Floyd Kemske
Bilanz der Vampire Roman Aus dem Amerikanischen von Susanne Dickerhof-Kranz
Schneekluth
Die Deutsche B...
99 downloads
899 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Floyd Kemske
Bilanz der Vampire Roman Aus dem Amerikanischen von Susanne Dickerhof-Kranz
Schneekluth
Die Deutsche Bibliothek – cip-Einheitsaufnahme Kemske, Floyd: Bilanz der Vampire: Roman / Floyd Kemske. Aus dem Amerik. von Susanne Dickerhof-Kranz.München: Schneekluth, 1997 ISBN 3-7951-1403-9
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel HUMAN RESOURCES bei Catbird Press, North Haven –
ISBN 3-7951-1403-9 © 1995 by Floyd Kemske © 1997 für die deutsche Ausgabe by Schneekluth Ein Verlagsimprint der Weltbild Verlag GmbH Augsburg Gesetzt aus der 11/13 Punkt Times Satz: FIBO Lichtsatz München Druck und Bindung: Bercker, Kevelaer Printed in Germany 1997
3
Für Rob geduldiger Berater mitfühlender Freund unerbittlicher Lehrmeister
4
1 Jedes Ehepaar hat sein Reizthema, bei dem ein Wort unweigerlich das andere ergibt, und sich aus dem Nichts heraus ein handfester Streit entwickelt. Für Norman und seine Frau war der klassische Auslöser Normans Einstellung zu seiner Arbeit. Am Mittwochabend, als beide sich anschickten zu Bett zu gehen, fiel Norman ein, dass sein Chef am nächsten Tag in aller Frühe eine Besprechung mit ihm anberaumt hatte. »Würdest du bitte morgen den Kindern das Frühstück machen?« Norman schlug die Tagesdecke auf seiner Bettseite zurück und legte das Laken doppelt um. Er mochte beim Schlafen das Gefühl der Tagesdecke an seinem Gesicht nicht. »Ich hab in aller Frühe eine Besprechung mit Pressman.« »Schon wieder?« Gwen legte ihren Schlafrock ab und schlüpfte ins Bett ohne ihr Bettlaken umzuschlagen. Die Morgenbesprechungen mit Pressman fanden regelmäßig alle drei Monate statt und es ärgerte Norman jedes Mal, wenn Gwen überrascht tat. »Ja.« Norman ließ sich seine Verärgerung nicht anmerken. »Ich soll um halb sechs da sein.« Er zog sich aus, legte seine Wäsche auf den Stuhl, knipste das Licht aus und stieg ins Bett. Norman und Gwen schliefen seit zwölf Jahren nackt, allerdings nutzten sie dies nicht jede Nacht. »Um halb sechs? Und du hast das akzeptiert?« »Natürlich.« Norman drehte sich auf die Seite, mit dem Gesicht seiner Frau zu. Selbst in der Dunkelheit konnte er erkennen, dass sie ihn missbilligend ansah. »Du wirst es in dieser Firma nie zu einer Führungsposition bringen, wenn du einem Trottel wie Pressman nach der Pfeife tanzt.« Ihre Stimme klang ruhig im Dunkeln. »Ich tanze 5
nicht nach Pressmans Pfeife.« Norman hatte manchmal den Eindruck, dass Gwen sich gar keine Mühe machte seine Situation zu verstehen. »Das ist die einzige Uhrzeit, die uns beiden passt. Wir sind im selben Team, Gwen.« »Blödsinn«, erwiderte sie. »Du bist der Leiter der Personaladministration.« Eine Ironie des Schicksals wollte es, dass Norman und Gwen praktisch dieselbe Stellung innerhalb ihrer Firmen bekleideten. Nur füllte Gwen ihre Position ganz anders aus, sie besaß echte Führungsqualitäten. Der geschäftsführende Direktor suchte ihren Rat und viele Manager der Linienabteilungen baten sie um ihre Meinung zu ihren Projekten. Sie war ein Star in ihrer Firma und das Wort Team gehörte nicht zu ihrem Vokabular. »Fang nicht schon wieder davon an.« Norman drehte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. »Ich fange gar nichts an.« Gwen setzte sich auf und ihre nackten Brüste schimmerten im Mondlicht, das durch die Vorhänge fiel. »Ich frage dich nur eins, Norman. Siehst du eigentlich nicht, was Pressman mit diesem Fünf-Uhrdreißig-Besprechungsscheiß beabsichtigt?« »Ich denke, er will sich einfach über die Budgetplanung der Abteilungen auf dem Laufenden halten.« »Ach, Norman. Du bist so naiv.« Norman hörte schon nicht mehr zu. Seine Gedanken kreisten um Blankenship. Blankenship war stellvertretender Abteilungsleiter in Normans Firma gewesen und einer von den acht Leuten, denen Pressman zwei Tage zuvor gekündigt hatte. Blankenship hatte sich daraufhin in sein Auto auf dem Firmenparkplatz gesetzt und sich eine Kugel in den Mund gejagt. Norman war als Erster zur Stelle gewesen, nachdem es passiert war, und das Ereignis ging ihm immer noch nach. Aufgrund einer stillschweigenden Übereinkunft sprachen 6
er und Gwen nie über diesen Vorfall. Norman konnte nicht und Gwen tat es nicht, weil sie, wie Norman vermutete, ihre Gründe hatte das Thema nicht anzuschneiden. Norman unterbrach seine Grübeleien. Er wollte die Diskussion beenden, ehe sie sich zu einem handfesten Streit entwickelte. »Ich habe dir schon einmal gesagt: Ich engagiere mich für das, was diese Firma macht. Und wenn ich dafür zu einigen Frühbesprechungen gehen muss, macht mir das nichts aus.« »Nicht in diesem Ton, Norman.« Gwen umschlang ihren Körper mit den Armen, als ob sie fröstelte. »Machst du nun den Kindern das Frühstück oder was ist?«, bohrte Norman. »Ich bin morgen selber früh dran.« Gwen ließ sich wieder unter ihre Decke gleiten. »Ich muss meine Wochenendsitzung vorbereiten.« »Wo ist bitte der Unterschied zwischen einer Wochenendsitzung und einer Besprechung um fünf Uhr dreißig?«, wollte Norman wissen. »Der Unterschied ist der, dass ich selbst entschieden habe hinzugehen. Ich bin nicht von einem aufgeblasenen Affen aus dem Rechnungswesen abkommandiert worden. Ich möchte ein paar wichtige Vorschläge präsentieren.« Da war es wieder, das magische Wort. Vorschläge. Gwen schien bei ihrer Arbeit vor Ideen und Einfällen nur so zu sprühen. Norman hatte keine genaue Vorstellung, was für Ideen es waren, wusste aber von Gwen, dass sie einen unermesslichen Vorrat davon besaß und deswegen in ihrer Firma hoch geschätzt wurde. Ideen spielten offenbar eine entscheidende Rolle bei der Art von Führungsposition, die Norman Gwens Meinung nach unbedingt anstreben sollte. Norman hingegen war mehr an einer funktionierenden 7
Teamarbeit gelegen als an einer leitenden Position. Er hatte noch nie im Leben eine gute Idee gehabt, dies aber auch nicht als Mangel empfunden. »Musst du denn morgen früh schon um halb sechs im Büro sein?«, fragte er. »Nein.« »Aber ich«, sagte Norman. »Ich hab gewonnen. Du machst den Kindern das Frühstück.« »Meinetwegen.« Gwen zog die Decke hoch und drehte ihm den Rücken zu. Norman wollte seinen unerwarteten Sieg noch ein wenig auskosten. »Und dass sie ja Obst essen! Du kannst eine Melone aufschneiden oder Banane ins Müsli schnippeln.« »Norman, ich mach das nicht zum ersten Mal!«, murmelte Gwen unter ihre Decke hervor. »Hör auf«, sagte Norman. »Ich will mich nicht mit dir streiten.« Gwen reagierte nicht mehr und Norman musste sich eingestehen, dass er nun doch nicht gewonnen hatte. Er zog den Radiowecker näher heran und stellte die Weckzeit fünf Minuten vor. So konnte er morgen früh rasch noch die Melone aufschneiden, bevor er das Haus verließ. Wenn er das nicht tat, würden die Kinder bestimmt nur Negerküsse und Apfelsaft frühstücken. Gwen liebte ihre Kinder, aber sie glaubte nicht so recht an das Gerede von der ausgewogenen Ernährung. Er lauschte Gwens ruhigen Atemzügen und fragte sich, ob sie schon schlief. Ob sie beide je über die Sache mit Blankenship reden würden? Wenn sie das taten, würden sie vermutlich auch an Tiefgreifenderes rühren, an elementare Fragen ihres Seins – wer sie waren, zum Beispiel, und was sie vom Leben erwarteten, alles Dinge, die sie momentan noch nicht bereit waren zu diskutieren. 8
Das würde mit der Zeit noch kommen. Norman vertraute darauf. Er jedenfalls fühlte sich inzwischen bereit. Blankenship mit einem Loch im Schädel aufzufinden hatte sein Leben entscheidend verändert. An dem Tag, als das Furchtbare geschah, war Norman in der Mittagspause unterwegs um ein paar Dinge zu erledigen. Er stand auf dem Firmenparkplatz und wollte gerade in sein Auto steigen, als er einen lauten Knall hörte. Er blickte in die Richtung, von wo der Knall gekommen schien, und entdeckte Blankenships Auto, einen Sedan in der Sparausführung, wie ihn zumeist die Wissenschaftler der Firma fuhren. Die Scheibe auf der Fahrerseite war mit roter Farbe beschmiert und Norman wunderte sich, dass ein so penibler und korrekter Mensch wie Blankenship sein Autofenster rot angestrichen hatte. Neugierig geworden ging er auf Blankenships Auto zu und als er näher trat, bemerkte er, dass das Rot auf der Fensterscheibe keine Farbe war, sondern frisches Blut. Sehr frisches Blut. Mit einem Satz war Norman an dem Wagen und riss die Fahrertür auf. Blankenship saß aufrecht hinter dem Steuer. Seine rechte Hand lag auf dem Beifahrersitz und hielt eine Pistole umklammert. Die Linke krampfte sich um eine Halskette, wie sie amerikanische Soldaten gewöhnlich mit ihrer Erkennungsmarke tragen. Und auf Blankenships Schädel schien eine Art rotes Käppi zu sitzen. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckte Norman, dass es kein Käppi war, ja überhaupt keine Kopfbedeckung, weil es nichts mehr zu bedecken gab. Hier klaffte bloß ein großes Loch. An der Innenverkleidung des Wagens klebte Blut und noch eine andere unappetitliche Substanz, die Norman lieber nicht so genau in Augenschein nahm. Der arme Blankenship hatte offensichtlich keine Ahnung von der Anatomie des menschlichen Gehirns und die 9
wichtigsten Teile verfehlt, als er den Schuss abfeuerte. Er atmete noch. Sein Atem glich mehr einem blubbernden Keuchen. Norman wünschte, er wäre nicht auf den Parkplatz gegangen. Blankenship verdrehte die Augen. Offenbar war es ihm gelungen, das Sprachzentrum zu zerstören, denn obgleich er Norman anstarrte, brachte er kein Wort heraus. Norman hatte noch nie zuvor einen so übel zugerichteten menschlichen Körper gesehen. Der Anblick erschreckte ihn zutiefst. Als er in Blankenships Gesicht sah, überfiel ihn ein Zittern. Blankenships Blick irrte hinunter zu seiner linken Hand an der Halskette. Norman stemmte sich gegen die Wagentür um das Zittern zu unterdrücken. Blankenships Blick wanderte zurück und heftete sich wieder auf Norman. Norman wusste instinktiv, dass er etwas tun musste. Er hätte Blankenship gern getröstet, war sich aber nicht sicher, was er sagen oder wie er ihn anfassen sollte. Vermutlich sollte er ihm sagen, dass alles gut würde, nur hielt dieser Mann eine rauchende Pistole in der Hand und legte ganz offensichtlich keinen Wert darauf, dass alles gut würde. Während Norman zitternd und unschlüssig dastand, wanderte Blankenships Blick wieder zu seiner Halskette und dann zu Norman zurück. Nun verstand Norman, dass Blankenship seine Aufmerksamkeit auf die Kette lenken wollte. Der Mann war ohne Zweifel im Sterben begriffen und Norman wollte ihn unter keinen Umständen anfassen, auch wenn sein Verstand ihm signalisierte, dass Blankenship keinesfalls ansteckend sein würde. Er überwand sich und griff nach Blankenships linker Hand. Als er sie berührte, fiel sie zur Seite und gab einen Schmuckanhänger frei. Es war ein billiges Metallkreuz, gerade so groß wie eine Münze, ein wertloses Stück Blech. Norman fasste danach. Er blickte 10
Blankenship ins Gesicht, doch dessen Augen sahen nichts mehr. Er hatte aufgehört zu atmen. Norman legte die flache Hand auf Blankenships Brust, er spürte ein leichtes Flattern, dann gar nichts mehr. Sachte hob Norman das kleine Kreuz an und zog die Kette, die lang genug war, über Blankenships Kopf. Er wusste, dass Blankenship ihm das Kreuz anvertraut hatte. Norman war weder ein religiöser noch ein sonst wie spiritueller Mensch, er spürte jedoch, dass er einen bedeutsamen Moment mit Blankenship geteilt hatte. Es war ein tief greifendes Erlebnis, das er irgendwie bewahren wollte. Er steckte das Kreuz mit der Kette in die Hosentasche, dann ging er in das Firmengebäude zurück und bat den Wachmann in der Eingangshalle den Notarzt zu rufen. Er sprach mit niemandem über diesen Vorfall, schon allein deshalb nicht, weil er sich nicht klar darüber werden konnte, ob er das Kreuz nun gestohlen hatte oder nicht. Er wusste, dass Blankenship es ihm zugedacht hatte, glaubte jedoch nicht, dass er das jemals plausibel würde erklären können. Seit jenem Tag trug er das Kreuz, unter dem Hemd verborgen, um den Hals. Während er im Bett lag, ließ Norman jede Einzelheit jenes Vorfalls im Geiste passieren und es schien ihm, als ob er die ganze Nacht wach gelegen hätte. Als der Radiowecker jedoch mit sanfter Rockmusik ansprang, tauchte er aus einem tiefen Schlaf auf. Obwohl Norman sich noch müde fühlte, stellte er das Radio ab und sprang aus dem Bett, ehe er es sich anders überlegen konnte. Er machte sich für die Arbeit zurecht, während alle anderen im Haus noch schliefen. Kurz bevor er aufbrach, nahm er eine Melone aus dem Kühlschrank, zerteilte sie, kratzte die Kerne heraus, legte die Scheiben auf einen Teller und bedeckte sie mit Klarsichtfolie. Er ließ sie, gut sichtbar für Gwen, auf dem Küchentresen stehen. Ob11
wohl sie angeboten hatte das Frühstück zu machen, würde sie seine Umsicht zu schätzen wissen. Schließlich stand Norman abgehetzt und müde im Fahrstuhl der Firma und führ nach oben. Biomethods hatte 1000 Beschäftigte, ein Viertel davon Wissenschaftler. Die Firma machte ihre Geschäfte damit, biotechnische Entwicklungen in Lizenz an pharmazeutische Betriebe zu verkaufen. Norman verstand nichts von diesen Dingen, dennoch erfüllte es ihn mit Stolz, dass seine Firma an einem Mittel gegen Aids arbeitete. Zu Normans Aufgaben gehörte es, die Personaladministration der Firma den Sozialgesetzen und staatlichen Richtlinien gemäß zu führen und die Sachbearbeiter für Löhne und Gehälter, Neueinstellungen, Seminare und Schulungen zu managen. Norman mochte seinen Job und er machte ihn gut. Es gefiel ihm, für eine Firma zu arbeiten, die ihm das Gefühl vermittelte einen Beitrag zur Zivilisation zu leisten. Vor zwei Monaten erst hatte er ein Fortbildungsseminar für Führungskräfte besucht, in dem der Seminarleiter die Teilnehmer – als Teil eines Selbstbewusstseinstrainings – ihr eigenes Epitaph schreiben ließ. Norman hatte sehr lange über der Aufgabe gebrütet und schließlich folgenden Satz kreiert: »Hier ruht der Vorgesetzte des Mannes, der die Gehaltserhöhungen durchboxte im Auftrag des Managers, für den die Person arbeitete, die ein Mittel gegen Aids gefunden hat.« Voller Stolz hatte er Gwen abends davon erzählt. Sie hatte gelacht. »Schon allein deshalb müsstest du zum Abteilungsdirektor befördert werden, meinst du nicht?« Bei Gwen schien sich wirklich alles nur um Beförderung zu drehen. Norman gähnte, als die Fahrstuhlglocke das gewünschte 12
