweg an einem Platz vorbei, von dem man tags einen weiten Bundblick über die Küstenlandschaft bis zum Meer hatte. An diesem Aussichtspunkt stand eine Ruhebank. Olafson und Holmgreen waren lautlos auf dem grasüberwachsenen Pfad im Dunkel herangekommen; sie sahen, daß die Bank, die sich im Schatten von Fächerpalmen befand, besetzt 21
war. Holmgreen ließ eine starke Taschenlampe aufleuchten, ihr Lichtkegel wanderte über Baumstämme und dunkle Büsche und ruhte auf einem eng umschlungenen Paar – Soriano und Eva Maria. Diese hielt erschreckt und geblendet die Hand vor das Gesicht. Soriano veränderte seine Stellung nicht, behielt weiter den Arm um Eva Marias Schulter, die andere Hand in der Tasche seines Tropenanzugs. Er tat nicht, was wohl jeder andere in dieser Lage getan hätte, er sprang nicht auf, verbat sich nicht, daß man ihn anleuchtete, er musterte die beiden Störer, unbeeindruckt vom grellen Licht mit einem kühlen, verwirrenden Blick, so daß sich Holmgreen seinerseits entschuldigte: „Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte … Eingeborene.“ Das Licht verlosch, aber die Beiden spürten noch weiter den bösen Blick des Fremden, der nicht den mindesten Ansatz zu einer Erklärung machte. Geradezu schuldbewußt zogen sie sich zurück. Eine Zeitlang gingen Olafson und Holmgreen schweigend nebeneinander her. „Ein unheimlicher Kerl!“ sagte der alte Holmgreen endlich. „Meine Schwester hat sich mit Frau Hulk eine schwere Verantwortung aufgeladen“, fuhr er nach einer weiteren Schweigepause fort. „Sie kann nichts daran ändern, wenn die junge Frau einem anderen ihre Gunst zuwendet.“ „Aber nicht einem solchen, einem Halbverrückten, einer Rattenfängernatur. Man muß eingreifen, wenn sie nicht nachgeben will, muß sie unser Haus verlassen!“ ereiferte sich Holmgreen. * In der Frühe des Tages gelang es Olafson, sich so leise zu erheben und anzukleiden, daß er seine Frau nicht weckte. Der Pilot erwartete ihn bereits, ein Wagen brachte sie zu dem kleinen Flugfeld in einer Wegstunde Entfernung, und ein kurzer Flug 22
versetzte sie auf eine größere Urwaldlichtung noch diesseits des höchsten Gebirgsrückens. Am Nachmittag wollte Olafson zu einem ersten Jagdausflug in die Umgebung aufbrechen, er gab es aber für diesen Tag auf, weil er sich unpäßlich fühlte. Gegen Abend hatte er heftiges Fieber, glaubte an einen Malariaanfall, und bekämpfte ihn selbst mit einer kräftigen Dosis Atebrin. Am nächsten Morgen war das Fieber herunter, aber er war viel zu zerschlagen, um auf Jagd gehen zu können. Doch eigensinnig wehrte er sich dagegen, daß man nach einem Flugzeug funkte, um ihn ins Tal zurückzubringen. Per tat es dennoch heimlich. Er bat seinen Vater, der noch am Abend heraufkommen wollte, einen Arzt mitzubringen. Im letzten Abendlicht landete die Maschine mit Holmgreen und Dr. Iversen, einem etwa vierzig Jahre alten Arzt, der sich vor einigen Jahren auf der Halbinsel niedergelassen hatte. Sie fanden Olafson in einer Wellblechhütte mit schwerem Fieber, wirre Reden führend. Der Arzt untersuchte, machte Einspritzungen. Wider Erwarten drängte er nicht auf sofortigen Abtransport. „Keine Malaria“, stellte er fest, „ein Sumpffieber, das seit einiger Zeit hier auftritt, ähnlich verläuft wie eine starke Grippe mit hohen Bluttemperaturen. Komplikationen sind selten. In einigen Tagen ist Herr Olafson wieder wohlauf. Wir wollen noch bis morgen abwarten, wenn dann keine Verschlimmerung eingetreten ist, mag er einstweilen hier oben bleiben, es wird ihm zuträglicher sein, als die Hitze im Tal.“ Schweißgebadet erwachte er am Morgen des fünften Tages seiner Anwesenheit hier im Waldlager aus dem durch künstliche Mittel verlängerten Schlaf. Iversen erschien im Ausschnitt der Tür. Während er seinen Namen nannte, nahm er einen Helm vom Kopf und hängte ihn an einen Bettpfosten. Er fühlte den Puls und stellte fest: „Jetzt sind Sie fieberfrei! Zwei Tage lang haben Sie unter Dolantin gelegen.“ 23
„Ich fühle, daß es mir besser geht“, sagte Olafson. „Aber gestern hatte ich scheußliche Angstträume. Donnergetöse, feurige Bahnen am Himmel, Feuer im Lager, viel Lärm und Schüsse.“ Dr. Iversen antwortete nicht. „Ich weiß, Doktor, was Sie denken! Holmgreen hat Ihnen sicher von meiner Krankheit erzählt, derentwegen ich hier zur Erholung bin. Kann das Fieber allein solche Trugbilder erzeugen?“ „Sie brauchen deswegen keine Sorge zu haben“, antwortete der Arzt. „Im Gegenteil. Das hohe Fieber wird wirksamer als alles andere die letzten Reste der funktionellen Störung durch kräftige Durchblutung beseitigt haben! Und nun trinken Sie erst mal ein Gläschen! Sie können es schon vertragen!“ Er entkorkte eine flache Flasche, die er aus seinem Rock zog, goß ein Glas voll und reichte es Olafson. Während dieser trank, nahm Iversen wieder das Wort. „Sie müssen es ja doch erfahren. Was Sie in der vergangenen Nacht – nicht gestern – gesehen und gehört haben, war Wirklichkeit.“ Iversen trank selbst ein Glas aus seiner Flasche, stützte dann sein Kinn in eine Hand und sprach weiter. Seine Stimme war rauh. Er suchte nach Worten. „In der Abendstunde, bald nachdem ich Sie versorgt hatte, sahen wir die Feuerstreifen vieler Raumschiffe am Himmel, von denen auch ein paar auf unserer Halbinsel gelandet sein müssen!“ Olafson richtete sich halb auf. „Ich glaube, Doktor, wir haben die Rollen vertauscht! Jetzt haben Sie Fieber und ich bin bei klarem Verstand.“ Der Arzt zog seine dichten Augenbrauen leicht zusammen und fuhr unbeirrt fort: „Mehrere Stunden später, in der Nacht, brach der Aufruhr los. Die Mehrzahl der Eingeborenen ist uns davongelaufen, mit Frauen und Kindern. Sie haben alles Handwerkszeug mitgenommen, haben in unseren Baracken geplündert, es hat eine Schießerei gegeben, Verletzte. Ehe wir recht 24
zur Besinnung kamen, ist auch der Pilot mit dem Flugzeug gestartet. Er ist nicht wiedergekommen!“ Olafson schwieg, seine Gedanken arbeiteten, dann fragte er: „Haben Sie Nachricht von der Küste? Was ist dort geschehen? Wie geht es meinen Angehörigen auf der Pflanzung?“ „Wir wissen es nicht. Das Funkgerät ist fort, gestohlen. Holmgreen hat sofort ein paar von den alten, zuverlässigen Eingeborenen ausgeschickt, zu Fuß durch den Wald. Sie sollten zurückfliegen und uns Bescheid bringen. Niemand scheint wiederzukommen von dort. Wir wissen nichts, gar nichts, was eigentlich vor sich gegangen ist!“ „Was soll der Helm bezwecken, den Sie tragen?“ „Ein Einfall von Per Holmgreen. Er war es, der die rätselhaften Erscheinungen systematisch analysierte und einen Schutz gefunden hat, Obwohl die Sache mehr in mein Fach schlägt.“ „Welche Erscheinungen?“ „Niemand konnte sich die plötzliche Erregung der Eingeborenen erklären. Per Holmgreen sprach die Vermutung aus, daß ein Etwas in der Luft liegen müsse, das zu solchen Handlungen veranlaßt, zum Davonlaufen und zur Mitnahme von allem, was sie an Werkzeug tragen können. Anders ausgedrückt, daß wir uns in einem Feld fremden Willens befinden, welches unsere Gedanken und unser Wollen beeinflußt, wie ein Magnetfeld ein Eisenstück. Das schien uns zuerst überaus abenteuerlich, ist aber nachprüfbar. Je nach Alter und Geschlecht verhalten sich die einzelnen etwas verschieden dagegen, auf Eingeborene wirkt es stärker als auf Weiße. Ihre Resonanz ist dafür besser. Aber niemand kann sich entziehen. Manchmal nimmt dieses Etwas an Stärke zu, manchmal setzt es für Stunden ganz aus.“ „Das ist ja alles ein gottverdammter Unsinn! Verzeihen Sie, aber anders kann ich den Eindruck nicht wiedergeben, den Ihre Erklärung auf mich macht.“ „Es ist gut, daß Sie schon wieder fluchen können! Sie brau25
chen nur den Kopf aus dieser schützenden Wellblechbaracke herauszustecken, dann werden Sie den Einfluß spüren. Nur ein leichtes Ziehen in den Schläfen, es entsteht aber das brennende Verlangen in Ihnen, etwas zu tun, was Ihnen nachher unsinnig erscheint. Kein in Worte gefaßter Befehl. Es ist so, als wenn eine fremde Kraft sich Ihres Überbewußtseins bemächtigt, an Ihrer Stelle denkt, in Ihrem Gehirnapparat schaltet. Wenn man diese Erkenntnis hat, darauf gefaßt ist, kann man unter Aufbietung aller Willenskraft sich widersetzen. So, wie ein Heißhungriger es auch fertig bringt, weiter zu hungern, wenn man ihn an einen gedeckten Tisch führt.“ „Wie hat denn Per Holmgreen den Schutz gefunden?“ „Wir kamen sehr bald darauf, daß man in den Wellblechbaracken nicht beeinflußt wird, daß also Metall das unbekannte Etwas abschirmt. Holmgreen hat dann Versuche gemacht; es genügt, die Schädelkapsel ringsum zu schützen. Wir haben kein anderes Metall, das wir verarbeiten können, als Wismut, das hier oben abgebaut wird. Aber gerade das scheint besonders geeignet zu sein; schützt besser als Eisen, vielleicht, weil es schwerer, dichter gepackt ist. Es läßt sich ja leicht schmelzen und in Formen gießen. Seit gestern früh stellen wir Formen her und gießen Kopfhelme aus Wismutblech, ausreichend für uns alle. Ich werde Ihnen einen bringen lassen. Setzen Sie ihn im Freien unter keinen Umständen ab.“ „Wie erklären Sie denn das alles?“ „Gar nicht! Erklären heißt, auf bekannte Erscheinungen zurückführen, und eben das können wir nicht. Wozu Hypothesen aufstellen, wenn man nicht den geringsten Anhalt hat! Wir werden ja die Zusammenhänge erfahren, wenn wir an der Küste sind!“ „Wann brechen wir auf?“ „Sobald Sie wieder marschfähig sind oder wenigstens transportfähig. Ich werde Ihnen nochmals ein Schlafmittel geben; 26
wenn Sie aufwachen, sind Sie wohl kräftig genug. Uns allen wird der Schlaf gut tun, seit zwei Tagen und Nächten sind wir nicht dazu gekommen. Vielleicht trifft inzwischen doch das Flugzeug ein.“ Nach Ablauf dieses Tages und der Nacht, in der wieder sechs Eingeborene verschwanden, die gegen Befehl ihre Kopfhelme abgesetzt hatten, war kein Flugzeug angekommen. Wohl oder übel mußte nun der tagelange Fußmarsch zur Küste angetreten werden. Mittags trafen sie auf Felder und ein Dorf. Nur Alte und Kranke, Bewegungsunfähige waren zurückgeblieben. Dennoch vollführten sie in der Nacht viel Lärm mit Gesang und Geschrei. Am Morgen erzählten die Hüttenarbeiter, daß die Dörfler eine Teufelsbeschwörung vorgenommen hätten; sie opferten Hühner und eine schwarze Ziege den bösen Geistern. Vor zwei Nächten seien fliegende Dämonen mit feurigem Atem und glühenden Augen in der Dunkelheit über das Dorf geflogen und danach wären die letzten gesunden Männer, Frauen und Kinder zur Küste aufgebrochen, niemand hätte sie zurückhalten können. Aufs neue begann am nächsten Tag der Kampf mit der Wildnis, mit Nässe, Moskitos und Lianen. Bei der abendlichen Rast fragte Olafson den Doktor: „Sie sagten, Raumschiffe seien niedergegangen in großer Zahl. Kann es nicht etwas anderes gewesen sein?“ „Auf keinen Fall. Wenige Stunden später begannen die Wirkungen der unbekannten Kraft, die Willensbeeinflussung. Gestern erzählten die Eingeborenen von den fliegenden Nachtgespenstern. Wenn man diese drei Dinge zusammenhält, bleibt kein anderer Schluß übrig, als daß wir es mit einer Invasion fremder Geschöpfe aus dem Weltraum zu tun haben.“ „Eher glaube ich noch an eine Angelegenheit menschlicher Technik“, mischte sich Per Holmgreen ein. „An einen Versuch 27
etwa, den man aus Geheimhaltungsgründen nicht angekündigt hat.“ „Wie erklärst du dann die fliegenden Dämonen der Eingeborenen?“ „Können auch Flugzeuge gewesen sein.“ „Kaum! Das Waldgebiet wird doch täglich überflogen; es ist nicht anzunehmen, daß die Eingeborenen ein Flugzeug als Dämon ansehen.“ „Was Sie annehmen, Per Holmgreen“, meldete sich Iversen, „setzt so viele Unwahrscheinlichkeiten voraus, daß ich eher noch der Ansicht von Herrn Olafson zuneige. Wenn es für den gesunden Menschenverstand auch nicht leicht ist, an etwas Unirdisches, an uns feindliche Geschöpfe aus dem Weltraum, zu glauben.“ „Weshalb sollten sie denn feindlich sein?“ warf der alte Holmgreen ein. „Die Verwendung von Raumschiffen setzt hohe Intelligenz voraus und demnach, wenn unsere Fortschrittsoptimisten recht haben, auch hohe Moralität. Warum sollen sie denn die Absicht haben, die Kulturwelt zu ruinieren? Sie selbst werden die Verständigung suchen. Noch nicht einmal die Eingeborenen im Dorf konnten von einer feindlichen Handlung berichten.“ „Lassen wir das Grübeln“, beendete der Arzt die Unterhaltung. „Wir kommen damit zu keinem Ziel. Bald werden wir ja erfahren, was hinter dieser Sache steckt.“ Olafson hatte sich, während die anderen damit beschäftigt waren, das Zelt aufzuschlagen, abseits auf eine Tragbahre niedergelegt. Neben ihm kauerte ein eingeborener Diener. Olafson gab ihm genaue Anweisung. Er wollte einen Versuch machen, sich durch eigenes Erleben von der fremden Beeinflussung zu überzeugen. Er setzte den Helm ab. Lange Zeit bemerkte er keine Veränderung. Während er auf das Spiel der Laubblätter im Wind sah, versuchte er, sein eige28
nes Ich zu beobachten, es wie etwas Fremdes, einen Stein, objektiv zu betrachten. Es gelang ihm nicht, eine plötzliche Veränderung festzustellen, scheinbar lief der Fluß der Gedanken in den üblichen Bahnen. Dann kam es ihm so vor, als ob ein. feines Spinnennetz seine Sinne und sein Denken einengte, ein Netz, das immer dichter wurde, nur noch Ausblick auf einen einzigen Punkt ließ, eine Vorstellung, die sich mit seinen eigenen Worten formte: „Es wäre gut, alles hier im Stich zu lassen, sofort zur Küste zu laufen.“ Er bot allen Willen auf, an andere Dinge zu denken. Er begann, halblaut zu zählen, um sich dieser Zwangsvorstellung zu widersetzen. Die Folge waren furchtbare Angstgefühle wie bei einer schweren Herzattacke. Der Eingeborene griff ein und setzte ihm den Helm wieder auf; sofort ließ die Spannung nach, auf der Stelle war der fremde Befehl wieder ausgelöscht. Doch Olafson hatte Schaum vor dem Mund und seine Hände zitterten. Er hütete sich sehr, dieses Experiment nochmals zu wiederholen. Dr. Iversen machte ihm Vorwürfe, als er davon erfuhr. „Sie sind der letzte, das auszuprobieren. Wir alle sind froh, daß die schwere Nervenstörung, unter der Sie seit Ihrer letzten Raumreise litten, sich gebessert hat. Sie hätten durch diesen Leichtsinn einen bösen Rückfall bekommen können.“ Mittags am vierten Tag erreichten sie das offene Land. Per Holmgreen, der mit dem Jagdglas von einem Ast aus beobachtete, stieß einen Schrei aus. Im Wasser des Golfs, nicht weit von der Ufersiedlung, lagen zwei langgestreckte Körper. Es waren Raumschiffe unbekannten Typs! Die sechs Europäer setzten sich zusammen, um sich schlüssig zu werden, was weiter geschehen sollte. Holmgreen junior schlug vor: „Wir, mein Vater, Olafson und ich gehen zu unserer Pflanzung. Smith, Langstreet und die beiden Inder zur Krokodilfarm. Smiths Motorboot liegt dort in der Nähe an einer versteckten Stelle. Wenn es auch kein Flugzeug 29
ist, auch damit kommen wir weit genug. Wir drei laufen dann noch heute Nacht mit den Unseren zur Krokodilfarm. Dr. Iversen schließt sich am besten der Gruppe zur Krokodilfarm an. Sie kommen ja auf dem Weg dorthin an Ihrem Haus vorbei.“ „Ich wäre einverstanden“, sagte Iversen. Nach kurzem hin und her stimmten auch die anderen zu. Nur der alte Holmgreen war so bedrückt, daß er sich jeder Äußerung enthielt. Sie brachen noch bei Helligkeit auf, aber es war schon finstere Nacht, als Olafson und die Holmgreens das Haus in der Pflanzung erreichten. Es lag dunkel und verlassen da. Sie mußten Kerzen anzünden, denn kein Strom war in den Leitungen. Die Zimmer kahl und öde, alle Metallgegenstände entfernt. Im ersten Stock fanden sie den zwölfjährigen Nils schlafend, und in einem Nebengebäude war eine Malayenfrau ganz allein wach. Olafson weckte seinen Sohn. Nach der ersten Überraschung begriff er sehr schnell und erzählte, daß die Mutter und Frau Hulk nicht weit entfernt an Barackenneubauten beschäftigt seien. Sie arbeiteten nachts wie die meisten Weißen, die die Arbeit in der Tageshitze nicht vertrugen. Er selbst müßte tagsüber leichte Arbeit am Flugfeld verrichten, sei nach Hause gekommen und vor Müdigkeit gleich eingeschlafen. „Bleib hier und warte auf uns, Nils“, bestimmte Olafson. „Wir holen die Mutter und Frau Hulk, und müssen dann noch heute Nacht fort von hier!“ Der Kleine überlegte in diesem Augenblick viel ruhiger als die Erwachsenen. „Laß mich gehen, Vater!“ schlug er vor. „Ich hole sie; ich falle nicht auf!“ Per redete Olafson zu, suchte für Nils den kleinsten Schutzhelm aus – sie hatten einige von denen, die die Eingeborenen fortwarfen, mitgebracht – gab ihm noch zwei andere mit, unterwies ihn im Gebrauch, und gab ihm Verhaltungsmaßregeln. Mit unerfreulichen Gedanken warteten die drei Männer. 30
Endlich kam Nils zurück. Nora und Eva Maria trugen Arbeitskleider. Es war alles viel einfacher gegangen, als sie glaubten. Niemand schien ihr Verschwinden von der Arbeitsstelle bemerkt zu haben. Alle Gefühlsäußerungen und Fragen wurden auf später verschoben; in Eile nur die unerläßlichsten Dinge zusammengerafft. Der alte Holmgreen ging mit Nils voraus, um den Weg zu zeigen; dicht hinter ihm folgte Per mit Eva Maria, die überaus schweigsam war, und den Schluß bildete das Ehepaar Olafson. Sie benutzten Pfade durch die Pflanzungen und Nebenwege. Drei Stunden Marsch lagen vor ihnen. Nora erzählte ihrem Gatten von den letzten Tagen. In jener Nacht, in der sich das Furchtbare ereignete, war sie noch nicht zu Bett gegangen, als die Raumschiffe im Golf landeten. Mit Eva Maria fuhr sie im Wagen zum Meeresufer. So wurden sie Augenzeugen dessen, was sich dort abspielte. Mit allen verfügbaren Booten und Segelschiffen fuhr die aufgestörte Menge der Einheimischen und Fremden an die Raumschiffe heran, die wie gepanzerte Riesenwale nicht weit vom Ufer lagen. Aus einem Mannloch an der Oberseite eines der Raumschiffe trat ein einzelner Mensch auf die obere Plattform. Er war von purpurnem Licht angestrahlt, allen sichtbar. Es war ein Mensch, und doch sicher kein irdischer Mensch. Übergroß, hager, mit unverhältnismäßig langen Gliedern, mit außergewöhnlich langgezogenem Gesicht, das durch dichtes, anliegendes Haar noch verlängert wurde. Ein Anblick, wie ihn ein gewöhnlicher Mensch in einem Zerrspiegel bietet. Er sagte etwas, fremde Laute, und einer der chinesischen Kaufleute der Siedlung kletterte zu seinem Standort hinauf, er hatte nach einem Dolmetscher verlangt. Der Chinese bildete in seiner Gestalt und mit seinem Gesicht den äußersten Gegensatz zu dem Fremden. Zuerst bereitete die Verständigung große Schwierigkeiten, dann gewöhnte sich der Dolmetscher an den fremden Tonfall und 31
übersetzte ins Englische. Seine Stimme, durch technische Mittel verstärkt, hallte über die Bucht und das Ufer, jedermann verständlich. Viele der Eingeborenen in den Kähnen und am Ufer hatten sich vor der Erscheinung niedergeworfen. Der Wortlaut war etwa folgender: „Götter aus anderen Bezirken der großen Natur sind niedergestiegen. Sie werden die Erde in Besitz nehmen. Sie werden ein Zeitalter des Friedens und des Glücks heraufführen, von dem alle Religionen der Erde geweissagt haben, nach den zahllosen blutigen Jahrhunderten, in denen die Erdmenschen versuchten, sich selbst zu regieren. Die Götter und wir, ihre Priester, werden euch von Leid befreien. Wir werden von nun an gemeinsam arbeiten und die ersten Anordnungen der Götter ausführen!“ Der Fremde und der Dolmetscher waren dann mit einem der Boote ans Ufer gefahren, wo die gestaute Menschenmenge wie erstarrt, unentschlossen verharrte. Dann gab es ein erstaunliches Zwischenspiel. Soriano, der Prophet, Eva Marias Liebhaber, tauchte von irgendwoher auf und drängte zu dem Fremden vor. Eine Zeitlang verhandelte er. Dann gab er Anweisungen. Von diesem ersten Augenblick an trat er als Mittler der erdfremden Macht auf; man ließ ihn gewähren, führte alles aus, was er anordnete. Olafson fragte: „Und die Polizeistation, die Beamten der Regierung?“ „Waren von der ersten Stunde an den Eindringlingen ebenso wie alle anderen verfallen. Das war ja das Unglaubliche, daß die Weißen genauso ergriffen wurden, wie alle Eingeborenen!“ Nora erzählte weiter: „Eine der ersten Anordnungen war, alles Metall zusammenzutragen. Der Flugplatz wurde als Sammelort bestimmt. Im Metall steckten die Kräfte des Bösen, sagte man uns. Nur gewisse Geräte, Spaten, Hacken, Hämmer, durften 32
einstweilen weiter verwendet werden, bis nach Anweisung der Götter Ersatz hergestellt sei. Schon am nächsten Tag begann man damit, ein kreisrundes Gelände für einen Bau abzustecken. Dort wird gesprengt, gegraben, Erde fortgeschafft, ein tiefes Loch ausgeschachtet. Man spricht davon, daß es der Wohnort der Götter werden soll! Eva Maria und ich haben seither an Barackenneubauten gearbeitet, die an Stelle der massiven Wohngebäude entstehen.“ „Hat sich denn nicht der geringste Widerstand gezeigt?“ „Nein! Mit religiösem Eifer, anders kann ich es nicht nennen, sind alle an die Ausführung der Befehle gegangen. Wie eine Erleuchtung kam es über alle, ob es Christen, Mohammedaner oder Heiden, Europäer, Chinesen, Malaien oder Alfuren waren, ja, ein Glücksgefühl, ein Zustand der Zufriedenheit war mit dieser Betätigung verbunden, als ob wir nun endlich im Einklang ständen mit dem Rhythmus der Natur. Schon in den ersten Tagen bildete sich ein Stand von Mittlern, heraus und ihr Anführer war Soriano. Sie wurden von den Langgesichtern, von denen wohl hundert aus den Raumschiffen kamen, in der neuen Lehre unterrichtet und sie gaben es an alle anderen weiter, die weniger empfänglich dafür sind, zu denen auch ich und besonders Nils gehören. In wenigen prägnanten Sätzen wurde uns eingehämmert, daß es vermessen ist, zum Weltschöpfer selbst zu beten. Zwischen ihn und die Menschen sind fortan die Götter gestellt. Vielleicht ist das nur eine schlechte Übersetzung, andere sprachen von „Langlebern“. Alle bisherigen Symbole des Göttlichen sind zu zerstören, aber die Kirchen, Tempel und Moscheen bleiben erhalten, als Orte, an denen man die Götter anrufen, sich Rat holen kann.“ „Es scheint also außer den Langgesichtern noch eine andere Art Wesen zu geben, die mit den Raumschiffen gekommen sind, eben die „Götter“. Habt ihr sie zu Gesicht bekommen?“ „Nein, immer nur die fremden Menschen, ich selbst wenig33
stens. Viele erzählten von Schatten, die bei tiefer Dunkelheit niedrig über das Land fliegen. Sie sollen körperlos sein!“ „Damit paßt schlecht zusammen, daß sie Wohnungen brauchen!“ „Es wurde uns so erklärt, daß sie reale Wesen seien wie wir, jedoch aus einem Stoff von höherer Vollendung. Auf alle Fälle sind es ausgesprochen nächtliche Geschöpfe, sie vertragen das Sonnenlicht wohl nicht!“ „Gewalt ist nicht angewendet worden?“ „Nicht, was wir Gewalt nennen. Niemand hatte den Eindruck, unter einem Zwang zu handeln. Freiwillig kam man allen Befehlen nach, freiwillig wurden alle Bindungen an die Erdkultur zum Opfer gebracht. Auf dem Flugfeld brennt ein ständiges Feuer, in das alle Bücher, Zeitungen, Aufzeichnungen, alle Apparate, besonders die Funkempfänger geworfen werden. Alle Metallgegenstände, Waffen, Motoren, elektrische Geräte werden in Haufen dort aufgeschichtet.“ Lange gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte Olafson: „Und du selbst?“ „Ich kann nicht sagen, daß ich anders reagiert hätte als der Durchschnitt. Erst das Aufsetzen des Metallhelms hatte die unerwartete Wirkung, daß ich allmählich wie aus einem Traum erwachte.“ „Aus der Hypnose.“ „Nein, Hypnose ist Zwang, etwas Gewaltsames, bringt wohl auch Unlustgefühle mit sich. Ich denke aber an diese Tage zurück wie an verlorenes Glück und frage mich, ob unsere Welt, in die wir zurückwollen, denn die bessere ist.“ „War Eva Maria nicht immer mit Soriano zusammen?“ „Nein, er hat sich nicht mehr um sie gekümmert, er ging ganz in seiner neuen Aufgabe auf.“ Sie näherten sich der Krokodilfarm. Da trafen sie auf die anderen. Das Motorboot war nicht mehr da, aber es war Ersatz 34
beschafft, ein Segelboot, in dem alle bequem Platz fanden. Darin wollte man eine der kleinen Inseln im Golf von Tomini erreichen und sich dort erst einmal verborgen halten, in der Hoffnung, daß der Einfluß der fremden Gewalt nicht bis dahin reichte. Mit sinkender Flut gelangten sie mühelos auf die hohe See, setzten Segel und stießen nach Stunden, schon bei Helligkeit, an das Ufer einer der Inseln. Menschenleer und still lag sie da. Am Rande einer Bucht lag das größte Haus der Insel, eine geräumige Villa. Auch dieses Haus war leer, die Bewohner mußten es überstürzt verlassen haben; Essen stand noch unberührt auf dem Tisch. Es war sogar noch ein großer Fernsehund Funkempfänger da, jedoch unbrauchbar, denn die in einem Kabel vom Festland kommende Leitung war stromlos. Draußen im Freien war es schon jetzt am Vormittag drückend heiß, von dem frischen Wind, der während der Überfahrt geweht hatte, war nichts mehr zu spüren. Die beiden Frauen, erschöpft von den überstandenen Erregungen und der Anstrengung, auch der alte Holmgreen, versanken bald in Schlummer, die anderen blieben wach und durchsuchten Haus und Insel. Es lohnte sich, denn sie fanden ein Flugboot im Bootshaus an der Bucht, doch es war leider nicht startfertig, sonst hätten die Bewohner es wohl selbst benutzt. Die Tanks waren leer. Eifriges Suchen begann, alle Behausungen der Insel wurden durchforscht, und es fand sich hier und da ein wenig Betriebsstoff zusammen, es reichte für einen mehrstündigen Flug, weit genug auf alle Fälle für den Weg in die Freiheit. Am Nachmittag machte Nils einen wichtigen Fund. Er hatte in Schubladen und Schränken der verlassenen Villa gekramt und brachte einen zigarrenkistengroßen hochwertigen Batterieempfänger zum Vorschein. Olafson und Per drehten an den Knöpfen dieses Geräts. In den nächsten Stunden erlebten sie dann im Prasseln und Knattern verzweifelter Funkhilferufe, verzerrter Botschaften, Schimpf35
reden und Lobpreisungen, Warnungen und sachlicher Kommentare die ungeheure Erregung, die die Welt erschütterte. Das Ereignis war also nicht auf Celebes beschränkt geblieben, in einem größeren Erdgebiet hatte sich dasselbe abgespielt. Von vielen Sendern wurden Warnungen vor Einflug, vor Passieren einer bestimmten Linie, wiederholt. Ein Teil der Erdoberfläche befand sich in den Händen der fremden Gewalt, war abgeschnitten von allen Verbindungen. Per, Olafson und die anderen, die sich einfanden, notierten Ortsnamen und ersahen aus ihnen, daß der ganze Bereich der großen und kleinen Sundainseln außer Sumatra dazu gehörte. Die Südseeinseln dagegen waren frei. Fast zwangsläufig ergab sich der Entschluß, nach dorthin zu entkommen. Nach diesen ersten, für sie entscheidenden Feststellungen, achteten sie nun weiter auf die Erklärungen, die zur Beruhigung der von Panikstimmung erfaßten Bevölkerung in allen Sprachen abgegeben wurden. Aus den Worten der Sprecher war zu entnehmen, daß ein neues, unbekanntes Grauen, eine Kollektivangst, die Menschheit befallen hatte. Die Erklärungen selbst widersprachen sich derart, daß ihnen schnell klar wurde: Auf der ganzen Erde wußte man vom Wesen der fremden Gewalt weniger als hier. Indische, japanische, chinesische Polizei und bewaffnete Mächte hatten Vorstöße gegen das Befallsgebiet durchgeführt, aber sie waren sämtlich gescheitert. Das Unfaßbare war Wahrheit, über Nacht ging ein Vorhang über einen Ausschnitt der Erdoberfläche nieder, ein tatsächlich bestehender Vorhang von Kraftwirkungen. Es vergingen die Stunden, der Abend fiel ein. Der Betriebsstoff war in die Tanks des Flugboots eingefüllt, das unmittelbar am Ufer verankert und verstaut im Wasser lag. Gegen Mitternacht, wenn der Mond über den Horizont stieg und bessere Orientierung ermöglichte, sollte gestartet werden. Wer nicht als 36
Wachposten eingeteilt war, nutzte die Zeit bis dahin noch zum Schlafen aus, alle waren von der vorhergegangenen durchwachten Nacht noch müde. Per Holmgreen schlief im Flugzeug neben der geladenen Maschinenpistole, die er griffbereit in einem Ausschnitt des Kabinendaches montiert hatte. Er hatte sie im Haus des Polizeiwachtmeisters auf der Insel gefunden. Die anderen hatten sich im Haus zur Ruhe begeben. Die dritte Nachtwache übernahmen der junge Ingenieur Smith und einer der Inder. Smith setzte sich auf das Dach des im Wasser liegenden Flugbootes und der Inder ging am Ufer hin und her, sein Landsmann schlief auf einer Decke im Freien. Fast unmerklich wiegte sich das Flugzeug im Wasser. In der Außenwelt war nur das Geräusch der fernen Brandung. Plötzlich stieß der Inder am Ufer einen Alarmschrei aus und riß Smith aus seinem Dahindämmern. Das feine Ohr des Inders hatte einen Ton von See her vernommen, jetzt hörte auch Smith deutlich ein pfeifendes, heulendes Geräusch, das in der Tonskala an- und abschwoll und schließlich verebbte. Was nun folgte, nahm der junge Smith in einer Art von Dämmerzustand wahr, eine unbegreifliche Macht ergriff Besitz von seinem Körper und Geist. Er hörte Per Holmgreen aus dem Flugzeug nach den beiden Indern rufen, die besinnungslos vor Angst landeinwärts davonliefen. Seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen sahen, daß sie im Lauf innehielten, sich umwendeten, mit automatischen Bewegungen wie Marionetten die Arme emporwarfen. Im gleichen Augenblick gewahrte er doppelmenschengroße Schatten über sich gegen den Sternenhimmel. Unheimlich war die Lautlosigkeit, mit der sie, im Schattenriß wie Riesenfledermäuse oder gigantische Nachtfalter anzusehen, über das Flugboot, das Haus hinwegstrichen, wendeten, zurückkamen. Smith, obwohl wach, war zu jeder Handlung unfähig, trotz seines Schutzhelmes. Das Herz schien stillzustehen, der Körper 37
war erstarrt. Da weckte ihn ein Ruf, ein Fluch des jungen Holmgreen, aus seiner Behexung: „Laß doch den Scheinwerfer leuchten, zum Teufel!“ Smith ließ sich durch die Luke in den Führerstand gleiten. Noch spürte er das Klopfen des Blutes in den Schläfen, und ein unerträgliches Prickeln in den Fingerspitzen, aber seine Glieder waren gelöst, sein Wille frei. Er ließ den drehbaren Suchscheinwerfer aufleuchten, faßte mit dem Lichtkegel eines der übergroßen Nachtgespenster, es stürzte flatternd auf den sandigen Uferstreifen. Ohrenbetäubend bellte dicht bei ihm die Maschinenwaffe. Per Holmgreen jagte Geschosse in den Körper des abstürzenden Geschöpfes, in die Körper der beiden anderen Schattenwesen. Sie klatschten weit draußen auf das Wasser. Der grelle Strahl glitt über das Land und die Bucht. Kein weiterer Feind war zu entdecken. Smith wurde von unvernünftigem Zorn gepackt, über sich selbst, über sein anfängliches Versagen. Per Holmgreen wischte den Schweiß von der Stirn. Auf sein Rufen kamen die Inder heran, aus dem Hause liefen die aus dem Schlaf geschreckten Gefährten. „Licht aus!“ kommandierte Per Holmgreen, und der Scheinwerfer erlosch. Wieder tönte pfeifendes Geräusch vom Meere her. Als alle noch diesem fremdartigen Ton lauschten, riß er plötzlich ab. Laute Rufe von menschlichen Stimmen zerrissen die Stille. „Was war das?“ fragte Langstreet. „Ein schnelles Wasserfahrzeug ist am Eingang der Bucht auf das Unterwasserriff gestoßen“, antwortete jemand aus der Dunkelheit heraus. „Das Fahrzeug also, mit dem die Nachtgespenster, die wir abgeschossen haben, über See gekommen sind?“ „Es muß wohl so sein!“ Sie horchten in die Nacht, noch immer rissen die Rufe nicht ab. „Wollen wir nicht helfen?“ fragte Nora. 38
