Jean Améry
Jenseits von Schuld und Sühne
Bewältigungsversuche eines Überwältigten
Szczesny Verlag München
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Jean Améry
Jenseits von Schuld und Sühne
Bewältigungsversuche eines Überwältigten
Szczesny Verlag München
2. Auflage © 1966 by Szczesny Verlag KG, München. Alle deutschsprachigen Rechte, auch die der photomechanischen Wiedergabe beim Szczesny Verlag KG, München. Satz und Druck: KöDruck, München. Schrift: Linotype-Garamond-Antiqua. Bindearbeiten: Rieder, Schrobenhausen. Entwurf des Schutzumschlags: Uta Maltz. Printed in Germany 1966
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Inhalt
Vorwort……………………………………………………………………..7 An den Grenzen des Geistes………………………………………………10 Die Tortur………………………………………………………………….41 Wieviel Heimat braucht der Mensch?..........................................................71 Ressentiments……………………………………………………………..101 Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein…………………………....131
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Vorwort Als im Jahre 1964 in Frankfurt der große Auschwitz-Prozeß begann, schrieb ich den ersten Aufsatz im Zusammenhang mit meinen Erlebnissen im Dritten Reich, nach zwanzig Jahren Schweigens. Ich dachte zunächst nicht an eine Fortsetzung, wollte mir nur über ein Sonderproblem - die Situation des Intellektuellen im Konzentrationslager - klar werden. Als aber diese Arbeit verfaßt war, spürte ich, daß es unmöglich damit sein Bewenden haben dürfe. Auschwitz. Doch wie war ich dahin gelangt? Was war vorher geschehen, was sollte nachher kommen, wie stehe ich heute da? Ich kann nicht sagen, daß ich in der Zeit der Stille die zwölf Jahre des deutschen und meines eigenen Schicksals vergessen oder „verdrängt" hätte. Ich hatte mich zwei Jahrzehnte lang auf der Suche nach der unverlierbaren Zeit befunden, nur, daß es mir schwer gewesen war, davon zu sprechen. Nun aber, da durch die Niederschrift des Essays über Auschwitz ein dumpfer Bann gebrochen schien, wollte plötzlich alles gesagt sein: so kam dieses Buch zustande. Dabei entdeckte ich, daß ich zwar manches bedacht, aber es viel zu wenig klar artikuliert hatte. Erst im Vollzug der Niederschrift entschleierte sich, was ich vorher in einer halbbewußten, an der Schwelle des sprachlichen Ausdrucks zögernden Denkträumerei undeutlich erschaut hatte. Bald zwang sich auch die Methode auf. Hatte ich noch in den ersten Zeilen des Auschwitz-Aufsatzes geglaubt, ich könne behutsam und distanziert bleiben und dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten, mußte ich nun erfahren, daß es einfach unmöglich war. Wo das „Ich" durchaus hätte vermieden werden sollen, erwies es sich als der einzig brauchbare Ansatzpunkt. Eine nachdenklich-essayistische Arbeit hatte ich geplant. Eine durch Meditationen gebrochene, persönliche Konfession entstand. Auch sah ich sehr schnell ein, wie sinnlos es wäre, den vielen, teilweise ausgezeichneten dokumentarischen Werken, die zu meinem Themenkreis schon vorliegen, noch ein weiteres beizufügen. Bekennend und meditierend gelangte ich zu einer Untersuchung oder, wenn man will, zu einer Wesensbeschreibung der OpferExistenz. Es war ein langsames und mühseliges Vorwärtstasten im bis zum Überdruß Bekannten, das gleichwohl fremd geblieben war. Darum sind auch in diesem Buch die Aufsätze nicht nach der Chronologie des Ereignisses angeordnet, sondern nach der Reihenfolge ihrer Entstehung. Der Leser, sofern er sich überhaupt darauf einlassen mag, sich mir zuzugesellen, muß mich denn wohl auch durch das Dunkel, das ich Schritt für Schritt erhellte, im gleichen Rhythmus begleiten. Dabei wird er auf Widersprüche stoßen, in denen ich mich selbst verfing. So war mir in dem Aufsatz über die Tortur noch durchaus unklar, welche Bedeutung dem Begriff der Würde zu geben sei, und ich tat ihn gleichsam mit einer Handbewegung ab, während ich später, in der Arbeit über mein Judesein zu erkennen glaubte, daß Würde das von der Gesellschaft vergebene Recht auf Leben ist. Ebenso hatte ich, über Auschwitz und Tortur schreibend, noch nicht mit hinlänglicher Deutlichkeit gesehen, daß meine Situation nicht voll enthalten ist im Begriff des „Naziopfers": erst als ich zum Ende kam und über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, nachdachte, fand ich mich im Bilde des jüdischen Opfers. Es ist in diesen Blättern, die unzulänglich sein mögen, von denen ich aber beteuern darf, daß sie aufrichtig sind, sehr viel von Schuld die Rede und auch von Sühne, denn ich mochte andere Empfindlichkeiten so wenig schonen wie meine eigene. Dennoch glaube ich, daß diese Arbeit als ein Befund jenseits der Frage von Schuld und Sühne steht. Es wurde beschrieben, wie es bestellt ist um einen Überwältigten, das ist alles. Ich wende mich in diesem Buch nicht an meine Schicksalsgefährten. Sie wissen Bescheid. Jeder von ihnen muß auf seine Weise die Erlebnislast mit sich
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tragen. Den Deutschen freilich, die in ihrer überwältigenden Mehrheit sich nicht oder nicht mehr betroffen fühlen von den zugleich finstersten und kennzeichnendsten Taten des Dritten Reiches, würde ich gern hier manches erzählen, was ihnen vordem vielleicht noch nicht eröffnet wurde. Schließlich hoffe ich manchmal, es sei diese Arbeit zu einem guten Ende gebracht worden: dann könnte sie alle angehen, die einander Mitmenschen sein wollen. Brüssel, 1966. Jean Amery
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An den Grenzen des Geistes Seien Sie vorsichtig, riet mir ein wohlmeinender Freund, als er von meinem Plan hörte, über den Intellektuellen in Auschwitz zu sprechen. Nachdrücklich empfahl er mir, von Auschwitz möglichst wenig und von den geistigen Fragen möglichst viel zu handeln. Auch meinte er, daß es angezeigt sei, wenn irgend angängig, zu verzichten, das Wort Auschwitz schon im Titel anzuführen: Das Publikum sei allergisch gegen diesen geographischen, geschichtlichen, politischen Begriff. Es gebe ja schließlich schon genug Auschwitz-Bücher und Auschwitz-Dokumente aller Art, und wer von den Greueln berichte, erzähle damit nichts Neues. Ich bin nicht sicher, daß mein Freund recht hat, und ich werde darum seinem Rat kaum folgen können. Ich habe nicht das Gefühl, daß über Auschwitz so viel geschrieben wurde wie, sagen wir, über die elektronische Musik oder den Bundestag von Bonn. Auch denke ich immer noch darüber nach, ob es nicht vielleicht geboten sei, gewisse AuschwitzBücher als Pflichtlektüre in den Oberklassen höherer Schulen einzuführen, und ob nicht überhaupt viele Rücksichten fallen müssen, wenn man politische Geistesgeschichte treiben will. Es ist wahr: ich will hier nicht von Auschwitz schlechthin erzählen, will keinen Dokumentarbericht geben, sondern habe mir vorgenommen, über die Konfrontation von Auschwitz und Geist zu sprechen. Aber dabei werde ich nicht ganz herumkommen um das, was man die Greuel nennt, um jene Vorgänge, denen gegenüber, wie Brecht es einst gesagt hat, die Herzen stark sind, aber die Nerven schwach. Mein Thema heißt: An den Grenzen des Geistes; daß diese Grenzen gerade längs der unbeliebten Greuel verlaufen, ist nicht meine Schuld. Wenn ich über den Intellektuellen oder, wie man früher gesagt hätte: über den „geistigen Menschen" in Auschwitz sprechen will, habe ich wohl meinen Gegenstand, eben jenen Intellektuellen, zuvor einmal zu definieren. Wer ist in dem von mir angenommenen Wortsinn ein Intellektueller oder ein geistiger Mensch? Gewiß nicht jeder Träger eines sogenannten Intelligenzberufes; höhere formale Bildung ist da vielleicht eine notwendige, sicher aber keine ausreichende Bedingung. Jeder von uns kennt Anwälte, Ingenieure, Ärzte, ja wahrscheinlich auch Philologen, die zwar intelligent und vielleicht sogar in ihren Fächern hervorragend sind, die man aber trotzdem kaum als Intellektuelle bezeichnen kann. Ein Intellektueller, wie ich ihn hier verstanden wissen möchte, ist ein Mensch, der innerhalb eines im weitesten Sinne geistigen Referenzsystems lebt. Sein Assoziationsraum ist ein wesentlich humanistischer oder geisteswissenschaftlicher. Er hat ein wohlausgestattetes ästhetisches Bewußtsein. Neigung und Befähigung drängen ihn zu abstrakten Gedankengängen. Vorstellungsreihen aus dem geistesgeschichtlichen Bereich stellen sich zu jeder Gelegenheit in ihm her. Fragt man ihn etwa, welcher berühmte Name mit den Silben „Lilien" beginne, dann fällt ihm nicht der Gleitflugkonstrukteur Otto von Lilienthal ein, sondern der Dichter Detlev von Liliencron. Gibt man ihm das Stichwort „Gesellschaft", faßt er es nicht mondän auf, sondern soziologisch. Der physikalische Vorgang, der zu einem Kurzschluß führt, interessiert ihn nicht; über den Dichter der höfischen Dorfpoesie Neidhart von Reuenthal aber weiß er Bescheid. Einen solchen Intellektuellen also, einen Mann, der Strophen großer Lyrik auswendig weiß, der die berühmten Gemälde der Renaissance und die des Surrealismus kennt, dem die Geschichte der Philosophie geläufig ist und die der Musik - einen solchen Intellektuellen werden wir dort stellen, wo es für ihn darauf ankam, die Wirklichkeit und Wirkungskraft seines Geistes zu erhärten oder für nichtig zu erklären, an einer Grenzsituation: in Auschwitz. Damit aber stelle ich natürlich mich selbst. Ich habe mich, in doppelter Eigenschaft, als Jude und Angehöriger der belgischen Resistance, außer in Buchenwald, Bergen-Belsen und noch anderen Konzentrationslagern auch Jahr
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lang in Auschwitz, genauer: im Nebenlager Auschwitz-Monowitz aufgehalten. Es wird darum wohl hier das Wörtchen „ich" öfter vorkommen müssen, als mir lieb ist, überall dort nämlich, wo ich das persönliche Erlebnis nicht ohne weiteres auch andern unterstellen kann. Zu bedenken ist in unserem Zusammenhang zunächst die äußere Situation des Intellektuellen, die er übrigens mit allen, auch den sonst nicht weiter geistigen Trägern der sogenannten Intelligenzberufe teilte. Es war eine ungute Lage, und am dramatischsten stellte sie sich dar in der lebens- und todesentscheidenden Frage des Arbeitseinsatzes. Die Handwerker in AuschwitzMonowitz wurden, sofern man sie nicht aus irgendwelchen, hier nicht weiter zu besprechenden Gründen auf der Stelle vergaste, meist ihren Berufen entsprechend eingeteilt. Ein Schlosser etwa war ein privilegierter Mann, da man ihn in der zu errichtenden IG-Farben-Fabrik brauchen konnte und er die Chance hatte, in einer gedeckten, der Witterung nicht ausgesetzten Werkstatt zu arbeiten. Das gleiche gilt für den Elektriker, den Installateur, den Tischler oder Zimmermann. Wer Schneider oder Schuster war, hatte vielleicht das Glück, in eine Stube zu kommen, wo man für die SS arbeitete. Für den Maurer, den Koch, den Radiotechniker, den Automechaniker gab es die Minimalchance eines erträglichen Arbeitsplatzes und damit des Überstehens. Anders war die Lage dessen, der einen Intelligenzberuf hatte. Ihn erwartete das Schicksal des Kaufmanns, der gleichfalls zum Lumpenproletariat im Lager gehörte, das heißt: er wurde einem Arbeitskommando zugeteilt, wo man Erde aufgrub, Kabel legte, Zementsäcke oder Eisentraversen transportierte. Er wurde im Lager zu einem unqualifizierten Arbeiter, der das Seine im Freien zu leisten hatte, womit meist schon das Urteil über ihn gesprochen war. Gewiß gab es auch hier Unterschiede. Chemiker etwa wurden in dem hier als Beispiel gewählten Lager in ihrem Beruf eingesetzt, wie mein Barackenkamerad Primo Levi aus Turin, der das Auschwitz-Buch „Ist das ein Mensch?" geschrieben hat. Für Ärzte gab es die Möglichkeit, in den sogenannten Krankenbauten unterzuschlüpfen, wenn auch natürlich nicht für alle. Der Wiener Arzt Dr. Viktor Frankl zum Beispiel, der heute ein weltbekannter Psychologe ist, war jahrelang in Auschwitz-Monowitz Erdarbeiter. Ganz allgemein kann man sagen, daß die Träger der Intelligenzberufe an der Arbeitsstelle übel dran waren. Viele trachteten denn auch, ihren Beruf zu verbergen. Wer nur über ein klein wenig manuelle Geschicklichkeit verfügte und vielleicht zu Bastelarbeiten fähig war, machte sich kühn zum Handwerker, wobei er freilich unter Umständen sein Leben riskierte, wenn nämlich herauskam, daß er die Unwahrheit gesagt hatte. Die Mehrzahl versuchte allemal ihr Glück mit Tiefstapelei. Der Gymnasialoder Universitätsprofessor, um seinen Beruf befragt, sagte verschämt „Lehrer", um nicht die berserkerische Wut des SS-Mannes oder Kapos herauszufordern. Der Rechtsanwalt verwandelte sich in den schlichteren Buchhalter, der Journalist gab sich vielleicht als Schriftsetzer aus, wobei wenig Gefahr bestand, daß er den Nachweis seines handwerklichen Könnens würde liefern müssen. So schleppten sie denn Schienen, Rohre und Bauholz, die Universitätslehrer, Anwälte, Bibliothekare, die Kunsthistoriker, Nationalökonomen, Mathematiker. Sie brachten meist wenig Geschick und nur geringe Körperkräfte hierfür mit und nur in seltenen Fällen währte es lange, bis sie aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden wurden und ins benachbarte Hauptlager kamen, wo die Gaskammern und Krematorien standen. War ihre Situation am Arbeitsplatz schwierig, so war sie im Innern des Lagers nicht besser. Das Lagerleben erforderte vor allem körperliche Gewandtheit und einen notwendigerweise hart an der Grenze der Brutalität liegenden physischen Mut. Mit beiden waren die Geistesarbeiter nur selten gesegnet, und die moralische Courage, die sie oft anstelle der körperlichen einsetzen wollten, war keinen Pfifferling wert. Es kam, sei einmal angenommen, darauf an, einen Warschauer professionellen Taschendieb daran
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zu hindern, daß er uns die Schnürsenkel stehle. Da half wohl unter Umständen ein Kinnhaken, keineswegs aber jene geistige Tapferkeit, mit der etwa ein politischer Journalist durch Veröffentlichung eines mißliebigen Artikels seine Existenz gefährdet. Überflüssig zu sagen, daß nur in sehr raren Fällen der Anwalt oder Gymnasiallehrer zum Kinnhaken kunstgerecht auszuholen wußte, ihn vielmehr weit öfter empfing und dabei im Nehmen kaum tüchtiger war als im Geben. Schlimm stand es auch in den Fragen der Lagerdisziplin. Wer draußen einen Intelligenzberuf ausgeübt hatte, besaß im allgemeinen wenig Begabung zum sogenannten Bettenbau. Ich erinnere mich gebildeter und kultivierter Kameraden, die allmorgendlich schweißtriefend mit Strohsack und Decken kämpften und doch nichts Rechtes zustande brachten, so daß sie dann an der Arbeitsstelle von der zur Zwangsvorstellung sich verdichtenden Befürchtung geplagt waren, beim Heimkommen mit Hieben oder Essensentzug bestraft zu werden. Sie waren weder dem Bettenbau gewachsen, noch dem zackigen „Mützen ab!" - und schon gar nicht trafen sie, wenn es sich fügte, dem Blockältesten oder SS-Mann gegenüber jene zugleich knapp devote und doch selbstbewußte Redeweise, mit der sich unter Umständen eine drohende Gefahr abwenden ließ. Sie waren darum im Lager selbst von Häftlingsvorgesetzten und Kameraden so wenig geachtet wie am Arbeitsplatz von Zivilarbeitern und Kapos. Schlimmer: sie fanden nicht einmal Freunde. Es war ihnen nämlich in den meisten Fallen eine physische Unmöglichkeit, sich frischweg des Lagerslangs zu bedienen, der die einzig akzeptierte Form gegenseitiger Verständigung war. Man spricht in der modernen geistigen Auseinandersetzung sehr viel von den Kommunikationsschwierigkeiten des Zeitgenossen und redet dabei manch steilen Unfug, der besser ungesagt bliebe. Nun, im Lager bestand das Kommunikationsproblem zwischen dem geistigen Menschen und der Mehrzahl seiner Kameraden; es stellte sich stündlich in realer, ja qualvoller Weise. Es war dem an einigermaßen differenzierte Ausdrucksweise gewohnten Häftling nur unter einem großen Aufwand von Selbstüberwindung möglich, „Hau ab!" zu sagen oder den Mithäftling ausschließlich mit „Mensch" anzusprechen. Ich erinnere mich nur allzu gut des körperlichen Widerwillens, der mich regelmäßig erfaßte, wenn ein sonst ganz ordentlicher und umgänglicher Kamerad niemals anders zu mir sagte als „mein lieber Mann". Der Intellektuelle litt unter Ausdrücken wie „Küchenbulle", „organisieren" (womit die widerrechtliche Aneignung von Gegenständen gemeint war), ja selbst Formeln wie „auf Transport gehen" brachte er nur schwer und zögernd über die Lippen. Damit aber komme ich zu den psychologischen und existentiellen Fundamentalproblemen des Lagerlebens und zum Intellektuellen im eingangs skizzierten engeren Sinn. Die Frage, die sich aufdrängt, heißt, auf ihre bündigste Formel reduziert: Haben Geistesbildung und intellektuelle Grunddisposition einem Lagerhäftling in den entscheidenden Momenten geholfen? Haben sie ihm das Überstehen erleichtert? Mir fiel, als ich mir diese Frage stellte, zunächst nicht mein eigener Auschwitzer Alltag ein, sondern das schöne Buch eines holländischen Freundes und Schicksalsgenossen, des Schriftstellers Nico Rost. Das Buch heißt „Goethe in Dachau". Ich nahm es nach Jahren wieder zur Hand und las darin Sätze, die mich traumhaft genug anmuteten. Da stand etwa: „Wollte eigentlich heute früh meine Aufzeichnungen über Hyperion vornehmen." Oder: „Wieder über Maimonides gelesen, von seinem Einfluß auf Albertus Magnus, Thomas von Aquin, Duns Scotus." Oder: „Bemühte mich heute während des Luftalarms wieder, an Herder zu denken..." Und dann, ganz und gar überraschend für mich: „Noch mehr lesen, noch mehr und intensiver studieren. In jeder freien Minute! Klassische Literatur als Ersatz für Rotkreuzpakete." Als ich diesen Sätzen nachging und sie mit meinen eigenen Lagererinnerungen konfrontierte, war ich tief beschämt, denn nichts habe ich Nico Rosts bewundernswerter, radikal geistiger Haltung an die Seite zu stellen.
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Nein, ich hätte ganz bestimmt nichts über Maimonides gelesen selbst wenn mir, was freilich in Auschwitz kaum denkbar war, ein einschlägiges Buch in die Hände gefallen wäre. Auch hätte ich sicher während des Luftalarms keinen Versuch gemacht, über Herder nachzudenken. Und die Zumutung, unter Umständen klassische Literatur als Ersatz für ein Lebensmittelpaket zu nehmen, hätte ich mehr verzweifelt als höhnisch zurückgewiesen. Ich schämte mich, wie gesagt, sehr, als ich das Buch des Kameraden aus Dachau las, bis es mir schließlich gelang, mich einigermaßen zu diskulpieren. Dabei dachte ich vielleicht nicht so sehr daran, daß Nico Rost in vergleichsweise bevorzugter Position als Pfleger in einer Krankenbaracke arbeitete, während ich selbst zur anonymen Masse der Häftlinge gehörte, als an die entscheidende Tatsache, daß der Holländer sich in Dachau befunden hatte, nicht in Auschwitz. Es lassen sich nämlich in der Tat diese beiden Lager nicht so einfach auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Dachau war eines der ersten nationalsozialistischen Konzentrationslager und hatte darum, wenn man so will, eine Tradition; Auschwitz war erst 1940 geschaffen worden und unterlag bis zum Schluß Improvisationen von Tag zu Tag. In Dachau herrschte unter den Häftlingen das politische Element vor, in Auschwitz aber bestand die weit überwiegende Mehrzahl der Häftlinge aus völlig unpolitischen Juden und politisch recht labilen Polen. In Dachau lag die innere Verwaltung zum größten Teil in den Händen politischer Häftlinge, in Auschwitz gaben deutsche Berufsverbrecher den Ton an. In Dachau gab es eine Lagerbibliothek, in Auschwitz war für den gewöhnlichen Häftling ein Buch etwas kaum noch Vorstellbares. Grundsätzlich bestand in Dachau - sowie auch in Buchenwald - für die Häftlinge die Möglichkeit, dem SS-Staat, der SSStruktur eine geistige Struktur entgegenzustellen: damit aber hatte dort der Geist eine soziale Funktion, auch wenn diese wesentlich politisch, religiös, ideologisch in Erscheinung trat und nur in seltenen Fällen, wie etwa bei Nico Rost, zugleich auch philosophisch und ästhetisch. In Auschwitz aber war der geistige Mensch isoliert, war ganz auf sich selbst gestellt. So erschien denn dort das Problem der Begegnung von Geist und Greuel in einer radikaleren und, wenn diese Formulierung hier erlaubt ist, in einer reineren Form. In Auschwitz war der Geist nichts als er selber, und es bestand keine Chance, ihn an eine auch noch so unzulängliche, noch so verborgene soziale Struktur zu montieren. Der Intellektuelle stand also allein mit seinem Geist, der nichts war als barer Bewußtseinsinhalt und sich nicht aufrichten und erhärten konnte an einer gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Beispiele, die sich hierfür geben lassen, sind teils trivial, teils aber müssen sie aus Seinsbereichen geholt werden, die nur schwer mitteilbar sind. Der Intellektuelle suchte, zumindest im Anfang noch, ständig nach der Möglichkeit sozialer Kundgebung des Geistes. In ein Gespräch mit dem Bettnachbarn etwa, der umständlich vom Küchenzettel seiner Frau erzählte, wollte er gerne die Feststellung einschmuggeln, daß er selbst daheim viel gelesen habe. Wenn er aber hierauf zum dreißigsten Mal die Antwort erhielt: „Scheiße, Mensch!", ließ er es bleiben. So nahm langsamerhand in Auschwitz alles Geistige eine zwiefach neue Gestalt an: Es wurde einerseits, psychologisch, zu etwas ganz und gar Irrealem und andererseits, sofern man es in sozialen Begriffen definiert, zu einer Art von unerlaubtem Luxus. Manchmal erlebte man diese neuen Tatsachen in tieferen Schichten, als jene es sind, in die man beim Schlaf Strohgespräch gelangen kann: dann verlor der Geist urplötzlich seine Grundqualität, die Transzendenz. Ich erinnere mich eines Winterabends, als wir uns nach der Arbeit im schlechten Gleichschritt unter dem entnervenden „Links zwei, drei, vier" der Kapos vom IG-Farben-Gelände ins Lager zurückschleppten und mir an einem halbfertigen Bau eine aus Gott weiß welchem Grunde davor wehende Fahne auffiel. „Die Mauern stehen sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen",
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murmelte ich assoziativ-mechanisch vor mich hin. Dann wiederholte ich die Strophe etwas lauter, lauschte dem Wortklang, versuchte dem Rhythmus nachzuspüren und erwartete, daß das seit Jahren mit diesem Hölderlingedicht für mich verbundene emotionelle und geistige Modell erscheinen werde. Nichts. Das Gedicht transzendierte die Wirklichkeit nicht mehr. Da stand es und war nur noch sachliche Aussage: so und so, und der Kapo brüllt „links", und die Suppe war dünn, und im Winde klirren die Fahnen. Vielleicht hätte sich das im psychischen Humus verkapselte Hölderlingefühl eingestellt, wäre da ein annähernd gleichartig gestimmter Kamerad gewesen, dem ich die Strophe hätte zitieren können. Das Schlimmste war, daß man den guten Kameraden nicht hatte, in der Kommandoreihe nicht - und wo im ganzen Lager? Gelang es aber doch, ihn einmal aufzustöbern, dann war er durch seine eigene Isoliertheit so geistentfremdet, daß er nicht mehr reagierte. Mir fällt da die Begegnung mit einem namhaften Philosophen aus Paris ein, der sich im Lager befand. Ich hatte von seiner Anwesenheit erfahren und hatte ihn nicht ohne Mühe und Gefahren in seinem Block aufgesucht. Wir trotteten mit unsren Blechnäpfen unterm Arm durch die Lagerstraßen, und vergebens versuchte ich, ein intellektuelles Gespräch in Gang zu bringen. Der Philosoph von der Sorbonne gab einsilbige mechanische Antworten und verstummte schließlich ganz. Sagt da irgend jemand „Abgestumpftheit"? Aber nein. Der Mann war nicht abgestumpft, so wenig wie ich selber. Er glaubte ganz einfach nicht mehr an die Wirklichkeit der geistigen Welt, und er verweigerte sich einem intellektuellen Sprachspiel, das hier keinen sozialen Bezug mehr hatte Eine besondere Problematik stellte sich im Zusammenhang mit der sozialen Funktion oder Nichtfunktion des Geistes dem jüdischen Intellektuellen deutschen Bildungshintergrundes. Was immer er anzurufen suchte, gehörte nicht ihm, sondern dem Feind. Beethoven. Aber den dirigierte in Berlin Furtwängler, und Furtwängler war eine geachtete offizielle Persönlichkeit des Dritten Reiches. Über Novalis standen Aufsätze im „Völkischen Beobachter", und die waren manchmal gar nicht so dumm. Nietzsche gehörte nicht nur dem Hitler, worüber noch hinwegzukommen gewesen wäre, sondern auch dem nazifreundlichen Lyriker Ernst Bertram; der verstand ihn. Von den Merseburger Zaubersprüchen bis Gottfried Benn, von Buxtehude bis Richard Strauss war das geistige und ästhetische Gut in den unbestrittenen und unbestreitbaren Besitz des Feindes übergegangen. Ein Kamerad, der einmal nach seinem Beruf gefragt worden war, hatte unsinnigerweise der Wahrheit gemäß gesagt, er sei Germanist, und das hatte den mörderischen Wutausbruch eines SS-Mannes hervorgerufen. In den gleichen Tagen hat, glaube ich, drüben in den USA Thomas Mann einmal gesagt: „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur." Der deutsch-jüdische Auschwitzhäftling hätte eine solch kühne Behauptung nicht aufstellen können, selbst wenn er zufällig ein Thomas Mann gewesen wäre. Er konnte die deutsche Kultur nicht als seinen Besitz reklamieren, weil sein Anspruch keinerlei soziale Rechtfertigung fand. In der Emigration konnte eine winzige Minderheit sich als deutsche Kultur konstituieren, auch dann, wenn ihr nicht gerade Thomas Mann zugehörte. In Auschwitz aber mußte der isolierte Einzelne noch dem letzten SS-Mann die gesamte deutsche Kultur samt Dürer und Reger, Gryphius und Trakl überlassen. Doch selbst wo es gelang, sich die naive und diskutable Illusion aufzubauen, vom „guten" und „bösen" Deutschland, vom miserablen Thorak, der dem Hitler gehören mochte, und dem großen Tilman Riemenschneider, dem man seine Solidarität aufdrängte - selbst dort mußte unweigerlich am Ende der Geist vor der Wirklichkeit versagen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, und es ist schwer, sie erst einmal auseinanderzuhalten und dann zur Synthese zu bringen, wie es geboten wäre. Absehen will ich von den bar physischen, wiewohl ich eigentlich nicht weiß, ob das statthaft ist, denn jeder Lagerhäftling stand ja schließlich unter dem Gesetz seiner mehr oder minder großen körperlichen
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Widerstandskraft. Klar ist jedenfalls, daß die ganze Frage der Wirkung des Geistes dort nicht mehr gestellt werden kann, wo das Subjekt, unmittelbar vor dem Hunger- und Erschöpfungstod stehend, nicht nur entgeistet, sondern im eigentlichen Wortsinn entmenscht ist. Der sogenannte „Muselmann", wie die Lagersprache den sich aufgebenden und von den Kameraden aufgegebenen Häftling nannte, hatte keinen Bewußtseinsraum mehr, in dem Gut oder Böse, Edel oder Gemein, Geistig oder Ungeistig sich gegenüberstehen konnten. Er war ein wankender Leichnam, ein Bündel physischer Funktionen in den letzten Zuckungen. Er muß, so schwer es uns fallen möge, aus unseren Erwägungen ausgeschlossen werden. Ich kann nur ausgehen von meiner eigenen Lage, der Lage eines Häftlings, der hungerte, aber nicht verhungerte, der geprügelt, aber nicht ganz zusammengeschlagen wurde, der Wunden hatte, aber keine tödlichen, der also objektiv noch jenes Substrat besaß, auf dem der Geist prinzipiell stehen und bestehen kann. Er stand aber allemal auf schwachen Füßen, und er bestand schlecht, das ist die ganze traurige Wahrheit. Vom Versagen, beziehungsweise dem wirkungslosen Verpuffen ästhetischer Vorstellungsreihen und Reminiszenzen habe ich bereits andeutend gesprochen. Sie waren in den meisten Fällen keine Tröstung, gelegentlich erschienen sie als Schmerz oder Hohn; am häufigsten versickerten sie in einem Gefühl vollkommener Indifferenz. Da gab es nun freilich Ausnahmen, und zwar in gewissen Rauschzuständen. Ich denke daran, wie mir einmal ein Pfleger des Krankenbaues einen Teller mit gesüßtem Gries schenkte, den ich gierig verschlang, wobei ich in den Zustand einer außerordentlichen geistigen Euphorie geriet. Mit tiefer Ergriffenheit dachte ich zunächst an das Phänomen der menschlichen Güte. Daran kettete sich die Vorstellung des wackeren Joachim Ziemßen aus dem „Zauberberg" Thomas Manns. Und plötzlich war mein Bewußtsein randvoll und chaotisch angefüllt mit Bücherinhalten, Bruchstücken gehörter Musik, eigenen, wie mir durchaus scheinen wollte, philosophischen Gedanken. Ein wildes Geistverlangen ergriff Besitz von mir, das begleitet war von durchdringendem Selbstmitleid und das mir Tränen in die Augen trieb. Dabei war ich mir aber in einer klar gebliebenen Bewußtseinsschicht des Pseudocharakters dieser nur Minuten währenden geistigen Erhebung voll bewußt. Es war ein echter, durch physische Einwirkung hervorgerufener Trunkenheitszustand. Nachträgliche Gespräche mit Kameraden erlauben mir den Schluß, daß ich keineswegs der einzige war, dem unter solchen Umständen eine kurzfristige geistige Aufrichtung gelang. Derlei Rauschgefühle stellten sich häufig auch bei Schicksalsgenossen ein, sei es beim Essen, sei es beim Genuß einer ungewohnt gewordenen Zigarette. Wie alle Räusche ließen sie ein ödes, katzenjammerhaftes Gefühl der Leere und Scham zurück. Sie waren zutiefst unecht, der Wert des Geistes erhärtet sich nur schlecht an ihnen. Doch erfüllt ja die ästhetische Vorstellung und alles, was in ihrem Gefolge daherkommen möge, nur einen begrenzten und gar nicht den wichtigsten Raum im Haushalt des geistigen Menschen. Wesentlicher ist das analytische Denken: von ihm dürften wir erwarten, daß es angesichts des Grauens zugleich Stütze und Wegweiser sei. Auch hier aber komme und kam ich zu enttäuschenden Bilanzen. Das rational-analytische Denken war im Lager und speziell in Auschwitz nicht nur keine Hilfe, sondern führte geradenwegs in eine tragische Dialektik der Selbstzerstörung. Was ich damit meine, ist leicht verdeutlicht. Zunächst einmal nahm der geistige Mensch die unvorstellbaren Zustände nicht so einfach als gegeben zur Kenntnis wie der ungeistige. Ein langes Training, die Erscheinungen der Alltagswirklichkeit in Frage zu stellen, verbot ihm das schlichte Eingehen auf die Lagerrealität, denn diese stand in allzu schroffem Gegensatz zu allem, was er bisher als möglich und dem Menschen zumutbar angesehen hatte. Er hatte in der Freiheit stets nur mit Leuten Umgang gehabt,
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die der human-vernünftigen Argumentation zugänglich waren, und durchaus wollte er nicht begreifen, was nun wahrhaftig gar nicht kompliziert war, nämlich: daß ihm, dem Häftling, gegenüber die SS eine Logik der Vernichtung gebrauchte, die in sich ebenso folgerichtig operierte wie draußen die Logik der Lebenserhaltung. Man mußte stets sauber rasiert sein, aber strengstens war verboten, Scherzeug zu besitzen, und zum Barbier kam man nur einmal in vierzehn Tagen. Es durfte am Zebragewand bei Strafe kein Knopf fehlen, wenn man aber bei der Arbeit einen verlor, was unvermeidlich war, dann gab es praktisch kaum die Möglichkeit, ihn zu ersetzen. Man mußte kräftig sein, aber man wurde systematisch geschwächt. Es war einem beim Eintritt ins Lager alles genommen worden, aber dann wurde man von den Plünderern verhöhnt, weil man nichts besaß. Der geistig nicht weiter geübte Lagerhäftling nahm diese Umstände meist mit einem gewissen Gleichmut zur Kenntnis, demselben Gleichmut, der sich draußen bewährt hatte bei Feststellungen wie „Es muß Arme und Reiche geben" oder „Kriege werden immer sein". Er nahm sie zur Kenntnis, stellte sich auf sie ein, und in günstigen Fällen triumphierte er über sie. Der Intellektuelle aber revoltierte dagegen in der Ohnmacht des Gedankens. Für ihn galt im Anfang die rebellische Narrenweisheit, daß nicht sein könne, was doch gewiß nicht sein darf. Allerdings nur im Anfang. Der Refus der SS-Logik, die Revolte nach innen, das Vorsichhinmurmeln von Beschwörungsformeln, wie „aber das ist doch nicht möglich", währte nicht lange. Unweigerlich stellte sich nach einer gewissen Zeit etwas ein, das mehr war als nur Resignation und das wir als Akzeptierung nicht nur der SS-Logik, sondern auch des SS-Wertsystems bezeichnen dürfen. Und wiederum hatte es der intellektuelle Häftling schwerer als der ungeistige. Für diesen hatte es niemals eine generelle humane Logik gegeben, sondern nur ein folgerichtiges System der Selbsterhaltung. Ja, er hatte draußen gesagt: „Es muß Arme und Reiche geben", aber innerhalb dieser Erkenntnis hatte er den Kampf des Armen gegen den Reichen geführt und ihn gar nicht als Widerspruch empfunden. Für ihn war die Lagerlogik nur die graduelle Verschärfung der Wirtschaftslogik, und der Verschärfung begegnete man mit einer brauchbaren Mischung von Resignation und Abwehrbereitschaft. Der Intellektuelle aber, der nach dem Zusammenbrechen des ersten inneren Widerstandes erkannt hatte, daß sehr wohl sein könne, was nicht sein darf, der die SS-Logik als stündlich sich erweisende Wirklichkeit erfuhr, ging nun im Denken ein paar verhängnisvolle Schritte weiter. Hatten jene, die ihn zu vernichten sich anschickten, nicht vielleicht recht gegen ihn, auf Grund des unbestreitbaren Faktums, daß sie die Stärkeren waren? Die grundsätzliche geistige Toleranz und der methodische Zweifel des Intellektuellen wurden so zu Faktoren der Autodestruktion. Ja, die SS konnte es treiben, wie sie es tat: Es gibt kein Naturrecht und die moralischen Kategorien entstehen und vergehen wie die Moden. Ein Deutschland war da, das Juden und politische Gegner in den Tod trieb, da es sich nur auf diese Weise glaubte verwirklichen zu können. Und was weiter? Es war die griechische Zivilisation aufgebaut auf Sklaverei, und ein athenisches Heer hatte auf Melos gehaust wie die SS in der Ukraine. Menschenopfer unerhört waren gefallen, soweit das Licht der Geschichte in die Tiefe reicht, und der ewige Menschheitsfortschritt war ohnedies nur eine Naivität aus dem 19. Jahrhundert. „Links, zwei, drei, vier" war ein Ritual wie ein anderes auch. Es war nicht viel vorzubringen gegen die Greuel. Die Via Appia war gesäumt gewesen von gekreuzigten Sklaven, und drüben in Birkenau verbreitete sich der Gestank verbrannter Menschenleiber. Hier war man nicht Crassus, sondern Spartacus, das war alles. „Laß gestäuft von ihren Leichen, schäumend um die Pfalz ihn weichen" : so hatte Kleist den Rhein angedichtet, und, wer weiß, er hätte seine Kadaverphantasie verwirklicht, wäre ihm die Macht zugefallen. Ein General von Kleist kommandierte irgendwo an der russischen Front und stäufte vielleicht die Leichen von Juden und Politkommissaren. So war die Geschichte,
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und so ist sie. Man war unter ihr Rad geraten und riß die Mütze ab, wenn ein Henkersknecht daherkam. Der geistige Mensch, nach Erschlaffen des ersten Widerstandes, hatte den Vernichtern mit all seinen Kenntnissen, Analysen weniger entgegenzusetzen als der ungeistige: Dieser nahm zwar vor ihnen straffere Haltung ein und gefiel ihnen darum auch besser, im übrigen aber bekämpfte er sie viel spontaner und wirkungsvoller als sein nachdenklicher Kamerad mit systematischer Drückebergerei und wohlgelungenen Diebstählen. Mehr als den ungeistigen Kameraden lähmte den Intellektuellen im Lager auch sein historisch und soziologisch erklärbarer tieferer Respekt vor der Macht; tatsächlich hat der geistige Mensch sich immer und überall in völliger Abhängigkeit von der Macht befunden. Er war und ist es gewohnt, sie geistig anzuzweifeln, sie seiner kritischen Analyse zu unterwerfen - und doch im selben intellektuellen Arbeitsgang vor ihr zu kapitulieren. Die Kapitulation wurde dort vollends unvermeidbar, wo der feindlichen Macht nichts Sichtbares gegenüberstand. Es mochten draußen riesige Armeen den Vernichter bekämpfen, aber im Lager hörte man davon nur von fernher und wollte nicht mehr recht daran glauben. Ungeheuerlich und unüberwindlich türmte sich die Machtgestalt des SS-Staates vor dem Häftling auf, eine Wirklichkeit, die nicht umgangen werden konnte und die darum am Ende als vernünftig erschien. Jedermann, er mochte es geistig draußen gehalten haben wie auch immer, wurde in diesem Sinne hier zum Hegelianer: Der SS-Staat erschien im metallischen Glanz seiner Totalität als ein Staat, in dem die Idee sich verwirklichte. An dieser Stelle ist nun freilich einzuhalten und in Parenthese zu sprechen vom religiösen sowie vom politisch-ideologisch fixierten Häftling, dessen Position wesentlich anders war als die des humanistisch-intellektuellen. Ein paar persönliche Bekenntnisworte zuvor: Ich habe als Agnostiker die Gefängnisse und Konzentrationslager betreten und habe das Inferno, am 15. April 1945, von den Engländern in Bergen-Belsen befreit, als Agnostiker wieder verlassen. Zu keiner Stunde konnte ich in mir die Möglichkeit des Glaubens entdecken, auch nicht, als ich gefesselt in der Einzelzelle lag, wissend, daß auf meinem Akt der Vermerk „Zersetzung der Wehrkraft" stand und ich darum ständig gewärtig war, zur Hinrichtung abgeholt zu werden. Ich war auch niemals verbindlicher und verbundener Anhänger einer bestimmten politischen Ideologie. Gleichwohl muß ich gestehen, daß ich sowohl für die religiösen als auch für die politisch engagierten Kameraden große Bewunderung empfand und empfinde. Sie waren in unserem hier angenommenen Sinne „geistig", oder sie waren es nicht, das spielte keine Rolle. So oder so war ihnen ihr politischer oder religiöser Glaube in den entscheidenden Momenten eine unschätzbare Hilfe, während wir skeptisch-humanistischen Intellektuellen vergebens unsere literarischen, philosophischen, künstlerischen Hausgötter anriefen. Sie mochten militante Marxisten sein, sektiererische Bibelforscher, praktizierende Katholiken, sie mochten hochgebildete Nationalökonomen und Theologen sein oder wenig belesene Arbeiter und Bauern: ihr Glaube oder ihre Ideologie gab ihnen jenen festen Punkt in der Welt, von dem aus sie geistig den SS-Staat aus den Angeln hoben. Sie lasen unter unausdenkbar schwierigen Umständen die Messe, und sie fasteten als orthodoxe Juden am Versöhnungstag, wiewohl sie ohnehin das ganze Jahr im Zustand wütenden Hungers lebten. Sie diskutierten marxistisch über die Zukunft Europas, oder sie sagten nur beharrlich: Die Sowjetunion wird und muß siegen. Sie überstanden besser oder starben würdiger als ihre vielfach unendlich gebildeteren und im exakten Denken geübteren nichtgläubigen, beziehungsweise unpolitischen intellektuellen Kameraden. Noch sehe ich den jungen polnischen Priester vor mir, der keiner von mir beherrschten lebenden Sprache mächtig war und mir darum lateinisch von seinem Glauben sprach. „Voluntas hominis it ad malum", sagte er und blickte bekümmert auf einen eben vorübergehenden gefürchteten
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Schläger-Kapo. „Aber Gottes Güte ist unermeßlich und darum wird sie triumphieren." Die religiös und politisch gebundenen Kameraden waren nicht oder nur wenig erstaunt, daß im Lager das Unvorstellbare Ereignis wurde. Der Mensch, der sich von Gott abgewendet hatte, mußte dahin kommen, daß er die Auschwitz-Greuel verübte und erlitt, sagten die frommen Christen und Juden. Notwendig muß der in sein letztes, das faschistische Stadium eingetretene Kapitalismus zum Menschenschlächter werden, sagten die Marxisten. Hier geschah nichts Unerhörtes, nur das, was sie, die ideologisch geschulten oder gottgläubigen Männer, immer schon erwartet oder zumindest für möglich gehalten hatten. Der präsenten Realität, mit der sie beide, Christen und Marxisten, draußen schon großzügig verfahren waren, standen sie auch hier mit zugleich imponierender und konsternierender Distanz gegenüber. Sowieso war ihr Reich nicht das Hier und Heute, sondern das Morgen und das Irgendwo: das chiliastisch überstrahlte, sehr ferne Morgen des Christen oder das utopischirdische des Marxisten. Der Zugriff der Greuel-Wirklichkeit war dort schwächer, wo von jeher die Wirklichkeit in ein unverrückbares geistiges Schema gespannt gewesen war. Der Hunger war nicht Hunger schlechthin, sondern notwendige Folge der Gottesleugnung oder der kapitalistischen Fäulnis. Prügel oder Gastod waren das erneuerte Leiden des Herrn oder das selbstverständliche politische Martyrium: So hatten die Urchristen gelitten und so die geschundenen Bauern im deutschen Bauernkrieg. Jeder Christ war ein Sankt Sebastian, jeder Marxist ein Thomas Münzer. Uns, die skeptisch-humanistischen Intellektuellen, verachteten beide, Christen und Marxisten, die ersten milde, die zweiten ungeduldig und unwirsch. Es gab Stunden im Lager, in denen ich mich fragte, ob die Verachtung nicht zu Recht bestehe. Nicht etwa, daß ich für mich den politischen oder religiösen Glauben gewünscht, ja auch nur für möglich gehalten hätte. Ich wollte gar nichts wissen von einer Glaubensgnade, die für mich keine war, noch von einer Ideologie, deren Irrtümer und Fehlschlüsse ich durchschaut zu haben meinte. Ich wollte nicht gehören zu ihnen, den gläubigen Kameraden, aber ich hätte mir gewünscht, zu sein wie sie, unerschütterlich, ruhig, stark. Was ich damals zu begreifen glaubte, erscheint mir immer noch als Gewißheit: Der im weitesten Sinne gläubige Mensch, sei sein Glaube ein metaphysischer oder ein immanenzgebundener, überschreitet sich selbst. Er ist nicht der Gefangene seiner Individualität, sondern gehört einem geistigen Kontinuum an, das nirgends, und auch in Auschwitz nicht, unterbrochen wird. Er ist zugleich wirklichkeitsfremder und wirklichkeitsnäher als der Glaubenslose. Wirklichkeitsfremder, da er doch in seiner finalistischen Grundhaltung die gegebenen Realitätsinhalte links liegen läßt und seine Augen auf eine nähere oder fernere Zukunft fixiert; wirklichkeitsnäher aber, weil er sich aus eben diesem Grunde von den ihn umgebenden Tatbeständen nicht überwältigen läßt und darum seinerseits kraftvoll auf sie einwirken kann. Dem glaubensfreien Menschen ist die Wirklichkeit im schlimmen Falle eine Gewalt, der er sich überläßt, im günstigen ist sie ihm Material für die Analyse. Dem Gläubigen ist sie Ton, den er formt, Aufgabe, die er löst. Daß es im Lager zwischen beiden Charakteren, dem gläubigen und dem ungläubigen, ebensowenig eine tiefere Verständigung geben konnte wie draußen, braucht kaum gesagt zu werden. Religiös und politisch gläubige Kameraden gingen über uns andere hinweg, sei es in Duldung und Hilfsbereitschaft, sei es im Zorn. „Eines mußt du doch einsehen", sagte mir einmal ein gläubiger Jude, „daß eure Intelligenz und eure Bildung hier wertlos sind. Ich aber habe die Gewißheit, daß unser Gott uns rächen wird." Ein deutscher, schon 1933 ins Lager geworfener linksradikaler Kamerad, sagte kerniger: „Da sitzt ihr nun, ihr bürgerlichen Klugscheißer, und zittert vor der SS. Wir zittern nicht, und wenn wir hier auch elend verrecken, so wissen wir doch, daß nach uns die Genossen die ganze Bande an die Wand stellen werden."