Stockwerk mit dem Rechnungswesen ankündigte. Es gab noch wichtigere Dinge als eine Beförderung. Die Fahrstuhltür glitt zur Seite und gab den Blick frei auf einen Korridor, so finster wie das Herz eines Rechnungsprüfers. Norman trat aus dem Fahrstuhl und in einen Lichtkegel, der wieder erlosch, sobald sich die Fahrstuhltür schloss. Die Leuchtziffern auf seiner Armbanduhr zeigten 5.30 Uhr an. Die Sonne würde frühestens in etwa einer Stunde aufgehen. Norman war schon so viele Male zu Morgenbesprechungen mit Pressman hier oben gewesen, dass er aufgehört hatte zu zählen. Trotzdem wusste er immer noch nicht, wo sich der Lichtschalter befand. Er konnte nicht darauf bauen, dass Pressman Licht machte. Pressman gehörte zum Controlling und würde sich eher im Dunkeln das Genick brechen, als das Geld der Firma für einen beleuchteten Flur zu verschwenden. Eine innere Stimme sagte Norman, dass es besser sei zu warten, bis seine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, aber schließlich erwartete ihn der Leiter des Rechnungswesens um halb sechs. Norman war nicht der einzige Angestellte mit Frührapport bei Pressman. Soweit er wusste, begann Pressman seinen Arbeitstag jeden Morgen um fünf. In der Regel berief Pressman vierzigmal im Jahr so eine Sitzung ein: eine pro Quartal für jeden der zehn Abteilungsleiter. Norman mochte Pressman nicht besonders, er schätzte aber sein Engagement. Biomethods war in Linien- und Stabsfunktionen gegliedert. Es gab fünf Linienabteilungen: Rechnungswesen, Marketing & Lizenzen, Krebs, Aids und Arthritis. (Die letzten drei Sparten waren nach den Krankheiten benannt, die aus den biotechnischen Entwicklungen von Biomethods den größten Profit versprachen). Die zehn 13
Stabsabteilungen umfassten die Bereiche Kommunikation, Personalwesen, Hausverwaltung, Vertrieb, Arbeitssicherheit, Administration, Werkschutz, EDV, Publicrelations und Strategieplanung. Norman konnte die fünfzehn Abteilungen auswendig herunterbeten. Sie waren außerdem in kleine Kästchen auf seinem Organigramm eingetragen, das er neben seinem Schreibtisch an der Wand hängen hatte. Es erfüllte ihn mit einem gewissen Stolz, dass er das komplizierte Geflecht der Organisationsstruktur von Biomethods durchdrungen und für sich selbst verständlich gemacht hatte. Das war nicht einfach zu meistern gewesen. Der Schreibtisch in Pressmans Vorzimmer war unbesetzt. Von Führungskräften durfte man durchaus erwarten, dass sie in aller Herrgottsfrühe an ihrem Arbeitsplatz saßen, von kleinen Büroangestellten jedoch nicht. Norman klopfte an Pressmans Tür. Hastig fuhr er mit den Fingern über die Krawatte um sich zu vergewissern, dass der Knoten saß. Die Tür öffnete sich langsam und aus der Tiefe des Zimmers erklang eine sanfte Stimme. »Kommen Sie herein, Norman.« Zögernd setzte Norman einen Schritt auf die Schwelle in der Erwartung, dass jemand die Tür von innen aufhielt. Als er eintrat, war jedoch niemand hinter der Tür. Der Raum lag im Dunkeln bis auf den kleinen weißen Lichtkegel einer Halogenleuchte auf Pressmans Schreibtisch. Norman machte hinter dem Schreibtisch eine Gestalt aus, die außerhalb des Lichtscheins saß. Die Gestalt beugte sich vor und nahm einen Bleistift zur Hand. Es war ein Mann. Kopf und Schultern wurden nur kurz in das Licht getaucht, sodass Norman kaum Zeit hatte sich ein Bild zu machen. Eines aber erkannte er: Dieser Mann war nicht Pressman. Er hatte diesen Menschen noch nie 14
gesehen. »Kommen Sie herein, Norman«, wiederholte der Mann. Er schien ein Memorandum mit dem Bleistift zu schreiben, was Norman etwas merkwürdig fand. Bei näherem Hinsehen stellte er jedoch fest, dass der Mann nicht schrieb, sondern zeichnete. Mit hastigen Strichen fertigte er eine Skizze von einem, wie es schien, menschlichen Gesicht an. Aus Normans Perspektive lag das Papier verkehrt herum auf dem Schreibtisch. Er neigte den Kopf und versuchte einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen, da zog der Mann seine Schreibtischschublade auf und legte das Blatt hinein. Dann erhob er sich und trat aus dem Lichtkreis der Lampe ins Dunkel. »Das hat nichts zu bedeuten«, sagte er. »Nur eine Angewohnheit, die ich von einem früheren Vorgesetzten übernommen habe.« Norman verstand nicht recht. Eine Angewohnheit Skizzen zu zeichnen? Der Mann trat hinter dem Schreibtisch hervor. Normans Handflächen wurden feucht, als er die kleine Statur des Mannes sah. Er wusste nicht, wer dieser Mensch war, aber die Erfahrung hatte ihn gelehrt Manager unter ein Meter fünfundsechzig zu fürchten und diesen hier schätzte er auf einen Meter sechzig. Der Mann machte eine vage Geste in Richtung der Sitzecke am anderen Ende des riesigen Büros. Norman wurde sich peinlich bewusst, dass der Mann sich weder vorgestellt noch die Hand zum Gruß ausgestreckt hatte. Er ging zu dem Sofa hinüber, legte seinen Budgetbericht auf den Couchtisch und setzte sich. Der Mann nahm ein anderes Blatt Papier vom Schreibtisch und kam zu Norman herüber. Er knipste die Lampe an, die auf dem Beistelltischchen neben dem Sofa stand, und in dem sanften gelblichen Licht konnte Norman einen ersten gründlichen Blick auf 15
den Fremden werfen. Dieser Mann schien Wert auf seine äußere Erscheinung zu legen. Er hatte den gleichmäßigen, pfirsichfarbenen Teint eines Menschen, der ein Heimsolarium besitzt, aus kluger Erwägung aber nur sparsam Gebrauch davon macht. Er war von unbestimmbarem Alter, wobei seine Haut faltenlos schien. Sein volles weißes, sorgfältig gekämmtes Haar umschloss seinen Schädel perfekt wie ein Helm. Das zartrosa Hemd schmückte eine scharlachrote Krawatte. Irgendetwas Fremdartiges umgab diesen Mann. Der dunkle Anzug mit dem dezentem Nadelstreifen verriet die Hand eines italienischen Modemachers. Norman und seine Kollegen waren mehr auf den kantigen Look amerikanischer Geschäftsanzüge getrimmt. Der Mann schob Normans Bericht beiseite und ließ sich, mit dem Papier in der Hand, auf dem Couchtisch nieder. Diese Nonchalance verblüffte Norman. Er hatte noch nie jemanden auf dem Tischchen sitzen sehen. Nur eine Armlänge trennte ihn von diesem Mann und er fühlte sich unbehaglich in seiner Haut. Der Mann hatte ihm immer noch nicht die Hand geboten, was Norman grübeln ließ, ob dies eine Art Einschüchterungsversuch sein sollte. Wenn es denn einer war, so funktionierte die Strategie. Der Mann hatte undurchdringliche Augen, seine Züge dagegen waren entspannt und sein verbindliches Lächeln zeigte ein makellos weißes Gebiss, das er mit einer Platinkarte von American Express bezahlt haben musste. »Mein Name ist Pierce«, begann der Mann. »Ihre Sitzung mit Pressman ist abgesagt – ersatzlos gestrichen.« Norman nahm flüchtig einen Geruch von Seife wahr, der von dem Atem des Mannes zu kommen schien. Er wusste nicht, was er zu Pressmans Abwesenheit sagten sollte, und rückte sich, irritiert durch die Nähe des Mannes, auf 16
dem Sofa zurecht. Doch dieser schien ganz gelassen, während er in ruhigem Ton fortfuhr. »Ich glaube, es ist völlig unnötig, Sie jedes Quartal herzubestellen und auf Ihrer Budgetplanung herumzuhacken.« »Sind Sie der neue Direktor des Rechnungswesens, Mr. Pierce?«, brachte Norman zustande. »Nennen Sie mich einfach Pierce, Norman.« Er lehnte sich noch ein paar Zentimeter vor und unterzog Norman einer eingehenden Betrachtung. Norman musste an den Biologieunterricht an der Highschool denken, als er einen Frosch mit ähnlicher Akribie untersuchte – nachdem er ihn zerlegt hatte. Er lächelte zaghaft und rührte sich nicht. Er wollte Pierce auf keinen Fall beleidigen, indem er von ihm wegrutschte, während dieser ihn inspizierte. Norman war sehr darauf bedacht, kleine Menschen nicht zu kränken, und außerdem empfand er, im Hinblick auf den Frosch, diese Art der Untersuchung als vergleichsweise harmlos. Die Zeit schlich dahin wie der nachmittägliche Berufsverkehr. Das Telefon klingelte und riss Pierce aus seiner Betrachtung. Als er den Blick kurz abwandte, holte Norman verhalten Luft, das erste Mal, wie es ihm schien, seit er das Büro betreten hatte. Seine Finger fuhren prüfend über den Knoten seiner Krawatte. Das Telefon läutete noch einmal, dann verstummte es. »Nein.« Pierce blickte auf das Papier in seiner Hand. »Ich bin der neue Jedermann.« Die beiden Männer saßen so nahe beieinander, dass Norman, selbst als der andere sich wieder aufrichtete, erkennen konnte, dass das Blatt in seiner Hand leer war. Norman verzog den Mund und versuchte über diesen Scherz zu lachen, doch es gelang ihm nur ein nervöses Zischen. Er war es nicht 17
gewohnt, dass ranghöhere Mitarbeiter Witze machten, und verspürte eine gewisse Unruhe bei dem Gedanken einem Mann ausgeliefert zu sein, der Zeichnungen machte, auf Couchtischen saß und leere Papierseiten studierte. »Sie werden ab heute für mich arbeiten.« Pierce betrachtete das Papier noch eine Weile, schließlich blickte er auf. Da er nichts weiter sagte, fand Norman nach einem ungemütlichen Moment des Schweigens, dass es wohl geboten sei, ein paar Fragen zu stellen. »Was…« Norman brachte nur ein trockenes Krächzen heraus. Er brach ab, räusperte sich diskret und setzte von neuem an. »Was ist mit Mr. Pressman?« »Pressman ist fort. Das übrige Führungspersonal ebenfalls. Sie passten nicht in unser Konzept.« Ein wilder Gedanke durchzuckte Normans Gehirn. Vor seinem geistigen Auge wurden Pressman, die übrigen Direktoren und Vizepräsidenten, alle in ihren gedeckten Anzügen, durch das Firmentor abgeführt. »Ach«. Norman wünschte, er hätte etwas Konstruktiveres beizutragen als nur dieses »Ach«, aber was sollte er sagen? Er wollte sich keine Blöße geben, indem er die einzige für ihn relevante Frage stellte. Der Mann blickte etwas säuerlich. »Sie hatten nicht eine brauchbare Idee.« Das überraschte Norman. Er hatte immer geglaubt, dass Führungskräfte ein unerschöpfliches Potenzial an Ideen besaßen. »Haben Sie schon einmal etwas von Umstrukturierung gehört, Norman?« Pierce gestikulierte mit dem Blatt Papier. Natürlich kannte Norman diesen Begriff. Wenn er selbst auch keine Ideen hervorbrachte, hieß das noch lange nicht, dass er unempfänglich für neue Ideen war, die wie 18
ein religiöser Wahn hin und wieder Besitz von der Geschäftswelt ergriffen. Pierce hob das Papier hoch und drehte es mit der leeren Seite Norman zu. »Das ist das neue Organigramm der Firma.« Norman hielt das für einen weiteren Scherz. »Wo ist das Personalwesen?« »Die Abteilung gibt es nicht mehr.« Pierces leise Stimme hatte die Schneide einer Machete, mit der man organisatorisches Gestrüpp aus dem Weg räumt. »Es gibt überhaupt nichts mehr. Wir fangen in dieser Firma bei null an.« Norman fragte sich, was in so einem Fall aus der Belegschaft wurde. »Hier arbeiten einige recht gute Leute«, wandte er vorsichtig ein. »Mag sein«, meinte Pierce unbeeindruckt von Normans vorsichtigem Taktieren. »Aber sie arbeiten in einem unrentablen Betrieb. Ich möchte Sie etwas fragen, Norman«. Norman rückte sich auf seinem Sofa zurecht. »Was schätzen Sie an dieser Firma am meisten?« Norman überlegte einen kurzen Moment. Er fragte sich, welche Antwort Pierce gefallen würde. »Das Aidsprojekt«, meinte er schließlich. Pierce sah ihn eindringlich an. »Aids ist ein ziemlich großes Problem, nicht wahr? Norman nickte eifrig. Glücklich dass er die richtige Antwort getroffen hatte. «Groß genug um die Marktstellung dieser Firma zu sichern?« Norman überlegte, was er damit wohl meinen könnte. »Sagen Sie, Norman«, fuhr Pierce mit leiser Stimme fort. »Haben Sie eine Ahnung, wie viele Hühner es in diesem Land gibt?« 19
Norman fühlte sich unbehaglich. Was sollte das mit den Hühnern? »Etwas mehr als 6,4 Milliarden«, klärte Pierce ihn auf. »Ich verstehe nicht ganz«, stammelte Norman. »Hühner haben ebenso viele Gesundheitsprobleme wie menschliche Wesen.« Norman war sich nicht sicher, meinte aber bei den Worten menschliche Wesen aus Pierces Tonfall eine gewisse Verachtung herausgehört zu haben. »Wenn eine Firma ein interessantes Produkt an ein paar Millionen Menschen vermarktet und einen Markt von 6,5 Milliarden Interessenten vernachlässigt, meinen Sie nicht, dass diese Firma ihre Kundenorientierung neu überdenken sollte?« »Was hat das mit Aids zu tun?« Norman war bemüht in respektvollem Ton zu sprechen. »Das hat überhaupt nichts mit Aids zu tun«, erwiderte Pierce. »Ich versuche nur Ihnen eine Vorstellung zu vermitteln, warum die Risikokapitalgesellschaft mich damit beauftragt hat, die Firma umzustrukturieren.« Norman war sich gar nicht bewusst, dass die Firma eine Umstrukturierung nötig hatte. »Lassen wir das«, sagte Pierce. »Wir werden uns mit diesem Thema noch eingehender befassen.« Norman klammerte sich an die vage Hoffnung, die Unterhaltung würde eine andere Richtung nehmen, damit er wieder folgen konnte. »Schrecklich, diese Sache mit Blankenship«, meinte Pierce. »Ich finde allerdings nicht, dass seine Kündigung berechtigt war. Die anderen sieben Leute werden ihre Arbeit hier wieder aufnehmen. Ich möchte das Arbeitsverhältnis auf eine ganz neue Basis stellen.« Es imponierte Norman, wie geschickt Pierce das Thema wechselte. Er gab sich Mühe den Worten des Mannes 20
konzentriert zu folgen, denn eines war sicher, wenn er seinen Job nicht verlieren wollte, musste er mithalten können. »Norman«, sagte Pierce freundlich. »Die Belegschaft zeigt Anzeichen von Panik. Dass ein Mann aufgrund seiner Kündigung Selbstmord begeht, zeigt doch, dass die Prioritäten falsch gesetzt sind, meinen Sie nicht?« Norman war schockiert. Wie konnte man nur so hässlich über den armen Blankenship reden. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Pierce wertete sein Schweigen offenbar als Zustimmung. »Schön. Ich bin froh, dass wir uns einig sind. Leute wie Sie werde ich brauchen um diesen Betrieb neu zu organisieren. Ich weiß, dass das alte Management es begrüßte, wenn die Angestellten mit ihrem Beruf verheiratet waren. Für mich ist das ein primitiver Wunsch Macht über andere zu gewinnen. So primitiv bin ich nicht. Wir brauchen keine Selbstkasteiung, sondern effektive Arbeitsleistung.« Norman überlegte, ob irgendjemand glaubte, dass er mit seinem Job verheiratet war. Gehörte man, wenn man Frühbesprechungen auf sich nahm, auch schon in diese Kategorie? »Was erwarten Sie von mir?« Norman spürte, wie sein leerer Magen knurrte, und er rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. Pierce schien das Magenknurren nicht zu bemerken. »Sie sollen für mich herausfinden, welche Mitarbeiter auf der Kippe stehen. Leute wie Blankenship. Mit Führungsqualitäten. Leute mit Ideen.« Norman war beeindruckt, wie besorgt Pierce sich gab. »Sie und ich, Norman, gehören nicht zu den Leuten mit Ideen«, erklärte Pierce. Norman hätte sich eigentlich gekränkt fühlen müssen, 21