„Es klang nicht wie Hilferufe! Dort sind Leute genug. Sie müssen selbst fertig werden. Unsere eigene Rettung muß uns mehr am Herzen liegen!“ Niemand dachte während dieser Gespräche an den Körper des abgestürzten Nachtgeschöpfes, aber Dr. Iversen beschäftigte sich schon längst damit. Allmählich wurden auch die anderen aufmerksam und gingen zu der abseits gelegenen Stelle des Strandes, an der er im Schein einer Taschenlampe hantierte. Er untersuchte den von Kugeln zerfetzten Körper. Ein wohl drei Meter großes Geschöpf. Der in der Grundform langelliptische Körper war sechsfach quer eingeschnürt und durch zwei tiefe und eine flache Längsfalte scheinbar dreigeteilt. Die großflächigen dünnen Trapezflügel konnten durch Muskelstränge eingerollt werden und lagen dann in den beiden Längsfurchen dem Körper glatt an. In diesem Zustand hätte das Wesen, dessen oberster abgeschnürter Teil mit Mundöffnung und handtellergroßen Facettenaugen wie ein Kopf wirkte, etwas entfernt menschenähnliches gehabt. Aber es waren weder Nase und Ohren, noch Arme und Beine vorhanden, dafür eine verwirrende Anzahl vielgliedriger dünner Fangarme. Unter jedem der vier unteren Rumpfabschnitte saß ein Paar beim Flug einziehbarer Spinnenbeine, im fünften ein Paar langer, zangenförmiger Greiforgane und im sechsten zwei fächerförmig verzweigte Fühler. Die Haut war weder Epidermis noch Chitin, von einer Konsistenz zwischen Gummi und Leder, das organische Material merklich leichter als alles irdische. Iversen war dabei, Einschnitte zu machen, mit den behelfsmäßigen Mitteln seiner Medikamententasche den Körper zu zerlegen. Sie sahen, daß er Gewebsstücke der Außenhaut und innerer Organe in Gläschen füllte, mit konservierender Flüssigkeit übergoß und die Behälter verkorkte. Die Holmgreens mahnten zum Aufbruch. Es war Zeit, auf39
zubrechen, wollte man sich nicht leichtsinnig in größte Gefahr begeben. Dies wurde ihnen bald noch deutlicher. Per Holmgreen, der am Steuer saß, zog die Maschine in steiler Kurve nach oben und nahm Kurs nach Nordosten. Alle sahen, daß plötzlich ein Scheinwerferstrahl dunklen Purpurlichts senkrecht auf der Küste von Tukala stand. Kurze Zeit flammten ähnliche Strahlenkegel rings um die Tominibucht auf und gleichzeitig spannten sich über den Himmel Bogen und Vorhänge bunten, flackernden Lichts. Es war ein herrliches Farbenspiel. Rosige Streifen mit apfelgrünen Bändern, andere schwefelgelb und zyanblau. Von den Tragflächen des Flugzeuges und von allen Metallteilen im Innern der dunklen Kabine sprühte kaltes Feuer, sie waren von einem blaßleuchtenden Schein umgeben. Als diese Erscheinungen begannen, hatte Per Holmgreen, mit heroischer Willenskraft gegen einen übermächtigen fremden Befehl ankämpfend, der unerwartet über ihn herfiel, den Hebel herumgerissen, der auf Selbststeuerung schaltete. Dann warf er sich gegen die Tür zum Fahrgastraum, die schwer gegen seinen Kopf schlug. Er brach betäubt zusammen, aber er versperrte dadurch den Zugang zum Steuerstand für Smith und Langstreet, die hinzudrängten. Lange genug, bis diese ihre Vernunft und Besinnung wiedergewannen, bis ihnen bewußt wurde, daß sie etwas Unsinniges, Verhängnisvolles tun wollten. Das Flugzeug war indessen mit dem eingestellten Kurs mit größter Geschwindigkeit weitergeflogen und nun aus der Gefahrzone heraus; das flackernde Buntlicht verblaßte fern im Südwesten. Sie bemühten sich um Per Holmgreen, der bald seinen Platz am Steuer wieder einnehmen konnte. Smith und Langstreet waren nicht die einzigen, deren Nerven durch die dämonische fremde Gewalt beeinflußt wurden. Alle anderen hatten die Minuten der Gefahr als fürchterlichen Alpdruck erlebt. 40
Nora suchte in der dunklen Kabine ihren Sohn, besorgt, daß ihm diese furchtbare Nervenanspannung geschadet haben könnte. Aber Nils war am wenigsten mitgenommen. Sein Lachen war wie eine Entladung, die auch die anderen von ihrem Bann befreite. „Nils muß eine andere Abstimmung, andere Resonanz haben, als wir Erwachsenen“, meinte Langstreet. Doch ehe eine Aussprache darüber in Gang kam, rief Frau Nora: „Wo ist Eva Maria?“ Wo war sie? Jetzt erst merkten alle, daß sie sich nicht im Flugzeug befand. Hatte man vergessen, sie zu wecken und mitzunehmen? Nein, alle hatten sie noch gesehen, vor dem Start Sie mußte sich in der Dunkelheit entfernt haben, mit voller Absicht zurückgeblieben sein. Smith fragte den Arzt: „Haben Sie nun irgendwelche Aufschlüsse über die fremden Geschöpfe gewonnen?“ Iversens Stimme kam aus dem Dunkel: „Wir wissen wenigstens, daß es keine Wesen aus der vierten Dimension sind! Wir kennen ihre Gestalt und Größe, die Lage wichtiger Organe. Mein alter Zoologieprofessor würde sie in die Ordnung Trilobiten eingliedern, es sind flugfähige Trilobiten. Also einer Tierklasse zugehörig, die es auf der Erde einst in zahllosen Abarten gab, wenn auch keine einzige dabei war, die fliegen konnte.“ Zwei, drei Stunden ging der Flug über die wenig bewegte See, die aus der Höhe als ein Geriesel von silbernen Fäden über schwarzem Grund erschien. Am Himmel erschien ein hellerer Streifen als Vorbote der Dämmerung.. Per Holmgreen atmete auf; er erkannte, daß er die richtige Richtung nicht verloren hatte. Nun wurde es sehr rasch hell. Es war Zeit, niederzugehen, denn der Betriebsstoff näherte sich dem Ende. Endlich tauchte Land auf. Eine kleine Insel nur, doch vor der Küste sahen sie eine Anzahl Fischerboote. Mitten zwischen ihnen ging Per auf die nur wenig bewegte Wasserfläche nieder. Einige Boote ka41
men heran, man konnte sich aber den Fischern in keiner Weise verständlich machen, Sie gingen ans Ufer und erwarteten die Eingeborenen. Die Fischer zogen ihre Kanus an Land. Per Holmgreen trat vor, angestrahlt vom Scheinwerfer des Flugzeugs. Er hob eine Handvoll der sandigen Erde auf und ließ sie durch die Finger rinnen. Dann breitete er die Arme aus und sah fragend die Fischer an. Einer von ihnen wiederholte die Geste und sagte ein Wort, das vielstimmig nachgesprochen wurde: Thaivu. Das war also der Name der Insel! Sie waren frei, entkommen aus dem Herrschaftsgebiet der erdfremden Macht. Aber sie ahnten, daß sie einstweilen hier festsaßen, ohne die Möglichkeit, zivilisierte Länder zu erreichen und die wichtigen Nachrichten, in deren Besitz sie waren, weitergeben zu können. Eine Falle war zugeschnappt. * Man hätte glauben sollen, daß es im Zeitalter des Flugverkehrs kein unfreiwilliges Robinsondasein mehr geben könnte. Aber die Nähe des Grenzgebietes der unbekannten Macht, das vom Luftverkehr gemieden wurde, brachte es mit sich, daß die kleine Gruppe der Flüchtlinge so lange isoliert blieb. Auf zwei Dinge bauten sie ihre Hoffnung: Auf den Kopradampfer und auf die Räumung der gefährdeten Gebiete, von der in den Funknachrichten so viel die Rede war. Ein ständiger Postendienst wurde eingerichtet und Vorkehrungen getroffen, um im Bedarfsfalle schnell ein Feuer entzünden und Rauchoder Lichtsignale geben zu können. Zweimal wurden Flugzeuge gesichtet, einmal ein ganzes Geschwader, aber in viel zu großer Entfernung. Olafson und seine Familie verbrachten in diesen Monaten eine im Grunde glückliche Zeit. Sie sprachen viel von der Vergangen42
heit und erinnerten sich an einen Halbvergessenen – Khumar Singh. Frau Nora trug als einzigen Schmuck einen kostbaren Ring, den er ihr einst übergeben hatte, als sie sich von ihm in der Nähe eines buddhistischen Klosters im Himalayagebirge verabschiedete. Lange Jahre war das her. Nie hatte sie ein Brief von ihm erreicht. Von dritter Seite hörten sie, daß er mit dem Erbe seines Vaters, das er als Mönch persönlich nicht antreten konnte, auf Ceylon ein zerfallenes uraltes Kloster neu aufgebaut hatte. Es lag im Inneren der Insel in der Nähe einer kleinen Stadt. Mit wenigen Mönchen des Himalayaklosters und anderen, die sich ihm anschlossen, studierte er in jener Landschaft, in der sich die Buddhalehre in der ältesten und reinsten Form erhalten hat, Pali- und Sanskrittexte, und lebte mit seinen Mönchen nach den Vorschriften der ursprünglichen Lehre. Wenn man mit ihm sprechen könnte! Wie mochte er über die Ereignisse denken, die die ganze Erde bewerten? Schon einmal hatte er einen Ausweg aus verworrener Lage gefunden! Olafson und Nora legten sich Pläne für die Zeit nach der Befreiung von dieser Insel zurecht, ihre erste Reise sollte darin zu Khumar Singh führen. Seit einem Jahr fehlte nun jede Nachricht von der Außenwelt, denn die Batterien der Empfänger waren längst verbraucht. Sie wußten nur, daß die außerirdische Macht immer noch da war, denn in größeren Zeitabständen zeigte sich am fernen Westhorizont die Erscheinung des künstlichen Nordlichtes. Wenn inzwischen versucht worden war, die fremden Geschöpfe von der Erde zu vertreiben, so hatte diese Absicht keinen Erfolg gehabt. Nach fünfzehn Monaten und einigen Tagen kam unerwartet die Befreiung. Sechs große Transportmaschinen steuerten die Insel an. Smith, der gerade Feuerwache hatte, gab Rauchsignale; es war überflüssig, die Flugboote wasserten ohnehin in der Bucht. Die Flüchtlinge stürzten zum Ufer und begrüßten die 43
Befreier, in kürzester Frist sammelte sich die gesamte Inselbevölkerung dort. Die Weißen wurden aufgefordert, in das Flugzeug des Führers, eines Flugkapitäns aus Tokio, einzusteigen. Sie erzählten in Eile ihr Schicksal und erfuhren, daß die Maschinen zu einem Transportgeschwader gehörten, welches den Auftrag hatte, diese und viele andere gefährdeten Inseln zu räumen. Aus bestimmten Anzeichen war zu schließen, daß die Außenweltler, so drückte er sich aus, ihr Gebiet erweitern würden, wie es schon einmal geschehen war. Man wollte nicht Menschen in ihre Hand fallen lassen, die dann zu Werkzeugen der fremden Macht wurden und führte nach einem vom WP angeordneten Plan den Abtransport durch. In der nächsten Nacht wurden sie 3000 Kilometer entfernt bei Osaka abgesetzt und an das Flüchtlingslager abgeliefert. Flugzeuge nach Europa oder Amerika waren nicht zu haben, da aller verfügbare Flugtransportraum für die WP-Aktion eingesetzt war. Ihr mitgebrachtes Flugboot war nicht leistungsfähig genug, um mit zehn Personen Besatzung die große Strecke zu bewältigen. Man einigte sich, daß nur die Familie Olafson und die beiden Inder in Etappen nach Ceylon fliegen sollten, um die Inder in ihre Heimat zu bringen und um Khumar Singh aufzusuchen. Alle anderen wollten über Amerika reisen, mit einem der großen Überseedampfer, der in zwei Tagen nach San Francisco abging. Es war gelungen, für fünf Personen noch Plätze zu bekommen. Vereinbart wurde, daß Iversen und die Holmgreens einen Freund der letzteren, Senator Trock, aufsuchten, der in der Nähe von Los Angeles eine Besitzung hatte. In der Absicht, durch Ausnutzung von dessen Beziehungen ihr Wissen und ihre Beobachtungen auf Celebes zur Kenntnis verantwortlicher Regierungsstellen dieser Weltmacht zu bringen. Die Olafsons wollten von Ceylon aus dorthin Nachricht geben. Von Smith und Langstreet, die von San Francisco aus sofort weiter zu ihren 44
amerikanischen Verwandten reisen wollten, verabschiedeten sie sich. Waren ihre Nachrichten, die sie vor fünfzehn Monaten der Welt übermitteln wollten, nicht längst überholt? Wußte man inzwischen nicht viel besser über das Wesen der fremden Menschen und ihrer Götter Bescheid? Schon die ersten Zeitungen, die den Flüchtlingen in die Hände fielen, zeigten, daß dies erstaunlicherweise nicht der Fall war. So absolut dicht schloß der Vorhang, der über dem Invasionsgebiet niedergegangen war, daß die Weltöffentlichkeit im Grunde nicht mehr wußte als vor fünfzehn Monaten, besonders nicht über Körperbau und Wesen der „Götter“. Es war übrigens ein wirklicher Vorhang von unbekannten Kräften und Strahlungen, bei Nacht sichtbar als flammendes Nordlicht zwischen und über purpurroten Strahlenkegeln, der in der gleichen Sekunde ausgelöst wurde, in der ein Schiff oder Flugzeug die Grenze des Invasionsgebietes zu passieren versuchte. Dr. Iversen trug noch einige kleine alkoholgefüllte Gläser mit Gewebeproben bei sich. Sein erster Weg in Osaka führte zum chemischen Institut der Universität. Gespannt erwartete er das Ergebnis der Analyse. Bald hatte er die Gewißheit, daß die entnommenen Gewebeteile Kohlenstoffverbindungen waren, organische Stoffe; die „Götter“ waren Kohlenstoffwesen, Aber die Verbindungen gehörten einem anderen Typ an, als die der irdischen Pflanzen- und Tierwelt. Eine immerhin sensationelle Feststellung, die den sicheren Beweis für die außerirdische Herkunft der fremden Geschöpfe erbrachte. Den Flug nach Ceylon durch Südchina und längs der indischen Ostküsten führten die Olafsons in kleinen Teilstrecken durch. In Osaka hatten die Reisevorbereitungen nicht viel Zeit übrig gelassen, umso mehr waren sie jetzt bei jedem Aufenthalt auf der Jagd nach Zeitungen, auf der Suche nach neuen Nachrichten in allen Sprachen, die sie verstanden. 45
Die Panikstimmung der ersten Wochen war längst vorbei, man beschäftigte sich nicht mehr so intensiv mit der Erdgefahr. Sie war wohl noch das „Problem Nr. 1“ der Politik, aber das Leben war weitergegangen, hatte andere Fragen in den Vordergrund geschoben. Einige neue Vokabeln mußten sie lernen, Namen, die sie in allen Blättern lasen, und die ihnen aus jeder Funksendung entgegenklangen. Die Orguren. Damit wurden die „Gottheiten“ bezeichnet, die ein Stück Erdoberfläche in Besitz genommen und hermetisch abgeschlossen hatten. Man wußte so gut wie nichts von ihnen, aber ein Name war da. Es war der alte Wortzauber, zehntausend Jahre alt. Wenn etwas erst einmal einen Namen hat, ist es schon nicht mehr so fremd und beunruhigend. Die menschlichen Helfer der Orguren, die mit ihnen aus dem Weltall kamen, hießen Atois. Woher die Namen stammten, war nicht in Erfahrung zu bringen, vielleicht aus irgend einem malaiischen Dialekt. Das Invasionsgebiet – diese Bezeichnung war jetzt allgemein üblich – hatte sich erweitert. Die Philippinen, Malakka, ganz Sumatra, die Andamannen gehörten dazu, und auf Ceylon erwartete man täglich den Vorstoß der fremden Macht. Wieder standen sie fassungslos der Tatsache gegenüber, daß die Erdbevölkerung, die seit je um Landfetzen blutige Kriege geführt hatte, gegen die Invasion außerirdischer Intelligenzen, Mitbewerber um den Lebensraum Erde, nichts anderes unternahm als passive Maßnahmen. Als sich das Flugboot dem Städtchen Topandura im Innern Ceylons näherte, in dessen unmittelbarer Nähe sich das Kloster Khumar Singhs befand, ahnten die Olafsons nicht, daß sie sogleich mitten in den Strom des Geschehens hineingerissen werden sollten. Niemand wußte, von wem das Gerücht ausgegangen war, daß Ceylon in den Machtbereich der Orguren einbezogen wer46
den sollte. Die unbestimmte Angst der Volksmassen äußerte sich in Panik und Weltuntergangsstimmung. Massenflucht setzte ein. Das letzte Schiff und das letzte Flugzeug hatten mit Flüchtlingen inzwischen das Land verlassen. Eines Morgens landeten Flugzeuge, die von Osten her über das verödete Meer kamen, setzten eine Anzahl von Männern ab und flogen zurück. Sie kamen aus dem Invasionsgebiet und predigten Unterwerfung unter die Herrschaft der neuen Götter. Eine ständig wachsende Schar von Anhängern umgab sie. Wie der Wind vor der Lawine, ging fieberhafte Erwartung und Bereitschaft vor ihnen her. Ceylon war reif zur Besetzung durch die erdfremde Macht, die diesen Zustand vielleicht herbeiführte, vielleicht nur ausnutzte. Olafson und Nora waren erschüttert. Davon hatten sie aus Zeitungen und Funkmeldungen nichts erfahren, nur unklare Angaben über Unruhen auf Ceylon. Sie beschlossen dennoch, unvoreingenommen sich anzuhören, was die Prediger zu sagen hatten. „Die Allmacht entsandte Wesen, die so hoch über den Menschen stehen, daß sie Götter genannt werden können. Diese Wesen werden die Menschheit davor bewahren, sich selbst zu zerstören. Unterwerft euch freiwillig!“ So dröhnten die Prediger über die Köpfe der lauschenden Menge hinweg. Angewidert wandte sich Olafson ab. Gemeinsam mit Nora suchte er den Weg zu dem Kloster. Ein Mönch öffnete das Klostertor. Zuvorkommend wies man ihnen den Weg. Khumar Singh ließ sie nicht warten, obwohl er beschäftigt war. Von unsichtbaren Händen wurde die Tür zum Zimmer des Abtes geöffnet, gesenkten Hauptes zogen sich die Mönche zurück. Khumar Singh ging ihnen entgegen, begrüßte sie mit herzlicher Liebenswürdigkeit, als ob er sie längst erwartet hätte, als ob nicht viele Jahre seit der letzten Trennung verflossen waren. 47
Frau Nora war von seinem Gesicht betroffen – bleiche, von Denkarbeit scharf gefurchte Züge, schmale, sinnenlose Lippen, tiefliegende Feueraugen – er war nur Geist und Wille. Welche Wirkungskraft mochte von diesem Mann ausgehen! Nur mit halbem Ohr hörte sie auf die Unterhaltung, die sich zwischen Khumar Singh und Olafson anspann. „Ist es so wichtig, jetzt alte Texte zu studieren, indes die Welt um uns in Trümmer geht?“ hatte dieser gefragt. „Unscheinbare und unauffällige Dinge, Gedanken eines Erleuchteten in einer uralten Handschrift, sind oft wichtiger und wirksamer als umwälzendes äußeres Geschehen!“ hatte jener geantwortet. Olafson begann nun zu erzählen; in gedrängter Kürze, beginnend mit den Erlebnissen beim Einfall der Orguren auf Celebes. „Wir haben eine Aufgabe, eine gemeinsame Aufgabe, in diesem großen Spiel“, nickte Khumar Singh, als Olafson seinen Bericht beendet hatte. „Aber ich weiß noch nicht, ob wir diese unsere Aufgabe gegen die Orguren lösen werden oder mit ihnen.“ Ein Mönch trat ein und meldete, daß die Tempel brannten. Ein Menschenhaufe zöge johlend und zerstörend durch den heiligen Hain. Der Abt bestimmte: „Wir werden ihnen entgegentreten!“ Er gab Anordnung, daß ihn einige Mönche begleiteten. Olafson schloß sich an, Nora blieb zurück. Sie gingen die Stufen des Hügels abwärts. Eine Menschenmenge war dabei, mit schweren Werkzeugen die große bronzene Buddhastatue in Stücke zu schlagen. Einer der Mönche, der vorausging, rief laut in die entstehende Stille: „Was tut ihr da?“ Die Männer, die eben noch auf die Buddhastatue eingeschlagen hatten, sprangen herunter und verschwanden in der Menge, nur einer fand den Mut zu einer Entgegnung: „Wir zerstören die 48
Bilder der Götzen! Wir alle wollen nur noch den neuen, lebendigen Göttern, dienen!“ „Schon eure Väter und Urväter haben an diesem Denkmal gebetet.“ Unschlüssig und verlegen stand die Menge. Zu dieser Zeit fuhr ein Personenwagen auf den freien Platz vor der Statue. Olafson erkannte den Prediger vom Marktplatz, der die Situation mit einem Blick übersah, heraussprang und sogleich Partei ergriff: „Diese Männer haben recht, Götzenbilder zu zerstören!“ verkündete er mit hallender Stimme. „Besonders solche aus Metall. Metall ist die Ursache allen Unheils. Im Metall wohnen Dämonen!“ Khumar Singh, der selbst noch kein Wort gesprochen hatte, ging ohne Hast einige Schritte auf den fremden Apostel zu. Die Umstehenden sahen gespannt auf die beiden Gegner, in Erwartung eines Kampfes, wenigstens eines Kampfes der Worte. Auch Olafson glaubte, daß der Abt jetzt seinen Willen mit dem des anderen. messen würde. Es war aber kein Kampf. Es war ein blitzartiges Unterliegen des fremden Propheten. Er taumelte rückwärts, seine Pupillen weiteten sich, fahle Blässe überzog sein Gesicht, er wand sich, überrascht und überwältigt. Khumar Singh trat wieder zu den Seinen zurück. Einer der Mönche, der Sprecher von vorhin, wechselte einige Worte mit ihm; der Mönch redete zur Menge: „Niemals hat unser Abt oder einer von uns behauptet, daß das, was ihr zertrümmert habt, etwas anderes ist als totes Metall. Aber Zehntausende haben sich in Ehrfurcht davor gebeugt. Wißt ihr denn sicher, ob nicht Gedanken, Gebete, mehr Wirklichkeit haben als Metall? Das Unbegreifliche kann niemand darstellen und die wenigsten Menschen sind imstande, Unsichtbares, Gedankliches, zu verehren. Sie müssen ihm Form geben, brauchen ein Bildnis. Deshalb soll man keinen Menschen gering achten, der sich vor 49
Holz oder Metall demütigt. Er demütigt sich vor etwas Höherem. Wer keinen Glauben der anderen zu dulden vermag, der ist böse, teuflisch! Das überlegt euch, und nun geht nach Hause!“ Unter dem Eindruck dieser Worte begann sich die Menge zu zerstreuen. Khumar Singh wandte sich selbst jetzt an den Prediger der Orguren: „Übermittle den Menschen eines fremden Sterns und denen, die ihr Götter nennt, daß wir uns einigen wollen über diese Insel. Daß sie als gleichgestellte Intelligenzen mit uns vereinbaren sollen, wie wir miteinander auf unserer Erde leben könnten. Ich erwarte sie hier im Kloster auf dem Hügel der 500 Stufen!“ Erst als der Abt und seine Begleiter schon im Aufbruch waren, raffte sich der Prediger auf: „Nein, es gibt kein Verhandeln; die Götter befehlen, ihr habt zu gehorchen!“ Er sprang auf den Sockel der zertrümmerten Statue, begann zu sprechen, doch seine Worte verhallten wirkungslos im Lärm des allgemeinen Aufbruchs, niemand nahm mehr Notiz von ihm. Bald sah er ein, daß er nach dieser Niederlage seine Anhänger nicht so bald wieder seinem Willen unterwerfen würde. Er ging zu seinem Wagen. Ehe er ihn bestieg, schüttelte er haßerfüllt seine Fäuste gegen die Richtung, in der seine Gegner verschwunden waren. Der Weg zum Kloster wurde schweigend zurückgelegt, erst in Noras Gegenwart redete Olafson den Abt an: „Hast du dich nun überzeugt, daß wir es mit einer unversöhnlichen Macht zu tun haben, die uns feindlich gegenüber steht?“ „Noch nicht!“ antwortete Khumar Singh. „Der Prediger ist ein zu kleines Rad im Getriebe ihrer Organisation, als daß man aus seinem Verhalten endgültige Schlüsse ziehen könnte. Aber ich werde Klarheit bekommen, ich verlasse mich nur auf meine eigenen Erfahrungen. Dasselbe Verhandlungsangebot werde ich nun unmittelbar an die Orguren richten. Ein paar Meilen von 50
hier im Gebirge steht eine große Sendestation der See- und Flugsicherung. Von dort aus werde ich mich mit ihnen auf der Welle in Verbindung setzen, auf der sie ihre Propagandasendungen ausstrahlen!“ „Und wenn sie nicht darauf eingehen?“ „Dann werden sich meine Mönche über die Insel verteilen. Hundert geschulte Männer werden tausend Menschen, Atois, Prediger, befragen, die Ceylon in den nächsten Tagen überfluten werden, ihre wahre Meinung, ihr Wissen um die erdfremde Macht ergründen!“ Der Abt überließ sie für einige Zeit sich selbst, weil andere Pflichten ihn riefen. „Er ist ein unverbesserlicher Optimist“, sagte Olafson ärgerlich. „Selbst wenn die Orguren darauf eingingen, würde er dennoch ihrem überlegenen Willen verfallen!“ „Er ist ein Mann, der im vollen Gefühl seiner Verantwortung, seiner in ihm waltenden Urkraft sich niemals mitreißen läßt, und wenn alle Menschen etwas anderes glauben und denken als er. Er kennt kein Ereignis, das ihn von den Richtlinien seines Handelns, von seinem Gelübde abbringt! Er wird selbst prüfen und handeln, er wird auch den Orguren seine Bedingungen stellen!“ „Ich fürchte, er wird so wenig Bedingungen stellen und verhandeln können wie die Maus mit der Katze!“ Als Khumar Singh zurück kam, schien er von Olafsons Gesicht dessen Zweifel abzulesen, aber er ging nicht mehr darauf ein. „Wir werden bei dir bleiben, bis es entschieden ist!“ sagte Olafson. Khumar Singh lehnte nachdrücklich ab: „Das werdet ihr nicht tun! Fliegt nach Torgatten Ö. Wenn ihr recht habt, wenn alle Verständigungsversuche scheitern, komme ich zu euch!“ 51
„Es wird dir dann nicht mehr gelingen, die Insel zu verlassen!“ „Sorgt euch nicht darum! Ich werde immer Mittel und Wege finden. Seid auch versichert, daß kein einziger meiner Mönche seine Freiheit, seine freie Selbstbestimmung, verliert! Mit dem letzten von ihnen werde ich Ceylon verlassen, wenn es nötig ist!“ II. Teil Auf den 60000-Tonnendampfer „Oklahoma“, mit dem die Holmgreens und ihre Freunde nach Amerika reisten, traf die Bezeichnung „schwimmende Stadt“ viel eher zu, als auf die Überseedampfer der ersten Jahrhunderthälfte. Der raumsparende Atomantrieb gestattete es, den früher für Kohlen- und Heizölbunker verwendeten Platz fast vollständig für Passagiere nutzbar zu machen, so daß die doppelte Menschenzahl befördert werden konnte, wie ehemals von gleich großen Dampfern. Das Schiff lief Hawaii an, und dort kam als prominentester Fahrgast Asta Torsen an Bord. Sie kam von den Dreharbeiten zu einem Film, der den Einfall der Orguren darstellte. Sie spielte darin die Hauptrolle. Jetzt reiste sie mit ihrer Begleitung nach Hollywood zurück. Ihr Tagesprogramm war auch an Bord bis ins einzelne festgelegt. Schon am zweiten Reisetag jedoch durchkreuzte sie dieses Programm und widmete einen Teil ihrer Zeit einem jungen Mann. Kennengelernt hatten sie sich am Abend vorher, als Asta auf eine halbe Stunde dem Gesellschaftsraum entfloh. Auf dem Vorderdeck gab es Wind und Bewegung. Bei der mühsamen Unterhaltung gegen Wind und Lärm erfuhr sie, daß er, Per Holmgreen, aus Norwegen stammte und daß er tatsächlich nicht 52
wußte, wer sie sei. Als sie ihren Namen nannte, hörte er ihn sichtlich zum erstenmal. Sie redete nicht von ihrem Beruf, und er nicht von seinen letzten Erlebnissen. Beim zweiten Zusammentreffen kam sie doch sogleich auf ihren letzten Film zu sprechen. Sie knüpfte daran die Frage nach den Orguren an und nach seiner Meinung über alles, was damit zusammenhing. Holmgreen antwortete nicht sogleich, es ging ihm manches durch den Kopf. Nun glaubte er zu wissen, welchem Umstand er diese Tee-Einladung verdankte. Es wäre ihm jetzt lieber gewesen, wenn ihre Anteilnahme seiner Person gegolten hätte und nicht seinen Abenteuern. Von gestern auf heute war diese Wandlung eingetreten, ein Funke hatte in ihm gezündet. Sie beschäftigte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Per Holmgreen erzählte, er rauchte, trank Tee, sie füllte mehrmals seine Tasse nach, bis seine Geschichte zu Ende war. Asta Torsen lehnte sich in ihren Sessel zurück. „Vielen Dank für Ihr Vertrauen! Unter keinen Umständen werde ich einen Gebrauch davon machen, der Ihnen schaden könnte. Aber an Ihrer Stelle würde ich auf Ihre jungen Gefährten einwirken, daß sie später an Land sehr vorsichtig sind, damit ihr Erlebnis nicht den Weg in die Presse findet.“ „Inwiefern könnte das schaden?“ „Sie sind sehr harmlos! Mit diesen Kenntnissen und Erlebnissen sind sie recht interessante Leute. Gerade Sie selbst werden sich Verfolgungen aussetzen, wenn Ihre Geschichte, die Sie mir so freimütig erzählten, öffentlich bekannt wird! Sie haben einige der Gottheiten getötet!“ „Auf solche Gedanken bin ich in allen Monaten, die inzwischen verflossen sind, noch nicht gekommen, weil sie zu absurd sind. Getötet? Gewiß! Fremde Geschöpfe aus einem Alptraum, die sich anschicken, die Erde zu erobern. Ich habe dabei so 53
wenig Gewissensbisse empfunden wie beim Schuß auf einen Wolf.“ Asta wurde dunkelrot. „Sie vergessen über der äußeren Form der Orguren, daß sie Träger höchster Geistigkeit sind, höherer Kräfte, als wir sie besitzen. Vermutlich erscheinen wir ihnen ebenso häßlich und exotisch wie umgekehrt. Diese Geschöpfe, sagen wir ruhig, diese Gottheiten, sind uns nicht feindlich. Auch Ihre Schilderung hat mich davon überzeugt. Niemandem haben die Orguren Böses getan, weder Ihnen noch Ihren Angehörigen und Gefährten!“ „Und die menschliche Freiheit?“ „Es ist nicht schade darum! Sie müssen einsehen, daß die Entwicklung, die mit der Landung der Orguren auf der Erde anbrach, unaufhaltsam ist. Eine Entwicklung, die der Einfluß der Sterne herbeigeführt hat. Man kann sich negativ einstellen, dann wird man gezwungen und mitgerissen, ich gehöre zu denen, die diese Notwendigkeit bejahen, stelle mich positiv zum Pulsschlag der Zeit und des Schicksals ein. Eins sein mit dem Rhythmus der kosmischen Kräfte ist Glück.“ Per Holmgreen schüttelte den Kopf. „Auf was für abwegige Gedanken sind Sie da verfallen! Bisher konnte ich mir noch keine Vorstellung davon machen, wie so ein glühender Anhänger oder eine Anhängerin der Orgurenherrschaft aussieht, von welcher Geistesverfassung sie ist; es ist für mich eine große Überraschung, bei Ihnen auf diese – Gedankengänge zu stoßen.“ Asta Torsen war sichtlich reserviert. „Sie werden eben gründlich umlernen müssen!“ Sie nahm eine Zigarette aus der goldenen Dose auf dem Tisch. Er gab ihr Feuer und sagte dann entschieden: „Und ich möchte Sie von alledem abbringen! Sie haben einen bekannten Namen als Künstlerin, Sie sind besonders aufgeschlossen für alles Neue und Sie haben zuviel Geld, so erklärt sich, daß allerlei Scharlatane sich an Sie herandrän54
gen. Aber ich glaube fest an Ihr gesundes und natürliches Empfinden!“ Langes Schweigen – bis Per Holmgreen sich erhob. Ehe er den Mund öffnete, um sich zu verabschieden, redete Asta von ihrem Sessel aus. Ihren Unwillen hatte sie niedergekämpft. „Sie lehnen etwas ab, was Sie gar nicht kennen, sprechen wie der Blinde von der Farbe. Ich halte es nun für richtiger, daß wir uns während der Überfahrt nicht mehr treffen, eine unbefangene Unterhaltung ist bei solchen Gegensätzen schwer möglich. Doch deswegen braucht unsere Freundschaft nicht unbedingt zu Ende sein. Sie sagten, daß Sie eine Zeitlang in der Nähe von Los Angeles bleiben. Besuchen Sie mich in Hollywood, ich schreibe Ihnen Tag und Stunde, mache Sie dann mit jemand bekannt, der diese Sache besser verfechten kann als ich selbst. Sie müssen aber versprechen, ihn ohne Voreingenommenheit anzuhören!“ Per Holmgreen zögerte einen Augenblicke, verbeugte sich dann. „Einverstanden!“ und wandte sich zum Gehen. In San Francisco trennte man sich von Smith und Langstreet. Senator Trock, ein Freund des älteren Holmgreen aus gemeinsamer Studienzeit, holte diesen, dessen Sohn und Iversen ab, zu seinem Landsitz Cotton Valley bei Los Angeles. Die Farm lag inmitten einer schönen Landschaft mit ausgedehnten Orangeplantagen. Man wollte bleiben, bis Nachricht von Olafson eintreffen würde. Per erhielt schon bald eine Einladung nach Hollywood und fuhr hinüber. Die ausgedehnte Gartenstadt war wegen ihres unvergleichlichen Klimas und ihrer Beleuchtungsverhältnisse nach wie vor die Zentrale der Filmproduktion. Pünktlich stellte er sich am Abend ein, in der Villa Asta Torsens. Am Ende eines Korridors lag ein kleiner Saal, in dem zwischen Stuhlreihen 70 bis 80 Damen und Herren in Abendkleidern in kleinen Gruppen zusammenstanden. 55