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Beide überschritten sie sich selbst und projizierten sich in die Zukunft. Sie waren keine fensterlosen Monaden, sondern standen offen, weit offen auf eine Welt hin, die nicht die Welt von Auschwitz war. Die glaubenslosen Intellektuellen waren beeindruckt von dieser Haltung, das ist sicher. Es sind mir aber nur verschwindend wenige Fälle von Konversion bekannt. Der skeptische geistige Mensch wurde nur in Ausnahmefällen durch das großartige Beispiel der Kameraden zum Christen oder zum marxistischen Engagé. Meist kehrte er sich ab und sagte sich: Eine bewundernswerte und rettende Illusion, aber eine Illusion nun eben doch. Gelegentlich rebellierte er auch wütend gegen den Wissensanspruch der glaubenden Kameraden. Das Wort von der unerschöpflichen Gottesgüte erschien ihm dann als ein Skandal, angesichts der Gegenwart eines sogenannten Lagerältesten, eines mächtig gewachsenen deutschen Berufsverbrechers, von dem man wußte, daß er einige Häftlinge buchstäblich zertreten hatte. Desgleichen betrachtete er es als eine empörende Beschränktheit, wenn die Marxisten unbeirrbar die SS als die Schutztruppe der Bourgeoisie und das Lager als normale Frucht des Kapitalismus bezeichneten, wo doch jeder Vollsinnige einsehen mußte, daß Auschwitz nichts mit Kapitalismus oder irgendeiner beliebigen Wirtschaftsform zu tun hatte, sondern die wirklichkeitgewordene Ausgeburt kranker Hirne und pervertierter Emotionalorganismen war. Man konnte die gläubigen Kameraden achten und dennoch mehr als einmal kopfschüttelnd vor sich hinmurmeln: Wahn, welch ein Wahn! Kleinlaut aber wurden die Intellektuellen, und kein Argument fanden sie, wenn ihnen die anderen, wie oben beschrieben, die Gegenstandslosigkeit der Werte des Geistes vorhielten. Und damit schließe ich die Parenthese, komme zurück zur Rolle des Geistes in Auschwitz und wiederhole deutlich, was ich schon sagte: Es half der Geist, soferne er sich nicht an religiösem oder politischem Glauben hinaufrankte, nichts oder so gut wie nichts. Er ließ uns allein. Er entwich uns immer wieder dort, wo es um die Dinge ging, die man einst die „letzten" genannt hat. Wie etwa stand in Auschwitz der geistige Mensch zum Tode? Ein weites, unübersichtliches Feld, das hier nur flüchtig und im Geschwindschritt ausgemessen werden kann! Ich darf wohl als bekannt voraussetzen, daß der Lagerhäftling nicht Tür an Tür, sondern im selben Raum mit dem Tode lebte. Der Tod war allgegenwärtig. Die Selektionen für die Gaskammern fanden in regelmäßigen Abständen statt. Für ein Nichts wurden Häftlinge am Appellplatz gehängt, und ihre Kameraden mußten, Augen rechts!, zu flotter Marschmusik an den vom Galgen baumelnden Körpern vorbeidefilieren. Es wurde in Massen gestorben, am Arbeitsplatz, im Krankenbau, im Bunker, im Block. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen ich achtlos über aufgehäufte Leichen stieg und wir alle zu schwach und gleichgültig waren, um die Verstorbenen auch nur aus der Baracke hinaus ins Freie zu schleppen. Aber all dies ist, wie gesagt, bekannt bis zum Überdruß, gehört ins Gebiet der eingangs erwähnten Greuel, von denen ausführlich zu sprechen man mir wohlmeinend abgeraten hat. Da und dort wird vielleicht jemand einwenden, daß auch der Frontsoldat ständig vom Tode umfangen war und daß darum der Tod im Lager nicht eigentlich einen spezifischen Charakter und eine unvergleichliche Problematik hatte. Muß ich erst noch sagen, daß der Vergleich untauglich ist? So wie das Leben des Frontsoldaten, wie immer dieser gelegentlich auch gelitten haben möge, dem des Lagerhäftlings nicht angeglichen werden kann, so sind auch Soldatentod und Häftlingstod inkommensurable Größen. Der Soldat starb den Helden- oder Opfertod: der Häftling den des Schlachtviehs. Der Soldat wurde ins Feuer getrieben, und sein Leben war nicht viel wert, das ist wahr, dennoch war ihm vom Staate nicht das Sterben verordnet, sondern das Überstehen. Des Häftlings letzte Pflicht aber war der Tod. Der entscheidende Unterschied lag darin, daß, anders als der Häftling, der Frontsoldat nicht nur Ziel, sondern auch Träger des Todes war. Bildlich gesprochen: Der Tod war nicht nur das Beil, das
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auf ihn herabfiel, sondern auch das Schwert in seiner Hand. Noch während er den Tod erlitt, konnte er ihn zufügen. Der Tod kam von außen als Schicksal auf ihn zu, drängte aber auch von innen als Wille aus ihm heraus: Er war ihm zugleich Bedrohung und Chance, während er für den Häftling die Gestalt einer mathematisch vorausbestimmten Lösung - der Endlösung! - annahm. Unter diesen Bedingungen stieß nun der geistige Mensch mit dem Tode zusammen. Vor ihm lag der Tod, und in ihm regte sich immer noch der Geist; dieser stand jenem gegenüber und suchte - vergeblich, um es nur gleich zu sagen - seine Würde zu statuieren. Was sich zunächst ereignete, war allemal der totale Zusammenbruch der ästhetischen Todesvorstellung. Man weiß, wovon ich spreche. Der geistige Mensch, und namentlich der Intellektuelle aus deutschem Bildungsboden, trägt diese ästhetische Todesvorstellung in sich. Sie kam von weither auf ihn, im spätesten Falle aber aus der Zeit der deutschen Romantik. Kennzeichnen laßt sie sich annähernd durch die Namen Novalis, Schopenhauer, Wagner, Thomas Mann. Für den Tod in seiner literarischen, philosophischen, musikalischen Gestalt war kein Platz in Auschwitz. Es führte keine Brücke vom Tod in Auschwitz zum „Tod in Venedig". Unleidlich wurde jede dichterische Todesreminiszenz, mochte es Hesses „Lieber Bruder Tod" sein oder der Tod Rilkes, der gesungen hat: „O Herr, gib jedem seinen eigenen Tod." Die ästhetische Todesvorstellung wurde dem Intellektuellen als ein Teil ästhetischer Lebensführung deutlich: wo diese kaum noch erinnert werden konnte, war auch jene eine elegante Nichtigkeit. Im Lager gab es keine Tristanmusik zum Tode, nur das Gebrüll der SS und der Kapos. Der Tod des Menschen, da er doch sozial ein Ereignis war, das man nur eben mit der Formel „Abgang durch Tod" in der sogenannten Politischen Abteilung des Lagers registrierte, verlor schließlich auch individuell so sehr an spezifischem Gehalt, daß seine ästhetische Einkleidung für den, der ihn erwartete, gewissermaßen zu einem frechen und den Kameraden gegenüber ungehörigen Anspruch wurde. Nach dem Zusammenbruch der ästhetischen Todesvorstellung stand dann der intellektuelle Häftling dem Tod ungewappnet gegenüber. Versuchte er dennoch ein geistiges und metaphysisches Verhältnis zum Tode herzustellen, stieß er sich auch hier wieder an der Lagerrealität, die einen solchen Versuch zur Aussichtslosigkeit verurteilte. Wie ging das in der Praxis zu? Um es knapp und trivial zu sagen: Auch der geistige Häftling befaßte sich, gleich seinem ungeistigen Kameraden, nicht mit dem Tode, sondern mit dem Sterben; damit aber wurde das ganze Problem reduziert auf eine Anzahl konkreter Überlegungen. So sprach man beispielsweise im Lager von einem SS-Mann, der einmal einem Häftling den Bauch aufgeschlitzt und mit Sand angefüllt hatte. Es liegt auf der Hand, daß man sich angesichts solcher Möglichkeiten kaum noch damit befaßte, ob beziehungsweise daß man sterben müsse, sondern nur noch, wie es geschehen würde. Man führte Gespräche darüber, wie lange es wohl dauere, bis das Gas in der Gaskammer seine Wirkung tut. Man spekulierte über die Schmerzhaftigkeit des Todes durch Phenolinjektionen. Sollte man sich einen Schlag über den Schädel wünschen oder den langsamen Erschöpfungstod im Krankenbau? Es war bezeichnend für die Situation des Häftlings dem Tode gegenüber, daß nur wenige sich entschlossen, „an den Draht zu laufen", wie man sagte, das heißt: durch Berühren der mit Starkstrom geladenen Stacheldrähte Selbstmord zu begehen. Der Draht war ja eine gute und ziemlich sichere Sache, vielleicht aber wurde man noch vorher, beim Versuch, sich ihm zu nähern, ertappt und in den Bunker geworfen, was zu einem schwierigeren und peinvolleren Sterben führte. Das Sterben war allgegenwärtig, der Tod entzog sich. Nun ist freilich allüberall die Todesangst wesentlich Sterbensangst, und auch für das Lager gilt, was Franz Borkenau einmal gesagt hat, daß nämlich die Todesfurcht der Schreck vor dem Ersticken sei. Gleichwohl ist es in der Freiheit
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möglich, Todesgedanken zu hegen, die nicht gleichzeitig auch Sterbensgedanken, Sterbensängste sind. Der Tod in der Freiheit kann geistig wenigstens prinzipiell losgekettet werden vom Sterben: sozial, indem er sich besetzen läßt mit Überlegungen über die zurückbleibende Familie, den Beruf, den man verläßt, gedanklich durch die Bemühung, seiend einen Anhauch des Nichts zu verspüren. Daß ein solcher Versuch zu keinem Ergebnis führt, daß die Todeskontradiktion unauflöslich ist, muß nicht erst gesagt werden. Immerhin findet das Bestreben seine Würde in sich selbst: Es kann der freie Mensch dem Tode gegenüber eine bestimmte geistige Haltung einnehmen, weil für ihn der Tod nicht ganz und gar aufgeht in der Mühsal des Sterbens. Es kann der freie Mensch an die Grenze der Denkmöglichkeit vorstoßen, weil es in ihm einen, wenn auch noch so winzigen angstfreien Raum gibt. Für den Häftling aber hatte der Tod keinen Stachel: keinen, der wehe tut, keinen, der zum Denken anreizt. Hieraus erklärt sich vielleicht, daß der Lagerhäftling - und dies gilt nun gleichermaßen für den geistigen wie den ungeistigen - zwar quälende Furcht vor bestimmten Sterbensarten, kaum aber eigentliche Todesangst gekannt hat. Wenn ich von mir persönlich sprechen darf, sei hier die Versicherung abgegeben, daß ich mich niemals für besonders tapfer hielt und es wahrscheinlich auch nicht bin. Dennoch, als man mich einmal, nachdem ich schon ein paar Monate Straflager hinter mir hatte, aus der Zelle holte und der SS-Mann mir die freundliche Versicherung abgab, ich sollte jetzt erschossen werden, nahm ich das mit vollkommenem Gleichmut auf. „Jetzt hast Du wohl Angst?" sagte der Mann zu mir, der sich einfach seinen Spaß machte. „Ja", antwortete ich, aber mehr aus Gefälligkeit, und um ihn nicht durch Enttäuschung seiner Erwartungen zu Brutalitäten herauszufordern. Nein, wir hatten keine Angst vor dem Tode. Deutlich erinnere ich mich, wie Kameraden, in deren Blocks Selektionen für die Gaskammern erwartet wurden, nicht über diese sprachen, wohl aber mit allen Anzeichen von Furcht und Hoffnung über die Konsistenz der zu verteilenden Suppe. Mühelos triumphierte die Lagerrealität über den Tod und über den ganzen Komplex der sogenannten letzten Fragen. Auch hier stand der Geist vor seinen Schranken. Alle jene Probleme, die man einem Sprachübereinkommen gemäß die „metaphysischen" nennt, wurden gegenstandslos. Aber wiederum war es nicht Abgestumpftheit, die das Nachdenken darüber unmöglich machte, sondern im Gegenteil die grausame Schärfe eines von der Lagerwirklichkeit zugeschliffenen und gehärteten Intellekts. Dazu kam, daß es an emotionellen Kräften fehlte, mit denen man allenfalls vage philosophische Begriffe hätte besetzen und damit subjektiv-psychologisch sinnvoll machen können. Es fiel einem vielleicht dann und wann jener ungute Magus aus dem Alemannenland ein, der gesagt hat, daß dem Menschen das Seiende nur durch das Licht des Seins erscheine, daß er aber über jenem dieses vergessen habe. Das Sein, so so. Aber es war im Lager überzeugender offenbar als draußen, daß gar nichts anzufangen war mit Seiendem und Seinslicht. Man konnte hunrig sein, müde sein, krank sein. Zu sagen, daß man sei schlechthin, ergab keinen Sinn. Und das Sein gar wurde definitiv zu einem anschauungslosen und darum leeren Begriff. Mit Worten hinauszulangen über die Realexistenz wurde vor unseren Augen nicht nur zu einem wertlosen und luxuriös-unerlaubten, sondern auch zu einem höhnischen und bösen Spiel. Die Erscheinungswelt sorgte stündlich für den Nachweis, daß ihrer Unerträglichkeit nur mit den ihr immanenten Mitteln beizukommen war. Anders formuliert: Nirgendwo sonst in der Welt hatte die Wirklichkeit soviel wirkende Kraft wie im Lager, nirgendwo anders war sie so sehr Wirklichkeit. An keiner anderen Stelle erwies sich der Versuch, sie zu überschreiten, als so aussichtslos und so wohlfeil. Wie die Gedichtstrophe von den sprachlos stehenden Mauern und den im Winde klirrenden Fahnen verloren auch die philosophischen Aussagen ihre Transzendenz und wurden vor uns teils zu sachlichen Feststellungen, teils zu ödem Geplapper: Wo sie etwas meinten,
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erschienen sie trivial, und wo sie nicht trivial waren, dort meinten sie nichts mehr. Dies zu erkennen, bedurften wir keiner semantischen Analyse und keiner logischen Syntax: ein Blick auf die Wachtürme, das Schnuppern nach dem Fettbrandgeruch der Krematorien genügte. Der Geist in seiner Totalität erklärte sich im Lager als unzuständig. Als brauchbares Werkzeug zur Bewältigung der uns gestellten Aufgaben dankte er ab. Aber - und damit weise ich auf einen sehr wesentlichen Punkt hin - zu seiner Selbstaufhebung war er zu gebrauchen, und das war gar nicht wenig. Denn es war ja nicht so, daß der geistige Mensch, sofern er nicht schon physisch vollkommen zerstört war, nun ungeistig oder zum Denken unfähig geworden wäre. Im Gegenteil. Das Denken gönnte sich nur selten Rast. Aber es hob sich selbst auf, indem es bei fast jedem Schritt, den es tat, an seine unüberschreitbaren Grenzen stieß. Die Achsen seiner traditionellen Bezugsysteme zerbrachen dabei. Schönheit, das war eine Illusion. Erkenntnis, das erwies sich als Begriffsspiel. Der Tod verhüllte sich in all seine Unkenntlichkeit. Vielleicht würde mancher, wenn wir im gemeinsamen Gespräch beisammensäßen, mir die Frage stellen, was denn der geistige Mensch nun eigentlich aus dem Lager in diese unsere Welt, die wir anmaßend die „normale" nennen, herübergerettet, was er gelernt hat, welchen geistigen Besitz er sich aus der Lagerzeit bewahrt. Ich will versuchen zu antworten, soweit ich es nicht ohnehin durch das Erzählte schon vorwegnehmend getan habe. Zuerst mit ein paar Negationen. Wir sind in Auschwitz nicht weiser geworden, sofern man unter Weisheit ein positives Wissen von der Welt versteht: Nichts von dem, was wir dort erkannten, hätten wir nicht schon draußen erkennen können; nichts davon wurde uns zu einem praktischen Wegweiser. Wir sind auch im Lager nicht „tiefer" geworden, sofern die fatale Tiefe überhaupt eine definierbare geistige Dimension ist. Daß wir in Auschwitz auch nicht besser, nicht menschlicher, nicht menschenfreundlicher und sittlich reifer wurden, versteht sich, glaube ich, am Rande. Man schaut nicht dem entmenschten Menschen bei seiner Tat und Untat zu, ohne daß alle Vorstellungen von eingeborener Menschenwürde in Frage gestellt würden. Wir kamen entblößt aus dem Lager, ausgeplündert, entleert, desorientiert - und es hat lange gedauert, bis wir nur wieder die Alltagssprache der Freiheit erlernten. Wir sprechen sie übrigens noch heute mit Unbehagen und ohne rechtes Vertrauen in ihre Gültigkeit. Und dennoch war für uns - und wenn ich sage uns, dann meine ich die glaubensfreien und an keine politische Doktrin engagierten Intellektuellen - der Aufenthalt im Lager geistig nicht ganz und gar wertlos. Wir haben nämlich die für uns fürderhin unverrückbare Gewißheit mitgenommen, daß der Geist auf weitesten Strecken tatsächlich ein ludus ist und wir nichts sind, besser gesagt, vor dem Eintritt ins Lager nichts waren als homines ludentes. Damit ist manche Überheblichkeit von uns abgefallen, mancher metaphysische Dünkel, aber auch manch naive Geistesfreude und manch fiktiver Lebenssinn. In seinem jüngsten Buch, „Les Mots", hat Jean-Paul Sartre an einer Stelle geschrieben, er habe dreißig Jahre gebraucht, um sich des traditionellen philosophischen Idealismus zu entledigen. Bei uns, das kann ich versichern, ging es schneller. Ein paar Lagerwochen haben meist genügt, um diese Entzauberung des philosophischen Inventars zu bewirken, um die andere, vielleicht unendlich viel begabtere und scharfsinnigere Geister ein Leben lang ringen müssen. So wage ich denn zu sagen, daß wir Auschwitz zwar nicht weiser und nicht tiefer, wohl aber klüger verlassen haben. „Tiefsinn hat nie die Welt erhellt, Klarsinn schaut tiefer in die Welt", hat Arthur Schnitzler einmal gesagt. Um diese Klugheit sich einzuverleiben, hat man es nirgendwo leichter gehabt als im Lager und namentlich in Auschwitz. Wenn ich noch einmal zitieren darf, und diesmal wieder einen Österreicher, dann möchte ich ein Wort von Karl Kraus
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nennen, das er in den ersten Jahren des Dritten Reiches aussprach: „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte." Er hat das freilich als Verteidiger dieses metaphysischen „Wortes" gesagt, während wir Ex-Lagerhäftlinge ihm die Sentenz aus dem Munde nehmen und sie mit Skepsis gegen dieses „Wort" nachsprechen. Das Wort entschläft überall dort, wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt. Uns ist es längst entschlafen. Und nicht einmal das Gefühl blieb zurück, daß wir sein Hinscheiden bedauern müssen.
Die Tortur Wer als Tourist Belgien besucht, den mag vielleicht ein Zufallsweg nach dem halbwegs zwischen Brüssel und Antwerpen gelegenen Fort Breendonk führen. Die Anlage ist eine Festung aus dem ersten Weltkrieg, und welches Schicksal ihr damals beschieden war, weiß ich nicht. Im zweiten Weltkrieg, während der kurzen achtzehn Tage des Widerstandes der belgischen Armee im Mai 1940, war Breendonk das letzte Hauptquartier des Königs Leopold. Dann, unter der deutschen Besatzung, wurde es eine Art von kleinem Konzentrationslager, ein „Auffanglager", wie es im Rotwelsch des Dritten Reiches hieß. Heute ist es belgisches Nationalmuseum. Die Festung Breendonk wirkt auf den ersten Blick sehr alt, fast historisch. Wie sie da liegt unter dem ewig regengrauen Himmel Flanderns, mit ihren grasüberwachsenen Kuppen und schwarzgrauen Mauern, mutet sie an wie eine melancholische Gravüre aus dem Siebzigerkrieg: Man denkt an Gravelotte und Sedan und glaubt, es müsse gleich in einem der mächtigen, geduckten Tore der geschlagenen Kaiser Napoleon II. mit dem Kepi in der Hand erscheinen. Man muß näher herantreten, damit das flüchtige Bild aus abgelebten Zeiten abgelöst werde von einem anderen, das uns geläufiger ist: Wachttürme erheben sich längs des Grabens um die Festung, Stacheldrahtzäune umspinnen sie. Der Kupferstich von 1870 wird jählings überlagert von den Greuelfotos aus jener Welt, die David Rousseau „l'Univers Concentrationnaire" genannt hat. Die Kuratoren des Nationalmuseums haben alles so gelassen, wie es 1940-1944 war. Vergilbte Maueranschläge: „Wer weitergeht, wird erschossen." Es hätte des pathetischen, vor der Festung errichteten Widerstandsdenkmals - ein in die Knie gezwungener Mann, der aber trotzig einen merkwürdig slawisch gezimmerten Kopf erhebt -, es hätte dieses Mahnmals nicht erst bedurft, dem Besucher klarzumachen, wo er sich befindet, was da in Erinnerung gebracht wird. Man tritt durchs Haupttor und befindet sich bald in einem Raum, der damals mysteriöserweise „Geschäftszimmer" hieß. Ein Bild Heinrich Himmlers an der Wand, eine Hakenkreuzfahne als Tuch über einen langen Tisch gelegt, ein paar kahle Stühle. Geschäftszimmer. Jeder ging an sein Geschäft, und ihres war der Mord. Dann die feuchten, kellerigen Korridore, schwach erhellt von den gleichen dünn und rötlich leuchtenden Glühbirnen, wie sie damals schon dort hingen. Gefängniszellen, von zolldicken Holztüren verschlossen. Schwere Gittertore sind immer wieder zu durchschreiten, bis man sich schließlich in einem fensterlosen Gewölbe befindet, in dem mancherlei befremdliches Eisenwerkzeug herumliegt. Von dort drang kein Schrei nach draußen. Dort geschah es mir: die Tortur. Wenn man von der Tortur spricht, muß man sich hüten, den Mund voll zu nehmen. Was mir in dem unsäglichen Gewölbe in Breendonk zugefügt wurde, war bei weitem nicht die schlimmste Form der Folter. Mir hat man keine glühenden Nadeln unter die Fingernägel getrieben, noch hat man auf meiner nackten Brust brennende Zigarren ausgedrückt. Nur das stieß mir dort zu, wovon ich später noch werde erzählen müssen; es war vergleichsweise gutartig, und es hat auch an meinem Körper keine auffälligen Narben zurückgelassen. Und doch wage ich, zweiundzwanzig Jahre nachdem es geschah, auf Grund
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einer Erfahrung, die das ganze Maß des Möglichen keineswegs auslotete, die Behauptung: Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann. Es wird aber dergleichen in sehr vielen Menschen aufgehoben, und das Fürchterliche hat keinen Anspruch auf Einzigartigkeit. Man hat in den meisten Ländern des Westens die Folter zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts als Institution und Methode abgeschafft. Und dennoch haben heute, zwei Jahrhunderte danach, noch Männer und Frauen von erlittener Tortur zu erzählen, niemand weiß, wieviele. Während ich diesen Beitrag ausarbeite, fällt mir ein Zeitungsblatt in die Hände mit Fotos, auf denen man sieht, wie Angehörige der südvietnamesischen Armee gefangene Vietcong-Rebellen foltern. Der englische Romancier Graham Greene schrieb dazu einen Brief an den Londoner „Daily Telegraph", in dem es heißt: „Das Neuartige an den von der englischen und der amerikanischen Presse veröffentlichten Fotografien ist, daß man sie offenbar mit Einverständnis der Folterknechte aufnahm und daß sie ohne Kommentare publiziert wurden. Das ist ja, als handle es sich um Tafeln aus einem zoologischen Werk über das Leben der Insekten! Heißt dies, daß die amerikanischen Behörden die Tortur als eine gesetzliche Form der Einvernahme von Kriegsgefangenen betrachten? Diese Fotos sind, wenn man will, ein Zeichen von Ehrlichkeit, denn sie zeigen, daß die Behörden ihre Augen nicht verschließen. Nur frage ich mich, ob einer solchen Art von unbewußter Aufrichtigkeit nicht am Ende die Hypokrisie der Vergangenheit vorzuziehen ist.. ." Graham Greenes Frage wird auch jeder von uns sich stellen. Das Eingeständnis der Tortur, das Wagnis - aber ist es denn noch ein solches? -, mit derartigen Fotos vor die Öffentlichkeit hinzutreten, ist erklärlich nur unter der Annahme, daß eine Revolte der Gewissen nicht mehr befürchtet wird. Man möchte meinen, daß diese Gewissen sich an die Praxis der Tortur gewöhnt haben. Die Folter wurde und wird in diesen Jahrzehnten ja auch keineswegs nur in Vietnam angewandt. Ich möchte nicht wissen, wie es zugeht in südafrikanischen, angolesischen, kongolesischen Gefängnissen. Aber ich weiß, und auch der Leser hat wahrscheinlich vernommen, wie es getrieben wurde zwischen 1956 und 1963 in den Kerkern der Algerie Francaise. Es gibt ein schreckhaft genaues und nüchternes Buch hierüber, „La question" von Henri Alleg, ein Werk, dessen Verbreitung verboten wurde, Bericht eines Augen- und Leibeszeugen, der nur karg, und ohne von sich Aufhebens zu machen, den Horror zu Protokoll gab. Es erschienen um 1960 noch zahlreiche andere Bücher und Pamphlete zum Thema: die gelehrte kriminologische Abhandlung des berühmten Anwalts Alec Mellor, der Protest des Publizisten Pierre-Henri Simon, die moralphilosophische Untersuchung eines Theologen namens Vialatoux. Die halbe französische Nation stand auf gegen die Tortur in Algerien; das ist, man kann es nicht oft und ausdrücklich genug sagen, die Ehrenleistung dieses Volkes. Linksintellektuelle protestierten. Katholische Gewerkschaftler und andere christliche Laien warnten und schritten unter Gefahr für Sicherheit und Leben gegen die Tortur ein. Kirchenfürsten erhoben ihre Stimmen, wenngleich für unser Empfinden viel zu sacht. Aber das war das große und freiheitsliebende, auch in diesen dunklen Tagen nicht durchaus freiheitsberaubte Frankreich. Von anderswo drangen die Schreie so wenig in die Welt wie einst mein eigenes, mir fremdes und unheimliches Geheul aus dem Gewölbe von Breendonk. In Ungarn amtiert ein Ministerpräsident, von dem es heißt, es wurden ihm unter dem Regime eines seiner Vorgänger von Folterknechten die Fingernägel ausgerissen. Und wo und wer sind alle die anderen, von denen man überhaupt nichts erfuhr und wahrscheinlich niemals etwas vernehmen wird? Völker, Regierungen, Polizeibehörden, Namen, die man kennt, aber die niemand nennt. Es wird aufgeheult unter der Tortur. Vielleicht zu dieser Stunde, in dieser Sekunde.