aber Pierce schenkte ihm sein charmantestes Lächeln, und das versöhnte ihn. »Sie und ich gehören zu den Machern.« Norman war von dem Gedanken beseelt, dass er es mit einem unendlich weisen und verständnisvollen Menschen zu tun hatte. »Meinen Sie nicht, Norman, dass eine Firma mit doppelt so vielen Stabsabteilungen wie Linienabteilungen ein wenig im Ungleichgewicht ist?« »Wie meinen Sie das?«, fragte Norman. »Ich meine damit, dass nur ein Drittel der Belegschaft mit dem eigentlichen Produkt befasst ist, zwei Drittel sind reine Personalkosten.« Norman führte immerhin eine Stabsabteilung und ließ sich nicht gern zu reinen Personalkosten degradieren. »Biotechnologie ist ein komplexes Geschäft.« »Papierherstellung auch«, erwiderte Pierce. »Und ich habe das schon mit minimaler Belegschaft gemacht.« Norman verstand nicht recht, hielt es jedoch für richtig, nichts zu sagen, während Pierce ihm sein Herz ausschüttete, woran ihm offensichtlich gelegen war. »Diese Firma ist nach der klassischen Betriebshierarchie strukturiert«, fuhr Pierce fort. »Ich werde das ändern. Ich werde Mauern niederreißen und wir alle werden den Betrieb nach einem neuen Konzept umorganisieren.« Norman nickte beeindruckt. »Hier wird ein neuer Wind wehen«, sagte Pierce. »Und es wird nicht einfach werden.« Norman nickte wieder. »Haben Sie schon einmal einen Mann ein Schafott besteigen sehen, Norman?« »Ich kann mich nicht erinnern«. Norman beschlich das Gefühl es mit einem Verrückten zu tun zu haben. Pierce überging diesen offenbar witzig gemeinten Einwurf. »Ich habe das einmal erlebt. Der Mann war ein 22
Hemmschuh für anstehende Veränderungen und ich glaube, er wusste das. Auf jeden Fall sah er seinem Schicksal mutig ins Auge. Warum auch nicht? Er konnte sowieso nichts mehr daran ändern, also nahm er es gefasst und mit Würde in Kauf.« Norman wünschte, die Unterhaltung wäre bald beendet. Belegschaftspanik, Papierherstellung, Schafott – wenn man diesem Mann zuhörte, konnte einem schwindelig werden. »Solange wir uns in dieser schwierigen Übergangsphase befinden«, fuhr Pierce fort, »werde ich mich persönlich um alle Firmenbelange kümmern. In wichtigen Fällen können Sie mich immer anrufen, zu jeder Tagesund Nachtzeit. Ich bin noch mit einer anderen Firmensanierung befasst und insofern tagsüber gewöhnlich nicht erreichbar, Sie können mir aber eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen. Abends, auch nachts, können Sie mich direkt anrufen, egal wie spät. Haben Sie mich verstanden?« Norman fragte sich, wann Pierce eigentlich schlief. »Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« Natürlich hatte er Fragen. »Nein«, antwortete Norman. Pierce stand auf und ging mit dem Organigramm in der Hand an seinen Schreibtisch zurück. »Es freut mich, dass wir uns verstehen.« Norman erhob sich ebenfalls, unschlüssig, ob er Pierce folgen sollte. Der legte das Papier auf die Schreibunterlage, wandte sich um und lehnte sich, die Arme vor der Brust verschränkt, an den Schreibtisch. Dann öffnete er die Arme und entließ Norman mit einer beinahe entschuldigenden Handbewegung. Es war eine höfliche Geste und umso vieles zivilisierter als Pressmans Art, der eine Besprechung gewöhnlich mit 23
dem Satz »Gehen Sie wieder an die Arbeit« zu beenden pflegte. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen«, sagte Pierce. »Ich muss meine Voicemail checken.« Norman nahm seinen Bericht vom Couchtisch und trollte sich zur Tür. »Nicht vergessen, Norman«, rief Pierce hinter ihm her. »Die Leute mit Ideen.« Norman nickte und verließ das Zimmer. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, sah er durch das Fenster des Vorzimmers, wie sich die Morgendämmerung rot über den Himmel tastete. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war bereits zehn vor sieben. Norman hastete zum Fahrstuhl. Er würde rasch in der Cafeteria etwas frühstücken, damit sein Magen Ruhe gab. Im Erdgeschoss angekommen ging er in den rückwärtigen Teil des Gebäudekomplexes, wo bereits ein Grüppchen von Buchhaltern und Sekretärinnen vor der Tür der Kantine wartete, die um sieben Uhr aufmachte. Norman entdeckte zwei Kollegen aus der Abteilung Strategieplanung. Die jungen Männer trugen kein Jackett, lediglich ein weißes Hemd mit Halstuch, und plauderten angeregt. Norman kam nicht umhin ihre Unterhaltung mitzuhören. »Sie sagen, das Loch in seinem Schädel war faustgroß.« »Im Ernst?« »Das ganze Auto voller Blut.« »Glaubst du, er hat absichtlich so eine Sauerei gemacht?« »Ich würde es tun. Und vor allem hätte ich es genau in Pressmans Büro getan, bloß um ihm den Anzug zu versauen.« »Mann, ich hätte es auf seinem Schreibtisch getan – nein, noch besser, direkt auf seinem Schoß.« »Meinst du, der hätte stillgehalten?« Die beiden Männer 24
lachten schallend. Dann schlug der andere einen ernsteren Ton an. »Hast du ‘ne Ahnung, ob sie uns auch auf die Straße setzen?« »Soweit ich gehört habe, wird die gesamte Geschäftsführung rausgeschmissen und dann die Hälfte wieder eingestellt.« »Oh Gott! Die Hälfte. Ich muss mal nachschauen, ob ich zu Hause noch ‘ne Kugel hab.« Die beiden Männer lachten wieder. »Vielleicht kriegen wir ja morgen unsere Kündigung auf den Tisch«, meinte der Ernsthaftere der beiden. »So was machen die immer gern freitags.« »Was meinst du, was für ein Kaliber macht so ‘ne Riesenlöcher?« Die Tür zur Cafeteria schwang auf und der Kantinenchef erschien auf der Schwelle. Er erkannte Norman und nickte ihm zu. Dann ließ er die Türflügel an den Wandhaken einrasten und gab den Weg frei. Ein Duft von frischem Kaffee, gebratenem Speck und Bratkartoffeln durchzog die Kantine. Durch die gegenüberliegenden Fenster strömte das Morgenlicht, als die Sonne über dem Parkplatz aufging. Hinter dem Ausgabetresen wurde mit Geschirr geklappert und an der Kasse lachte jemand. Als Norman eintreten wollte, packte ihn der Kantinenleiter am Ärmel und hielt ihn zurück. Er sah sich nach allen Seiten um um sicher zu sein, dass niemand mithörte. »Wissen Sie schon irgendwas, Norman?« »Alle Vizepräsidenten und Direktoren sind gefeuert worden«, sagte Norman. »Gestern Abend oder heute Morgen, glaube ich.« »Du meine Güte!« Der Mann wurde blass. »Das Haus ist noch nicht abbezahlt und mein Sohn studiert gerade erst im dritten Semester.« 25
»Ich habe eben mit unserem neuen Boss gesprochen. Er meint, sonst trifft es keinen«, meinte Norman. »Nein?« Die panische Angst im Gesicht des Mannes wich einem Antrug von Hoffnung. Er packte Norman am anderen Ärmel. »Darf ich Ihnen einen Kaffee und ein Frühstückshörnchen spendieren? Geht auf Kosten des Hauses.« Norman ließ sich widerstrebend am Ärmel zum Ausgabetresen zerren. Leute in leitenden Positionen waren gewöhnlich nicht so spendierfreudig und er misstraute dem Mann. Dennoch klemmte er sich seinen Etatbericht unter den Arm und nahm das Frühstückshörnchen auf einem Pappteller und einen Pappbecher mit Kaffee in Empfang. Der Kantinenchef legte als Zugabe noch eine Portion Frischkäse aus der Kühlvitrine dazu. »Bitte sehr, Norman.« »Danke. Haben Sie auch einen Kopenhagener?« »Sind Sie ganz sicher, dass nicht noch mehr gefeuert werden?«, wisperte der Mann. »Er holt sogar Leute zurück, die er entlassen hat«, erklärte Norman. »Hat er mir jedenfalls gesagt. Haben Sie auch einen Kopenhagener?« »Tatsächlich?« Der Kantinenchef sah aus wie jemand, der gerade erfahren hat, dass seine tödliche Krankheit eine Fehldiagnose war. »Bis auf Blankenship.« Norman senkte den Blick. Er wollte nicht, dass Blankenship in Vergessenheit geriet. »Ja, für den ist es ja wohl zu spät.« Der Kantinenchef wandte sich zum Gehen. »Lassen Sie sich’s schmecken. Ich muss rasch meine Frau anrufen.« Norman betrachtete seinen Teller mit dem Frühstückshörnchen. Als er wieder aufblickte, war der Kantinenchef schon in seinem Büro verschwunden. Norman entschied, dass er nicht zu der Kategorie von Leuten gehörte, die 26
Pierce brauchte. Keine Ideen. Kein Potenzial. Norman suchte sich einen freien Tisch. Er wollte alleine sitzen. Pierce hatte Recht. Unter der Belegschaft herrschte Panik. Während er sein Hörnchen kaute, grübelte er über Pierce nach. Die Risikokapitalgesellschaft hatte also einen Jobkiller geschickt. Nur war dieser hier nicht von der üblichen Sorte. Er hatte zwar ein Dutzend Vizepräsidenten und Direktoren auf die Straße gesetzt, tat aber so, als ob ihm das Wohl der Angestellten am Herzen lag. Norman wusste aus langjähriger Erfahrung, dass die beste Überlebensstrategie bei einem neuen Vorgesetzten darin bestand, mehr darauf zu achten, was er tat, und weniger auf das, was er sagte. Dieser hier schien eine Menge über Marktstrategien zu wissen und vergleichsweise wenig über Personalführung. Norman fand es nicht besonders diplomatisch, eine Besprechung mit einem Abteilungsleiter damit zu beginnen, dass man ihm mitteilte, seine Abteilung würde abgeschafft, selbst wenn es nur ein Scherz gewesen sein sollte. Das Hörnchen schmeckte trocken. Norman nahm einen Schluck Kaffee und spülte den Bissen hinunter. Als erste Amtshandlung würde er die Abteilung zusammentrommeln und seine Belegschaft über den neuen Chefsanierer informieren. Zu seiner Abteilung gehörten drei feste Angestellte, er eingeschlossen, und zwei Aushilfskräfte. Die beiden Aushilfen, Cheryl und Louise, arbeiteten im Sekretariat. Er hatte keine Ahnung, was genau sie eigentlich machten, da sie Jacqueline unterstanden, seiner Assistentin. Bei Jacqueline sah er gewisse Probleme voraus. Sie war maßlos ehrgeizig und sah sich womöglich im Zuge der Firmensanierung genötigt sich besonders zu profilieren um sich damit mehr Macht und Status zu verschaffen. 27
Norman schaute irritiert auf seinen Teller. Das Frühstückshörnchen war verschwunden und sein Kaffeebecher war ebenfalls leer. Er warf einen Blick auf die Uhr, es war bereits acht. Die Kantine füllte sich und der Geräuschpegel hatte merklich zugenommen. Norman zuckte die Achseln und machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Als er in seiner Abteilung im dritten Stock ankam, saßen Cheryl und Louise bereits an ihren Schreibtischen. Louises schulterlanges Haar schien an diesem Morgen noch voluminöser. Sie kramte in ihrer Handtasche, während Cheryl auf sie einredete, und Norman konnte sofort sagen, dass die Unterhaltung nicht besonders freundschaftlich war. »Man nennt das Metonymie, Louise«, dozierte Cheryl. »Und das muss man wissen, wenn man das Buch verstehen will. Genau genommen trifft das auf jedes Buch zu, das man liest.« Louise holte eine Dose Haarspray aus ihrer Tasche, schüttelte sie und gab eine gezielten Strahl Haarlack auf ihre Haarmähne. »Ich kann dich nicht verstehen«, rief sie. »Ich spraye mir gerade die Haare.« »Guten Morgen«, grüßte Norman. Er fand den Geruch von Haarspray nicht sehr angenehm, ließ sich aber seinen Unmut nicht anmerken. »Guten Morgen, Norman.« Louise setzte die Verschlusskappe auf die Spraydose. »Tag.« Cheryl nahm kaum Notiz von Norman und fuhr mit ihrer Lektion fort. »Denk dran, Louise. Das ist die Idee dahinter.« Statt einer Antwort nahm Louise die Kappe von der Spraydose ab und verpasste ihrem Haar noch eine Dosis Haarspray. Norman fragte sich, ob ihr nicht besser gedient wäre, 28
wenn sie mit dem Haarspray auf Cheryl zielen würde. Von dem Tag an, als Cheryl bei Biomethods aufgetaucht war, hatte Louise Anzeichen von Unsicherheit und Abneigung bekundet, und das lag wohl darin begründet, dass Cheryl ein Diplom in Literaturgeschichte besaß, während Louise gerade mal das Abitur geschafft hatte. Um mit Cheryls Bildungsstand gleichzuziehen hatte Louise sich das Haar zu einer üppigen Mähne wachsen lassen. Cheryl wiederum konterte Louises Haarpracht mit immer ausführlicheren Vorlesungen über die Kunst der Didaktik und Synekdoche. Das brachte Louise völlig aus der Fassung, da sie leidenschaftlich gerne las. Cheryls Vorträge trieben sie in eine Haarspraywut, auf die diese mit neuen Lektionen reagierte, und so schaukelten sie sich permanent gegenseitig hoch. Norman sah keine Chance, dass dieser Teufelskreis irgendwann durchbrochen würde. Er zog sich in den Schutz seiner vier Bürowände zurück und grübelte darüber nach, ob das Einatmen von Haarspray auf die Dauer schädlich für die Lungen sei. Norman setzte die Abteilungsbesprechung für den Nachmittag an. Im Konferenzzimmer schrieb er die wichtigsten Schlagworte auf das Flipchart: Neues Management, Neue Ziele, Neue Strategie, Neue Struktur. Er stand neben dem Flipchart, als seine Abteilung sich zur Besprechung einfand. Louise und Cheryl setzten sich so weit wie möglich von einander entfernt an den Konferenztisch. Normans Assistentin Jacqueline nahm ihm gegenüber Platz, Tim bezog den Stuhl neben Louise und verschwand praktisch hinter ihrer gewaltigen Haarmähne, aber als Personalsachbearbeiter arbeitete er ja ohnehin im Verborgenen. Sie starrten wortlos auf Normans Flipchart und das einzi29
ge Geräusch kam von Louises Kaugummi, ein stetes Mahlen und Knacken, als ob jemand alte Akten vernichtete. Norman fragte sich, ob ihre Haartracht schwer wog, und mutmaßte, dass sie mit dem Kaugummikauen ihre Nackenmuskeln trainierte, damit sie den Kopf aufrecht hielten. Jacqueline trug ihr Poweroutfit, das graue Kostüm mit dem Nadelstreifen, und Norman wusste sofort, dass die Besprechung nicht einfach verlaufen würde. Er hasste es, wenn sie ihren Powerdress anhatte. Er beschloss zum Anwärmen mit einer Übung im Positiven Denken zu beginnen. »Ehe wir anfangen«, sagte Norman, »sollte jeder von uns etwas Angenehmes beschreiben, das im Moment sein Leben bestimmt.« Er sah Jacqueline nicht an, merkte aber aus dem Augenwinkel heraus, wie sie sich straffte. Das überraschte ihn nicht. Jacqueline hielt nichts von Positivem Denken. Er würde mit Louise beginnen in der Hoffnung, dass sie von ihrem Kaugummi ablassen würde, solange sie der Runde von einem positiven Erlebnis berichtete. »Louise, wollen Sie nicht den Anfang machen?« »Ich lese gerade ein gutes Buch«, erklärte Louise. »Wovon handelt es?« Norman bemühte sich um einen wohlwollenden Ton. »Von einem Vampir aus New Orleans. Er ist ein Rockstar.« Norman verstand nicht so recht, wieso ein Vampir Rockstar sein konnte. Waren das sonst nicht immer Blaublütige oder so etwas Ähnliches? »Er ist einige Hundert Jahre alt«, fuhr Louise fort. »Sieht aber jung genug aus um Rockmusik zu machen.« Cheryl hüstelte ostentativ. Alle Blicke richteten sich auf sie. 30
»Das Buch ist entsetzlich selbstgefällig und geschwätzig.« Cheryl schien ihre Worte an alle Anwesenden außer Louise zu richten. »Der Erzähler lässt sich seitenlang über das letzte Buch des Autors aus. Soll das Kunst sein oder was?« »Haben Sie das Buch auch gelesen?«, fragte Norman. »Nun, der Leser will sicher wissen, welchen Background der Autor hat.« Louise machte ein säuerliches Gesicht und schien gekränkt zu sein. Norman fürchtete, dass ihm die Gesprächsleitung entglitt. »Das erste Buch steckte noch voll guter Einfälle«, nahm Cheryl den Faden wieder auf. »Die Geschichte nur aus der Sicht des Vampirs zu erzählen, war irgendwie witzig und neu. Aber warum wiederholt der Autor sich jetzt bloß? Statt eines minderwertigen zweiten Aufgusses hätte der Autor seine Ziele ruhig weiter stecken können. In der Kunst geht es doch um die Erweiterung des Kunstbegriffs oder etwa nicht?« »Woher willst du das wissen?« Louises Tonfall signalisierte, dass Cheryls Haarvolumen für ein Kunstverständnis nicht ausreichte. Norman sah mit Sorge, dass die Besprechung einen völlig anderen Verlauf zu nehmen drohte. Cheryl wollte auf Louises Herausforderung parieren, aber Jacqueline schnitt ihr das Wort ab. »Wir sind doch nicht hier um über Bücher oder Vampire zu diskutieren«, erklärte sie knapp. Alle im Raum wandten sich um und starrten sie an. Jacquelines Erscheinung stand in krassem Gegensatz zu der ihrer Untergebenen. Ihr schwarzes glattes Haar war kurz geschnitten und ohne Firlefanz. Offenbar benutzte sie kein Make-up, zumindest konnte Norman keines an ihr entdecken. Ihr Schneiderkostüm war modisch schlicht und streng. Das einzige Zugeständnis an irgendeine 31