Asta Torsen begrüßte ihn erfreut: „Ich hoffe, daß Sie nach dem heutigen Abend anders denken!“ Dann stellte sie ihn einem eleganten Paar vor: Eva Maria Hulk und ein Baron Kerenyi. Lächelnd beobachtete Asta die Wirkung. „Also stimmt es, daß Sie sich kennen! Es ist die Überraschung, die ich aufgespart habe!“ Sie überließ die drei sich selbst, um sich anderen Gästen zuzuwenden. Per Holmgreen kannte Frau Hulk vom Tage der Flucht von Celebes. Kerenyi war ihm unbekannt. Er mußte auch zum engeren Kreis der Überzeugten gehören. Landläufige verbindliche Worte wurden gewechselt. Die beiden gaben sich nicht viel Mühe, besonders freundlich zu ihm zu sein, von Frau Hulk ging eisige Reserviertheit aus, das Thema der gemeinsamen Erlebnisse wurde mit keinem Wort berührt. Es wurde gebeten, Platz zu nehmen. Per Holmgreen suchte sich einen Sitz auf einer der hintersten Stuhlreihen, denn nun verlosch das elektrische Licht, Kerzen in Haltern rings an den Wänden verbreiteten eine gedämpfte, erwartungsvolle Stimmung. Ein Vorhang schob sich beiseite und ein seltsames Paar trat ein. Der Vortragende – Soriano – und eine lange, hagere Gestalt, die einen den ganzen Körper und das Gesicht verdeckenden Überwurf ablegte. Ihm wandte sich das allgemeine Interesse zu, denn es war ein Atoi. Übergroß, mit zu langen und zu dürren Armen und Beinen, das Gesicht ungewöhnlich lang und schmal, dunkelbraun. Ein glatter Haarwulst, der in Eiform auf den Kopf aufgesetzt war, verlängerte ihn noch beträchtlich. Per Holmgreen war ebenso verblüfft wie alle anderen, er suchte in seiner Erinnerung. Wenn man dieses außerhalb des Spielraums menschlicher Rassen stehende Gesicht für sich allein betrachtete, war es nicht unschön. Eine Erinnerung flog ihn an, er sah vor sich eine Elfenbeinplastik von Diluvialmenschen aus einem Fund in Mähren, die hatte entfernte Ähnlichkeit mit diesem Antlitz. 56
Soweit er die Presse in diesen Tagen verfolgt hatte –, noch niemals war ein solch außerirdischer Mensch außerhalb des Invasionsgebietes aufgetaucht. Ungelöst blieb einstweilen das Rätsel, wie man ihn nach Amerika hineingeschmuggelt hatte. Soriano, Kerenyi, Eva Maria, die ihn begleiteten, mußten sehr vorsichtig und behutsam zu Werke gegangen sein, daß sein Erscheinen nicht öffentlich bekannt wurde. Diese Sensation hätte man sich nicht entgehen lassen. Per verstand jetzt, daß Asta Torsen auf dem Schiff so geheimnisvoll geredet hatte. Es war eine große Überraschung. Der Vortragende des Abends, Soriano, war dagegen in keiner Weise auffällig, nur trug er keinen Abendanzug. Eine normale schlanke Figur, kahlgeschorener Kopf, dichte Augenbrauen über den dunklen Augen. Soriano begann zu sprechen, er bestieg nicht das für ihn aufgebaute Rednerpult, lehnte sich nur daran und stützte den Arm darauf, während man für den Atoi einen Sessel herbeibrachte. „Der Weise beherrscht die Sterne, den Unwissenden aber zwingen sie! Immer noch ist der größte Teil der Menschheit blind für die kosmischen Gesetze und ohne höhere Einsicht. Uralte Kenntnis der Sternenreligionen in Indien und Ägypten in Regeln gefaßt, von Griechen und Römern gepflegt, im Mittelalter von Wissendem zu Wissendem vererbt, gibt tieferen Einblick in den Zusammenhang aller Dinge, als die spezialisierte Naturforschung. Hören Sie, was die erhabene Wissenschaft der Sterneneinflüsse uns verkündet.“ Per Holmgreen gab sich einen Ruck. Unauffällig sah er sich im Kreise um und bemerkte, wie alle Anwesenden an den Lippen des Vortragenden hingen. Etwas lähmend Bannendes ging von ihm aus. Vergessen, unbeachtet, war jetzt der Atoi. Er erkannte blitzartig: das Ganze war auf Sensation angelegt! Warum begründet er seine Thesen mit astrologischen Prophezeiungen? fragte er sich. Ebenso gut konnte er ein Kapitel aus dem 57
Koran vorlesen. Es hätte dieselbe Wirkung getan. Es kommt nicht so sehr darauf an, was er redet, mehr darauf, wie er spricht! Nun sprach der Atoi, sehr langsam, es fiel ihm schwer, die Worte einer irdischen Sprache zu formen. In einer Art Betäubung hörte die ganze Versammlung ihm zu. Per Holmgreen sah in seine Augen, schreckte vor ihnen förmlich zurück, ihr leerer und toter Ausdruck verwirrte. Per beobachtete sehr genau – der willensmächtigere der beiden war zweifellos Soriano, es war nur das Ungewöhnliche, Exotische dieser Erscheinung, das die Anwesenden auch auf seine Worte wie auf Offenbarungen horchen ließ. An sich hatte dieser unirdische Fremde weder stärkeren Willen noch höhere Intelligenz als ein Durchschnittsmensch! Er sagte nur wenige Sätze, die wie eingelernt wirkten. „Es ist Gesetz im All, daß Geschöpfe, seien sie noch so intelligent, niemals allein eine hohe Stufe der Vollendung erreichen können. Auf der Erde ist es dennoch versucht worden. Der Versuch ist immer so vergeblich, wie der eines Mannes, der ins Wasser gefallen ist und sich selbst herausziehen will, wie der eines Kindes, das, ohne von anderen zu lernen, die Wunder der Welt begreifen wollte! Erkennt die neuen Götter der Erde, die die unseren und auch die euren sind! Wer guten Willens ist, dem wird Glück und Freude zuteil werden, wer widerstrebt, muß zugrunde gehen! Es ist Wahnsinn und Vermessenheit, von Kampf gegen die Gottheiten zu sprechen, denn sie sind unüberwindlich!“ Soriano nahm den Arm des Atois und ging ohne weiteres Wort, ohne Gruß, zur Tür hinaus. Asta Torsen folgte. Sie kam erst zurück, als Baron Kerenyi, der das Rednerpult betreten hatte, schon mitten in seinen Ausführungen war. Per Holmgreen spürte eine persönliche Abneigung gegen den Redner, wie er sie in dieser Stärke noch nie empfunden hatte, er 58
spürte Abscheu gegen diese Veranstaltung und beides verdichtete sich so, daß er nahe daran war, laute Zwischenrufe auszustoßen. Er unterließ es, stand jedoch auf und verließ den Saal. Der Sprecher hielt einen Augenblick inne und warf ihm einen bösen Blick zu. Asta Torsen eilte ihm nach. „Wie konnten Sie? Wie steht es denn mit dem Versprechen, das Sie mir auf dem Schiff gaben?“ „Ich erinnere mich nicht, versprochen zu haben, daß ich in gläubiger Bereitschaft an dieser Versammlung teilnehmen wollte. Unvoreingenommen zuhören wollte ich, und das habe ich getan. Ich habe mich selbst unter Kontrolle gehalten, meinen Verstand als Filter benutzt und dadurch vermieden, mich ebenso zu erniedrigen wie diese Narren und Hypnotisierten, die zu Werkzeugen der fremden Eindringlinge geworden sind! Ich mußte aus dem Saal heraus, sonst hätte ich es ihnen ins Gesicht gerufen!“ Asta Torsen warf den Kopf zurück. „Starke Worte …! Aber es ist äußerst geschmacklos, meine Gäste zu beschimpfen! Wenn Sie von Narren und Hypnotisierten sprechen, nun, in dieser Versammlung hat sich geistige Elite zusammengefunden, Künstler, Schriftsteller. Ich bin in keiner schlechten Gesellschaft, wenn ich an die hohen Ziele dieser Männer glaube. Sie aber sind ein Mensch ohne jede Begeisterungsfähigkeit. Es tut mir leid, daß ich mich in Ihnen so getäuscht habe!“ „Für die Teilnehmer der Versammlung und für Sie, Asta Torsen, ist dies eine Art Gesellschaftsspiel, eine neue Unterhaltung. Sie finden es geheimnisvoll, gefährlich, erregend, sind schließlich einfach hypnotisiert worden …“ „Schweigen Sie doch“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Wenn Sie glauben, daß unser Glaube an die neue Erdmacht der Güte und Gerechtigkeit, der Leidlosigkeit uns nur eine Art Gesellschaftsspiel ist, dann trennen sich unsere Wege!“ Sie wandte sich ab und ging ohne Gruß. Per stand eine Zeit unschlüssig und verließ danach das Haus. 59
*
Aus der Farm in Cotton Valley traf einige Tage später Nachricht ein, daß die Familie Olafson schon auf der Reise von Indien in ihre norwegische Heimat sei. Holmgreen und Iversen schoben ihre Abreise nur noch so lange auf, bis ihr Gastgeber abkömmlich war. Er wollte sie bis Washington begleiten und sie bei einigen maßgebenden Männern der Bundesregierung einführen. Diese sollten entscheiden, ob ihre bedeutungsvollen Beobachtungen und Erfahrungen beim Einfall der Orguren auf Celebes veröffentlicht werden sollten oder nicht. Am letzten Abend feierten sie Abschied von Freunden und Nachbarn. Danach fand der junge Holmgreen noch keinen Schlaf. Es trieb ihn aus dem heißen Zimmer; er wanderte noch mitten in der Nacht allein durch den Park. Nach einem längeren Spaziergang näherte er sich wieder den Gebäuden der Farm. War es nicht ein Lichtschein, der durch einen Türspalt der abseits gelegenen Garage nach außen fiel, jetzt verlosch? Dort stand der Wagen, der sie alle morgen früh zum Flugplatz Los Angeles bringen sollte. Wer hatte um diese Stunde dort etwas zu suchen? Per Holmgreen lauschte. Das Licht reichte aus, um zu erkennen, daß ein Torflügel aufschwang und sich schloß. Knirschen von Kies war zu hören. Der Kraftfahrer konnte es nicht sein. Welchen Anlaß sollte er haben, sich auffällig zu benehmen? Per fühlte, daß der Mann oder die Männer, die sich dort zu schaffen machten, jetzt auch lauschten. Dann glitten nacheinander zwei Schatten über die etwas hellere Wand des Gebäudes, um in das dichtere Dunkel einer Hibiskushecke einzutauchen. Jagdfieber erwachte. Er hatte keine Waffe bei sich, konnte 60
sich aber auf seine trainierten Muskeln verlassen. Sogleich hatte er seinen Vorteil erspäht. In einigen hundert Metern Entfernung lief ein Stacheldrahtzaun, den die beiden Einbrecher überklettern mußten, ob sie im Schatten der Hecke blieben oder nicht. Diese Stelle galt es, vor ihnen zu erreichen. Er lief los, in langen Sätzen im Dunkel des Parkrandes, dann geduckt längs der jenseits des Zaunes führenden Mulde. Aus dem Laufen sprang er den einen Schatten an, der stöhnend zusammensackte und wandte sich gegen den anderen, der am Draht hing und etwas aus der Tasche riß – schlug ihm die Pistole aus der Hand und landete einen wuchtigen Kinnhaken. Der Mann stieß noch einen Schrei aus, ehe er zu Boden fiel. Diesen, den größeren und kräftigeren, fesselte Per kunstgerecht mit dessen eigenem Rock und Hosenträgern und ließ ihn liegen, tastete dann die Kleider des anderen ab, und nahm eine zweite Pistole an sich. Schüttelte ihn, bis er aus der Benommenheit erwachte und zwang ihn mit schmerzhaftem Griff, mitzugehen, zurück zur Garage. Auf dem Wege dorthin kam ihnen atemlos der Wächter entgegen, der den Schrei gehört hatte, leuchtete sie an, erkannte Holmgreen und fragte: „Soll ich das Haus wecken, Polizei anrufen?“ „Nein! Aber am Zaun liegt noch einer. Passen Sie auf, daß er sich nicht befreit! Hier haben Sie eine Pistole, die ich ihm abgenommen habe! Ich rufe Sie dann!“ In der Garage und am Wagen war auf den ersten Blick keine Veränderung zu erkennen. „Aha, da ist die Schnur!“ rief Per Holmgreen, und gleich darauf hatte er dem Gangster die Hände auf dem Rücken zusammengebunden. „Stellen Sie sich dorthin, in die Ecke und rühren sich nicht!“ Nun untersuchte Holmgreen den Wagen genau, er fand nichts Auffälliges. „Hören Sie zu,“ wendete er sich an den Gangster. „Wollen Sie freiwillig reden, oder soll ich Sie dazu zwingen?“ Der andere antwortete nicht. 61
„Ich kenne noch ganz andere Griffe als den, den ich vorhin angewandt habe, und ich habe schon gemerkt, daß Sie dagegen nicht trainiert sind!“ Um die Lippen des Gangsters zuckten die Muskeln, dann brachte er heraus: „Wenn ich Ihnen alles sage, lassen Sie uns dann frei?“ „Es hängt davon ab, ob Sie mir die volle Wahrheit sagen! Sie haben nicht Pistolen in der Tasche, um Handwerkzeug zu stehlen!“ „Am Ausgleichsgetriebe …“ „Was ist damit?“ „Finden Sie eine Sprengladung.“ „Holen Sie sie heraus!“ „Dann müssen Sie mir die Hände losbinden und mir eine Drahtschere geben!“ Der Gangster kroch unter den Wagen, und Per bewachte ihn. Indes kam der Wächter mit dem anderen Gangster. Nach einigem Hantieren kam der erste mit einer länglich flachen Büchse in der Hand zum Vorschein. „Was ist das für eine Ladung?“ „Anderthalb Kilo Dynamit, Erschütterungszünder, der ein Uhrwerk auslöst, das nach zehn Minuten zündet!“ „Auftraggeber?“ „Den Namen habe ich vergessen.“ „So leicht können Sie mich nicht abschütteln! Gehen Sie zu Ihrem Kollegen dort in die Ecke und denken Sie nach, bis ich wiederkomme, vielleicht fällt Ihnen der Name ein! – Mr. Morris, Sie werden so lange wohl mit den beiden allein fertig. Geben Sie acht, daß sie nicht zusammen sprechen. Ich bin gleich zurück.“ Per Holmgreen weckte Dr. Iversen. „Wie sehen Sie aus?“ staunte dieser. „Ich soll Sie wohl verbinden?“ „Nein, nicht nötig! Ich habe zwei Kerle in der Garage, der 62
Wächter bewacht sie. Kommen sie schnell mit. Sie hatten uns eine Sprengladung in den Wagen eingebaut. Wir hätten alle eine Himmelfahrt angetreten, wenn wir morgen früh damit nach Los Angeles gefahren wären. Ich will herausbekommen, wer der Auftraggeber ist, habe einen bestimmten Verdacht, dazu müssen wir sie getrennt vernehmen.“ „Die Gangster werden kaum so dumm sein, daß sie nicht wissen, daß sie nur vor dem Richter oder der Polizei Aussagen machen brauchen.“ „Sie werden schon sprechen, wenn ich die geeigneten Methoden anwende.“ „Das ist gegen Gesetz und Ordnung!“ „Dagegen ist auch, wenn uns jemand mittels einer Sprengladung umbringen will!“ Iversen schüttelte den Kopf, kleidete sich aber eilig an. Einzeln wurden nun die Verbrecher ausgefragt, und es bedurfte gar keiner Drohungen und Gewaltanwendung mehr, um von ihnen den Hergang zu erfahren. Vor drei Tagen waren sie in einer Kneipe der Innenstadt von Los Angeles mit dem Auftraggeber zusammengekommen. Aber seinen Namen wußten sie angeblich nicht. „Wenn Sie den Auftraggeber nicht kennen, wie wollen Sie dann Ihr Geld bekommen?“ fragte Per. „Wir bekamen eine hohe Anzahlung, und es war eine Deckadresse vereinbart, an die im Erfolgsfall noch mal derselbe Betrag überwiesen worden wäre.“ „Sie hätten sich dann ja viel einfacher mit der Anzahlung begnügen, die Höllenmaschine in das nächste Wasser werfen und nach Hause fahren können.“ „Genau dasselbe hat uns der Auftraggeber zum Abschied gesagt. Wenn wir das versuchen würden, würde man uns zu finden wissen. Außerdem ständen wir bei der Ausführung unter Kontrolle!“ 63
„Morris, haben Sie jemand gesehen, der sich auf dem Hof zu schaffen gemacht hätte?“ Der Wächter schüttelte den Kopf, er zeigte Iversen und Per draußen, wo er sich zur Zeit der Tat auf seinem Kontrollgang befunden hatte. Er hatte nichts Auffälliges gesehen. Man war an einem toten Punkt angelangt, und die Zeit drängte. In zwei Stunden mußte es hell sein. Man würde nun doch die Sache der Polizei übergeben müssen, zumal noch ein Dritter im Spiel war, vielleicht in der nächsten Umgebung des Hausherrn, der alle zweckdienlichen Angaben gemacht hatte, sich aber selbst scheute, den Mordanschlag auszuführen. Man mußte in Kauf nehmen, daß man die Besprechung in Washington versäumte. Daß man unter Umständen die eigenen Erlebnisse offenzulegen gezwungen sein würde. Daß sie dadurch Leuten bekannt würden, die nichts davon erfahren sollten, ehe mit verantwortlichen Stellen darüber gesprochen worden war. Per Holmgreen erörterte das Für und Wider mit Iversen, den er beiseite genommen hatte. Man mußte zu einem Entschluß kommen. Iversen sagte: „Wenn Sie den Auftraggeber erfahren wollen, wird nur die polizeiliche Untersuchung übrig bleiben, denn die Gangster können tatsächlich nichts über ihn aussagen.“ „Das ist doch kaum denkbar.“ „Überlegen Sie, was Sie tun, wenn Ihnen ein Name nicht einfallen will. Sie knipsen mit den Fingern oder Sie schlagen mit der Faust auf den Tisch, Sie fassen sich an die Schläfe oder senken den Kopf, je nach Temperament. Genau so haben sich die Gangster verhalten; ich habe sie beobachtet, während Sie fragten. Es sind unwillkürliche Reflexe, ein untrügliches Zeichen, daß sie mit ihrer Erinnerung plötzlich vor einer unübersteigbaren Mauer standen. Ein bestimmtes Gehirngebiet ist versperrt. In den letzten Wochen habe ich mich, veranlaßt durch unsere 64
Erlebnisse, intensiv mit der neuesten Literatur über Hypnose beschäftigt. Man kann solchen eng begrenzten Gedächtnisausfall künstlich herbeiführen, eben durch Hypnose, man kann jemand suggerieren, daß er sich nicht an Namen und bestimmte Kennzeichen und Umstände erinnert. Das ist es, was mit den Gangstern geschehen ist, vor wenigen Stunden erst, seitens der Auftraggeber, die sie im Wagen hier abgesetzt haben. Die Auftraggeber wünschten ihre Spur zu tilgen. Das ist also möglich und seit langem bekannt. Neu und fast unbekannt ist, daß es ein Mittel dagegen gibt.“ „Gegensuggestion!“ „Nein. Bin chemisches Mittel, ein Antispasmin, kompliziertes organisches Präparat. Es wirkt, in die Blutbahn gespritzt, so, daß die Gedächtnisstörung beseitigt wird. Es ist ein allgemein gebräuchliches Mittel gegen Krämpfe. Muskelkrämpfe sind nämlich auch nichts anderes als Blockierung gewisser Nerven. Ich habe es in meinem Koffer.“ „Wollen Sie es anwenden?“ „Es ist zwar ungefährlich, aber die Anwendung ist untersagt, nur durch Gerichtsbeschluß möglich.“ „Wir werden doch über solche Verbote nicht stolpern, Doktor, da die Sache nun schon einmal so weit gediehen ist.“ „Der Versuch würde mich interessieren, falls Sie die Kerle dazu bringen, daß sie sich freiwillig diese Einspritzung machen lassen.“ Während Iversen in seinem Zimmer die Vorbereitung traf, verhandelte Per mit den Gefangenen, die sich anfänglich auf das heftigste sträubten. Er gab ihnen zu bedenken: „Falls wir Sie unschädlich machen wollten, hätten wir viel einfachere Mittel. Wir könnten Sie etwa fesseln, Ihnen die Höllenmaschine in die Tasche stecken und die Uhr ablaufen lassen. Oder Sie der Polizei übergeben, die bekommt es auch heraus, nur sind Ihnen nebenbei ein paar Jahre Sing-Sing sicher!“ 65
Wenige Minuten nach der Injektion war der Erfolg da. Es kam heraus, was Per Holmgreen längst vermutet hatte. Die Gangster beschrieben Kerenyi als Auftraggeber und Soriano als einen der Wageninsassen. An der Wahrheit war nicht zu zweifeln, denn außer der zutreffenden allgemeinen Beschreibung nannten sie unverkennbare Kennzeichen. Soriano hatte ein verkümmertes Ohr, und Kerenyi eine Narbe unter dem linken Auge. Von dem Dritten im Wagen hatten sie nichts anderes erkennen können, als daß es eine ungewöhnlich große, völlig in einen Überwurf eingewickelte Gestalt war. Per Holmgreen entfernte sich und kam nach einer Viertelstunde zurück. Er hatte eine kurze Schilderung des Hergangs in die Maschine geschrieben und ließ die Zeugen und die Gangster dies Geständnis unterschreiben. Auch das taten sie, um nun endgültig die Freiheit dafür einzutauschen. Man brauchte ihnen nicht erst zu empfehlen, einige Tausend Kilometer zwischen sich und den Tatort zu legen. Per zertrat die Zünduhr und verstreute den Inhalt der Sprengbüchse. Schloß das Garagentor ab und beauftragte Morris, es zu überwachen und über alles einstweilen zu schweigen, was in dieser Nacht geschah. Er lud Dr. Iversen noch zu einem Glas Gin auf sein Zimmer ein. „Ihr Wohl, Doktor. Es war eine etwas unruhige Nacht“, trank er ihm zu. Iversen ging nicht darauf ein, fragte: „Weshalb wollten Sie denn eigentlich ein schriftliches Geständnis haben?“ „Für alle Fälle. Für etwaige spätere Verwendung. Es könnte später dem Senator dafür nützlich sein, den Dritten herauszubekommen, der ja hier im Haus sein muß!“ Iversen erhob sich. „Mir ist nicht ganz wohl nach dieser Erledigung der Sache!“ „Warum denn kleinlich in dieser großen Zeit?“ „Nun entschuldigen Sie mich, ich will noch packen, es ist ohnehin bald Zeit, sich reisefertig zu machen.“ 66
Dr. Iversen würde sehr erstaunt gewesen sein, wenn er gesehen hätte, was Per nach seinem Fortgehen tat. Er steckte einen Durchschlag des Geständnisses in einen Briefumschlag, schrieb mit der Hand einige Zeilen dazu und adressierte den Brief an Asta Torsen. Er gab ihn zwei Stunden später auf dem Flugplatz von Los Angeles zur Post. Es war gewiß keine ganz logische Handlungsweise, aber ein Liebender handelt nicht allein aus Beweggründen des Verstandes. * Asta Torsen glaubte, nach der Zusammenkunft in ihrem Hause mit Per Holmgreen endgültig fertig zu sein, und nahm sich vor, keinen Gedanken mehr an ihn zu verschwenden. Die Einbeziehung in die Pläne Sorianos und Kerenyis ließ alles andere zunächst in den Hintergrund treten. Ihr Haus, das sie Soriano zur Verfügung stellte, wurde in den nächsten Tagen zu einer Art Hauptquartier. Eine Rundfahrt durch Amerika wurde vorbereitet. Es ging nicht darum, die zersplitterten, aufgespaltenen Verbände und Sekten zu einer großen schlagkräftigen Massenorganisation zu vereinigen, wie Asta zuerst angenommen hatte. Nur die Führer wurden auf ein gemeinsames Aktionsprogramm ausgerichtet. Geheimnisvolle Vollmachten der fremden Macht mußten bewirken, daß alle Besucher ziemlich widerstandslos die Anordnungen Sorianos entgegennahmen, sich auf ihn einstellten, wie Eisenspäne auf einen Magneten. Die Kraft seiner stark suggestiven Persönlichkeit tat ein Übriges. Je mehr sie zum Kreis um Soriano selbst gehörte, umsomehr bekam sie Einblick. Seine männliche und weibliche Umgebung, die im Hause wohnte, war Soriano und seinen Zielen zwar blind ergeben, aber untereinander waren sie nicht einig. So kam allerlei Klatsch an ihr Ohr, und je länger, je mehr scheuten sie sich 67
auch nicht, Skandalgeschichten vom Meister selbst und seiner Vergangenheit zu berichten. Sie bekam das Bild eines zwar mit überragenden Fähigkeiten ausgestatteten, aber auch skrupellosen Mannes, der wohl verschieden lautende Wahrheiten für sich und für die anderen hatte. Es schien, daß in der geplanten neuen Erdordnung doch auch für solche Männer Platz war. Daß Asta Torsen sich solche Gedanken um Soriano machte, war schon der Beginn der Wandlung. Der Rest der Woche, die Soriano und sein Kreis in ihrem Haus zubrachte, genügte, um den Himmel ihrer Ideale völlig einstürzen zu lassen. Ein gieriges Aufleuchten in den Augen Sorianos und ein paar Worte, als sie einmal kurze Zeit mit ihm allein war, belehrten sie, daß an den Klatschgeschichten um den Meister doch etwas Wahres sein mußte. Ihre Persönlichkeit, ihr Stolz, warfen sich dagegen auf, dieselbe Rolle zu spielen wie Eva Maria Hulk, ebenso willenlos Soriano zu verfallen. Nach der Abreise aller Gäste lief sie abgehärmt und übernächtig von Zimmer zu Zimmer und wartete auf das Wunder, das sie aus dem Dilemma befreien würde, in das sie mit allen ihren Sehnsüchten und Idealen geraten war. In dieser Stimmung erhielt sie Per Holmgreens Brief. Er schrieb: „… hatte ich vor, einen langen Brief zu schreiben, zu versuchen, Sie davon zu überzeugen, daß die Sache; für die Sie sich einsetzen, nicht gut ist. Manches andere wollte ich aussprechen und ordnen, ich finde die Worte nicht mehr. Allein durch einen Zufall entgingen wir, mein Vater und ich, Senator Trock und Dr. Iversen, einem Attentat Ihrer angeblich so ideal gesinnten Freunde. Das Nähere ersehen Sie aus der beigefügten Abschrift eines Geständnisses, das die Täter und die Zeugen unterschrieben haben. Ich würde mich freuen, wenn es dazu beiträgt, Sie von der Verbindung mit einer gewissenlosen und heuchlerischen Clique loszureißen …!“ Gedanken und Ge68
fühle stürmten auf Asta Torsen ein. Vor Tagen würde sie noch trotz, des unterschriebenen Geständnisses die Anschuldigungen für unmöglich und undenkbar gehalten haben, heute nicht mehr. Am letzten Tag der Anwesenheit. Sorianos und seiner Jünger traf ein sicher nicht für sie bestimmtes Wort ihr Ohr: „Beseitigungskommission“. Es konnte nur bedeuten, daß Menschen, die die Ziele der Orguren störten, entfernt wurden. Sie hatte das fatale Empfinden, Soriano und Kerenyi in gutem Glauben Auskünfte über Per Holmgreen gegeben zu haben, die diesen Anschlag ermöglichten. Es war da etwas wieder gut zu machen. Sie rief Wilms an, er möchte sie zu einem kurzen Flug abholen. Wilms – Kraftfahrer und Pilot zugleich – kam pünktlich. Auch das Flugzeug – es war die modernste amerikanische Serienmaschine, Typ Gloria 29, erst in den letzten Tagen im Hinblick auf künftige häufige Überlandreisen im Dienste der Organisation erworben (sie hatte zuerst den Gedanken gehabt, sie Soriano zu schenken), lag startfertig. Wenige Minuten später landete man auf einer Wiese in der Nähe von Cotton Valley. Asta ging selbst zur Farm, um zu erfahren, daß die Holmgreens und der Senator in der Frühe des Tages nach dem Osten der Staaten geflogen seien. Asta war bestürzt und enttäuscht, ließ sich in ihren Flugzeugsitz gleiten und war unschlüssig, was sie nun beginnen sollte. Ihr Blick fiel auf den Piloten. Sie sah sein derbes und wenig schönes, doch sympathisches und vertrauenswürdiges Gesicht, in dem es auch nicht an Intelligenz fehlte. Sie brauchte jetzt einen Menschen, mit dem sie sich aussprechen konnte, jemand mit gesundem Menschenverstand. So zog sie den Brief Per Holmgreens aus der Handtasche und las ihn noch einmal durch, überreichte ihn dann dem Piloten. „Lesen Sie das bitte, und sagen Sie mir, ob Sie es für möglich halten.“ 69
Asta betrachtete dessen Mienenspiel, während er las. Es zeigte nur einen Augenblick einen Anflug von Erstaunen. Dann gab er den Brief zurück. „Möglich ist das wohl, Miß Torsen. Ihren neuen Freunden traue ich es auch durchaus zu.“ Sie schwieg, und er fuhr fort: „Es muß noch ein Zeuge hier sein, den man fragen könnte. Der Wachmann wird nicht mit sein. Er wird eine Extrazuwendung ganz gern annehmen.“ „Holen Sie bitte den Wachmann!“ Wilms kam erst nach längerer Zeit allein zurück. „Den Wachmann kann ich Ihnen nicht bringen. Er ist fort, seit heute früh. Er hat sich seinen Lohn auszahlen lassen und ist verschwunden, mit allen seinen Sachen und mit einem gestohlenen Motorrad. Die Polizei hat man noch nicht benachrichtigt, auch in der anderen Sache nicht, von der niemand etwas weiß. Ich habe deswegen dem Verwalter auch nichts davon gesagt. Man glaubt noch, daß der Wachmann zurückkommen wird. Ich glaube es nicht.“ Wilms lachte. „Herr Holmgreen hat einfach das corpus delicti fortgeworfen. Ich fand es unter alten Kanistern in der Garage, als mir der Kraftfahrer gegen ein Trinkgeld den Wagen zeigte, und habe es an mich genommen.“ Wilms zog aus seiner Tasche die Überreste einer Sprengbüchse und ein zerstörtes Uhrwerk. „An der Tatsache des Sprengstoffanschlags selbst kann nun wohl kein Zweifel mehr sein, zumal auch sonst alles stimmt. Soriano, Kerenyi und der Atoi sind gestern nicht wie die anderen mit der Bahn nach San Francisco gefahren, sondern haben einen Wagen benutzt.“ Asta Torsen schöpfte ein paarmal tief Atem. Dann hatte sie einen Entschluß gefaßt. „Wir fliegen nach San Francisco!“ Sie setzte sich zu Wilms in den zweiten Steuersitz und zog ihn nun ganz ins Vertrauen; erzählte fast alles, was sie gerade bewegte. Sie hatte die Absicht, Soriano zu stellen. Er würde nach den 70
Beweisen, in deren Besitz sie war, kaum leugnen können, Mörder gegen Per Holmgreen und die Seinen angesetzt zu haben. Als sie geendet hatte, warnte Wilms. „Keine Übereilung jetzt, Miß Torsen! Machen Sie sich diesen Mann nicht zum Feind! Um keinen Preis! Er ist unheimlich und gefährlich und verfügt über tausend Hilfsmittel und blind ergebene Helfer. Wenn ich Ihnen einen Vorschlag machen darf – gehen Sie in die Besprechung in San Francisco, erwähnen aber mit keinem Wort, daß Sie etwas von dem Anschlag wissen. Geben Sie sich weiter als begeisterte Jüngerin. Sie müssen Ihren Rückzug ganz allmählich und vorsichtig bewerkstelligen. Mich aber nehmen Sie heute sicherheitshalber mit in die Besprechung, zu Ihrem Schutz!“ Asta stimmte nach einigem Überlegen zu. „Wir könnten es versuchen! Schlimmstenfalls verweigert man Ihnen den Zutritt, dann wissen Sie, wo ich bin, wenn ich nicht wiederkomme.“ Kerenyi und Soriano empfingen sie ziemlich erstaunt. Asta log, ein unwiderstehlicher Trieb hätte sie veranlaßt, auch heute teilzunehmen. Ihren Piloten wollte sie als neuen Anhänger einführen. „Bürgen Sie für ihn?“ fragte Soriano langsam. „Gewiß!“ antwortete Asta, aber sie war viel zu unsicher, um es ganz unbefangen herauszubringen. Doch zwei seiner Jüngerinnen belegten den Meister in diesem Augenblick mit Beschlag, zogen ihn einfach mit sich fort, so daß sich dieser Fehler nicht auswirkte. Asta und Wilms wurden nicht weiter beachtet. Weiter entwickelte sich dann alles so, wie vor Tagen in ihrem eigenen Haus. Zum drittenmal hörte Asta Torsen dieselben Ausführungen mit fast den gleichen Worten und Gesten – und die Worte gingen wirkungslos an ihrem Ohr vorbei, sie wurde nicht einmal gepackt und beeindruckt. Plötzlich sprach Soriano über die Gegner der neuen Idee: „Hütet euch vor absichtlichem oder unabsichtlichem Verrat! 71
Denn die künftigen Herren der Erde durchschauen alles und kennen ihre Gegner! Kein neues Massenmorden wird einsetzen, wie es immer üblich war, wenn eine neue Idee sich durchsetzen wollte – nein. Auch die Gegner wollen wir überzeugen und erziehen. Nur wenige müssen aus dem Kreis der Lebendigen ausgestoßen werden, Menschen, die es gewagt haben, Mord an friedfertigen, göttergleichen Geschöpfen zu begehen.“ Soriano hatte das alles ganz allgemein gesagt, er legte auch keine besondere Bedeutung in diese Sätze, umso eindringlicher wirkten sie. Asta Torsen dachte entsetzt: Kann er Gedanken lesen? Weiß er, daß ich einen Brief in der Tasche trage, daß ich noch vor Stunden vorhatte, ihn zur Rede zu stellen? Es klingt wie eine Antwort darauf. Wie im Traum verließ sie später an der Seite Wilms die Gesellschaft und das Haus. In der nächsten Zeit in Hollywood brauchte sie nicht erst eine Krankheit erfinden, um sich von ihren neuen Freunden zurückzuziehen. Sie war wirklich am Ende ihrer Kraft. Der Arzt stellte Überarbeitung und Nervenerschöpfung fest und riet zu ausgiebiger Erholung. Wilms, der sich nie aufdrängte und es nicht ausnutzte, daß Asta Torsen ihn in ihren privatesten Dingen zum Vertrauten machte, gab auch diesmal wieder die richtigen Regieanweisungen. Er veranlaßte sie, nicht eines der sonnenglühenden kalifornischen Bäder aufzusuchen, sondern mit ihm zu einem seiner Verwandten zu fliegen, der in Kanada ein Skihotel besaß. Sie flog in ihrer eigenen Maschine dorthin und gab niemand Kenntnis, wo sie sich aufhält. * Torgarten Ö war als Treffpunkt vereinbart Diese kleine Felseninsel vor der Westküste Norwegens gehörte zum Privatbesitz der Olafsons. 72