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Wie komme ich da eigentlich dazu, von der Tortur gerade nur im Zusammenhang mit dem Dritten Reich zu sprechen? Weil ich selbst sie unter den waagrecht ausgebreiteten Schwingen gerade dieses Raubvogels erlitt, natürlich. Aber nicht nur darum, sondern weil ich jenseits aller persönlichen Erlebnisse überzeugt bin, daß für dieses Dritte Reich die Tortur kein Akzidens war, sondern seine Essenz. Da höre ich heftigen Widerspruch sich erheben, und ich weiß, ich begebe mich mit dieser Behauptung auf gefährlichen Grund. Ich werde später versuchen, sie zu begründen. Zuvor aber ist wohl zu berichten, was eigentlich der Inhalt meiner Erfahrungen war und was sich zutrug in der kellerig-feuchten Luft der Festung Breendonk. Ich wurde im Juli 1943 von der Gestapo verhaftet. Flugzettel-Affäre. Die Gruppe, der ich angehörte, eine kleine deutschsprachige Organisation innerhalb der belgischen Widerstandsbewegung, bemühte sich um antinazistische Propaganda unter den Angehörigen der deutschen Besatzungsmacht. Wir stellten ziemlich primitives Agitationsmaterial her, von dem wir uns einbildeten, es könne die deutschen Soldaten vom grausamen Wahnwitz Hitlers und seines Krieges überzeugen. Heute weiß ich oder glaube zumindest, ich wisse, daß wir unser dürftiges Wort an taube Ohren richteten: Ich habe manchen Grund zur Annahme, daß die feldgrauen Soldaten, die unsere vervielfältigten Schriften vor ihren Kasernen fanden, sie stracks und hackenklappend ihren Vorgesetzten weitergaben, die ihrerseits dann mit der gleichen dienstlichen Fixigkeit die Sicherheitsbehörden verständigten. So kamen diese letztgenannten uns denn auch ziemlich schnell auf die Spur und hoben uns aus. Auf einem der Flugblätter, die ich im Augenblick meiner Festnahme bei mir trug, stand ebenso bündig wie propagandistisch ungeschickt: „Tod den SS-Banditen und Gestapohenkern!" Wer mit Schriftzeug solcher Art von den Männern in Ledermänteln mit vorgehaltenen Pistolen angehalten wurde, der konnte sich keinerlei Illusionen machen. Ich bereitete sie mir auch keinen Augenblick lang, denn ich fühlte mich - zu Unrecht, wie mir heute klar ist - weiß Gott als alter, abgebrühter Kenner des Systems, seiner Männer, seiner Methoden. Leser der „Neuen Weltbühne" und des „Neuen Tagebuchs" von einst, bewandert in der KZLiteratur der deutschen Emigration von 1933 an, glaubte ich vorauszusehen, was mir bevorstand. Schon in den ersten Tagen des Dritten Reiches hatte ich gehört von den Kellern der SA-Kaserne in der Berliner General-Pape-Straße. Bald danach hatte ich das meines Wissens erste deutsche KZ-Dokument, das Büchlein „Oranienburg" von Gerhart Segers gelesen. Seit damals waren mir so viele Berichte von ehemaligen Gestapohäftlingen zur Kenntnis gelangt, daß ich meinte, es könne für mich nichts Neues mehr geben auf diesem Felde. Was sich ereignen würde, wäre dann gleichsam einzugliedern in die einschlägige Literatur. Gefängnis, Vernehmung, Prügel, Folter - am Ende aller Wahrscheinlichkeit nach der Tod: so stand es geschrieben und so würde es verlaufen. Als nach der Festnahme ein Gestapomann mir befahl, vom Fenster wegzutreten, denn er kenne den Trick - man reißt mit den gefesselten Händen das Fenster auf und erreicht im Sprung ein nahes Sims -, war ich zwar geschmeichelt, daß er mir so viel Entschlußkraft und Gewandtheit zutraute, aber ich winkte, der Aufforderung gehorchend, höflich ab: Ich hätte weder die physischen Voraussetzungen noch überhaupt die Absicht, mich auf so abenteuerliche Weise meinem Geschick zu entziehen. Ich wisse, was da kommen werde; man könne sich auf mein Einverständnis damit verlassen. Weiß man aber denn auch wirklich? Nur so halb und halb. „Rien n'arrive ni comme on l'espère, ni comme on le craint", heißt es an einer Stelle bei Proust. Nichts ereignet sich in der Tat so, wie wir es erhoffen, noch so, wie wir es befürchten. Aber nicht darum, weil etwa, wie man so sagt, das Geschehnis „die Vorstellungskraft überstiege" (es ist keine quantitative Frage), sondern weil es Wirklichkeit ist und nicht Imagination. Man kann ein Leben daran wenden, das
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Eingebildete und das Wirkliche gegeneinanderzuhalten, und wird dennoch niemals damit zu Rande kommen. Vieles geschieht ja in der Tat ungefähr so, wie man es vorstellend vorwegnahm: Gestapomänner in Ledermänteln, den Lauf der Pistolen auf ihr Opfer gezielt, damit hat es schon seine Richtigkeit. Aber dann eröffnet sich fast verblüffend die Einsicht, daß die Kerle nicht nur Ledermäntel und Pistolen haben, sondern auch Gesichter: keine „Gestapogesichter" mit verdrehten Nasen, hypertrophierten Kinnpartien, Pocken- oder Messerstichnarben, wie sie im Buche stehen könnten. Vielmehr: Gesichter wie irgendwer. Dutzendgesichter. Und die ungeheure, neuerlich jede abstrahierende Vorstellung zerstörende Erkenntnis eines späteren Stadiums macht uns deutlich, wie die Dutzendgesichter dann schließlich doch zu Gestapogesichtern werden und wie das Böse die Banalität überlagert und überhöht. Es gibt nämlich keine „Banalität des Bösen", und Hannah Arendt, die in ihrem Eichmann-Buch davon schrieb, kannte den Menschenfeind nur vom Hörensagen und sah ihn nur durch den gläsernen Käfig. Wo ein Ereignis uns bis zum äußersten herausfordert, dort sollte nicht von Banalität gesprochen werden, denn an diesem Punkt gibt es keine Abstraktion mehr und niemals eine der Realität sich auch nur annähernde* Einbildungskraft. Daß jemand in einem Auto gefesselt weggeführt wird, ist „selbstverständlich" nur, wenn man davon in der Zeitung liest und sich dann, während man gerade Flugzettel verpackt, vernünftig sagt: Nun ja, und was weiter? So kann es, so wird es auch mir eines Tages ergehen. Aber das Auto ist anders, und der Druck der Fesseln wurde nicht vorgespürt, und die Straßen sind fremd, und das Tor des Gestapohauptquartiers, man mochte vordem unzählige Male daran vorübergeschritten sein, hat andere Perspektiven, andere Ornamente, andere Quadern, wenn man als Häftling über seine Schwelle tritt. Alles versteht sich von selbst, und nichts ist selbstverständlich, sobald wir hineingestoßen werden in eine Wirklichkeit, deren Licht uns blind macht und bis ins Mark versehrt. Das, was man so das „normale Leben" nennt, mag aufgehen in vorwegnehmender Vorstellung und trivialer Aussage. Ich kaufe eine Zeitung und bin „ein Mann, der eine Zeitung kauft": Der Akt unterscheidet sich nicht von dem Bild, in dem ich ihn vorausnahm, und ich selbst differenziere mich kaum von den Millionen, die ihn vor mir vollzogen. Weil meine Vorstellungskraft nicht ausreichte, um die Realität eines solchen Vorgangs ganz zu umgreifen? Nein, sondern weil die sogenannte Wirklichkeit des Alltags selbst im unmittelbaren Erlebnis nichts ist als chiffrierte Abstraktion. In Wahrheit stehen wir dem Ereignis und damit der Wirklichkeit nur in seltenen Momenten unseres Lebens Aug in Auge gegenüber. Das muß nicht schon die Tortur sein. Da genügt die Festnahme und allenfalls der erste Schlag, den man empfängt. „Wenn du sprichst", sagten die Männer mit den Dutzendgesichtern zu mir, „dann kommst du ins Gefängnis der Feldpolizei. Gestehst du nicht, dann geht's nach Breendonk, und was das heißt, weißt du." Ich wußte und wußte nicht. Jedenfalls verhielt ich mich annähernd wie der Mann, der eine Zeitung kauft, und redete, wie vorgesehen. Sehr gerne würde ich dem mir durchaus bekannten Breendonk entgehen und aussagen, was man von mir zu hören wünschte. Nur leider sei mir nichts oder fast nichts bekannt. Komplizen? Von denen könnte ich nur die Decknamen nennen. Schlupfwinkel? Aber in die wäre man ja nur nachts geführt worden, und die genauen Adressen habe man uns niemals anvertraut. Das aber war den Männern ein allzu geläufiges Geschwätz, auf das einzugehen sich nicht lohnte. Sie lachten verächtlich. Und plötzlich fühlte ich - den ersten Schlag. Es haben Schläge beim Verhör kriminologisch nur geringe Bedeutung. Sie sind eine stillschweigend praktizierte und akzeptierte, eine normale Repressalie gegen widerspenstige, geständnisunwillige Polizeihäftlinge. Wollen wir dem oben erwähnten Anwalt Alec Mellor und seinem Buch „La Torture" glauben, dann werden Prügel in mehr oder weniger starken Dosen von fast allen
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Polizeibehörden, auch denen der westlich-demokratischen Länder, mit Ausnahme Englands und Belgiens, angewandt. In Amerika spricht man vom „third degree", dem dritten Grad eines Polizeiverhörs, bei dem es angeblich oft zu Schlimmerem kommen soll als zu ein paar Faustschlägen. Frankreich hat für die Polizeiprügel sogar ein nett verharmlosendes Argotwort gefunden: Man redet von der „passage á tabac" der Häftlinge. Noch nach dem zweiten Weltkrieg hat ein hoher französischer Kriminalbeamter in einem für seine Untergebenen bestimmten Buch mit großem Luxus an Einzelheiten dargelegt, wie auf physischen Zwang „im Rahmen der Legalität" bei den Einvernahmen nicht verzichtet werden könne. Die Öffentlichkeit zeigt sich zumeist nicht zimperlich, wenn ihr dann und wann dergleichen Vorgänge in Polizeikommissariaten publizistisch enthüllt werden. Äußerstenfalls gibt es einmal eine Interpellation irgendeines linksgerichteten Abgeordneten im Parlament. Aber dann verlaufen die Geschichten im Sand; ich habe noch niemals gehört, daß ein prügelnder Polizeibeamter von seinen vorgesetzten Stellen nicht energisch gedeckt worden wäre. Bewirken also die simplen Schläge, die ja in der Tat ganz inkommensurabel sind mit der eigentlichen Tortur, fast nie weittragende Echowellen im Publikum, so sind sie doch für den, der sie erleidet, tief markierende Erlebnisse, um nicht die großen Worte jetzt schon zu verausgaben und klar zu sagen: Ungeheuerlichkeiten. Der erste Schlag bringt dem Inhaftierten zu Bewußtsein, daß er hilflos ist - und damit enthält er alles Spätere schon im Keime. Folter und Tod in der Zelle, wovon man gewußt haben mag, ohne daß freilich solches Wissen Lebensfarbe besessen hätte, werden beim ersten Schlag als reale Möglichkeiten, ja als Gewißheiten vorgespürt. Man darf mich mit der Faust ins Gesicht schlagen, fühlt in dumpfem Staunen das Opfer und schließt in ebenso dumpfer Gewißheit: Man wird mit mir anstellen, was man will. Draußen weiß niemand davon, und keiner steht für mich ein. Wer zu Hilfe eilen möchte, eine Ehefrau, eine Mutter, ein Bruder oder Freund, hier gelangt er nicht herein. Es ist nur wenig ausgesagt, wenn irgendein Ungeprügelter die ethischpathetische Feststellung trifft, daß mit dem ersten Schlag der Inhaftierte seine Menschenwürde verliere. Ich muß gestehen, daß ich nicht genau weiß, was das ist: die Menschenwürde. Der eine glaubt, sie zu verlieren, wenn er in Verhältnisse gerät, unter denen es ihm unmöglich wird, täglich ein Bad zu nehmen. Ein anderer meint, er gehe ihrer verlustig, wenn er vor einer Behörde eine andere als seine Muttersprache sprechen muß. Hier ist die Menschenwürde an einen bestimmten physischen Komfort gebunden, dort an freie Meinungsäußerung, in einem noch weiteren Fall vielleicht an die Zugänglichkeit gleichgeschlechtlicher erotischer Partner. Ich weiß also nicht, ob die Menschenwürde verliert, wer von Polizeileuten geprügelt wird. Doch bin ich sicher, daß er schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das Weltvertrauen nennen wollen. Weltvertrauen. Dazu gehört vielerlei: der irrationale und logisch nicht zu rechtfertigende Glaube an unverbrüchliche Kausalität etwa oder die gleichfalls blinde Überzeugung von der Gültigkeit des Induktionsschlusses. Wichtiger aber - und in unserem Zusammenhang allein relevant - ist als Element des Weltvertrauens die Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen oder ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit auch metaphysischen Bestand respektiert. Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag aber bricht dieses Weltvertrauen zusammen. Der andere, gegen den ich physisch in der Welt bin und mit dem ich nur solange sein kann, wie er meine Hautoberfläche als Grenze nicht tangiert, zwingt mir mit
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dem Schlag seine eigene Körperlichkeit auf. Er ist an mir und vernichtet mich damit. Es ist wie eine Vergewaltigung, ein Sexualakt ohne das Einverständnis des einen der beiden Partner. Freilich, sofern eine auch nur minimale Aussicht auf erfolgreiche Gegenwehr besteht, kommt ein Mechanismus in Bewegung, in dessen Verlauf ich die Grenzverletzung durch den anderen begradigen kann. Ich expandiere mich in der Not-Wehr meinerseits, objektiviere meine eigene Körperlichkeit, stelle das Vertrauen in meinen Weiterbestand wieder her. Der Sozialkontrakt hat dann einen anderen Text und andere Klauseln: Aug um Auge, Zahn um Zahn. Man kann auch danach sein Leben einrichten. Man kann es nicht, wo der andere den Zahn ausschlagt, das Auge in der Schwellung versenkt und man selbst den Gegenmenschen, zu dem der Mitmensch wurde, wehrlos an sich erleidet. Es wird schließlich die körperliche Überwältigung durch den anderen dann vollends ein existentieller Vernichtungsvollzug, wenn keine Hilfe zu erwarten ist. Die Hilfserwartung, Hilfsgewißheit gehört ja in der Tat zu den Fundamentalerfahrungen des Menschen und wohl auch des Tieres, das haben der alte Krapotkin, der von der „gegenseitigen Hilfe in der Natur" sprach, und der moderne Tierverhaltensforscher Lorenz recht überzeugend vorgetragen. Die Hilfserwartung ist ebenso ein psychisches Konstitutionselement wie der Kampf ums Dasein. Nur einen Augenblick, sagt die Mutter zu dem vor Schmerzen stöhnenden Kind, es kommt gleich eine heiße Flasche, eine Schale Tee, man wird dich nicht so leiden lassen! Ich verschreibe Ihnen ein Medikament, versichert der Arzt, es wird Ihnen helfen. Selbst auf dem Schlachtfeld finden die Rotkreuzambulanzen ihren Weg zum Verletzten. In nahezu allen Lebenslagen wird die körperliche Versehrung zusammen mit der Hilfserwartung empfunden: jene erfährt Ausgleich durch diese. Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust aber, gegen den es keine Wehr geben kann und den keine helfende Hand parieren wird, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken. Einzufügen ist hier allerdings, daß die Realität der Polizeiprügel zunächst hinzunehmen ist, weil der existentielle Schreck des ersten Schlages schnell verfliegt und psychischer Raum frei bleibt für eine Anzahl von praktischen Überlegungen. Es stellt sich sogar eine gewisse freudige Überraschung ein, denn die körperlichen Schmerzen sind ja durchaus nicht unerträglich. Die auf uns niedergehenden Schläge haben subjektiv vor allem eine räumliche und eine akustische Qualität: räumlich insofern, als der ins Gesicht und auf den Kopf geschlagene Häftling den Eindruck hat, als verschiebe sich ruckweise das Zimmer samt allen darin sichtbaren Gegenständen; akustisch, weil man ein dunkles Donnern zu hören glaubt, das schließlich untergeht in einem allgemeinen Brausen. Der Schlag wirkt als seine eigene Anästhesie. Ein Schmerzempfinden, das vergleichbar wäre einem heftigen Zahnschmerz oder dem pulsierenden Brand einer eiternden "Wunde, stellt sich nicht ein. Darum denkt der Geprügelte auch ungefähr dies: Nun ja, das wäre doch auszuhalten, ihr schlagt mir lang gut, das führt euch zu gar nichts. Es führte sie zu nichts, und sie wurden die Faustschläge leid. Ich wiederholte nur, daß ich nichts wisse, und darum ging es alsbald, wie man es mir angedroht hatte, nicht in das von der Wehrmacht verwaltete Gefängnis von Brüssel, sondern nach dem „Auffanglager Breendonk", über das die SS herrschte. Verlockend wäre es, hier Atem zu holen und von der Autofahrt Brüssel-Breendonk über fünfundzwanzig Kilometer flandrischen Landes zu erzählen, von den windgebeugten Pappeln, die man mit Freude sah, auch wenn an den Handgelenken die Fessel wehtat. Aber das würde uns seitab führen, und wir müssen eiligst zur Sache kommen. Erwähnt sei nur das Zeremoniell des Einfahrens durch das erste Tor über die Zugbrücke: Da mußten sogar die Gestapomänner ihre Legitimationen den wachhabenden SS-Leuten vorweisen, und hätte der Verhaftete trotz allem noch an dem Ernst der Lage gezweifelt, hier, unter den Wachttürmen und beim Anblick der Maschinenpistolen, im Angesicht des Eintrittsrituals, das nicht
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ohne eine gewisse finstere Feierlichkeit war, mußte er erkennen, daß er angelangt war am Ende der Welt. Sehr schnell ging es in das „Geschäftszimmer", von dem ich schon sprach. Das Geschäft, das man hier führte, war offensichtlich ein florierendes. Unter den kalten Kneiferaugen des Himmlerbildes gingen türenschlagend und stiefelpolternd Männer ein und aus, die auf den schwarzen Aufschlägen ihrer Uniformen die eingewirkten Buchstaben SD trugen. Sie würdigten die Ankömmlinge, Gestapomänner und Häftlinge, keines Gesprächs, nahmen nur mit großer Fixigkeit die Daten meiner falschen Identitätskarte auf und entledigten mich flott meines nicht weiter beachtlichen Besitzes. Eine Brieftasche, Manschettenknöpfe, meine Krawatte wurden konfisziert. Ein dünnes goldenes Armband erweckte spöttische Aufmerksamkeit, und ein flämischer SS-Mann, der sich wichtig machen wollte, erklärte seinen deutschen Kameraden, dies sei das Kennzeichen der Partisanen. Es wurde alles mit jener Genauigkeit, wie sie den Vorgängen in einem Geschäftszimmer zukommt, schriftlich festgehalten. Vater Himmler blickte zufrieden herab auf das Fahnentuch, das den rohen Holztisch bedeckte, und auf seine Leute. Es war Verlaß auf sie. Der Augenblick ist gekommen, ein gegebenes Versprechen einzulösen: Ich muß begründen, warum meiner festen Überzeugung nach die Folter die Essenz des Nationalsozialismus war, genauer gesagt: warum gerade in ihr sich das Dritte Reich in seiner ganzen Bestandsdichte verwirklichte. Daß auch anderswo gefoltert wurde und wird, davon wurde schon gehandelt. Gewiß. Vietnam seit 1964. Algerien 1957. Rußland wahrscheinlich zwischen 1919 und 1953. Gefoltert haben 1919 in Ungarn die Weißen und die Roten, gefoltert wurde in spanischen Gefängnissen von Francisten wie von Republikanern. Folterknechte waren am Werk in den halbfaschistischen osteuropäischen Staaten der Zwischenkriegszeit, in Polen, Rumänien, Jugoslawien. Die Folter war keine Erfindung des deutschen Nationalsozialismus. Aber sie war seine Apotheose. Der Hitlergefolgsmann gelangte noch nicht zu seiner vollen Identität, wenn er nur flink war wie ein Wiesel, zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl. Kein goldenes Parteiabzeichen machte ihn zum vollgültigen Repräsentanten seines Führers und seiner Ideologie, kein Blutorden und kein Ritterkreuz. Er mußte foltern, vernichten, um „groß zu sein im Ertragen von Leiden anderer". Folterwerkzeug mußte er handhaben können, daß Himmler ihm das geschichtliche Maturitätszeugnis ausstelle, es würden spätere Generationen ihn bewundern um seiner Austilgung der eigenen Barmherzigkeit willen. Ich höre nochmals entrüsteten Widerspruch sich erheben, höre sagen, daß nicht Hitler die Folter gewesen sei, sondern irgend etwas Undeutliches, der „Totalitarismus". Ich höre namentlich das Beispiel des Kommunismus mir zurufen. Und hätte ich denn nicht eben selbst gesagt, es sei während vierunddreißig Jahren in der Sowjetunion torturiert worden? Und hätte denn nicht schon Arthur Köstler...? O ja. Ich weiß, ich weiß. Es ist unmöglich, hier einzugehen auf die politische Haupt- und Staatsmystifikation der Nachkriegszeit, die uns Kommunismus und Nationalsozialismus als zwei nicht einmal sehr verschiedene Erscheinungsformen einer und derselben Sache definierte. Man hat uns bis zum Überdruß Hitler und Stalin, Auschwitz, Sibirien, die Warschauer Gettomauer und die Berliner Ulbrichtmauer zusammen genannt wie Goethe und Schiller, Klopstock und Wieland. Nur andeutend sei hier im eigenen Namen und auf jede Denunziationsgefahr hin wiederholt, was in einem vielbefeindeten Interview Thomas Mann einmal gesagt hat: "daß nämlich der Kommunismus, wie schrecklich er sich zeitweilig auch darstellen möge, immerhin eine Idee vom Menschen versinnbildliche, während der Hitlerfaschismus überhaupt keine Idee war, sondern nur eine Schlechtigkeit^ Unleugbar ist ja schließlich, daß dieser Kommunismus sich* ent-stalinisieren konnte und daß heute im sowjetischen Einflußbereich, soweit
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wir übereinstimmenden Berichten Glauben schenken dürfen, nicht mehr gefoltert wird. Es kann in Ungarn ein Ministerpräsident walten, der selbst einmal das Opfer der stalinistischen Tortur war. Aber wer kann sich wohl einen enthitlerisierten Nationalsozialismus vorstellen und als maßgebenden Politiker eines nazistisch neugeordneten Europas einen seinerzeit durch die Tortur geschleiften Röhm-Anhänger? Das kann sich niemand vorstellen. Das hätte nicht sein können. Denn der Nationalsozialismus, der zwar über keine Idee gebot, wohl aber ein ganzes Arsenal verworrener Mißideen besaß, hatte bislang als einziges politisches System dieses Jahrhunderts die Herrschaft des Gegenmenschen nicht nur praktiziert, wie andere rote und weiße Terror-Regime auch, sondern ausdrücklich als Prinzip statuiert. Das Wort Humanität war ihm verhaßt wie dem Frommen die Sünde, und darum sprach er von Humanitätsduselei. Er rottete aus und versklavte, das bezeugen nicht nur die Corpora delicti, sondern ausreichende theoretische Bekräftigungen. Die Nazis folterten, so wie andere, weil sie sich mittels der Tortur in den Besitz staatspolitisch wichtiger Informationen setzen wollten. Daneben aber folterten sie mit dem guten Gewissen der Schlechtigkeit. Sie marterten ihre Häftlinge zu bestimmten, jeweils genau spezifizierten Zwecken. Aber sie folterten vor allem deshalb, weil sie Folterknechte waren. Sie bedienten sich der Folter. Inbrünstiger aber noch dienten sie ihr. Rufe ich mir die Ereignisse von damals zurück, sehe ich noch den Mann vor mir, der plötzlich eintrat ins Geschäftszimmer und auf den es anzukommen schien in Breendonk. Er trug auf seiner feldgrauen Uniform die schwarzen Aufschläge der SS, aber man sprach ihn mit „Herr Leutnant" an. Er war klein, von gedrungener Gestalt und hatte jenes fleischige, sanguinische Gesicht, das man wohl in der Banalphysiognomik „bärbeißig-gutmütig" nennen würde. Seine Stimme rasselte heiser, der Tonfall war berlinisch dialekthaft. Am Handgelenk hing ihm in einer Lederschleife ein Ochsenziemer von der Länge vielleicht eines Meters. Aber warum soll ich eigentlich seinen Namen verschweigen, der mir später so geläufig wurde? Es geht ihm vielleicht gut zur Stunde, und er fühlt sich wohl in seiner gesund geröteten Haut, wenn er vom Sonntagsausflug im Auto heimkehrt. Ich habe keinen Grund, ihn nicht zu nennen. Der Herr Leutnant, der hier die Rolle eines Spezialisten für Folterungen spielte, hieß Praust - P-R-A-U-S-T. „Jetzt passiert's", sagte er rasselnd und gemütlich zu mir. Und dann führte er mich durch die rötlichdünn erleuchteten Korridore, in denen immer wieder Gittertore aufgingen und dröhnend zufielen, in das schon beschriebene Gewölbe, den Bunker. Mit ihm und mir waren die Gestapomänner, die mich verhaftet hatten. Will ich endlich zur Analyse der Tortur kommen, dann kann ich dem Leser leider die sachliche Beschreibung dessen, was sich nun ereignete, nicht ersparen, kann nur versuchen, es knapp zu machen. Im Bunker hing von der Gewölbedecke eine oben in einer Rolle laufende Kette, die am unteren Ende einen starken, geschwungenen Eisenhaken trug. Man führte mich an das Gerät. Der Haken griff in die Fessel, die hinter meinem Rücken meine Hände zusammenhielt. Dann zog man die Kette mit mir auf, bis ich etwa einen Meter hoch über dem Boden hing. Man kann sich in solcher Stellung oder solcher Hängung an den hinterm Rücken gefesselten Händen eine sehr kurze Weile mit Muskelkraft in der Halbschräge halten. Man wird, während dieser wenigen Minuten, wenn man bereits die äußerste Kraft verausgabt, wenn schon der Schweiß auf Stirn und Lippen steht und der Atem keucht, keine Fragen beantworten. Komplizen? Adressen? Treffpunkte? Das vernimmt man kaum. Das in einem einzigen, engbegrenzten Körperbereich, nämlich in den Schultergelenken, gesammelte Leben reagiert nicht, denn es erschöpft sich ganz und gar im Kraftaufwand. Nur kann dieser auch bei physisch kräftig konstituierten Leuten nicht lange währen. Was mich betrifft, so mußte ich ziemlich schnell aufgeben. Und nun gab es ein von meinem Körper bis zu dieser
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Stunde nicht vergessenes Krachen und Splittern in den Schultern. Die Kugeln sprangen aus den Pfannen. Das eigene Körpergewicht bewirkte Luxation, ich fiel ins Leere und hing nun an den ausgerenkten, von hinten hochgerissenen und über dem Kopf nunmehr verdreht geschlossenen Armen. Tortur, vom lateinischen torquere, verrenken: Welch ein etymologischer Anschauungsunterricht! Dazu prasselten die Hiebe mit dem Ochsenziemer auf meinen Körper, und mancher von ihnen schnitt glatt die dünne Sommerhose durch, die ich an diesem 23. Juli 1943 trug. Es wäre ohne alle Vernunft, hier die mir zugefügten Schmerzen beschreiben zu wollen. War es „wie ein glühendes Eisen in meinen Schultern", und war dieses „wie ein mir in den Hinterkopf gestoßener stumpfer Holzpfahl?" - ein Vergleichsbild würde nur für das andere stehen, und am Ende wären wir reihum genasführt im hoffnungslosen Karussell der Gleichnisrede. Der Schmerz war, der er war. Darüber hinaus ist nichts zu sagen. Gefühlsqualitäten sind so unvergleichbar wie unbeschreibbar. Sie markieren die Grenze sprachlichen Mitteilungsvermögens. Wer seinen Körperschmerz mitteilen wollte, wäre darauf gestellt, ihn zuzufügen und damit selbst zum Folterknecht zu werden. Wenn sich nun schon das Wie des Schmerzes der sprachlichen Kommunikation entzieht, so kann ich aber doch vielleicht annähernd aussagen, was er war. Er enthielt alles, was wir oben schon über die Polizeiprügel ausgemacht haben, nämlich: die Grenzverletzung meines Ichs durch den anderen, die weder durch Hilfserwartung neutralisiert, noch durch Gegenwehr begradigt werden kann. Die Tortur ist all das, aber noch sehr viel mehr. Wer nämlich in der Folter vom Schmerz überwältigt wird, erfährt seinen Körper wie nie zuvor. Sein Fleisch realisiert sich total in der Selbstnegation. Teilweise gehört die Tortur zu jenen Lebensmomenten, wie sie in gemilderter Form auch schon dem hilfserwartenden Patienten präsent und bewußt werden, und das populäre Wort, nach welchem es uns gut geht, solange wir unseren Körper nicht spüren, spricht in der Tat eine unbestreitbare Wahrheit aus. Aber nur in der Tortur wird die Verfleischlichung des Menschen vollständig: Aufheulend vor Schmerz ist der gewalthinfällige, auf keine Hilfe hoffende, zu keiner Notwehr befähigte Gefolterte nur noch Körper und sonst nichts mehr. Wenn es wahr ist, was Thomas Mann vor Jahr und Tag im Zauberberg beschrieb, daß nämlich der Mensch desto körperhafter ist, je hoffnungsloser dieser sein Körper dem Leiden gehört, dann ist die Tortur das furchtbarste aller Körperfeste. Bei den Lungenkranken wurden diese noch im Zustand der Euphorie gefeiert; für die Gemarterten sind sie Todesrituale. Man ist versucht, weiter zu spekulieren. Der Schmerz, sagten wir, sei die höchste denkbare Steigerung unserer Körperlichkeit. Vielleicht ist er aber auch noch mehr, wir meinen: der Tod. Es führt uns zum Tode keine logischbefahrbare Straße, doch mag erlaubt sein zu denken, daß uns durch den Schmerz ein gefühlsahnender Weg zu ihm gebahnt wird. Am Ende stünden wir vor der Gleichung: Körper = Schmerz = Tod, und diese ließe sich in unserem Fall wieder reduzieren auf die Hypothese, daß die Tortur, in der wir vom anderen zum Körper gemacht werden, die Todeskontradiktion auslöscht und uns den eigenen Tod erleben läßt. Doch dies ist Sach-Flucht. Wir haben für sie nur die Entschuldigung des persönlichen Erlebens und müssen auch erläuternd noch beifügen, daß die Folter den Character indelebilis hat. Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Unauslöschlich ist die Folter in ihn eingebrannt, auch dann, wenn keine klinisch objektiven Spuren nachzuweisen sind. Die Unverlierbarkeit der Tortur legitimiert den Gefolterten zu spekulativen Abflügen, die gar keine Hochflüge sein müssen und dennoch einen gewissen Gültigkeitsanspruch erheben dürfen. Ich spreche vom Gemarterten. Es ist aber Zeit, auch ein Wort zu sagen über die Peiniger. Von jenem zu diesem gibt es keine Brücke. Die moderne Polizeitortur kennt nicht die theologische Komplizität, die wohl in der
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Inquisition die beiden Partner verband: Der Glaube vereinte sie noch in der Lust des Quälens und der Pein des Gequältwerdens. Der Folterknecht glaubte, Gottes Recht auszuüben, da er doch die Seele des Delinquenten reinigte; der gefolterte Häretiker oder die Hexe sprachen ihm dieses Recht gar nicht ab. Eine schreckliche und pervertierte Zweisamkeit war gegeben. Davon ist in der Tortur unserer Zeit keine Spur mehr. Der Folterknecht ist für den Gefolterten nur noch der andere - und als solcher soll er hier angeschaut werden. Wer waren die anderen, die mich da an den ausgerenkten Armen hochzogen und den baumelnden Körper mit dem Ochsenziemer züchtigten? Man kann fürs erste einen Standpunkt einnehmen, von dem aus gesehen sie bloß verrohte Kleinbürger und subalterne Folterbeamte waren. Es ist aber vonnöten, diesen Standpunkt schnellstens wieder zu verlassen, wenn man zu einer mehr als banalen Einsicht in das Böse vorstoßen will. Handelte es sich also um Sadisten? Im engen sexualpathologischen Sinne waren sie es meiner wohlbegründeten Überzeugung nach nicht, so wie ich überhaupt glaube, daß ich während zweijähriger Gestapo- und Konzentrationslagerhaft nicht einem einzigen echten Sadisten dieser Sorte begegnet bin. Sie waren es aber wahrscheinlich, wenn wir die Sexualpathologie beiseite lassen und versuchen, die Folterknechte nach den Kategorien der - nun ja, der Philosophie des Marquis de Sade zu beurteilen. Sadismus als die im eigentlichen Wortverstande verrückte Weltbetrachtung ist anderes als der Sadismus der gängigen psychologischen Handbücher, anderes auch als die Sadismus-Deutung der Freudschen Analyse. Es sei darum hier der französische Anthropologe Georges Bataille angeführt, der sehr gründlich über den närrischen Marquis nachgedacht hat. Wir werden dann vielleicht sehen, daß nicht nur meine Peiniger am Rande einer sadistischen Philosophie hausten, sondern, daß der Nationalsozialismus in seinem Gesamtumfang weniger vom Siegel eines schwer zu definierenden „Totalitarismus" geprägt war als von dem des Sadismus. Für Georges Bataille ist der Sadismus nicht sexualpathologisch aufzufassen, vielmehr existenzialpsychologisch, wobei er sich abzeichnet als die radikale Negation des anderen, als die Verneinung zugleich des Sozialprinzips und des Realitätsprinzips. Eine Welt, in der Marter, Zerstörung und Tod triumphieren, kann nicht bestehen, das ist offenbar. Aber es schert sich der Sadist nicht um den Fortbestand der Welt. Im Gegenteil: Er will diese Welt aufheben, und er will in der Negation des Mitmenschen, der für ihn auch in einem ganz bestimmten Sinne die „Hölle" ist, seine eigene totale Souveränität wirklich machen. Der Mitmensch wird verfleischlicht und in der Verfleischlichung schon an den Rand des Todes geführt; allenfalls wird er schließlich über die Todesgrenze hinausgetrieben ins Nichts. Damit realisiert der Peiniger und Mörder seine eigene zerstörerische Fleischlichkeit, ohne daß er sich aber darin, wie der Gemarterte, ganz verlieren müßte: er kann ja mit der Folter einhalten, wann es ihm paßt. Der Schmerzens- und Todesschrei des anderen ist in seine Hand gegeben, er ist Herr über Fleisch und Geist, Leben und Tod. Solcherart wird denn die Folter zur totalen Umstülpung der Sozialwelt: in dieser können wir nur leben, wenn wir auch dem Mitmenschen das Leben gewähren, die Ausdehnungslust unseres Ichs zügeln, sein Leiden lindern. In der Welt der Tortur aber besteht der Mensch nur dadurch, daß er den anderen vor sich zuschanden macht. Ein schwacher Druck mit der werkzeugbewehrten Hand reicht aus, den anderen samt seinem Kopf, in dem vielleicht Kant und Hegel und alle neun Symphonien und die Welt als Wille und Vorstellung aufbewahrt sind, zum schrill quäkenden Schlachtferkel zu machen. Der Peiniger selbst kann dann, wenn es geschehen ist und er sich ausgedehnt hat in den Körper des Mitmenschen und ausgelöscht hat, was dessen Geist war, zur Zigarette greifen oder sich zum Frühstück setzen oder, wenn es ihn danach gelüstet, auch bei der Welt als Wille und Vorstellung einkehren.