Form von Schmuck waren ein Paar stahlblauer Kontaktlinsen, die sie streng und komisch zugleich aussehen ließen. Zu Jacquelines Aufgaben gehörten Mitarbeiterbetreuung, Koordination von Schulungen und Lehrgängen, Organisieren von Aushilfskräften und deren Entgeltabrechnungen. Sie arbeitete präzise und effektiv und hatte nach Normans Auffassung beste Qualitäten in der Personalführung. Und sie war viel zu besessen von ihrer Arbeit um glücklich damit zu sein. Jacqueline verzog keine Miene, wuchs aber sichtbar um einige Zentimeter, als sie sich im Mittelpunkt des Interesses fand. Norman wunderte sich erneut, wie sie es immer wieder schaffte, mit einer einzigen Bemerkung das Gespräch an sich zu reißen. »Norman hat uns etwas zu sagen«, verkündete Jacqueline. Acht Augenpaare richteten sich auf Norman. »Vielleicht lassen wir das mit den Büchern und wenden uns unserem eigentlichen Thema zu«, meinte er. Dann machte er ein paar harmlose Bemerkungen über Veränderungen und die Notwendigkeit in unsicheren Zeiten als Team zu arbeiten. Er war sehr darauf bedacht, ihnen außer dem Namen nichts weiter über Pierce zu verraten. Wenn sich hier irgendwelche Erwartungshaltungen aufbauten, würde das Pierces Umstrukturierungspläne unnötig erschweren. Mithin erging Norman sich in Allgemeinplätzen. Er registrierte ein müdes Blinzeln, als er davon sprach, wie wichtig es sei, die Ziele der Firma zu verinnerlichen und nicht nur für die eigene Abteilung zu arbeiten, und fragte sich, warum seine Mitarbeiter kein Interesse an diesem Thema zeigten. »Solange wir von der neuen Firmenleitung keine weiteren Anweisungen erhalten«, fügte Norman hinzu. »Läuft alles 32
seinen gewohnten Gang. Business as usual.« Als er in die Runde blickte, sah er, dass seine Mitarbeiter nur noch mühsam die Augen offen hielten. »Sie werden alle an Ihren laufenden Projekten weiterarbeiten. Ich wünsche nicht, dass irgendjemand neue Ideen entwickelt oder sich mit besonderen Aktivitäten profilieren will. Das Wohl der Firma liegt momentan in den Händen eines Sanierers. Und er wird es begrüßen, wenn wir im gegenwärtigen Stadium für einen ruhigen und reibungslosen Betrieb sorgen.« Dann weckte er seine Truppe auf und schickte sie zurück an ihre Schreibtische. Jacqueline trat zu ihm und bat, ihn kurz persönlich zu sprechen. Mit einem Achselzucken nahm Norman seinen Platz wieder ein. Jacqueline schloss die Tür des Konferenzraums und setzte sich neben ihn. Er hatte keine Vorstellung, was sie von ihm wollte, er ahnte jedoch, dass es schwierig werden würde. Jacqueline redete nicht lange um den heißen Brei herum, sie kam gleich zur Sache. »Norman«, begann sie. »Ich habe eine Idee für ein neues Produkt.« Das aus Jacquelines Mund zu hören, überraschte ihn nun doch. »Jacqueline.« Er rückte sich auf seinem Stuhl zurecht. »Was reden Sie da? Sie arbeiten für die Personaladministration, nicht für die Produktentwicklung.« »Es ist aber ein tolles Konzept!« »Bestimmt ist es das«, räumte Norman ein. »Wir sind hier aber in der Personalabteilung. Sie sollten sich über Probleme der Personaladministration den Kopf zerbrechen.« »Wir haben keine Probleme, Norman. Die Aufgabe dieser Abteilung ist es, Anträge auszufüllen.« 33
»Also?«, fragte Norman. »Warum entwickeln Sie dann nicht bessere Methoden zum Ausfüllen von Anträgen?« »Wir leben in den Neunzigern, Norman.« Jacqueline hielt den Blick fest auf Norman gerichtet. »Jeder kann Vorschläge einbringen. Sagt Ihnen der Begriff Umstrukturierung etwas?« Warum wurde er plötzlich dauernd mit diesem Wort behelligt? »Ich habe hier und da schon mal davon gehört.« »Das ist eine Art Evaluierung der Betriebsproduktivität«, erläuterte Jacqueline. »Jacqueline.« Norman legte einen begütigenden Ton in seine Stimme. »Wir befinden uns in den Händen eines Firmensanierers. Wir wissen nicht, was morgen sein wird. Das ist nun wirklich nicht der Zeitpunkt um über Umstrukturierung zu reden.« Norman bedauerte seine heftige Reaktion und hätte das Gesagte am liebsten ungeschehen gemacht. »Oder über ein neues Produkt«, fügte er matt hinzu. »Norman, ich würde Ihre kostbare Zeit gewiss nicht in Anspruch nehmen, wenn die Sache nicht wichtig wäre!« Norman rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Er wusste nicht, ob er sich geschmeichelt, manipuliert oder beides fühlen sollte. »Warum kommen Sie überhaupt zu mir mit Ihrer Idee?« »Ich habe versucht die Pinsel aus der Marketing-&Lizenzabteilung dafür zu begeistern und die haben mich ausgelacht. Ich glaube, ich sollte meine Idee unserem neuen Boss unterbreiten. Das muss aber schnell passieren, ehe die Blödmänner von M & L aufwachen und kapieren, wie gut mein Konzept ist. Nur, wenn ich ihn sprechen will, wird er mich abwimmeln. Aber wenn Sie um einen Termin bitten, wird er sofort Zeit für Sie haben.« Ihre Logik leuchtete Norman nicht ganz ein. Aber wie er 34
sie einschätzte, hatte sie mehr Ahnung vom Funktionieren eines Betriebes als er, und allmählich dämmerte ihm, dass Jacqueline womöglich zu der Sorte Mitarbeiter gehörte, die Pierce gemeint haben könnte. Leute mit Ideen. »Erzählen Sie mir von Ihrer Produktidee.« Jacqueline musterte ihn schweigend, als ob sie abwägen müsste, ob sie ihm vertrauen konnte. Die Entscheidung fiel zu seinen Gunsten aus. »Wir machen hier doch GenMapping, nicht wahr?« »Ich glaube schon«, erwiderte Norman. »Nun, meine Idee ist psychographische Profile anhand der DNS zu erstellen.« »Da kann ich nicht folgen«, gestand Norman. Jacqueline antwortete ihm mit einem Blick, der besagte, dass sie das auch gar nicht von ihm erwartete, und er fragte sich, ob er das als Beleidigung werten sollte. »Und dabei werden wir feststellen, dass das menschliche Gen das individuelle Konsumverhalten steuert.« »Wozu sollte das gut sein?«, wollte Norman wissen. »Um einen simplen Bluttest zu entwickeln, aus dem sich ablesen lässt, welche Art von Produkten und Dienstleistungen die Leute bevorzugen. Das wäre Neuland auf dem Gebiet des Direktmarketing.« Norman spürte, dass ihm ein Lachkrampf in der Kehle saß, den er aber wohlweislich unterdrückte. Jacqueline meinte es absolut ernst und er wollte sich nicht auf das Niveau der Pinsel von M & L begeben. Die gehörten zu den Linienabteilungen und spielten sich den anderen gegenüber gern auf. Sie hatten keine Ahnung, was für ein kompliziertes Beziehungsgefüge ein Betrieb dieser Größe darstellte. »Na, was meinen Sie, Norman? Werden Sie mich mit dem hohen Herrn zusammenbringen? Er würde das sogar von Ihnen erwarten.« 35
»Das Ganze ist total verrückt.« Norman bemühte sich um einen wohlwollenden Ton. »Es gab mal Zeiten, da galt Fliegen auch als verrückt«, meinte Jacqueline lakonisch. Norman wusste nicht, was er sagen sollte. Er hasste Reisen und er hielt Fliegen wirklich für verrückt. Aber hatte Pierce ihm nicht ausdrücklich aufgetragen die Leute mit Ideen zu finden? »Na schön«, lenkte er ein. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass Jacqueline ihn anlächelte.
2 Norman hatte den ganzen Tag über so viel zu tun, dass er beinahe vergessen hätte Pierce anzurufen und ihm von Jacquelines Idee zu berichten. Draußen wurde es schon dunkel, als er den Hörer abnahm und Pierces Nummer in die Tastatur eingab. Die Bandansage sprang an und teilte ihm mit Pierces Stimme mit, dass sein Boss im Moment nicht an seinem Schreibtisch oder an der anderen Leitung sei und dass er eine Nachricht hinterlassen möge. Norman schaute auf die Uhr. Es war bereits halb sechs. Er hasste es, wenn er länger arbeiten musste, und außerdem war heute Donnerstag. Die Kinder erwarteten, dass er um viertel nach sechs nach Hause kam und ihnen Käsemakkaroni machte. Er hinterließ eine Nachricht für Pierce, dass er ihn sprechen musste, dann tippte er die Sprechpause ein, während er überlegte, was Pierce wohl von ihm halten würde, wenn er ihn bat ihn privat 36
anzurufen. Seine Worte über das Schafott kamen ihm in den Sinn und er versuchte sich klar darüber zu werden, ob es mutiger war, Pierce in sein Privatleben eindringen zu lassen oder es vor ihm abzuschotten. Er fand den Gedanken absurd. Was hatte das Schafott mit seinen Kindern und den Käsemakkaroni zu tun? Er drückte die Freitaste und sprach seine private Telefonnummer auf das Band. Auf dem Heimweg hielt er an einem Schnellimbiss an, der schon von Dutzenden anderer heimwärts hastender Berufstätiger umlagert wurde, und dezimierte die Hühnerpopulation von 6,4 Milliarden um zwei Exemplare. Außerdem nahm er zwei große Portionen Käsemakkaroni und einen gemischten Salat mit. Die Kinder liebten Nudeln über alles, selbst die pappige Version aus dem Imbiss. Solange sie zuerst ihren Salat aßen, durften sie die ganze Portion Makkaroni vertilgen. Er hätte ihnen lieber den Auflauf mit goldgelber Käsekruste gegönnt, wie ihn seine Mutter zu machen pflegte, aber wann hätte er den machen sollen. Er hatte wirklich keine Zeit. Nun, vielleicht am Wochenende. Er betrat das Haus und verabschiedete das Mädchen, das seit langem als Babysitter kam und wie gewöhnlich schon an der Tür auf ihn wartete. Er stellte seine Imbisstüten in der Küche ab und ging ins Wohnzimmer. Sein achtjähriger Sohn kniete auf dem Teppich vor dem Großbildschirm und sah sich ein Infomercial an, in dem ein Mann einen Kreis von Leuten aufforderte an sich selbst zu glauben. »Hast du Käsemakkaroni mitgebracht?« Der Junge sprach ohne seinen Blick vom Fernseher zu nehmen. »Hast du deine Hausaufgaben gemacht?« Er tätschelte die Schulter des Jungen und spürte, wie sich seine innere Verspannung augenblicklich löste. Wenn er seinen Sohn berührte, kam es ihm vor, als schaltete er sich an 37
ein Aufladegerät: Es entspannte ihn und brachte seine Energien zurück. »Hausaufgaben sind was für Weicheier.« Der Junge blickte zu Norman auf und grinste unbekümmert. »Mein Sohn, solange du die Schulbank drücken musst, darfst du dich getrost als Weichtier betrachten.« »Meinst du als Muschel?« Norman war stolz, dass sein Sohn die biologischen Arten und Gattungen beherrschte. Er hatte selbst ein paar Semester lang Biologie studiert und wusste, wie schwierig es manchmal war, einen Primaten von einem Weichtier zu unterscheiden. Seit er die Personaladministration leitete, wusste er auch, dass eine Menge Leute Weicheier waren. Der Mann im Fernsehen hatte jemanden aus dem Publikum auserkoren und forderte ihn auf an sich selbst zu glauben. »Weißt du«, sagte Norman, »an sich selbst zu glauben ist ganz nett, aber es ist völlig egal, wie sehr du an dich selbst glaubst, solange du deine Hausaufgaben nicht machst.« »Der Typ da sagt, wenn du an dich selbst glaubst und seine Videokassette bestellst, bist du im Nu Millionär.« Norman zerzauste seinem Sohn den Haarschopf. »Du willst gar nicht Millionär werden. Du lebst doch mit Republikanern zusammen.« Er verkniff sich den Zusatz »wie deine Mutter«. Sein Sohn sollte nicht glauben, dass er sich über sie lustig machte. Der Junge lachte und Norman war glücklich, dass es ihm gefiel, wenn er ihm das Haar zauste. »Komm«. Norman stieß ihn an. »Mach dich fertig zum Abendessen.« Der Feierabend begann für Norman erst richtig, als seine zehnjährige Tochter die Treppe heruntergestürmt kam 38
und ihm um den Hals flog. Er wurde dieses Zeremoniell nie leid. Sie nannte ihn Papi und drückte ihn, als ob er eine ganze Woche weg gewesen sei. Er genoss dieses Ritual besonders, weil er wusste, dass es nicht mehr lange so bleiben würde. In drei, höchstens vier Jahren würde seine Tochter in die nächste Phase ihres Lebens eintreten und zu befangen sein ihn zu umarmen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass wiederum zehn Jahre später dieses Stadium überwunden sein würde und sie sich wieder liebevoll begrüßen würden. Obwohl er bei seiner Tochter neue Energien getankt hatte, war Norman völlig erschöpft, als er die Kinder versorgt hatte und das Essen für sich und Gwen in der Mikrowelle stand. Er schickte die Kinder ins Badezimmer und machte sich daran, den Geschirrspüler auszuräumen. Er wollte die Messer und Gabeln sortieren, als Gwen hereinkam. Er erlaubte ihr nicht erst ihren Aktenkoffer abzusetzen und legte auch das Besteck nicht aus der Hand, sondern packte sie sofort und küsste sie leidenschaftlich um seinen Energien wieder aufzuladen. Sie erwiderte seinen Kuss ebenso heftig. Als sie sich voneinander gelöst hatten, erzählte Gwen, wie ihr Tag gelaufen war. »Jetzt ist es passiert«, begann sie. »Ron hat mich gebeten den Umbau des Personalwesens in ein Profitcenter voranzutreiben. Er hat wortwörtlich gesagt, Ich möchte, dass Sie transparente Einheiten schaffen und messbare Konten einrichten, mit denen wir arbeiten können.« Norman freute sich seine Frau so glücklich zu sehen. Und er war froh, dass sie über ihrem Glück ihren Streit vom Vorabend vergessen hatte. Womöglich konnten sie ihn sogar ganz begraben. »Mann, ist ja toll! Übrigens, die Kinder sind schon im Bad.« »Ich sag ihnen bloß schnell guten Abend.« Erst jetzt be39
gann sie ihren Mantel aufzuknöpfen. »Bereite du ruhig das Essen vor.« Sie stürmte in die Diele und schälte sich beim Gehen aus dem Mantel. Abrupt blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um, den einen Arm immer noch im Mantelärmel. Ihre Augen strahlten wie an jenem Tag, als ihre Tochter geboren war. »Ich soll auf der Konzerntagung an diesem Wochenende eine Präsentation machen. Wenn ich gut bin, ist eine Beförderung zur Vizepräsidentin drin.« »Ich weiß, dass du’s schaffst.« Norman hatte ihre Tagung ganz vergessen. Er hatte Gwen das Versprechen abgerungen nicht über Nacht zu bleiben, aber nun würde sie das gesamte Wochenende weg sein. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und entschwand in Richtung Badezimmer. Norman fragte sich, wie Gwen mit einem Menschen wie Pierce auskommen würde. Sie besaß so viel Energie und Führungsqualitäten, dass sie wahrscheinlich ständig mit ihm aneinander geraten würde. Sie sprühte geradezu vor Ideen. Gehörte sie etwa zu denen, die Pierce brauchte? Eine halbe Stunde später erschien Gwen im Esszimmer und ließ sich am liebevoll gedeckten Tisch nieder. Die Kinder hatten ihr hoch und heilig versprechen müssen nach dem Baden frische Pyjamas anzuziehen. »Irgendwas Neues bei dir?« »Die Risikokapitalgesellschaft hat uns einen Sanierer ins Haus geschickt«, berichtete Norman. »Die Firmenleitung ist gefeuert.« Gwen wurde hellwach angesichts dieser Neuigkeiten, doch gerade, als sie versuchte Norman nähere Einzelheiten zu entlocken, klingelte das Telefon. Sie blickten einander an. »Du hast das Essen gemacht.« Gwen schob ihren Stuhl zurück. »Ich bin dran mit dem Telefon.« 40