Eine Fahrstraße tiefen Wassers führte zu einer steinernen Mole und zu einer kleinen Hafenanlage. Nach dem ersten erfolgreichen Raumflug vor zwei Jahrzehnten gab es keine Zeit, zu der der Zustrom von Neugierigen alle Arbeiten stark behinderte. Damals hatte der norwegische Staat auf Antrag Olafsons die Insel zum Sperrgebiet erklärt, ringsum an den Felsenküsten des Eilands warnten Holzschilder jeden Eindringling und gaben ihm die Verordnung bekannt. Vom zerrissenen Ufer stieg der Fels in flacheren oder steileren, manchmal grasüberwachsenen Hängen zu einer mit Fichten bestandenen Hochfläche an. Dort befand sich der Raketenhafen, ein palisadenumzäuntes Gelände, das mehr als die Hälfte der Fläche einnahm, mit Startbahn, Baracken und Werkhallen. Das Raumschiff war lange Jahre nicht mehr eingesetzt worden, weil es den vom Raumfahrtausschuß des WP herausgegebenen Richtlinien nicht mehr entsprach. Es konnte nur eine sehr kleine Besatzung mitnehmen und war nicht mit den Abschirmvorrichtungen versehen, die eine Verwendung von Atompatronen völlig ungefährlich machten. Seither lag die Insel still und weltabgeschieden. Der Hausverwalter und zwei Wächter mit ihren Familien waren die einzigen Bewohner. Sie wurden durch ein Motorschiff versorgt, das jede Woche einmal die Insel anlief. Anfang Oktober dieses Jahres trafen nun die Olafsons mit ihrem Sohn Nils als erste ein, auf dem Wasserwege, denn das Flugboot, das ihnen die Flucht von Celebes ermöglicht hatte, trug sie nicht bis hierher. Es war durch das monatelange Liegen im Freien in den Tropen so mitgenommen, daß sie es in Italien zur Instandsetzung hatten zurücklassen müssen. Weder von Khumar Singh noch von den Holmgreens fanden sie eine Nachricht vor. Doch es erschien bald ein Gast, den sie nicht im entferntesten erwarteten, mit einem Sonderboot von der Küste: Eva Maria Hulk. Sie schien sich in der Zwischenzeit 73
wenig verändert zu haben, eher war sie noch hübscher geworden. In ihren Augen aber lag ein seltsamer Ausdruck, den Nora nicht deuten konnte. Olafson war es, der die Verlegenheitspause beendete: „Verzeihen Sie, Frau Hulk, daß wir Sie nicht herzlicher begrüßen. Wir mußten uns erst überzeugen, daß Sie kein Gespenst sind – Sie sind es also selbst. Wie ist es Ihnen gelungen, von dort zu entkommen?“ Die junge Frau senkte den Blick. „Mit Hilfe von guten Freunden, von Soriano, über Amerika. In Hollywood traf ich durch einen seltsamen Zufall mit dem jungen Herrn Holmgreen zusammen. Ich vermutete ihn schon hier, Ihr Hausverwalter sagte mir aber, daß er und sein Vater noch nicht eingetroffen seien.“ „Hm, ja“, sagte Olafson mit belegter Stimme. „So haben Sie es fertiggebracht, sich aus eigener Kraft zu befreien, die Beeinflussung zu überwinden?“ Eva Maria machte eine abwehrende Bewegung. „Das liegt jetzt alles hinter mir! Was ich hier suche, ist Stille, Vergessen, ein neuer Anfang! Ich will mich hier nur kurz aufhalten, dann in mein Heimatstädtchen in Österreich zurückreisen. Zuvor – nun, es drängt mich, Ihnen alles zu erklären. Schon damals vor anderthalb Jahren hätte ich es tun sollen, als Sie sich so freundlich meiner annahmen. Hulk und ich, wir paßten nie zueinander, unsere Ehe war ein Irrtum. Er liebte seinen Ruhm als Weltraumflieger mehr als mich. Wenigstens ein paar Wochen nach der Hochzeit hätte er mir zuliebe zurückbleiben können. Meine Schuld ist …“ Olafson ließ sie nicht weiterreden: „Genug. Sie sollen sich nicht rechtfertigen. Der Bann der Orguren wirkt auf den einen offenbar stärker als auf den anderen! Bleiben Sie recht lange bei uns, die Holmgreens müssen in den nächsten Tagen hier ankommen. Ich bitte Sie herzlich, kein Wort mehr von dieser Zeit 74
vor sechzehn Monaten zu sprechen. Wir alle wollen sie vergessen!“ Frau Eva Maria seufzte. „Ich fürchte, die Erlebnisse in Insulinde lassen uns nie wieder los, auch wenn wir nicht davon sprechen! Ihre Gastfreundschaft möchte ich nur so lange in Anspruch nehmen, bis das nächste Boot zum Festland zurückfährt!“ Das ganze Haus war um Eva Maria bemüht, bis sie sich erwärmt, gegessen und zum Ausruhen zurückgezogen hatte. Dann erst konnte Olafson sich mit seiner Frau aussprechen. Sie saß in ihrem Zimmer am Fenster, gegen das der Wind Stöße von Regen und Schnee warf und legte ein Buch fort, als er eintrat. „Nun?“ forschte Olafson, „wie denkst du darüber?“ „Ich fürchte, daß Frau Hulk nicht die Wahrheit sagt! An diese Wandlung, die mit ihr vorgegangen sein soll, kann ich nicht glauben. Ihre Augen gefallen mir nicht.“ „Es ist nun einmal so, daß Frauen gegeneinander immer argwöhnisch sind. Man muß ihr schließlich konzedieren, daß sie in Europa uns zuerst aufgesucht hat, offenbar hat sie doch eingesehen, daß sie sich damals recht merkwürdig betragen hat, vor und nach der Invasion. Es muß sie viel Überwindung gekostet haben, hierher zu kommen.“ „Oder glaubst du, daß sie uns Gift in die Suppe schütten will?“ lachte er, als Frau Nora noch immer nicht überzeugt schien. „Nein, man muß vergessen und verzeihen können; wir sind allzumal Sünder …“ Als Frau Hulk ausgeschlafen hatte, war sie lustig und unbekümmert, ganz so wie in der ersten Zeit auf Celebes. Sie plauderte unbeschwert, lief und kletterte auf der Insel und am Strand umher, ruderte und fotografierte. Darüber vergingen die Tage schnell. Als eines Tages ein Radiogramm eintraf, daß die Holmgreens und Dr. Iversen mit dem Boot am nächsten Tag zur Insel kommen würden, bestand sie darauf, mit dem gleichen Boot 75
abzureisen. Die Olafsons machten nicht den Versuch, sie zu längerem Bleiben zu überreden. Am Tag der Abreise gab ihr die ganze Familie das Geleit zum Bootsanlegeplatz. Ihre Koffer waren schon dorthin gebracht worden. Sie waren an der Stelle, an der der Pfad steil abzufallen begann, als sich Eva Maria plötzlich erinnerte: „Ich vergaß meine Handschuhe.“ „Nils kann sie holen.“ „Nein, nein!“ Sie ging schon eilig zum Haus zurück. Als sie außer Sicht war, lief Nils ihr schnell und lautlos nach. Olafson hatte nicht den Blick bemerkt, den Mutter und Sohn gewechselt hatten. Auch er war wieder zum Haus zurückgegangen und hörte im ersten Stock einen unterdrückten Ruf und das Umfallen eines Stuhles. In großen Sätzen sprang er die Treppe hinauf und fand seinen vierzehnjährigen Sohn und Frau Eva Maria im Eßzimmer in einem schweigenden Kampf. Rücksichtslos griff er zu, brachte mit einem Griff einen schweren Gegenstand an sich. Es war ein Metallbehälter. Nils hatte ihn der jungen Frau im ersten Ansprang entrissen, doch diese war im Begriff, ihn dem Jungen wieder abzunehmen. Wie eine Furie stürzte sich Eva Maria auf Olafson. „Geben Sie das her!“ Olafson wehrte den Angriff spielend ab, doch trug er einige blutige Kratzer im Gesicht davon. Eva Maria stand mit flammenden Augen zwischen Sohn und Vater. Dieser wies mit schweigender Geste zur Tür, ging mit ihr an seinem Sohn und seiner Frau vorbei und geleitete sie, ohne ein Wort zu sagen, hangabwärts zur Mole. Manchmal schüttelte eine gewaltige Erregung die junge Frau. Als sie den Molenkopf erreichten, war in einiger Entfernung auf See das Motorboot schon sichtbar. In den Minuten, die sie noch warten mußten, wurde nichts gesprochen. Einmal fing Olafson einen Blick auf. Er sah, daß er voller Haß und Fanatismus war. 76
Es regnete. Sie zog die Regenkappe tief ins Gesicht, und als das Boot anlegte, die Ankömmlinge ausstiegen, ging sie, ohne jemand zu begrüßen oder sich von Olafson zu verabschieden, ins Boot. Dieses setzte sich fast unmittelbar danach wieder in Bewegung und war schon ein Stück von der Mole entfernt, als der junge Holmgreen nach der ersten Begrüßung fragte: „War das nicht Frau Hulk, die eben einstieg?“ „Ja.“ „Ist sie wahnsinnig geworden, daß sie uns nicht begrüßt?“ „Etwas Ähnliches! Sie steht noch völlig unter der Gewalt der Orguren, und wir wußten es nicht.“ „Hat sie Unheil angerichtet?“ „Wir haben sie daran gehindert.“ Als der junge Holmgreen oben im Haus mit größter Vorsicht die Verschraubung des dicken, schweren Metallkörpers öffnete, den man Eva Maria abgenommen hatte, sah er in dessen Innern ein kleines Glasrohr, das mit gelblichweißem Pulver gefüllt war. Ein paar Versuche im Laboratorium im Keller des Hauses bestätigten, daß man es mit einem hochgradigen Präparat, vermutlich Curiumhydroxyd, zu tun hatte. Verbindung eines künstlich hergestellten Elements. Sobald der junge Holmgreen und Olafson zurückkamen, berichteten sie den anderen. Nils wurde hinausgeschickt. „Hätte Frau Hulk nur eine Minute Zeit gehabt“, sagte Olafson, „würde sie das Teufelspulver unsichtbar auf den Teppich verstreut haben. Der Stoff erzeugt langsam kalte Verbrennungen. Eine Stunde Aufenthalt in diesem Raum hätte genügt, um uns alle unheilbar zu schädigen, vielleicht tödlich zu treffen.“ „Es war gut“, sagte Nora, „daß ich vom ersten Augenblick an mißtrauisch war und dieses Mißtrauen auf Nils übertrug, der unauffälliger beobachten konnte. Nils sah, wie sie den Bleibehälter aus ihrer Handtasche holte. Eva Maria hat dann den Fehler begangen, zu heftig zu reagieren, als sie sich entdeckt sah. So 77
kam es, daß Nils gleich unerschrocken auf sie losging und ihr den Behälter entriß.“ „Wie begründete sie denn ihren Besuch?“ fragte Per Holmgreen. „Damit, daß sie das Bedürfnis hätte, uns ihr damaliges Verhalten zu erklären. Sie ließ durchblicken, daß sie hoffte, auch dich hier vorzufinden. Ihr hättet euch in Hollywood getroffen, wir bekamen den Eindruck, daß sich zwischen euch etwas angesponnen hätte. Als sie gestern von eurem bevorstehenden Eintreffen hörte, bestand sie darauf, abzureisen. Wir schrieben es einer ihrer sprunghaften Launen zu.“ Per Holmgreen wollte erklären, doch Olafson fuhr fort: „Eva Maria Hulk ist sicherlich nicht von einwandfreiem Charakter, aber zu solchem Verbrechen wäre sie niemals fähig gewesen, stände sie nicht im Bann der unheimlichen Gewalt. Wir vergessen zu leicht, daß unsere Welt aus den Fugen ist, daß auch das Verrückteste und Unwahrscheinlichste in einer Zeit möglich ist, in der eine außerirdische Macht einen Teil der Menschen zu Marionetten gemacht hat. Auch ich hatte es vergessen. Meine dumme Vertrauensseligkeit hat den Anschlag fast glücken lassen.“ „Woher nur dieser übergroße Haß gegen uns?“ warf Nora ein. „Wir sind ihrem Bann entkommen, wir haben als einzige Menschen Kenntnis vom wahren Wesen und von der Verletzlichkeit der Orguren“, antwortete Iversen. „Wir haben einige von ihnen getötet“, ergänzte Per Holmgreen. Nach einer ausgedehnten Ruhepause fand man sich am Nachmittag in der geräumigen Speisehalle des Hauses wieder zusammen. Bis die Dämmerung eintrat, tauschten sie ihre Erlebnisse seit der Flucht aus. Schließlich kam das Gespräch auf Khumar Singh. „Er wird seine Kräfte und Fähigkeiten – verloren gegan78
gene menschliche Kräfte, die er wieder entwickelt hat – zur Lösung dieser Krise einsetzen. Das ist mein Glaube“, sagte Nora. „Er will also nochmals eine Verständigung versuchen?“ „So war seine Absicht.“ „Ich weiß, welchen Erfolg es hatte.“ Vier Gesichter suchten in der Dämmerung des Zimmers Olafson, der diese Worte sprach. Vor längerer Zeit hatte er den Raum verlassen und war lautlos wieder eingetreten. „Der Beamte von der Festlandstation sagte mir ein Funkfernschreiben durch. Khumar Singh wird in wenigen Tagen hier bei uns sein. Es ist der schlüssige Beweis dafür, daß alle seine Anstrengungen negativ verlaufen sind. Das Funkschreiben ist in Madras aufgegeben, dort befindet sich die Zentralorganisation der südindischen buddhistischen Kirche. Mit deren Hilfe wird er dafür gesorgt haben, daß alle seine Mönche noch rechtzeitig Ceylon verlassen könnten.“ „Ja, es ist der Beweis“, stimmte Nora halblaut zu. „Er wollte nur im Fall eines völligen Scheiterns aller seiner Versuche zu uns kommen.“ Sie ging zur offenstehenden Tür, die auf eine Veranda hinausführte und horchte. Draußen hörte man stärker als vorher das Rauschen der Brandung. Wind war aufgekommen, und die ersten Blitze eines aufziehenden Gewitters zuckten. Sie schloß Türen und Fenster, versäumte aber, Licht anzuschalten, denn sie horchte gespannt auf die Worte ihres Bruders, der schon mitten in der Erzählung von dem Besuch in Washington war. In Amerika und anderswo begann man also, wirksame Waffen herzustellen. Damit waren die Würfel gefallen, und nun galt es, den entscheidenden Schlag, der gegen die Eindringlinge geführt werden sollte, auch propagandistisch vorzubereiten. Die vier Männer wären sich einig, daß man auch hier in Norwegen die Initiative ergreifen, alle Bestrebungen gegen die Orguren zusammenfassen, unter Umständen einen 79
eigenen Kampfbund gründen müsse, um bereit zu sein, wenn die große Entscheidung kommen würde. Zwei Tage später brachte ein Boot von der Küste Khumar Singh herüber; und er fand in der Dunkelheit selbst den Weg zum Haus auf dar Höhe. Er war in unauffälligem Reiseanzug, nicht in seiner Mönchstracht, begrüßte die fünf, die er beieinander fand. Es wurde sehr still in dem kleinen Kreis. Die drei, die ihn nicht kannten, die Holmgreens und Iversen, sahen gespannt auf sein hageres Gesicht, in dessen starren Zügen unerschütterliche Ruhe stand. Khumar Singh selbst endete das Schweigen. „Ihr seht nur die Möglichkeit, die Orguren durch den Einsatz von Überwaffen von der Erde zu vertreiben. Habt ihr daran gedacht, daß ihre Anwendung auch die Millionenzahl von Menschen im Invasionsgebiet vernichten würde? Eine Zahl, die noch anwachsen wird, bis die Gegenmittel hergestellt sind? Nimmt man das in Kauf?“ „Die Verantwortlichen werden sich sagen, daß es keine andere Möglichkeit gibt“, meinte Per Holmgreen langsam. „Ist der Enderfolg denn auch sicher? Kennt ihr die Abwehrmittel der Orguren? Dachtet ihr daran, daß sie den Mond in Besitz genommen haben?“ Nun ergriff der alte Holmgreen das Wort. „Wie soll eine Handvoll Menschen in den Kampf der Welten eingreifen können?“ „Auch ein Kind kann durch Druck auf einen Knopf die gewaltigen Energien eines Stausees auslösen“, antwortete der Abt. „Ja, wenn ihn andere, wenn ihn zehntausend Arbeiter in Jahren angelegt haben.“ „Diese Arbeit ist vor einem Sternzeitalter von Ingenieuren des Planeten Mars geleistet worden, Gedankenarbeit vor allem, konzentriert in hochentwickelten Substanzen. Ich hätte eure Aufmerksamkeit nicht darauf gelenkt, besäße ich nicht einen 80
Anhalt, daß wir etwas finden werden, ein nicht-materielles Abwehrmittel. In den damals mitgenommenen Lichtbildern der Marstafeln, die ich zu entziffern lernte, finden sich Hinweise. Die Herstellung und Anwendung von Abwehrgeräten wird unsere Kräfte nicht übersteigen.“ „Können wir die wirksame Substanz nicht auf der Erde herstellen?“ „Nein!“ „Es ist ein unerhört abenteuerliches Unternehmen. Haben wir denn die Gewißheit des Erfolges?“ „So wenig wie bei jedem anderen menschlichen Tun, aber die bloße Möglichkeit eines solchen rechtfertigt es, auch das Fernliegendste zu versuchen.“ Noch in derselben Stunde wurde der Entschluß gefaßt, aus der Tiefe des Alls, vom Mars, ein Mittel zu holen, das nicht mit den Orguren gleichzeitig alle Menschen vernichtete, die in den von ihnen beherrschten Gebieten lebten. Khumar Singh und Olafson, Iversen und der junge Holmgreen sollten das Unternehmen unter der technischen Leitung von Olafson ausführen, Nora mit ihrem Sohn und der alte Holmgreen hier zurückbleiben. Eine Anzahl Wochen mußte noch vergehen, bis man würde starten können. Die „Terra“ war auf die Startbahn zu transportieren,. Tarnnetze mußten gespannt werden, damit kein unberufenes Auge aus der Luft die Vorbereitungen bemerkte. Ein entscheidender Teil der Vorbereitungen fiel Khumar Singh zu, die Berechnung der Flugbahn. Er setzte den Start auf den 17. Dezember, 17 Uhr, fest. Auf einen Termin, zu dem man mit Sicherheit fertig sein würde, und an dem die Konstellation beider Planeten zueinander günstig war. Er stellte alle Automatenaggregate danach ein. Ein Fremder, der ihn in dieser Zeit beobachtet hätte, bei der Arbeit an Meßwerkzeugen und über Rechentafeln, in Erholungspausen sich mit Nils beschäftigend, 81
konnte nicht auf den Gedanken kommen, daß sein Wesen noch eine gänzlich andere, dunkle Seite hatte. Ein scharfes Arbeitstempo mußte vorgelegt werden, um mit den geringen Kräften alles rechtzeitig zum Abschluß zu bringen. Die Zeit verging im Flug. Am Vortage des Starts, am 16. Dezember, gab es eine Überraschung, welche die Raumflieger fast veranlaßt hätte, den Flug zu verschieben. Die Nachmittagsmusik des Senders Bergen wurde durch folgende Nachricht unterbrochen: „Großsender London meldet den Empfang einer außerirdischen Station. Die „Atlantis“ mit der englisch-deutschen Erosexpedition kehrt nach vielmonatiger Abwesenheit zurück. Ursache waren Teilzerstörungen von Maschinen und Instrumenten bei der Landung auf Eros, die erst in langer, mühseliger Arbeit wieder ausgebessert werden konnten. Kapitän Hulk und seine Besatzung überlebten in einer luftgefüllten Höhle. Die Großrakete wird am 17. Dezember gegen sieben Uhr im Raumflughafen St. Kilda wassern.“ Die Bewohner von Torgatten Ö hörten diese Nachricht erst am Abend, als Frau Nora den Nachrichtenbewahrer ablaufen ließ. Sie wurde dabei lebhaft an jenen anderen Abend vor anderthalb Jahren auf Celebes erinnert, ein oder zwei Tage vor der Invasion der Orguren, als sie die verstümmelte Warnung erhielt, die an den Mondsender gelangte. In der Flut der sich überstürzenden Ereignisse war sie vollständig in Vergessenheit geraten. Sie erzählte davon. Erst allmählich kam allen zu Bewußtsein, was es bedeuten konnte, daß jetzt nach so langer Zeit das Raumschiff wieder auftauchte. Sicherlich würden Hulk und seine Besatzung wichtige Nachrichten mitbringen. „Die Warnung Hulks damals kann sich nur auf die Orguren beziehen. Sollte nicht auch für uns die Lösung des Rätsels von großer Bedeutung sein?“ „Dann dürft ihr morgen nicht starten“, folgerte der alte 82
Holmgreen. „Verschiebt den Flug, bis ihr Hulk und seine Besatzung gesprochen habt!“ Fast gleichzeitig wendeten alle den Kopf und blickten auf Khumar Singh. Der Abt deutete mit einer kleinen Handbewegung an, daß er Olafson die Entscheidung überlassen wollte, gab aber zu bedenken: „Verschiebung des Starts heißt Neuberechnung der Raumkurve für einen späteren Termin, und Neueinstellung aller Aggregate danach. Das dauert drei Wochen. Aber dann ist die Stellung beider Planeten zueinander längst nicht mehr so günstig wie jetzt. Das muß berücksichtigt werden, ehe ein Entschluß gefaßt wird.“ Olafson zögerte kurze Zeit, dann bestimmte er festen Tones: „Wir werden morgen zur festgesetzten Stunde starten. Wir können die Nachrichten Hulks nicht abwarten, ihn auch nicht vor Eva Maria warnen.“ „Wenn es einer von uns beiden Zurückbleibenden täte; mein Bruder oder ich?“ schlug Frau Nora vor. Olafson öffnete das Fenster, so daß kalte Luft hereinströmte. Letztes Licht der Abenddämmerung fiel durch dichten Nebel. „Zu spät!“ sagte er. „Mit unserem kleinen Flugboot könnt ihr bei diesem Wetter bis morgen früh St. Kilda ohne übergroßes Risiko nicht erreichen.“ * Am 16. Dezember kam Asta Torsen von einer Skiwanderung zu einem entfernten Berghotel, in dem sie mittags gerastet hatte, zurück. Wilms, der Pilot, hatte sie vor dem Hoteleingang erwartet und half ihr, die Schneeschuhe zu lösen, bürstete im Vorraum den Schnee von Hosen und Schuhen. Dabei fragte er: „Haben Sie schon gehört, daß die ‚Atlantis’ zurückkommt?“ „Die ‚Atlantis’, die Erosexpedition – nein; was sollte mir daran liegen.“ „Es kann Ihnen nicht gleichgültig sein. Auf dem Herflug er83
zählten Sie mir von Frau Hulk. Ihr Gatte kommt nun zurück, hat selbst schon Funknachricht gegeben.“ „Ach, geben Sie mir schnell eine Zigarette. Wo landet das Raumschiff?“ „In St. Kilda, vor der schottischen Küste.“ Wilms berichtete den Inhalt der Rundfunkdurchsage. Sie mußte Hulk warnen, um jeden Preis! Eva Maria Hulk wird bei der Landung des Raumschiffes zugegen sein. Sie wird Hulk beeinflussen, ihn in das andere Lager hinüberziehen, das der erdfremden Macht! dachte sie. Er weiß sicher Näheres über das Schicksal der Mondkolonie und über die Herkunft der Orguren. Hulk zu warnen, müßte von Nutzen für jene sein, die gegen die Invasion eingestellt sind, für Per und die Seinen. Es war ein etwas verwickelter Gedankengang, scheinbar nur ihren privaten Sorgen und Sehnsüchten entspringend, der da plötzlich mit größter Eindringlichkeit vor ihr stand und in ihr einen Entschluß auslöste. Als Asta Torsen die Treppe zu ihren Zimmern emporstieg, fragte sie Wilms in einem Tonfall, als ob sie sich jetzt wieder der Sache erinnerte: „Wann soll die ‚Atlantis’ landen?“ „Morgen früh 7 Uhr, bei Tagesanbruch, vor St. Kilda.“ „Was haben wir hier für Zeit?“ Wilms musterte sie erstaunt. „Atlantikzeit!“ „Das sind vier Stunden gegen Greenwich zurück. Wir können es noch bequem schaffen, wenn wir gleich starten.“ Wilms begriff viel zu langsam. „Sie wollten …?“ „Sehen Sie mich nicht so verdutzt an! Wir starten nach St. Kilda. In einer halben Stunde.“ „In Nacht und Nebel und Sturm?“ „Ich habe ja einen guten und furchtlosen Flieger.“ „Für solche Abenteuer bin ich immer zu haben!“ Es war schon dunkel, als sie in Kanada starteten, und es war noch dunkel, als sie sich St. Kilda näherten, obwohl sie dem 84
Tag und der Sonne entgegenflogen, denn es war fast die längste Nacht des Jahres. Gleich zu Anfang kamen sie bei Neufundland in ein Sturmtief und mußten größere Höhen aufsuchen, erst danach fand Asta einige Stunden Schlaf. Dadurch entging ihr die Wiederholung der Meldung von der bevorstehenden Landung der „Atlantis“ in den Spätnachrichten mit dem Zusatz, daß die Angehörigen der Besatzung mit Sonderflugzeugen nach St. Kilda gebracht würden. Wilms hatte sie mitangehört und berichtete, als sie sich schon den europäischen Küsten näherten. Sie ihrerseits vertraute nun Wilms alles an, was sie befürchtete, worauf es ankam. Es schien fast aussichtslos, Hulk, den sie gar nicht kannte, noch vor seiner Frau zu sprechen. Doch war sie nicht gewillt, vor Schwierigkeiten zu kapitulieren. Es reizte sie, diesmal in der Wirklichkeit ein Abenteuer zu erleben, wie es in das Drehbuch eines Sensationsfilms passen würde. Noch immer hatte sie jedoch keinen festen Plan, nur unbestimmt, verschwommen, sah sie eine Möglichkeit. Im. Osten kam ein erster schwacher Schimmer des anbrechenden Tages auf. Nach der Standortpeilung war man zehn Seemeilen westlich St. Kilda, das in Dunst und Dunkelheit noch nicht auszumachen war. Wilms flog nicht näher heran, hielt sich von jetzt an –, weite Schleifen nach Osten ziehend –, in gleichem Abstand. Um 6 Uhr 40 rief er St. Kilda mit dem Bordfunksprecher an, verlangte die Auskunft am Hafen, meldete sich als Soriano, ließ Frau Hulk dringend an den Apparat bitten. Nach acht Minuten erhielt er Antwort, Frau Hulk sei noch nicht eingetroffen, während fast alle anderen Angehörigen der Besatzung zur Stelle seien. Der Empfang fände im Pier des Hafens statt. Dort warteten die Angehörigen und die Begrüßungsabordnungen, dorthin möchte der Anrufer sich begeben. Asta hatte den Einfall, sich in Eva Maria zu verwandeln. Ein anderes Kleid, andere Haartracht, Änderung der Gesichtsfarbe, so wie sie Eva Maria in Erinnerung hatte. Wozu war man 85
Schauspielerin? Es ließe sich wohl machen. Dann wollte sie Hulk am Pier erwarten. Wilms riet ab, er hatte einen besseren Gedanken. Und sie führten ihn aus, wie es im folgenden geschildert ist. 7.04 Uhr. Erscheint vor dem im Osten lichteren Himmel ein großer Schatten, ein Körper, nach Form und Größe den Zeppelinluftschiffen aus der Urzeit des Luftverkehrs nicht unähnlich. In raschem Gleitflug geht er auf die Wasseroberfläche nieder Schwach bewegtes Meer schäumt hoch auf, Minuten vergehen, bis die See sich beruhigt hat. Land und Meer liegen im Zwielicht der sich um diese Jahreszeit sehr langsam aufhellenden Dämmerung. Die aus dem Hafen ausfahrenden Schiffe haben noch Lichter gesetzt und lassen ihre Scheinwerfer spielen. Lichtgeschosse steigen auf und verbreiten kalkweiße Helligkeit. Jetzt hat man den massigen, naßglänzenden Körper entdeckt, der zur Hälfte aus dem Wasser ragt, weit draußen auf See. 7.22 Uhr. Ein Schnellboot schießt heran, die Besatzung glaubt, zuerst an Ort und Stelle zu sein. Doch bald erkennt man von Bord aus, daß jemand zuvorgekommen ist. Längsseits des großen Hohlkörpers liegt ein Flugboot, eine Strickleiter spannt sich von ihm zu einem Mannloch, das sich wieder schließt. Eine Person aus dem Flugboot ist in das Raumschiff hinübergestiegen, einzelne behaupten, es sei eine Frau gewesen. Das Schnellboot umkreist das verschlossen auf dem Wasser liegende Raumschiff. Nach einigen Minuten ist auch ein anderes Boot heran. Was ist das eigentlich für ein Flugboot? War das vorgesehen? Warum hat man keine Mitteilung darüber bekommen? Es ist ein Serienflugzeug neuester amerikanischer Bauart, Amphibientyp Gloria 29, das genau so gut mit normalem Fahrgestell auf festem Boden landet, wie es hier auf einem System preßluftgefüllter Schwimmblasen aus Kunststoff im Wasser liegt. Der Pilot scheint taub zu sein. Jetzt, endlich antwortet er auf die immer wiederholten Anrufe. Das Flugzeug 86
gehört Frau Hulk. In letzter Minute eingetroffen, hatte sie den Ehrgeiz, als erste ihren Mann und die Besatzung der „Atlantis“ zu sprechen. Verständlich –, wenn es auch eine ärgerliche Störung des Programms ist! 7.35 Uhr öffnet sich das Mannloch über dem Flugboot. Hulk und seine Frau klettern schnell hinüber. Magnesiumlicht leuchtet auf, Filmgeräte treten in Aktion. Nur kurze Antwort gibt Hulk auf die Zurufe von den Schiffen: „Stop your nonsense!“ Endlich macht das Flugzeug Platz für das Boot, das die Atlantisbesatzung übernehmen soll. In niederer Höhe fliegt die Gloria 29 auf St. Kilda zu. 8.15 Uhr läuft dieses Schnellboot in den Hafen von St. Kilda ein, begrüßt von den Klängen einer Kapelle und begeisterten, nicht abreißenden Rufen aller Zuschauer. Die Weltraumflieger gehen an Land. Abordnungen in feierlichen Anzügen machen Platz, um den Angehörigen der Besatzung den Weg zu ihren Männern, Brüdern und Söhnen freizugeben. Eine Gasse öffnet sich in der Menge, man begibt sich in den großen Saal des Fremdenhotels, der in aller Eile hergerichtet wurde. Die Zuschauer drängen nach und füllen ihn bis auf den letzten Stehplatz. Lange dauert es, bis Ruhe eintritt. Nun kann die feierliche Begrüßung der Atlantisbesatzung in Anwesenheit des Raumfahrtausschusses, von Vertretern der Presse, des Funks, des Films, vonstatten gehen. Wo ist eigentlich Hulk, der Leiter der Expedition? Erregtes Fragen am Rednerpult. Die Leute vom Schnellboot meinen, er müsse längst vor ihnen mit dem Flugboot eingetroffen sein. Vielleicht ist er noch unterwegs vom Flugplatz her. Man ruft Hulks Namen in die den Saal dicht füllende Menge. Ein Spaßvogel meldet sich fälschlich als Hulk – die erregte Auseinandersetzung darüber geht in einem Lachorkan unter. Ein Herr im Frack verkündet: „Verschiebung des Empfanges auf neun Uhr.“ Die meisten 87
Anwesenden bleiben im Saal, um ihre einmal eroberten Sitzplätze nicht zu verlieren. 9.05 Uhr. Der befrackte Herr: „Leider muß ich mitteilen, daß Kapitän Hulk, Leiter der Expedition, in einem Flugboot vom Typ Gloria 29 mit unbekanntem Ziel fortgeflogen ist, zusammen mit seiner Gattin. Ein Mißverständnis muß vorliegen, denn man kann nicht annehmen, daß sich der Kapitän den Begrüßungsfeierlichkeiten entziehen will.“ Der Sprecher wischt, obwohl es im Saal nicht sehr warm ist, Schweiß von der Stirn. Lautes Gelächter und anzügliche Rufe sind die Quittung. Die Verlegenheit der Herren vom Empfangskomitee dient den verantwortungslosen Zuhörern zur Erheiterung. Doch nun nimmt man keine Rücksichten mehr. Es ist ohnehin nicht zu vermeiden, daß dieser Regiefehler sogleich aller Welt bekannt wird. Man läßt die Empfangsfeierlichkeit, wenn auch etwas gekürzt und überstürzt, ohne den Expeditionsleiter ablaufen. Mit den übrigen Besatzungsmitgliedern, die sich in dieser ganzen Sache recht passiv verhalten. Gegen 9.30 Uhr steigert sich in einem Nebenraum, hinter der Szene dieses Schauspiels, die Verwirrung aufs Höchste. Immer wieder werden maßgebende Herren unauffällig aus dem Saal dorthin abberufen. Denn eine Dame hatte sich durch den Saal nach vorn gedrängt und war in dieses Nebenzimmer geleitet worden. Die echte Frau Hulk, die sich unzweifelhaft als solche ausweist, und einigen Herren der Abordnung auch persönlich bekannt ist. Die Nachricht hatte sie zu spät erreicht, mitten in der Nacht. Sie wurde nicht ohnmächtig, wie man zuerst befürchtete; sie schäumte vor Wut. Nun, auch das war eine Sensation, Stoff für die hinter der Szene anwesenden Berichterstatter. Was für eine Sensation! Ein Raumschiffkapitän entzieht sich nach anderthalbjähriger 88
Abwesenheit den Begrüßungsfeierlichkeiten und der Begegnung mit seiner Frau, um mit einer anderen durchzugehen! Frau Hulk selbst macht den ersten vernünftigen Vorschlag, doch einmal die Filme und Platten zu entwickeln, die man vom Herüberklettern Hulks und seiner Pseudogattin in das Flugboot gemacht hatte. Als dies geschehen war, hatte sie sich völlig gefaßt und betrachtete die Aufnahmen. Kein Zug ihres Gesichts verriet, daß sie im Augenblick die Frau erkannte, die nach Hulk in das Flugboot kletterte. Man besaß genug Zartgefühl, um sie nicht mit Fragen zu belästigen. Sie zog sich zurück. Einen Herrn, der sich als Polizeibeamter auswies und sie fragte, ob sie Antrag auf polizeiliche Verfolgung stellen wolle – es sei doch denkbar, daß es sich bei dieser Entführung auch um Vorspiegelung falscher, erlogener Dinge oder um noch Ernsteres handeln könne – wies sie kurz ab. Von den anderen, die nach ihr die Bilder ansahen, kam zu dieser Stunde noch niemand darauf, daß es die Filmschauspielerin Asta Torsen war, obwohl einigen das Gesicht bekannt erschien. Asta trug eine andere Haartracht als gewöhnlich und war in der hochgeschlossenen Fliegerkombination nicht leicht zu erkennen. Frau Hulk war schon nach einer Stunde nicht mehr auf der Insel. Niemand gelang es in den nächsten Tagen, ihren Aufenthalt herauszubekommen. Sie war in einem Schlupfwinkel im Osten Londons untergetaucht, von dem aus Soriano und seine Anhänger ihre Ziele verfolgten. Ohne sich nach außen in einer großen Organisation zu vereinigen, sollten sie so weit zusammenarbeiten, daß sie aktionsbereit waren, wenn eines Tages das Stichwort dazu um die Erde fliegen würde. Rührige Berichterstatter fanden noch am gleichen Tage heraus, daß das Flugboot der bekannten Filmschauspielerin Torsen gehörte, und daß sie aus St. Sauveur des Monts in Kanada ge89
kommen war. Durch Nachfrage dort und in Hollywood ergab sich sehr rasch ein Hinweis auf Torgatten Ö. Das Rätsel der seltsamen Flucht des Expeditionsleiters beschäftigte die Gemüter. Man glaubte sogar an ein Verbrechen. Daher wurde die norwegische Polizei in Bewegung gesetzt. * Gegen 9.30 Uhr an diesem ereignisreichen Vormittag ließ sich das Flugboot Gloria 29 vor Torgatten Ö auf die Meeresoberfläche nieder. Hulk und Asta Torsen stiegen aus und schlugen den Weg zum Haus auf der Höhe ein. Nora, die sie allein dort vorfanden, stieß einen Überraschungsschrei aus, als sie Hulk sah. Dieser hatte, nachdem er lange Stunden nicht geschlafen, zunächst das Bedürfnis, sich durch viel kaltes Wasser zu erfrischen. Frau Nora benachrichtigte inzwischen die Männer und übernahm es persönlich, einen starken Kaffee zuzubereiten. Asta Torsen schloß sich ihr an, und die beiden Frauen fanden noch Zeit, sich in aller Eile auszusprechen. Rasch knüpfte sich ein Band des Vertrauens zwischen ihnen. Frau Nora erfuhr von der glänzend gelungenen Entführung Hulks vor den Empfangsfeierlichkeiten und Asta von Eva Marias Besuch und Verhalten hier im Hause und von dem bevorstehenden Raumschiffstart, von dem schon die Männer an der Mole gesprochen hatten, als Hulk sich ihnen gegenüber auswies. „Auch Per Holmgreen fliegt mit?“ fragte Asta hastig, und errötete wie ein Schulmädchen. Obwohl sie sich bemühte, den Eindruck ihrer starken Anteilnahme daran sofort wieder zu verwischen, sah Frau Nora nun ganz klar. Sie ging, da sie die anderen ins Haus kommen hörte. Asta verschwand in einem Baderaum, aus dem sie erst nach einer halben Stunde, erfrischt und vorteilhaft verwandelt, wieder zum Vorschein kam. Die Eintretenden, Olafson, Iversen und die Holmgreens, de90