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Meine Kerle von Breendonk begnügten sich mit der Zigarette und ließen, sobald sie des Folterns müde waren, gewiß den alten Schopenhauer ungeschoren. Darum aber war das Böse, das sie mir bereiteten, doch nicht banal. Sie waren, wenn man es durchaus will, stumpfe Bürokraten der Tortur. Und waren aber doch auch viel mehr, das sah ich in ihren ernsten, angespannten, nicht etwa von sexualsadistischer Lust verquollenen, sondern in mörderischer Selbstrealisierung gesammelten Gesichtern. Mit ganzer Seele waren sie bei ihrer Sache, und die hieß Macht, Herrschaft über Geist und Fleisch, Exzeß der ungehemmten Selbstexpansion. Ich habe auch nicht vergessen, daß es Momente gab, wo ich der folternden Souveränität, die sie über mich ausübten, eine Art von schmählicher Verehrung entgegenbrachte. Denn ist nicht, wer einen Menschen so ganz zum Körper und wimmernder Todesbeute machen darf, ein Gott oder zumindest Halbgott? Über der konzentrierten Anstrengung der Folter vergaßen diese Leute aber natürlich ihren Beruf nicht. Sie waren Polizeibüttel, das war Metier und Routine. Und darum fuhren sie fort, mir Fragen zu stellen, immer wieder die gleichen: Komplizen, Adressen, Treffpunkte. Damit ich es nur gleich gestehe: Ich hatte nichts als Glück durch die Tatsache, daß unsere Gruppe gerade im Hinblick auf Informationserpressung recht gut organisiert war. Was man in Breendonk von mir hören wollte, wußte ich einfach selbst nicht. Hätte ich statt der Decknamen die wirklichen nennen können, es wäre vielleicht, wahrscheinlich, ein Unglück geschehen, und da stünde ich nun als der Schwächling, der ich wohl bin, und als der Verräter, der ich potentiell schon war. Dabei aber war es durchaus nicht so, daß ich ihnen das heldenhaft verpreßte Schweigen entgegengesetzt hätte, das dem Manne in solcher Lage zukommt und von dem man liest (beiläufig: fast immer in Aufzeichnungen von Leuten, die nicht selbst dabei waren). Ich sprach. Ich bezichtigte mich erfundener phantastischer Staatsverbrechen, von denen ich heute noch nicht weiß, wie sie mir baumelndem Bündel überhaupt haben einfallen können. In mir war offenbar die Hoffnung, ein wohlgezielter Schlag über den Schädel würde nach solch belastenden Geständnissen dem Elend ein Ende machen und mich schnell hinüberbefördern in den Tod, zumindest aber in Bewußtlosigkeit. Bewußtlos wurde ich schließlich wirklich - und damit war es für einmal zu Ende, denn die Büttel verzichteten darauf, den Zusammengeschlagenen wieder zu erwecken, da doch der Unsinn, den ich ihnen aufgebunden hatte, ihre blöden Hirne beschäftigte. Es war für einmal vorbei. Es ist noch immer nicht vorbei. Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden, keuche und bezichtige mich. Da gibt es kein „Verdrängen". Verdrängt man denn ein Feuermal? Man mag es vom kosmetischen Chirurgen wegoperieren lassen, aber die an seine Stelle verpflanzte Haut ist nicht die Haut, in der einem Menschen wohl sein kann. Man wird die Folter so wenig los wie die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Widerstandskraft. Ich habe mit manchen Kameraden darüber gesprochen und vielerlei Erfahrungen nachzuerleben versucht. Ist es so, daß der tapfere Mann widersteht? Ich bin nicht sicher. Da war zum Beispiel jener zum Kommunismus konvertierte junge belgische Aristokrat, der so etwas wie ein Held war, und zwar im spanischen Bürgerkrieg, wo er auf republikanischer Seite gefochten hatte. Als man ihn aber in Breendonk der Tortur unterwarf, „spie er es aus", wie es im Jargon der gemeinen Verbrecher heißt, und da er sehr viel wußte, gab er ein ganzes Organisationsnetz preis. Der Tapfere ging sehr weit in seiner Bereitschaft. Er fuhr mit den Gestapomännern in die Häuser seiner Kameraden und redete ihnen in hocherregtem Eifer zu, doch nur ja alles, aber auch alles zu gestehen, nur darin liege das Heil, und es gelte, jeden Preis zu erlegen, damit man der Tortur entgehe. Und ich habe einen anderen gekannt, einen bulgarischen Berufsrevolutionär, dem man Foltern auferlegt hatte, mit
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denen verglichen die meine nur ein etwas anstrengender Sport war, und der geschwiegen hatte, einfach und beharrlich geschwiegen. Es soll hier auch des unvergeßlichen Jean Moulin gedacht werden, der im Pariser Pantheon beigesetzt ist. Er wurde als erster Vorsitzender des Nationalen Rates der Widerstandsbewegung Frankreichs verhaftet. Hätte er gesprochen, wäre die gesamte Resistance gefällt worden. Aber er ließ sich bis über die Todesgrenze hinaus martern und verriet auch nicht einen einzigen Namen. Worin liegt die Kraft, worin die Schwäche? Ich weiß es nicht. Man weiß es nicht. Noch keiner hat übersichtliche Grenzen ziehen können zwischen der sogenannten „moralischen" und der gleichfalls unter Anführungszeichen zu setzenden „körperlichen" Widerstandskraft gegen physischen Schmerz. Es gibt nicht wenige Fachleute, die das ganze Problem des Schmerzertragens reduzieren auf rein physiologische Grundtatsachen. Zitiert sei hier nur der französische Professor der Chirurgie, Mitglied des College de France, Rene Leriche, der folgendes Urteil gewagt hat: „Wir sind nicht gleich vor dem Phänomen des Schmerzes", sagt der Professor. „Der eine leidet dort schon, wo der andere offensichtlich noch kaum etwas verspürt. Es hängt dies zusammen mit der individuellen Qualität unseres Sympathikus, mit dem Hormon der Nebenschilddrüse, mit den vasokontraktiven Substanzen der Nebennierenrinde. Wir können uns dem Begriff der Individualität auch in der physiologischen Betrachtung des Schmerzes nicht entziehen. Die Geschichte zeigt uns, daß wir Menschen von heute schmerzempfindlicher sind, als unsere Voreltern es waren, und dies unter rein physiologischem Gesichtspunkt. Hier spreche ich nicht von irgendeiner hypothetischen moralischen Widerstandskraft, sondern bleibe im Bereich der Physiologie. Die schmerzstillenden Mittel und die Narkose haben mehr zu unserer größeren Empfindlichkeit beigetragen als moralische Faktoren. Auch sind die Reaktionen verschiedener Völker auf Schmerz durchaus nicht die gleichen. Zwei Kriege haben uns Gelegenheit gegeben zu sehen, wie die körperliche Sensibilität der Deutschen, der Franzosen, der Engländer unterschiedlich ist. Vor allem gibt es darin eine große Kluft zwischen den Europäern einerseits und den Asiaten und Afrikanern andererseits: diese ertragen physische Schmerzen unvergleichlich besser als jene..." Soweit das Urteil einer chirurgischen Kapazität. Es wird von den schlichten Erfahrungen des Nichtfachmanns, der viele Individuen und Angehörige zahlreicher Volksgruppen körperliche Schmerzen und Mangel erleiden sah, kaum bestritten werden. Mir selbst fällt dabei ein, wie ich später im Konzentrationslager beobachten konnte, daß die Slawen und namentlich die Russen physische Unbill leichter und stoischer ertrugen als etwa Italiener, Franzosen, Holländer, Skandinavier. Wir sind in der Tat als Körper nicht gleich vor dem Schmerz und der Tortur. Aber das löst nicht unser Problem der Widerstandskraft, und es gibt uns keine schlüssige Antwort auf die Frage nach dem Anteil, den moralische und physische Faktoren dabei haben. Werden wir uns einig in der Reduktion auf das bar Physiologische, dann laufen wir Gefahr, am Ende jede Art von Wehleidigkeit und physischer Feigheit zu pardonieren. Legen wir aber allen Nachdruck auf die sogenannte moralische Resistenz, müßten wir einen schwächlichen, siebzehnjährigen Gymnasiasten, der vor der Tortur versagt, nach den gleichen Maßen messen wie einen athletisch gewachsenen, an manuelle Arbeit und Härten gewöhnten dreißigjährigen Arbeiter. So werden wir denn wohl hier die Frage auf sich beruhen lassen, wie damals auch ich selber meine Widerstandskraft nicht weiter analysierte, als ich zerschlagen, noch immer an den Händen gefesselt, in der Zelle lag und nachdachte. Es zieht nämlich in den, der die Folter überstanden hat und dessen Schmerzen abklingen (bevor sie später wieder aufflammen) ein ephemerer Friede ein, der dem Denken förderlich ist. Einerseits ist der Gefolterte es
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zufrieden, daß er nur noch Körper war und damit, so meint er, aller politischen Sorge ledig wurde. Ihr seid da draußen, sagt er sich ungefähr, und ich bin hier in der Zelle, und das gibt mir eine große Überlegenheit über euch. Ich habe das Unaussprechliche erfahren, damit bin ich ganz erfüllt, und ihr seht selber zu, wie ihr mit euch, der Welt und meinem Verschwinden abkommt. Andererseits ist aber auch die Verflüchtigung der Körperlichkeit, die sich in Schmerz und Tortur enthüllte, das Ende des im Leibe ausgebrochenen ungeheuren Tumultes, der Wiedergewinn einer nichtigen Stabilität, befriedend und beschwichtigend. Es gibt sogar euphorische Momente, in denen die Rückkunft schwacher Denkkräfte als ein außerordentliches Glück empfunden wird, so daß das in die Menschenähnlichkeit erwachende Gliederbündel den Drang verspürt, jetzt gleich, auf der Stelle, ohne die geringste Zeit zu verlieren, das Erlebnis geistig zu artikulieren, denn ein paar Stunden danach könnte es schon zu spät sein. Das Denken ist fast nichts als ein großes Erstaunen. Erstaunen darüber, daß man es durchgestanden hat, daß der Tumult nicht gleich auch zur Explosion des Körpers führte, daß noch eine Stirn da ist, über die man mit den gefesselten Händen streichen kann, ein Auge, das sich öffnen und schließen läßt, ein Mund, der die gewohnte Linienführung zeigen würde, könnte man ihn jetzt in einem Spiegel sehen. Wie? fragt man sich: der eines Zahnwehs wegen mit den Familienangehörigen unwirsch war, der konnte da an ausgerenkten Armen hängen und weiterleben? Den eine leichte Fingerverbrennung mit der Zigarette stundenlang mit übler Laune erfüllte, dem hat man hier mit dem Ochsenziemer Platzwunden zugefügt, die jetzt, nachdem alles vorüber ist, kaum verspürt werden? Erstaunen auch, daß einem selbst geschah, was rechtens nur jene betreffen sollte, die in anklagenden Broschüren darüber geschrieben hatten: die Tortur. Ein Mord wird verübt, aber er gehört der Zeitung, die von ihm berichtete. Ein Flugzeugunfall ereignete sich, aber der geht die Leute an, die dabei einen Verwandten verloren. Die Gestapo foltert. Aber das war bislang immer die Sache der Irgendwers, die man gepeinigt hat und die bei antifaschistischen Kongressen ihre Narben vorgewiesen haben. Daß man auf einmal selbst der Irgendwer ist, wird nur schwer begriffen. Auch das ist eine Art von Entfremdung. Sofern überhaupt aus der Erfahrung der Tortur eine über das bloß Alptraumhafte hinausgehende Erkenntnis bleibt, ist es die einer großen Verwunderung und einer durch keinerlei spätere menschliche Kommunikation auszugleichenden Fremdheit in der Welt. Staunend hat der Gefolterte erlebt, daß es in dieser Welt den anderen als absoluten Herrscher geben kann, wobei Herrschaft sich enthüllte als die Macht, Leid zuzufügen und zu vernichten. Das Herrschertum des Folterknechts über sein Opfer hat nichts zu schaffen mit der auf Grund von Sozialkontrakten ausgeübten Gewalt, wie wir sie kennen: Es ist nicht die Autorität des Verkehrspolizisten über den Fußgänger, des Steuerbeamten über den Steuerpflichtigen, des Oberleutnants über den Leutnant. Es ist auch nicht die sakrale Souveränität vergangener absolut gebietender Häuptlinge oder Könige, denn wenn diese auch Furcht erregten, waren sie doch zugleich auch Gegenstand des Vertrauens. Der König konnte schrecklich sein in seinem Grimm, aber auch gütig in seiner Milde; seine Gewalt war ein Walten. Die Macht des Peinigers, unter der der Gepeinigte stöhnt, ist aber nichts anderes als der schrankenlose Triumph des Überlebenden über den, der aus der Welt in Qual und Tod hinausgestoßen wird. Staunen über die Existenz des grenzenlos in der Tortur sich behauptenden anderen und Staunen über das, was man selber werden kann: Fleisch und Tod. Der Gefolterte hört nicht wieder auf, sich zu wundern, daß alles, was man je nach Neigung seine Seele oder seinen Geist oder sein Bewußtsein oder seine Identität nennen mag, zunichte wird, wenn es in den Schultergelenken kracht und splittert. Daß das Leben fragil ist, diese Binsenwahrheit hat er immer gekannt, und daß man es enden kann, wie es bei Shakespeare heißt, „mit einer
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Nadel bloß". Daß man aber den lebenden Menschen so sehr verfleischlichen und damit im Leben schon halb und halb zum Raub des Todes machen kann, dies hat er erst durch die Tortur erfahren. Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen. Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht. Der gemartert wurde, ist waffenlos der Angst ausgeliefert. Sie ist es, die fürderhin über ihm das Szepter schwingt. Sie - und dann auch das, was man die Ressentiments nennt. Die bleiben und haben kaum die Chance, sich in schäumend reinigendem Rachedurst zu verdichten.
Wieviel Heimat braucht der Mensch? Es ging durch die winternächtliche Eifel auf Schmugglerwegen nach Belgien, dessen Zöllner und Gendarmen uns einen legalen Grenzübertritt verwehrt haben würden, denn wir kamen ohne Paß und Visum, ohne alle rechtsgültige staatsbürgerliche Identität, als Flüchtlinge ins Land. Es war ein langer Weg durch die Nacht. Der Schnee lag kniehoch; die schwarzen Tannen sahen nicht anders aus als ihre Schwestern in der Heimat, aber es waren schon belgische Tannen, wir wußten, daß sie uns nicht haben wollten. Ein alter Jude in Gummischuhen, die er alle Augenblicke verlor, klammerte sich an den Gürtel meines Mantels, ächzte und versprach mir alle Reichtümer der Welt, wenn ich ihm nur jetzt erlaube, sich an mir festzuhalten, sein Bruder in Antwerpen sei ein großer und mächtiger Mann. Irgendwo, vielleicht in der Nähe der Stadt Eupen, nahm ein Lastwagen uns auf und führte uns tiefer ins Land hinein. Am nächsten Morgen standen meine junge Frau und ich am Bahnhofspostamt von Antwerpen und telegraphierten in mangelhaftem Schulfranzösisch, wir seien glücklich angekommen. Heureusement arrivé - das war anfangs Januar 1939. Seither habe ich so viele grüne Grenzen überschritten, daß es mir jetzt noch fremd und wunderbar erscheint, wenn ich, wohlversehen mit allen erforderlichen Reisepapieren, im Wagen eine Zollstation passiere: Stets klopft dabei mein Herz ziemlich stark, einem Pawlowschen Reflex gehorchend. Als wir in Antwerpen so sehr glücklich angekommen waren und dies in einem Kabel den daheimgebliebenen Angehörigen bestätigt hatten, wechselten wir das uns verbleibende Geld, zusammen fünfzehn Mark und fünfzig Pfennige, wenn ich mich recht entsinne. Das war der Besitz, mit dem wir, wie man so sagt, ein neues Leben zu beginnen hatten. Das alte war von uns abgefallen. Für immer? Für immer. Aber das weiß ich erst jetzt, fast siebenundzwanzig Jahre danach. Mit ein paar fremden Scheinen und Münzen traten wir ins Exil, was für ein Elend. Wer es nicht wußte, den hat es später der Alltag des Exils gelehrt: daß nämlich in der Etymologie des Wortes Elend, in dessen früher Bedeutung die Verbannung steckt, noch immer die getreueste Definition liegt. Wer das Exil kennt, hat manche Lebensantworten erlernt, und noch mehr Lebensfragen. Zu den Antworten gehört die zunächst triviale Erkenntnis, daß es keine Rückkehr gibt, weil niemals der Wiedereintritt in einen Raum auch ein Wiedergewinn der verlorenen Zeit ist. Unter den Fragen aber, die sich dem Exilierten schon am ersten Tage gleichsam ins Genick setzen und ihn nicht mehr verlassen, ist eine, die ich in diesem Aufsatz - vergeblich, das weiß ich schon, ehe ich recht begonnen habe - zu erhellen versuche: Wieviel Heimat braucht der Mensch? Was ich dabei herausfinden kann, wird wenig allgemeine Gültigkeit haben, denn ich stelle die Frage aus der sehr spezifischen Situation des aus dem Dritten Reich Exilierten, der zudem sein Land zwar verließ, weil er es unter den gegebenen Umständen auf jeden Fall hätte verlassen wollen, der
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aber darüber hinaus in die Fremde ging, weil er es mußte. Es werden sich denn meine Überlegungen aus mancherlei Gründen sehr deutlich abheben von denen jener Deutschen etwa, die aus ihren im Osten gelegenen Heimatländern vertrieben wurden. Sie verloren ihren Besitz, Haus und Hof, Geschäft, Vermögen oder auch nur einen bescheidenen Arbeitsplatz, dazu das Land, Wiesen und Hügel, einen Wald, eine Stadtsilhouette, die Kirche, in der man sie konfirmiert hatte. Wir verloren das alles auch, dazu aber noch die Menschen: den Kameraden von der Schulbank, den Nachbarn, den Lehrer. Die waren Denunzianten oder Schläger geworden, bestenfalls verlegene Abwarter. Und wir verloren die Sprache. Doch davon später. Unser Exil war auch nicht vergleichbar der Selbstverbannung jener Emigranten, die ausschließlich ihrer Gesinnung wegen dem Dritten Reich entwichen. Ihnen war es möglich, sich mit dem Reich zu arrangieren, zurückzukehren, sei es reuig, sei es nur schweigend loyal, was manche von ihnen denn auch taten, wie der deutsche Romanschriftsteller Ernst Glaeser. Für uns, die wir damals nicht zurückkehren durften und darum heute nicht zurückkehren können, stellt sich das Problem in einer dringenderen, atemloseren Weise. Es gibt eine Anekdote hierüber, die nicht wegen ihres Humorwerts hier angeführt sei, nur um ihrer illustrativen Brauchbarkeit willen. Der Romancier Erich Maria Remarque, so wird erzählt, sei nach 1933 wiederholt von Emissären des Goebbelsministeriums in seinem Heim im Tessin aufgesucht worden, denn man wollte die „arischen" und darum niemals ganz und gar dem Bösen verhafteten Emigrantenschriftsteller zur Heimkehr, Bekehrung bewegen. Als Remarque unzugänglich blieb, fragte ihn schließlich der Abgesandte des Reiches: Ja, Mann, um Gottes willen, haben Sie denn kein Heimweh? Heimweh, wieso? soll Remarque entgegnet haben, bin ich denn ein Jude? Was mich betraf, war ich aber sehr wohl ein Jude, wie mir 1935 nach Kundmachung der Nürnberger Gesetze bewußt geworden war, und darum hatte und habe ich auch Heimweh, ein übles, zehrendes Weh, das gar keinen volksliedhaft-traulichen, ja überhaupt keinen durch Gefühlskonventionen geheiligten Charakter hat und von dem man nicht sprechen kann im Eichendorff-Tonfall. Ich spürte es zum ersten Mal durchdringend, als ich mit fünfzehn Mark fünfzig am Wechselschalter in Antwerpen stand, und es hat mich so wenig verlassen wie die Erinnerung an Auschwitz oder an die Tortur oder an die Rückkehr aus dem Konzentrationslager, als ich mit fünfundvierzig Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt stand, noch einmal überaus leicht geworden nach dem Tode des einzigen Menschen, um dessentwillen ich zwei Jahre lang Lebenskräfte wach erhalten hatte. Was war, was ist dieses Heimweh der aus dem Dritten Reich zugleich wegen ihrer Gesinnung und ihrer Ahnentafel Vertriebenen? Ungern bediene ich mich in diesem Zusammenhang eines gestern noch modischen Begriffs, aber es gibt wahrscheinlich keinen treffenderen: mein, unser Heimweh war Selbstentfremdung. Die Vergangenheit war urplötzlich verschüttet, und man wußte nicht mehr, wer man war. In diesen Tagen führte ich noch nicht das Schriftstellerpseudonym französischen Klanges, mit dem ich heute meine Arbeiten zeichne. Meine Identität war gebunden an einen schlecht und recht deutschen Namen und an den Dialekt meines engeren Herkunftslandes. Aber den Dialekt habe ich mir nicht mehr gestatten wollen, seit dem Tage, da eine amtliche Bestimmung mir verbot, die Volkstracht zu tragen, in die ich von früher Kindheit an fast ausschließlich gekleidet gewesen war. Da hatte auch der Name nur noch wenig Sinn, mit dem mich die Freunde stets in mundartlicher Tonfärbung gerufen hatten. Er war gerade noch gut für die Einschreibung ins Register unerwünschter Ausländer am Antwerpener Rathaus, wo ihn die flämischen Beamten so fremdartig aussprachen, daß ich ihn kaum verstand. Und auch die Freunde waren ausgelöscht, mit denen ich im Heimatdialekt
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gesprochen hatte. Nur sie? Aber nein, alles, was mein Bewußtsein angefüllt hatte, von der Geschichte meines Landes, das nicht mehr meines war, bis zu den Landschaftsbildern, deren Erinnerung ich unterdrückte: Sie waren mir unleidlich geworden seit jenem Morgen des 12. März 1938, an dem sogar aus den Fenstern entlegener Bauernhöfe das blutrote Tuch mit der schwarzen Spinne auf weißem Grund geweht hatte. Ich war ein Mensch, der nicht mehr „wir" sagen konnte und darum nur noch gewohnheitsmäßig, aber nicht im Gefühl vollen Selbstbesitzes „ich" sagte. Manchmal geschah es, daß ich im Gespräch mit meinen mehr oder weniger wohlwollenden Antwerpener Gastfreunden beiläufig einwarf: Bei uns daheim ist das anders. „Bij ons", das klang für meine Gesprächspartner als das Natürlichste von der Welt. Ich aber errötete, denn ich wußte, daß es eine Anmaßung war. Ich war kein Ich mehr und lebte nicht in einem Wir. Ich hatte keinen Paß und keine Vergangenheit und kein Geld und keine Geschichte. Nur eine Ahnenreihe war da, aber die bestand aus traurigen Rittern Ohneland, getroffen vom Anathem. Man hatte ihnen noch nachträglich ihr Heimatrecht entzogen, und ich mußte die Schatten mitnehmen ins Exil. „V'n wie kimmt Ihr?" - von wo kommen Sie, fragte mich gelegentlich in jiddischer Sprache ein polnischer Jude, für den Wanderschaft und Vertreibung ebenso Familiengeschichte waren wie für mich eine sinnlos gewordene Seßhaftigkeit. Antwortete ich, daß ich aus Hohenems herstamme, konnte er natürlich nicht wissen, wo das liegt. Und war denn nicht meine Herkunft ganz und gar gleichgültig? Seine Vorfahren waren mit dem Bündel durch die Dörfer um Lwow getrottet, die meinen im Kaftan zwischen Feldkirch und Bregenz. Da war kein Unterschied mehr. Die SA- und SS-Leute waren nicht ganz so gut wie die Kosaken. Und der Mann, den sie bei mir zu Hause den Führer hießen, war viel schlimmer als der Zar. Der Wanderjude hatte mehr Heimat als ich. Wenn es mir schon an dieser Stelle erlaubt ist, eine erste und vorläufige Antwort zu geben auf die Frage, wieviel Heimat der Mensch braucht, möchte ich sagen: um so mehr, je weniger davon er mit sich tragen kann. Denn es gibt ja so etwas wie mobile Heimat oder zumindest Heimatersatz. Das kann Religion sein, wie die jüdische. „Nächstes Jahr in Jerusalem" haben sich von alters her die Juden im Osterritual versprochen, aber es kam gar nicht darauf an, wirklich ins Heilige Land zu gelangen, vielmehr genügte es, daß man gemeinsam die Formel sprach und sich verbunden wußte im magischen Heimatraum des Stammesgottes Jahwe. Heimatersatz kann auch Geld sein. Noch sehe ich den Antwerpener Juden vor mir, der 1940 auf der Flucht vor den deutschen Eroberern in einer flandrischen Wiese saß, aus seinem Schuh Dollarnoten holte und sie mit gehaltenem Ernst zählte. Wie glücklich Sie sind, daß Sie soviel Bargeld mit sich führen! sagte ihm neidvoll ein anderer. Und würdig darauf der Scheinezähler in seinem jiddisch durchsetzten Flämisch: „In dezen tijd behoord de mens bij zijn geld" - in dieser Zeit gehört der Mensch zu seinem Geld. Er führte die Heimat in guter amerikanischer Währung mit sich: ubi Dollar ibi patria. Auch Ruhm und Ansehen können zeitweilig stehen für die Heimat. In Heinrich Manns Lebenserinnerungen „Ein Zeitalter wird besichtigt" lese ich diese Zeilen: „Dem Bürgermeister von Paris war mein Name genannt worden. Er kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu: C'est vous, l'auteur de l'Ange Bleu! Das ist der Gipfel des Ruhmes, den ich kenne." Der große Schriftsteller hatte es da ironisch im Sinne, denn offensichtlich war er verletzt, daß eine französische Persönlichkeit von ihm nur wußte, er habe einen Roman geschrieben, der dem Film „Der blaue Engel" zugrunde lag. Wie undankbar große Schriftsteller sein können! Heinrich Mann war geborgen in der Heimat des Ruhms, und mochte dieser auch nur komisch in den Beinen der Dietrich halb und halb erkennbar gewesen sein.
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Was mich betrifft, so war ich, verloren in der Schlange der Flüchtlinge, die vor dem Antwerpener jüdischen Hilfskomitee um die wöchentliche Unterstützung anstanden, ent-borgen ganz und gar. Die damals berühmten oder auch nur einigermaßen bekannten Emigrantenschriftsteller deutscher Zunge, deren Exildokumente heute in dem vom Wegner-Verlag herausgegebenen Band „Verbannung" gesammelt sind, trafen einander in Paris, Amsterdam, Zürich, Sanary sur Mer, New York. Auch sie hatten Sorgen und redeten über Visum, Aufenthaltserlaubnis, Hotelrechnung. Aber in ihren Gesprächen ging es auch um die Kritik eines jüngst erschienenen Buches, eine Sitzung des Schutzverbandes der Schriftsteller, einen internationalen antifaschistischen Kongreß. Sie lebten zudem in der Illusion, sie seien die Stimme des „wahren Deutschland", die draußen sich laut erheben durfte für das in die Fesseln des Nationalsozialismus geschlagene Vaterland. Nichts dergleichen für uns Anonyme. Kein Spiel mit dem imaginären wahren Deutschland, das man mit sich genommen hatte, kein formales Ritual einer im Exil für bessere Tage aufbewahrten deutschen Kultur. Die namenlosen Flüchtlinge lebten in einem der deutschen und internationalen Realität gerechteren gesellschaftlichen Sein: das davon bestimmte Bewußtsein, gestattete, erforderte, erzwang eine gründlichere Erkenntnis der Wirklichkeit. Sie wußten, daß sie Verjagte waren und nicht Konservatoren eines unsichtbaren Museums deutscher Geistesgeschichte. Sie verstanden besser, daß man sie heimatlos gemacht hatte, und sie konnten, da sie doch über keinerlei mobilen Heimatersatz verfügten, genauer erkennen, wie dringend der Mensch eine Heimat braucht. Freilich, nur ungern lasse ich mich für einen verspäteten Nachzügler der Blut- und Boden-Armee halten, und darum will ich deutlich aussprechen, daß ich mir auch der Bereicherungen und Chancen, welche die Heimatlosigkeit uns bot, wohl bewußt bin. Die Öffnung auf die Welt hin, die die Emigration uns gab - ich weiß sie mir zu schätzen. Ich ging ins Ausland und kannte von Paul Eluard nicht viel mehr als den Namen, aber einen Schriftsteller, der Karl Heinrich Waggerl heißt, hielt ich für eine wichtige literarische Figur. Ich habe siebenundzwanzig Jahre Exil hinter mir, und meine geistigen Landsleute sind Proust, Sartre, Beckett. Nur bin ich immer noch überzeugt, daß man Landsleute in Dorf- und Stadtstraßen haben muß, wenn man der geistigen ganz froh werden soll, und daß ein kultureller Internationalismus nur im Erdreich nationaler Sicherheit recht gedeiht. Thomas Mann lebte und diskutierte in der angelsächsisch-internationalen Luft Kaliforniens und schrieb mit den Kräften nationaler Selbstgewißheit den exemplarisch deutschen „Faustus". Man lese Sartres Buch „Die Wörter" und halte es gegen die Autobiographie „Le Traitre" seines Schülers, des Emigranten Andre Gorz: Bei Sartre, dem Vollfranzosen, die Überwindung und dialektische Assimilation des Erbes der Sartre und der Schweitzer, die seinem Internationalismus Wert und Gewicht geben; bei dem halbjüdischen österreichischen Emigranten Gorz ein hektisches Suchen nach Identität, hinter dem nichts anderes steckt als das Verlangen nach gerade jener Heimatverwurzelung, aus der der andere sich stolz und männlich löste. Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben, so wie man im Denken das Feld formaler Logik besitzen muß, um darüber hinauszuschreiten in fruchtbarere Gebiete des Geistes. Doch wird es Zeit, daß ich erkläre, was in meinem Sinne die mir so unerläßlich erscheinende Heimat überhaupt bedeutet. Wir müssen uns, wenn wir darüber nachdenken, lösen von althergebrachten, romantisch klischierten Vorstellungen, denen wir allerdings an einem höher gelegenen Punkt der Denkspirale, verwandelt, als Verwandelten wiederbegegnen werden. Heimat ist, reduziert auf den positivpsychologischen Grundgehalt des Begriffs, Sicherheit. Denke ich zurück an die ersten Tage des Exils in Antwerpen, dann bleibt mir die Erinnerung eines Torkelns über schwanken Boden. Schrecken war es allein schon, daß man die Gesichter der Menschen nicht entziffern konnte. Ich saß
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beim Bier mit einem großen, grobknochigen Mann mit viereckigem Schädel, der konnte ein solider flämischer Bürger sein, vielleicht sogar ein Patrizier, ebensogut aber auch ein verdächtiger Hafenbursche, der drauf und dran war, mir seine Faust ins Gesicht zu schlagen und sich meiner Frau zu bemächtigen. Gesichter, Gesten, Kleider, Häuser, Worte (auch wenn ich sie halbwegs verstand) waren Sinneswirklichkeit, aber keine deutbaren Zeichen. In dieser Welt war für mich keine Ordnung. War das Lächeln des Polizeibeamten, der unsere Papiere kontrollierte, gutmütig, indifferent oder höhnisch? War seine tiefe Stimme grollend oder voll Wohlwollens? Ich wußte es nicht. Meinte es der alte bärtige Jude, dessen gurgelnde Laute ich immerhin als Sätze aufnahm, gut mit uns oder waren wir ihm verhaßt, weil wir durch unsere bloße Anwesenheit im Stadtbild eine schon fremdenmüde, von Wirtschaftsnöten geplagte und darum zum Antisemitismus neigende heimische Bevölkerung gegen ihn aufbrachten? Ich wankte durch eine Welt, deren Zeichen mir so uneinsichtig blieben wie die etruskische Schrift. Anders jedoch als der Tourist, für den dergleichen eine pikante Verfremdung sein mag, war ich angewiesen auf diese Welt voll Rätseln. Der Mann mit dem Vierkantschädel, der stimmgrollende Polizeiagent, der gurgelnde Jude waren meine Herren und Meister. Zu Zeiten fühlte ich mich vor ihnen hinfälliger als vor dem SS-Mann daheim, denn von dem hatte ich wenigstens mit Bestimmtheit gewußt, daß er dumm und gemein war und mir nach dem Leben trachtete. Heimat ist Sicherheit, sage ich. In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen: Da wir sie" kennen, erkennen wir sie und getrauen uns zu sprechen und zu handeln, weil wir in unsere Kenntnis-Erkenntnis begründetes Vertrauen haben dürfen. Das ganze Feld der verwandten Wörter treu, trauen, Zutrauen, anvertrauen, vertraulich, zutraulich gehört in den weiteren psychologischen Bereich des Sich-sicherFühlens. Sicher aber fühlt man sich dort, wo nichts Ungefähres zu erwarten, nichts ganz und gar Fremdes zu fürchten ist. In der Heimat leben heißt, daß sich vor uns das schon Bekannte in geringfügigen Varianten wieder und wieder ereignet. Das kann zur Verödung und zum geistigen Verwelken im Provinzialismus führen, wenn man nur die Heimat kennt und sonst nichts. Hat man aber keine Heimat, verfällt man der Ordnungslosigkeit, Verstörung, Zerfahrenheit. Einwenden läßt sich allenfalls, daß das Exil vielleicht keine unheilbare Krankheit ist, da man doch die Fremde durch ein langes Leben in ihr und mit ihr zur Heimat machen kann; man nennt das: eine neue Heimat finden. Und es ist richtig insofern, als man langsam, langsam lernt, die Zeichen zu entziffern. Man kann unter Umständen im fremden Land so „zu Hause" sein, daß man am Ende die Fähigkeit besitzt, die Menschen nach ihrer Sprache, ihren Gesichtszügen, ihren Kleidern sozial und intellektuell zu situieren, daß man Alter, Funktion, wirtschaftlichen Wert eines Hauses auf den ersten Blick erkennt, daß man die neuen Mitbürger mühelos anschließt an ihre Geschichte und Folklore. Es wird aber gleichwohl auch in diesem günstigen Fall für den Exilierten, der schon als erwachsener Mensch ins neue Land kam, der Durchblick durch die Zeichen nicht spontan sein, vielmehr ein intellektueller, mit einem gewissen geistigen Müheaufwand verbundener Akt. Nur jene Signale, die wir sehr früh aufnahmen, deren Deutung wir zugleich mit der Besitzergreifung der Außenwelt erlernten, werden zu Konstitutionselementen und Konstanten unserer Persönlichkeit: So wie man die Muttersprache erlernt, ohne ihre Grammatik zu kennen, so erfährt man die heimische Umwelt. Muttersprache und Heimatwelt wachsen mit uns, wachsen in uns hinein und werden so zur Vertrautheit, die uns Sicherheit verbürgt. Und hier begegnen wir nun der herkömmlichen, von Volkslied und banaler Spruchweisheit uns vermittelten Heimatvorstellung wieder, der ich vorerst ausgewichen bin. Was für unerwünschte Anklänge weht es doch herbei!