Norman zuckte mit den Schultern und sank auf seinen Stuhl zurück. Er konnte sie nebenan reden hören, obwohl er kein Wort verstand. Aber da sie länger wegblieb, nahm er an, dass das Gespräch für sie bestimmt war. Vermutlich einer ihrer Mitarbeiter. Er hatte bereits drei oder vier Bissen vertilgt, als Gwen zurückkam. »Es ist für dich, Norman.« Er sah etwas verärgert auf das halbe Hähnchen auf seinem Teller. »Ist es Pierce?« Gwen nickte. »Was für ein charmanter Mensch.« Es überraschte Norman, das zu hören. Er empfand das auch so, nur teilten er und Gwen gewöhnlich nicht dieselben Ansichten über Leute. Er warf seine Serviette auf den Tisch und stand auf. »Warte nicht auf mich.« Norman fragte sich, ob Gwen versucht hatte Pierce etwas über sein Sanierungskonzept zu entlocken. Das würde ihn nicht wundern. Sie besaß ein besonderes Talent anderen die Seele aus dem Leib zu fragen. Das gehörte zu den Fähigkeiten, die sie so unentbehrlich in ihrem Job machten. Nun, wenn es ihr gelungen sein sollte, würde sie nicht mehr erfahren haben, als die Größe der Hühnerpopulation oder ein paar Anekdoten über Hinrichtungen, da war er sich ganz sicher. Gwen war Spitze, aber mit Pierce konnte sie es garantiert nicht aufnehmen. Er nahm den Hörer auf. »Norman. Sie haben angerufen.« Pierces angenehme Stimme ließ Norman sein halb gegessenes Hähnchen vergessen. »Was kann ich für Sie tun?« Norman erklärte ihm, dass Jacqueline eine Idee für ein neues Produkt hatte, die sie ihm am besten selber vortragen sollte. Während er mit seinem Boss sprach, flocht er wiederholte Male ein, dass er, Pierce, ihm aufgetragen 41
hatte Leute wie Jacqueline zu finden. Pierce wollte noch Verschiedenes wissen, dann hatte er sich entschieden. »Kommen Sie mit ihr morgen nachmittag um sechs in mein Büro. Dann werden wir drei uns unterhalten.« Als Jacqueline von dem Gespräch erfuhr, war sie hocherfreut und Norman wurde den Gedanken nicht los, dass die Nähe zum Schaltzentrum der Macht ihr genauso wichtig erschien wie die Umsetzung ihrer Ideen. Womöglich sogar noch wichtiger. Aber vielleicht würde sie eines Tages über so etwas erhaben sein. Norman verbrachte den ganzen Tag mit dem Papierkrieg, der mit Blankenships Ableben notwendig wurde. Er hatte die Sache immer wieder vor sich hergeschoben, was zum Teil an seinem Unbehagen der ganzen Angelegenheit gegenüber lag. Heute nun machte er sich an die Arbeit. Zunächst musste er Blankenships Personalakte auf den neuesten Stand bringen. Dann musste er die Versicherungsformulare für Blankenships Angehörige ausfüllen. Er musste die Gehaltsabteilung über die Beendigung von Blankenships Arbeitsverhältnis informieren und eventuelle Seminare oder Lehrgänge, die Blankenship belegt hatte, streichen. Er musste eine Hausmitteilung an Tim schicken, der das Firmentelefonverzeichnis führte, er musste Blankenships Finnenausweis löschen und seine Firmenkreditkarten stornieren. Schließlich musste er noch ein Memo schreiben um Blankenships aufgelaufene Frequentflyer-Bonusse zurückzubuchen. Schon erstaunlich, wie viel Papierkram der Selbstmord eines Angestellten nach sich zog. Norman war richtig stolz auf sich, wie gründlich er mit dem Toten aufgeräumt hatte. Da es ein Freitag war, hatte sich das Büro vor fünf bereits ziemlich geleert. Norman saß an seinem Schreibtisch 42
und starrte ins Leere, während sich draußen die Dunkelheit über den Firmenparkplatz senkte. Blankenships Wagen war an dem fraglichen Tag in einer der ersten Reihen geparkt. Norman hatte nichts bemerkt bis zu dem Moment, als Blankenship sich erschoss. Aber in seinem Gehirn spulte sich regelmäßig eine eigene Version des Geschehens ab. Er sah, wie Blankenship mit versteinerter Miene aus dem Büro seines Chefs kam. Der machte sich womöglich Gedanken, weil Blankenship die Kündigung offensichtlich zu gefasst hingenommen hatte. Der Mann kehrte nicht an seinen Schreibtisch zurück, sondern ging, nachdem er seinen Firmenausweis abgegeben hatte, auf den Parkplatz zu seinem Wagen. Er stieg ein, öffnete das Handschuhfach und entnahm ihm eine Pistole. Wahrscheinlich eine 38er, auf jeden Fall ein Neun-Millimeter-Geschoss. Vor seinem inneren Auge sah Norman, wie Blankenship die Pistole hochhob und sich den Lauf in den Mund steckte. Er schlug hart gegen die Zähne, das Metall schmeckte fremd, aber nicht wirklich unangenehm. Er fuhr mit dem Lauf noch ein wenig hin und her, bis er sicher war, dass er die richtige Schussposition hatte, dann fasste er mit der Linken nach seinem Amulett und drückte mit der Rechten den Abzug. Es gab eine Explosion, aber keinen echten Schmerz, vielmehr große Verwunderung darüber, dass er noch am Leben war. Er bedauerte, dass die eine Kugel ihm Zeit für das Überdenken seiner Entscheidung ließ. Als Norman neben ihm auftauchte, war er dankbar, dass er den letzten Moment seines Lebens nicht allein verbringen musste. Deswegen hatte er Norman das Amulett geschenkt, aus Dankbarkeit. Norman konnte das Kreuz durch sein Hemd hindurch fühlen. Er war froh, dass er Blankenship in seinen letzten 43
Minuten noch hatte Beistand leisten können. Es erfüllte ihn mit Stolz – einem bescheidenen, kleinen Stolz – dass seine Gegenwart einem anderen Menschen in einem Moment größter Not ein Trost gewesen war. »Norman?« Er schreckte auf. Jacqueline stand in der Tür und sah ihn mit Augen an, die wie durch ein inneres Feuer glühten. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Es war kurz vor sechs. »Wird wohl Zeit, was?« Norman erhob sich und überlegte, ob er seinen Mantel und Aktenkoffer gleich mitnehmen sollte. Dann beschloss er lieber nach der Besprechung noch einmal in sein Büro zurückzugehen. »So eine späte Sitzung an einem Freitagabend verdirbt Ihnen bestimmt das Wochenende, Jacqueline.« Er hoffte inständig, dass Gwen, wie vereinbart, rechtzeitig nach Hause fahren und sich um die Kinder kümmern würde. Die Babysitterin mochte es nicht, wenn es spät wurde, und sie durften es nicht riskieren, sie zu verlieren. »Machen Sie sich darum mal keine Gedanken, Norman.« Er sah Jacqueline an, die seriös wie immer gekleidet war. Sie trug wieder eines ihrer Karrierekostüme. Norman war sich nicht sicher, meinte aber, diesmal sei der Nadelstreifen noch ausgeprägter als sonst. Das war wohl das A und O beim Poweroutfit: ein kleines bizarres Etwas, ein knallgelbes Halstuch oder ein extremer Nadelstreifen, die den Träger in der Illusion wiegten, er verliehe seiner Kleidung eine persönliche Note. Norman fragte sich, was Pierce wohl von Jacquelines Idee halten und ob überhaupt etwas aus dem Gespräch herauskommen würde. »Wollen wir gehen?« Jacqueline trat zur Seite um Norman vorbeizulassen und führte ihn zu Pierces Büro im fünften Stock. Sie gingen schweigend nebeneinander her zum Fahr44
stuhl. Norman hätte wohl ein wenig Konversation mit ihr machen müssen, aber um ehrlich zu sein, er mochte Jacqueline nicht besonders und verspürte auch keine Neigung mit ihr zu plaudern. Sie schien ebenso über ihn zu denken und so betraten sie wortlos den Fahrstuhl. Der fünfte Stock lag genauso verlassen da wie die Personaladministration im dritten Stock. Die meisten Lichter waren bereits ausgeschaltet. Norman und Jacqueline gingen beinahe im Dunkeln zu Pierces Büro. Sie tasteten sich um den verwaisten Vorzimmerschreibtisch herum und Norman klopfte an die Tür. Genau sechsunddreißig Stunden waren verstrichen, seit er das letzte Mal hier angeklopft hatte. »Herein«, rief Pierce und wieder öffnete sich die Tür in diese tiefen Schatten, die Norman schon kannte. Jacqueline schien zunächst etwas überrascht und zögerte, doch Norman ging zielstrebig auf die Halogenschreibtischlampe zu, als hätte er einen Fortbildungskurs zum Thema Wie begegne ich meinem Boss im Dunkeln gemacht. Pierce erwartete sie im Schatten seines Schreibtisches. »Pierce«, sagte Norman, »das ist Jacqueline, meine Assistentin in der Personaladministration.« »Bitte, setzen Sie sich doch.« Vor dem Schreibtisch standen zwei Besucherstühle. Norman zog sich einen heran und setzte sich. Als er saß, merkte er, dass die Schreitischlampe so gedreht war, dass sie ihm direkt in die Augen schien. Er wandte den Blick und sah, wie Jacqueline etwas umständlich auf dem anderen Stuhl Platz nahm. Sie erschien in diesem Licht nicht unattraktiv. Von der Seite konnte Norman ihre Kontaktlinsen nicht erkennen. Ihr schwarzes Haar glänzte wie Metall im Licht der Lampe und als sie den Kopf wandte, schimmerte ihr cremeweißer Hals wie feinstes Porzellan. Norman vermeinte eine Bewegung hinter dem Schreib45
tisch zu spüren und fragte sich, ob Pierce sich diesmal zu einem Händedruck herablassen würde. Doch die Bewegung erstarb. »Ich freue mich Sie kennen zu lernen, Mr. Pierce«, sagte Jacqueline. »Jacqueline, bitte«, ließ sich die schattenhafte Gestalt hinter der Schreibtischlampe vernehmen. »Nennen Sie mich einfach Pierce. Norman sagte mir, Sie hätten eine neue Produktidee?« »Ja, das stimmt«, erwiderte Jacqueline. »Es wird hier eine Neuorganisation geben«. Pierce trat nicht ins Licht, sondern blieb als konturloser Schatten – ein kleiner Schatten – hinter dem Schreibtisch. »Und hoffentlich auch eine neue Geschäftsführung, die neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen ist«, konterte Jacqueline. Norman blinzelte in die helle Schreibtischlampe, dann sah er Jacqueline von der Seite an und er gewann den Eindruck, dass er einem Fernsehspiel beiwohnte und nicht so sehr einer geschäftlichen Besprechung. Vielleicht sollte er versuchen etwas zu der Unterhaltung beizutragen. »Es ist ziemlich ungewöhnlich, dass eine Produktentwicklungsidee von der Personaladministration kommt«, meinte der Schatten. Norman stellte überrascht fest, dass Pierce unverhohlen versuchte Jacqueline einzuschüchtern. Das passte nicht so recht zu seiner früher bekundeten Strategie vom Einreißen alter Mauern. »Eine Firma fährt nicht gut damit, wenn sie Ideen eher danach beurteilt, aus welcher Quelle sie kommen, und nicht danach, was sie bringen«, ereiferte sich Jacqueline. »In den Neunzigern ist Innovation gefragt. Jeder kann kreativ sein. Halten Sie nichts von Umstrukturierung?« 46
Norman hatte erwartet, sein Boss würde nun sein Blankopapier hervorzaubern, aber der taktierte geschickt. »Reine Modeerscheinung«, meinte der Schatten. Endlich dämmerte Norman, dass Pierce Jacqueline bloß provozieren wollte. Das gehörte wohl auch zu seiner Strategie. »Ganz und gar nicht«, parierte Jacqueline. »Die Zeit ist reif für so eine Idee. Zumindest für diese Firma.« Eine endlose Minute lang herrschte Schweigen. Norman warf Jacqueline einen vorsichtigen Blick von der Seite zu. Sie hielt die eine Hand schützend vor die Augen und blickte trotzig in den Lichtkegel der Schreibtischlampe. Sie wusste ganz genau, was sie sich hier erlaubte, aber sie würde es darauf ankommen lassen. Norman verstand Leute nicht, die etwas riskierten. Pierces Bemerkung über Mut und Schneid fiel ihm wieder ein. Er richtete sein Augenmerk auf die Schreibtischlampe und die dunkle Gestalt dahinter, aber dort war nichts mehr zu erkennen. Und dann ging alles so schnell, dass Norman nicht mehr folgen konnte. Er vermeinte etwas an seiner Seite rascheln zu hören, dann schob sich etwas vor die Halogenleuchte und Norman bemerkte, dass es Pierces Kopf war. Das Gesicht des Mannes, in völlige Dunkelheit gebettet, schwebte mit einem Mal direkt vor ihm, so nah, dass es die Lampe verdeckte und seinen Gesichtskreis vollständig ausfüllte. »Ich muss gestehen«, begann Pierce in seiner sanften, monotonen Art, »dass ich über so viel Selbstvertrauen bei unserem Managementnachwuchs hocherfreut bin. Wo haben Sie diese junge Frau nur so lange versteckt, Norman?« Norman nahm wieder den vertrauten seifigen Atemhauch wahr. Er wollte zum Sprechen ansetzen, aber sein Mund war zu trocken. Er brachte nur eine Art Krächzen heraus. 47
»Oh, ich erwarte darauf keine Antwort, Norman.« Pierce sprach im ruhigen Ton eines Tierarztes, der ein nervöses Tier besänftigt. »Ich wollte damit nur sagen, dass sich hier ein unerwartetes Führungstalent bemerkbar macht. Die Umstrukturierung dieser Firma lässt sich offenbar leichter an, als ich dachte.« Norman wollte liebend gern etwas sagen, er hielt es aber nicht für opportun, zu husten oder sich zu räuspern, solange Pierces Gesicht dem seinen so nahe war. »Sie können gehen, Norman«, erklärte Pierce. »Jacqueline und ich werden uns noch etwas näher mit ihrer Produktidee befassen.« Norman schluckte hart. Er setzte zum Sprechen an, brachte aber keinen Ton heraus. Schließlich räusperte er sich. »Ich soll gehen?« »Ja«, sagte Pierce. »Ich meine, Jacqueline sollte die Möglichkeit haben ihre Ideen frei vortragen zu können ohne durch die Anwesenheit ihres Vorgesetzten befangen zu sein.« Norman brach beinahe in Lachen aus. Jacqueline hatte sich noch nie befangen gezeigt, weder durch ihn noch sonst jemanden bei Biomethods. »Wollen Sie denn meine Meinung dazu nicht hören?« »Ich glaube nicht.« Pierce ließ einen Moment verstreichen. »Bitte, Sie brauchen sich deswegen nicht übergangen zu fühlen. Ich werde Sie später genau informieren.« Und dann bewegte sich Pierce lautlos wie ein Schatten auf Jacquelines Stuhl zu. Norman merkte, dass es hier nichts mehr für ihn zu tun gab und er sich nur noch durch das Dunkel zur Tür zurücktasten konnte. Als er endlich den Türknauf in der Hand hielt, wandte er sich noch einmal zu Jacqueline um. Ihr Blick war starr auf Pierce gerichtet, der jetzt ebenso 48
dicht vor ihr stand wie eben noch vor Norman. Sein weißes Haar glänzte im Lampenlicht. Pierce beugte sich zu Jacqueline herunter und drehte sich dabei so, dass sein Rücken Norman den Blick auf Jacqueline versperrte. Er schien ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Instinktiv senkte Norman den Blick. Er vermochte nicht zu sagen, warum Pierce es für nötig hielt, mit Jacqueline zu flüstern, aber seine innere Stimme sagte ihm, dass es sich nicht ziemte, die beiden zu beobachten. Er wandte sich ab, riss die Tür auf und verließ hastig den Raum. Als er die Tür hinter sich ins Schloss zog, glaubte er ein leichtes Stöhnen zu vernehmen. Es war nicht etwa ein Schmerzenslaut, vielmehr wie ein tief empfundenes Seufzen. Zunächst glaubte er, dass es von Pierce kam, zumal er jemandem wie Jacqueline einen solchen Laut nicht zutraute. Das Seufzen rührte jedoch unbestreitbar aus einer weiblichen Kehle, und das traute er Pierce beim besten Willen nicht zu. Er spielte mit dem Gedanken zurückzugehen und Pierce zur Rede zu stellen, aber er spürte instinktiv, dass er dort nichts zu suchen hatte. Auf dem Weg zum Fahrstuhl bewegte ihn ein merkwürdiges Gefühl, eine Empfindung, die sich nur mit Verlegenheit umschreiben ließ.