nen Frau Nora noch nichts Näheres gesagt hatte, starrten Hulk wie ein Gespenst an. Olafson schüttelte ihm kräftig die Hand, und fand die ersten Worte. „In den letzten vierundzwanzig Stunden haben wir von Ihnen mehr gesprochen, als von einem anderen Sterblichen. Unser großes Unternehmen hätten wir fast Ihretwegen verschoben. Es scheint so, daß unser starker Wunsch, Sie noch vor dem Start zu sprechen, Sie herbeigeführt hat.“ Er stutzte bei diesen seinen eigenen Worten und fuhr zögernd fort: „Sicher nicht unser Wunsch, aber vielleicht, so seltsam es klingen mag, der Wille eines der Unseren, Khumar Singhs. Sie werden ihn bald kennen lernen, er arbeitet jetzt noch im Raumschiff. Er wird uns darüber keine Auskunft geben, doch es wäre nicht das erstemal, daß er uns Beweise einer Ferneinwirkung gibt.“ „Ich werde mich nach allem, was uns hier überfällt, auch darüber nicht mehr wundern!“ „Wie sich das auch verhält, Sie sind hier, Sie können sich denken, wie wichtig das für uns ist. Wir wollen die Zeit nutzen, denn heute nachmittag um 17 Uhr treten wir den Raumflug zum Mars an.“ „Vor einer Viertelstunde hörte ich zum ersten Male davon.“ „Richtig, woher sollten Sie es wissen.“ Olafson sah auf die Uhr. „Wir müssen mit jeder Minute rechnen, es sind noch immer letzte Vorarbeiten für den Start zu leisten. Daher schlage ich vor: Sie, Hulk, erweisen uns einen großen Dienst, wenn Sie ganz konzentriert erzählen, was es mit der damaligen Warnung und mit Itogo auf sich hat. Nur meine Frau, Vater Holmgreen und ich werden zuhören. Wir sind am leichtesten zu entbehren. Die anderen müssen Khumar Singh unbedingt bei der letzten Kontrolle aller Geräte helfen. Vielleicht finden wir alle später noch Zeit, sonst werde ich alles getreulich berichten.“ Es dauerte noch kurze Zeit, bis Olafson ein paar Fragen be91
antwortet hatte und der Letzte die Tür hinter sich schloß. Olafson wandte sich zu Hulk, der sich in einen Sessel niedergelassen hatte. Frau Nora stellte Kaffee vor ihn auf den Tisch. Er schien es nicht zu bemerken, bedankte sich nicht. Sie sahen, daß sein Gesicht blaß und unrasiert war, daß sich seine Lippen in lautlosem Selbstgespräch bewegten. Er überhörte die an ihn gestellte Frage. Plötzlich aber raffte er sich auf, trank gierig den Kaffee aus, schöpfte ein paarmal Atem und begann nun selbst zu sprechen: „Es steht also fest, daß fremde Lebewesen, die ihr die Orguren nennt, seit anderthalb Jahren auf der Erde sind.“ „Ja.“ „Welchen Typ hatten die Raumschiffe, mit denen sie landeten?“ Olafson beschrieb ihre äußere Form. „Menschen fremder, nie gesehener Rasse sind mit ihnen aus dem Weltall gekommen?“ „Jawohl.“ „Wie groß ist die Zahl der Orguren und ihrer menschlichen Begleiter?“ „Wir können es nicht schätzen.“ „Besitzen sie überlegene Waffen?“ „Vermutlich!“ „Überlegene Kräfte?“ „Die Orguren haben von Natur die Fähigkeit, andere Geschöpfe ihrem Willen zu unterwerfen, sie können den Wirkungsbereich ihrer unheimlichen Kraft durch technische Mittel erweitern.“ „Welchen Erdraum haben sie jetzt inne?“ „Den Erdraum Ceylon, Malakka, Philippinen, große und kleine Sundainseln.“ „Was ist gegen sie geschehen?“ „Im Enderfolg nichts Wesentliches, nur verzettelte Unter92
nehmungen. Das WP konnte aus inneren Hemmungen zu keinem Entschluß kommen. Ich las kürzlich das Wort von einer verborgenen Krise der Erdzivilisation, ohne welche der fremde Einbruch in unsere Welt niemals hätte erfolgreich sein können, und das scheint zuzutreffen. Aber – in den Großstaaten ist jetzt streng geheim die Fertigung von Superwaffen angelaufen. Wir aber wollen den Marsflug unternehmen, um ein Abwehrmittel zu finden, das nicht zusammen mit den Orguren viele Millionen Menschen vernichtet. Aus welchen Motiven wir zu diesem Entschluß gekommen sind, das auseinanderzusetzen fehlt jetzt die Zeit, die Zurückbleibenden können es später nachholen.“ „Gibt es außer der ‚Terra’ noch irgendwo ein Raumschiff auf der Erde, das in den Weltraum starten kann, ohne daß es der Öffentlichkeit, ohne daß es den Orguren, bekannt wird?“ „Nein, das gibt es sicher nicht“, antwortete Olafson verblüfft. „Trägt die ‚Terra’ nur vier Personen?“ „Sie kann ebensogut fünf, äußerstenfalls sechs mitnehmen.“ Hulk schien nicht zu bemerken, daß Olafson unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte. Seine nächste Frage fiel ihm sichtlich schwer: „Meine Frau Eva Maria steht also im Bann der fremden Geschöpfe und ihrer Anhänger?“ „Leider ja!“ „Kann man sich eine Änderung versprechen, wenn ich meinen ganzen Einfluß aufbiete, auf sie einwirke?“ Nun zögerte Olafson mit der Antwort: „… Nein, rechnen Sie nicht damit!“ „Ich frage dies alles“, erläuterte Hulk, der unter dem Einfluß des anregenden Getränks gesprächig geworden war, „um mich zu kontrollieren, ob ich richtig gehandelt habe. Wir, meine Besatzung und ich, gaben uns das heilige Versprechen, alles für die Freiheit der Erde aufzubieten und uns ganz einzusetzen. Wir wissen einiges mehr von den Eindringlingen und den Zusammenhängen, als ihr.“ 93
Olafson war bei dieser Unterhaltung immer ungeduldiger geworden. Die Zeit verfloß, und er hatte noch immer gar nichts von dem erfahren, worauf es ihm ankam, von Hulks Erlebnissen im Weltraum. Seufzend sah er auf seine Uhr. Hulk bemerkte es und lächelte. „Weshalb so ungeduldig? Wir haben doch noch Zeit genug, über meine Weltraumabenteuer zu reden, wenn wir zum Mars fliegen.“ Olafson begriff nicht gleich. „Wir … Sie wollen …? Nachdem Sie viele Monate draußen im Raum verbracht haben?“ „Wenn Sie mich mitnehmen wollen! Ich tauge nicht mehr für die Erde. Hier gibt es nur noch Leid und Kummer für mich!“ Olafson hatte einige Einwendungen auf der Zunge, ging auf Hulk zu und schüttelte ihn an den Schultern: „Ich wüßte uns keinen willkommeneren Reisegefährten! Ich will es sogleich den anderen sagen. Es gibt ja noch einiges zu tun, Ausrüstung und Vorräte für Sie mitzunehmen.“ „Wenn Sie mich dazu nicht brauchen, werde ich inzwischen zu schlafen versuchen.“ Frau Nora geleitete Hulk in ein Gästezimmer. Dieser wollte noch eine Frage stellen und überlegte, wie er sie formulieren solle. Endlich brachte er heraus: „In Ihrem Gesicht habe ich gelesen, daß ich meine Frau nicht nur deshalb verlor, weil sie ganz unter dem fremden Einfluß steht.“ Er wartete einen Augenblick, aber Frau Nora antwortete nicht. Hulk nickte. „Die Schuld liegt nicht allein bei Eva Maria. Niemals hätte ich heiraten dürfen. Wer sich einer solchen Aufgabe verschreibt wie ich, muß alles andere beiseite lassen, sonst entsteht nur Unheil daraus. Für mich ist es sehr schmerzhaft, aber nun ist Klarheit!“ Ohne darauf einzugehen, fragte Frau Nora: „Kann ich etwas für Sie erledigen, wenn Sie auf dem Raumflug sind?“ Hulk überlegte. „Ja, wenn Sie die große Güte hätten, einen Brief zu übergeben, persönlich zu übergeben. Nicht für Eva Maria, das ist vorbei, für einen Kameraden, meinen Vertreter 94
während der Expedition. Er darf unter keinen Umständen in falsche Hände kommen, deshalb möchte ich ihn nicht der Post anvertrauen.“ Asta Torsen hatte sich ebenfalls zurückgezogen, enttäuscht, verärgert, daß Per, um dessentwillen sie eigentlich hierherkam, keine Zeit für sie fand. Sie grübelte noch kurze Zeit darüber nach. Kaum hatte sie sich niedergelegt, fielen ihr die Augen zu. Per Holmgreen versuchte im Laufe des Tages zweimal, sie zu sprechen, doch sie schlief fest, und er scheute sich, sie zu wecken. Sie hätte auch den Start des Raumschiffes verschlafen, wenn Frau Nora sie nicht rechtzeitig geholt hätte. Nun stand sie noch schlaftrunken im Kreise der Abschiednehmenden, bestaunte den wohl 40 Meter langen, 8 Meter im Durchmesser haltenden Körper des Raumschiffes, der an einer Fläche stahlblank spiegelte, an der anderen rußschwarz alles Licht verschluckte. Es lag schräg auf der Startbahn, die Spitze war in dem am Abend wieder dichter eingefallenen Nebel nur verschwommen zu erkennen. Alle Gegenstände schienen unwirklich, in Watte gepackt. Endlich kletterte Per Holmgreen aus einem Mannloch die Leiter herab, kam, schon angetan mit dem Raumdreß ohne Kopfteil, vor Eifer glühend, auf Asta Torsen zu. „Sie machen ein betrübtes Gesicht, Fräulein Torsen“, sagte er betroffen. „Ich möchte Sie gern froh sehen in dieser Abschiedsstunde. Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet!“ Asta schwieg. „Daß Hulk, der Mann mit der letzten Raumerfahrung, dank Ihrer Tatkraft nun mitfliegt. Es ist ein unschätzbarer Vorteil für uns.“ Sie entfernten sich indes ein wenig von den anderen, die der Nebel den Blicken entzog. Asta war nun ganz wach. Ärger stieg in ihr auf, aber sie kämpfte ihn nieder. Er war mit seinen Ge95
danken schon bei dem Raumflug, spann das begonnene Thema noch fort. Sie dachte: Ich benehme mich in dieser meiner eigensten Angelegenheit wie eine blutige Anfängerin! Nein, sie war nicht gewillt, wegen einer Kette lächerlicher Zufälle und wegen augenblicklicher Verärgerung das entscheidende Wort zu verpassen. Sie unterbrach ihn brüsk: „Wir haben doch andere Dinge zu besprechen. Auch für Sie habe ich es getan. Für Sie in erster Linie. Für wen denn sonst?“ Per stutzte. Dann leuchteten seine Augen auf. „Also, du bist gekommen, um uns zu zeigen, daß du nun zu uns gehörst?“ „Vor allem zu dir!“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Ich bin ein Idiot.“ „Späte Einsicht. Wenn du nicht so lächerlich, geradezu beleidigend unbeholfen wärest …“ „Hätte ich dir das sagen müssen. Ich habe geglaubt, es wäre hoffnungslos mit uns beiden, nicht nur wegen der entgegengesetzten Ansichten. Du, die berühmte Schauspielerin, die sicherlich wöchentlich ein halbes Dutzend Heiratsanträge bekommt …“ „Du mußt eine schlechte Meinung von dir selbst haben. Wenn du nicht so schüchtern wärest …“ „Was wäre dann …?.“ „Könnten wir längst verlobt sein.“ „Dazu sind doch immer noch fünf Minuten Zeit!“ Endlich tat er, was schon längst hätte getan werden müssen, zog sie an sich und küßte sie, vor den Blicken der anderen durch den Nebel gedeckt, jedoch behindert durch den sperrigen Anzug. „Das Versprechen gilt. Wir werden bald wiederkommen, Asta!“ Ein aufklingender Lautsprecherbefehl: „Per an Bord, bitte“, riß die beiden brutal auseinander. An der Strickleiter umarmte Asta ihn noch einmal und gab ihm den Abschiedskuß. Ein Lukendeckel klappte zu, und sie stand so lange gedankenversun96
ken, bis Frau Nora sie am Arm faßte und mit sich zog, viele Stufen hinab in den Sicherheitsbunker. Nach Minuten hörte sie das Kommando des alten Holmgreen. Vierzig – fünfundzwanzig – zehn – glückliche Reise –‚Terra’! Langanhaltender Donner verschlang alle Worte. Sie gingen ins Freie. In den Nebel mischte sich beißender Qualm der Verbrennungsprodukte des Startgemisches. Überlaut mußte der alte Holmgreen reden, um sich verständlich zu machen, denn der Explosionslärm machte sie vorübergehend taub. „Nun beginnt unsere Aufgabe! In den nächsten sechs bis acht Wochen, bis zur Rückkehr der ‚Terra’, müssen wir uns so verhalten, daß wenig oder gar nichts der Öffentlichkeit bekannt wird. Zunächst reden wir von einem Übungsflug der ‚Terra’, später will ich einzelne staatliche Stellen ins Vertrauen ziehen. Gleich morgen fahre ich zum Festland hinüber, um staatlichen Schutz für unsere Anlage zu beantragen. Nach allem, was wir hier und anderswo erlebt haben, ist es nötig. Und ihr geht in der Zwischenzeit am besten auf Reisen!“ „Wie wäre es, wenn Sie mich begleiteten, Frau Nora, Sie und Ihr Sohn, nach Kalifornien, in meinem Flugzeug?“ schlug Asta vor. „Morgen wollen wir uns entschließen, wir wollen darüber schlafen“, antwortete Nora. * Per Holmgreen erkannte Dr. Iversen als den Störer. „Wo sind wir?“ fragte er schlaftrunken. Iversen lachte. „Also beeilen Sie sich! In einer Viertelstunde Besprechung im Kartenraum!“ „Welchem wissenschaftlichen Zweck diente eigentlich die Erosexpedition?“ leitete Iversen die Besprechung ein. „Der genauen Massenbestimmung dieses Planetoiden. Sie ist 97
von entscheidender Bedeutung für die Verfeinerung der Ausmessung des Alls. Der Eros ist ein so toll zerklüftetes Gebilde, daß wir zunächst gar nicht die Absicht hatten, zu landen, ihn nur mehrmals umkreisten und Aufnahmen und Schweremessungen machten. Dabei nun entdeckten wir ein anderes Raumschiff von unbekannter Bauart, das wir für eines von einem anderen Stern hielten, denn niemals zuvor war Eros von einer Erdexpedition angeflogen worden. Das Raumschiff erwiderte unsere Funkanrufe nicht, es mußte bewegungsunfähig sein, vielleicht schon seit undenklichen Zeiten dort liegen. Unsere Wißbegier war erregt, und wir beschlossen zu landen, natürlich nicht an der gleichen Stelle. Zwanzig, dreißig Kilometer entfernt fanden wir einen besseren Platz. Die ‚Atlantis’ setzte auf der schrägen Fläche ganz gut auf, wurde dann aber nochmals emporgeschleudert und schlug mit der Vorderseite auf Felsen. Von der Besatzung, die vollzählig im Innenraum war, kam niemand ernsthaft zu Schaden, aber es gab Teilzerstörungen an Instrumenten und Maschinen. Hydraulische und Preßluftleitungen, die vom Steuerraum an der Außenseite der Innenhülle entlang zum Kreiselraum laufen, rissen ab. Wir hatten Glück im Unglück. Nicht allzu weit entfernt fand sich der Eingang zu einer Höhle, die uns tief ins Innere des Sternchens, fast an seinen Schwerpunkt, führte, und dort gab es die Lebenselemente Wärme, Luft und Wasser. Dadurch konnten wir uns erhalten alle die vielen Monate, die wir brauchten, um unser Schiff instand zu setzen und eine Startbahn für den Abflug zu ebnen. Material und Gerät für die Reparatur, genügend Lebensmittel, Sauerstoff in Stahlflaschen, alles das lieferte uns das fremde Raumschiff, zu dem wir uns durch die schreckenerregende Landschaft der Oberfläche durcharbeiteten. Nun, es war kein außerirdisches Raumschiff, sondern eines des Mongolenstaates, das vor neunzehn Jahren ins All gestartet war; einige von uns erinnerten sich noch dunkel, daß damals 98
eine Notiz darüber durch die Presse ging. Dieses, die ‚Shogun’, hatte ein phantastisches Schicksal hinter sich, auf das ich nachher zu sprechen komme. Sie sind vor neunzehn Jahren auf Eros notgelandet, weil ihnen der Betriebsstoff ausging. Von diesem Kleinkörper wollten sie sich in Erdnähe tragen lassen, um dann mit ihrem Sender eine Erdstation zu erreichen und eine Hilfsexpedition anzufordern oder auch selbst die Reststrecke zu bewältigen. Die Katastrophe ist im Augenblick der Landung eingetreten. Eine spitze Felsnadel, der sie im letzten Moment nicht ausweichen konnten, riß ein Leck in Außen- und Innenhülle. Wir fanden sie wie die Einwohner von Pompeji in den Stellungen erstarrt, in denen sie das Ende überraschte. Noch viele Monate hätten sie sich mit ihren Lebensmitteln und ihrem Sauerstoff am Leben halten können, vermutlich hätten sie ihre Absicht erreicht; ein teuflischer Plan löschte sie aus. Nun sollen Sie erst die Geschichte unserer Expedition zu Ende hören! Auf dem Rückflug, vor wenigen Tagen, in Mondnähe, nahmen wir plötzlich Morsezeichen auf. Wir erwiderten den Anruf und empfingen einen Text, der mit einem uns wohlbekannten Schlüssel chiffriert war. Er gab uns Nachricht, daß fast 200 ehemalige Ingenieure und Arbeiter von Lunopolis sich bei der Besetzung durch die Orguren in ein unzugängliches Höhlensystem unter der Mondstadt geflüchtet haben. Für uns in der ‚Atlantis’ war das alles kaum faßbar, es war die erste Nachricht, die wir vom Überfall der Orguren auf Erde und Mond erhielten. Der Orguren, von deren Vorhandensein wir schon wußten, deren Eigenschaften wir aus Itogos Tagebuch kannten.“ Itogos Tagebuch „Ich fand es in der Tasche des großen japanischen Forschers und Ingenieurs Itogo, der bei der Landung des Raumschiffes 99
‚Shogun’ auf dem Eros umgekommen ist, Dr. Hartl, der die Sprache und Schriftzeichen beherrscht, hat es übersetzt“, erläuterte Hulk, und begann zu lesen. „Wir übergehen die Eintragungen vom 18. bis 25. März 1966, denn sie stehen am Anfang unserer Erzählung. Sie verzeichnen die Vorgänge im Raumflughafen bei Baktha Nor, die dazu führten, daß die mongolischen Raumschiffe ‚Shogun’, ‚Mikado’ und ‚Rak IV’ in den Weltraum starteten. Monatelang hat Itogo danach nichts mehr in das Heftchen eingetragen, erst wieder am 20. Juli. Das ist der Text: „Lange war ich, der älteste der drei Besatzungen, auf der Grenze von Sein und Nichtsein, noch jetzt bin ich krank und zerschlagen, doch so weit wieder zum Leben erwacht, daß ich von meiner Liegestatt aus mit Verständnis den Vorgängen in der Umgebung folgen kann. Von allem, was inzwischen geschah, weiß ich nur vom Hörensagen. ‚Rak IV’ mußte aufgegeben werden hinter der Marsbahn, weil ein kopfgroßer Meteor sie durchschlug. Die acht Überlebenden sind auf ‚Mikado’ und ‚Shogun’ verteilt worden. Auf beiden Raumschiffen hat es Ausfälle gegeben, Todesfälle durch Raumkrankheit. Jetzt ist der Gesundheitszustand wieder leidlich, wir haben uns angepaßt. Wir nähern uns dem Jupitersystem. Heute konnte ich für kurze Zeit einen Blick durch ein Periskop werfen. Der Riesenplanet hängt in doppelter Mondgröße am Himmel, eine plattgedrückte Kugel mit hellen und dunklen Streifen und Flecken, umgeben von einem Dutzend stärker oder schwächer strahlender Begleitgestirne – eines davon ist unser Ziel!“ 27. 7. 1966. „Die Spannung ist aufs höchste gestiegen. Der Wachhabende am Periskop stieß einen Ruf aus, der das ganze Schiff alarmierte, als er zum erstenmal auf unserem Zielstern, dem dritten und größten Jupitermond, dem Ganymed, einwandfrei Wolken er100
kannte. Seine Scheibe wächst von Stunde zu Stunde. Dieser Mond, größer als der Planet Merkur, umkreist Jupiter in sieben Tagen und wendet ihm immer dieselbe Seite zu. Wir werden die Landung oder Wasserung in der Dämmerungszone zwischen Vorder- und Rückseite versuchen, die nach Kuros Berechnungen für uns die günstigsten Lebensbedingungen bietet. Kuro, unser Kapitän, saß heute eine Stunde lang an meinem Lager, er erzählte mir von der Auswertung der letzten spektroskopischen Aufnahmen. Sie bestätigen völlig die Richtigkeit seiner, vor allem Irwins Beobachtungen von der Ätherstation der Erde aus. Es gibt auf Ganymed Wasser und Sauerstoff in genügender Menge und drittens Wärme, die für menschliches Dasein unerläßlichen Voraussetzungen. Dieses Wissen war Anlaß zu unserem Abenteuer. 27.7.1966. Im Schwerefeld des Ganymed. Wir verzögern, bremsen ab. Erste Atmosphärefetzen sind spürbar. Alle Aufmerksamkeit vereinigt sich auf unser Ziel, das wie eine zweite kleinere Erde unter uns liegt, bestrahlt von zwei Sonnen. Unserem fernen, kleinen, grell leuchtenden Zentralgestirn und dem nahen Riesenglobus Jupiter, der 220mal so groß erscheint, wie auf Erden die Sonne. Sein Licht versengt nicht, denn er ist selbst nur ein Planet, allerdings ein Planet, in dessen Riesenkörper 1300 Erdkugeln hineinpassen und dessen Oberfläche wie ein zu schwacher Rotglut geheizter Ofen mehr Wärme als Licht verstrahlt. Die auffälligste Erscheinung auf Ganymed ist das Vorhandensein verschiedener Helligkeitsstufen. Im gegenwärtigen Zeitpunkt sind es vier Schattierungen, von dunkelster Nacht bis zur Helle eines Wintertages in der gemäßigten Erdzone, nicht scharf abgesetzt, sondern in fließendem Übergang. Auf der teils in Dämmerlicht, teils in Nacht liegenden, vom Jupiter ständig weggekehrten Abseite phosphoresziert und funkt es. Erst dachten wir an nordlichtähnliche Vorgänge, doch die Sonne ist zu 101
fern, um sie hervorzurufen; es müssen Gewitter sein, die in den Wolkenbänken toben. Dunst und Wolken verwehren Einblick auf den größten Teil der Oberfläche. Die freien Stellen reichen aber aus, uns ihre Natur erkennen zu lassen. Sie ist ein einziger Ozean mit zahllosen darin verstreuten Festlandfetzen, Inseln jeder Größe! 30. 7. 1966. Alle sind auf ihrem Posten, nur mich hindert meine Schwäche und Hinfälligkeit an tätiger Mithilfe bei den Landungsmanövern. So bin ich der einzige, der Muße hat, zu beobachten und Notizen zu machen. Wir sind in Wolkendunst eingetaucht, selten nur reißt eine Lücke auf. Die Luft ist atembar, ohne giftige Beimengung. An der Oberfläche wird sie bestimmt auch genügend dicht sein, um Aufenthalt im Freien ohne Schutzanzug zu ermöglichen. Anderthalbmal umrundeten wir das ganze Gestirn, und jetzt trägt uns die Atmosphäre, wir sind zum Flug im Luftmeer übergegangen – nach zwei mißglückten Versuchen, bei denen die Stabilisierungsflächen und die Steuerung so beschädigt wurden, daß wir nur noch unvollkommen manövrierfähig sind. Schlimmer ist, daß wir im Dunkel, Wolkendunst und Regenschauern, unser Schwesterschiff, die ‚Mikado’, aus der Sicht verloren haben! 1. 8. 1966. Im Ganymedozean. Wir wollten in der Dämmerungszone niedergehen, aber ein warmer Luftstrom von Sturmstärke, der von der Vorderseite her weht, faßte uns, trieb uns ab, auf die von Jupiter abgewendete Mondseite. Wir tauchten in den Ganymedozean. Minutenlang rauschte Wasser an den Außenwänden. Danach lagen wir still, auf der Oberfläche schwimmend, die kardanische Aufhängung der Innenräume der Rakete schwächte alle Bewegung bis zur völligen Ruhe ab und ließ uns kaum spüren, daß draußen Unwetter tobte. In den Periskopen zeigte sich aufgewühltes, gischt- und 102
schaumerfülltes Wasserchaos, gigantische Wellenberge schlugen manchmal über dem Schiff zusammen, das alles unter einem nächtlichen, blitzdurchzuckten Himmel. Der Kapitän ließ Außenluft durch den Raum zwischen Innen- und Außenhaut einströmen, darauf hörten wir deutlicher den tosenden Lärm des Wassers und das Heulen des Sturmes. Es klang, als ob wir uns bei stürmischem Wetter inmitten der Brandung an felsigem Ufer befänden. Unsere neue Heimat empfing uns sehr unfreundlich, und Kuro war in großer Sorge um die ‚Shogun’, die nicht für diese Art von Beanspruchung berechnet und gebaut ist. Fast einen vollen Tag haben wir auf Abflauen des Sturmes gewartet. In dieser Mußezeit konnten alle notwendigen Feststellungen getroffen werden; sie geben uns neue Hoffnung. Meerwasser und Luft sind nicht viel anders zusammengesetzt als auf der Erde. Vor zwei Stunden krochen zum erstenmal Männer der Besatzung durch die oberste Luke und fanden, daß Sturm und Wellengang viel geringer waren, als es von innen schien. Die Sonne war aufgegangen – sie kroch siebenmal langsamer über den Horizont als auf der Erde. Ihr Standort war an einer Aufhellung in den Wolken erkennbar. Das wilde Notturno war nun zu mehrfacher Lichtstärke einer irdischen Vollmondnacht erleuchtet. Die Luftschleusen der inneren Raketenkörper wurden geöffnet, ein frischer Luftstrom vertrieb die Konservenluft aus den Schiffsräumen. Jetzt fahren wir, um Land zu suchen. Das Nachlassen des Sturmes soll dazu ausgenutzt werden. Aus Strahldüsen strömende Preßluft schnellt uns durch Rückstoßwirkung mit großer Fahrt über die Oberfläche des schäumenden Ozeans. 8. 8. 1966. Noch immer im Ozean der Abseite. Inzwischen haben wir die Inseln erforscht. Man kann nicht ungefährdet an Land gehen. Nicht nur wegen der angriffslustigen Tiere, wie uns ein Erlebnis bewies, das erst wenige Stunden zurückliegt. 103
Kapitän Kuro hatte den sogenannten Sonnenaufgang, also die äußerst langsame Zunahme des Dämmerlichtes, beobachtet. Die beiden Männer der Besatzung, die sich in seiner nächsten Nähe befanden, hatten ihn zurückgerissen. Von ihnen geleitet, taumelte er in den Raum, in dem ich mich aufhielt, Schrecken und äußerste Erschöpfung stand in seinen Zügen. Wie ein Sack ließ er sich auf das nächste Ruhebett fallen. Man flößte ihm Kognak und starken Kaffee ein. Nach Minuten fand er Worte, „Schatten“, sagte er. „Plötzlich waren Schatten da. Entfernt menschenähnlich und doch anders. Viel größer und mit vielen Gliedern. Ich spürte, als ich sie sah, einen stechenden Schmerz in den Schläfen, und der Befehl formte sich in meinem Kopf, in meinen Gedanken, meiner Sprache, mit dem Schiff sofort an die Landspitze voraus im Norden zu fahren und dort ans Ufer zu setzen. Als ihr mich gewaltsam ins Schiffsinnere zurückrisset, war der Befehl fort, das Metall muß den fremden Einfluß auslöschen. Aber ich war todmüde.“ Kuro horchte. Wir horchten. Das ständige Geräusch des gischenden Meeres, an das wir uns gewöhnt hatten, war von schwer deutbaren Tönen überlagert. Rhythmisches Kratzen, Scharren, helles Klingen. Der Beobachter am Periskop meldete fliegende Schatten im Gesichtsfeld. Dann konnte er nichts mehr sehen, das Periskop war mit großer Gewalt herausgerissen worden. Die Wache ließ den Außenscheinwerfer aufblenden, und ein paar Mann gingen schwer bewaffnet ins Freie, auf die Außenfläche der ‚Shogun’. Draußen herrschte jetzt ‚Büchsenlicht’, aber ein dichter grauer Nebel vor dem Gebirge ließ keine Einzelheiten der Insellandschaft erkennen. Sie fanden – nichts. Dennoch bestand kein Zweifel an der Realität unserer Wahrnehmungen, Spuren begonnener Zerstörungsarbeit waren zu erkennen, mehrere handgroße Löcher in der äußeren Metallhülle, in deren nächster Umgebung das starke Leichtmetallblech dünn und verätzt, wie von Säure zerfressen war. 104
Waren wir den Herrengeschöpfen dieses Gestirns begegnet? Wenn es auch niemand zugab, die Furcht hatte Einlaß gefunden im Raumschiff ‚Shogun’! Mit größter Kraft fuhren wir in die Weite des Meeres hinaus. Eine Stunde später begann das stärkste Gewitter, das wir hier erlebt haben. Bündel von Blitzstrahlen durchzuckten das Gewölk unter ständigen schmetternden Schlägen. Dann prasselte ein sintflutartiger warmer Regen auf unseren Metallkörper und auf das Meer nieder. Weshalb treiben wir so lange auf den düsteren Wassern der Abseite des Ganymed? Weshalb starten wir nicht, um die sicherlich doch freundlichere Vorderseite, die dem Jupiter zugekehrt ist, zu erreichen? Aus zwei Gründen. Weil wir nicht irgendwohin fliegen wollen, ohne Nachricht von der ‚Mikado’ zu haben. Am zweiten Tag nach unserer Ankunft wurden zweifelsfrei Morsezeichen mit dem Namen des Schwesterschiffes aufgenommen, ohne daß es möglich war, dessen Standort anzupeilen. Wir hoffen auf Wiederholung. Ferner, weil die Ausbesserung der Tragflächen und der Steuerung noch nicht beendet ist. 15. 8. 1966. Am 12. August schwächten sich die ständigen elektrischen Entladungen so weit ab, daß wir endlich die ungefähre Richtung feststellen konnten, in der die ‚Mikado’ sich befand. Wir gaben Antwort auf ihren Anruf und entzifferten folgenden Spruch: ‚Achtung Shogun! Bleibt mit uns in Verbindung! Mikado landete auf Tagseite, Nähe Dämmerungszone etwa 10 Grad Nord auf Insel, in Form und Größe an Madagaskar erinnernd. Stehen mit Ganymedmenschen in Verbindung.“ Wir antworteten mit größter Lautstärke, daß wir, sobald unsere Instandsetzung beendet sei, sogleich starten würden. ‚Mikado’ kündete an, sie würde nun ständig unser Rufzeichen senden, damit wir stets die Richtung peilen könnten. Mit den 105
Instandsetzungen der alten und neuen Schäden waren wir am 13. August fertig. Beim dritten Sonnenaufgang, den wir auf dem Ganymed erlebten, schnellten wir uns von der Wasseroberfläche ab, in einem Augenblick, als der Himmel und das Meer im tiefen Rot einer ungeheuren Feuersbrunst brannten. Der Himmel war zum erstenmal fast wolkenfrei. Der Peilfunker horchte unablässig auf die Zeichen der ‚Mikado’, stellte seinen Rahmen danach ein und rief durch das Sprachrohr Richtungskorrekturen zu dem Steuerraum. Dann fanden wir die ‚Mikado’. Auf einer größeren, einheitlich gelbgrünen Fläche war der Körper des Raumschiffes schon auf große Entfernung zu erkennen. Die ‚Shogun’ wollte so manövrieren, daß sie dicht neben sie zu liegen kam. Bei der geringen Steuerfähigkeit des Kolosses gelang es aber nur, etwa auf gleicher Höhe, doch in einem seitlichen Abstand von mehr als einem halben Kilometer niederzugehen. Die große Eingangstür in der Außenhülle unterhalb der ‚Wasserlinie’, die wir bisher noch nicht geöffnet hatten, wurde aufgeschraubt. Der Kapitän und einige vorher eingeteilte Männer sprangen heraus. Jeder von den anderen warf wenigstens durch irgendeine Öffnung einen Blick nach außen. Jupiter und Sonne mußten hier gleichzeitig über dem Horizont stehen, ein mattweißer Himmel, wie eine Ölpapierfläche, verbarg sie. Es war nicht sehr hell, aber tropische Wärme schlug uns entgegen. Kirchturmhoher Wald, dessen Wipfel in der heißen Luft hin und her wogten, umgab eine ausgedehnte Lichtung. Die Laubkronen wiesen Farben von brennendem Rot und Goldorange bis Türkisgrün auf. Diese Farben wiederholten sich auf dem zu unseren Füßen sich ausbreitenden schwellenden Teppich von Gräsern und großblütigen Blumen. Kuro hatte mit seiner Mannschaft schon einen Teil des Weges zur ‚Mikado’ zurückgelegt, da pflanzte sich ein Ruf aus dem Inneren unseres Schiffes fort: ‚Halt, halt! Sofort zurück! 106
Öffnungen schließen. Der Funker Shun-Lo stürzte atemlos vom Funkraum zum Ausgang und lief den sich Entfernenden nach. Wir sahen, daß er heftig auf Kuro einredete. Sie wendeten und kamen ins Raumschiff zurück. Das Tor blieb geöffnet, doch niemand durfte die ‚Shogun’ verlassen. Waffen wurden durchgereicht. Was war geschehen? Niemand konnte Auskunft geben. Erst später erfuhr ich, wie alles zusammenhing. Shun-Lo war im Begriff gewesen, seinen Empfänger abzuschalten, aus dem noch immer die Morsezeichen y – w – a tönten, da wurde dieser Rhythmus durch andere Zeichen unterbrochen. Nach dem Gehör las er mit: „Auf Telefonie schalten – dringend!“ Shun-Lo legte den Hebel um, und der Lautsprecher sagte an: ‚Achtung Shogun, hier ist Shao-Yi. Bin im Augenblick ohne Aufsicht. Seid vorsichtig! Verlaßt unter keinen Umständen euer Schiff. Bleibt immer im Schutz von Metall. Nehmt mich und KanToon auf, wir laufen zu euch. Habt ihr verstanden?’ Der Funker bestätigte schnell und lief, um Kuro noch zu erreichen. Am Raumschiff ‚Mikado’ hatte sich bisher keine Bewegung gezeigt, nun sprangen drüben zwei Menschen aus einer höher gelegenen Luke auf den Boden und liefen in großen Sätzen auf uns zu. Mit bloßen Augen war bald zu erkennen, daß es der Ingenieur Shao-Yi und ein Funker des anderen Raumschiffes waren. Von jetzt an entwickelte sich alles sehr rasch. Wie aus dem Boden gewachsen, waren mit einemmal ganze Rudel fremder Geschöpfe da, und unablässig spien die geöffneten Tore der ‚Mikado’ noch mehr aus. Übergroße, aber spinnendürre Menschen, bekleidet mit enganliegenden bunten Gewändern. Alle nahmen die Verfolgung der beiden Flüchtlinge auf, ohne sie noch einholen zu können. Schon ganz in der Nähe unserer Eingangstür blieb Shao-Yi mit einem Fuß im Stengelgewirr des Pflanzenteppichs hängen und kam zu Fall. Ehe er sich wieder erhoben hatte, waren die vordersten Verfolger heran. 107