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Märchenerzählungen einer alten Kinderfrau, das Gesicht der Mutter überm Bett, Fliederduft aus dem Nachbarsgarten. Und warum nicht gar auch Spinnstuben und Rundgesang an der Dorf linde, die unsereins ohnehin nur aus der Literatur kennt? Man möchte die peinlich lieblichen Töne, die sich mit dem Wort Heimat assoziieren und die recht ungute Vorstellungsreihen heranführen von Heimatkunst, Heimatdichtung, Heimat-Alberei jeder Art, gerne verscheuchen. Aber sie sind hartnäckig, bleiben uns an den Fersen, stellen ihren Wirkungsanspruch. Man muß ja nun auch, bewahre, bei dem Wort Heimat nicht gleich an geistige Inferiorität denken. Man darf Carossa den mittelmäßigen Schriftsteller sein lassen, der er war. Was aber wäre Joyce ohne Dublin, Joseph Roth ohne Wien, Proust ohne Illiers? Auch die Geschichten von der Haushälterin Francoise und der Tante Leonie in der „Recherche" sind Heimatdichtung. Daß rückschrittliche Bärenhäuterei den Heimatkomplex besetzt hat, verpflichtet uns nicht, ihn zu ignorieren. Darum nochmals in aller Deutlichkeit: Es gibt keine „neue Heimat". Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener, und habe er es auch gelernt, in der Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln, sondern mit einiger Furchtlosigkeit den Fuß auf den Boden zu setzen. Es kommt mir hier darauf an, Ausmaß und Wirkung des Heimatverlustes zu bestimmen, der uns Exilierte des Dritten Reiches betraf, und da muß ich eingehender ausführen, was ich bisher nur andeutete. Alle Implikationen dieser Einbuße wurden mir erst richtig erkennbar, als 1940 die Heimat in Gestalt der deutschen Eroberertruppen uns nachrückte. Ein besonders unheimliches Erlebnis fällt mir ein, das ich 1943 hatte, kurz vor meiner Verhaftung. Unsere Widerstandsgruppe hatte damals einen Stützpunkt in der Wohnung eines Mädchens; dort stand das Vervielfältigungsgerät, auf dem wir unsere illegalen Flugblätter herstellten. Gelegentlich und nebenher hatte die allzu furchtlose junge Person, die später dann auch mit dem Leben bezahlt hat, im Gespräch erwähnt, es wohnten in ihrem Haus auch „deutsche Soldaten", was uns aber im Hinblick auf die Sicherheit des Quartiers eher günstig erschienen war. Eines Tages nun ereignete es sich, daß der unter unserem Versteck wohnende Deutsche sich durch unser Reden und unsere Hantierungen in seiner Nachmittagsruhe gestört fühlte. Er stieg hoch, pochte hart an die Tür, trat polternd über die Schwelle: ein SS-Mann mit den schwarzen Aufschlägen und den eingewebten Zeichen ausgerechnet des Sicherheitsdienstes! Wir waren alle bleich vor tödlichem Schreck, denn im Nebenzimmer standen die Utensilien unserer, ach, den Bestand des Reiches so wenig gefährdenden Propagandaarbeit. Der Mann aber, in aufgeknöpfter Uniformjacke, wirrhaarig, aus schlaftrunkenen Augen uns anstarrend, hatte gar keine in sein Jagdhundmetier einschlägigen Absichten, verlangte nur brüllend Ruhe für sich und seinen vom Nachtdienst ermüdeten Kameraden. Er stellte seine Forderung und dies war für mich das eigentlich Erschreckende an der Szene - im Dialekt meiner engeren Heimat. Ich hatte lange diesen Tonfall nicht mehr vernommen, und darum regte sich in mir der aberwitzige Wunsch, ihm in seiner eigenen Mundart zu antworten. Ich befand mich in einem paradoxen, beinahe perversen Gefühlszustand von schlotternder Angst und gleichzeitig aufwallender familiärer Herzlichkeit, denn der Kerl, der mir in diesem Augenblick zwar nicht gerade ans Leben wollte, dessen freudig erfüllte Aufgabe es aber war, meinesgleichen in möglichst großer Menge einem Todeslager zuzuführen, erschien mir plötzlich als ein potentieller Kamerad. Genügte es nicht, ihn in seiner, meiner Sprache anzureden, um dann beim Wein ein Heimat- und Versöhnungsfest zu feiern? Glücklicherweise waren Angst und Vernunftkontrolle stark genug, mich von dem absurden Vorhaben abzuhalten. Ich stammelte französische Entschuldigungsformeln, die ihn anscheinend beruhigten. Türenschlagend verließ der Mann den Ort der Subversion und mich, die vom Schicksal
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vorgesehene Beute seiner von Jägerleidenschaft beflügelten Soldatenpflicht. In diesem Augenblick begriff ich ganz und für immer, daß die Heimat Feindesland war und der gute Kamerad von der Feindheimat hergesandt, mich aus der Welt zu schaffen. Es war ein recht banales Erlebnis. Doch niemals hätte dergleichen einem deutschen Ostflüchtling zustoßen können, ebensowenig wie einem Hitleremigranten, der in New York oder Kalifornien am Luftschloß der deutschen Kultur baute. Der deutsche Ostflüchtling weiß, eine fremde Macht hat ihm sein Land genommen. Der in Sicherheit lebende Kulturemigrant glaubte, er spinne weiter am Schicksalsfaden einer nur vorübergehend und gleichfalls von einer fremden, der nationalsozialistischen Herrschaft überwältigten deutschen Nation. Wir aber hatten nicht das Land verloren, sondern mußten erkennen, daß es niemals unser Besitz gewesen war. Für uns war, was mit diesem Land und seinen Menschen zusammenhing, ein Lebensmißverständnis. Wovon wir glaubten, es sei die erste Liebe gewesen, das war, wie sie drüben sagten, Rassenschande. Was wir gemeint hatten, es habe unser Wesen ausgemacht - war es denn jemals etwas anderes als Mimikry? Bei einiger geistiger Redlichkeit war es uns, die wir während des Krieges unter feindheimatlicher Besatzung lebten, ganz unmöglich, die Heimat als von einer fremden Macht unterdrückt zu denken: zu gut gelaunt waren die Landsleute, denen wir, verborgen hinter den belgisehen Landessprachen, getarnt in Kleidern belgischen Schnitts und Geschmacks, in Straßen und Tavernen zufällig begegneten. Zu einhellig erklärten sie sich, wenn wir in absichtlich gebrochenem Deutsch ein Gespräch mit ihnen anknüpften, für ihren Führer und dessen Unternehmungen. Sie sangen, daß sie gegen Engelland fahren wollten, mit den kräftigen Stimmen gläubiger Jugend. Und sie stimmten auch, marschierend, häufig ein ziemlich blödsinniges Lied an, in dem es hieß, die Juden zögen hin und her und durchs Rote Meer, bis endlich die Wellen zuschlügen und die Welt Ruh' habe; rhythmisch-kraftvoll und nach Einverständnis klang auch das. In solcher Gestalt hatte die Heimat uns eingeholt, und solcherart schlug die Glocke der Muttersprache an unser Ohr. Man wird jetzt besser verstehen, was ich meinte, wenn ich von der völlig neuartigen und durch keinerlei literarisch fixierte Gefühlskonventionen bestimmten Qualität unseres Heimwehs sprach. Das traditionelle Heimweh nun ja, das war uns als kleine Zugabe mitbeschert worden. Wir holten es in anmaßender Wehmut, denn ein Anrecht hatten wir nicht darauf, aus uns heraus, wenn wir im Exil mit Landeseinwohnern von unserer Heimat sprachen. Dann war es da und räkelte sich in voller Tränenseligkeit, denn wohl oder übel mußten wir uns den Belgiern gegenüber als Deutsche oder Österreicher konstituieren, genauer gesagt: wir waren es sogar in diesen Momenten, da doch unsere Gesprächspartner uns die Heimat aufzwangen und die zu spielende Rolle vorschrieben. Das traditionelle Heimweh war für uns - und ist für jedermann, der sich's darin traurig wohl sein läßt - tröstendes Selbstmitleid. Doch war es stets unterströmt von dem Bewußtsein, daß wir es uns widerrechtlich angeeignet hatten. Wir sangen, wenn es sich so fügte, den Antwerpenern, vom Alkohol gelöst, Heimatlieder im Dialekt vor, erzählten von heimischen Bergen und Flüssen, wischten uns verstohlen die Augen. Was für ein Seelenschwindel! Es waren Reisen nach Hause mit gefälschten Papieren und gestohlenen Ahnentafeln. Wir mußten mimen, was wir doch waren, aber zu sein das Recht nicht hatten, welch närrisches, spiegelfechterisches Unterfangen! Das echte Heimweh, das „Hauptwehe", wenn es mir erlaubt ist, Thomas Mann respektvoll zu bestehlen, war anderer Art und suchte uns heim, wenn wir mit uns allein waren. Dann war kein Lied mehr, keine schwärmerische Beschwörung verlorener Landschaften, kein feuchtes und zugleich zwinkernd um Komplizität bittendes Auge. Das echte Heimweh war nicht Selbstmitleid, sondern Selbstzerstörung. Es bestand in der stückweisen Demontierung unserer
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Vergangenheit, was nicht abgehen konnte ohne Selbstverachtung und Haß gegen das verlorene Ich. Die Feindheimat wurde von uns vernichtet, und zugleich tilgten wir das Stück eigenen Lebens aus, das mit ihr verbunden war. Der mit Selbsthaß gekoppelte Heimathaß tat wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn mitten in der angestrengten Arbeit der Selbstvernichtung dann und wann auch das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz verlangte. Was zu hassen unser dringender Wunsch und unsere soziale Pflicht war, stand plötzlich vor uns und wollte ersehnt werden: ein ganz unmöglicher, neurotischer Zustand, gegen den kein psychoanalytisches Kraut gewachsen ist. Therapie hätte nur die geschichtliche Praxis sein können, ich meine: die deutsche Revolution und mit ihr das kraftvoll sich ausdriik-kende Verlangen der Heimat nach unserer Wiederkehr. Aber die Revolution fand nicht statt, und unsere Wiederkehr war für die Heimat nichts als eine Verlegenheit, als schließlich die nationalsozialistische Macht von außen gebrochen wurde. Dem Verhältnis zur Heimat verwandt war in den Jahren des Exils die Beziehung zur Muttersprache. In einem ganz bestimmten Sinn haben wir auch sie verloren und können kein Rückerstattungsverfahren einleiten. In dem schon erwähnten Buch „Verbannung", einer Sammlung von Exildokumenten deutscher Schriftsteller, lese ich eine Aufzeichnung des Philosophen Günther Anders, in der es heißt: „Niemand kann sich ausschließlich jahrelang in Sprachen bewegen, die er nicht beherrscht und im besten Fall nur unzulänglich nachplappert, ohne seinem inferioren Sprechen zum Opfer zu fallen... Während wir unser Englisch, Französisch, Spanisch noch nicht gelernt hatten, begann unser Deutsch Stück für Stück abzubröckeln, und zumeist so heimlich und allmählich, daß wir den Verlust nicht bemerkten." Doch hierin ist bei weitem nicht das ganze Sprachproblem des Exilierten eingeschlossen. Statt von einem „Abbröckeln" der Muttersprache würde ich lieber von ihrer Schrumpfung sprechen. Wir bewegten uns nämlich nicht nur in der fremden Sprache, sondern auch, wenn wir uns des Deutschen bedienten, im enge zusammenrückenden Raum eines sich ständig wiederholenden Vokabulars. Notwendigerweise drehten sich Gespräche mit Schicksalsgenossen stets um die gleichen Gegenstände: erst um Fragen des Lebensunterhalts, um Aufenthalts- und Reisepapiere, später, unter der deutschen Besatzung, um die bare Todesgefahr. Die mit uns redeten, führten unserer Sprache keine neuen Substanzen zu, warfen uns nur das Spiegelbild der eigenen zurück. Wir drehten uns allemal im Kreis der gleichen Themen, gleichen Wörter, gleichen Phrasen, und höchstens bereicherten wir unsere Rede aufs häßlichste durch die nachlässige Einführung von Formeln aus der Sprache des Gastlandes. Drüben, in der Feindheimat, nahm das Sprachgeschehen seinen Lauf. Nicht daß es eine schöne Sprache gewesen wäre, die dort entstand, das nicht. Aber es war - samt Feindbomber, Kriegseinwirkung, Frontleitstelle, ja sogar samt allen Ausdrücken des eigentlichen Nazislangs - eine Sprache der Wirklichkeit. Jede entwickelte Rede ist Gleichnisrede, ob sie uns erzählt von einem Baum, der trotzig einen kahlen Ast in den Himmel reckt, oder vom Juden, der vorderasiatisches Gift in den deutschen Volkskörper einträufelt. Material zum Gleichnis gibt stets die sinnfällige Realität. Wir waren aus der deutschen Realität ausgesperrt und darum auch aus der deutschen Sprache. Die meisten von uns verweigerten sich ohnehin den aus Deutschland in die besetzten Länder wehenden Sprachfetzen, mit dem prinzipiell gültigen, in der Praxis aber doch nur teilweise brauchbaren Argument, drüben würde Sprachverderb getrieben und ihre Aufgabe sei es, die deutsche Sprache „rein" zu erhalten. Dabei redeten sie teils ihr Emigranten-Chinesisch, teils eine vor unseren Augen durch Altersfalten sich entstellende Kunstsprache und ahnten zudem nicht, wieviel vom Sprachgut oder meinetwegen Sprachungut dieser Zeit sich in Deutschland erhalten würde, weit über den Zusammenbruch Hitlers hinaus, und bestimmt war, seinerseits in die Literatursprache einzugehen. Andere, wie ich selbst,
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machten den aussichtslosen Versuch, sich anzuklammern an die weiterschreitende deutsche Sprache. Täglich las ich trotz äußersten Widerwillens die „Brüsseler Zeitung", das Organ der deutschen Besatzungsmacht im Westen. Es hat meine Sprache nicht verdorben, hat ihr aber auch nicht fortgeholfen, denn ich war ausgeschlossen aus dem Schicksal der deutschen Gemeinschaft und damit auch aus der Sprache. „Feindbomber", gut, aber das waren für mich die deutschen Flugzeuge, die Englands Städte in Trümmer legten, und nicht die fliegenden Festungen der Amerikaner, die ein gleiches Geschäft in Deutschland besorgten. Der Sinngehalt jedes deutschen Wortes verwandelte sich für uns, und schließlich wurde, wir mochten uns dagegen wehren oder nicht, die Muttersprache ebenso feindselig wie die, welche sie um uns redeten. Auch hierin war unser Geschick sehr verschieden von dem jener Emigranten, die in Sicherheit in den Vereinigten Staaten, in der Schweiz, in Schweden wohnten. Die Wörter waren schwer von einer gegebenen Wirklichkeit, die hieß Todesdrohung. „Füllest wieder Busch und Tal" - da war kein einziges Wort, das nicht auch der mit gezücktem Dolch vor uns stehende Mörder im Munde hätte führen können. Busch und Tal, darin versuchte man vielleicht, sich zu verbergen. Aber man wurde aufgestöbert im stillen Nebelglanz. Und muß ich erst noch sagen, daß der so schwere Wirklichkeitsgehalt der Muttersprache, der uns im deutsch besetzten Exil erdrückte, von schrecklicher Dauerhaftigkeit war und für uns bis heute in der Sprache lastet? Es wurde uns aber darum nicht im gleichen Maße, wie die Muttersprache sich feindlich zeigte, die fremde zur wirklichen Freundin. Sie verhielt und verhält sich reserviert und nimmt uns nur zu kurzen Höflichkeitsbesuchen auf. Man spricht bei ihr vor, comme on visite des amis, was nicht dasselbe ist, wie wenn man bei Freunden einkehrt. La table wird niemals der Tisch, bestenfalls kann man sich daran sattessen. Selbst einzelne Vokale, und mochten ihnen die gleichen physikalischen Qualitäten eignen wie den heimischen, waren fremd und sind es geblieben. Da kommt mir in den Sinn, wie ich in den ersten Tagen des Exils in Antwerpen einen Milchjungen in stark flämisch-dialekthaftem Niederländisch an einer Haustür beim Abliefern seiner Ware ein „Ja" mit genau jenem dunklen, dem O sich annähernden A sagen hörte, wie er im gleichen Wort in meiner Heimatmundart üblich ist. Das „Ja" war bekannt und fremd zugleich, und ich begriff, daß ich in der anderen Sprache immer nur Gastrecht auf Widerruf haben würde. Die Mundstellung des Jungen, wenn er „Ja" sagte, war nicht die mir bekannte. Die Tür, vor der er das Wort sprach, sah anders aus als ein Haustor daheim. Der Himmel über der Straße war ein flämischer Himmel. Jede Sprache ist Teil einer Gesamtwirklichkeit, auf die man wohlbegründetes Besitzrecht haben muß, wenn man guten Gewissens und sicheren Schrittes in den Sprachraum eintreten soll. Ich habe versucht, nach- und aufzuspüren, was der Verlust von Heimat und Muttersprache für uns, die wir aus dem Dritten Reich exiliert waren, bedeutete. Die Frage drängt sich aber auf - und der Titel meiner Arbeit erheischt ja Antwort -, was Heimat überhaupt und allgemein, vom persönlichen Schicksal abgesehen, für den Zeitgenossen meint. Die Gestimmtheit der Epoche ist dem Heimatgedanken nicht günstig, das ist offenbar. Gleich denkt, wer davon reden hört, an engen Nationalismus, an Territorialansprüche von Vertriebenenverbänden, an Gestriges. Heimat - ist das nicht ein verblassender Wert, ein noch emotionsbeladener, aber schon sinnlos werdender, aus abgelebten Tagen mitgeschleppter Begriff, der in der modernen Industriegesellschaft keine Realentsprechung mehr hat? Wir werden sehen. Doch zuvor muß in aller gebotenen Kürze das Verhältnis von Heimat und Vaterland abgeklärt werden, denn eine weitum verbreitete Einstellung will zwar die Heimat in ihrer regionalen, folkloristischen Eingeschränktheit wenigstens als einen pittoresken Wert noch gelten lassen, während das Vaterland ihr als
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demagogisches Schlagwort und Ausdruck reaktionärer Verstocktheit zutiefst verdächtig ist. L'Europe des patries - das klingt nicht gut, ist nur die Obsession eines alten Generals, über den demnächst im Geschwindschritt das Zeitgeschick hinweggehen wird. Ich bin kein alter General. Ich träume nicht von nationaler Größe, finde in meinem Familienalbum keine Militärs und hohen Staatsdiener. Auch habe ich eine tiefe Abneigung gegen Schützen-, Sanges- und Trachtenfeste, bin überhaupt just das, was man in Deutschland vor gar nicht so langer Zeit eine Intelligenzbestie genannt hätte, und weiß mich nicht frei von destruktiven Tendenzen. Aber da ich ein gelernter Heimatloser bin, wage ich einzustehen für den Wert Heimat, lehne auch die scharfsinnige Unterscheidung von Heimat und Vaterland ab und glaube schließlich, daß der Mensch meiner Generation ohne die beiden, die eins sind, nur schlecht auskommen kann. Wer kein Vaterland hat, will sagen: kein Obdach in einem selbständigen, eine unabhängige staatliche Einheit darstellenden Sozialkörper, der hat, so glaube ich, auch keine Heimat. „Kde domow muj - Wo ist mein Vaterland?", sangen die Tschechen, als sie im Vielvölkerstaat der österreichisch-ungarischen Monarchie ihr tschechisches Land, das kein unabhängiger Staat war, weder als Heimat noch als Vaterland finden und empfinden konnten. Sie sangen es, weil sie ein Vaterland erobern und damit ihre Heimat verwirklichen wollten. Gut, kann man einwenden, aber das war die Reaktion eines kulturell und wirtschaftlich unterdrückten, vom deutschen Staatsvolk Österreichs „kolonisierten" Volkes. Wo aus freiem Entschluß sich gleichberechtigte Nationen zusammenschließen in einem größeren Gemeinwesen, dort können sie ihre Heimat in der Pflege eines regionalen und sprachlichen Partikularismus aufbewahren, ohne das Vaterland in staatlicher Gestalt noch nötig zu haben. Ihr Vaterland wird größer sein: ein Kleineuropa morgen, ein Großeuropa übermorgen, die Welt in einer noch nicht erkennbaren, jedoch mit Gewißheit heraneilenden Zukunft. Ich melde meine Zweifel an. Einerseits glaube ich erfahren zu haben, mit hinlänglicher Deutlichkeit, wie Heimat aufhört, Heimat zu sein, sobald sie nicht zugleich auch Vaterland ist. Als mein Land am 12. März 1938 seine staatliche Unabhängigkeit verlor und ans Großdeutsche Reich kam, wurde es mir wildfremd. Die Uniformen der Polizisten, die Briefkästen an den Häusern, die Wappen an den Ämtern, viele Schilder vor den Geschäften zeigten neue Gesichter, und selbst die Speisekarten in den Gasthäusern wiesen andere, mir unbekannte Gerichte auf. Andererseits geht das größere Vaterland seiner Qualität als Vaterland verlustig, wenn es allzuweit hinauswächst über einen noch als Heimat erfahrbaren Raum. Dann wird es zum Imperium, das seine Bewohner mit Imperialbewußtsein und erhitztem Großreichnationalismus erfüllt, wie die Sowjetunion und die USA. Wenn morgen die Nordamerikaner den ganzen Kontinent mitsamt den lateinischen Staaten eroberten, würde ihr Imperialbewußtsein das gleiche bleiben, das es heute schon ist. Dann würden sie, so wie sie heute von New England nach Iowa oder Kalifornien übersiedeln, mit ihren Familien von New York nach La Paz ziehen, im Hochgefühl, daß all dies weite Land ihnen gehöre und Untertan sei dem Präsidenten im Weißen Haus. Von Vaterland und Heimat hätten sie dann nicht mehr als heute schon, wo ihnen zwischen Texas und New Jersey ihr Reich als ein umgreifender Gesellschaftskörper eher durch die standardisierten Gebrauchsgüter der Riesenindustrien bewußt wird als durch die Sprache. Wo die General Motors ist, dort ist ihr Pseudo-vaterland und ihre Pseudoheimat. Natürlich kann man sagen: wennschon. Es ist gar kein Unglück für den Menschen, wenn er Heimat und Vaterland verliert. Im Gegenteil. Er wächst mit dem Raum, den er mit Selbstverständlichkeit als sein eigen betrachtet. Ist denn nicht für Deutsche, Franzosen, Italiener, Belgier, Holländer, Luxemburger schon heute das entstehende Kleineuropa, das doch im herkömmlichen
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Verstande weder Vaterland noch Heimat ist, ein ihnen zugewachsener Besitz? Mit gleicher Sicherheit, so sagen sie, bewegen sie sich in Karlsruhe und Neapel, Brest und Rotterdam. Sie wähnen sich in der Lage des reichen und darum bewegungs- und entscheidungsfreien Mannes, dem schon die Welt gehört: Ihn bringen ja die Jets geschwinder von Paris nach Tokio, von New York nach Toronto, als mich vor kaum vier Jahrzehnten ein Bummelzug von Wien in ein Tiroler Dorf fuhr. Der moderne Mensch tauscht Heimat gegen Welt ein. Was für ein glänzendes Geschäft! La belle affaire! Aber man muß nicht gerade ein stumpfsinnig am Orte tretender Finsterling sein, um auch daran zu zweifeln. Denn mancher vergibt, wenn er einen Kosmopolitismus zweiten Ranges einhandelt für das, was gestern Heimat hieß, den Spatzen in der Hand für den Kolibri auf dem Dach. Gleich glaubt, wer im Kleinwagen von Fürth an die Cote d'Azur reist und dort auf der Cafeterrasse deux Martinis bestellt, er sei ein Weltbürger der zweiten Jahrhunderthälfte und habe den Profit des Heimat-Welt-Geschäftes schon eingestrichen. Erst wenn er krank wird und der medecin ihm ein landesübliches Medikament verschreibt, kommen ihm düstere Gedanken über die französische Pharmakologie, und er seufzt nach Bayer und dem Herrn Doktor. Oberflächliche, durch Tourismus und Geschäftsreisen erworbene Welt- und Sprachenkenntnis ist keine Kompensation für Heimat. Das Tauschgeschäft erweist sich als ein dubioses. Doch damit soll nicht gesagt sein, daß nicht kommende Geschlechter sehr wohl ohne Heimat werden auskommen können, auskommen müssen. Das, was der französische Soziologe Pierre Bertaux die Mutation des Menschen nennt, die psychische Assimilation der technisch-wissenschaftlichen Revolution, ist unvermeidlich. Die neue Welt wird viel durchgreifender eine sein, als kühner Großeuropatraum sich dies heute vorstellt. In vollem Umfang werden die Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die wir heute noch emotionell besetzen, fungibel. Schon denken amerikanische Städteplaner daran, in der Zukunft das Haus zum Konsumgut zu machen. Man wird, so hört man, in Intervallen von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren ganze Stadtviertel einebnen und neu aufbauen, da Häuserreparaturen sich so wenig lohnen werden, wie dies heute schon bei gewissen Autoreparaturen der Fall ist. Wie aber würde in einer solchen Welt der Begriff Heimat überhaupt noch gebildet werden können? Die Städte, Autobahnen, Servicestationen, die Möbel, die elektrischen Haushaltsgegenstände, die Teller und Löffel werden überall die gleichen sein. Zu denken ist, daß auch die Sprache der Zukunftswelt das rein funktionelle Verständigungsmittel sein wird, das sie für die Naturwissenschaftler heute schon ist: Die Physiker kommunizieren in der Sprache der Mathematik, für die Cocktailparty abends genügt das Basic English. Die werdende Welt von morgen wird Heimat gewiß und Muttersprache möglicherweise aus sich ausstoßen und nur noch als einen Gegenstand historisch gelehrter Spezialforschung am Rande bestehen lassen. Jedoch, wir sind noch nicht so weit. Noch lange nicht. Noch öffnet uns, was wir Heimat nennen, den Zugang zu einer Realität, die für uns in der Wahrnehmung durch die Sinne besteht. Anders als für den Physiker, der nicht im Pendelausschlag eines Kontrollapparates Wirklichkeit erkennt, sondern in einer mathematischen Formel, sind wir darauf angewiesen zu sehen, zu hören, zu tasten. Wir sind - und vielleicht spreche ich da nicht nur für meine eigene, schon absteigende Generation derer, die um die Fünfzig sind - darauf gestellt, in Dingen zu leben, die uns Geschichten erzählen. Wir brauchen ein Haus, von dem wir wissen, wer es vor uns bewohnt hat, ein Möbelstück, in dessen kleinen Unregelmäßigkeiten wir den Handwerker erkennen, der daran arbeitete. Wir brauchen ein Stadtantlitz, das zumindest schwache Erinnerungen erweckt an den alten Kupferstich im Museum. Für die
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Städteplaner von morgen, aber nicht nur für sie, sondern auch für die ohnehin nur auf Abruf an topographischen Punkten siedelnden Bewohner wird die Realität einer Stadt in den statistischen Tabellen bestehen, die eine demographische Entwicklung vorausnehmen, in den Bauplänen und Entwürfen neuer Straßen. In unser Bewußtsein aber dringt sie in ihrer Gesamtheit als Wirklichkeit immer noch durchs Auge ein - des alten Gottfried Kellers liebes Fensterlein! - und wird verarbeitet in einem mentalen Prozeß, den wir das Erinnern nennen. Erinnern. Das Stichwort ist gefallen, und unsere Reflexionen schwingen von selbst zurück zu ihrem Hauptgegenstand: dem Heimatverlust dessen, den das Dritte Reich vertrieb. Er ist gealtert, und er hat in einer Zeitspanne, die nun schon nach Jahrzehnten zählt, lernen müssen, daß ihm nicht eine Wunde geschlagen wurde, die mit dem Ticken der Zeit vernarbt, sondern daß er an einer schleichenden Krankheit laboriert, die mit den Jahren schlimmer wird. Denn mit dem Altern steht es so, daß es uns in steigendem Maße abhängig macht von der Erinnerung an die Vergangenheit. Denke ich zurück an die ersten Jahre des Exils, dann weiß ich zwar, daß ich schon damals Heim- und Vergangenheitsweh verspürte, entsinne mich aber auch, daß beide bis zu einem gewissen Grade aufgehoben wurden durch Hoffnung. IWer jung ist, der gewährt sich selbst jenen unbeschränkten Kredit, den meist auch die Umwelt ihm einräumt. Er ist nicht nur, der er ist, sondern auch, der er sein wird. Da stand ich mit fünfzehn Mark fünfzig, da verlor ich mich in der Schlange Unterstützungsbedürftiger, da kauerte ich im Deportationszug, da löffelte ich aus einer Konservenbüchse meine Suppe. Genau zu bestimmen wußte ich mich nicht, da man mir doch Vergangenheit und Herkunft konfisziert hatte, da ich doch nicht in einem Hause wohnte, sondern in einer Baracke Nummer soundso, da ich auch den zweiten Vornamen Israel führte, den nicht die Eltern mir gegeben hatten, sondern ein Mensch namens Globke. Das war nicht gut. Das war auch nicht tödlich. Denn ich war ja, wenn auch keine entzifferbare Vergangenheit und Gegenwart, so jedenfalls eine Zukunft: vielleicht ein Mann, der einen Obergruppenführer erschlägt, vielleicht ein Arbeiter in New York, ein Siedler in Australien, ein französisch schreibender Autor in Paris, der Clochard am Seine-Quai, der es sich wohl sein läßt mit der Fuselflasche. Wer aber altert, dessen Kredit erschöpft sich. Dessen Horizont rückt ihm an den Leib, dessen Morgen und Übermorgen hat keine Kraft und keine Gewißheit. Er ist nur, der er ist. Das Kommende ist nicht mehr um ihn und darum auch nicht in ihm. Auf ein Werden kann er sich nicht berufen./ Er zeigt der Welt ein nacktes Sein. Doch kann er gleichwohl bestehen, wenn in diesem Sein ausgewogen ein Gewesen ruht. Ach wissen Sie, sagt der Alternde, dessen zukunftsloses Sein ein sozial nicht dementiertes Gewesensein enthält — ach wissen Sie, da sehen Sie vielleicht nur den kleinen Buchhalter, den mittelmäßigen Maler, den mühselig die Stiegen hinaufkeuchenden Asthmatiker. Sie sehen den, der ich bin, nicht den, der ich war. Aber auch der ich war, macht mein Ich noch aus, und da kann ich Ihnen auf Ehre versichern, daß mein Mathematiklehrer große Hoffnungen in mich setzte, .daß meine erste Ausstellung brillante Kritiken fand, daß ich ein guter Skifahrer war. Nehmen Sie dies doch bitte hinein in das Bild, das Sie sich von mir machen. Billigen Sie mir die Dimension meiner Vergangenheit zu, ich wäre sonst ganz unvollständig. Es ist nicht wahr oder jedenfalls nicht ganz wahr, daß der Mensch nur ist,. was er verwirklichte. Nicht durchaus stimmt es, was Sartre einmal gesagt hat, nämlich: daß für ein zu Ende gehendes Leben das Ende die Wahrheit des Anfangs ist. War es eine klägliche Geschichte? Vielleicht. Aber sie war es nicht in allen ihren Stadien. Meine Potentialitäten von einst gehören ebenso zu mir wie mein späteres Scheitern oder unzulängliches Gelingen. Ich habe mich zurückgezogen auf die Vergangenheit, sie ist das Altenteil, auf dem ich sitze.
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Ich lebe friedlich mit ihr, danke, es geht mir nicht schlecht dabei. So ungefähr die Worte dessen, der auf seine Vergangenheit ein Anrecht hat. Der aus dem Dritten Reich Vertriebene wird sie niemals aussprechen, auch nicht denken können. Er blickt zurück - da doch die Zukunft etwas ist, das nur noch auf die Jüngeren zukommt und darum nur ihnen zukommt -, und er erspäht sich nirgendwo. Er liegt unkenntlich in den Trümmern der Jahre 1933 bis 1945. Und das nicht erst heute. Sehr genau entsinne ich mich noch jener geistig schlichten Juden aus dem Kaufmannsstand, die am Anfang des Exils, während sie die Vorzimmer exotischer Konsulate bevölkerten, sich auf ihre eben erst zerstörten sozialen Positionen in Deutschland beriefen. Der hatte ein großes Konfektionshaus in Dortmund besessen, jener ein wohlreputiertes Geschirrgeschäft in Bonn, diesen hatte man gar zum Kommerzienrat und Mitglied des Handelsgerichts gemacht. Sie ließen alle ihre Rodomontaden geschwind bleiben und duckten sich schweigend neben jene anderen hin, die niemals einen Tausendmarkschein in Händen gehalten hatten. Erstaunlich schnell begriffen sie, daß die Kunden in Dortmund und Bonn 1933 alle Käufe wieder rückgängig gemacht hatten. Ihre Vergangenheit als soziales Phänomen war von der Gesellschaft zurückgenommen worden; da war es unmöglich, sie noch als subjektiv psychologischen Besitz zu bewahren. Und je älter sie wurden, desto härter wurde ihnen der Verlust, auch dann, wenn sie längst in New York oder Tel Aviv wieder mit Kleidern und Geschirr lukrativen Handel trieben, was, beiläufig, nur einer vergleichsweise geringen Zahl von ihnen gelang. Für manche ging es aber nicht um Handelsgut, sondern um luftigen geistigen Besitz, und da wurde der Verlust des Gewesenen zur völligen Verödung der Welt. Das haben nur jene nicht genau erkannt, die schon im Augenblick ihrer Vertreibung alt waren. Im südfranzösischen Lager Gurs, wo ich mich 1941 ein paar Monate lang befand, saß damals auch, fast siebzigjährig, der zu seiner Zeit berühmte Lyriker Alfred Mombert aus Karlsruhe und schrieb an einen Freund: „Alles fließt von mir ab, wie ein großer Regen ... Alles mußte zurückbleiben, alles. Wohnung, versiegelt durch Gestapo. Mitnahme von sage hundert Reichsmark war gestattet. Ich mit meiner 72jährigen Schwester samt der gesamten jüdischen Bevölkerung Badens und der Pfalz, samt Säugling und ältestem Greis binnen einiger Stunden zum Bahnhof, dann abtransportiert via Marseille, Toulouse zu den Basses Pyrenees in ein großes Internierungslager... Ob Ähnliches je einem deutschen Dichter passiert ist?" Die fast unerträglichen Zeilen sind hier nur angeführt um des ersten und des letzten Satzes willen: zwischen beiden klafft ein Widerspruch, der die ganze Problematik unseres Exils enthält und dessen Auflösung man von dem alten Mann, der ein Jahr nach der Niederschrift des Briefes in der Schweiz starb, wahrhaftig nicht hätte verlangen können. Alles floß ab wie ein großer Regen, damit hat es seine Richtigkeit. Die Vergangenheit des neuromantischen Lyrikers Alfred Mombert, Verfassers des Bandes „Der himmlische Zecher", floß aus der Welt an dem Tage, da man einen Siebzigjährigen namens Alfred Israel Mombert aus Karlsruhe deportierte und keine Hand sich erhob, ihn zu schützen. Und dennoch schrieb er, nachdem das nicht mehr Umkehrbare sich ereignet hatte, von sich als einem „deutschen Dichter". Er hat in der Baracke von Gurs, hungrig, von Ungeziefer bedrängt, vielleicht brutalisiert von einem ahnungslosen Gendarmen des Vichy-Regimes, unmöglich erkennen können, wozu viele von uns Jahre gesammelten Nachdenkens, Nachspürens nötig hatten: daß ein deutscher Dichter nur ein Mann sein kann, der nicht nur in Deutsch dichtet, sondern für Deutsche auf deren ausdrückliches Verlangen; daß, wenn alles abfließt, auch die letzten Spuren der Vergangenheit mitgerissen werden. Die Hand, die sich zu seinem Schütze nicht erhob, hat den Alten verstoßen. Die Leser von einst, die gegen seine Deportierung nicht protestierten, hatten seine Verse ungeschehen gemacht. Mombert war, als er den tragischen Brief abfaßte, so wenig mehr ein
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deutscher Dichter wie der Kommerzienrat noch ein Kommerzienrat war, wenn er sich beim Hilfskomitee einen alten Wintermantel holte. Um dieser oder jener zu sein, brauchen wir das Einverständnis der Gesellschaft. Wenn aber die Gesellschaft widerruft, daß wir es jemals waren, sind wir es auch nie gewesen. Mombert war kein deutscher Dichter in der Baracke von Gurs: So hatte es die Hand gewollt, die sich nicht regte, als man ihn abführte. Er starb ohne Vergangenheit - und hoffen können wir nur, daß er in einigem Frieden starb, weil er es nicht wußte. Daß alles abfloß wie ein großer Regen, haben gründlicher jene erfahren, die das Dritte Reich überlebten und Zeit hatten, mit sich ins reine zu kommen. Spätestens haben sie es an dem Tag begriffen, an dem sie zum erstenmal sich altern spürten. Es altert sich schlecht im Exil. Denn der Mensch braucht Heimat. Wieviel? Das war natürlich keine echte Frage, nur eine Titelformulierung, über deren Geglücktheit man streiten kann. Es läßt sich, was der Mensch an Heimat nötig hat, nicht quantifizieren. Und doch ist man gerade in diesen Tagen, da die Heimat an Reputation verliert, stark versucht, die bloß rhetorische Frage zu beantworten und zu sagen: Er braucht viel Heimat, mehr jedenfalls, als eine Welt von Beheimateten, deren ganzer Stolz ein kosmopolitischer Ferienspaß ist, sich träumen läßt. Man muß sich wehren gegen unstatthafte Gefühlssteigerung, die einen aus der Überlegungssphäre hinaus ins Sentimentalische reißen würde. Nietzsche ist da mit seinen schreienden, schwirren Flugs zur Stadt ziehenden Krähen und dem Winterschnee, der dem Vereinsamten droht. Weh' dem, der keine Heimat hat, heißt es im Gedicht. Man mag nicht exaltiert erscheinen und verdrängt die lyrischen Anklänge. Was bleibt, ist die nüchternste Feststellung: Es ist nicht gut, keine Heimat zu haben.