3 Am Samstagmorgen erwachte Norman alleine in seinem Bett. Gwen hatte das Haus bereits verlassen und war auf dem Weg zu ihrer Wochenendkonferenz. Er schlüpfte in eine Jeans und ein Sweatshirt und ging ins Wohnzimmer. 49
Sein Sohn saß vor dem Fernseher und sah ein Infomercial, das normale Leute von ihrer gravierenden Müdigkeit zu befreien versprach, wenn sie nur ein bestimmtes biodynamisches Naturkostprodukt schluckten. »Wo steckt deine Schwester?«, fragte Norman. »Oben.« Norman blieb vor dem Fernseher stehen und hörte sich an, mit welch überschwänglichen Worten das Produkt gelobt wurde. »Justin, warum schaust du dir so was an?« »Das ist cool, Paps. Der Mann hier sagt, dass er reich geworden ist, nachdem er die Pillen geschluckt hat.« Norman setzte sich zu seinem Sohn. »Blödsinn. Man wird nicht reich, wenn man Pillen schluckt.« »Der da schon«, beharrte Justin. Der Mann auf dem Bildschirm behauptete allen Ernstes, dass er jahrelang abgespannt und müde gewesen sei, bis er besagtes Produkt entdeckt hatte, worauf er sich von einem müden, armen Mann in einen reichen, dynamischen Menschen verwandelt hatte. Norman stand auf. »Der Kerl ist ein Weichei. Gibt’s denn keine Cartoons, die du dir anschauen könntest?« »Ich mag keine Cartoons«, erklärte der Junge. »Auf Kanal Sieben gibt’s den Bücherklub, Gesund kochen auf Kanal Dreizehn und Haar aus der Spraydose auf Kanal…« »Haar aus der Spraydose?« »Ja, das ist echt cool, Mann.« Justin hantierte mit der Fernbedienung und schon erschien anstelle des energiegeladenen Mannes eine gepflegt aussehende und gepflegt sprechende Dame, die aus einer Spraydose Haar auf die Stirnglatzen und Geheimratsecken einer Versammlung von Männern sprühte. Dabei führte die Dame aus, welchen Stellenwert Haare sowohl für die gesellschaftliche Anerkennung als auch für 50
das berufliche Fortkommen hätten. Norman wünschte sich, sein Sohn würde mehr auf Cartoons stehen, hielt das aber inzwischen für nicht mehr realisierbar. »Ich werde mich jetzt duschen«, sagte er. »Dann mache ich uns Frühstück.« Nach dem Frühstück wählte Norman Jacquelines Nummer. Als Vorwand würde er sie fragen, wie weit Tim mit den Gratifikationen für M & L gediehen war. In Wirklichkeit hoffte er, sie würde ihm erzählen, was sich bei Pierce im Büro noch ereignet hatte, nachdem er gegangen war. »Ich bin im Moment nicht in der Nähe des Telefons«, sagte Jacquelines Bandstimme. »Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton.« Norman hinterließ keine Nachricht. Was hätte er auch sagen sollen? Er musste wieder an das Stöhnen in Pierces Büro denken. Womöglich verbrachte Jacqueline das Wochenende mit Pierce. Er packte die Kinder in den Wagen und fuhr mit ihnen auf die samstägliche Einkaufstour. An der Stadtbücherei hielten sie erst einmal an. Während Justin und Megan die Regale nach Videoneuerscheinungen durchkämmten, ging Norman zur Information und erkundigte sich nach dem Buch über den Vampir aus New Orleans. »Vampir?«, fragte der Bibliothekar, ein Mann in Normans Alter, mit einem Ausdruck abgrundtiefen Ekels. Er runzelte die Stirn, wobei ihm die Brille auf die Nasenspitze rutschte. »New Orleans?« Mit demonstrativem Widerwillen gab er etwas in seinen Computerterminal ein. »Rockstar?« Er tippte etwas Neues ein, dann schüttelte er den Kopf. »Nichts, was auch nur annähernd mit Vampiren, New Orleans oder Rockstars zu tun hat.« Er schrieb ein paar 51
Zahlen auf einen Notizblock aus Recyclingpapier und schob Norman den Zettel über den Tresen. »Hier. Das sind ein paar Standnummern für die Abteilung Okkultismus. Vielleicht werden Sie da ja fündig.« Die Sektion Esoterik und Grenzwissenschaften war gut besucht. Norman musste sich an Leuten vorbeischlängeln und durchquetschen um die Buchtitel lesen zu können. Es gab Bücher über alles: Astrologie, Hexen, Parapsychologie, Alchimie, Schwarze Magie und Pyramiden, aber nicht ein okkultischer Roman war darunter. Norman griff sich ein Buch über ein Todesnäheerlebnis und blätterte es durch auf der Suche nach irgendwelchen Aufschlüssen über sein Erlebnis mit Blankenship. Der Verfasser des Buches hatte offenbar selber ein Sterbeerlebnis gehabt (Near Death Experience nannte man das streng wissenschaftlich) und es jemandem erzählt, der das Ganze in lesefreundliche, verständliche Form brachte. Norman überflog die ersten zwei Seiten. Es las sich wie das Time-Magazine. Norman traute dem TimeMagazine nicht mehr, nachdem er erfahren hatte, dass sie ein Foto von O. J. Simpson auf dem Titel geschwärzt hatten, vermutlich um ihn bösartiger wirken zu lassen. Norman glaubte nicht, dass ein geschwärztes Foto Leute bedrohlicher machte, dennoch misstraute er TimeMagazine – überhaupt jedem, der in diesem Stil schrieb. Er stellte das Buch ins Regal zurück. Er schaute noch bei den Sachbüchern über Wirtschaft, Beruf und Fortbildung vorbei. In der Abteilung kannte er sich aus, er kam oft her und war häufig der einzige Kunde. Hier gab es Bücher über Firmenpolitik, Unternehmensstrategie, Personalführung und Betriebspsychologie. Sein Blick wurde magisch angezogen von einem Buchrücken, auf dem das Wort Sanierung stand. Er griff danach. Der vollständige Titel des Buches lautete: Ana52
tomie einer Sanierung. Er drehte das Buch um und betrachtete das Foto des Autors auf der Rückseite. Ende dreißig, Anfang vierzig. Kurze dunkle Haare mit einem Anflug von Locken. Brille. Sein Lächeln legte die Vermutung nahe, es handelte sich um ein Schmunzelbuch. Das schien es aber nicht zu sein. Der Verfasser war ehemaliger Konkursverwalter und hatte, dem Klappentext nach zu schließen, zahlreiche Firmensanierungen aus nächster Nähe erlebt. Norman betrachtete das Foto noch einmal. Er fand den Ausdruck des Mannes zu offen und ehrlich für einen Konkursverwalter, vielleicht hatte er ja deshalb den Beruf gewechselt. Das Buch schien interessant zu sein. Norman beschloss es auszuleihen und ließ es registrieren. Dann sammelte er Justin und Megan wieder ein, die nichts gefunden hatten. Justin murrte, dass der Videobestand der Bücherei heftig in Richtung Oper, Ballett und Dokumentation tendierte - Material, das, wie er erklärte, von Weicheiern bevorzugt wurde. Ein Samstag in einem Supermarkt, mit seinen drängenden und schubsenden Kunden und tausendfachen Ablenkungsmöglichkeiten ist nicht unbedingt der Ort, wo man ungestört nachdenken kann, solange man mit dem Zusammentragen von Lebensmitteln beschäftigt ist und nur daran denkt, diese sicher durch die Ziellinie der Kasse zu bringen. Den Kindern gefiel es nicht besonders hier und Norman musste ständig ein Auge auf sie halten aus Sorge, sie könnten gekidnappt werden oder etwas Schlimmes anstellen. Bei einer Gelegenheit fand Norman sich in einer Debatte mit seinem Sohn vor dem endlosen Kühlregal mit Käse. »Den da.« Justin reichte ihm ein Stück weißen amerikanischen Käse in Klarsichtfolie. »Das ist nicht das, was ich suche.« Norman schob eine 53
Ecke scharfen Cheddars beiseite und griff nach einem kleineren Stück. »Das ist auch Käse«, meinte Justin. »Kann jeder sagen.« Norman zog an dem Kühltresen entlang und entdeckte einen Provolone. »Auf dem Etikett steht, dass er in Amerika hergestellt wurde«, beharrte Justin. »Da habe ich so meine Zweifel«, erwiderte Norman. Justin lachte über seinen Vater und Norman spürte, wie die Müdigkeit von ihm abfiel. Sein Sohn erwartete keine großen Einfälle oder eine Beförderung zum Abteilungsdirektor von ihm. Er akzeptierte ihn so, wie er war, und lachte über seine Späße. Es herrschte überall so viel Verkehr und Gedränge, dass sie beinahe den ganzen Tag für ihre Einkäufe brauchten. Es war schon später Nachmittag, als sie nach Hause zurückkamen. Norman schickte die Kinder zum Spielen und startete einen neuen Versuch Jacqueline zu erreichen. Als er wieder bei ihrer Bandansage landete, legte er auf und begann das Abendessen vorzubereiten: Käsemakkaroni. Die meisten Leute dachten wohl, man tut nichts weiter, als eine Ladung gekochter Makkaroni mit einer Käsesauce aus der Tüte in einer Schüssel zu vermischen, aber das entsprach nicht dem, was Norman an diesem Wochenende seinen Kindern vorsetzen wollte. Er gab eine Schicht Nudeln in eine Auflaufform und bestreute sie mit frisch geriebenem Cheddarkäse. Dann kam die zweite Lage Nudeln, gefolgt von einer Schicht frisch geriebenem Provolone. Darauf gab er reichlich Butterflocken. Er hatte Zeit, bevor er die nächste Lage Makkaroni auflegen würde, also setzte er sich mit dem ausgeliehenen Buch an den Küchentisch. Er überlegte einen Moment lang, ob er seine Kinder mit all dem Käse und der Butter nicht vergiftete. Egal. Er konnte nicht an54
ders. Sie liebten das Zeug und er kochte gerne für sie. Er schlug das Buch auf. Anatomie einer Sanierung war eine Dokumentation über eine Firmensanierung, warum sie erfolgt, wie sie abläuft, die Auswirkung für die Beschäftigten. Norman erfuhr, dass ein Firmensanierer der mächtigste Mensch im Geschäftsleben ist. »Der Firmensanierer arbeitet in einem Betrieb ohne zum festen Personalbestand zu gehören. Er (es handelt sich dabei fast ausschließlich um Männer) ist innerhalb der Firma niemandem Rechenschaft schuldig. Er mag einem Treuhänder, einer Risikokapitalbeteiligungsgesellschaft oder einem anderen Konzern Bericht erstatten, bleibt aber immer ein Außenseiter ohne Verpflichtungen, Bindungen oder Beziehungen zu fest angestellten Mitarbeitern. Er hat keinen Anteil an ihrer Vorgeschichte und – was viel wichtiger ist – er weiß auch, dass er mit ihnen keine gemeinsame Zukunft hat.« Diese Beschreibung ließ Pierce sehr gefährlich erscheinen und Norman stellte sich die bange Frage, was mit der Firma und ihren Beschäftigten passieren würde. In diesem Zusammenhang fragte er sich auch, was zwischen Jacqueline und Pierce vorgefallen war. Bestand eine Verbindung zwischen ihrem Persönlichkeitstyp (der Pierce offensichtlich lag) und dem, was Norman mit angehört hatte? »Da der Sanierer nach erfolgter Umstrukturierung den Betrieb wieder verlässt, bekommt er die Früchte seiner Arbeit so gut wie nie zu sehen. Kurz, er bekleidet eine erhebliche Machtposition, allerdings ohne jede Verantwortlichkeit. Nur ganz außergewöhnliche Personen finden Geschmack an einer solchen Aufgabe: Sie müssen sich vollständig distanzieren können und die Ausübung von Macht muss 55
ihnen mehr Anreiz bieten als Leistung, Prestige oder Gewinnstreben. Man könnte sogar sagen, dass ein Firmensanierer ausschließlich machtmotiviert ist.« Norman glaubte niemanden zu kennen, der ausschließlich von Macht motiviert wurde. Selbst Jacqueline, die sich über Machtstrategien mehr den Kopf zerbrach als sonst jemand, den er kannte, hatte gelegentliche Phasen, wie zum Beispiel ihre Produktidee, in denen sie auch Interesse an Leistung und Erfolg zeigte. Welcher Typ Mensch wird allein von Macht getrieben? Wer würde sich einer Gemeinschaft anschließen (und das ist eine Firma schließlich) ohne dazugehören zu wollen? Vielleicht der Typ Mensch, der Skizzen zeichnete, auf Couchtischen saß, mit leeren Blättern herumwedelte und über Hinrichtungen plauderte. Vielleicht war es die Sorte Mensch, die Norman trotz aller Seminare in Firmenpsychologie und Führungstraining nie verstehen würde. Norman sann darüber nach, ob er womöglich den leichteren Weg einschlug, indem er einfach vorgab Pierce nicht zu verstehen. Dann würde er sich eingestehen müssen, dass er eine Spur Abneigung empfand. Man hatte ihn gebeten das Büro zu verlassen, während sein Boss eine private Unterredung mit seiner Untergebenen führte. Er war sich ausgeschlossen und entmachtet vorgekommen. War es das, was man empfand, wenn man nach Macht hungerte? Norman schüttelte den Kopf. Nein, er verspürte keinen Machthunger. Er hungerte nach Anerkennung. Er hungerte nach Zugehörigkeit. Er stand auf und trat an den Küchentresen um mit dem Nudelauflauf weiterzumachen. Er schichtet eine neue Lage Makkaroni in die Form, rieb Käse darüber und bestreute sie wieder mit Butterflöckchen. Schließlich goss er ein wenig Milch über die Nudeln und krönte das Ganze mit Semmelbröseln. Als er die Auflaufform in den Back56
ofen schob, wurde es draußen bereits dunkel. Er unternahm keinen Versuch mehr Jacqueline zu Hause anzurufen, weil er befürchtete, dass seine Stimme seine Verärgerung verraten würde. Das Letzte, was einem Manager bei einer Angestellten wie Jacqueline passieren durfte: sie spüren zu lassen, dass er sich über sie ärgerte. Nach einiger Zeit holte Norman den duftenden Auflauf aus dem Ofen und setzte sich mit den Kindern an den Esstisch. Es war schon spät und Gwen war immer noch nicht zurück, aber die Kinder schienen sie nicht sehr zu vermissen. Er aß Käsemakkaroni, tauschte mit seinem Sohn Weicheiwitze aus und hörte aufmerksam zu, als seine Tochter von ihren seltsamen Schulritualen berichtete. Von einem ungeschriebenen Protokoll, das allzu leicht missachtet werden konnte. Während sie ihm ein Geflecht von Bündnissen und Beziehungen beschrieb, das aufgrund kleiner Verfehlungen – wie zu viel zur Schau gestellter Begeisterung oder weißer Söckchen an einem Dienstag – ständig wechselte, ging ihm auf, dass die Sozialstruktur an Megans Schule mindestens so fein abgestuft war wie im Florenz des 14. Jahrhunderts. Er überlegte sogar, ob an ihrer Schule nicht auch Sanierungsbedarf herrschte, und stellte sich vor, wie er den ganzen Laden umstrukturierte, wie er ein leeres Blatt Papier schwenkte, Schüler suspendierte und Lehrer entließ. Als alles aufgegessen war, kam Gwen nach Hause. Sie hatte bereits mit den Kollegen gegessen, setzte sich aber zum Nachtisch mit an den Tisch. Die Konferenz schien sie sehr angeregt zu haben, sie sprühte geradezu vor Energie. Sie lachte mit den Kindern und erzählte selber Witze und während sie alle so beisammen saßen und Eiscreme verspeisten, beschlich Norman wieder einmal dieses sonderbare Gefühl, das er oft in Gegenwart seiner 57
Kinder empfand. Er wünschte sich ihre Bettzeit herbei und hoffte gleichzeitig, dass dieser Moment nie vergehen möge. Schließlich wurde es dann doch Zeit für die Kinder und er blieb mit Gwen allein am Esstisch sitzen. »Gut gelaufen?«, erkundigte sich Norman. Gwen nippte an ihrem Kaffee. »Es war fantastisch, Norman. Fantastisch.« Sie nahm wieder einen Schluck. »Einfach fantastisch.« »Die Kinder waren heute richtig brav im Supermarkt.« »Norman, was war denn nun bei deiner Sitzung gestern Abend?« Er hatte sich auf dem Heimweg einen Drink genehmigt und war zu spät nach Hause gekommen um Gwen noch von dem Gespräch zu berichten. »Nichts.« »Hat Jacqueline Pierce ihre Idee vorgetragen?« »Ja.« »Und?« Norman hob die Schultern. »Keine Ahnung. Ich nehme an, er wird sich die Sache überlegen.« Gwen sah ihn missbilligend an. »Er sollte dich nicht einfach so im Ungewissen lassen.« Norman empfand das auch so. »Das ist mir egal.« Gwen lächelte und Norman fand, es lag ein trauriger Zug darin. »Tut mir Leid, Liebster.« Jetzt war nicht die Zeit für Mitleidsbekundungen. »Wollen wir schlafen gehen?«, fragte Norman. Sie gingen zu Justin ins Zimmer und Norman sah zu, wie Gwen fürsorglich seine Bettdecke an den Seiten feststopfte. Dann kam Megan dran. Da sie älter war, durfte sie immer ein paar Minuten länger aufbleiben. Norman knipste das Licht aus und sie verließen das Zimmer. Während sie durch den Flur gingen, nahm Gwen ihn 58
bei der Hand. Gwen war eine leidenschaftliche Frau. Leidenschaftliche Ehefrau, leidenschaftliche Mutter, leidenschaftliche Abteilungsleiterin. Und, wie Norman ernüchtert feststellen musste, von Machtdenken getrieben. Vielleicht nicht in erster Linie, aber offensichtlich genug. Er war offenbar nur von machthungrigen Leuten umgeben, bloß hatte er das früher nicht bemerkt. Als sie das Schlafzimmer betraten, drehte Gwen sich zu ihm um und bedeutete ihm die Tür zu schließen. Er gab der Tür einen Stoß, dann zog er Gwen in seine Arme. Sie küssten sich, rieben sich aneinander und lösten sich wieder. Dann begannen sie sich auszuziehen. Norman schlüpfte ins Bad, schloss die Tür hinter sich und öffnete das Hemd. Er nahm das Amulett ab und steckte es in die Hosentasche. Dann knöpfte er das Hemd wieder zu, betätigte die Toilettenspülung und ging ins Schlafzimmer zurück. Gwen kickte ihre Schuhe in die Ecke, stellte sich ganz dicht vor Norman und begann sein Hemd aufzuknöpfen. »Wie lief denn die Präsentation«, fragte er. Ein breites Lächeln überzog ihr Gesicht. »Fantastisch, Norman. Standing ovations!« Norman versuchte sich auszumalen, wie es wohl war, wenn man eine Rede vor versammelter Belegschaft hielt und die einem stehend Beifall klatschte. Solche Erlebnisse waren offenbar der Ansporn, dass Leute nach Machtpositionen gierten. »Sie waren begeistert.« Gwen streifte ihren Blazer ab und knöpfte sich die Bluse auf. »Ich habe danach mit Rod gesprochen und er hat mich für nächste Woche zum Mittagessen in den Sky-Room eingeladen.« Rod war der oberste Boss in Gwens Firma und der SkyRoom war das Kasino der Chefetage, der Olymp gewissermaßen. Das bedeutete, dass man Großes mit Gwen 59