Im gleichen Augenblick warfen sich einige unserer Männer mutig auf die vorgeprellten Fremden, schlugen sie mit Faustschlägen und Hieben zurück, befreiten die Kameraden und brachten sie in Sicherheit. Nun flogen Steine, und einige der Unseren, die noch in der geöffneten Tür standen, wurden verletzt. Man mußte von Fäusten und Kolben Gebrauch machen, um die immer zahlreicher nachdrängenden Fremden zurückzuschlagen, sie abzuschütteln, das Innere des Raumschiffes erreichen und das Tor verschließen und verschrauben zu können. Ein Hagel von Steinen prasselte gegen die Außenhülle; wir fürchteten, daß die gerade wieder instand gesetzten Periskope und Scheinwerfer beschädigt werden könnten. An hundert bis hundertzwanzig der großen, dürren, abstoßend spinnengliederigen Fremden umstellten jetzt das Raumschiff. Die Ausguckposten meldeten, daß andere Gruppen am Waldrand große kakteenähnliche Gewächse abhieben und heranschleppten. Immer noch verstärkte sich die Zahl der Exoten. Es mochten an zweihundert sein. Nun gab es eine Art Sturmangriff auf das Raumschiff. Dies hielt uns alle in Atem. Die Unseren begannen zu schießen, aus Luken und von den Tragflächen; auf Kuros Befehl zumeist in die Luft. Für den Augenblick hatte es Erfolg; sie ließen von uns ab und kümmerten sich um ihre Verwundeten. Doch auch bei uns gab es Verletzte. Einer unserer Schützen wurde durch einen Steinwurf aus nächster Nähe so unglücklich an der Schläfe getroffen, daß er starb, ohne wieder zu Bewußtsein gekommen zu sein. In dieser Gefechtspause beschworen Shao-Yi und Kan-Toon, die sich wieder erholt hatten, den Kapitän: „Sie müssen sofort starten; in einer Stunde können Sie es nicht mehr!“ „Wohin denn?“ „Ins Weltall!“ Kuro machte eine bezeichnende Bewegung mit einem Finger 108
an seine Stirn. „Das ist ja Irrsinn! Vor diesen steinwerfenden Halbaffen ausreißen? Wenn nötig, können wir sie alle zusammenschießen. Sollen wir unsere Kameraden im Stich lassen?“ „Sie täuschen sich sehr, Kapitän, leider! Hören Sie auf uns!“ Erneuter Ansturm der Ganymedbewohner. Unsere Besatzung hatte sich auf Weisung des Kapitäns ins Innere zurückgezogen, und die Fremden erkletterten die Tragflächen. Voraus ging wieder ein Hagel von Steinwürfen. Es war aber nur ein Ablenkungsmanöver, viel Gefährlicheres ging indessen dicht vor dem Bug der ‚Shogun’ vor sich. Dort war ein starker Trupp der Fremden am Werk, den Boden mit Werkzeug aufzureißen und aus mannshohen, spindelförmigen Gewächsen, die sie heranschleppten, eine Barrikade zu errichten, um die Startbahn unbrauchbar zu machen. Der Ausguckposten nach vorn bemerkte es noch rechtzeitig. Kuro befahl nun sofortigen Start. Düsenstrahlen fauchten aus dem Heck, und langsam erst, dann schnell und schneller, setzte sich die ‚Shogun’ in Bewegung; kam vom Boden frei, und bald brausten wir dicht über die Wipfel des bunten Waldes. Die Angreifer hatten es sehr eilig, aus dem Weg zu gehen und von den Tragflächen abzuspringen. Rasch nahm der Raketenkörper große Geschwindigkeit an, stieß in größere Höhe vor, und ging nach wenigen Minuten mitten im Ozean außer Sicht jeden Landes auf das, wie immer aufgewühlte Wasser nieder. Kuro wies die Posten ein und ließ die ganze übrige Mannschaft im größten Raum der Innenrakete zusammenkommen. Hier mußten die beiden Flüchtlinge von der ‚Mikado’ der ganzen Raumschiffbesatzung erzählen, was vorgefallen war. So hörten wir, während draußen Wind heulte und Wellenberge an die Außenwand des Schiffes schlugen, die Geschichte der ersten Begegnung von Menschen mit intelligenten Bewohner eines fremden Gestirns. Ich schrieb sie gleich danach nieder. 109
Shao Yi erzählte: Wir verloren die ‚Shogun’ auf der Abseite in Nacht und Regen aus der Sicht und versuchten lange Zeit vergeblich, Funkverbindung mit euch zu bekommen. Dann landeten wir am gleichen Ort, an dem die ‚Mikado’ noch jetzt liegt. Zwei Stunden später waren die ersten Fremden bei uns, die sich alle untereinander so ähnlich sehen, daß wir zuerst nicht einmal Männer und Frauen unterscheiden konnten. Wir alle waren aufs äußerste verwundert, hier menschenähnliche Geschöpfe vorzufinden. Erst war das gegenseitige Mißtrauen groß, dann gab es eine Art Verbrüderung. Wie konnten Sie sich verständigen? warf Kuro ein. Auf die gewöhnliche Weise, durch Gesten und mit Hilfe der von unserem Mathematiker Irwin auf der langen Reise ausgearbeiteten Weltallsprache aus Bildern, unmißverständlichen Zahlzeichen und sinnvollen Figuren. Die Fremden zeigten großes Interesse für unsere Gebrauchsgegenstände, vor allem für alles, was aus Metall war. Unter uns sind ein paar Sprachgenies, die sich schnell einige Worte ihrer vokalreichen Sprache aneigneten und dann weiterhin sich vervollkommneten und als Dolmetscher dienten. Wir erfuhren so, daß sie sich selbst Atois nennen und ihr Gestirn Tangora. Wir waren in Hochstimmung, daß wir auf uns sehr ähnliche Kreaturen gestoßen waren, von denen wir offenbar nicht viel zu befürchten hatten. Technisch schienen sie uns weit unterlegen, wirksame Waffen kannten sie wohl nicht. Aus diesen ersten Eindrücken erklärt sich, daß Kapitän Chan Li nicht mehr Argwohn hatte. Er glaubte, alles Erdenkliche getan zu haben, als er heimlich Handwaffen ausgeben ließ und uns scharfe Verhaltungsmaßregeln gab. Die, welche unter seiner persönlichen Führung mit den Atois gingen – es war der größere Teil der Besatzung – sollten stets zusammenbleiben und jeglichen Streit mit den Fremden vermeiden. Wir beide waren bei den Zurückbleibenden und bekamen den Auftrag, 110
ständig zu versuchen, die ‚Shogun’ auf dem Funkwege zu erreichen. Mit Kapitän Chan Li hielten wir Verbindung durch zwei Ultrakurzwellen-Taschenapparate. So erlebten wir alles aus der Entfernung mit: den langen Marsch durch den bunten Riesenwald und das Eintreffen vor der Siedlung der Artois. An einem freien Aussichtspunkt ließ der Kapitän halten, man konnte von dort die ganze Siedlung überblicken. Sie lag in einer ausgedehnten, angepflanzten Lichtung, lehnte sich an den Waldrand an und hatte die Form einer halben Kreisfläche. Wir hörten der Stimme des Sprechers, der uns seine Eindrücke übermittelte, die Enttäuschung an. Er hatte wohl etwas Exotisches erwartet, was in diese bunte Tropenlandschaft paßte: eine phantastische Formenwelt von Säulen, Spitzen, Pyramiden, Pagoden. Nichts von alledem! Was man da vor sich sah, ähnelte eher einem Barackenlager, einem sehr regelmäßig angelegten Lager niederer, schmuckloser Holzbauten, die teilweise durch langgestreckte Hänge miteinander verbunden waren. Schon zu Beginn und in den nächstgelegenen Wohnbezirken stießen unsere Erkunder auf Dinge, die sie stutzig machten; auf die stärksten Widersprüche zu den vorgefaßten Meinungen und schließlich waren es unsere Leute, die viel fassungsloser waren, als die Atois bei der ersten Begegnung am Raumschiff. In den Holzwohnungen gab es zwar keinerlei Metall, aber eine verwirrende Vielzahl technischen Kleingeräts, alles so bis ins letzte durchkonstruiert, daß es unmöglich von dörflichen Handwerkern verfertigt sein konnte, Materialien, die es bei uns einfach nicht gibt. Die Atois führten unsere Leute zu dem Heiligtum des Ortes. Dort legten die Atois Mengen von Früchten für ihre Gottheit oder ihre Gottheiten nieder. Diese Gottheiten waren unsichtbar. Der uns berichtende Sprecher konnte es nicht unterlassen, sich ein wenig über diesen primitiven Götzendienst der sonst doch zivilisierten Langgesichter zu belustigen. 111
Das war die letzte vernünftige Funknachricht, die wir erhielten. Danach kamen noch weitere, immer spärlicher, daß es ihnen gut ginge, daß sie glücklich und zufrieden seien wie nie zuvor, daß wir abwarten sollten, Wichtiges, Umwälzendes, bahnte sich an! Nach drei Erdentagen waren wir Zurückgelassenen so erregt über diese merkwürdigen Funksprüche, daß wir drauf und dran waren, mit Waffengewalt zur Siedlung vorzugehen und die Lage zu klären. Da kam Chan Li endlich zurück, begleitet von vielen Atois und nur wenigen der Unseren; sie waren ohne Waffen. Der Kapitän machte, als er zu uns sprach, einigen von uns den Eindruck eines Nachtwandlers, so sehr wich sein Benehmen von seinem gewöhnlichen Verhalten ab. Er verlangte von uns, daß wir uns alle positiv zur Tangora, zum planetarischen Reich Ataira und seinen Menschen und Göttern einstellen sollten, deren Gäste zu sein wir die Ehre hätten. Ein Vertrag sei abgeschlossen worden. Wir alle sollten die Erde wiedersehen, in wenigen Jahren, nicht als Flüchtlinge, sondern als Herren. Unser Raumschiff würde nachgebaut, vervielfältigt werden, jede Siedlungsgruppe von Ataira würde es nach einer unbekannten Methode einmal abformen. So würde nach einer Reihe von Jahren eine Großflotte von Raumschiffen vorhanden sein, die mit Menschen und Göttern zur Erde starten sollte, um sie in Besitz zu nehmen. Diese Ansprache fand auf der Blumenwiese vor der ‚Mikado’ statt. Die Meinung der Zuhörer war geteilt. Es gab solche, die für ihn Partei nahmen, aber eine starke Gruppe rief zur Meuterei, zu offenem Widerstand auf. Ihr Sprecher erklärte dies alles für Wahnsinn, Ausfluß einer unbekannten Krankheit, die Trugbilder erzeugt, den Kapitän für abgesetzt. Sie wollten sich seiner Person bemächtigen. Es gab ein Handgemenge, dann geschah etwas Unfaßbares. Es erschien ein Flugschwarm gespenstischer Geschöpfe, 112
ähnlich übermenschengroßer Nachtfaltern, und kreiste lautlos und unablässig. Sofort war aller Widerstand zu Ende. Alle, die bei der Versammlung waren, wurden von den Atois mitgenommen, verschwanden auf Nimmerwiedersehen. Von dieser Stunde an gab es keine Auflehnung mehr. Außer uns entgingen noch sechs Mann der Besatzung, die wie wir im Raumschiff beschäftigt waren, dem Schicksal, verschleppt zu werden. In den zwölf Erdtagen, die seither vergangen sind, haben wir immer neue Züge von Atois, die in ständigem Zustrom aus anderen Teilen der großen Insel und aus entfernteren Gegenden des Mondes kamen, wieder und wieder alles zeigen müssen. An den dunkleren Tagen trafen immer neue Flugschwärme der fliegenden Riesentrilobiten – so bezeichnete sie unser Biologe – ein. Es waren die recht realen Gottheiten dieses Mondes, die in den Heiligtümern hausen. Auf vielen Spinnenfüßen krochen sie durch alle Gänge, mit Insektenfühlern und Krebsscheren betasteten sie alle Gegenstände. Wir waren krank vor Grauen und konnten uns vor Übermüdung kaum aufrecht erhalten. Wir haben es bei den Beherrschern dieses Gestirns mit einer Art Doppelwesen zu tun. Die sogenannten Götter – so übersetzen wir wenigstens das Wort – die Riesentrilobiten, stammen von der Nachtseite des Mondes, wo Artgenossen noch jetzt im Freien leben sollen, von der Nachtseite, die den Langgesichtern als Hölle gilt. Vor undenklichen Zeiten haben diese Geschöpfe, von der Randzone aus vordringend, sich die indolenten menschenähnlichen Atois unterworfen durch ihren unwiderstehlichen Willen. Diese Waffe, die ihnen die Natur verliehen hat, machte die Pistolen und Maschinengewehre, die unsere Gefährten bei sich hatten, zur Lächerlichkeit. Ihr Wille allein regiert die Siedlungen, die Siedlungsgruppen und das planetarische Reich Ataira. In gewisser Beziehung ist die Lebensform, die überall auf der Vorderseite des Ganymed herrscht, doch von beiden, den Menschen und den sogenannten 113
Göttern, gemeinsam entwickelt worden. Eine Art ist jetzt ohne die andere nicht mehr lebensfähig. Die Gottheiten konnten von sich aus keine Zivilisation hervorbringen, dazu fehlte ihnen die Hand. Die Menschen dieses Sterns ebenfalls nicht, dazu waren sie in ihrem Tropenparadies zu indolent. Eine Symbiose hat sich herausgebildet. In den zum größeren Teil unter dem Boden liegenden Heiligtümern hausen die uns so fremdartigen, grauenerregenden Riesentrilobiten in undurchschaubarer Gemeinschaft, immer noch vorwiegend Nachtgeschöpfe, die sich noch nicht oder nicht mehr an die volle Tageshelle anpassen konnten, weil ihr organisches System zu einseitig spezialisiert ist. Diese Annahme stammt von Irwin, der mit uns in der ‚Mikado’ zurückgeblieben war. Irwin fiel es zuerst auf, daß die Flugzüge der geflügelten Trilobiten nur an den drei Erdtagen unterwegs waren, an denen Jupiter allein über den Wolken steht. In der helleren Zeit, in der auch die Sonne scheint, sind sie nicht sichtbar. Für unsere Sinne ist ein Unterschied kaum spürbar. Irwins Strahlenmessungen zeigten, daß Jupiter nur Wärme und langwelliges Licht ausstrahlt, der Kurzwellenanteil wird beim doppelten Durchgang durch seine Atmosphäre verschluckt. Die Sonne aber sendet auch durch die Wolkendecke noch soviel Kurzwellen, daß es für die ‚Gottheiten’ unerträglich ist. Sie bewegen sich an diesen Tagen nur in abgedunkelten Gefährten, Schiffen und Flugmaschinen. Wir landeten während eines Sonnentages, und ihr hattet dasselbe Glück, sonst hättet ihr es sofort mit den Gottheiten zu tun bekommen, und dann wäret ihr jetzt nicht hier.“ „Wir müssen Kapitän Chan Li und die Seinen mit Gewalt befreien, wenn nötig, gegen ihren Willen!“ Shao Yi schüttelte traurig den Kopf. „Wir wissen, daß die Unseren einzeln auf die Siedlungsgruppen von Ataira verteilt worden sind. Ihr gesamtes Wissen von der Erde, ihre technischen Kenntnisse, alles das wird gierig registriert und ausge114
wertet. Nur wir beiden haben uns bis zuletzt soweit dem fremden Willen entzogen, soviel eigenes Denken bewahrt, daß wir die Minuten ausnutzten, in denen die ‚Shogun’ neben uns landete, in denen die uns überwachenden Atois abgelenkt waren.“ 2. 9. 1966. Wir fürchten sehr, daß eines Tages die intelligenten Gottheiten dieses Gestirns mit Hilfe des technischen Mittels zur Raumüberwindung, das ihnen unsere Gefährten liefern, einen Überfall auf unseren – ihnen bisher unbekannten, im Strahlenkranz der Sonne verborgenen – Heimatplaneten unternehmen könnten. Sie werden versuchen, ihre Lebensform dorthin zu übertragen, und wir sind nicht sicher, daß man diesen Vorstoß abwehren wird. Nur rechtzeitige Kenntnis kann schützen! Wir müssen die Erde warnen! Nun beginnt die Jupiterwelt bereits hinter uns zu versinken, und die ferne Sonne nimmt an Leuchtkraft zu. 30. 9. 1966. Wir durchqueren die Zone der Planetoiden und nähern uns dem Weltensplitter Eros. Es war sehr schwer, das Jupitersystem zu verlassen, wir verbrauchten mehr Brennstoff, als errechnet war. Beschließen daher, auf Eros zu landen, um uns von diesem Weltkörperchen in Erdnähe tragen zu lassen. Wenn Eros sie nach sieben Monaten erreicht, können wir mit unserem Betriebsstoff die Reststrecke bewältigen. * Hulk klappte das Buch zu. Das war die letzte Eintragung! III. Teil Als Nora erwachte, fand sie sich unter Decken auf einer Pritsche in einem halbdunklen Raum. Wie lange war sie nun schon 115
hier in diesem Häuschen? Seit wann war sie krank? Schon öfter, wenn sie allein war, hatte sie versucht, räumlich und zeitlich zu ordnen, was geschehen war, den Weg wieder aufzufinden, der aus dem nordischen Winter von Torgatten Ö hierher in eine Tropenlandschaft führte. Aber das Fieber verwischte immer wieder die Bilder, machte es unmöglich, herauszufinden, was der Wirklichkeit und was Träumen angehörte. Heute jedoch mußte das Fieber gefallen sein, denn es gelang besser als sonst, sich an einzelne Begebenheiten zu entsinnen. An einen Flug über Wasser und Land, an Zwischenlandungen bei Tag und Nacht, an eine geräuschvolle Arbeitsstadt unter tropischer Sonne und an ein menschenüberladenes Schiff mit Männern, Frauen und Kindern aller Rassen. Über allen diesen Erlebnissen lag aber eine eigentümliche Unsicherheit. Man müßte einmal Asta Torsen oder den Arzt fragen, wie sie folgerichtig zusammenhingen. Nora sank über der Anstrengung des Nachdenkens wieder in Schlaf, aus dem sie erst aufschreckte, als sie eine Berührung ihres Handgelenks spürte, ein Gesicht über sich gebeugt sah, das braunverbrannte, faltige, unrasierte Gesicht eines älteren Mannes, des Arztes, seine Stimme hörte: „Immer noch Fieber, aber keine Gefahr mehr! Noch ein paar Wochen, dann ist es überstanden!“ Dies war weniger zu der Kranken gesagt, als zu Asta Torsen, die mit dem Arzt den Raum betreten hatte, aber Frau Nora antwortete: „Wie lange bin ich denn schon krank, und wo habe ich diese Krankheit bekommen?“ Der Arzt wendete erstaunt den Kopf wieder der Kranken zu. „Vermutlich auf dem Transport, auf dem Schiff, das Sie vor Soerabaja hierher brachte. Sie waren schon krank, als Sie ins Lager kamen, vor sechs, sieben Wochen. Wir waren in großer Sorge, aber nun kann ich mit voller Überzeugung Ihnen sagen, daß alles wieder gut wird, so gut wenigstens, wie es unter den obwaltenden Umständen werden kann.“ 116
„Seither sind wir hier in diesem Haus?“ „Haus ist übertrieben. Ein Plantagenhäuschen in einer früheren Teepflanzung, eine Bretterbude. Ihr Sohn und Fräulein Torsen haben sie erst wieder notdürftig instandgesetzt.“ „Doktor Jesberg hat alles für uns getan, was in seiner Macht stand; hat Nils und mich vorbeugend geimpft, uns hier herausverlegt, uns wegen der Infektionsgefahr abgesondert. So brauchen wir nicht mit den anderen im großen Lager hausen.“ „Dann hatte meine Krankheit also auch eine gute Seite! Wo ist Nils?“ „Nils wird gleich hier sein! Er ist gesund und frisch, treibt sich viel auf der Insel herum, nach Jungenart allein oder mit Gleichaltrigen. Um ihn braucht man keine Sorge haben; er stellt sich immer rechtzeitig zum Essen ein!“ antwortete Asta. „Wir sind also im Invasionsgebiet, gewaltsam ins Invasionsgebiet verschleppt!“ Plötzlich erinnerte sich Nora, daß sie kurz nach dem Start des Raumschiffes entführt worden waren. „Ja, auf einer größeren Insel mit einem Durchgangslager, in dem die Belegschaften für die neuen Siedlungen ausgewählt und endgültig zusammengestellt werden. Leute, die aus allen Weltgegenden hier zusammenströmen, freiwillig und unfreiwillig. Selten bleiben sie so lange hier wie Sie infolge Ihrer Erkrankung. Aber nun reicht es für heute. Sie dürfen nicht soviel grübeln und sprechen. Sie werden wieder gesund werden, dann auch den Weg in das neue Leben finden! Jetzt ist es noch zu früh, sich mit diesen Problemen zu plagen. Versuchen Sie, wieder zu schlafen! Fräulein Torsen begleitet mich ein Stück.“ „Noch eine Frage, Doktor! Ich bin in Sorge um meinen Mann, seine Freunde. Irgendwo hat man versucht, mich darüber auszufragen. Ich weiß es jetzt wieder; ich sehe ihre Gesichter, die höhnische Fratze des Propheten Soriano – mit al117
len Kräften habe ich dagegen angekämpft! Glauben Sie, daß ich etwas ausgesagt haben könnte in der Hypnose, was ihnen schadet?“ „Ich weiß, daß diese Sorge Sie quält! Im Fieber haben Sie davon gesprochen! Aber Sie sagten es ja selbst, Ihr Wille war stärker, als der der Ausfrager. Sie brauchen nichts zu befürchten!“ Er verabschiedete sich und ging mit Asta Torsen. „Glauben Sie wirklich“, setzte diese draußen das Gespräch fort, „daß Nora nicht in der Hypnose Wesentliches verraten haben könnte? Frau Nora erinnert sich ganz richtig! Wir sind ausgefragt worden von Soriano und Baron Kerenyi, mir leider nur zu gut bekannt! Sie waren so menschenfreundlich, uns nur hierher zu verbannen, obwohl sie und ihre Leute bitter enttäuscht waren, daß sie bei dem Überfall nicht die Richtigen erwischten! Ausgefragt, ehe man uns in einer menschenleeren Einöde in das Flugzeug verfrachtete, das uns erst auf Java wieder absetzte. Ich selbst konnte nicht viel verraten, denn ich wußte so gut wie nichts, aber Nora …“ „Ihr Wille und ihre Hemmungen sind zu stark, als daß ein Hypnotiseur, menschlicher Hypnotiseur, ihr solche Geheimnisse entreißen könnte; ich bin ganz sicher, daß der Angriff in dieser Hinsicht gescheitert ist. Diese Sorge, den Ihren zu schaden, hat sich wie ein Sperriegel vor ihr Denken gelegt und wird das letzte Sichaufgeben verhindert haben.“ „Und selbst wenn es geschehen wäre“, fuhr Dr. Jesberg nach einer Pause, in der sie wortlos nebeneinander hergingen, fort, „es wäre bedeutungslos! Die Orguren wissen und durchschauen doch alles, was man gegen sie plant.“ „Sie mögen gering an Zahl sein, sogar degeneriert, aber die Waffe, die ihnen der Kosmos verliehen hat, ist leider von der Art, daß sie alles von vornherein unwirksam macht, was wir dagegen etwa planen und unternehmen.“ 118
„Ich bin nicht davon überzeugt!“ „Sie denken jetzt an die geheime Fertigung von Superwaffen! Man spricht schon öffentlich in diesem Lager davon! Glauben Sie mir, daß das alles zwecklos ist, Spielerei, wie die abgeschirmten Tropenhelme, die Ihr Nils gebastelt hat. Sie sind einfach dem Willen der fremden Geschöpfe verfallen wie alle anderen.“ „Nein – es wirkt auf mich sogar recht wenig – das liegt vielleicht an meinem Lebensalter, an einer kritischen Einstellung, an einer anderen Resonanz, ich weiß es nicht. Ich will Ihnen auch verraten, daß ich mich durch systematische Geistesübung ziemlich unabhängig davon gemacht habe.“ „Und dennoch Ihr Pessimismus!“ „Ich bin nicht der einzige, dem es infolge anderer Nervenabstimmung oder infolge kräftigeren Willens gelingt, heimlich Widerstand entgegenzusetzen. Die, welchen es ebenfalls glückt, sind meist auch klug genug, diese Fähigkeit sorgfältig zu verbergen, sich ruhig und still zu verhalten. Mir als Arzt vertraut sich mancher an. Es gibt mehr heimliche Gegner als Sie glauben.“ * Der Marsflug der „Terra“ war für die fünf Insassen eine Kette unerhörter Erlebnisse. Sie hatten die Nachrichten über Lunopolis und das Tagebuch Itogos geistig verarbeiten müssen, sie erlebten die Landung auf dem Planeten Mars und die glückliche Vollbringung ihrer Aufgabe, die Auffindung eines Abwehrmittels gegen den übermächtigen Willen der Orguren. Jetzt, 38 Tage nach dem Start von der Erde, waren sie im Begriff, die Rückseite des Gebirgsmassivs über Lunopolis auf dem Mond anzufliegen, um Verbindung mit den Eingeschlossenen aufzunehmen. Hulk trat in den Steuerraum. In der Hand trug er ein bedruck119
tes Papierband, das er wortlos Olafson übergab. Dieser las die Botschaft, die aus dem Nichts eingefallen war: „An Terra. Keinesfalls Torgatten Ö landen. Umwälzende Ereignisse. Vor Landung rückfragen. Hartl.“ Olafson gab das Papier an Per Holmgreen weiter und fragte Hulk: „Wie ist das möglich? Wie kommst du zu diesem Spruch?“ „Auf. der Welle des Mondsenders der Flüchtlinge mit dem Notschlüssel der ‚Atlantis’.“ Es war Zeit, Khumar Singh und Iversen zu wecken, denn nun wurden alle Kräfte zur Landung gebraucht. In niederer Höhe, von Südosten her, hatte das Raumschiff mit äußerst verlangsamter Fluggeschwindigkeit die Ebene des Großkraters Cleomedes erreicht und überflog sie in Richtung auf die Nordostecke. Ununterbrochen arbeiteten die elektrischen und optischen Peilgeräte und zeigten metergenau die Entfernung vom Boden an. Khumar Singh rief die abgelesenen Zahlen zu Hulk hinüber, Per Holmgreen sagte die Fluggeschwindigkeit an, Olafson und Iversen beobachteten das Landefeld. Weich setzte sich der Koloß in die dicke Schicht von Vulkanasche und Meteorstaub, die hier den Boden bedeckte, sofort hoch aufwirbelte und jede Sicht nahm. Eine vibrierende Erschütterung lief durch den Metallkörper, dann trat Ruhe ein. Die Landung war gelungen. Hulk hämmerte auf die Taste des Senders, der Anruf ging hinaus, würden die Flüchtlinge ihn aufnehmen? Waren sie noch da? Noch frei? Nach sechsmaligem vergeblichem Rufen kam als Antwort das Rufzeichen des Mondsenders! Der vorbereitete kurze Schlüsselspruch mit der Ortsangabe wurde gesendet. Rückantwort kam: „eb 30 – wartet 30 Minuten!“ Noch vor Ablauf dieser Zeitspanne die erlösende Nachricht: „Erwartet Abholtrupp in 9 bis 10 Stunden! Lee.“ Wieder eine unausgefüllte Wartezeit. Alle verschliefen sie, nur der jeweils eingeteilte Posten war wach. Als Iversen die 120
Wache hatte, sah er in weiter Ferne die Männer des Abholkommandos sich nähern, er erkannte sie an den Staubfahnen, die sie hinterließen, als sie den Steilhang zur Ebene des Cleomedes herabkletterten. Er weckte die Gefährten, als die sechs Gestalten schon in der Nähe waren. Jede von ihnen schleppte eine Ausrüstung mit, die man auf Erden nicht weit tragen konnte – Raumanzug, Bergausrüstung, Lampe und Rucksack. Die beiderseitige Begrüßung im Inneren der „Terra“ war so stürmisch, wie es diesem Ereignis angemessen war; aber sie stand unter Zeitdruck. Die Neuankömmlinge legten ihre Raumausrüstung gar nicht erst ab, drängten auf sofortigen Aufbruch, damit man noch vor einbrechender Dunkelheit den Eingang zum T-Höhlensystem erreichte. So galt es, sogleich Entschlüsse zu fassen. Es ergab sich zwangsläufig, daß Iversen zurückblieb, der wegen einer Fußverstauchung am wenigsten marschfähig war. Lee befand sich selbst nicht beim Abholtrupp, aber er hatte seine nächsten Mitarbeiter vom „Führungsstab“ der Flüchtlinge entsandt. Hulk kannte zwei von ihnen, Garcia und Fabry. Diese und noch ein dritter blieben mit Iversen zur Sicherung des Raumschiffes zurück. Sie konnten die sich Entfernenden noch so lange mit den Blicken verfolgen, bis sie die erste Terrassenstufe, die Randmauer des Cleomedes, erklettert hatten. Nun erst kam man dazu, die gegenseitigen Erlebnisse mitzuteilen. Zuerst erfuhr Iversen alles über das Schicksal der im T-System unter der Mondstadt seit zwei Jahren Eingeschlossenen. „Ziemlich unfaßbar ist für mich, daß Sie diese endlose Zeit in den lichtlosen kalten Höhlen überstehen konnten“, sagte der Arzt. „Wir haben sie nicht alle überstanden und nicht immer gut“, antwortete Garcia. „Von ursprünglich 223 Männern leben noch 193.“ 121
Die Männer schwiegen. Dann sagte Garcia: „Sie können gar nicht abschätzen, was es für uns bedeutet, daß wir durch Sie jetzt Verbindung zur Erde haben. Schon der erste Funkspruch, den wir mit der ‚Atlantis’ wechselten, hat Wunder gewirkt. Ihre Gefährten werden empfangen werden wie Erlöser. Auch wir schließen uns nicht aus, auch wir sehen in Ihnen die Befreier, die uns helfen werden, den fremden Zwang abzuschütteln, vielleicht können wir euch dann helfen, die unirdische Gewalt von der Erde zu vertreiben! Hulk deutete mir an, daß wir hoffen dürfen!“ Iversen stopfte bedächtig seine Pfeife und ließ seine Gesprächspartner lange auf Antwort warten. Dann blies er eine Rauchwolke in die Luft und begann: „Sie wissen schon von Hulk, daß das Ziel unseres Raumfluges die Marspyramide war. Wir landeten also in unmittelbarer Nähe der Marspyramide. Stellen Sie sich eine mit dünnem Schnee bedeckte, eisig kalte Wüste vor, schweigend ausgestorben, unter nordlichtdurchzucktem Nachthimmel. Und mitten in dieser Leere und Öde ein Monument.“ „Wer damals, vor zwei Jahrzehnten, den Bericht der Marsflieger las“, sagte Garcia, „dachte an eine Kult- und Begräbnisstätte wie in Ägypten, geschützt durch eine noch von den alten Marsingenieuren angelegte tödliche Sperre. Nach der Überlieferung der Zwergvölker unter dem Marsboden sollte die Pyramide Königsgräber enthalten. Ich habe die Teilnehmer selbst gesprochen, sie bestätigen alle diese Auffassung.“ „Wenn sie nicht absichtlich irreführende Angaben gemacht hätten, so wäre die Pyramide das Ziel von Abenteurern und Schatzgräbern geworden, bestenfalls von wissenschaftlichen Forschungsexpeditionen; beides wäre gleich verhängnisvoll gewesen. Deshalb verschwiegen sie auch, daß sie schon damals die Sperre überwanden und daß sie ganz anderes fanden. Die Sperre hält nur die primitiven Zwergrassen fern. Jedem, dem es 122
gelungen wäre, mit einem Raumschiff dort zu landen, wären ebenfalls die technischen Mittel bekannt gewesen, den Sperrgürtel ungefährdet zu durchqueren und ihn von innen auszuschalten.“ „Dürfen Sie uns denn jetzt sagen, was Sie in der Pyramide fanden?“ „Ja. Denn Sie gehören zu dem Kreis derer, die uns helfen sollen. In der Pyramide ist das technische, wissenschaftliche und philosophische Erbe einer alten Kultur in zahllosen Schrifttafeln, Modellen und Abbildungen niedergelegt, einer Kulturrasse, die in der Welterkenntnis und -beherrschung eine höhere Stufe erreicht hatte als wir. Es ist ein Paradies für jeden nach Erkenntnis suchenden Physiker und Mathematiker und für jeden Techniker, denen dort die Zukunft ihres eigenen Arbeitsund Forschungsgebietes leibhaftig vor Augen steht.“ Fabry warf ein: „Ich weiß nicht, ob es ein so großes Glück wäre, wenn unsere Wissenschaft und Technik plötzlich durch eine Art Offenbarung Jahrhunderte oder Jahrtausende kontinuierlicher Weiterentwicklung überspringen würde.“ „Sie sprechen genau das aus, was Khumar Singh damals veranlaßte, die Weltöffentlichkeit irre zu führen. Das Unheil würde weitaus den Nutzen überwiegen, die Menschheit wäre dem nicht gewachsen. Khumar Singh führte uns nach einigen Tagen der Versenkung durch das unabsehbare Zellensystem im Mittelteil der Pyramide in einen Raum, in dem in luftleeren Quarzbehältern sich eine unscheinbare graue Substanz befand. Leichte und poröse, nicht weiter gegliederte Zylinder von metallischem Grundcharakter. Wir brachten sie mit aller Vorsicht zum Raumschiff, versetzten alles wieder in den bisherigen Zustand und starteten zum Rückflug. Alle anderen Schätze der Wissenschaft und Technik ließen wir unberührt. Seither saßen Khumar Singh und Olafson meist zusammen. Jener rechnete, dieser zeichnete. Sie haben uns anderen das 123
Prinzip erklärt, nach dem sie mit dieser Masse die Abwehrgeräte bauen wollen, welche den Willenseinfluß der Orguren auslöschen. Ich habe wenig davon begriffen und brauche mich dessen nicht zu schämen. Auf der Erde gibt es kein halbes Dutzend Physiker, die es könnten.“ Die Zuhörer hatten Iversen nicht mehr unterbrochen, und sie stellten keine Frage mehr. So schloß er: „Die Gedankenarbeit ist im großen Ganzen abgeschlossen, und die Geräte können gebaut werden. Vielleicht sogar hier; es hängt davon ab, was Khumar Singh und Olafson mit Lee vereinbaren werden.“ * Nach den Ereignissen des 18. Dezember im Vorjahre war Torgatten Ö Mittelpunkt wenigstens des lokalen Interesses. Eine ständige Polizeiwache wurde auf die Insel gelegt, Behördenvertreter nahmen Lokalbesichtigungen vor, entfernte Verwandte Holmgreens fanden sich ein. Alle Beteiligten wurden immer wieder vernommen und von Reportern ausgefragt. Die Hausmeisterin glaubte, Frau Hulk während des Überfalls erkannt zu haben. Eine dunkle Rolle in dieser Angelegenheit spielte der Pilot Wilms, der noch in der Nacht zum 19. Dezember samt Flugzeug verschwunden war. Wilms hatte in der Nacht vom 18./19. Dezember aus den Fragen des Beamten den Eindruck gewonnen, daß man ihn in Verdacht hatte, ein Helfershelfer der Entführer zu sein, weil er während des Überfalls nicht anwesend war, erst eine Stunde später auftauchte. Er hatte eine schadhafte Ölleitung des Flugzeugs ausgebessert. Doch es war schwer zu beweisen, daß dies in der Zeit des Überfalls geschehen war. Er wußte mehr von den Hintergründen der Entführung als alle, die jetzt auf der Insel waren, und hätte wichtige Aussagen ma124