Ressentiments Manchmal fügt es sich, daß ich sommers durch ein blühendes Land reise. Es ist kaum nötig, von der mustergültigen Sauberkeit seiner großen Stadtsiedlungen, von seinen idyllischen Kleinstädten und Dörfern zu sprechen, hinzuweisen auf die Qualität der Waren, die es dort zu kaufen gibt, auf die mit verläßlicher Tüchtigkeit ausgeführte Handwerksarbeit oder die eindrucksvolle Verbindung von weltläufiger Modernität und träumerischem Geschichtsbewußtsein, die sich allenthalben kundtut. All dies ist längst Legende und gereicht der Welt zum Entzücken. Man darf flüchtig andeutend darüber hinwegeilen. Auch daß es den Menschen in den Straßen so gut geht, wie ich mir immer gewünscht hatte, daß es ihnen und allen in der Welt gehe, wird in den Statistiken ausgewiesen und gilt seit Jahr und Tag als exemplarisch. Zu sagen bliebe mir allenfalls, daß ich mit den Leuten, die mir auf Autobahnen, in Zügen, Hotelfoyers begegnen und sich hierbei überaus höflich verhalten, nicht viel zu reden weiß und mir darum kein Urteil bilden kann, wie weit und wie tief die offenbare Urbanität geht. Dann und wann habe ich mit Intellektuellen zu tun: Man kann sie sich nicht wohlerzogener, bescheidener, toleranter wünschen. Auch nicht moderner, und es wird mir jedesmal ganz traumhaft zu Sinne, denke ich daran, wie viele von ihnen, die meiner eigenen Generation angehören, noch gestern auf Blunck und Griese schwuren, denn in den Gesprächen über Adorno oder Saul Bellow oder Nathalie Sarraute ist keine Spur davon zu entdecken. Das Land, durch das ich gelegentlich reise, gibt der Welt nicht nur das Beispiel wirtschaftlicher Blüte, sondern auch demokratischer Stabilität und politischer Mäßigkeit. Es hat gewisse territoriale Forderungen zu stellen und steht im Kampfe für die Wiedervereinigung mit dem von ihm unnatürlich abgetrennten und unter fremder Gewaltherrschaft leidenden Teil seines Nationalkörpers. Doch verhält es sich in diesen Fragen anerkennenswert diskret;
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wie sich seit langem erwiesen hat, will sein glückliches Volk nichts wissen von nationalen Demagogen und Agitatoren. Mir ist nicht wohl in diesem friedlichen, schönen, von tüchtigen und modernen Menschen bewohnten Lande. Warum, das hat man schon erraten: Ich gehöre jener glücklicherweise langsam aussterbenden Spezies von Menschen an, die man übereinkommensgemäß die Naziopfer nennt. Das Volk, von dem ich spreche und das ich hier anrede, zeigt gedämpftes Verständnis für meinen reaktiven Groll. Ich selber aber verstehe diesen Groll nicht ganz, noch nicht — und darum will ich mir in diesem Aufsatz über ihn klar werden. Ich wäre dem Leser dankbar, wenn er mir dabei folgen wollte, auch dann, wenn in der Stunde, die vor uns liegt, ihn mehr als einmal der Wunsch ankommen sollte, das Buch aus der Hand zu legen. Ich spreche als Opfer und untersuche meine Ressentiments. Das ist keine vergnügliche Unternehmung, weder für ihn noch für mich, und vielleicht täte ich gut daran, mich einleitend zu entschuldigen für meinen Mangel an Takt, der hierbei leider an den Tag treten wird. Takt ist eine gute und wichtige Sache, bloßer anerzogener Takt des äußerlichalltäglichen Verhaltens sowie auch Herzens- und Geistestakt. Wie wichtig er aber auch sei, er taugt nicht für die radikale Analyse, um die wir uns hier gemeinsam bemühen, und darum werde ich von ihm absehen müssen, auf die Gefahr hin, schlechte Figur zu machen. Mag sein, daß viele von uns Opfern das Taktgefühl überhaupt verloren haben. Emigration, Widerstand, Gefängnis, Folter, KZ-Haft - das ist keine Entschuldigung für Verwerfung des Taktes, soll auch keine sein. Aber es ist eine zureichende kausale Erklärung. So sei es denn angegangen: ohne Takt, mit gerade jenen Schriftstellermanieren, die meine Anstrengung um Aufrichtigkeit und das Thema selbst mir aufzwingen. Meine Aufgabe wäre leichter, wollte ich das Problem abdrängen in den Bereich der politischen Polemik. Da könnte ich mich wohl auf die Bücher von Kempner, Reitlinger, Hannah Arendt berufen und ohne weitere geistige Mühe zu einer ziemlich einleuchtenden Schlußfolgerung gelangen. Ressentiments, so würde sich dann ergeben, sind in den Opfern lebendig, weil auf der öffentlichen Szene Westdeutschlands immer noch Persönlichkeiten agieren, die den Peinigern nahestanden, weil trotz der Verlängerung der Verjährungsfrist für Schwer-Kriegsverbrechen die Verbrecher eine gute Chance haben, in Ehren alt zu werden und uns - triumphierend, dafür bürgt ihre Aktivität in ihren großen Tagen - zu überdauern. Was aber wäre mit solcher Polemik gewonnen? So gut wie nichts. Die Sache der Gerechtigkeit wurde von ehrenhaften Deutschen in unserem Namen geführt, besser, nachdrücklicher, auch vernunftvoller, als wir selbst es zu tun vermöchten. Mir aber geht es gar nicht um eine in diesem geschichtlichen Einzelfall ohnehin nur hypothetische Gerechtigkeit. Was mir anliegt, das ist die Beschreibung der subjektiven Verfassung des Opfers. Was ich beitragen kann, ist die aus Introspektion gewonnene Analyse der Ressentiments. Was ich mir aufgebe, ist die Justifizierung eines gleichermaßen von Moralisten wie Psychologen abgeurteilten seelischen Befindens: jenen gilt es als Makel, diesen als eine Art Krankheit. Ich muß mich zu ihm bekennen, den sozialen Makel tragen und die Krankheit als integrierenden Teil meiner Persönlichkeit erst auf mich nehmen, dann legitimieren. Es ist ein denkbar undankbares Bekenntnisgeschäft, und es unterwirft zudem meine Leser einer ungewohnten Geduldprobe. Die Ressentiments als existentielle Dominante von meinesgleichen sind das Ergebnis einer langen persönlichen und historischen Entwicklung. Sie waren noch keineswegs manifest an dem Tage, da ich aus dem letzten meiner Konzentrationslager, Bergen-Belsen, heimkehrte nach Brüssel, wo ich aber keine Heimat hatte. Wir Auferstandene sahen alle ungefähr so aus, wie die in Archiven aufbewahrten Fotos aus den April- und Mai tagen von 1945 uns zeigen: Skelette, die man belebt hatte mit angloamerikanischen
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Cornedbeefkonserven, kahlgeschorene, zahnlose Gespenster, gerade noch brauchbar, geschwind Zeugnis abzulegen und sich dann dorthin davonzumachen, wohin sie eigentlich gehörten. Aber wir waren „Helden", sofern wir nämlich den über unsere Straßen gespannten Spruchbändern glauben durften, auf denen zu lesen stand: Gloire aux Prisonniers Politiques! Nur verwelkten die Bänder schnell, und die hübschen Sozialfürsorgerinnen und Rotkreuzschwestern, die sich in den ersten Tagen mit amerikanischen Zigaretten eingestellt hatten, wurden der Mühe müd. Immerhin hielt geraume Zeit vor, was für mich eine völlig unerhörte sozialmoralische Stellung bedeutete und was mich nicht wenig berauschte: Ich war, als der ich war - überlebender Widerstandskämpfer, Jude, Verfolgter eines den Völkern verhaßten Regimes -, im wechselseitigen Einverständnis mit der Welt. Die mich gepeinigt und zur Wanze gemacht hatten wie einst dunkle Mächte den Protagonisten von Kafkas „Verwandlung" - sie waren selbst der Abscheu des Siegerlagers. Nicht nur der Nationalsozialismus - Deutschland war Gegenstand eines allgemeinen Gefühls, das vor unseren Augen aus Haß zu Verachtung erstarrte. Nie wieder würde dieses Land, wie man damals sagte, „den Weltfrieden gefährden". Mochte es leben, aber nicht mehr als das. Mochte es als Kartoffelacker Europas diesem Kontinent mit seinem Fleiß dienen, doch mit nichts anderem als ihm. Man sprach viel von der Kollektivschuld der Deutschen. Es wäre glatte Wahrheitsbeugung, gestände ich hier nicht ohne alle Bemäntelung ein, daß es mir recht war so. Mir schien, ich hätte die Untaten als kollektive erfahren: Vor dem braungewandeten NS-Amtswalter mit Hakenkreuzbinde hatte ich auch nicht mehr Angst gehabt als vor dem schlichten feldgrauen Landser. Auch wurde ich den Anblick der Deutschen auf einem kleinen Bahnsteig nicht los, wo man aus den Viehwaggons unseres Deportationszuges die Leichen ausgeladen und aufgeschichtet hatte, ohne daß ich auch nur auf einem der steinernen Gesichter den Ausdruck des Abscheus hätte lesen können. Das kollektive Verbrechen und die kollektive Sühne mochten sich die Waage halten und das Gleichgewicht der Weltsittlichkeit herstellen. Vae victis castigatisque. Zur Bildung von Ressentiments bestand kein Anlaß, kaum eine rechte Möglichkeit. Vom Mitleid mit einem Volk, das für mich mit der Kollektivschuld beladen war, wollte ich freilich auch nichts hören, und ziemlich gleichgültig belud ich einmal mit quäkerisch Beflissenen einen Lastwagen, der gebrauchte Kinderkleider nach dem ausgepowerten Deutschland schaffte. Die in dieser Stunde bereits von Vergebensund Versöhnungspathos vibrierenden Juden, hießen sie Victor Gollancz oder Martin Buber, waren mir fast so unangenehm wie jene anderen, die es gar nicht erwarten konnten, aus den USA, aus England oder Frankreich nach Deutschland, West oder Ost, zu eilen, um dort als sogenannte Umerzieher die Praeceptores Germaniae zu spielen. Ich war, zum erstenmal in meinem Leben, gestimmt wie die um mich ertönende öffentliche Meinung. Es war mir friedlich wohl in der so ganz und gar ungewohnten Rolle des Konformisten. Das Kartoffelacker- und RuinenDeutschland war für mich eine versunkene Weltregion. Ich vermied es, seine, meine Sprache zu sprechen, und wählte ein Pseudonym romanischer Resonanz. Was die politische Weltuhr wirklich geschlagen hatte, das wußte ich freilich nicht. Denn während ich mich der Überwinder meiner Peiniger von gestern dünkte, waren die wirklichen Sieger schon daran, für die Unterlegenen Pläne auszuarbeiten, die nichts, aber schon gar nichts mehr mit Kartoffeläckern zu tun hatten. Im Augenblick, da ich mir einbildete, ich hätte endlich durch mein erlittenes Schicksal die Weltmeinung eingeholt, war diese schon im Begriff, sich selbst zu überschreiten. Ich wähnte mich mitten in der Wirklichkeit der Zeit und war schon zurückgeworfen auf eine Illusion. Zum erstenmal stutzte ich 1948 bei der Durchfahrt durch Deutschland im Eisenbahnzug. Ein Zeitungsblatt der amerikanischen Besatzungsmacht fiel mir da in die Hand, und ich überflog einen Leserbrief, in dem es anonym an die
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Adresse der GI's hieß: „Macht euch nur nicht so dicke bei uns. Deutschland wird wieder groß und mächtig werden. Schnürt euer Ränzlein, ihr Gauner." Der offenbar, teils von Goebbels, teils von Eichendorff inspirierte Briefschreiber konnte damals so wenig wie ich selbst ahnen, daß es diesem Deutschland in der Tat bestimmt war, großartigste Macht-Wiederauferstehung zu feiern, dies jedoch nicht gegen die khakifarbenen transatlantischen Soldaten, sondern mit ihnen. Ich stutzte nur, weil es so einen Korrespondenten überhaupt gab und weil ich eine deutsche Stimme vernahm, die anders klang als ich meinte, daß ihr auf lange Zeit hin zu klingen auferlegt sei: nach Zerknirschung. Von Zerknirschung war dann in den kommenden Jahren immer weniger die Rede. Der Paria Deutschland wurde erst aufgenommen in die Gemeinschaft der Völker, danach hofierte man ihn, schließlich mußte man ganz emotionsfrei im Mächtespiel mit ihm rechnen. Man kann billigerweise von niemandem verlangen, daß er unter diesen Umständen - Umständen eines beispiellosen wirtschaftlichen, industriellen, auch militärischen Aufstiegs - sich weiter die Haare raufe und an die Brust schlage. Die Deutschen, die sich selbst durchaus als Opfervolk verstanden, da sie doch nicht nur die Winter vor Leningrad und Moskau hatten überstehen müssen, nicht nur die Bombardements ihrer Städte, nicht nur das Urteil von Nürnberg, sondern auch die Zerstückelung ihres Landes -, sie waren allzu begreiflicherweise nicht geneigt, mehr zu tun, als auf ihre Art die Vergangenheit des Dritten Reiches, wie es damals hieß: zu bewältigen./in diesen Tagen, da die Deutschen gleichzeitig für ihre Industrieprodukte die Weltmärkte eroberten und daheim nicht ohne eine gewisse Ausgeglichenheit mit der Bewältigung befaßt waren, verdichteten sich unsere - oder vielleicht darf ich zurückhaltend nur sagen: meine - Ressentiments. Ich war Zeuge, wie die deutschen Politiker, von denen sich, wenn ich recht unterrichtet war, nur wenige im Widerstandskampf ausgezeichnet hatten, eiligst und enthusiastisch den Anschluß an Europa suchten: Sie knüpften mühelos das neue an jenes andere Europa, dessen Neuordnung Hitler in seinem Sinne bereits zwischen 1940 und 1944 erfolgreich begonnen hatte. Es war auf einmal guter Boden für die Ressentiments, da brauchten nicht erst in deutschen Kleinstädten jüdische Friedhöfe und Mahnmäler für Widerstandskämpfer geschändet werden. Es genügten Gespräche wie eines, das ich mit einem süddeutschen Kaufmann 1958 beim Frühstück im Hotel geführt hatte. Der Mann versuchte mich, nicht ohne vorherige höfliche Erkundigung, ob ich Israelit sei, zu überzeugen, daß es Rassenhaß in seinem Lande nicht mehr gebe. Das deutsche Volk trage dem jüdischen nichts nach; als Beweis nannte er die großzügige Wiedergutmachungspolitik der Regierung, wie sie übrigens auch von dem jungen Staat Israel voll gewürdigt werde. Ich fühlte mich miserabel vor dem Mann, dessen Gemüt im Gleichen war: Shylock, der sein Pfund Fleisch fordert. Vae Victoribus! Die wir geglaubt hatten, der Sieg von 1945 sei wenigstens zu einem geringen Teil auch unserer gewesen, wurden genötigt, ihn zurückzunehmen. Die Deutschen trugen den Widerstandskämpfern und Juden nichts mehr nach. Wie durften diese da noch Sühneforderungen stellen? Jüdischbürtige Männer vom Schlage eines Gabriel Marcel zeigten sich auch sehr beflissen, ihre deutschen Zeitgenossen und Mitmenschen zu beruhigen: Nur ganz verstockter, moralisch verdammenswerter und geschichtlich schon abgeurteilter Haß klammere sich an eine Vergangenheit, die offensichtlich nichts anderes war als ein Betriebsunfall der deutschen Geschichte und an der das deutsche Volk in seiner Breite und Tiefe keinen Anteil hatte. Ich selber aber, zu meiner Seelennot, gehörte zur mißbilligten Minderheit derer, die da nachtrugen. Hartnäckig trug ich Deutschland seine zwölf Jahre Hitler nach, trug sie hinein in das industrielle Idyll des neuen Europas und die majestätischen Hallen des Abendlandes. Ich „fiel auf", wie einst im Lager durch schlechte Haltung beim Appell, den versöhnungsschwärmenden Kampf- und
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Leidensgenossen von gestern nicht weniger als den soeben zur Duldsamkeit bekehrten Widersachern. Ich hegte meine Ressentiments. Und da ich sie nicht loswerden kann, noch mag, muß ich mit ihnen leben und bin gehalten, sie jenen zu erhellen, gegen die sie sich richten. Dem allgemeinen Bewußtsein scheint es, als habe immer noch über die Ressentiments das letzte Wort Friedrich Nietzsche, in dessen „Genealogie der Moral" es heißt: „... das Ressentiment bestimmt solche Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der Tat, versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten . .. Der Mensch des Ressentiments ist weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel und Hintertüren, alles Versteckte mutet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal..." Also sprach, der von der Synthese des Un- mit dem Übermenschen träumte. Ihm ist zu antworten von jenen, die Zeugen waren der Vereinigung des Unmenschen mit dem Untermenschen; sie waren in Opfergestalt präsent, als eine gewisse Menschheit die Grausamkeit in Festfreude realisierte, wie Nietzsche selbst es in der Vorahnung von ein paar modernen Anthropologien ausgesprochen hatte. Aber mache ich auch den Versuch solcher Gegenrede im uneingeschränkten Besitz meiner geistigen Kräfte? Mißtrauisch auskultiere ich mich: Es könnte ja sein, daß ich krank bin, denn objektive Wissenschaftlichkeit hat aus der Beobachtung von uns Opfern in schöner Detachiertheit bereits den Begriff des „KZ-Syndroms" gewonnen. Wir alle seien, so lese ich in einem kürzlich erschienenen Buch über „Spätschäden nach politischer Verfolgung", nicht nur körperlich, sondern auch psychisch versehrt. Die Charakterzüge, die unsere Persönlichkeit ausmachen, seien verzerrt. Nervöse Ruhelosigkeit, feindseliger Rückzug auf das eigene Ich seien die Kennzeichen unseres Krankheitsbildes, Wir sind, so heißt es, „verbogen". Das läßt mich flüchtig an meine unter der Folter hinterm Rücken hochgedrehten Arme denken. Das stellt mir aber auch die Aufgabe, unsere Verbogenheit neu zu definieren: und zwar als eine sowohl moralisch als auch geschichtlich der gesunden Geradheit gegenüber ranghöhere Form des Menschlichen. So habe ich denn die Ressentiments nach zwei Seiten hin abzugrenzen, vor zwei Begriffsbestimmungen zu schirmen: gegen Nietzsche, der das Ressentiment moralisch verdammte, und gegen moderne Psychologie, die es nur als einen störenden Konflikt denken kann. Dabei gilt es Wachsamkeit. Das verführerische, tröstende Selbstmitleid könnte locken. Man mag mir aber glauben, daß ich mich mühelos davor bewahre, denn wir alle haben uns in den Kerkern und Lagern des Dritten Reiches unserer Wehrlosigkeit und vollkommenen Hinfälligkeit wegen eher verachtet als beweint; die Versuchung zur Selbstverwerfung hat sich in uns ebenso erhalten wie die Immunität gegen Selbstmitleid. Wir glauben nicht an Tränen. Es ist meinem Nachdenken nicht unentdeckt geblieben, daß das Ressentiment nicht nur ein widernatürlicher, sondern auch ein logisch widersprüchlicher Zustand ist. Es nagelt jeden von uns fest ans Kreuz seiner zerstörten Vergangenheit. Absurd fordert es, das Irreversible solle umgekehrt, das Ereignis unereignet gemacht werden. Das Ressentiment blockiert den Ausgang in die eigentlich menschliche Dimension, die Zukunft. Ich weiß, das Zeitgefühl des im Ressentiment Gefangenen ist verdreht, ver-rückt, wenn man will, denn es verlangt nach dem zweifach Unmöglichen, dem Rückgang ins Abgelebte und der Aufhebung dessen, was geschah. Davon wird noch zu sprechen sein. Jedenfalls kann aus diesem Grunde der Mensch des Ressentiments nicht einstimmen in den unisono rundum erhobenen Friedensruf, der da aufgeräumt vorschlägt: Nicht rückwärts laßt uns schauen, sondern vorwärts, in eine bessere, gemeinsame Zukunft! Der frisch ungetrübte Blick ins Zukommende fällt mir um genau soviel zu schwer, wie die Verfolger von gestern ihn sich zu leicht machen. Auch kann
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ich, flügellahm, wie mich nun einmal Exil, Illegalität, Tortur gemacht haben, nicht mitkommen bei dem ethischen Höhenflug, den ein Mann wie der französische Publizist André Neher uns Opfern proponiert. Wir Verfolgte, meint der hochfliegende Mann, müßten unser vergangenes Leid ebenso interiorisieren und in emotioneller Askese auf uns nehmen wie unsere Peiniger ihre Schuld. Daß ich es nur gestehe: Dazu fehlen mir Lust, Talent und Überzeugung. Unmöglich kann ich einen Parallelismus akzeptieren, der meinen Weg nebenher laufen ließe mit dem der Kerls, die mich mit dem Ochsenziemer züchtigten. Ich will nicht zum Komplizen meiner Quäler werden, verlange vielmehr, daß diese sich selbst negieren und in der Negation sich mir beiordnen. Nicht im Prozeß der Interiorisation, so scheint mir, sind die zwischen ihnen und mir liegenden Leichenhaufen abzutragen, sondern, im Gegenteil, durch Aktualisierung, schärfer gesagt: durch Austragung des ungelösten Konflikts im Wirkungsfeld der geschichtlichen Praxis. Es ist dahin gekommen, daß man sich verteidigen muß, wenn man solche Überlegungen anstellt. Ich weiß, man wird mir einwenden, was ich da vorbringe, sei nur die Einkleidung in schöne oder auch unschöne, jedenfalls anspruchsvolle Worte eines von fortgeschrittener Sittlichkeit glücklich überwundenen barbarisch-primitiven Racheverlangens. Mann des Ressentiments, der ich eingestandenermaßen sei, lebte ich wohl im blutigen Wahn, ich könne für das Erlittene entschädigt werden durch die von der Gesellschaft mir gewährte Freiheit, meinerseits Leid zuzufügen. Der Ochsenziemer habe mir Platzwunden geschlagen: Dafür wolle ich, wenn ich schon nicht zu fordern wage, daß der wehrlos gewordene Schläger nun meiner eigenen peitschenbewehrten Hand ausgeliefert sei, zumindest die schnöde Genugtuung haben, den Feind in der Kerkerzelle zu wissen; damit wähnte ich die Kontradiktion meines wahnhaft verdrehten Zeitgefühls ausgelöscht. Den solcherart vereinfachenden Vorwurf abzuwehren ist nicht leicht, und gänzlich unmöglich wird mir die Entkräftung des Verdachtes, ich ertränke die häßliche Realität eines bösartigen Instinktes im Wortschwall einer unverifizierbaren These. Das Risiko ist einzugehen. Wenn ich zu meinen Ressentiments stehe, wenn ich einräume, daß ich beim Durchdenken unseres Problems „befangen" bin, so weiß ich doch, daß ich der Gefangene bin der moralischen Wahrheit des Konflikts. Die Forderung nach Objektivität erscheint mir bei der Auseinandersetzung mit meinen Peinigern, mit jenen, die ihnen halfen, den anderen, die nur dazu schwiegen, als logisch sinnlos. Es hat die Untat als Untat keinen objektiven Charakter. Massenmord, Folter, Versehrung jeder Art sind objektiv nichts als Ketten physikalischer Ereignisse, beschreibbar in der formalisierten Sprache der Naturwissenschaft: Es sind Tatsachen innerhalb eines physikalischen, nicht Taten innerhalb eines moralischen Systems. Es hatten die Verbrechen des Nationalsozialismus auch für den Täter, der sich allerwegen dem Normsystem seines Führers und seines Reiches anheimgab, keine moralische Qualität. Der Untäter, der nicht durch sein Gewissen an seine Handlung gekettet ist, kennt sie von sich aus nur als Objektivation seines Willens, nicht als moralisches Ereignis. Der von seinen deutschen Herren angefeuerte flämische SS-Mann Wajs, der mich mit dem Schaufelstiel auf den Kopf schlug, wenn ich nicht schnell genug schippte, empfand das Werkzeug als die Fortsetzung seiner Hand und die Prügel als Wellenschläge seiner psychophysischen Dynamik. Die moralische Wahrheit der mir noch heute im Schädel dröhnenden Hiebe besaß und besitze ich nur selber und bin darum in höherem Maße urteilsbefugt, nicht nur als der Täter, sondern auch als die nur an ihren Bestand denkende Gesellschaft. Die Sozietät ist befaßt nur mit ihrer Sicherung und schert sich nicht um das beschädigte Leben: Sie blickt vorwärts, im günstigsten Fall, auf daß dergleichen sich nicht wieder ereigne. Meine Ressentiments aber sind da, damit das Verbrechen moralische
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Realität werde für den Verbrecher, damit er hineingerissen sei in die Wahrheit seiner Untat. SS-Mann Wajs aus Antwerpen, ein vielfacher Mörder und besonders routinierter Folterknecht, hat mit dem Leben bezahlt. Was kann mein übler Rachedurst noch mehr verlangen? Aber es handelt sich, wenn ich mich recht erforscht habe, nicht um Rache, auch nicht um Sühne. Das Erlebnis der Verfolgung war im letzten Grunde das einer äußersten Einsamkeit. Um die Erlösung aus dem noch immer andauernden Verlassensein von damals geht es mir. SS-Mann Wajs, als er vor dem Exekutionspeieton stand, erfuhr die moralische Wahrheit seiner Untaten. Er war in diesem Augenblick mit mir- und ich war nicht mehr mit dem Schaufelstiel allein. Er hat, so möchte ich glauben, im Augenblick seiner Hinrichtung die Zeit genau so umdrehen, das Geschehen genau so ungeschehen machen wollen wie ich. Als man ihn zur Richtstätte führte, war er aus dem Gegen-Menschen wieder zum Mitmenschen geworden. Wäre alles nur zwischen SS-Mann Wajs und mir vor sich gegangen und hätte nicht eine ganze umgekehrte Pyramide von SSLeuten, SS-Helfern, Amtswaltern, Kapos, ordensgeschmückten Generälen auf mir gelastet, ich wäre, so jedenfalls dünkt es mich heut, ruhig und befriedet mit dem Totenkopf-Mitmenschen gestorben. Aber Wajs aus Antwerpen war nur einer aus einer Unzahl. Die umgekehrte Pyramide bohrt mich mit ihrer Spitze noch immer in den Boden, daher die Ressentiments besonderer Art, von denen weder Nietzsche noch Max Scheler, als er 1912 über das Thema schrieb, hatten ahnen können. Daher meine geringe Neigung zur Versöhnlichkeit, präziser: die Überzeugung, daß lautbekundete Versöhnungsbereitschaft von Naziopfern nur entweder Stumpffühligkeit und Lebensindifferenz sein kann oder masochistische Konversion einer verdrängten echten Racheforderung. Wer seine Individualität aufgehen läßt in der Gesellschaft und sich nur als Funktion des Sozialen verstehen kann, der Stumpffühlige und Indifferente also, vergibt in der Tat. Er läßt das Geschehene gelassen sein, was es war. Er läßt, wie das Volk sagt, die Zeit seine Wunden heilen. Sein Zeitgefühl ist nicht verrückt, will sagen: nicht herausgerückt aus dem biologischsozialen Bereich in den moralischen. Entindividualisierter, austauschbarer Teil des Gesellschaftsmechanismus, lebt er mit diesem im Einverständnis und verhält sich, vergebend, so wie der französische Strafverteidiger Maurice Garcon im Zusammenhang mit der Verjährungsdebatte die soziale Reaktion auf das Verbrechen beschrieben hat.„Schon das Kind", belehrt uns der Maitre, „dem man eine vergangene Gehorsamsverletzung vorhält, antwortet: Aber das ist ja schon lange vorbei. Das Lange-SchonVorbeisein erscheint ihm auf natürlichste Art als Entschuldigung. Und auch wir sehen in der Entfernung durch die Zeit das Prinzip der Verjährung. Das Verbrechen verursacht Unruhe in der Gesellschaft; sobald aber das öffentliche Bewußtsein die Erinnerung an das Verbrechen verliert, verschwindet auch die Unruhe. Die vom Verbrechen zeitlich weit entfernte Strafe wird sinnlos." Dies ist richtig bis zur binsenwahren Offenbarkeit, sofern es sich um die Gesellschaft handelt, beziehungsweise um das Individuum, das sich selbst moralisch vergesellschaftet und sich auflöst im Konsensus. Es ist ohne jede Relevanz für den sich moralisch als einzigartig begreifenden Menschen. Und somit hätte ich denn durch einen Trick meine häßliche Unversöhnlichkeit ins schöne Licht von Moral und Moralität gestellt: dies wird man mir zweifellos vorhalten, und auch hierauf habe ich zu antworten, sei ich mir gleich bewußt, daß die übergewaltige Majorität aller Nichtopfer der Welt meine Rechtfertigung kaum gelten lassen wird. Doch was verschlägt's. In zwei Jahrzehnten Nachdenkens dessen, was mir widerfuhr, glaube ich erkannt zu haben, daß ein durch sozialen Druck bewirktes Vergeben und Vergessen unmoralisch ist. Der faul und wohlfeil Vergebende unterwirft sich dem sozialen und biologischen Zeitgefühl, das man auch das „natürliche" nennt. Natürliches
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Zeitbewußtsein wurzelt tatsächlich im physiologischen Prozeß der Wundheilung und ging ein in die gesellschaftliche Realitätsvorstellung. Es hat aber gerade aus diesem Grunde nicht nur außer-, sondern widermoralischen Charakter. Recht und Vorrecht des Menschen ist es, daß er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen, also auch nicht mit dem biologischen Zuwachsen der Zeit. Was geschah, geschah: der Satz ist ebenso wahr wie er moral- und geistfeindlich ist. Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist. Der sittliche Mensch fordert Aufhebung der Zeit - im besonderen, hier zur Rede stehenden Fall: durch Festnagelung des Untäters an seine Untat. Mit ihr mag er bei vollzogener moralischer Zeitumkehrung als Mitmensch dem Opfer zugesellt sein. Ich kann mir nicht einbilden, durch die hier vorgebrachten Argumente irgendjemand, der mit den Untätern die nationale Gemeinschaft teilt, oder der nur als Nichtopfer der größeren Kommunität aller Unversehrten der Welt angehört, überzeugt zu haben. Aber ich rede gar nicht mit der Absicht, zu überreden, werfe nur blind mein Wort in die Waagschale, was immer es wiegen möge. Wie hoch wird man sein Gewicht veranschlagen? Das wird zum Teil auch davon abhängen, ob ich imstande bin, die Ressentiments, die notwendigerweise eingehen müssen in ihre Analyse, wenigstens soweit zu zügeln, daß sie ihren Gegenstand nicht ganz überwuchern. Bemühe ich mich um die Begrenzung ihres Wirkungsfeldes, muß ich noch einmal zurückkommen auf das, was ich andeutend die Kollektivschuld genannt habe. Das Wort ist unberührbar, nicht erst seit heute, schon seit 1946, denn wollte man das deutsche Volk die ihm zugedachte europäische Rolle spielen lassen, durfte man es nicht kränken. Man vertuschte. Man schämte sich, einen, wie es schien, so undurchdachten Begriff überhaupt je geprägt zu haben. Ich muß, wiewohl es mir nicht leichtfällt, an ihm festhalten, nachdem ich ihn hinlänglich definiert habe - auf jede Gefahr hin. Kollektivschuld. Das ist natürlich blanker Unsinn, sofern es impliziert, die Gemeinschaft der Deutschen habe ein gemeinsames Bewußtsein, einen gemeinsamen Willen, eine gemeinsame Handlungsinitiative besessen und sei darin schuldhaft geworden. Es ist aber eine brauchbare Hypothese, wenn man nichts anderes darunter versteht als die objektiv manifest gewordene Summe individuellen Schuldverhaltens. Dann wird aus der Schuld jeweils einzelner Deutscher - Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld - die Gesamtschuld eines Volkes. Der Begriff der Kollektivschuld ist vor seiner Anwendung zu entmythisieren und zu entmystifizieren. So verliert er den dunklen, schicksalhaften Klang und wird zu dem, als das er allein zu etwas nütze ist: zu einer vage statistischen Aussage. Vage statistisch, sage ich, denn es fehlen präzise Angaben, und niemand kann feststellen, wieviele Deutsche die Verbrechen des Nationalsozialismus erkannten, billigten, selbst begingen oder in ohnmächtigem Widerwillen in ihrem Namen durchgehen ließen. Doch hat von uns Opfern jeder seine eigene, wenn auch nur approximative und ziffernmäßig nicht ausdrückbare statistische Erfahrung gemacht, denn wir lebten ja - in der Illegalität unter deutscher Besatzung im Ausland, in Deutschland selber, arbeitend in Fabriken oder gefangen in Kerkern und Lagern - in den entscheidenden Jahren mitten im deutschen Volke. Darum durfte und darf ich sagen, es seien mir die Verbrechen des Regimes als kollektive Taten des Volkes bewußt geworden. Jene, die im Dritten Reich aus dem Dritten Reich ausgebrochen waren, sei es auch nur schweigend, durch einen bösen Blick nach dem SS-Rapportführer Rakas, durch ein mitleidiges Lächeln für uns, durch ein schambezeugendes Niederschlagen der Augen — sie waren nicht zahlreich genug, in meiner ziffernlosen Statistik den rettenden Ausschlag zu geben.