vorhatte. Sie feuerte die Bluse aufs Bett, stieg aus ihrem Rock und warf ihn zu der Bluse. Nun stand sie vor Norman in ihrem schwarzen BH und der Strumpfhose, die sich schon halb über die Hüfte abgerollt hatte. Norman packte Gwen und zog sie an sich, fühlte ihr Fleisch an seiner nackten Haut. »Möchtest du mit mir duschen?« Es ging weniger um den Akt der Säuberung, aber in den speziellen Gepflogenheiten, die sie in den zwölf Jahren ihrer Ehe entwickelt hatten, bestimmte die Duscheinladung ein ganzes Ritual. Sie würden zusammen duschen, sich gegenseitig einseifen und unter dem Duschstrahl abwaschen. Dann würden sie einander abtrocknen, ins Bett gehen und sich lieben. Auf diese Weise feierten sie ihre großen Erfolge und zum Ritual gehörte es, dass der Erfolgreiche eingeladen wurde. Das Duschen verlief, wie Norman es erwartet hatte, und kaum lag er neben Gwen im Bett, war ihr fester glatter Körper schon über ihm. Das Begehren schoss ihm in die Lenden. Er streichelte ihre Brüste, küsste ihren Hals, knabberte an ihrer Schulter und ziemlich rasch waren sie beim heftigen, völlig geräuschlosen Sex. Gwen hatte immer befürchtet, die Kinder könnten sie hören, und so hatten sie sich angewöhnt sich ohne jeden Laut zu lieben. Wie immer verlor Norman sich in dem Erlebnis ihrer Glut und nahm kaum wahr, wie sich ihr Körper unter ihm wand und bog, als seine Sinneslust auf dem Höhepunkt explodierte. Er küsste Gwen auf die Stelle hinter ihrem Ohr und rollte sich von ihr auf die Seite. Er konnte gerade noch die Hand ausstrecken und Gwens Schulter streicheln, ehe er in einen komaähnlichen Schlaf fiel. Später in der Nacht erwachte Norman. Das Haus lag im Dunkeln und vollkommen still. Er vermochte nicht zu sa60
gen, was ihn aufgeweckt hatte, aber ein gewisses Bedürfnis trieb ihn aus dem Bett. Er tappte ins Badezimmer. Sein Rücken fühlte sich an wie ausgepeitscht. Norman zog die Tür ins Schloss, knipste die Lampe über dem Waschbecken an und blieb, wie ihm schien, eine Ewigkeit stehen, bis seine Augen sich an das Licht gewöhnt hatten. Schließlich öffnete er vorsichtig ein Auge, dann das zweite und sah sich nackt vor dem Spiegel stehen. Norman drehte sich um und besah sich von hinten. Ein gutes Dutzend roter Striemen lief über seinen Rücken wie ein Fischgrätenmuster. An drei Stellen war die Haut blutig gerissen. Gwen hatte ihn während des Liebesakts gekratzt. Norman drehte den Kopf so weit es ging um die Striemen näher zu betrachten und berührte sie vorsichtig mit dem Finger. Es tat fürchterlich weh. Warum hatte Gwen ihn so gekrallt? Sollte er sich noch mehr ins Zeug legen oder was? Irgendwie schienen ihm diese Kratzer bezeichnend für ihre Beziehung. Er liebte Gwen, nur wünschte er sich manchmal, sie würde ihn nicht immer wieder antreiben. Norman verließ das Bad und legte sich wieder ins Bett. Er rollte sich auf die Seite mit dem Rücken zu Gwen und dachte über seine Schwielen nach. Sexuelle Aktivitäten besaßen offenbar eine narkotisierende Wirkung. Wenn er nicht halb benommen von seinem Orgasmus gewesen wäre, hätte er vermutlich gespürt, wie sie ihn krallte. Er versuchte sich vorzustellen, Gwen hätte ihn bei anderer Gelegenheit gekratzt – beim Fernsehen zum Beispiel. Er hätte garantiert nicht dabei stillgehalten. Aber genau auf dem sexuellen Höhepunkt konnte er offenbar alles aushalten. Er fragte sich, ob es anderen ebenso erging. Weiter kam er mit seinen Überlegungen nicht, er sank wieder in den Schlaf. 61
Montags erschien Norman gewöhnlich spät zur Arbeit. Er machte sich darüber keine Gedanken, wusste er doch, dass Jacqueline vor ihm da war und absolut in der Lage die Dinge in die Hand zu nehmen. Er traf um halb zehn in seinem Büro ein. Cheryl und Louise saßen an ihren Schreibtischen, auf denen sich Aktenberge und Versicherungsanträge türmten. Biomethods bot seinen Angestellten vier Sorten von Gruppenversicherung zuzüglich kostenloser Versicherung für Unfalltod und Invalidität. Keiner der Angestellten schien in der Lage eine Woche ohne Antrag auf eine andere Versicherungsgruppe oder eine Versicherungserhöhung verstreichen zu lassen. In der Personaladministration bestand die Arbeit im Wesentlichen darin, die Änderungsanträge zu prüfen und sie zu ähnlich gelagerten Fällen zu legen. Genau dies schienen Cheryl und Louise offenbar gerade zu tun, als Norman hereinkam. Da es sich um eine Routinearbeit handelte, konnten sie nebenbei auch noch schwatzen. »Für den Psychopathen gibt es eigentlich keine bessere Metapher«, sagte Cheryl gerade. »Der Vampir lebt unter uns, ist aber keiner von uns.« »Ja, wenn sie Leute ansehen, denken sie bloß ans Essen«, pflichtete Louise bei. »Louise, du glaubst doch nicht etwa an so was oder?« »Tag, Norman«, rief Louise. »Guten Morgen.« Norman sah erst Louise dann Cheryl an und lächelte freundlich um anzudeuten, dass sein Gruß sie mit einbezog. Louises Haarspray stand nicht auf dem Schreibtisch. Offenbar hatten die beiden Mädchen ihre Differenzen bereinigt, ob allerdings auf Dauer oder nur fürs Erste vermochte Norman nicht einzuschätzen. Er blieb mit einem erwartungsfrohen Grinsen stehen und 62
hoffte, dass sie in ihrer Unterhaltung fortfahren würden und der Titel des Buches über den Vampir-Rockstar aus New Orleans noch einmal fallen würde. Er war fest entschlossen nicht danach zu fragen. Sie saßen aber bloß schweigend da und warteten darauf, dass er ging. Er wandte sich um und wollte zu Jacqueline gehen, als Cheryl hinter ihm herrief. »Sie ist nicht da, Norman.« Mit einem Achselzucken machte er kehrt und verzog sich in sein Büro. Es sah Jacqueline gar nicht ähnlich, dass sie zu spät kam. Er ließ seine Bürotür offen stehen um Louises und Cheryls Unterhaltung verfolgen zu können. »Nun?«, bohrte Cheryl. »Glaubst du an Vampire?« »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit uns träumen lässt«, parierte Louise. Norman fühlte sich irgendwie erleichtert, dass Jacqueline noch nicht da war. Er fand die Situation im Moment nicht so einfach. Er kannte Jacqueline und wusste, eine private Unterhaltung mit Pierce würde ihre Machtstellung in der Abteilung irgendwie stärken. Da war es wieder, dieses Wort. Macht. Es wurde allmählich lästig. Norman verwarf diese trüben Gedanken und machte sich an seine Arbeit. Seine gegenwärtige Aufgabe bestand darin, ein Handbuch für leitende Angestellte zu verfassen. Eine Art politisch korrekten Knigge für Führungskräfte. Die Manager bei Biomethods waren im Großen und Ganzen umgängliche, wohlmeinende Leute. Aber kein Mensch ist vollkommen frei von diesem oder jenem Vorurteil und selbst die wohlmeinendste Person konnte ohne entsprechende Führung leicht in eine Diskriminierungsfalle tappen, weil ihr Benachteiligung anderer aufgrund ihres Alters, Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, ihrer sexuellen Orientierung oder Körperbehinderung vorgeworfen wird. Es gehörte also zu Normans Aufgaben, die Firma vor Pro63
zessen zu bewahren, die aufgrund normalem Verhaltens eines Vorgesetzten angestrengt werden könnten. Er hatte bereits über dreißig Seiten zu dem Handbuch fertig, wobei er nach einem Exposee vorging, das er schon Monate zuvor entwickelt hatte. Er setzte sich an seinen Computer und startete das Gerät. Nachdem alles geladen und der Bildschirm aufgebaut war, rief Norman die Handbuchdatei auf. Im nächsten Kapitel musste er das Thema BAGUSA behandeln. (Beitragsfreie Anwartschaft in der gruppendynamischen Unternehmensversicherung für scheidende Angestellte – kurz BAGUSA). Während er sein Archiv nach dem entsprechenden BAGUSA-Manual absuchte, fing er wieder ein paar Fetzen von Cheryls und Louises Unterhaltung auf. »Du musst dir das so vorstellen, Louise«, dozierte Cheryl. »Wenn jeder von denen auch nur einen Menschen pro Tag beißt und diesen zum Vampir macht und der dann auch bloß einen pro Tag beißt, hätten wir bald eine Vampirbevölkerungsexplosion!« »Man wird nicht immer gleich einer, wenn man gebissen wird«, wandte Louise ein. »Nur wenn du Glück hast.« Norman fand seine BAGUSA-Akte und blätterte unentschlossen darin herum. Er wusste nicht, wo er beginnen sollte. Die Grundidee von BAGUSA war, Richtlinien aufzustellen, nach denen scheidende Angestellte weiterhin in der Gruppenversicherung der Firma bleiben konnten. Diese Richtlinien füllten Seiten in Normans Akte und er wusste, dass die Manager von Biomethods da niemals durchfinden würden. Sie waren in der Hauptsache Wissenschaftler und hatten große Probleme damit, überhaupt etwas anderes zu verstehen, was nicht ein Genelocation oder Knockout war. Er beschloss, das BAGUSA-Kapitel in seinem Handbuch sollte aus zwei Sätzen bestehen: 64
Keine Versprechungen an scheidende Angestellte bezüglich der Gruppenversicherung machen. Für Auskünfte immer an die Personaladministration »Sie töten einen gewöhnlich nicht mit einem einzigen verweisen. Biss«, sagte Louise. »Sie wollen dich am Leben erhalten, damit sie dich immer wieder beißen können.« »So wie man eine Kuh melkt?«, ergänzte Cheryl. »In etwa.« »Warum sparen die sich nicht die Mühe und domestizieren uns einfach?«, überlegte Cheryl. »Weißt du, ob sie’s nicht schon tun?«, konterte Louise. Norman musste an das Buch über die Firmensanierer und ihre Machtbesessenheit denken. Louise hatte Recht. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Ehre, als uns unsere Schulweisheit träumen lässt. Er merkte, dass er sich immer wieder von seiner Arbeit ablenken ließ, also machte er seine Tür zu. Er hoffte, dass er bei Cheryl und Louise nicht den Eindruck erweckte, er wollte sie ausschließen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte sich auf das Keine-Drogen-am-ArbeitsplatzGesetz und das Gesetz zum Schutz des Personals vor Lügendetektoren zu konzentrieren. Norman hatte keine Vorstellung, wie lange er schon über seinem Artikel brütete, als es an seine Tür klopfte. »Ja, bitte?« Die Tür ging auf und Pierce stand auf der Schwelle. »Norman«, begann er unvermittelt. »Ich komme gerade von der Buchhaltung. Ich hatte darum gebeten, Ackerman von M & L eine Gratifikation zukommen zu lassen, aber man sagte mir, dazu bedürfe es einer formellen Anweisung von Ihnen. Um keine unnötigen Umstände zu machen bin ich gleich hergekommen um Sie um das Formular zu bitten.« 65
Norman hätte ihn gerne gefragt, wo Jacqueline steckte, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass die Frage unpassend oder anmaßend oder beides war. »Das Ausfertigen eines Gratifikationsschecks dauert gewöhnlich drei Wochen«, erwiderte Norman. Pierce reagierte nicht und Norman setzte zu einer umständlichen Erklärung an. »Also, zunächst brauche ich vom Vorgesetzten des Angestellten, der die Gratifikation bekommen soll, ein Gratifikationsantragsmemo. Der Gratifikationsscheck muss ja zunächst einmal beantragt werden. Ich mache mir einen Vermerk und reiche den Antrag zur Genehmigung ans Rechnungswesen weiter. Wenn er dann zu mir zurückkommt, hefte ich ihn an das Gratifikationsantragsmemo und gebe beides an Louise weiter. Louise schickt den Antrag an die Gehaltsbuchhaltung mit der Bitte um eine Gehalts- und Lohnsteueranalyse. Die Gehaltsbuchhaltung überprüft das Jahresgehalt des Angestellten und schickt dann an dessen Vorgesetzten, zusammen mit der Analyse, eine Mitteilung über gesonderten Lohnsteuerabzug, damit die dort wissen, wie viel Lohnsteuer sie von der Gratifikation einbehalten müssen. Wenn wir von der Gratifikation zu wenig oder gar keine Lohnsteuer abziehen, könnte dem Angestellten am Jahresende eine unliebsame Steuernachzahlung ins Haus stehen. Manchmal ändert ein Vorgesetzter dann noch den Bonusbetrag, damit der Angestellte eine höhere Auszahlung bekommt, falls der Steuerabzug zu hoch ist. In diesem Fall geht die Prozedur von vorne los. Anderenfalls zeichnet der Vorgesetzte die Mitteilung über gesonderten Lohnsteuerabzug ab und schickt sie an mich. Ich lege das unter Gratifikationen ab und schicke der Buchhaltung eine Auszahlungsanweisung für eine Sondervergütung.« »Und dann wird der Scheck ausgeschrieben?«, wollte 66
Pierce wissen. »Soweit ich weiß, muss die Zahlungsanweisung erst noch bei Verbindlichkeiten verbucht werden. Im Allgemeinen dauert es dann etwa eine Woche, bis die Rechnungsabteilung den Scheck ausgestellt hat.« Es irritierte Norman etwas, dass Pierce nicht im Geringsten beeindruckt schien, wie meisterhaft er den Ablauf dieser komplizierten Materie beherrschte. Schließlich erforderte die Prozedur einiges an Zeit und Fertigkeit. Pierce trat nun ganz ein und schloss die Tür hinter sich. Anstatt sich zu setzen ging er geradewegs auf Norman zu und baute sich vor seinem Schreibtisch auf. Norman fühlte sich ein wenig eingeschüchtert, weil er zu ihm aufblicken musste, andererseits war ihm bewusst, dass er nicht aufzustehen brauchte. »Das ist eine Zumutung, Norman«, sagte Pierce. Norman fragte sich, was er mit Zumutung meinte. Genauso gut könnte man sagen, die Schwerkraft sei eine Zumutung. »Wenn ein Angestellter eine Gratifikation verdient hat«, begann Pierce, »muss diese umgehend gezahlt werden. Ich pfeife auf ein Gratifikationsantragsmemo oder einen gesonderten Lohnsteuerabzug.« »Eine Gratifikation kann ohne Gratifikationsantrag nicht gezahlt werden.« Norman wollte nicht unhöflich sein, aber sein Boss hatte keine Ahnung von Tuten und Blasen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren zückte Pierce einen Kugelschreiber mit der einen Hand und griff sich mit der anderen Normans Block mit den gelben Haftnotizen. Er schrieb eine Zahl auf den obersten Sticker und löste ihn vom Block. Dann beugte er sich vor und heftete die Notiz Norman an die Krawatte. Seine Finger fühlten sich an wie kalter Stahl. Norman spürte, wie Blankenships Amulett sich unter seinem Hemd in seine Haut bohrte. 67
»Das ist der Gratifikationsbetrag für Ackerman«, sagte Pierce. »Machen Sie den Scheck fertig und bringen Sie ihn mir, ehe Sie das Haus verlassen. Heute noch. Am besten bevor auch Ackerman geht.« Er richtete sich wieder auf, ging zur Tür und verließ ohne weiteren Kommentar Normans Büro. Durch einen Schleier aus Beschämung und Demütigung nahm Norman undeutlich wahr, dass das Vorzimmer verlassen war. Cheryl und Louise machten offenbar Mittagspause. Er registrierte mit Erleichterung, dass niemand Zeuge seiner Demütigung geworden war und ihn mit der gelben Haftnotiz auf der Krawatte sah. Er löste den Sticker ab und studierte die Zahl. Was hatte Ackerman bloß geleistet um so eine Gratifikation zu verdienen? Bei dem Gedanken an den peinlichen Vorfall von vorhin krümmte Norman sich wie im Schmerz. Im Geiste hatte er die Beziehung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen schon oft mit dem Arzt-PatientVerhältnis verglichen. Er hatte Pierce erst vor wenigen Tagen kennen gelernt und doch schien dieser seine Schwächen so gut zu kennen, als ob er seine Patientenakte studiert hätte. Er konnte nur hoffen, dass Pierce sein Wissen mit derselben Diskretion behandelte, wie man das von einem Doktor erwarten durfte – oder einem Peiniger. Er rief im Rechnungswesen an und bat um einen Termin mit dem Abteilungsleiter nach der Mittagspause. Seine Sekretärin, die Norman noch nie besonders kooperativ gefunden hatte, versuchte ihn abzuwimmeln. »Es ist Pierces ausdrücklicher Wunsch«, beharrte Norman. »Gut, wie wäre es mit halb drei?« »Ja, das würde passen«, bedankte sich Norman. Pierces Namen öffnete Tor und Tür in dieser Firma. Nie68
mand vermochte zu sagen, was er vorhatte oder wozu er fähig war. Norman legte auf und ging ins Sekretariat. Das Büro war immer noch leer. Die großen Berge von Anträgen auf den Schreibtischen hatten sich in mehrere kleinere, ordentlichere Stapel verwandelt. Norman betrachtete die Papierstöße auf Louises Tisch. Er würde keinen davon anfassen, er hegte den Verdacht, dass Louise die Akten in einer bestimmten Reihenfolge sortiert hatte. Als er aufblickte, stand Jacqueline vor ihm. Sie war so leise hereingekommen, dass er bei ihrem Anblick regelrecht zusammenzuckte. Sie erschien ihm blasser als sonst und ihre Augen waren rot gerändert. Die blauen Kontaktlinsen boten einen unkleidsamen Kontrast, verliehen ihr jedoch einen eindeutig patriotischen Touch. »Alles in Ordnung?«, fragte Norman. »Aber ja. Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe.« Jacqueline nahm die lederne Aktentasche von der rechten in die linke Hand und rieb sich mit der Rechten eine kleine rote Stelle am Nacken. Ihre Bewegungen waren seltsam lethargisch und passten so gar nicht zu ihr und ihre Stimme war uncharakteristisch leise und monoton. »Ich habe einfach verschlafen.« »Sie sehen nicht gut aus, Jacqueline.« Norman hatte sie noch nie so müde erlebt. »Vielleicht sollten Sie wieder nach Hause gehen und sich hinlegen.« »Mir fehlt nichts, Norman. Ich habe das ganze Wochenende gearbeitet und bin etwas abgespannt. Das ist alles.« »Woran haben Sie denn gearbeitet?« »An meiner Produktidee. Pierce möchte, dass ich ein Konzept erarbeite.« »Nun«, meinte Norman. »Es liegt heute nicht viel an. Wenn Sie mit dem Konzept fertig sind, können Sie nach 69