chen können; er war noch nicht zu Wort gekommen, als der alte Holmgreen durch den Schock der Entführung seiner Angehörigen starb. Ehe die Beamten kamen, hatte Wilms sich mit dem Hauspersonal und den Wachleuten unterhalten. Ihre Beschreibung der Männer, die Nora und die anderen entführt hatten, machte seine Vermutung zur Gewißheit. Die Beschreibung paßte auf Soriano und Kerenyi. Kein Zweifel, daß diese beiden nach der „Entführung“ Hulks aus St. Kilda einen blitzschnellen Gegenschlag ausgeführt hatten, durch den sie vor allem Per Holmgreen und Olafson, auch Hulk selbst in die Hand bekommen wollten; sie hatten sich der Frau Hulks als Ortskundigen bedient. Nun waren Nora, ihr Sohn und Asta Torsen ihnen in die Hände gefallen, und ihr Schicksal war ungewiß. Wilms brauchte nicht lange, um sich dies alles zu überlegen. Er suchte, während noch alle um den alten Holmgreen beschäftigt waren, in den Zimmern im ersten Stock auf eigene Faust nach Dingen, die Asta Torsen zurückgelassen haben könnte und auch nach etwaigen geheim zu haltenden Dokumenten, um sie dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Er suchte systematisch und an den unwahrscheinlichsten Orten, aber er fand nichts dergleichen. In Noras Schlafzimmer fiel ihm auf, daß das Bett nicht ganz in Ordnung war, so, als ob es hastig aufgerissen und in Eile wieder geglättet wurde; unter der Matratze zog er ein Handtäschchen hervor. Als er es öffnete, fiel ihm ein komplizierter Schlüssel entgegen und ein Brief. Ein erst kürzlich geschriebener unfrankierter Brief mit vollständiger Adresse an Dr. Hartl. Der Absender war Hulk. Wilms besann sich einen Augenblick. Er wußte einiges von den Hintergründen und Zusammenhängen, auch des Weltraumfluges. Man hatte ihn keineswegs eingeweiht, seine Kenntnis stammte aus mitgehörten Bruchstücken von Gesprächen und 125
aus dem, was er daraus kombinierte. Er ahnte, daß Hulk und die Atlantisbesatzung im Besitz von Kenntnissen entscheidender Wichtigkeit waren, die den Kampf gegen die fremden außerirdischen Mächte betrafen. Wozu sonst diese Aktivität der Anhänger der Orguren! Nicht nur seine persönliche Angelegenheit also schloß die Zusammenarbeit mit Polizei und Behörden aus. Diesen Brief würde er an Stelle von Frau Nora überbringen. Dr. Hartl, das wußte er von Rundfunknachrichten, war einer der Raumflieger der „Atlantis“, Vertreter Hulks. Bei ihm wollte er sich Rat holen, was weiter zu tun sei. Sein Entschluß war schnell gefaßt. Er nutzte das Durcheinander, das jetzt noch herrschte, um geräuschlos aus dem Hause zu verschwinden, zum Flugzeug zu laufen und mit der Maschine in das Dunkel der Nacht zu starten. Wilms überbrachte Dr. Hartl den Brief Hulks. Hartl erkannte rasch, daß er Wilms vertrauen konnte. Zusammen mit seinem Freund Haslinger setzte er ihn auf die Fährte Sorianos, den sie für die Entführung der beiden Frauen und des kleinen Nils verantwortlich machten. Die Männer spürten Soriano auf, versuchten, ihn nach einer öffentlichen Aussprache zu entführen, mußten sich aber mit Baron Kerenyi begnügen. * Endlich hatte die kleine Gruppe der „Terra“ mit ihren Führern die unterirdischen Höhlen des Mondes erreicht. Ein Gewölbe von beträchtlichen Ausmaßen öffnete sich, gedämpftes Licht kleiner Glühlampen verlor sich rasch in der Finsternis. Plötzlich stand Lee vor ihnen, in ebenso verschlissenem Pelzmantel, mit ebenso wachsfarbenem Gesicht, wie die, welche sie bisher trafen, schüttelte ihnen die Hände. Glad to see 126
you – erfreut, Sie zu sehen. Das war alles, was er in diesem feierlichen Augenblick über die Lippen brachte. Danach mußten sie noch hundert Hände schütteln. Hulk und Olafson sahen alte Bekannte wieder. Als die Nachricht von der Landung der „Terra“ hier eintraf, war jede Arbeit eingestellt worden. Von allen, auch den entferntesten Außenposten, holte man die Männer heran. Mit Ausnahme weniger Sicherungen war alles versammelt. Man nötigte die vier, sich auf einer mit Decken belegten, aus dem Fels herausgearbeiteten Bank niederzusetzen, und alle taten desgleichen. „Sollen wir uns hier in diesem großen Kreise besprechen? Das wird schwer möglich sein“, zweifelte Olafson. „Weshalb nicht?“ entgegnete Lee. „Halten Sie sich vor Augen, unter welchen Verhältnissen wir hier seit Jahren leben! Jeder von uns hat diesen Tag ersehnt. Soll ich heute die ausschließen, die mit mir die vielen Monate der Not durchgestanden haben?“ Hulk entgegnete: „Nein, Lee! Wir sind nicht durch die Öde des leeren Raumes hierhergekommen, um euren Männern Vorträge zu halten und unsere Erlebnisse auszutauschen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Es geht um sehr viel Wichtigeres, die Befreiung der Erde, und damit die eure!“ „Aber ich weiß ja selbst noch nicht, wie alles gekommen ist, wie es auf der Erde aussieht!“ Olafson vermittelte: „Per Holmgreen soll Ihren Männern erzählen; es wird Stunden dauern. Er seinerseits kann sich genau ins Bild setzen, wie die Lage hier ist. Inzwischen gehen wir mit Ihnen abseits, um zu beraten. Sie ziehen noch Ihre beiden besten Ingenieure zu, am liebsten Funktechniker! Wir müssen uns in dieser Besprechung entscheiden, ob wir sofort zur Erde fliegen oder länger hier bleiben.“ Lee überlegte. Dann rief er zwei Namen in die Versammlung und führte die Gäste in seine Wohnung. Ein Minimum von 127
Wohnung allerdings, eine noch nicht einmal durch eine Tür abgeteilte Höhlenkammer. Die Lagerstätte aus Pelzen und Decken am Boden, der Tisch und die Schemel hätten auch in eine Steinzeitbehausung gepaßt. Dort berichtete Hulk in gedrängter Kürze alles, was für Lee und seine beiden Ingenieure zu wissen notwendig war, und fuhr fort: „… somit sind wir imstande, mit der vom Mars geholten Substanz zweierlei zu bauen – Abwehrstrahler, die je nach Größe und Feldstärke in engerem oder weiterem Umkreis jede fremde Willensbeeinflussung abschirmen, dadurch, daß wir damit Schwingungen bisher unbekannter Art erzeugen. Sie interferieren mit denen gleicher Art, die vom Nervensystem der Orguren ausgehen und löschen sie aus. Ferner Befehlsstrahler, mit denen wir selbst willensbeeinflussende Schwingungen aussenden können, dadurch, daß wir einer künstlich erzeugten Strahlung die von unserem Gehirn ausgehenden Rhythmen aufprägen.“ „Es trifft also zu, was ich schon immer vermutet habe“, meinte einer der Ingenieure, „daß es sich bei dieser Willensbeeinflussung um nichts Metaphysisches, Übersinnliches, handelt, sondern um elektrische Wellen, deren Frequenz Sie kennen! Warum erzeugen Sie sie nicht einfach nach den üblichen Methoden?“ „Weil die Sache ganz so einfach doch nicht ist, sonst wäre die irdische Physik längst dahinter gekommen. Es handelt sich nicht um Wellen elektromagnetischer Struktur, wie Funk-, Wärme- und Lichtschwingungen, sondern um ein Etwas, das die Brücke der Gemeinsamkeit zwischen elektromagnetischen Schwingungen, Kraftfeldern der Schwere und der rätselhaften Kraft des Geistig-Seelischen bildet.“ Die Besichtigung des Lagers von Werkzeug, Geräteteilen und Material ergab, daß man zunächst nur einige kleine Abwehrstrahler bauen konnte, die in engem Umkreis fremde Willensbeeinflussung ausschalteten. Für die Herstellung von Strah128
lern, mit denen man selbst den Willen anderer lenken konnte, fehlte einiges Spezialmaterial. Der Zeitbedarf für ihren Bau war größer, Versuchsreihen mußten durchgeführt werden; erwünscht waren weitere hochqualifizierte Funkspezialisten und Feinmechaniker. Daraus ergab sich der Schluß: einige kleine Abwehrgeräte sollten mit den vorhandenen Mitteln konstruiert und erprobt werden. Sobald als möglich sollte dann Per Holmgreen zur Erde fliegen, Raumpiloten aus dem Kreis der Unter-Mond-Leute, durch das Los bestimmt, würden ihn begleiten. Baldigst sollte er mit Spezialisten und den fehlenden Hilfsmitteln zurückkommen, vor allem auch mit Nachrichten von der Erde und den Angehörigen. Ohne Zeitverlust ging man an die Ausführung. * Zehn Tage später landete die „Terra“ auf der Erde. Nicht, wie die Insassen zuerst ins Auge gefaßt hatten, abseits bewohnter Länder irgendwo in der Arktis, sondern mitten in Europa auf dem kleinen See, an dem Hartl wohnte. Diesseits der abschirmenden Hochatmosphäreschichten hatten sie mit diesem verschlüsselte Funksprüche gewechselt, dieser Landeplatz war ihnen bezeichnet worden, sie wurden durch Peilzeichen eingewiesen. Es war ein unfreundlicher, regnerischer Wintertag, der Westwind brachte Regenschauer mit und wühlte das kleine Gewässer so tief auf, daß die Wellen Schaumkronen führten. Als es nach einem starken Guß eine kurze Weile heller wurde, lag der Körper des Raumschiffes mitten im See. Von der kleinen Landebrücke am Sonnenhof legte ein Motorboot mit Dr. Hartl und Wilms ab. Während der kurzen Anfahrt bemerkten sie, daß sechs Gestalten frei auf der Außenhülle 129
des Raumschiffes standen, sich reckten und ihnen zuwinkten; sich durch den neuen Regenguß nicht stören ließen. Sie genossen ganz offensichtlich Wind und Regen der Erde als etwas Langentbehrtes. Schon dieser erste Anblick gab ein Rätsel auf. Fünf Männer waren von Torgatten Ö abgeflogen, sechs kehrten aus dem All zurück. Wilms strengte seine Augen an, endlich erkannte er Per Holmgreen, aber alle anderen waren Fremde. Hartl und Wilms erwiderten beim Anlegen am Raumschiff die fröhlichen Rufe nicht, sie hatten ja als erstes Unglücksbotschaften zu überbringen. Die ausgetauschten Zurufe drehten sich nur um das sachlich Notwendige. Das Boot sollte zuerst mit vier Männern ans Ufer fahren, dann mit Ablösung auch für die beiden anderen zurückkommen. Das Raumschiff sollte einstweilen im See verankert werden. In den Minuten der Wasserfahrt zum Ufer entlud sich die beiderseits aufgestaute Spannung nicht vollständig. Sie äußerte sich in kurzen, inhaltsschweren Fragen: „Was ist nun eigentlich los“, „ist die ‚Terra’ hier nicht gefährdet?“, „was ist mit meinen Angehörigen?“, „was ist in Torgatten Ö geschehen?“, und von seiten Hartls: „Habt ihr Erfolg gehabt?“, „wo sind Olafson und die anderen?“ Sie sahen bald ein, daß ein überlastetes kleines Außenbordmotor-Boot, an dessen Bordwänden man sich festhalten mußte, um nicht ins Wasser zu fallen, nicht der richtige Ort war, Fragen zu beantworten, hinter deren jeder eine ganze Geschichte stand. Doch als sie am Sonnenhof anlegten, wußten Hartl und Wilms, daß die „Terra“ auf dem Mond gelandet war, daß Per Holmgreen allein für kurze Zeit gekommen war und fünf Männer aus Lunopolis mitbrachte, die seit zwei Jahren dort abgeschnitten gewesen waren. Sie ihrerseits hatten auf die drängenden Fragen Pers nach dem Befinden seines Vaters, Asta Torsens und Frau Noras ausweichend geantwortet. Die Ankömmlinge wurden ins Haus geführt und sahen sich in einem Raum, 130
in dessen hohen Kamin ein helles Holzfeuer brannte, einer reich besetzten Frühstückstafel gegenüber. Per Holmgreens Geduld war zu Ende, er wandte sich an den Hausherrn: „Nun sagen Sie mir schnell, was geschehen ist. Ich sehe hier als einzigen Bekannten Wilms. Sie verheimlichen mir etwas. Ich bin keine alte Jungfer, der man etwas schonend beibringen muß!“ Hartl antwortete: „Setzen wir uns erst. Was geschehen ist, wird für Sie unfaßbar sein, wie für uns die Tatsache, daß Verschollene aus Lunopolis leibhaftig unter uns sind. Wilms soll erzählen!“ Dieser berichtete nun als einziger Augenzeuge den Tod des alten Holmgreen, die Entführung Asta Torsens, Frau Noras und Nils. Dies traf Per Holmgreen wie ein Hieb. Er meinte, sein Herzschlag müsse aussetzen. Mühsam fragte er weiter: „Sind auch die anderen tot, meine Braut, Frau Nora, Nils?“ „Nein, bestimmt nicht, aber sie sind ins Invasionsgebiet verschleppt worden.“ Von der Frühstückstafel war jäh alle Fröhlichkeit verscheucht. Per Holmgreen war zumute, als ob sein Ich sich gespalten hätte: die eine Hälfte war in einen bodenlosen Abgrund seelischen Leids gestürzt, die andere registrierte dies alles sachlich nüchtern. In hastigen Sätzen schilderte Wilms alle Einzelheiten, die polizeiliche Vernehmung, seinen Entschluß, auf eigene Faust zu handeln, die Entführung des Barons Kerenyi und seine gewaltsame Befragung, durch die man zwar den genauen Hergang der Entführung erfuhr und die Tatsache, daß ein Flugzeug sie nach Soerabaja auf Java gebracht hätte, damit sie von dort weiter verschickt würden – nach der man aber auch die Aussichtslosigkeit jeden Befreiungsversuches einsehen mußte. Die drei Geraubten im Machtgebiet der Orguren aufzufinden und zu retten, das ging über menschliche Kräfte. 131
Eine lange Pause entstand, ehe das Gespräch wieder auflebte. Hartl redete von den großen Weltereignissen. In Per Holmgreens Ohren klopfte das Blut, er vermochte den ersten Teil der Schilderung nur lückenhaft aufzunehmen. Was in seine Vorstellung drang, läßt sich etwa so niederschreiben: „Stillegung und Zerstörung der großen Waffenwerke in aller Welt – Revolten, Unruhen, Putsche, heute hier, morgen da – unverständliche Plötzlichkeit und Gewalt dieser Bewegungen – immer nur kleine Gebiete erfaßt, aber gerade die neuralgischen Punkte, Zentren der Staaten und der Wirtschaft – Epidemien des Wahnsinns – ganze Volksvertretungen setzten fremde, ihnen suggerierte Befehle in Parlamentsbeschlüsse um – Süd- und Mittelamerika fest in den Händen der Orgurenanhänger.“ Zwischenfragen unterbrachen: „Nordamerika? Europa – England – Rußland?“ Holmgreen erwachte aus der Benommenheit, faßte besser auf, was Hartl weiter ausführte: „Die Regierungen halten sich noch, man hat gelernt, sich in gewissem Maße anzupassen, aber es ist ein aussichtsloser Kampf, gegen solche Zermürbungstaktik ist auf die Dauer nicht aufzukommen. Wenn Sie morgen nach München oder Wien reisen, wissen Sie nicht, ob Sie nicht selbst von einem solchen Ausbruch des Irrsinns erfaßt werden, ob Sie dann nicht inmitten einer von Massenwahn ergriffenen Menge Verkehrsmittel, öffentliche Gebäude und Fabriken zerstören helfen, ob Sie nicht mit einer ausgerissenen Zaunlatte auf die Schaltorgane eines automatischen Fernsprechamts einschlagen. Das geschieht bald in dieser, bald in jener Großstadt. Am nächsten Tag ist dann wieder alles vorüber, die Menschen erwachen aus ihrer Verzauberung. Nur die rauchenden Trümmer beweisen, daß es nicht nur ein Traum war. Die Wirkung auf Staat und Wirtschaft malen Sie sich selbst aus. Der Tag ist abzusehen, an dem die Revolution der Orgurenanhänger die ganze Erde überschwemmt.“ 132
„Was ist mit Torgatten Ö?“ hörte Holmgreen sich selbst fragen. „Es ist ein Stützpunkt der Orguren, fest in ihrer Hand. Wir wüßten es nicht einmal, wenn es nicht noch vor der Zeit des großen Durcheinanders geschehen wäre. Damals, um die Jahreswende, waren noch alle Zeitungen voll davon. Polizisten, Beamte der Untersuchungskommission, verließen in panischem Schrecken die Insel, gezwungen durch Befehle aus dem Nichts. Seither hat sie niemand betreten. Ein Willenskraftfeld ist dort errichtet, Schiffe und Flugzeuge vermeiden es, in die Nähe zu kommen. Für uns war es der Anlaß, nach einem Mittel zu suchen, die Terrabesatzung zu warnen. Es schien erst fast aussichtslos, denn wir konnten ja keinen der großen Sender besetzen, die die Heavysideschicht durchschlagen. Wenn ich von ‚wir’ spreche, so meine ich den Atlantisbund, zu dem alle hier im Hause gehören. Schließlich nahmen wir Verbindung auf mit Professor Consigliere in Turin, Erfinder eines Klein-Atom-Aggregats. Ein solches steht hier im Haus, ein Uranbrenner in der Größe eines Kabinenkoffers; er liefert uns den Strom, zu dem sonst ein ganzes Kraftwerk nötig wäre. In Tag- und Nachtarbeit haben wir einen daran angepaßten Sender gebaut, seit zwanzig Tagen arbeitet er, sendet gerichtete Wellen zum Mond, auf der Frequenz des geheimen Mondsenders, unabhörbar, an Erdorten nicht aufzunehmen. Alle zwei Stunden sandten wir automatisch den kurzen Spruch, den Sie glücklicherweise aufgenommen haben, immer die gleichen elf Worte, um eine Entschlüsselung in Lunopolis selbst unmöglich zu machen. Erst, als Sie gestern sich zum ersten Male in der Erdatmosphäre meldeten, haben wir die Funkrufe eingestellt.“ Das Gespräch zwischen den Männern spielte sich nicht ganz so ab, wie hier verzeichnet, es entwickelte sich aus Fragen und Gegenfragen, hielt sich an keine Regeln logischen Aufbaus. 133
Nun warf es das Wort Lunopolis in eine neue Bahn. Die fünf am Tisch, die zwei Jahre lang im T-Höhlensystem eingeschlossen waren, malten in abgerissenen Sätzen, in ganz alltäglichen, keineswegs dramatisch gesteigerten Worten die Unterwelt unter der Mondstadt, ihr Leben darin bis zu dem Tag, an dem auf sie, die Glücklichen, das Los fiel, als erste zur Erde zu fliegen. In der nächsten halben Stunde wurde beraten, wie man die Familien unauffällig verständigen könnte. Ein unerwartet schwieriges Problem! Auf keinen Fall durfte durch das Auftauchen der längst Verschollenen Verdacht und Aufsehen erregt werden, man hatte die heilige Pflicht, die Kameraden nicht noch zuletzt zu gefährden. Es gab nur eine Möglichkeit. Die nächsten Angehörigen mußten unter einem Vorwand an einen dritten Ort bestellt werden, an dem Männer des Atlantisbundes Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatten. Sie mußten dort von der Berührung mit der Welt einstweilen abgeschlossen werden. Per beteiligte sich nicht an diesen Erörterungen, er war auch nicht imstande, etwas zu essen oder zu trinken, aber seine Gedanken arbeiteten mit sprengender Kraft. Er gab Wilms einen Wink; sie gingen abseits, in eine Fensternische, und redeten dort eine Zeitlang miteinander. Als Holmgreen danach an den Tisch zurückkam, entledigte er sich seines Auftrages, dessentwillen er allein von den Marsfliegern zur Erde geschickt worden war, übergab Hartl eine Liste des gewünschten Materials und eine Liste der benötigten Spezialisten. Hartl überflog sie. „Das läßt sich machen – in zehn Tagen, sagen wir.“ „Unmöglich! Es kommt darauf an, daß man in den Höhlen unter Lunopolis erst einmal genaue Nachricht von der Erde bekommt. Lieber verzichten wir auf einige Dinge, wenn sie sich nicht schneller besorgen lassen. Und dann – glauben Sie denn, daß die ‚Terra’ hier so lange auf dem See liegen kann, ohne 134
Verdacht zu erregen? Es war sowieso angesichts dieser Lage ein ziemlich tollkühnes Stück, uns hierher zu dirigieren.“ „Das lassen Sie meine Sorge sein; hier liegt sie sicherer als anderswo. Sie weicht ja in der Form nicht sehr von den Fernverkehrsraketen ab, für Neugierige erfinde ich etwas und setze es vorsorglich im Dorf in Umlauf. Zugute kommt uns, daß man jetzt überall andere Sorgen hat und eine solche Dreistigkeit nicht leicht für möglich hält. Wir selbst sind immun gegen die Fremdbeeinflussung, der Sonnenhof ist mit Metallnetzen abgeschirmt. Gegen Überraschungen verfügen wir über recht beträchtliche Mengen Energie in Form von Starkstrom. Aber Sie haben recht, es muß in sehr viel kürzerer Zeit geschafft werden! Sie brauchen sich um nichts zu bekümmern, ich erledige alles, damit Sie frisch sind, wenn Sie in wenigen Tagen den Rückflug antreten.“ „Ihr Anerbieten nehme ich dankend an. Es ist eine unerwartet günstige Lösung. Nur, ich selbst fliege nicht zum Mond zurück.“ Dieses Wort Per Holmgreens erregte in diesem Kreise, der sich wahrhaftig nicht mit alltäglichen Problemen beschäftigte, ungeteilte Aufmerksamkeit. Alle Gespräche verstummten. Hartls Kopf zuckte hoch. „Wieso? Nicht zurückfliegen? Vor einer Stunde sagten Sie noch das Gegenteil! Es ist doch Ihr Auftrag!“ „Nach, allem, was ich hier erfuhr, habe ich es mir anders überlegt. Ich fliege dorthin, wohin meine Braut, Nora und Nils verschleppt worden sind. Ich will Olafson nicht diese Nachricht überbringen. Wilms kommt mit mir, wir fliegen mit seinem Flugzeug. Ich bitte nur um eine Maschine und einen Piloten, der Wilms in seine Heimat fliegt, dann kann er mit der Gloria 29 in ein paar Stunden hier sein. Wir wollen noch heute starten!“ „Nein!“ Hartl hieb mit der Faust auf den Tisch, daß das Ge135
schirr klirrte. „Darauf kann ich mich als der verantwortliche Verbindungsmann, als der ich mich fühle, unter keinen Umständen einlassen! Ihre Braut und Frau Nora und deren Sohn werden befreit, sobald wir die Erde befreien!“ Holmgreen ließ davon ab, das Kaminfeuer zu betrachten, wendete sich mitsamt seinem Stuhl voll Hartl zu. „Ich bin ganz wach und klar! Hören Sie ruhig meine Gründe an: In meiner Manteltasche habe ich einen winzigen Strahler, ein Abwehrgerät gegen jede Fremdbeeinflussung. In den letzten Tagen zusammengebaut und erprobt, er stellt einen absoluten Hypnoseschutz dar. Diesen Strahler nehme ich mit, er sichert uns. Dazu noch einen Kleinsender-Empfänger, mit dem ich mit Ihnen in Verbindung bleibe. Die anderen beiden Abwehrstrahler, die wir mitgebracht haben, stehen Ihnen als Schutz bei wichtigen Reisen zur Verfügung, damit es Ihnen nicht so geht, wie Sie es vorhin geschildert haben. Wilms und ich haben nichts anderes vor, als Erkundung, Feststellung, wo die Entführten geblieben sind. Einer der Ihren fliegt an meiner Stelle zum Mond, nimmt die Spezialisten mit, überbringt das Material, erzählt von den Ereignissen auf der Erde und sagt Olafson nichts von der Entführung seiner Frau und seines Sohnes. Erst dann, wenn wir eine gute Nachricht haben, soll er es erfahren. Olafson ist sehr wichtig als Konstrukteur, er ist nächst Khumar Singh am tiefsten in die Geheimnisse der Marstechnik eingedrungen. Er würde ausfallen, wenn ihn dieser Schlag so überraschend trifft wie mich, seit Jahren ist er von etwas labiler geistiger Konstruktion. Man muß ihm also eine Notlüge erzählen, die Seinen wären wohlauf – irgendwo in Sicherheit, ich sei unterwegs zu ihnen. Das kann ein anderer besser als ich. Olafson darf nicht ausfallen, während es ganz belanglos ist, ob ich oder ein anderer mit der ‚Terra’ zurückfliegt. Nun sehen Sie wohl ein, daß ich nicht so unvernünftig bin, wie Sie dachten.“ 136
Die danach entstehende Schweigepause wurde durch einen der mit der „Terra“ eingetroffenen Raumflieger unterbrochen, der erklärte: „Ich fliege freiwillig zum Mond und weise die Besatzung ein; bin der einzige von uns, der keine Angehörigen hat.“ Hartl, auf den alle im Zimmer gespannt sahen, ging zu einer auf einem Rauchtisch brennenden Kerze und zündete sich daran eine Zigarre an. Dann sagte er: „Das gibt der Sache ein anderes Gesicht. Es ist zwar eine grobe Eigenmächtigkeit von Ihnen, Holmgreen, aber nicht so verrückt, daß ich Sie gewaltsam daran hindern werde! Tun Sie also, was Sie verantworten zu können glauben. Einer von uns wird an Ihrer Stelle zum Mond fliegen. Vielleicht auch ich selbst; ich weiß es noch nicht.“ „Vielen Dank, Doktor! Glauben Sie mir, was mir mein Instinkt jetzt zu tun gebietet, ist das Richtige!“ Hartl zuckte die Achseln: „Hoffen wir es! Dann also an die Arbeit!“ Am Spätnachmittag traf Wilms mit der Maschine Gloria 29 ein, und sie flogen gleich weiter. Im Laufe des Abends brachten sie den europäischen Kontinent hinter sich, trafen gegen Mitternacht in Athen ein und schliefen bis zum Morgen. Ergänzten Betriebsstoff und vertauschten ihre europäischen Anzüge gegen Tropenkleidung. Auf dem weiteren Flug machten sie nur eine längere Pause in Delhi. In Kanton kauften sie Zeltausrüstung, Medikamente, Moskitonetze, Konserven, Waffen, füllten den Laderaum bis zur Grenze der Tragfähigkeit damit und mit Betriebsstoff. Als es zum dritten Male nach dem Start Abend wurde, flogen sie in die Dämmerung hinaus, ungewissem Schicksal entgegen. Das Unternehmen war ein großes Wagnis, trotz des Abwehrstrahlers. Das kleine Gerät lag auf einem Kartentischchen neben dem Steuersitz. Wilms und er selbst hatten den Handgriff, mit dem man ihn ein- und ausschaltete, solange eingeübt, bis sie ihn automatenhaft beherrschten. 137
Eine Stunde verging, bis linker Hand und voraus die Umrisse gebirgiger Inseln auftauchten. Per flog so hoch, wie es die Beladung des Flugzeugs zuließ, aber er wußte wohl, daß das kein Schutz war. Jeden Augenblick war er darauf gefaßt, die purpurnen Strahlen aufleuchten zu sehen. Doch nichts geschah. Die Philippinen lagen tief unter der Maschine. Alle Einzelheiten der Landschaft zeichneten sich klar im fahlen Mondschein, der den Dingen die harten Umrisse nahm. Diese Minuten mußten die Entscheidung bringen. Alle Sinne, alle Aufmerksamkeit, spannte er an, es war nicht festzustellen, daß er anders reagierte als sonst. Die Beklemmung wich, er weckte Wilms. „Alles in Ordnung“, sagte Per aufatmend. „Wir sind längst über dem Invasionsgebiet. Entweder haben wir ein Loch in der Sperre erwischt, oder sie besteht nicht mehr oder nur zeitweilig!“ Sie gaben sich nicht damit ab, dieses Problem weiter zu erörtern. Unter ihnen lag eine ins Meer vordringende Halbinsel. Sie wurden auf eine sehr regelmäßig angelegte Siedlung aufmerksam, die als Fremdkörper in der umgebenden Wildnis lag. Sie gingen tiefer hinab und fanden mehr solche Landschaften. In den gleichmäßigen Urwaldteppich waren große Löcher eingeschnitten, mit bestellten Feldern und wie mit einem Lineal ausgerichteten Wohnsiedlungen, gruppiert um einen kreisrunden Platz mit einem Turm. In der großen Ebene im Süden Mindanaos häuften sich diese Anlagen, Bilder nüchternster, kältester Sachlichkeit. Dieser Blick von oben zeigte sehr eindringlich, daß eine fremde Lebensform ein ganzes Erdgebiet in wenigen Jahren zielsicher verwandelt hatte, eine Lebensform, in der Menschen mit ganz fremden Geschöpfen in einer durch psychische Kraft erzwungenen Symbiose lebten. Dann lag offene See zu ihren Füßen, lange Zeit. Sie suchten Thaivu, die Insel, auf der Per fünfzehn Monate zugebracht hatte. 138
Thaivu fanden sie nicht, jedoch eine kleine Laguneninsel, die als erster Standort für weitere Unternehmungen geeignet schien. Sie wasserten in der inneren Lagune, fanden das Eiland menschenleer und verschliefen den Rest der Nacht und den folgenden Tag. Die Frage stand vor ihnen, was nun weiter geschehen sollte. Sie beschlossen, in großen Etappen westwärts zu fliegen. Holmgreen und Wilms machten eine Beobachtung, die sich als bedeutungsvoll erweisen sollte. In den dunklen Nachtstunden trat immer wieder ein bestimmtes Störgeräusch auf, das im Empfänger die ganze Wellenskala überlagerte. Wilms meinte, daß es von den Gleitschiffen ausgehen könnte, die die fremde Macht im Invasionsgebiet bauen ließ und benutzte. Gerüchte darüber waren durch die Sperre gedrungen. Sie sollten von starken Elektronenstrahlen angetrieben sein. Diese Annahme bestätigte sich bald. In der siebenten Nacht auf der Vulkaninsel traten die Störgeräusche besonders stark auf. 1500 Kilometer weiter waren sie im innersten Bereich der feindlichen Großmacht und verhielten sich entsprechend vorsichtig. Die Insel war fast ganz mit Urwald bedeckt, Siedlungen fanden sich nicht darauf. Mit dem Abwehrstrahler, sicher gegen Fremdbeeinflussung, zogen sie von Eingeborenen oder Weißen Erkundigungen ein. Einmal mußte der Zufall einen Anhalt geben, wo man die Verschleppten suchen könnte. An einem dieser Tage, ehe sie noch mit diesem Vorhaben begonnen hatten, in der heißesten Mittagszeit, ruhte Holmgreen in der Flugzeugkabine. Im Steuerraum hatte Wilms die Wache am Funkgerät. Auch er kämpfte mit dem Schlaf. Plötzlich schreckte er auf, riß die übergestreiften Kopfhörer herunter. „Wieder die verdammten Störungen!“ schimpfte er laut. „Um diese Zeit?“ fragte Per schläfrig. 139
Wilms schwieg. Er warf schon Buchstaben, Worte auf seinen Notizblock. Bis zu seinem Platz konnte Holmgreen das feine Singen von Morsezeichen in den Hörern wahrnehmen. Er fuhr aus seinem Dahindämmern auf und trat neben Wilms. Dieser legte seinen Bleistift fort, trommelte mit den Fingern, horchte. Es kamen keine weiteren Zeichen. „Laß sehen! Was das war? Ein Anruf? Von wem?“ Wilms reichte das Papier, und Per las mit wachsendem Erstaunen: SOS – SOS – SOS. Hier Nils Olafson. Sucht uns beim großen Sammellager – Nordküste einer Insel – Dreiecksbucht. – Dahinter zwei Berge, die zusammen wie ein großes M aussehen. Nils Olafson. SOS. Per Holmgreen hielt den Zettel, der für sie einen Ruf des Schicksals bedeutete, lange in der Hand. Er sprang ans Ufer und lief trotz der Gluthitze oftmals auf und nieder. Jeder Zweifel war ausgeschlossen, dies war eine Botschaft seines kleinen Vetters Nils, gegeben mit einem sehr kräftigen elektrischen Gerät, vermutlich durch Ein- und Ausschalten der Antriebsvorrichtung eines Gleitschiffes. Die Quelle der Zeichen konnte nicht allzu fern sein, höchstens 200, 300 Kilometer. Ein phantastischer Zufall hatte sie an ihr Ohr dringen lassen. Er kletterte zu Wilms in die Maschine. Dieser hatte eine Skizze auf Papier geworfen und gab sie Per. „So könnte es etwa aussehen!“ Tagelang suchten sie die Umgebung ab. Endlich fanden sie eine Insel, auf die die Beschreibung paßte. Sie landeten in der Dunkelheit. Jetzt konnte ihnen nur noch ein Zufall helfen. Der Zufall kam. In der vierten Nacht ihrer Anwesenheit auf der Insel begegneten sie dem ersten Menschen, sie stießen im Dunkel fast mit ihm zusammen. Es war ein einzelner, älterer Weißer, der in Richtung auf ein umzäuntes Lager ging. Wilms zwang ihn mit vorgehaltenem Revolver, sich still zu verhalten und ihnen zu folgen. 140
Ihr Gefangener war nach der ersten Verblüffung keineswegs ängstlich. Er behandelte die beiden mit überlegener Ironie. „So“, sagte er, „jetzt werden Sie mit mir zurück ins Lager gehen. Eigentlich müßten Sie mich kennen. Ich bin der Arzt und darf mich frei bewegen, für mich bürgen drei andere. Ich hoffe, daß Sie so viel Anstand haben, nicht andere und die Kranken für Sie leiden zu lassen.“ „Hören Sie mich an, Doktor!“ griff. Holmgreen ein. „Sie sind im Irrtum, wir sind gar keine Lagerinsassen. Alles, – was ich Ihnen jetzt sage, ist die volle Wahrheit.“ Per Holmgreen erzählte schnell das Wichtigste, ohne den sicheren Schutz, über den er verfügte, zu erwähnen, und nannte die Namen derer, die er suchte. Der Arzt hörte ihm mit undurchdringlichem Gesicht zu, umsomehr war Holmgreen erstaunt und erfreut, als er dann sagte: „Wenn alles wirklich stimmt, was Sie behaupten, dann haben Sie großes Glück. Ihre Verwandten und Fräulein Torsen sind noch hier, liegen abseits vom Lager in einem Plantagenhaus in einer früheren Teepflanzung.“ Er wies mit ausgestrecktem Arm in eine Richtung. „Dort drüben, Sie können es nicht verfehlen. Dennoch rate ich ab, die Flucht zu versuchen und Ihre Verwandten dazu zu überreden. Im Augenblick, in dem entdeckt wird, daß sie fehlen, wird das Feld fremden Willens vielfach verstärkt, und wenn sie bis dahin die Insel noch nicht verlas-. sen haben, kommen sie freiwillig wieder zurück.“ „Auch dagegen haben wir ein Schutzmittel!“ „Ich kann es mir denken. Metallenen Kopfschutz! Verlassen Sie sich nicht darauf, er ist unwirksam gegen die starken Kraftfelder, die bei Alarm verwendet werden.“ Holmgreen machte eine abwehrende Handbewegung, und dann stürmten die beiden Männer in der angegebenen Richtung davon. Weniger als eine Stunde später klopften Per und Wilms an 141