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Ich habe nichts vergessen, auch die paar Tapferen nicht, denen ich begegnete. Sie sind mit mir: der invalide Soldat Herbert Karp aus Danzig, der in Auschwitz-Monowitz seine letzte Zigarette mit mir teilte; Willy Schneider, katholischer Arbeiter aus Essen, der mich mit dem schon vergessenen Vornamen ansprach und mir Brot gab, der Chemiemeister Matthäus, der mir am 6. Juni 1944 mit gequältem Seufzer sagte: „Jetzt sind sie endlich gelandet! Aber werden wir beide durchhalten bis sie endgültig gesiegt haben?" Ich habe manchen guten Kameraden. Da war der Münchener Wehrmachtsoldat, der mir nach der Folterung in Breendonk eine brennende Zigarette durchs Gitter in die Zelle warf. Da war der ritterliche baltische Ingenieur Eisner, der mir namentlich nicht mehr bekannte Grazer Techniker, der mich in Buchenwald-Dora vor dem Untergang in einem Kabelkommando bewahrte. Manchmal gräme ich mich um ihr Schicksal, das vielleicht, wahrscheinlich kein gutes war. Es ist nicht die Schuld der guten Kameraden, noch ist es die meine, daß ihr Gewicht zu gering ist, sobald sie nicht mehr in ihrer Einzigkeit vor mir stehen, sondern inmitten ihres Volkes. Ein deutscher Lyriker schrieb in einem Text, der „altbraun" heißt und den Alptraum von der braunen Mehrheit zu beschreiben sucht: „... und wenn einige gleichzeitig gegenüber vielen und allen in der Minderheit sind so sind sie dies gegenüber allen noch mehr als gegenüber vielen und alle bilden gegenüber einigen eine stärkere Mehrheit als gegenüber vielen..." Ich hatte nur mit einigen zu tun, und ihnen gegenüber bildeten die vielen, die mir schon als alle erscheinen mußten, eine übergewaltige Majorität. Die braven Männer, die ich so gerne gerettet hätte, sind schon ertrunken in der Masse der Gleichgültigen, der Hämischen und Schnöden, der Megären, alten fetten und jungen hübschen, der Autoritätsberauschten, die da glaubten, mit unseresgleichen anders als grob befehlend zu reden sei nicht nur ein Verbrechen gegen den Staat, sondern gegen ihr eigenes Ich. Die vielzuvielen waren keine SS-Männer, sondern Arbeiter, Kartothekführer, Techniker, Tippfräuleins - und nur eine Minderheit unter ihnen trug das Parteiabzeichen. Sie waren, nehmt alles nur in allem, für mich das deutsche Volk. Was um sie und mit uns geschah, das wußten sie genau, denn sie schmeckten wie wir den Brandgeruch vom nahen Vernichtungslager, und manche trugen Kleider, die man erst gestern an den Selektionsrampen den ankommenden Opfern abgenommen hatte. Ein wackerer Arbeiter, der Montagemeister Pfeiffer, zeigte sich mir einmal stolz in einem Wintermantel, einem „Judenmantel", wie er sagte, den er in seiner Tüchtigkeit sich hatte verschaffen können. Sie fanden, es sei alles in rechter Ordnung und sie hätten, des bin ich bis zur Erstarrung gewiß, für Hitler und seine Komplizen gestimmt, wären sie damals, 1943, an Wahlurnen getreten. Arbeiter, Kleinbürger, Akademiker, Bayern, Saarländer, Sachsen: da war kein Unterschied. Das Opfer mußte, es wollte dies oder nicht, glauben, daß Hitler wirklich das deutsche Volk sei. Meine Willy Schneider und Herbert Karp und Meister Matthäus hatten keine Chancen, gegen die Volksballung aufzukommen. Doch scheint mir, ich habe da soeben „quantifiziert", was eine unsühnbare Sünde wider den Geist ist, wenn man den Moralphilosophen glauben will. Nicht auf Quantitäten komme es an, sondern auf qualitativ bestimmte Symbole und Symbolakte, auf Zeichen. Quelle vieille chanson! - und durch sein Alter doch nicht ehrwürdig geworden. Wer immer mir mit dem Vorwurf unzulässiger Quantifizierung den Weg zu versperren hofft, dem stelle ich die Frage, ob wir denn im täglichen, im juristischen, im politischen, im ökonomischen so gut wie im höheren und höchsten geistigen Leben anderes tun als quantifizieren. Wer hundert Mark besitzt, der ist kein Millionär. Wer bei einer Schlägerei dem Gegner die Haut ritzt, hat ihm keine schwere Verletzung zugefügt. „Du bist Orplid, mein Land" ist weniger für das Wertgefühl des Lesers als „Krieg und Frieden". Mit der Quantität hat es der demokratische Staatsmann nicht anders
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zu tun als der Chirurg, der über einen malignen Tumor befindet, als der Musiker, der sich an die Konzeption eines orchestralen Werkes macht. Die Quantität der guten Kameraden einerseits, der Schufte und Stumpfen andererseits hatte auch ich auszumachen, als ich mitten im deutschen Volk jeden Augenblick gewärtig war, dem Massen-Ritualmord zum Opfer zu fallen. Ich mußte wohl, mochte ich es wollen oder nicht, zur Annahme statistischkollektiver Schuld kommen, und bin belastet mit dem Wissen in einer Welt, einer Zeit, die der Deutschen kollektive Unschuld proklamiert hat. Ich bin belastet mit der Kollektivschuld, sage ich: nicht sie. Die Welt, die vergibt und vergißt, hat mich verurteilt, nicht jene, die mordeten oder den Mord geschehen ließen. Ich und meinesgleichen sind die Shylocks, den Völkern nicht nur moralisch verdammenswert, sondern auch schon geprellt um das Pfund Fleisch. Die Zeit tat ihr Werk. In aller Stille. Die Generation der Vernichter, der Gaskammernkonstrukteure, der jederzeit zu jeder Unterschrift bereiten, ihrem Führer verpflichteten Feldherrn wird in Würden alt. Die Jungen aber anzuklagen wäre gar zu unmenschlich und nach Allgemeinbegriffen auch geschichtswidrig. Was sollte denn ein zwanzigjähriger Student, aufgewachsen im windstillen Klima einer neuen deutschen Demokratie, zu schaffen haben mit den Taten seiner Väter und Großväter? Nur gestockter alttestamentarisch barbarischer Haß könnte seine Last dahertragen und sie schuldloser deutscher Jugend auf die Schultern wälzen wollen. Teile der Jugend, nicht alle, glücklicherweise, protestieren denn auch mit dem guten Rechtsbewußtsein derer, die auf dem soliden Boden des natürlichen Zeitgefühls stehen. In einer deutschen Wochenschrift lese ich die Zuschrift eines offensichtlich jungen Mannes aus Kassel, der den Unmut der neuen deutschen Generationen über die schlechten, weil in jedem Bezüge unzeitgemäßen Hasser und Ressentimentgeladenen beredt ausdrückt. Da heißt es: „... schließlich sind wir es leid, immer wieder zu hören, daß unsere Väter sechs Millionen Juden umgebracht haben. Wieviele unschuldige Frauen und Kinder haben die Amerikaner mit ihren Bombenwürfen ermordet, wieviele Buren die Engländer im Burenkrieg?" Der Protest tritt mit dem moralischen Nachdruck eines, der seiner Sache sicher ist, vor uns hin. Kaum wagt man gegen ihn noch einzuwenden, daß die Gleichung „Auschwitz-Burenlager" falsche moralische Mathematik ist. Denn die ganze Welt versteht ja der jungen Deutschen Entrüstung über die grollenden Haßpropheten und stellt sich entschlossen an die Seite derer, denen die Zukunft gehört. Zukunft ist offenbar ein Wertbegriff: Was morgen sein wird, ist mehr wert als das, was gestern war. So will es natürliches Zeitempfinden. Wenn ich mich selbst frage, ob ich der deutschen Jugend nachtrage, was die ältere Generation mir zufügte, finde ich die Antwort nicht ganz so leicht. Daß die Jungen frei sind von individueller und die individuelle zur kollektiven aufsummierter Schuld, ist einsichtig. Ich muß und will ihr den Vertrauenskredit einräumen, der dem vorwärtslebenden Menschen zukommt. Nur kann man allenfalls von dieser Jugend verlangen, daß sie ihre Unschuld nicht gar so frisch und keck in Anspruch nehme wie der oben zitierte Briefschreiber. Solange nämlich das deutsche Volk einschließlich seiner jungen und jüngsten Jahrgänge sich nicht entschließt, ganz und gar geschichtsfrei zu leben - und kein Anzeichen deutet darauf hin, daß die am tiefsten geschichtsbewußte Nationalgemeinschaft der Welt plötzlich eine solche Haltung einnähme -, solange muß es die Verantwortung tragen für jene zwölf Jahre, die es ja nicht selber endigte. Die deutsche Jugend kann sich nicht auf Goethe, Mörike, den Freiherrn vom Stein berufen und Blunck, Wilhelm Schäfer, Heinrich Himmler ausklammern. Es geht nicht an, nationale Tradition dort für sich zu reklamieren, wo sie eine ehrenhafte war, und sie zu verleugnen, wo sie als die verkörperte Ehrvergessenheit einen wahrscheinlich imaginären und gewiß wehrlosen Gegner aus der Menschengemeinschaft ausstieß. Wenn deutsch sein heißt, der
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Nachkomme des Matthias Claudius sein, dann meint es doch wohl auch, daß man den NS-Parteilyriker Hermann Claudius in der Ahnenreihe hat. Das wußte Thomas Mann, als er in seinem Aufsatz „Deutschland und die Deutschen" schrieb: „Es ist für einen deutschgeborenen Geist unmöglich, zu erklären: Ich bin das gute, gerechte, edle Deutschland im weißen Kleid ... nichts von dem, was ich Ihnen über Deutschland sagte, kam aus fremdem, kühlem, unbeteiligtem Wissen; ich habe es auch in mir, ich habe alles am eigenen Leibe erfahren." Die Ausgabe des Essaybandes, aus dem ich zitiere, nennt sich „Schulausgabe moderner Autoren". Ich weiß nicht, ob die Aufsätze Thomas Manns tatsächlich in deutschen Schulen gelesen und wie sie von den Lehrern kommentiert werden. Ich kann nur hoffen, daß deutscher Jugend die Anknüpfung an Thomas Mann nicht allzu schwer fällt und daß die Mehrzahl der jungen Menschen sich nicht teilt in die Entrüstung des oben angeführten Briefschreibers. Wiederholt sei: Zur deutschen Geschichte und deutschen Tradition gehören fürderhin auch Hitler und seine Taten. Und in den Bereich deutscher Geschichte und Geschichtlichkeit kehre ich ein, wenn ich weiterspreche von den Opfer-Ressentiments. Ich habe sie vorerst nur subjektiv zu rechtfertigen versucht. Doch bin ich auch gehalten, ihre objektive Aufgabe zu definieren. Vielleicht ist es nur das Anliegen persönlicher Läuterung, aber ich möchte, daß mein Ressentiment, das mein persönlicher Protest ist wider das moralfeindliche natürliche Zeitverwachsen und in dem ich den eigentlich humanen absurden Anspruch der Zeitumkehrung erhebe -, ich möchte, daß es auch eine geschichtliche Funktion ausübe. Würde es die Aufgabe erfüllen, die ich ihm stelle, dann könnte es historisch als ein Stadium moralischer Fortschrittsdynamik der Welt stehen für die ausgebliebene deutsche Revolution. Der Anspruch ist nicht weniger absurd und nicht weniger sittlich als das individuelle Verlangen nach Reversibilität irreversibler Prozesse. Zu erhellen und zu vereinfachen, was ich meine, habe ich nur anzuknüpfen an die bereits ausgesprochene Überzeugung, daß der nicht ausgetragene Konflikt zwischen den Opfern und den Schlächtern exteriorisiert und aktualisiert werden muß, wenn es beiden, Überwältigten und Überwältigern, gelingen soll, die in ihrer radikalen Gegensätzlichkeit doch auch gemeinsame Vergangenheit zu meistern. Exteriorisierung und Aktualisierung - sie können ganz gewiß nicht bestehen in einer proportional zum Erlittenen ins Werk zu setzenden Rache. Ich kann es nicht nachweisen, doch bin ich gewiß, daß es kein Opfer gibt, das auch nur daran gedacht hätte, den Menschen Bogner aus dem Auschwitz-Prozeß in die Bogner-Schaukel zu hängen. Noch weniger hätte irgendein Vollsinniger unter uns sich je in die moralische Denkunmöglichkeit verstiegen, es sollten vier bis sechs Millionen Deutsche gewaltsam vom Leben zum Tode geführt werden. Nirgendwo anders könnte das Jus talionis weniger geschichtlich-moralische Vernunft haben als in diesem Falle. Weder kann es sich um Rache auf der einen Seite handeln, noch um eine problematische, nur theologisch sinnvolle und darum für mich gar nicht relevante Sühne auf der anderen Seite und selbstverständlich um keinerlei ohnehin historisch undenkbare Bereinigung mit Brachialmitteln. Worum also doch, da ich ja ausdrücklich von einer Austragung im Felde der geschichtlichen Praxis gesprochen habe? Nun denn, ausgetragen könnte dadurch werden, daß in einem Lager das Ressentiment bestehen bleibt, und, hierdurch geweckt, im anderen das Selbstmißtrauen. Gestachelt von den Sporen unseres Ressentiments allein und nicht im mindesten durch eine subjektiv fast immer dubiose und objektiv geschichtsfeindliche Versöhnlichkeit -, würde das deutsche Volk empfindlich dafür bleiben, daß es ein Stück seiner nationalen Geschichte nicht von der Zeit neutralisieren lassen darf, sondern es zu integrieren hat. Daß Auschwitz Deutschlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, hat, wenn ich mich recht entsinne, Hans Magnus Enzensberger einmal geschrieben, auf den es aber
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leider nicht ankommt, denn er und seine moralischen Ranggenossen sind nicht das Volk. Hält aber unser Ressentiment im Schweigen der Welt den Finger aufgerichtet, dann würde Deutschland vollumfänglich und auch in seinen künftigen Geschlechtern das Wissen bewahren, daß es nicht Deutsche waren, die die Herrschaft der Niedertracht beseitigten. Es würde dann, so hoffe ich manchmal, sein vergangenes Einverständnis mit dem Dritten Reich als die totale Verneinung nicht nur der mit Krieg und Tod bedrängten Welt, sondern auch des eigenen besseren Herkommens begreifen lernen, würde die zwölf Jahre, die für uns andere wirklich tausend waren, nicht mehr verdrängen, vertuschen, sondern als seine verwirklichte Welt- und Selbstverneinung, als sein negatives Eigentum in Anspruch nehmen. Auf geschichtlichem Felde würde sich das ereignen, was ich vorhin hypothetisch für den engen individuellen Kreis beschrieb: Zwei Menschengruppen, Überwältiger und Überwältigte, würden einander begegnen am Treffpunkt des Wunsches nach Zeitumkehrung und damit nach Moralisierung der Geschichte. Die Forderung, erhoben vom deutschen, dem eigentlich siegreichen und von der Zeit schon wieder rehabilitierten Volke, hätte ein ungeheures Gewicht, schwer genug, daß sie damit auch schon erfüllt wäre. Die deutsche Revolution wäre nachgeholt, Hitler zurückgenommen. Und am Ende wäre wirklich für Deutschland das erreicht, wozu das Volk einst nicht die Kraft oder nicht den Willen hatte und was später im politischen Mächtespiel als nicht mehr bestandsnötig hat erscheinen müssen: die Auslöschung der Schande. Wie dies in praxi gegenwärtig werden soll, mag jeder Deutsche sich selber ausmalen. Der dies schreibt, ist kein Deutscher und hat diesem Volk keine Ratschläge zu erteilen. Bestenfalls kann er sich undeutlich eine Nationalgemeinschaft vorstellen, die alles, aber auch schon alles verwürfe, was sie in den Tagen der eigenen tiefsten Erniedrigung vollbracht hat und was da und dort sich so harmlos ausnehmen kann wie Autobahnen. In seinem ausschließlich literarischen Referenzsystem verharrend, hat Thomas Mann dies einmal in einem Briefe ausgesprochen: „Es mag Aberglaube sein", schrieb er an Walter von Molo, „aber in meinen Augen sind die Bücher, die zwischen 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden." Die geistige Einstampfung durch das deutsche Volk, nicht nur der Bücher, sondern alles dessen, was man in den zwölf Jahren veranstaltete, wäre die Negation der Negation: ein in hohem Maße positiver, ein rettender Akt. Erst durch ihn würde das Ressentiment subjektiv befriedet und objektiv unnütz geworden sein^ Was für einer ausschweifenden moralischen Träumerei ich mich doch da überlassen habe! Schon sah ich ja die Gesichter der deutschen Fahrgäste auf dem Bahnsteig von 1945 angesichts der aufgeschichteten Leichen meiner Kameraden in Zorn erbleichen und sich drohend gegen unsere, ihre Peiniger richten. Schon sah ich, dank meines Ressentiments und der durch seine Spuren bewirkten deutschen Läuterung, die Zeit umgekehrt. Hat nicht ein deutscher Mann dem SS-Mann Wajs das Schlagwerkzeug Schaufel entrissen? Hat nicht den nach der Folterung Betäubten und Zerschlagenen eine deutsche Frau aufgenommen und seine Wunden gepflegt? Was ich nicht alles sah in zügelloser, die Vergangenheit in der Zukunft umgekehrten und nunmehr in der Tat und für immer bewältigten Vergangenheit! Nichts dergleichen wird sich ereignen, ich weiß, trotz allen ehrenhaften Bemühungen deutscher Intellektueller, die freilich wirklich am Ende das sein mögen, was die anderen ihnen vorhalten: wurzellos. Alle erkennbaren Vorzeichen deuten darauf hin, daß die natürliche Zeit die moralische Forderung unseres Ressentiments refüsieren und schließlich zum Erlöschen bringen wird. Die große Revolution? Deutschland wird sie nicht nachholen, und unsere Nachträgerei wird das Nachsehen haben. Das Reich Hitlers wird zunächst
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weiter als ein geschichtlicher Betriebsunfall gelten. Schließlich aber wird es Geschichte schlechthin sein, nicht besser und nicht übler als es dramatische historische Epochen nun einmal sind, blutbefleckt vielleicht, aber doch auch ein Reich, das seinen Familienalltag hatte. Das Bild des Urgroßvaters in SSUniform wird in der guten Stube hängen, und die Kinder in den Schulen werden weniger von den Selektionsrampen erfahren als von einem erstaunlichen Triumph über allgemeine Arbeitslosigkeit. Hitler, Himmler, Heydrich, Kaltenbrunner, das werden Namen sein wie Napoleon, Fouche, Robespierre und Saint Just. Schon heute lese ich ja in einem Buch, das sich „Über Deutschland" nennt und imaginäre Dialoge eines deutschen Vaters mit seinem sehr jungen Sohn enthält, daß in des Sohnes Auge kein Unterschied springt zwischen Bolschewismus und Nazismus. Was 1933 bis 1945 in Deutschland geschah, so wird man lehren und sagen, hätte sich unter ähnlichen Voraussetzungen überall ereignen können - und wird nicht weiter insistieren auf der Bagatelle, daß es sich eben gerade in Deutschland ereignet hat und nicht anderswo. In einem Buch des Titels „Rückblick zum Mauerwald" schreibt der ehemalige deutsche Generalstabsoffizier Prinz Ferdinand von der Leyen: „. .. von einer unserer Außenstellen kam eine noch grauenhaftere Nachricht. Dort waren SSKommandos in die Häuser eingedrungen und hatten aus den oberen Stockwerken Kinder, die noch nicht gehen konnten, durch die Fenster auf das Pflaster hinuntergeworfen." Aber die solcherart von einem hochzivilisierten Volk mit organisatorischer Verläßlichkeit und nahezu wissenschaftlicher Präzision vollzogene Ermordung von Millionen wird als bedauerlich, doch keineswegs einzigartig zu stehen kommen neben die mörderische Austreibung der Armenier durch die Türken oder die schändlichen Gewaltakte der Kolonialfranzosen. Alles wird untergehen in einem summarischen „Jahrhundert der Barbarei". Als die wirklich Unbelehrbaren, Unversöhnlichen, als die geschichtsfeindlichen Reaktionäre im genauen Wortverstande werden wir dastehen, die Opfer, und als Betriebspanne wird schließlich erscheinen, daß immerhin manche von uns überlebten. Ich fahre durch das blühende Land, und es wird mir immer weniger wohl dabei. Ich kann nicht sagen, daß man mir nicht allenthalben freundlich und verständnisvoll entgegenkäme. Was kann unsereins denn auch mehr verlangen, als daß deutsche Zeitungen und Funkstationen uns die Möglichkeit einräumen, deutschen Menschen grobe Taktlosigkeiten zu sagen und sich hierfür noch honorieren zu lassen? Ich weiß, selbst die Wohlwollendsten müssen am Ende so ungeduldig mit uns werden wie jener vorhin zitierte junge Briefschreiber, der „es leid" ist. Da stehe ich in Frankfurt, Stuttgart, Köln und München mit meinen Ressentiments. Was ich nachtrage, meinetwillen, aus Gründen persönlichen Heilsvorhabens, gewiß, aber doch auch wieder dem deutschen Volk zugute niemand will es mir abnehmen außer den Organen der öffentlichen Meinungsbildung, die es kaufen. Was mich entmenscht hatte, ist Ware geworden, die ich feilhalte. Schicksalsland, wo die einen ewig im Licht stehen und die anderen ewig im Dunkel. Ich durchfuhr es kreuz und quer in den Evakuierungszügen, die uns aus Auschwitz unter dem Druck der letzten Sowjetoffensive westwärts fuhren und danach von Buchenwald gen Norden nach Bergen-Belsen. Wenn der Schienenweg durch den Schnee uns über einen Zipfel böhmischen Landes führte, kamen die Bäuerinnen an den Todeszug gelaufen mit Brot und Äpfeln und mußten durch Blindschüsse der Begleitmannschaft verjagt werden. Im Reich aber: die Gesichter von Stein. Ein stolzes Volk. Ein stolzes Volk, immer noch. Der Stolz ist ein wenig in die Breite gegangen, das sei zugegeben. Er preßt sich nicht mehr in mahlenden Kiefern heraus, sondern glänzt in der Zufriedenheit des guten Gewissens und der begreiflichen Freude, es wieder einmal geschafft zu haben. Er beruft sich nicht mehr auf die heroische Waffentat, sondern auf die in der Welt einzig dastehende Produktivität. Aber es
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ist der Stolz von einst, und es ist auf unserer Seite die Ohnmacht von damals. Wehe den Besiegten. Ich muß die Ressentiments einkapseln. Noch kann ich glauben an ihren moralischen Rang und ihre geschichtliche Gültigkeit. Noch. Für wie lange? Allein, daß ich mir eine solche Frage stellen muß, zeigt das Ungeheure und Ungeheuerliche des natürlichen Zeitgefühls. Vielleicht wird es mich schon morgen zur Selbstverurteilung führen, indem es nämlich das moralische Verlangen nach Umkehrung mir als den absurden Halbklugschwatz erscheinen lassen wird, der es für die weltvernünftigen Ganzklugen heute schon ist. Dann wird das stolze Volk, in dem meine Herbert Karp, Willy Schneider, Meister Matthäus und die paar Intellektuellen von heute ertrinken, endgültig gesiegt haben. Im Grunde waren die Befürchtungen Schelers und Nietzsches nicht gerechtfertigt. Unsere Sklavenmoral wird nicht triumphieren. Die Ressentiments, Emotionsquelle jeder echten Moral, die immer eine Moral für die Unterlegenen war - sie haben geringe oder gar keine Chancen, den Überwältigern ihr böses Werk zu verbittern. Wir Opfer müssen „fertigwerden" mit dem reaktiven Groll, in jenem Sinne, den einst der KZ-Argot dem Worte „fertigmachen" gab; es bedeutete soviel wie umbringen. Wir müssen und werden bald fertig sein. Bis es soweit ist, bitten wir die durch Nachträgerei in ihrer Ruhe Gestörten um Geduld.
Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein Nicht selten, wenn mich im Gespräch ein Partner hineinreißt in einen Plural sobald er nämlich in einem beliebigen Zusammenhang meine Person einfaßt und zu mir sagt: „Wir Juden..." - fühle ich ein nicht gerade quälendes, aber doch tiefsitzendes Unbehagen. Ich habe lange versucht, diesem peniblen psychischen Mißbefinden auf den Grund zu kommen, und es wurde mir nicht ganz leicht. Ist es so, daß ich, der einstige Auschwitzhäftling, dem es wahrhaftig nicht an Gelegenheit gefehlt hat, zu erkennen, was er ist, was er sein muß - ist es denkbar, daß ich immer noch kein Jude sein wollte, wie vor Jahrzehnten, als ich weiße Wadenstrümpfe trug, eine lederne Kniehose und unruhig mein Spiegelbild beäugte, ob es mir wohl einen ansehnlichen deutschen Jüngling zeige? Natürlich nicht. Die Torheit der Verkleidung ins immerhin Angestammte liegt sehr lange zurück. Es ist mir recht, daß ich kein deutscher Jüngling war und kein deutscher Mann bin. Wie immer die Maske mir angestanden haben mochte, sie liegt in der Rumpelkammer. Wenn heute Unbehagen in mir aufsteigt, sobald ein Jude mich mit legitimer Selbstverständlichkeit einbezieht in seine Gemeinschaft, dann ist es nicht darum, weil ich kein Jude sein will: nur weil ich es nicht sein kann. Und es doch sein muß. Und mich diesem Müssen nicht bloß unterwerfe, sondern es ausdrücklich anfordere als einen Teil meiner Person. Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, das ist es, was mir eine undeutliche Pein schafft. Von diesem Zwang, dieser Unmöglichkeit, von dieser Drangsal, diesem Unvermögen habe ich hier zu handeln und kann hierbei nur ungewiß hoffen, das Individuelle sei beispielhaft genug, auch jene zu betreffen, die Juden weder sind noch sein müssen. Von der Unmöglichkeit zuvor. Wenn Jude sein heißt, mit anderen Juden das religiöse Bekenntnis zu teilen, zu partizipieren an jüdischer Kultur- und Familientradition, ein jüdisches Nationalideal zu pflegen, dann befinde ich mich in aussichtsloser Lage. Ich glaube nicht an den Gott Israels. Ich weiß sehr wenig von jüdischer Kultur. Ich sehe mich, einen Knaben, Weihnachten zur Mitternachtsmette durch ein verschneites Dorf stapfen; ich sehe mich in keiner Synagoge. Ich höre meine Mutter Jesus, Maria und Josef anrufen, wenn kleines häusliches Unglück sich ereignete; ich höre keine hebräische Beschwörung des
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Herrn. Das Bild des Vaters - den ich kaum gekannt habe, denn er blieb dort, wohin sein Kaiser ihn geschickt hatte und sein Vaterland ihn am sichersten aufgehoben wußte - zeigte mir keinen bärtigen jüdischen Weisen, sondern einen Tiroler Kaiserjäger in der Uniform des ersten Weltkriegs. Ich war neunzehn Jahre alt, als ich von der Existenz einer jiddischen Sprache vernahm, wiewohl ich andererseits genau wußte, daß meine religiös und ethnisch vielfach gemischte Familie den Nachbarn als eine jüdische galt und niemand in meinem Hause daran dachte, das ohnehin Unverschleierbare ableugnen oder vertuschen zu wollen. Ich war Jude, so wie einer meiner Mitschüler Sohn eines bankrotten Wirtes war: wenn der Knabe mit sich allein war, mochte der geschäftliche Niedergang der Seinen so gut wie nichts für ihn bedeutet haben; wenn er sich unter uns andere mischte, verkroch er sich wie wir selber in grollende Verlegenheit. Meint also Jude sein einen kulturellen Besitz, eine religiöse Verbundenheit, dann war ich keiner und kann niemals einer werden. Freilich, es ließe sich einwenden, daß ein Besitz sich erringen, eine Bindung sich eingehen läßt und daß demnach Jude sein die Sache sein könnte eines freien Entschlusses. Wer würde mich wohl daran hindern, die hebräische Sprache zu erlernen, jüdische Geschichte und Geschichten zu lesen, auch ohne Glauben teilzunehmen an dem zugleich religiösen und nationalen jüdischen Ritual? Ich könnte, wohlversehen mit aller gebotenen jüdischen Kulturkenntnis von den Propheten bis zu Martin Buber, nach Israel auswandern und mich Jochanaan nennen. Ich habe die Freiheit, mich als einen Juden zu wählen, und sie ist meine ganze persönliche und allgemein menschliche Ehre. So wird mir versichert. Habe ich sie denn aber auch wirklich? Ich glaube es nicht. Wäre Jochanaan, stolzer Träger einer neuen selbsterworbenen Identität, durch seine supponierte gründliche Kenntnis des Chassidismus wohl davor gefeit, am 24. Dezember an einen Weihnachtsbaum mit vergoldeten Nüssen zu denken? Würde der fließend des Hebräischen sich bedienende, aufrechte Israeli so völlig den weißbestrumpften, einen bodenständigen Dialekt forcierenden Jüngling auslöschen können? Der Identitätswechsel, ein so anregendes Spiel in der modernen Literatur, in meinem Fall jedoch eine Herausforderung, vor der man in seiner menschlichen Totalität ohne den Ausweg einer Zwischenlösung besteht oder nicht - mir scheint, er hätte alle Voraussetzungen des Mißlingens. Man kann an eine Tradition, die man verloren hat, wieder anknüpfen. Man kann sie aber nicht frei für sich erfinden, das ist es. Da ich kein Jude war, bin ich keiner; und da ich keiner bin, werde ich keiner sein können. Jochanaan, am Karmel heimgesucht und heimgeholt von Erinnerungen an Alpentäler und das Glöcklerlaufen, wäre noch inauthentischer als einst der Wadenstrumpfjüngling. Die Dialektik der Selbstverwirklichung: zu sein, der man ist, indem man zu dem wird, der man sein soll und will, sie ist für mich blockiert. Denn das EtwasSein, nicht als metaphysische Essenz, sondern als einfache Aufladung des früh Erfahrenen, hat unweigerlich die Priorität. Jedermann muß sein, der er in den ersten, wenn später auch verschütteten Lebensschichtungen war. Keiner kann werden, was er vergebens in seinen Erinnerungen sucht. So ist es mir denn nicht erlaubt, Jude zu sein. Kann ich aber, da ich es doch sein muß und dieses Müssen mir die Wege verlegt, auf denen ich anderes als Jude sein dürfte, mich überhaupt nicht finden? Muß ich es denn abmachen, ohne Geschichte, als Schatten des Universell-Abstrakten, das es nicht gibt, und mich flüchten in die Leerformel, ich sei eben ein Mensch? Abwarten. Wir sind noch nicht so weit. Da der Zwang da ist - und wie gebieterisch! -, wird sich vielleicht auch die Unmöglichkeit auflösen lassen. Man will doch leben, ohne sich zu verbergen, wie ich es in der Illegalität tat, und ohne sich ins Abstrakte zu verflüchtigen. Ein Mensch? Gewiß doch, wer wollte es nicht sein. Nur ist man Mensch erst, wenn man Deutscher, Franzose, Christ, Angehöriger einer
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beliebigen definierbaren sozialen Gemeinschaft ist. Ich muß Jude sein und werde es sein, ob mit oder ohne Religion, innerhalb oder außerhalb einer Tradition, ob Jean, Hans oder Jochanaan. Warum ich es sein muß, davon ist hier zu sprechen. Es begann nicht damit, daß dem Knaben Mitschüler sagten: Eigentlich seid ihr doch Juden. Auch nicht mit der Schlägerei auf der Rampe der Universität, bei der mir zum erstenmal, lange vor Hitlers Machtantritt, eine Nazifaust einen Zahn herausschlug. Wir sind Juden, ja, und was weiter? antwortete ich dem Kameraden. Heute mein Zahn, morgen der deine, und hol' euch der Teufel, dachte ich mir nach der Prügelei und trug meine Zahnlücke stolz wie eine interessante Duellverletzung. Es fing erst an, als ich 1935 in einem Wiener Café über einer Zeitung saß und die eben drüben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze studierte. Ich brauchte sie nur zu überfliegen und konnte schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen. Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den durchaus die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte mich soeben in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht, beziehungsweise sie hatte meinem früher schon vorhandenen, aber damals nicht folgenschweren Wissen, daß ich Jude sei, eine neue Dimension gegeben. Welch eine? Keine aufs erste auslotbare. Ich war, als ich die Nürnberger Gesetze gelesen hatte, nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor. Meine Gesichtszüge waren nicht mediterran-semitischer geworden, mein Assoziationsbereich war nicht plötzlich durch Zauberkraft aufgefüllt mit hebräischen Referenzen, der Weihnachtsbaum hatte sich nicht magisch verwandelt in den siebenarmigen Leuchter. Wenn das von der Gesellschaft über mich verhängte Urteil einen greifbaren Sinn hatte, konnte es nur bedeuten, ich sei fürderhin dem Tode ausgesetzt. Dem Tode. Nun, dem gehören wir alle an, über kurz oder lang. Aber der Jude, als der ich durch Gesetzes- und Gesellschaftsbeschluß jetzt dastand, der war ihm enger versprochen schon mitten im Leben, dessen Tage waren eine zu jeder Sekunde widerrufbare Ungnadenfrist. Ich glaube nicht, daß ich unstatthafterweise Auschwitz und die Endlösung schon ins Jahr 1935 rückprojiziere, wenn ich heute diese Überlegungen anstelle. Vielmehr bin ich gewiß, daß ich in der Tat in diesem Jahr, in diesem Augenblick der Gesetzeslektüre die Todesdrohung, richtiger: das Todesurteil schon vernahm, und dazu gehörte ja auch keine besondere Geschichtsempfindlichkeit. Hatte ich denn nicht schon hundertmal die an den Erwachensaufruf Deutschlands geknüpfte Schicksalsbeschwörung vernommen, daß der Jude zugrunde gehen möge? „Juda verrecke!" - das war etwas durchaus anderes als das fast fröhliche „L'aristocrat, á la lanterne!". Es war, auch wenn man nicht bedachte oder gar nicht wußte, daß es geschichtlich anknüpfte an zahllose Pogroms der Vergangenheit, kein revolutionärer Radau, sondern die in einem Slogan - Kriegsruf! - verdichtete, wohldurchdachte Forderung eines Volkes. Ich hatte auch in diesen Tagen einmal in einer deutschen illustrierten Zeitung das Photo einer Winterhilfsveranstaltung in einer rheinischen Stadt gesehen, und da prangte im Vordergrund, vor dem elektrisch strahlenden Lichterbaum ein Spruchband des Textes „Keiner soll hungern, keiner soll frieren, aber die Juden sollen krepieren..." Und nur drei Jahre danach hörte ich am Tage der Eingliederung Österreichs ins Großdeutsche Reich im Rundfunk Joseph Goebbels heulen, man solle doch nur ja kein Wesens davon machen, daß sich jetzt in Wien ein paar Juden umbrächten. Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte, und dabei ist es in vielen Varianten, in manchen Intensitätsgraden bis heute geblieben. In der Todesdrohung, die ich zum erstenmal in voller Deutlichkeit beim Lesen der Nürnberger Gesetze verspürte, lag auch das, was man gemeinhin die methodische „Entwürdigung" der Juden
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durch die Nazis nennt. Anders formuliert: der Würdeentzug drückte die Morddrohung aus. Wir konnten es jahrelang täglich lesen und hören. Wir waren faul, böse, häßlich, fähig nur zur Untat, klug nur, soweit wir die anderen übers Ohr hauten. Wir waren unfähig zur Staatenbildung, aber auch keineswegs geeignet zur Angleichung an die Wirtsvölker. Unsere Körper, wollbehaart, fett und krummbeinig, besudelten durch ihre bloße Anwesenheit öffentliche Badeanstalten, ja sogar Parkbänke. Unsere scheußlichen Gesichter, verderbt und verdorben durch abstehende Ohren und Hängenasen, waren den Mitmenschen, Mitbürgern von gestern ein Ekel. Wir waren nicht Hebens- und darum auch nicht des Lebens würdig. Unser einziges Recht, unsere einzige Pflicht war, uns selber aus der Welt zu schaffen. Über die Entwürdigung der Juden, von der für mich feststeht, daß sie lange schon vor Auschwitz mit der Todesdrohung identisch war, hat in seinen „Betrachtungen zur Judenfrage" Jean-Paul Sartre bereits 1946 ein paar immer noch gültige Erkenntnisse ausgebreitet. Es gebe kein „Judenproblem", hat er gemeint, nur ein Problem des Antisemitismus; durch den Antisemiten sei der Jude in eine Situation gedrängt worden, in der er sich das Bild seiner selbst vom Feinde habe aufprägen lassen. Beides scheint mir unanfechtbar. Nur konnte Sartre in seinem kurzen phänomenologischen Aufriß nicht die ganze zermalmende Pression des Antisemitismus beschreiben, die den Juden dahin gebracht hatte, ganz abgesehen davon, daß der große Autor selbst sie wahrscheinlich nicht in ihrer ganzen unwiderstehlichen Gewalt erfaßte. Der Jude - und Sartre spricht hier ohne Setzung eines Wertakzentes vom „inauthentischen", das heißt, dem Mythos vom „universalen Menschen" verfallenen Juden - unterwirft sich auf seiner Flucht vor dem jüdischen Schicksal der Macht seines Unterdrückers. Doch muß man ihm zugute halten, daß er in den Jahren des Dritten Reiches mit dem Rücken gegen die Wand stand, und auch die war feindlich. Es gab keinen Ausweg. Denn es war ja nicht so, daß etwa nur parteimäßig geeichte, radikale Nazis uns die Würde des Geliebtwerdens und damit des Lebens absprachen. Ganz Deutschland, was sage ich - die ganze Welt nickte zu dem Unternehmen mit dem Kopfe, wenn auch da und dort mit einem gewissen oberflächlichen Bedauern. Man muß sich erinnern. Als nach dem zweiten Weltkrieg sich Flüchtlingsströme aus den diversen kommunistisch beherrschten Ländern nach dem Westen ergossen, wetteiferten die Staaten dieser als frei reputierten Welt in Aufnahme- und Hilfsbereitschaft, wiewohl es nur einer verschwindenden Minderheit unter all den Emigranten in ihren Heimatländern direkt ans Leben gegangen wäre. Uns aber, auch als für jeden Einsichtigen längst schon hätte feststehen müssen, was unser wartete im Deutschen Reich, wollte keiner haben. Da mußte es denn notwendigerweise dahin kommen, daß die Juden, ob authentisch oder nicht, ob geborgen in der Illusion eines Gottes und einer nationalen Erwartung oder assimiliert, in sich keine Widerstandskräfte fanden, wenn der Feind ihnen das Bild des Streicherschen „Stürmers" in die Haut brannte. Es hatte aber, wohlgemerkt, diese Hinfälligkeit nur wenig zu tun mit dem klassischen jüdischen Selbsthaß einer assimilationswilligen und assimilationswütigen deutschen Judenheit der Zeit vor Ausbruch des Nazismus. Die Selbsthasser hatten geglaubt, nicht sein zu können, was sie so sehr sein wollten: Deutsche, und hatten sich darum verschmäht. Sie hatten als Nichtdeutsche ihre Existenz nicht auf sich nehmen wollen, doch hatte niemand sie gezwungen, sich als Juden zu verwerfen. Wenn dagegen zwischen 1933 und 1945 gerade die hellsten und aufrichtigsten Köpfe unter den Juden, authentischen oder inauthentischen, zeitweilig kapitulierten vor Streicher, dann war das ein durchaus anderer, nicht mehr moralischer, sondern sozialphilosophischer Akt der Abdankung. Die Welt, so mußten sie sich wohl sagen, sieht uns so und so, faul, häßlich, unbrauchbar, böse; was hat es angesichts solchen Welteinverständnisses noch für einen Sinn zu widersprechen
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und zu sagen, daß wir es nicht seien? Die Übergabe der Juden an das Stürmerbild ihrer selbst war nichts als die Anerkennung einer gesellschaftlichen Realität: gegen diese hat eine Berufung auf eine Selbsteinschätzung anderer Ordnung bisweilen lächerlich oder närrisch erscheinen müssen. Man muß freilich dabei gewesen sein, will man mitreden. Denke ich an die soziale Realität der überall vor uns sich aufrichtenden Mauer der Ablehnung, fällt mir mein Aufenthalt in Auschwitz-Monowitz ein. Es gab da im Lager selbst, aber auch unter den sogenannten freien Arbeitern auf der Arbeitsstätte, eine strikte ethnische Hierarchie, von den Nazis über uns alle verhängt. Ein Reichsdeutscher galt mehr als ein Volksdeutscher. Ein flämischer Belgier war mehr wert als ein wallonischer. Ein Ukrainer aus dem Generalgouvernement rangierte besser als sein polnischer Landsmann. Ein Ostarbeiter war schlechter angesehen als ein Italiener. Tief unten auf den ersten Leitersprossen befanden sich die KZ-Häftlinge, und unter ihnen wieder hatten die Juden den niedrigsten Rang. Es gab keinen noch so verkommenen nichtjüdischen Berufsverbrecher, der nicht hoch über uns gestanden wäre. Die Polen, ob echte Freiheitskämpfer, die man nach der unglücklichen Warschauer Insurrektion ins Lager geworfen hatte, oder nur kleine Taschendiebe, verachteten uns einhellig. So taten halb analphabetische weißrussische Arbeiter. Aber auch Franzosen. Noch höre ich einen freien französischen Arbeiter diskutieren mit einem jüdisch-französischen KZ-Häftling. „Je suis Français", sagte der Häftling. „Français, toi? Mais, tu est juif, mon ami", gab ihm sein Landsmann sachlich und ohne Feindseligkeit zurück, denn er hatte in einer Mischung aus Furcht und Indifferenz die Lektion der deutschen Herren Europas gelernt. Ich wiederhole: Die Welt war einverstanden mit dem Platz, den die Deutschen uns zugewiesen hatten, die kleine Welt im Lager und die große draußen, die nur in seltenen und heroischen Einzelfällen sich protestierend erhob, wenn man uns in Wien oder Berlin, in Amsterdam, Paris oder Brüssel nachts aus den Wohnungen holte. Dem Entwürdigungsprozeß gegen uns Juden, der mit der Verkündung der Nürnberger Gesetze anhub und in direkter Konsequenz bis nach Treblinka führte, entsprach auf unserer, meiner Seite ein symmetrischer Prozeß um Wiedergewinn der Würde. Er ist bis heute für mich nicht abgeschlossen. Meine Bemühung, mir klar zu werden über seine Stadien und sein vorläufiges Ergebnis, sei hier bezeugt, verbunden mit der Bitte an den Leser, mich dabei eine Strecke zu begleiten. Sie ist kurz, aber schwierig zu begehen und voll von Hindernissen und Fußangeln. Denn, schließlich, wie verhält es sich eigentlich mit der Würde, die man mir 1935 erstmals absprach, mir offiziell vorenthielt bis 1945, die man mir vielleicht heute noch nicht zuerkennen will und die ich darum auf eigene Hand gewinnen muß? Was ist Würde überhaupt? Man kann es versuchen mit einer Umkehrung der weiter oben vollzogenen Identifizierung von Entwürdigung und Todesdrohung. Wenn ich recht überlegte, daß der Würdeentzug nichts anderes war als potentieller Lebensentzug, dann müßte Würde das Recht auf Leben sein. Wenn es weiterhin richtig war, was ich sagte, daß nämlich Zubilligung und Aberkennung der Würde Akte sozialen Einverständnisses sind, Urteile also, gegen die es keine Berufung gibt auf das „Selbstverständnis", so daß es denn sinnlos wäre, gegen die Sozialgemeinschaft, die uns die Würde entzieht, zu argumentieren mit der Behauptung, daß wir uns sehr wohl würdig „fühlten" - wenn all dies stimmte, wäre jede Bemühung um Wiedererlangung der Würde ohne Wert gewesen und wäre es noch immer. Entwürdigung, das heißt: leben unter der Todesdrohung, wäre ein unentrinnbares Schicksal. Nur verhält es sich glücklicherweise nicht ganz so, wie diese Logik es will. Wohl ist wahr: Würde, sei es eine beliebige Amtswürde, sei es Berufs- oder ganz allgemein Bürgerwürde, kann nur von der Gesellschaft verliehen werden, und der bloß im individuellen Innenraum erhobene Anspruch („Ich bin ein Mensch und habe als solcher meine Würde, was immer ihr tun und sagen mögt!") ist leere Denkspielerei oder Wahn. Jedoch
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kann der entwürdigte, todesbedrohte Mensch - und hier durchbrechen wir die Logik der Aburteilung - die Gesellschaft von seiner Würde überzeugen, indem er sein Schicksal auf sich nimmt und sich zugleich in der Revolte dagegen erhebt. Der erste Akt muß die uneingeschränkte Anerkennung des Urteilsspruchs der Sozietät als einer gegebenen Wirklichkeit sein. Als ich 1935 die Nürnberger Gesetze las und mir bewußt wurde, nicht nur, daß sie auf mich zutrafen, sondern daß sie der juridisch-textlich zusammengefaßte Ausdruck waren des schon vorher von der deutschen Gesellschaft durch ihr „Verrecke!" gefällten Urteilsspruches, hätte ich geistig die Flucht ergreifen, die Verteidigungsmechanismen anlaufen lassen und damit meinen Prozeß um Rehabilitierung verlieren können. Dann hätte ich mir gesagt: So, so, dies ist also der Wille des nationalsozialistischen Staates, des deutschen pays legal; er hat aber nichts zu schaffen mit dem wirklichen Deutschland, dem pays reel, dieses denkt gar nicht daran, mich auszustoßen. Oder ich hätte argumentieren können, daß es eben nur Deutschland sei, ein leider in einem blutigen Wahn versinkendes Land, das mich da absurderweise zum Untermenschen im eigentlichen Wortsinne stempelte, während zu meinem Heil die große und weite Welt draußen, in der es Engländer, Franzosen, Amerikaner, Russen gibt, gefeit ist gegen die Deutschland geißelnde kollektive Paranoia. Oder ich hätte schließlich, selbst unter Verzicht auf die Illusion sowohl eines deutschen pays reel als auch einer gegen die deutsche Geistesstörung immunen Welt, mir zusprechen können: Was immer man von mir auch sage, es ist nicht wahr. Wahr bin ich nur, als der ich mich selber im Innenraum sehe und verstehe; ich bin, der ich für mich und in mir bin, nichts anderes. Ich will nicht sagen, daß ich nicht bisweilen solcher Versuchung unterlag. Ich kann nur bezeugen, daß ich ihr schließlich widerstehen lernte und daß ich schon damals, 1935, dumpf die Nötigung verspürte, die Welt, die keineswegs in entrüsteter Einhelligkeit mit dem Dritten Reich alle Beziehungen abbrach, von meiner Würde zu überzeugen. Ich verstand, wenn auch undeutlich, daß ich zwar den Urteilsspruch als einen solchen akzeptieren müsse, aber die Welt zwingen könne, ihn zu revidieren. Ich nahm das Welturteil an, mit dem Entschluß, es in der Revolte zu überwinden. Revolte, freilich, das ist auch so ein Donnerwort. Es könnte glauben machen, ich sei ein Held gewesen oder wolle mich fälschlich als einen solchen präsentieren. Ich war nichts weniger als ein Held. Wenn die kleinen grauen Volkswagen mit dem Nummernschild POL meinen Weg kreuzten, erst in Wien, dann in Brüssel, verschlug es mir den Atem vor Angst. Wenn der Kapo ausholte zum Schlag, blieb ich nicht stehen, ein Fels, sondern duckte mich. Und doch. Ich habe versucht, den Prozeß zur Wiedererlangung meiner Würde einzuleiten, und das hat mir jenseits des physischen Überlebens eine Minimalchance eröffnet, das Ungeheure auch moralisch zu überstehen. Viel habe ich nicht vorzubringen zu meinen Gunsten, doch sei es notiert. Ich nahm es auf mich, ein Jude zu sein, wiewohl es gewisse Möglichkeiten zu einem Arrangement gegeben hätte. Ich ging den Pakt ein mit einer Widerstandsbewegung, deren realpolitische Aussichten sehr gering waren. Auch habe ich am Ende wiedererlernt, was ich und meinesgleichen oft vergessen hatten und worauf es mehr ankam als auf moralische Widerstandskraft: zurückzuschlagen. Ich sehe vor mir den Häftlingsvorarbeiter Juszek, einen polnischen Berufsverbrecher von schreckenerregender Rüstigkeit. Der schlug mich einmal in Auschwitz einer Bagatelle wegen ins Gesicht, so war er es gewohnt zu verfahren mit allen Juden, die seinem Kommando unterstanden. In diesem Augenblick, ich fühlte es mit durchdringender Schärfe, war es an mir, einen Schritt weiterzugehen in meinem langandauernden Berufungsprozeß gegen die Gesellschaft. Ich schlug in offener Revolte den Vorarbeiter Juszek meinerseits ins Gesicht: meine Würde saß als Faustschlag an seinem Kiefer - und daß dann
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am Ende ich, der körperlich viel Schwächere, es war, der unterlag und heillose Prügel bekam, hatte keine Bedeutung mehr. Ich war, schmerzhaft verprügelt, mit mir zufrieden. Aber nicht etwa wegen des Mutes und der Ehre, nur weil ich gut begriffen hatte, daß es Lebenslagen gibt, in denen der Körper unser ganzes Ich und unser ganzes Schicksal ist. Ich war mein Körper und nichts sonst: im Hunger, im Schlag, den ich erlitt, im Schlag, den ich zufügte. Mein Körper, ausgemergelt und schmutzverkrustet, war meine Misere. Mein Körper, wenn er sich zum Hieb anspannte, war meine physisch-metaphysische Würde. Die körperliche Gewalttätigkeit ist in Situationen wie der meinigen das einzige Mittel zur Wiederherstellung einer dislozierten Persönlichkeit. Ich war ich als ein Schlag - für mich selbst und für den Gegner. Was ich später in dem Buche von Frantz Fanon „Les damnés de la terre" in einer Analyse des Verhaltens der Kolonialvölker theoretisch ausgeführt gelesen hatte, nahm ich damals vorweg, als ich meine Würde sozial durch einen Faustschlag in ein Menschenantlitz verwirklichte. Jude sein, das war Annahme des Todesurteils durch die Welt als eben eines Welturteils, vor dem Flucht in die Innerlichkeit nur Schmach gewesen wäre, zugleich aber der physische Aufruhr dagegen. Ich wurde Mensch, nicht indem ich mich innerlich auf mein abstraktes Menschentum berief, sondern indem ich mich in der gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit als revoltierender Jude auffand und ganz realisierte. Der Prozeß, sagte ich, ging und geht weiter. Er ist zur Stunde für mich weder gewonnen noch verloren. Es gab nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reiches eine knappe Weltstunde, in der ich glauben durfte, alles sei von Grund auf verwandelt. Damals konnte ich für kurze Zeit die Illusion hegen, meine Würde sei in vollem Umfang wiederhergestellt, durch die eigene, wenn auch noch so bescheidene Aktivität in der Resistance, durch den heldischen Aufstand des Warschauer Gettos, vor allem aber durch die Verachtung, die die Welt meinen Entwürdigern bezeugte. Ich konnte meinen, der Würdeentzug, den wir erfahren hatten, sei ein geschichtlicher Irrtum gewesen, eine Aberration, eine kollektive Krankheit der Welt, von der diese genesen war im Augenblick, da in Reims deutsche Generäle vor Eisenhower die Kapitulationsurkunde unterzeichneten. Ich wurde bald eines Schlechteren belehrt. In Polen und in der Ukraine gab es, noch während man gerade erst die Massengräber der Juden entdeckte, antisemitische Unruhen. In Frankreich hatte sich die allemal anfällige kleine Bourgeoisie anstecken lassen von den Besatzern. Wenn Überlebende und Geflüchtete zurückkehrten und ihre alten Wohnungen anforderten, kam es vor, daß schlichte Hausfrauen in eigentümlicher Mischung von Genugtuung und Verdruß sagten: „Tiens, ils reviennent, on ne les a tout de même pas tous tué." Selbst in Ländern, die vordem so gut wie keinen Antisemitismus gekannt hatten, wie in Holland, gab es als Relikt der deutschen Propaganda plötzlich ein „Judenproblem", wiewohl kaum noch Juden. England sperrte sein Mandatsgebiet Palästina jenen den Lagern und Kerkern entronnenen Juden, die einzuwandern versuchten. In sehr kurzer Zeit mußte ich erkennen, daß wenig sich geändert hatte, daß ich weiterhin der befristet Mordverurteilte war, auch wenn der potentielle Henker sich jetzt vorsichtig zurückhielt oder allenfalls sogar laut seine Mißbilligung des Geschehenen beteuerte. Ich verstand die Wirklichkeit. Aber hätte sie mich etwa veranlassen dürfen, mich, wie man so sagt, auseinanderzusetzen mit dem Antisemitismus? Gar nicht. Der Antisemitismus und die Judenfrage als geschichtliche, sozialbedingte, geistige Erscheinungen gingen und gehen mich nichts an. Sie sind ganz und gar Sache der Antisemiten, ihre Schande oder ihre Krankheit. Die Antisemiten haben zu bewältigen, nicht ich. Ich würde ihnen in die unsauberen Hände spielen, wollte ich untersuchen, welchen Anteil an den Judenverfolgungen religiöse, ökonomische und andere Faktoren haben. Wenn ich mich einließe auf derlei Untersuchungen, würde ich nur der intellektuellen
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Düperie sogenannter geschichtlicher Objektivität aufsitzen, vor der die Ermordeten so schuldig sind wie die Mörder, wenn nicht gar schuldiger. Eine Wunde wurde mir geschlagen. Ich habe sie zu desinfizieren und zu verbinden, nicht nachzudenken, warum der Schläger die Keule hob, und im erschlossenen Darum ihn schließlich halb und halb zu diskulpieren. Nicht die Antisemiten gingen mich an, nur mit meiner Existenz hatte ich fertigzuwerden. Das war schwer genug. Gewisse Möglichkeiten, die in den Kriegsjahren sich mir aufgetan hatten, waren nicht mehr gegeben. Ich konnte mir 1945 bis 1947 wohl nicht gut einen gelben Stern anheften, ohne mir dabei albern oder exaltiert zu erscheinen. Es gab auch keine Gelegenheit mehr, dem Feind mit der Faust ins Gesicht zu schlagen, denn er war nicht mehr ohne weiteres kenntlich. Der Wiedergewinn der Würde, ebenso dringlich wie in den vergangenen Jahren von Krieg und Nationalsozialismus, aber nunmehr in einer Wetterlage trügerischen Friedens unendlich viel schwieriger, war weiterhin Nötigung und Begehren. Nur mußte ich klarer als in den Tagen der immerhin möglichen physischen Revolte erkennen, daß ich vor Zwang und Unmöglichkeit stand. An dieser Stelle muß ich einen Augenblick innehalten und mich abgrenzen gegen alle jene Juden, die nicht aus meinem eigenen Erlebnisbereich sprechen. In seinem Buch „La condition réflexive de l'homme juif" hat der französische Philosoph Robert Misrahi gesagt: „Die Nazikatastrophe ist fürderhin die absolute und radikale Referenz für jede jüdische Existenz." Das soll nicht angezweifelt werden, doch bin ich überzeugt, daß nicht jedes jüdische Bewußtsein der Beziehung gewachsen ist. Nur gerade jene können sich an die Jahre 1933-1945 halten, die ein Schicksal wie das meine hinter sich haben. Ich sage das nicht mit Stolz, bewahre. Es wäre lächerlich genug, ehrgeizig zu pochen auf etwas, das man nicht tat, nur erlitt. Eher ist es eine gewisse Scham, mit der ich mein trauriges Vorrecht geltend mache und zu verstehen gebe: Zwar gilt die Katastrophe als existentieller Bezugspunkt für alle Juden, doch geistig nach- und vorvollziehen können das katastrophale Ereignis nur wir, die Geopferten. Den anderen sei es nicht verwehrt, sich einzufühlen. Sie mögen nachdenken über ein Geschick, das gestern das ihre hätte sein können und es morgen sein kann. Ihre geistigen Bemühungen werden unseren Respekt finden, doch wird er ein skeptischer sein, und im Gespräch mit ihnen werden wir bald verstummen und uns sagen: Nur zu, gute Leute, plagt euch ab, wie ihr wollt, ihr redet ja doch nur wie der Blinde von der Farbe. Die Parenthese ist geschlossen. Ich bin wieder allein mit mir und ein paar engeren Kameraden. Ich finde mich wieder in den Nachkriegsjahren, die keinem von uns mehr gestatteten, mit Gewalttätigkeit zu reagieren auf etwas, das sich vor uns nicht deutlich zu erkennen geben wollte. Ich sehe mich wieder vor Zwang und Unmöglichkeit. Daß diese Unmöglichkeit nicht für alle gilt, liegt auf der Hand. Es gibt unter den Juden dieser Zeit, seien sie Arbeiter in Kiew, Geschäftsleute in Brooklyn, Bauern im Negew, genug Männer und Frauen, deren Judesein immer ein positives Faktum war und blieb. Sie reden jiddisch oder hebräisch. Sie feiern den Sabbat. Sie klären den Talmud oder stehen als junge Soldaten stramm unterm blau-weißen Banner mit dem Davidstern. Sie sind, religiös oder national oder auch nur individuell-pietätvoll vor dem Bild des Großvaters mit Schläfenlocken, Juden als Glieder einer Gemeinschaft. Allenfalls könnte man kurz abweichen und sich mit dem Soziologen Georges Friedmann die Nebenfrage stellen, ob auch ihre Nachkommen es sein werden oder ob nicht vielleicht das Ende des jüdischen Volkes hereinbricht, sowohl in dem Mittelmeerland, wo heute schon der Israeli den Juden ablöst, als auch in der Diaspora, wo am Ende doch der totale Einschmelzungsprozeß der Juden, nicht so sehr in die ihrerseits der Nationalcharakter verlustig gehenden Wirtsvölker
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als in die größere Einheit der technisch-industriellen Welt sich vollziehen könnte. Ich lasse diese Frage auf sich beruhen. Das Bestehen oder Verschwinden des jüdischen Volkes als einer ethnisch-religiösen Kommunität bringt mein Gemüt nicht in Aufruhr. Ich kann in meinen Erwägungen den Juden, die Juden sind, weil eine Tradition sie birgt, keinen Raum lassen. Nur für mich selber darf ich sprechen - und immerhin, wenn auch mit Vorsicht, für die wohl nach Millionen zählenden Zeitgenossen, auf die ihr Judesein hereinbrach, ein Elementarereignis, und die es bestehen müssen ohne Gott, ohne Geschichte, ohne messianisch-nationale Erwartung. Für sie, für mich heißt Jude sein die Tragödie von gestern in sich lasten spüren. Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer; die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz. Wenn ich mir und der Welt, einschließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefaßten Wirklichkeiten und Möglichkeiten. Langsamerhand kam ich in den zwei Jahrzehnten, die seit meiner Befreiung hingingen, zur Erkenntnis, daß es nicht ankommt auf positive Bestimmbarkeit einer Existenz. Daß Jude ist, wer von den anderen als Jude angesehen wird, hat einst schon Sartre gesagt, und hat später Max Frisch in „Andorra" dramatisch dargestellt. Es ist nicht korrekturbedürftig, doch darf man es vielleicht ergänzen. Selbst dann nämlich, wenn mich die anderen nicht als Juden bestimmen, wie sie es mit dem armen Teufel in „Andorra" taten, der gern Tischler geworden wäre und den sie nur Kaufmann sein lassen wollten, bin ich doch Jude durch die bloße Tatsache, daß die Umwelt mich nicht ausdrücklich als Nichtjuden fixiert. Etwas sein kann bedeuten, daß man etwas anderes nicht ist. Als Nicht-Nichtjude bin ich Jude, muß es sein und muß es sein wollen. Ich habe es anzunehmen und in meiner täglichen Existenz zu bekräftigen, ob ich mich bekennend ins Gespräch menge, wenn im Grünkramladen Albernheiten über Juden geredet werden, ob ich mich im Rundfunk an Unbekannte wende, ob ich für eine Zeitschrift schreibe. Da Jude sein aber nicht nur meint, daß ich eine gestern geschehene und für morgen nicht ausschließbare Katastrophe in mir trage, ist es jenseits der Aufgabe auch Furcht. Täglich morgens kann ich beim Aufstehen von meinem Unterarm die Auschwitznummer ablesen; das rührt an die letzten Wurzelverschlingungen meiner Existenz, ja ich bin nicht einmal sicher, ob es nicht meine ganze Existenz ist. Dabei geschieht es mir annähernd wie einst, als ich den ersten Schlag der Polizeifaust zu spüren bekam. Ich verliere jeden Tag von neuem das Weltvertrauen. Der Jude ohne positive Bestimmbarkeit, der Katastrophenjude, wie wir ihn getrost nennen wollen, muß sich einrichten ohne Weltvertrauen. Die Nachbarin grüßt freundlich, Bonjour Monsieur; ich ziehe den Hut, Bonjour, Madame. Aber Madame und Monsieur sind durch interstellare Distanzen getrennt, denn eine Madame hat gestern weggeschaut, als man einen Monsieur abführte, und ein Monsieur betrachtete Madame durch die Gitterfenster des abfahrenden Wagens wie einen steinernen Engel aus einem hellen und harten Himmel, der den Juden für immer verschlossen ist. Ich lese einen amtlichen Anschlag, in dem „la population" zu irgendeinem Verhalten aufgefordert wird, die Mülleimer seien rechtzeitig bereitzustellen oder zu einem nationalen Festtag sei zu flaggen. La population. Noch so ein außerirdisches Reich, in das ich so wenig gelangen kann wie zu Kafkas Schloß, denn la population hatte gestern große Angst, mich zu verbergen, und ob sie morgen mehr Mut haben würde, wenn ich anpochte, steht leider dahin. Zwanzig Jahre sind hingegangen seit der Katastrophe. Ehrenreiche Jahre für unsereins. Nobelpreisträger im Überfluß. Französische Ministerpräsidenten hießen Rene Mayer, Pierre Mendes-France; ein amerikanischer UNO-Delegierter namens
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Goldberg treibt würdigsten antikommunistisch-amerikanischen Patriotismus. Ich traue diesem Frieden nicht. Menschenrechtserklärungen, demokratische Konstitutionen, die freie Welt und die freie Presse. Nichts kann mich wieder einwiegen in einen Sicherheitsschlaf, aus dem ich 1935 erwachte. Ich gehe als Jude durch die Welt gleich einem Kranken mit einem jener Leiden, die keine großen Beschwerden verursachen, aber mit Sicherheit letal ausgehen. Er litt nicht immer an jener Krankheit. Wenn er sein Ich aus der Zwiebel zu schälen versucht wie Peer Gynt, er findet das Übel nicht. Erster Schulgang, erste Liebe, erste Verse: sie hatten nichts zu tun damit. Jetzt aber ist er ein Kranker, bevor und tiefer als er Schneider, Buchhalter oder Dichter ist. So bin auch ich gerade, was ich nicht bin, weil ich nicht war, ehe ich es wurde, vor allem anderen: Jude. Der Tod, dem der Kranke wird nicht entrinnen können, das ist für mich die Drohung. Bonjour Madame, Bonjour Monsieur, so grüßen sie einander. Aber es kann und wird die Frau dem kranken Nachbarn sein Siechtum nicht abnehmen, um selber daran zu Tode zu leiden. So bleiben sie sich fremd. Ohne Weltvertrauen stehe ich als Jude fremd und allein gegen meine Umgebung, und was ich tun kann, ist nur die Einrichtung in der Fremdheit. Ich muß das Fremdsein als ein Wesenselement meiner Persönlichkeit auf mich nehmen, auf ihm beharren wie auf einem unveräußerlichen Besitz. Immer noch und täglich wieder finde ich midi in der Einsamkeit. Ich habe die Mörder von einst und die potentiellen Aggressoren von morgen nicht hineinzureißen vermocht in die moralische Wahrheit ihrer Untaten, weil mir die Welt in ihrer Totalität dabei nicht half. So bin ich allein wie einstens unter der Folter. Die um mich sind, erscheinen mir nicht als Gegen-Menschen, wie damals die Peiniger. Sie sind die Neben-Menschen, nicht betroffen von mir und der mir zur Seite schleichenden Gefahr. Ich gehe grüßend und ohne Feindseligkeit an ihnen vorüber. Halten kann ich mich nicht an sie, nur an ein positiv unbestimmbares Judesein, meine Last und meine Stütze. Wo es eine Gemeinsamkeit gibt zwischen mir und der Welt, deren immer noch nicht widerrufenes Todesurteil ich als soziale Realität anerkenne, geht sie auf in der Polemik. Ihr wollt nicht hören? Höret. Ihr wollt nicht wissen, wohin eure Gleichgültigkeit euch selber und mich zu jeder Stunde wieder hinführen kann? Ich sage es euch. Es geht euch nichts an, was geschah, denn ihr wußtet nicht oder wart zu jung oder noch nicht einmal auf dieser Welt? Ihr hättet sehen müssen und eure Jugend ist kein Freibrief und brecht mit eurem Vater. Noch einmal muß ich mir die Frage stellen, die ich flüchtig schon auf warf in meiner Analyse der Ressentiments: Bin ich vielleicht psychisch krank und laboriere ich nicht an einem unheilbaren Leiden, nur an Hysterie? Die Frage ist bloß rhetorisch. Die Antwort habe ich mir längst und in voller Bündigkeit erteilt. Ich weiß, was mich bedrängt, ist keine Neurose, sondern die genau reflektierte Realität. Es waren keine hysterischen Halluzinationen, als ich das „Verrecke!" hörte und im Vorbeigehen vernahm, wie die Leute meinten, es müsse doch wohl eine verdächtige Bewandtnis haben mit den Juden, denn andernfalls würde man kaum so streng mit ihnen verfahren. „Man verhaftet sie, so müssen sie eben etwas angestellt haben", sagte eine ordentliche sozialdemokratische Arbeitersfrau in Wien. „Wie grausam, was man da anstellt mit den Juden, mais enfin ...", spekulierte ein human und patriotisch gesinnter Mann in Brüssel. Ich muß wohl zu dem Ergebnis kommen, daß nicht ich gestört bin oder gestört war, sondern daß die Neurose auf Seiten des geschichtlichen Geschehens liegt. Die anderen sind die Irren, und ratlos stehe ich zwischen ihnen herum, ein Vollsinniger, der sich einer Führung durch eine psychiatrische Klinik anschloß und plötzlich Ärzte und Wärter aus den Augen verlor. Doch hat das Urteil der Irren über mich, da es doch jeden Augenblick exekutiert werden kann, volle Verbindlichkeit, und meine eigene Geistesklarheit ist ganz irrelevant.
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Diese Reflexionen nähern sich ihrem Ende. Es ist Zeit, nachdem ich dargelegt habe, wie ich mich in der Welt bewege, auszusagen, wie ich zu meinen Stammesverwandten stehe, den Juden. Aber sind sie mir denn auch wirklich verschwägert? Was ein Rassenforscher feststellen mag, daß mein äußerer Habitus diese oder jene jüdischen Merkmale aufweist, kann von Belang sein, wenn ich in eine Volksmenge gerate, die, hepp, hepp, Judenhatz treibt. Es wird zur Nichtigkeit, wenn ich mit mir allein bin oder unter Juden. Habe ich eine jüdische Nase? Das könnte zur Kalamität werden, wenn es, hepp, hepp, losgeht. Das verbindet mich aber keiner einzigen anderen jüdischen Nase in der Welt. Das jüdische Erscheinungsbild, das mir eignet, ja oder nein, ich weiß es nicht, ist Sache der anderen und wird zur meinen erst in der von ihnen hergestellten objektiven Beziehung zu mir. Sähe ich aus wie herausgetreten aus dem Buch „Juden sehen euch an" des Johann von Leers, es würde für mich keine subjektive Realität haben und würde wohl eine Schicksalsgemeinschaft, aber keine positive Kommunität schaffen zwischen mir und meinen jüdischen Mitmenschen. So bleibt nur das geistige, richtiger: das im Bewußtsein wahrgenommene Verhältnis von Juden, Judentum und mir. Daß es ein Nichtverhältnis ist, habe ich im Anfang schon vorweggenommen. Ich teile mit den Juden als Juden so gut wie nichts: keine Sprache, keine kulturelle Tradition, keine Kindheitserinnerungen. Im österreichischen Vorarlberg gab es einen Wirt und Metzger, von dem erzählte man mir, er habe fließend Hebräisch gesprochen. Der war mein Urgroßvater. Ich habe ihn nie gesehen, und es muß bald hundert Jahre her sein, daß er gestorben ist. Mein Interesse am Jüdischen und an Juden war vor der Katastrophe so gering, daß ich von damaligen Bekannten heute beim besten Willen nicht zu sagen wüßte, wer von ihnen Jude war, wer nicht. Was immer ich auch versuchte, in der jüdischen Geschichte die meine, in der jüdischen Kultur den eigenen Besitz, in der jüdischen Folklore meine persönlichen Reminiszenzen zu finden, es müßte ergebnislos bleiben. Die Umwelt, in der ich mich bewegt hatte in den Jahren, wo man sein Ich erlernt, war keine jüdische, das läßt sich nicht rückgängig machen. Doch steht die Fruchtlosigkeit der Suche nach meinem jüdischen Selbst keinesfalls als Schranke zwischen mir und der Solidarität mit allen bedrohten Juden der Welt. Ich lese in der Zeitung, man habe in Moskau eine illegal arbeitende Bäckerei für ungesäuerte jüdische Osterbrote entdeckt und die Bäcker verhaftet. Die rituellen Mazzoth der Juden interessieren mich als Nahrungsmittel etwas weniger als Knäckebrot. Dennoch erfüllt mich das Verfahren der sowjetischen Behörden mit Unruhe, ja Empörung. Irgendein amerikanischer Country-Club, so höre ich, läßt Juden nicht als Mitglieder zu. Um keinen Preis möchte ich dieser offensichtlich öden bürgerlichen Vereinigung angehören, doch wird die Sache der Juden, die Beitrittserlaubnis fordern, zu der meinen. Daß irgendein arabischer Staatsmann die Auslöschung Israels von der Landkarte fordert, trifft mich ins Mark, wiewohl ich den Staat Israel nie besucht habe und nicht die mindeste Neigung fühle, dort zu leben. Die Solidarität mit allen in ihrer Freiheit, Gleichberechtigung oder gar physischen Existenz gefährdeten Juden ist auch, aber nicht nur Reaktion auf den Antisemitismus, der nach Sartre keine Meinung ist, sondern Anlage und Bereitschaft zum Verbrechen des Genozids: sie macht Teil aus meiner Person und ist Waffe im Kampf um Wiedergewinn der Würde. Erst wenn ich, ohne Jude zu sein im Sinne positiver Bestimmbarkeit, Jude bin in der Erkenntnis und Anerkenntnis des Welturteils über die Juden und schließlich mitwirke im geschichtlichen Berufungsprozeß, darf ich das Wort Freiheit aussprechen. Die Solidarität angesichts der Bedrohung ist alles, was mich mit meinen jüdischen Zeitgenossen, den gläubigen wie den glaubenslosen, den national gesinnten wie den assimilationsbereiten, verbindet. Das ist für sie wenig oder gar nichts. Für mich und meinen Bestand jedoch bedeutet es viel, mehr
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wahrscheinlich als mein Verständnis der Bücher Prousts oder meine Anhänglichkeit an die Erzählungen Schnitzlers oder meine Freude an der flämischen Landschaft. Ohne Proust und Schnitzler und die windgebeugten Pappeln an der Nordsee wäre ich ärmer, als ich es bin, aber ich wäre noch ein Mensch. Ohne das Gefühl der Zugehörigkeit zu den Bedrohten wäre ich ein sich selbst aufgebender Flüchtling vor der Wirklichkeit. Ich sage Wirklichkeit, mit Nachdruck, denn darauf kommt es mir letzten Endes an. Der Antisemitismus, der mich als einen Juden erzeugt hat, mag ein Wahn sein, das steht hier nicht zur Debatte. Jedenfalls aber ist er, Wahn oder nicht, ein geschichtliches und soziales Faktum: ich war nun einmal wirklich in Auschwitz und nicht in Himmlers Imagination. Und Wirklichkeit ist er noch immer, das könnte nur völlige Sozial- und Geschichtsblindheit ableugnen. Er ist es in seinen Kernländern, Österreich und Deutschland, wo die Nazikriegsverbrecher nicht oder zu lächerlich geringen Freiheitsstrafen verurteilt werden, von denen sie meist kaum ein Drittel absitzen. Er ist Wirklichkeit in England und in den USA, wo man die Juden toleriert, aber nicht unglücklich wäre, sie los zu sein. Er ist, als nationaler Antizionismus Wirklichkeit in den arabischen Staaten. Er ist Wirklichkeit, und wie folgenschwere, im geistigen Weltraum der katholischen Kirche; die Komplexität und Konfusion der Konzilsberatungen über die sogenannte Judenerklärung war trotz dem ehrenhaften Auftreten so manches Kirchenfürsten eine schmerzliche Scham. Es kann ja sein, aber es läßt sich angesichts der gegebenen Umstände keinesfalls damit rechnen, daß in den Todesfabriken der Nazis der letzte Akt des großen historischen Dramas der Judenverfolgung gespielt wurde. Ich glaube, die Dramaturgie des Antisemitismus besteht weiter. Eine neuerliche Massenvernichtung von Juden kann als Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden. Was würde wohl geschehen, wenn die heute durch Ost und West mit Waffenlieferungen unterstützten arabischen Länder in einem Krieg gegen das kleine Israel einen totalen Sieg errängen? Was würde, nicht nur für die Neger, auch für die Juden, ein Amerika bedeuten, das dem Militärfaschismus verfiele? Was wäre das Schicksal der Juden in dem zur Zeit judendichtesten Land Europas, in Frankreich, gewesen, wenn im Anfang dieses Dezenniums nicht de Gaulle triumphiert hätte, sondern die OAS? Mit einigem Widerstreben lese ich in der Studie eines sehr jungen holländischen Juden die folgende Definition des Juden: „Ein Jude kann beschrieben werden als jemand, der mehr Angst, Mißtrauen, Verdruß hat als seine Mitbürger, die niemals verfolgt wurden." Die scheinbar richtige Begriffsbestimmung wird falsch durch die Unterschlagung eines unerläßlichen Zusatzes, der da heißen müßte: „... denn er erwartet mit guten Gründen jederzeit eine neue Katastrophe." Auf das Bewußtsein des vergangenen und die legitime Befürchtung eines neuen Kataklysmus läuft alles hinaus. Ich, der ich beide in mir trage - und diesen doppelt lastend, weil ich jenem nur durch ein Ungefähr entrann -, bin nicht „traumatisiert", sondern stehe in voller geistiger und psychischer Entsprechung zur Realität da. Das Bewußtsein meines Katastrophen-Judeseins ist keine Ideologie. Es darf verglichen werden dem Klassenbewußtsein, das Marx den Proletariern des neunzehnten Jahrhunderts zu entschleiern versuchte. Ich erlebe und erhelle in meiner Existenz eine geschichtliche Realität meiner Epoche, und da ich sie tiefer erfuhr als die Mehrzahl meiner Stammesgenossen, kann ich sie auch besser erleuchten. Das ist kein Verdienst und keine Gescheitheit, nur ein Zufallsgeschick. Alles könnte leichter getragen werden, wenn meine Verbundenheit mit den anderen Juden sich nicht erschöpfte in revoltierender Solidarität, wenn der Zwang sich nicht ständig stieße an der Unmöglichkeit. Ich weiß es nur allzu gut. Ich saß neben einem jüdischen Freund bei der Aufführung von Arnold Schönbergs „Ein Überlebender aus Warschau": Als, von Posaunenklängen
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begleitet, der Chor anstimmte „Sch'rna Israel", wurde mein Begleiter kalkbleich, und Schweißperlen traten auf seine Stirn. Mein Herz pochte nicht schneller, aber ich fühlte mich bedürftiger als der Kamerad, den das unter Posaunenstößen gesungene Judengebet erschüttert hatte. Jude sein, dachte ich mir nachher, ich kann es nicht in Ergriffenheit, nur in Angst und Zorn, wenn Angst sich, um Würde zu erlangen, in Zorn verwandelt. „Höre Israel" geht mich nichts an. Nur ein „Höre Welt" möchte zornig aus mir dringen. So will es die sechsstellige Nummer auf meinem Unterarm. So fordert es das Katastrophengefühl, Dominante meiner Existenz. Oft habe ich mich abgefragt, ob sich menschlich leben läßt in der Spannung zwischen Angst und Zorn. Wer diesen Überlegungen folgte, dem mag ihr Verfasser wohl als ein Ungeheuer, wenn nicht an Rachsucht, so jedenfalls an Verbitterung erscheinen. Eine Spur von Wahrheit kann in solcher Einschätzung liegen, aber eben nur eine Spur. Wer den Versuch macht, Jude zu sein auf meine Art und unter den mir auferlegten Bedingungen, wer in der Erhellung der eigenen durch die Katastrophe bestimmten Existenz in sich die Wirklichkeit der sogenannten Judenfrage zusammenzuraffen und auszuformen hofft, der ist ganz ohne Treuherzigkeit. Es fließt ihm nicht humaner Honigseim von den Lippen. Die generöse Geste bringt er nur schlecht zustande. Jedoch ist damit nicht gesagt, daß Angst und Zorn ihn verurteilen, weniger rechtschaffen zu sein, als seine ethisch beflügelten Zeitgenossen es sind. Er kann Freunde haben und hat sie, selbst unter den Angehörigen gerade jener Völker, die ihn für immer in die Schaukel zwischen Angst und Zorn hängten. Er kann auch Bücher lesen, Musik hören wie die Unbeschädigten, nicht weniger fühlsam als sie. Geht es um Fragen der Moral, wird er wahrscheinlich gegen Ungerechtigkeit jeder Art sich empfindlicher zeigen als seine Nebenmenschen. Auf ein Photo prügelnder südafrikanischer Polizisten oder amerikanischer Sheriffs, die heulende Rüden hetzen auf schwarze Bürgerrechtskämpfer, wird er gewiß reizbarer reagieren. Weil es mir schwer wurde, Mensch zu sein, bin ich darum doch wohl kein Unmensch geworden. Nichts anderes unterscheidet mich schließlich von den Leuten, unter denen ich meine Tage hinbringe, als eine schwankende, manchmal stärker, manchmal schwächer fühlbare Unruhe. Doch ist es eine soziale Unruhe, keine metaphysische. Nicht das Sein bedrängt mich oder das Nichts oder Gott oder die Abwesenheit Gottes, nur die Gesellschaft: denn sie und nur sie hat mir die existentielle Gleichgewichtsstörung verursacht, gegen die ich aufrechten Gang durchzusetzen versuche. Sie und nur sie hat mir das Weltvertrauen genommen. Die metaphysische Bedrängnis ist eine elegante Sorge von höchstem Standing. Sie bleibe Sache derer, die da immer wußten, wer und was sie sind, warum sie es sind, und daß sie es bleiben dürfen. Ich muß sie ihnen überlassen - und es ist nicht deshalb, daß ich mich armselig fühle vor ihnen. In meinem unablässigen Bemühen, die Grundkondition des Opferseins auszuforschen, im Zusammenstoß mit Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, glaube ich erfahren zu haben, daß die äußersten Zumutungen und Anforderungen, die an uns gestellt werden, physischer und sozialer Natur sind. Daß mich solche Erfahrung untauglich gemacht hat zu tiefsinniger und hochfliegender Spekulation, weiß ich. Daß sie mich besser ausgerüstet haben möge zur Erkenntnis der Wirklichkeit, ist meine Hoffnung.
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