das Fenster des Plantagenhäuschens und weckten die Frauen und Nils. „Endlich finde ich dich, Asta!“ Dieser Ausruf Holmgreens blieb die einzige Gefühlsäußerung. Mit weiteren hielt man sich nicht auf. Für die beiden Frauen kam der Umschwung von Mutlosigkeit zu kühnen Hoffnungen so plötzlich, daß sie gar nicht erst fragten, woher Per und Wilms kamen, und sich allen Anordnungen fügten. Auf der langen Flucht erzählte Nils, wie er es fertig brachte, den Notruf zu senden. Jugendlich begeistert für alles Technische, verschaffte er sich Zutritt auf die am Hafen in der Bucht liegenden fremdartigen Gleitschiffe, indem er sich mit menschlichen Bedienungsmannschaften und Atois anfreundete. In einem unbewachten Augenblick hatte er deren Funkanlage benutzt. Als die Flüchtlinge endlich freie Inseln erreichten, erfuhren sie, daß die Orguren und Atois aus dem Invasionsgebiet in die Kulturländer ausgeschwärmt sind. * Die Herstellung der Superwaffen war für die Orguren eine tödliche Gefahr. Sie handelten durchaus folgerichtig, wenn sie die unheimliche Waffe der Willensbeeinflussung einsetzten, um die Vorbereitungen zu zerschlagen. Sie mußten schon jetzt die Erdherrschaft übernehmen, um diese Gefahr ein für allemal auszuschalten. Daraus ergab sich, daß es nur noch eine einzige mögliche Form einer Gegenorganisation gab, die eines Geheimbundes mit verschiedenen Graden des Wissens. So entstand der Atlantikbund. Als Per Holmgreen am 3. Februar mit der „Terra“ landete – in eine Lage hinein, in der sich das Gefüge der öffentlichen Ordnung schon merklich zu lockern begann, ohne daß es bereits 142
zu größeren Zusammenbrüchen gekommen war – waren überall schon Keimzellen einer völlig dezentralisierten, dennoch einsatzbereiten Organisation geschaffen. Von diesem Tage an erwuchs dem Atlantikbund die erste Aufgabe, Verbindung mit den im T-Höhlensystem auf dem Mond Eingeschlossenen aufrechtzuerhalten. Hartl hielt sie für wichtig genug, um selbst am Rückflug der „Terra“ teilzunehmen. Er brachte den Eingeschlossenen Spezialisten fehlendes Material, Waffen, und nahm von dort die positive Aussicht auf Rettung und Schicksalswende mit. Sie wirkte zurück auf die Spannkraft und Arbeitsfreudigkeit der Zentrale des Atlantikbundes. Von dort strahlte Zuversicht weiter aus, überall hin, wo Gruppen entstanden waren, wenn es auch nicht möglich war, selbst andeutungsweise in größerem Kreise über Einzelheiten zu sprechen. In der Folgezeit entwickelten sich die Dinge so, wie es die Männer der Atlantisbesatzung voraussagten, zur Übernahme der Macht durch die Orguren und damit zum Umsturz aller Erdverhältnisse. Gelenkt durch zweckmäßige, genau formulierte Befehle, die aus dem Nichts in allen Köpfen gleichzeitig entstanden, rotteten sich die Massen zusammen, besetzten die Regierungsgebäude, Flugplätze, Nachrichten- und Verkehrsknotenpunkte. Hier und da stießen sie auf Widerstand aus Gebäuden und aus Panzerwagen, aber die bewaffnete Macht, soweit sie außerhalb der Kasernen war, schloß sich der Menge an. Manchmal verlief alles ohne einen Schuß, manchmal gab es ein furchtbares Blutbad. Dieser Alptraum dauerte Stunden oder Tage, dann war ebenso plötzlich alles vorbei, die Massen erwachten aus dem Anfall, aber diesmal waren die Schlüsselstellungen mit zuverlässigen Anhängern der Orguren besetzt, in ihren Händen waren die Waffen und die Mittel öffentlicher Propaganda. Sie bemächtigten sich damit der Leitung der Millionenmasse des Volkes und brachten es bald dahin, wo sie es haben wollten. Sie sorgten 143
dafür, daß die Gegner, unter denen man in den Tagen des Paniksturms gründlich aufgeräumt hatte, nicht wieder die Oberhand bekommen konnten. Es gab auch für den Atlantisbund Rückschläge, mehrfach kam vor, daß ganze Gruppen unter dem Willenseinfluß der erdfremden Macht ausfielen. Mit dem Fortschreiten der Krise wurde es immer schwieriger, die Fühlung aufrechtzuerhalten. Noch rechtzeitig zog man daraus die Folgerung, alle verborgenen Stützpunkte in den Kulturländern aufzugeben. Der innere Ring, verdichtet durch tüchtige Mitarbeiter, zog sich auf eine der kleinsten, weltvergessenen Orkneyinseln zurück, die einem der Mitglieder gehörte. Dort war vorsorglich Lebensbedarf aller Art eingelagert worden. Während die ganze Erde in Chaos versank, aus dem die Orguren zielsicher ihre neue Lebensform aufrichteten, überlebte der Atlantisbund. Man fand in der Not technische Mittel, eine lose Verbindung von diesem geheimen Mittelpunkt zu einigen Landesgruppen in Europa und Amerika zu halten. * Der ereignisschwere 19. April brach an. An diesem Tage irdischer Zeitrechnung hallte eine Folge von Donnerschlägen durch die Höhlen der Unterwelt des T-Systems. Luftdruck preßte die Männer an das Gestein. Immer wiederholt und jedesmal schwächer kam das rollende Toben aus der Tiefe als Echo zurück. Schwer mit Waffen, Kopfschutz, Blendlaternen, Werkzeug, Leitern und allerlei fremdartigem Gerät bepackte Männer stürmten vorwärts, krochen und kletterten über kantige Gesteinstrümmer, aus denen noch der Rauch der Explosionsgase quoll. Das war die X-Zeit. Die rund 200 Männer in den T-Höhlen, die seit Jahren auf diese Stunde gewartet hatten, waren in Stoßtrupps eingeteilt und in diesem Augenblick alle in Bewegung. 144
Waffen und die neuen Willensstrahler sollten die Entscheidung bringen, es war alles auf eine Karte gesetzt. Bei den vordersten Trupps, die die lebenswichtigen Punkte von Lunopolis besetzen sollten, befand sich die Führung des Unternehmens, befanden sich Khumar Singh, Olafson, Hulk und der englische Major Reeves, der als Fachmann den Plan ausgearbeitet hatte. Die zweite, stärkste Welle, sollte den Kampf um die Wohnbezirke von Lunopolis führen, die dritte durch die geöffneten Schleusentore sofort ins Freie vorstoßen. Hulk hatte den Auftrag, mit einem starken Trupp zur Schaltzentrale des Mondspiegels vorzustoßen. Der Gang war von fremdartigen Beleuchtungskörpern hell erleuchtet. Plötzlich verlosch die Lichterkette. Hulk atmete auf, alles schien gut zu gehen, die eigenen Leute mußten die unweit der vierten Sprengstelle gelegene Energiezentrale von Lunopolis lahmgelegt haben. Er sah auf seine Uhr – noch drei Minuten. Als die Zeit um war, stürzte er voran. Ohrenbetäubender Lärm, Schüsse und Geschrei füllten die Kuppelhalle. Hulk hörte es nicht. Er ließ das Licht seiner Laterne über eine seltsame Anlage wandern. Es waren hintereinanderliegende Reihen mannshoher Organe aus Metall und Glas, von zahllosen bunten Kontrollämpchen verwirrend erhellt, durch unentwirrbare Massen von Drähten an den Hohlspiegel angeschlossen. Offenbar Schalt- und Stromverteilungsanlagen, aber anders angeordnet, als es ihm in Erinnerung war. Der Spindelkörper, groß wie ein Torpedo, doch mehr ausgebaucht, schien nur deshalb frei zu schweben, weil er mit Ketten und Trägern aus dunklem Material befestigt war. Es wurde ihm nicht klar, welche Aufgabe diese Instrumente erfüllten. Als er sich losriß, war der Tumult schon zu Ende. Den mitgeführten Willensstrahler hatte man nicht anzuwenden brauchen, der planlose Widerstand der Fremden in der Halle war rasch gebrochen worden, die rund 25 Menschen befanden sich 145
schon unter Bewachung in der Nähe des Eingangs, Atois, zum kleineren Teil irdische Menschen, nicht Mongolen, eher Südländer, Italiener oder Südamerikaner. Hulk ließ eine Sicherheitswache zurück und ging mit der größeren Hälfte seines Trupps hinaus in das Höhlensystem der Mondstadt, die Gefangenen zwischen den eigenen Leuten. Sie liefen in die Richtung, aus der jetzt ein Aufruhr von Tönen durch das Labyrinth hallte. Es war weniger Kampflärm als ein an- und abschwellendes Brausen, aus dem dröhnende rhythmische Schläge wie von einem Riesengong heraus klangen. Höllisches rotes Licht zuckte in der Ferne vor ihnen auf. Sie liefen vorwärts, bis ein weiteres Vordringen hier unmöglich wurde. Weiter voraus waren Felsblöcke aus der Gewölbedecke gestürzt, die, je näher der Zentrale, je mehr den Gang auffüllten. „Hier rechts hinein!“ hörte er sie rufen. Ein unbeschädigter Tunnel öffnete sich. Bangen Herzens dachte Hulk an die Gefährten, die dort jetzt im Zentrum Opfer unbekannter Gewalten geworden waren. Atomenergie mußte entfesselt worden sein. Zerstörten die Orguren Lunopolis? Vernichteten sie sich zusammen mit den Angreifern? Diese Befürchtungen ließen Hulk und seinen Trupp jedoch keine Minute nutzlos versäumen. Sie verfolgten einen der Höhlenschläuche, die wie konzentrische Ringe den Zentralpunkt umschlossen. Ihr Weg endete in mittlerer Höhe der großen Raumschiffhalle. Sie lag an der äußersten Peripherie von Lunopolis, durch riesige Schleusentore hatte sie unmittelbare Verbindung zur Außenwelt. In diese Mammuthöhlung mündeten Schächte aus allen drei Stockwerken der Mondstadt, durch ein System befahrbarer, sich spiralig absenkender Galerien konnte man den Hallenboden erreichen. Aus der Tiefe klang gleichmäßiges Summen und Brausen wie von einer großen Volksmenge. Hulk trat an die Brüstung und spähte hinab. 146
Unten wimmelte eine wohl tausendköpfige Masse exotischer Menschen, Atois, um die massigen Walzenkörper dreier Raumschiffe, die die Abmessungen der Halle ahnen ließen. Auf den Galeriestraßen aber bewegte sich ein nicht abreißender Gespensterzug von Atois abwärts, zwischen ihnen immer wieder einzelne Menschen, niemals jedoch Orguren. Kein einziges der fremden Geschöpfe schien sich in der großen Halle zu befinden. Aufatmend trat Hulk zurück. Seine fiebernde Erregung hatte nachgelassen, da ihm der günstige Ausgang des Unternehmens so sichtbar vor Augen stand. Er postierte die Männer seines Trupps an eine Stelle, von der sie mit dem Willensstrahler gegebenenfalls in die Tiefe der Halle wirken konnten und ging selbst, um sich neue Anweisungen zu holen. Er traf Reeves, den Kampfführer, auf der Galerie, selbst verwundet, mit verbundener Schulter, dennoch Befehle erteilend und Melder abfertigend. Hulk berichtete konzentriert sein bisheriges Erleben, zeigte, an welcher Stelle sich sein Trupp befand. Reeves dankte, gab ihm sofort einen neuen Auftrag, mit Iversen, der sich mit einer Anzahl Sanitätsmannschaften dicht in der Nähe befinden mußte, nochmals so weit wie möglich gegen Punkt Omega vorzugehen und sich über den Zustand der Nachrichten- und Senderzentrale zu informieren. Hulk fand Iversen und seine Leute, von ihm bekam er zum ersten Male einen Überblick über die Lage. Nach allen eingelaufenen Nachrichten war der Kampf günstig verlaufen, wenn auch nicht überall so glatt und verlustlos wie bei Hulks und Fabrys Trupp. Der Punkt Omega war in der Zwischenzeit zur beherrschenden Zentrale der Mondstadt ausgebaut worden, in der die Orguren hausten, die sich auch hier absonderten. Nur wenige von ihnen waren bei Angriffsbeginn außerhalb dieser Zentralanlage und hatten sich sofort dorthin zurückgezogen. So wirksam sich die Willensstrahler gegen Menschen und Atois erwiesen, so 147
zweifellos versagten sie gegen die Orguren – eine für den weiteren Kampf wenig ermutigende Tatsache. Lee, der hier führte, war es gelungen, in die Zentrale der Orguren einzudringen. Bald danach erfolgte der Glutausbruch und der Einsturz des ganzen zentralen Komplexes, der ihn zusammen mit den Orguren begrub. Zwei Erklärungen gab es: entweder vernichteten die Orguren sich zusammen mit ihren Feinden – oder Lee hatte den mitgeführten Atomsprengstoff angewendet, sich und seine Leute geopfert, um den Erfolg zu ermöglichen. Wenn diese letzte Deutung zutraf, war der Besitz von Lunopolis dieses beispiellose Opfer wert? So fragte Hulk, Olafson bejahte. „Sehen Sie selbst“, sagte er und führte Iversen und Hulk an die Schaltanlage, die diesem bei der flüchtigen Untersuchung Kopfzerbrechen verursacht hatte. Er schaltete Strom ein. Sofort erfüllte ein Rauschen und Summen die Luft. Unhörbar drehten sich riesige radähnliche Scheiben der unbekannten Maschinen, in kristallenen Fenstern darin glühte rubinrotes und purpurnes Licht. Ihre Blicke wurden auf den großen, wohl fünf Meter im Durchmesser haltenden Hohlspiegel gelenkt, in dem ein klares und genaues Abbild der umrollenden Erde entstanden war. Ein Bild der augenblicklich dem Mond zugewendeten Hälfte mit Festländern und Ozeanen, Inseln und Stadtgebieten in ihren natürlichen Farben. Der Dämmerungsring schied Tag und Nacht, ein zarter luftblauer Schleier überlagerte im Gebiet des Tageslichts die blauen und grauen Tönungen der Wasserflächen, die grünen, braunen und gelben der Festländer, die blauweißen der Polkappen und Hochgebirge. Große Flächen waren vom streifigen Weiß der Wolken verdeckt. Olafson erläuterte: „Der große Mondspiegel im Mare Crisium ist mit diesem Schaltwerk gekoppelt. Werden hier durch 148
Einrichten des Vektorstabes auf eine Stelle des Erdbildes die entsprechenden Leitwege freigegeben, so wirft der Mondspiegel nicht Sonnenstrahlen auf den anvisierten Erdpunkt, sondern von einem großen Parabelspiegel auf dem Valierkrater abgestrahlte Wellen. Schwingungen der gleichen Art, wie sie in unserem Willensstrahler angewendet werden. Auf der Erde werden sie auf einer Fläche von 80 bis 150 Quadratkilometern wirksam. Äußerst schwache Wellen, die sich jedem wissenschaftlichen Nachweis entziehen, auf die kein gebräuchliches Instrument anspricht, jedoch das menschliche Zentralnervensystem, das die übermittelten Befehle und das Geforderte in Wollen und Tat umsetzt.“ „Woher stammt die ungeheure Energie?“ fragte Iversen. „Aus der Atomkraftzentrale von Lunopolis, sie wird auf dem Gipfel des Valierkraters in die der Erdphysik bisher unbekannten Schwingungen umgeformt, diese werden mit den Ausstrahlungen des Gehirns der Orguren überlagert. Dies alles wird ferngesteuert.“ „Und das Sonnenlicht?“ „Wird natürlich bei diesem Vorgang in ganz andere Richtung zurückgeworfen.“ Hulk schlug sich an die Stirn. „Deshalb konnte niemand auf Erden auf die Vermutung kommen, daß es der Mondspiegel war, der die unerklärliche Willensbeeinflussung verursachte. Die Orguren benutzen den Mondspiegel, um ihren Willen auf der Erde zur Geltung zu bringen. Womöglich befand sich auch hier die zentrale Leitung der Orguren für Mond und Erde.“ „Keiner von unseren Gefangenen weiß es.“ Die überraschende Lösung des Rätsels der Erdrevolution der letzten Monate und die Entschleierung des Geheimnisses der Anlage ließ Hulk und Iversen verstummen. Olafson schaltete den Strom aus, und das Bild der Erde verschwand. Iversen fand Worte: „Man bekommt geradezu Entsetzen vor 149
dieser Übertechnik. Können wir denn hoffen, mit Intelligenzen fertig zu werden, die diese Anlage erdacht und in so kurzer Zeit in die Wirklichkeit umgesetzt haben?“ Diesmal antwortete Khumar Singh: „Den geistigen Rang, den Menschen oder die fremden Geschöpfe einnehmen, kann man nicht nach der Feinheit und Vollkommenheit ihrer technischen Werte bemessen. Jedes technische Ding ist im Grunde nur grobe Nachbildung dessen, was in der Natur irgendwie schon verwirklicht ist, auch dieses. Die Orguren sind uns deshalb nicht überlegen.“ In einem unbeschädigten Arbeitsraum der Mondstadt fand eine Tagesspanne nach der glücklichen Durchführung des Handstreichs die Führerbesprechung statt, die über die Art der Fortführung des Kampfes entschied. * Am gleichen Tage übernahm der Atlantisbund – der in den letzten Monaten nicht weniger intensive Vorbereitungsarbeit geleistet hatte, in London, Berlin und Washington die Regierungsgewalt, unter Mitwirkung des Mondspiegels. In der letzten Phase der Befreiung Europas erreichte Hulk die Nachricht von einem harten Ringen um die deutsche Energiezentrale, die ganz Mitteleuropa mit Strom versorgte. An diesem neuralgischen Punkt der Wirtschaft hatte sich Soriano, Statthalter der Europa-Union für die Orguren, mit einer Elite seiner Anhänger verschanzt. 15 Tage tobte der Kampf. Mit Hilfe des Mondspiegels waren alle oberirdischen Einrichtungen besetzt worden; aber unter der Erde machte man nur schrittweise Fortschritte, denn die Willensstrahler wirkten hier nur auf kurze Strecken. In der kreuz und quer untertunnelten Gegend mußte Stollen um Stollen, Schacht um Schacht, genommen werden. 150
Als Hulk persönlich eintraf, hatten sich die Spitzen der Angriffstrupps dem Herzen der Anlage auf wenige hundert Meter genähert. Hulk ordnete an, daß man durch Funk zur Übergabe aufforderte, er selbst sprach in das Mikrophon, suchte die Eingeschlossenen von der Aussichtslosigkeit ihres Widerstandes zu überzeugen, sicherte freien Abzug zu, wenn sofort der Kampf eingestellt würde. Nachmittag wurde es, ohne daß eine Antwort erfolgte; die gesetzte Frist war abgelaufen. Plötzlich war der Weg frei, die Verteidiger hatten den Kampf abgebrochen. Hulk ging mit den Stoßtrupps vor, war anwesend, als die in das Zentralwerk Eingedrungenen die Leiche Sorianos fanden, und hatte dann einen Anblick, der wie ein furchtbarer Schlag auf ihn wirkte. In einem anstoßenden Raum lag Eva Maria. Sie war tot. Aus den Aussagen von Überläufern und Gefangenen war inzwischen offenbar geworden, was sich vor zwei oder drei Stunden hier zugetragen hatte. Hulk hörte den Bericht unbewegten Gesichts an. In der Zentrale der Verteidigung, die Soriano selbst leitete, häuften sich die Nachrichten vom Abbröckeln der Front. Die Waffe, die früher den Sieg brachte, überlegener Wille, Beeinflussung des menschlichen Bewußtseins, wurde mit unbekannten Apparaten nun gegen sie selbst angewendet, hatte sie hier von der Erdoberfläche vertrieben, engte sie immer mehr ein. Dann kam das Angebot der Belagerer, freien Abzug zu gewähren. Er rief die 80 Führer der Verteidigungstruppen zusammen und suchte sie nochmals unter seinen Willen zu zwingen. Man würde auf die Bedingungen eingehen, das Werk übergeben. Fünf Stunden nach dem Abzug der Verteidiger sollte eine versteckt angebrachte, mit einer Zündschnur gekoppelte Auslösung die hier lagernden Bestände von Uran 235 und Plutonium zur atomaren Explosion bringen. „Es wird ihnen dann die Freude an ihrem Sieg vergehen, und wir sind längst außer151
halb des Gebiets, das von der Katastrophe betroffen wird!“ schloß er. Ein Teil der Führer und Ingenieure, die er brauchte, weil er selbst nichts von Technik verstand, versagte gegenüber diesem von teuflischem Haß eingegebenen Plan die Gefolgschaft. Ein heftiger Streit entbrannte. Niemand achtete darauf, daß die Tür sich öffnete und Eva Maria Hulk eintrat. Soriano sah sie erst, als sie dicht vor ihm stand, mit blassem Gesicht und flackernden Augen. „Was hast du hier zu suchen?“ schrie er sie an. Es waren seine letzten Worte. Eva Maria erschoß ihn mit einer Maschinenpistole, die sie unter ihrem Mantel verbarg. Auch sie fiel fast im gleichen Augenblick als Opfer der Rache von Sorianos unentwegten Anhängern. * Zu dieser Zeit des weltweiten Kleinkrieges lebten sechs Menschen auf Rauru in einer Oase des Friedens und der Beschaulichkeit nach bestandenen Abenteuern, vergangenem Grauen. Dann war eines Tages ein Flugzeug da, mit Olafson, Khumar Singh und drei Raumpiloten aus Lunopolis. Sie brachten Willensstrahler mit und die Erlaubnis Hulks, den Plan auszuführen. Drei Tage später war zur verabredeten Stunde der Mondspiegel auf die mittlere Nordküste von Allor gerichtet. Per und Wilms flogen zusammen mit den Raumpiloten hinüber. 24 Stunden später kam Per Holmgreen allein mit der Maschine zurück, um alle übrigen zu holen. Er konnte einen Überraschungssieg melden. Das große Durchgangslager war dem Einfluß der Orguren mit Hilfe der konzentrierten Gegenstrahlung entzogen worden. Die Gruppe der dortigen Aktivisten unter Dr. Jesberg – alle frühere Mitglieder von Kampfbünden, die strafverschickt waren – unterstützte sie und internierte ihrerseits die Atois und die Anhänger der fremden Erdherrschaft. Nur mit Mühe hatte man sie daran hindern können, den Turm der Orgu152
ren anzugreifen. Zwei Raumschiffe, viele Flugzeuge und Wasserfahrzeuge waren ihnen an diesem Knotenpunkt in die Hand gefallen. So gab es plötzlich mitten im Invasionsgebiet einen Stützpunkt, und alle Maßnahmen wurden sofort eingeleitet, um ihn auch halten zu können. Die Atois, denen es gelang, sich der Gefangennahme zu entziehen, waren in den Turm geflohen, sie umgaben ihn in engem Umkreis mit einer Sperre von Astverhau. Nichts ließ darauf schließen, daß sich die Orguren von der Insel zurückgezogen hatten. Niemals war man bei allen bisherigen Kämpfen der fremden Geschöpfe selbst habhaft geworden. Die Strahler schienen gegen sie unwirksam zu sein. Sie verschwanden im letzten Augenblick und zerstörten ihre Bauten oder sie vernichteten sich selbst in diesen, wenn es keinen Ausweg mehr gab. Würden sie sich im Zentrum ihrer Macht anders verhalten? Khumar Singh, aus seiner Zuschauerrolle heraustretend, tat seinen Entschluß kund, mit den Orguren zu verhandeln, und bestimmte Olafson und Nora, ihn zu begleiten. Olafson und Nora hatten für alle Fälle zwei der kleinen Strahler mitgenommen. Parkähnlicher Wald umgab den Hügel, auf dem der große Rundturm stand, tiefe Stille herrschte im Umkreis der Zwingburg. Ein Tor stand offen zu einer Eingangshalle, in welcher der Schritt auf fliesenbedecktem Boden dröhnte. Dort erwartete sie ein Atoipriester, eine hohe Gestalt, in rot wallende Seide gehüllt, mit halb verdecktem Gesicht, der ihnen nun voranschritt. Sie tauchten in einen in weiter Spirale sich senkenden Tunnelgang mit glatten Wänden. Dann öffnete sich eine größere Halle, erfüllt von düsterem Licht. Sie waren am Ziel. Vor einer Schmalwand des Raumes waren in einigem Abstand drei Sitze für sie bereit, auf die sie 153
sich niederließen. Die begrenzende Wand bestand ganz aus einem glasähnlich das Licht zurückwerfendem Medium, dahinter war in schwärzestem Dunkel nichts mehr zu erkennen. Ihre Begleiter traten zurück und blieben regungslos an ihren Plätzen, während der Priester in rotseidenem Gewand die Arme breitete und Unverständliches murmelte, wie ein leise gesprochenes Gebet. Minutenlang erfolgte nichts. Frau Nora spürte Herzklopfen und unerträgliches Prickeln auf der Haut. Beobachteten die fremden Wesen sie jetzt, die selbst nicht gesehen werden wollten, vielleicht, weil sie das Groteske, Ernüchternde ihrer körperlichen Erscheinung auf menschliche Partner genau zu taxieren verstanden? Konnten die fremden Geschöpfe Gedanken lesen? Nein, das war sicher nicht der Fall, sonst hätte es nicht der Vermittlung der Atois bedurft. Sie überwand gewaltsam die Furcht, die sie beschleichen wollte. Nun redete der Priester mit fremdartigem Akzent: „Die Götter sind bereit, zu hören!“ Olafson tauschte einen Blick mit Khumar Singh, und als dieser zustimmend den Kopf bewegte, begann er: „Ehe wir verhandeln, muß geklärt werden, für welches Gebiet gilt, was wir vereinbaren. Uns geht es nicht nur um diesen Turm, um diese kleine Insel. Wir wollen mit der zentralen Leitung der Orguren auf der Erde sprechen. Man möge uns den Ort nennen, an dem sie sich befindet. Mit der Zentralleitung werden wir dann im Namen der ganzen Menschheit, für die zu sprechen wir befugt sind, verhandeln!“ Die Antwort des Priesters war überraschend, auch durch die fehlerfreie Folge seiner Worte: „Die Zentralleitung ist für euch ebenso unerkennbar wie für uns. Sie ist überall, wo Türme der Götter sind, aber es gibt keinen bestimmten Platz, an dem sie sich befindet.“ „Ich habe falsch verstanden. Das ist nicht denkbar, weil es 154
nicht mit den von uns ergründeten Gesetzen von Ursache und Wirkung übereinstimmt.“ Der Priester antwortete: „Ihr seid wenig fortgeschritten in der Erkenntnis der Welt, wenn ihr das nicht versteht. Euer eigener Körper ist eine Organisation von Milliarden Zellen. Wo ist denn der Ort, an dem sich die zentrale Leitung eures Zellenstaates befindet?“ „In unserem Gehirn, unserem wachen Bewußtsein!“ „Wir wußten nicht, daß ihr euch so wenig kennt. Ist es euer waches Bewußtsein, das die tausend Organe eures Körpers wachsen läßt, alle Mechanismen und chemischen Vorgänge reguliert und in Ordnung hält, Schäden ausbessert, Giftstoffe beseitigt?“ „Die irdische Wissenschaft ist der Ansicht, daß diese Vorgänge sich im Laufe der Entwicklung durch Anpassung und Auslese herausgebildet haben und automatisch ablaufen.“ „Dann glaubt ihr wohl auch, daß in den Insektenstaaten, im Bienenstock, im Ameisenhaufen, im Termitenbau, die aus frei beweglichen Einzelindividuen gebildet sind, alles zweckmäßige Handeln automatisch abläuft, denn auch eure Wissenschaft hat noch kein Einzelwesen darin entdeckt, das die Befehle gibt.“ „Wir können Unwirkliches, Erscheinungen außerhalb der Naturgesetze, nicht denken!“ „Es gibt nichts außerhalb der Naturgesetze, aber vieles, was an euren groben Sinnen im betäubenden Licht dieses Planeten spurlos vorübergeht. Wenn ihr zu den Göttern hier im Turm sprecht, redet ihr zu einem Etwas, das ihr als Geist oder Seele, als Gesamtindividuum aller Gottheiten auf Erden bezeichnen würdet, das nicht unwirklich ist, weil ihr es nicht sehen könnt.“ Khumar Singh schnitt Olafsons Entgegnung mit einer Handbewegung ab und übernahm die Fortführung des Gesprächs: „So spreche ich zu der uns erkennbaren Gesamtleitung der Orguren und fordere sie auf: Brecht den Kampf ab, verlaßt die 155
Erde! Noch vor Monaten waren wir bereit, einen Weg zu finden, mit euch zusammenzuleben, uns mit euch über den Lebensraum des Planeten friedlich auseinanderzusetzen, wenn ihr unsere älteren Rechte berücksichtigt hättet. Falls ihr darauf Verzicht leistetet, eure physische Kraft zum Raub unserer freien Selbstbestimmung zu verwenden. Inzwischen ist Unwiderrufliches geschehen, die ganze Erde wurde in Panik und Aufruhr gestürzt. Der Gesamtwille der Menschheit ist erst im Werden, nicht so fest und einheitlich wie der eure, wird es auch nie werden, weil es in unserer Natur liegt, den freien Willen der Einzelpersönlichkeit an die erste Stelle zu setzen. Aber er ist schon stark genug, euch zu vernichten. Wir wissen, daß wir mit unseren Abwehrwellen gegen euch selbst nichts ausrichten. Doch wir können euch alle materiellen Hilfsmittel entziehen. Wir sind imstande, die Atois von euch zu trennen, wir vermögen uns in den Besitz der Raumschiffe zu setzen. Ihr könnt uns jetzt nicht mehr daran hindern, starke Waffen gegen euch herzustellen. Ohne eure Helfer seid ihr zum Untergang bestimmt. Nicht einmal an die Vorderseite eures Heimatsterns könnte sich eure körperliche Organisation mehr anpassen, viel weniger an die Erde. Ihr vertragt nicht den irdischen Mondschein, und unser Sonnenlicht tötet euch. Wenn ihr den Kampf einstellt, biete ich freien Abzug für alle Orguren und Atois, sogar für die Menschen, die sich freiwillig, unbeeinflußt, euch anschließen wollen.“ Khumar Singh hielt inne. Eine lange Pause der Stille entstand. Kam keine Antwort? Bewegte sich nichts? Zweifellos veränderten sich die Reflexe auf der spiegelnden Schicht vor ihnen. Nora erkannte, daß sie hauchdünn sein mußte, ein wellenförmiges Zittern lief darüber hinweg. Ihre geschärften Sinne bemerkten auch schwache Töne, wie das An- und Abschwellen im Rauschen von fallendem Regen. Dann redete der Priester, 156
und sie lauschte mit aller Anspannung. War Ablehnung, was er sagte? War der Versuch gescheitert? „Es ist nicht alles verständlich, was gesprochen wurde, besonders nicht die Worte vom freien Willen des Individuums. Es scheint sich um eine, auch für uns Atois unbegreifliche Eigentümlichkeit einer niederen Seinsstufe zu handeln. Die Götter sind Träger einer höheren Idee und werden sie gegen überlebte Formen durchsetzen.“ Khumar Singh erhob sich. „Der Kampf muß dann zu Ende geführt werden.“ Als sie im Begriff waren, den Raum zu verlassen, hörten sie plötzlich die Stimme des Priesters: „Kommt morgen um dieselbe Tageszeit, ihr werdet die Entscheidung hören.“ Als die drei am nächsten Tag nach langem Verweilen im Turm der Orguren wieder ins Freie traten, erwartete sie vor der Sperre eine dicht gedrängte Menge ihrer Freunde. Die Gestalt Khumar Singhs straffte sich, er hob den Kopf: „Es ist gelungen! Frieden der Welten!“ In derselben Stunde gingen die Nachrichten hinaus. Khumar Singh sprach lange mit St. Kilda, übermittelte alle Einzelheiten, die gegenseitigen Bedingungen, veranlaßte die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen rings um die Erde. Es kam die Nacht vom 22/23. August, in der purpurne Strahlen dreimal aufglommen und verloschen, in der die Türme der Orguren plötzlich in Weißglut standen und in sich zusammenfielen, in der der Himmel über dem Inselmeer vom Feuerwerk startender Raumschiffe wie von einem Meteorfall erleuchtet wurde. Nach Tagen meldete die Sternwarte von Lunopolis, daß die Lichtspur des letzten Schwarms der fremden Raumschiffe in Weltenferne erloschen war. Es kam der 15. Oktober, an dem Hulk, der erwählte Erdpräsident, in der neuen Bundeshauptstadt Soerabaja vor den Abgesandten aller Nationen die vorläufige Verfassung der Erde verkündete. 157
Hulk schloß seine Ansprache mit den Worten: „In dieser Stunde lösen sich alle Kampfverbände des Atlantisbundes auf, die von der Aktionsleitung eingesetzten Verwaltungen übergeben ihr Amt an die neugewählten Staatenregierungen. Vor Beginn der Sitzung erhielt ich die Meldung, daß alle Willensstrahler abgeliefert und zerstört sind und daß in Lunopolis die Schaltungen beseitigt wurden, die eine Verwendung des Mondspiegels zur Willensbeeinflussung ermöglichen. Eine Wiederkehr der Gefahr aus dem Weltall ist so unwahrscheinlich, daß dies der Unmöglichkeit gleichzusetzen ist. Kein Prozeßablauf im Bereich des Lebendigen wiederholt sich nach kurzer Zeit in gleicher Weise.“ Es widersprach nicht dieser vor der Weltöffentlichkeit abgegebenen Erklärung, daß zweitausend Männer und Frauen, über fast alle Länder verstreut –, die Eingeschlossenen von Lunopolis, die Führenden des Atlantisbundes –, in enger Fühlung miteinander blieben, und daß sie sich weiter als Hüter und Wächter menschlicher Freiheit fühlten. Auch unter ihnen waren nur wenige, die wußten, wo der wirksame Stoff der Strahler geborgen war. Er befand sich im Kloster auf dem Hügel der fünfhundert Stufen. Dort wurde eine kleine Zahl junger Männer, unter ihnen Nils Olafson, von Khumar Singh darauf vorbereitet, sein geistiges Erbe zu übernehmen.
UTOPIA-Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden), Pabel-Haus, (Mitglied des Remagener Kreises e. V.). Einzelpreis DM 0,60. Anzeigenpreis laut Preisliste Nr. 6. Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. – Scan by Brrazo 07/2011
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