Hause gehen.« »Das glaube ich kaum.« Jacqueline ging in ihr Büro hinüber. »Um ein Konzept auszuarbeiten braucht man länger als nur ein Wochenende.« »Ach so?« Norman hatte noch nie an einem Konzept gearbeitet. »Außerdem«, sagte Jacqueline über die Schulter, »habe ich heute abend eine Besprechung mit Pierce.« Norman starrte ihr noch nach und sah, wie sie Tür hinter sich schloss, da kamen Cheryl und Louise zurück. Sie waren immer noch eifrig am Debattieren. »Stell dir doch mal vor, wie viele es von denen gäbe, wenn sie alle ewig leben würden.« »Sie leben nicht ewig«, korrigierte Louise sie. »Bloß sehr, sehr lang.«
4 Pierce kam im Jahre 1783 nach Vidalon-le-Haut. Er erreichte die Schlucht an einem klaren Morgen im frühen Herbst kurz vor der Dämmerung. Unten im Tal am Fluss war es kalt, aber Pierce machte Kälte nichts aus. Als er das Tor zur Mühle erreichte und sich vorstellen wollte, erhob sich ein alter Mann mit einer phrygischen Mütze (wie die rote Kopfbedeckung der Jakobiner genannt wurde) auf dem Kopf langsam von seinem Hocker. Mit einer Hand wickelte der Mann seinen Mantel fester um sich, die andere hielt eine Laterne hoch um Pierces Gesicht zu beleuchten. An seinen Ärmelkanten war der Stoff abgestoßen und Pierce entdeckte zudem einen uralten Fleck unten auf den Hüfttaschen. Neben dem Hocker auf dem 70
Boden lag eine Handglocke mit hölzernem Stiel. Pierce hoffte sehr, der alte Mann käme nicht auf die Idee die Ruhe um sie herum zu zerstören um ihn anzukündigen. »Ich bin Perce«, sagte er. »Gekommen auf Wunsch von Monsieur Montgolfier.« »Jawohl.« Der Mann schaute ihm beim Laternenschein ins Gesicht. Dann musterte er ihn von oben bis unten. »Man erwartet Sie. Folgen Sie dem Pfad, bei der Gabelung gehen Sie links zum Hintereingang des Hauses. Brauchen Sie kein Licht?« »Nein, vielen Dank.« Über der Schlucht färbte sich der Himmel langsam rosa, nur im Schatten des Felsvorsprungs lag die Dunkelheit noch so dicht, wie Pierce es liebte. Er konnte gut im Dunkeln sehen, mithin blickte er in die Richtung, die ihm der alte Mann gewiesen hatte. Er schaute auf das verschachtelte Gebäude, das die Mühle und alle ihre Arbeiter sowie die Familie Montgolfier beherbergte. Dem ursprünglich alten Bauernhaus schienen über die Jahre Giebel und Anbauten gewachsen zu sein. Die waren auch nötig um die etwa hundert Arbeiterfamilien und all die Maschinen unterzubringen, die man brauchte um aus Leinenlumpen feines Papier zu fertigen. Pierce betrat den Pfad. Nur wenig Kiesel knirschten unter seinem Fuß und es dünkte ihn, der Pfad müsste dringend neu bestreut werden. Offensichtlich war die Mühle nicht so ertragreich, wie sie sein könnte. Bevor der Pfad ein großzügiges Rondell für Kutschen erreichte, teilte er sich. Pierce folgte dem Teil, der hinter das Haus führte, weg von dem Rondell und dem unbeleuchteten Haupteingang, einem Portal von verblichener Pracht. Er führte ihn zu einem Boteneingang, beleuchtet nur vom blassen Licht aus dem danebenliegenden Fenster. Dieser Empfang schien durchaus angemessen, da Pierce sich um 71
die Stellung eines Sekretärs beworben hatte. Hier, an dem kleineren Eingang, legte er seine Papiere vor. Der Diener war viel jünger und auch besser gekleidet als der alte Mann am Tor. Er trug Kniebundhosen und einen dunklen Rock, aber keine Perücke. Ein dunkles Band hielt sein Haar im Nacken zusammen. Seine ganze Erscheinung strahlte Gesundheit und Energie aus, aber Pierce hatte sich vor zwei Tagen unterwegs genährt und so schenkte er dem Mann keine Beachtung. Der junge Mann nahm die Referenzen und forderte Pierce auf zu warten. Der setzte sich auf eine roh gezimmerte Bank. Der Raum war spartanisch ausgestattet, nur mit einer Kerze beleuchtet und offensichtlich für Händler gedacht. Nach seiner langen Reise – er hatte einen Kontinent und ein Meer überquert um nach Vidalon-le-Haut zu gelangen – war Pierce froh über die Gelegenheit einmal stillzusitzen und die Gründe seiner Reise zu reflektieren. Nicht etwa, dass er sich ausruhen musste. Pierce bedurfte selten der Ruhe. Der Grund für seine Reise nach Vidalon-le-Haut war ein fliegendes Schaf. Wenige Monate zuvor hatten die Brüder Montgolfier, Joseph und Etienne, ein Schiff konstruiert, mit dem man den Himmel befahren konnte. Sie hatten einen riesigen, papiergefütterten Leinwandsack gefertigt, der durch ein Becken mit glühender Holzkohle erwärmt wurde, und eine Ente, einen Hahn und zuletzt ein Schaf damit in die Luft geschickt. Diese Konstruktion nannten sie einen ballon dirigeable. Jemand wie Pierce, dessen einzig natürlicher Feind die Langeweile war, konnte so ein Ereignis nicht ignorieren. Er stellte sich vor, wie er über die Wolken stieg. Es musste ein ungeheures Machtgefühl auslösen, die Welt aus dieser Perspektive zu sehen, ungestört durch den Him72
melsraum zu fliegen. Er hatte herausgefunden, dass die Montgolfiers Papierfabrikanten waren und ihre Epoche machenden Ideen weiter reichten als bis zu fliegenden Schafen. Sie gehörten auch zu den Verfechtern einer neuen sozialen Ordnung. Die Arbeitsbedingungen für die Arbeiter der MontgolfierMühle waren vorbildlich. Alles war sauber, sicher und geordnet, sowohl in der Produktion als auch im Haushalt. Bezahlung und Feiertage wurden von den Montgolfiers großzügig gehandhabt. Die Mühle bot denen, die willig waren sich ihrer Ordnung zu fügen, geregelte Arbeit. 1793 stieß der Gedanke Arbeit zu regeln und zu organisieren um ein Unternehmen zu unterhalten noch allseits auf Erstaunen. Und Pierce konnte sich denken, dass sie in diesem provinziellen Flusstal auf nicht geringe Widerstände gestoßen sein mussten. Der Diener kehrte zurück und verkündete Pierce, die Messieurs Montgolfier seien jetzt bereit ihn zu empfangen. Bei Lampenschein führte er ihn durch eine dunkle Halle, von der links und rechts die noch stillen Fabrikationsräume abzweigten. Sie passierten Raum um Raum mit brachliegenden Bottichen und leeren Trockenständern. Dann erreichten sie den Teil, in dem die Arbeiterschaft untergebracht sein musste. Sie betraten einen neuen Gang. Hinter geschlossenen Türen hörte Pierce ein Gemurmel. Die Familien bereiteten sich auf den neuen Tag vor. Noch zwei solche Flure und sie kamen zu einem breiten Treppenaufgang in der Mitte des Hauses. Der Diener bot keinerlei Erklärungen für die Dunkelheit und Pierce erwartete auch keine. Sie erklommen drei Treppenabsätze, deren Pracht und gehobene Ausstattung zunahm, je mehr sie sich den herrschaftlichen Räumen näherten. Der letzte Treppenabsatz war mit Teppichen ausgelegt. Der junge Diener führte Pierce ei73
nen anderen Gang entlang zu einer Tür. Er öffnete sie und gab den Blick frei auf einen Mann, der an einem riesigen Schreibtisch saß. Auf diesem stand eine Öllampe mit zwei Zylindern. Pierce hatte eine Lampe wie diese nie zuvor gesehen. Aber es überraschte ihn nicht, so ein modernes Gerät im Montgolfier-Haushalt anzutreffen. Auf dem Schreibtisch lag eine goldene Medaille, die das Lampenlicht reflektierte. Das Bildnis eines Ballons war darauf eingraviert. Pierce erkannte, dass es sich hier um eine königliche Gedenkmünze an den Flug des Schafes handelte. Etienne Montgolfier, ein Mann von Ende dreißig mit konzentriertem Gesichtsausdruck, trug weder Perücke noch Rock. Die informelle Atmosphäre freute Pierce. Er betrat das Zimmer und der Mühlenbesitzer erhob sich. »Monsieur Perce?« »Guten Morgen, Monsieur.« Pierce verbeugte sich. »Ich bin Etienne Montgolfier. Dies ist mein Bruder, Joseph.« Er deutete in eine Ecke des Raumes, wo ein hoch gewachsener muskulöser Mann in Hemdsärmeln an einem mechanischen Apparat aus Holz herumbastelte. Pierce erkannte mit leichtem Erstaunen, dass es sich um das simulacnan eines Mannes handelte. Es war dem Erschaffer dieses Apparates offenbar nicht so sehr auf ein genaues Abbild des Menschen angekommen. Die Gliedmaßen allerdings schienen genial, die Gelenke wurden mit kleinen Rollen und Schnüren bewegt. Der Torso war mit Rokokoschnitzereien verziert. Darüber saß ein Kopf, der im Grunde überflüssig schien, seine einzige Funktion war die der Dekoration. Man hatte ein Gesicht darauf gemalt, das Pierce etwas schwermütig anmutete. Joseph Montgolfier sah von seiner Arbeit auf und nickte. »Ich werde Ihnen Josephs Freund nicht vorstellen.« Etienne lachte. »Sehen Sie, mein Bruder arbeitet an ei74
ner Möglichkeit das Dreimanngespann an den Bottichen zu ersetzen.« Pierce lachte höflich. Er dachte, es sei sicher ein weiser, wenn auch bizarrer Einfall, eine künstliche Arbeitskraft zu schaffen. Er konnte jedoch nicht verstehen, warum man ein Gesicht auf so eine Maschine malen musste. Das war genau die Art von Sentimentalität mit der sich die Menschen so oft ihre größten Errungenschaften wieder verdarben. Der Fabrikant stand vor einem großen Fenster. Pierce sah, dass links und rechts des Flusses steile Felsen in den zartrosa Himmel ragten. Die Sonne versuchte ein allererstes bisschen Morgendämmerung in das Mühltal zu schicken. Wie es aussah, waren die Brüder Montgolfier bereits seit einigen Stunden auf den Beinen. Etienne studierte das Gesicht seines Gastes im Lampenlicht. »Sie dürfen sich setzen.« Pierce ließ sich auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Etienne setzte sich ebenfalls. Pierce hörte ein Kratzen, es schien aus Josephs Richtung zu kommen. Er drehte sich um und sah, dass der Mann ein kleines Zeichenbrett auf dem Schoß hielt. Joseph bedeckte das Blatt darauf mit kurzen, sicheren Bleistiftstrichen. »Es dauert nur einen Moment«, sagte Etienne ruhig. Joseph beendete seine Zeichnung und brachte sie zum Schreibtisch. Er und Etienne beugten sich darüber. Von Zeit zu Zeit sahen sie zu Pierce herüber, als ob sie sich über die Genauigkeit der Wiedergabe vergewissern wollten. Dann prüften sie die Maße mit einem Zirkel und Lineal. Pierce hatte nicht erwartet Modell sitzen zu müssen. »Die äußere Erscheinung eines Mannes ist der erste Schritt zu seiner Eignung für eine Stellung«, bemerkte 75
Etienne endlich. »Eine unregelmäßige Physiognomie ist häufig ein Zeichen für eine feindselige Grundhaltung und Zügellosigkeit.« Joseph kehrte zu seinem Automaton in der Ecke zurück. Etienne legte die Zeichnung auf den Schreibtisch. »Ich habe die Fähigkeit das Alter eines Menschen nach seiner Erscheinung zu schätzen. Ich würde Sie, Monsieur, für achtundzwanzig Jahre halten.« »Neunundzwanzig«, korrigierte Pierce. Er notierte sich diese Zahl in Gedanken – damit er sie parat hatte, sollte das Thema noch einmal zur Sprache kommen. »Seit letztem Monat«, fügte er hinzu. Etienne lächelte selbstzufrieden. In Wirklichkeit hatte Pierce nicht die leiseste Ahnung, wie alt er war. Aber er hatte schon früh gelernt, dass es ratsam war, in diesen Dingen ein wenig von der Wahrheit abzuweichen. »Nun gut«, sagte Etienne. »Ich habe hier Ihre Empfehlung von Monsieur Riffault und sie beeindruckte mich sehr. Er schreibt, Ihr Rat in Geschäftsdingen hätte sich als unschätzbar erwiesen, und er preist ganz besonders Ihren Umgang mit der Gesellenbruderschaft seiner Region.« »Die Gesellen wehrten sich dagegen, dass Monsieur Riffault eine holländische Maschine einsetzten wollte«, erklärte Pierce. »Ich konnte sie überzeugen, dass mit erhöhter Produktion auch mehr Arbeitsplätze für die Mitglieder ihrer Bruderschaft geschaffen würden.« Natürlich gab es gar keinen Monsieur Riffault. Pierce hatte die Empfehlung selber geschrieben. »Wollen Sie damit sagen, die Gesellenbruderschaft erlaubte die Einführung neuer Maschinen und Arbeitsverfahren?« »Meiner Ansicht nach liegt die Loyalität eines Arbeiters 76
bei seinem Arbeitgeber und nicht bei seiner Zunft.« Pierce hätte diesen Gedanken gern noch weiter ausgeführt, doch Montgolfier trieb die Aufregung aus seinem Sessel und er lief im Zimmer auf und ab. »Monsieur Perce, ich muss Ihnen gestehen, dass die Gesellen Gedeih und Verderb meiner Existenz zugleich sind. Diese Mühle hier kann ohne sie kein Papier produzieren. Doch sind sie als Zunft von so unzuverlässiger und rauer Sitte, dass sie die Mühle in ständigem Aufruhr halten. Ein Zigeunervolk. Wir wissen nie, ob wir genug Leute haben den Aufträgen nachzukommen. Wir sind ihnen völlig ausgeliefert.« Jetzt begriff Pierce, was die Brüder Montgolfier zu der Konstruktion eines hölzernen Kesselarbeiters bewogen hatte. »Nicht nur stören diese Nichtsnutze die Arbeit, sie verderben uns auch die Lehrlinge mit ihren Gewohnheiten. Sie sind ihren Traditionen und Festen sklavisch ergeben. So als lebten sie im zwölften statt im achtzehnten Jahrhundert.« Montgolfier trat an das hohe Fenster und blickte versonnen in die aufkommende Morgendämmerung. »Vor zwei Jahren, kurz nachdem wir eine holländische Maschine gekauft hatten, die Lumpen zermahlen kann, erließ ich eine neue Hausordnung. Sie verbot den Lehrlingen an den Zeremonien der Gesellen teilzunehmen. Ich dachte damit die jüngeren Arbeiter vor den zügellosen Ausschweifungen der Kerle zu schützen.» Montgolfier wandte sich vom Fenster ab und schaute Pierce direkt ins Gesicht.«Möchten Sie wissen, was geschah?« Pierce nickte. »Sie verließen die Mühle in Scharen.« Pierce schüttelte in verständnisvollem Unglauben den Kopf. »Und als wir neue Männer anstellten, überfielen die Ge77
sellen sie vor unserer Mühle und verprügelten sie. Wir waren nicht in der Lage die Arbeitsplätze in der Mühle zu besetzen und konnten in dem Jahr unsere Aufträge nicht erfüllen.« Pierce vermutete, dass es sehr demütigend für die Montgolfiers gewesen sein musste, ihren Verpflichtungen nicht nachzukommen. Er selbst kannte das Gefühl der Demütigung allerdings nicht. »Nicht zu entschuldigen.« Pierce hörte entfernt, wie die Mühle unter ihnen zum Leben erwachte. Etienne stand grübelnd am Fenster. »Nichts ist schlimmer als die Tyrannei von Arbeitern über ihre Brotherren. Niemand übertrifft diese Spitzbuben an Arroganz und Korruption.« Er drehte sich um und sah Pierce an. Nun wieder völlig gefasst. »Unsere Arbeiter wollen nicht mit der holländischen Zylindermahlmaschine arbeiten. Viele weigern sich die Maschinen zu bedienen. Ich fürchte, einige schrecken nicht einmal davor zurück, sie zu zerstören.« Pierce wusste, dass er keine Schwierigkeiten haben würde die Arbeiter zu überreden. Es war lediglich eine Frage, den Anführer zu finden und ihn zu überzeugen. Das konnte ein einziger Biss erledigen. Er hatte in der Vergangenheit schon viele Male seine besondere Gabe in den Dienst eines Arbeitgebers gestellt. Es machte ihm nichts aus. Er musste sich sowieso mehrere Male im Jahr nähren. »Monsieur Perce«, sagte Etienne. »Könnten Sie mich wohl in der Kunst unterweisen, wie ich die Gesellen überreden kann die Maschinen zu akzeptieren?« Der Fußboden begann zu beben. Pierce begriff, dass man mehrere Stockwerke tiefer die Papiermaschinen mit den großen Mühlrädern im Fluss verbunden hatte. Ein neuer Arbeitstag hatte begonnen. 78
»Mit Verlaub, Monsieur.« Pierce drehte sich auf seinem Stuhl und deutete auf Joseph Montgolfier und sein Modell. »Ich glaube, die Kunst der Überredung wird sich langfristig als bessere Strategie erweisen, als die Arbeiter durch einen solchen Automaten ersetzen zu wollen.« Die ersten scharlachroten Sonnenstrahlen kletterten über die Felsen und fielen durch das Fenster in den Raum. Pierce sah, wie sich das blutrote Licht über seinen Arm ergoss. Es würde, wie die Menschen zu sagen pflegten, ein schöner Tag werden. Er hob den Kopf und blickte Etienne Montgolfier an, dessen Gestalt in Schatten gehüllt war. »Dann erlauben Sie mir bitte noch eine Frage«, fuhr der Mühlenbesitzer fort. »Wären Sie bereit heute mit der Arbeit zu beginnen?« Pierce fragte sich, ob er nicht doch die Montgolfiers dazu überreden könne, die Produktionszeit der Mühle in die Nacht zu verlegen. Sonnenlicht schmerzte ihn zwar nicht, aber wenn man in der Dunkelheit gut sehen kann und es keinen Grund gibt sie zu fürchten, neigt man dazu, ihr den Vorzug zu geben. »Ja, Monsieur«, sagte er. »Heute wäre ausgezeichnet.«
5 Norman bewegten die seltsamsten Gefühle. Da war zum einen die Demütigung durch Pierce und den gelben Sticker an seiner Krawatte. Zum anderen fürchtete er, dass er seinen Job verlieren könnte, wenn er bis Büroschluss diesen verdammten Scheck nicht beibrachte. Und beim Anblick der müde herumschleichenden Jacqueline regte 79
sich in ihm etwas, das er unter normalen Umständen Eifersucht genannt hätte. Seine Untergebene arbeitete ohne Zweifel wesentlich härter als er und hatte außerdem schon wieder eine Besprechung mit seinem Boss. Er wusste, dass es blödsinnig war, auf jemanden wegen seiner Überstunden eifersüchtig zu sein, und doch konnte er sich des unguten Gefühls nicht erwehren, dass er aus dem engen Kreis der Entscheidungsmacher ausgeschlossen war. Etwa eine Stunde lang saß Norman darüber brütend am Schreibtisch. Dann wollte er es wissen. Er beschloss zu Jacqueline zu gehen und sie zu fragen, wie ihre Besprechung mit Pierce verlaufen war. Er klopfte an ihre Bürotür. Es kam keine Antwort. »Jacqueline?« Immer noch keine Antwort. Norman öffnete die Tür und spähte in das Büro. Es lag im Dunkeln. Die Jalousien waren heruntergelassen, nirgendwo brannte ein Licht. Es war zwar nicht so dunkel wie bei Pierce, aber für Normans Begriffe immer noch zu schummerig um hier arbeiten zu können. Jacqueline saß an ihrem Schreibtisch, offenbar in Tagträume versunken. »Jacqueline?« Normans Stimme riss sie aus ihrer Versunkenheit. »Oh, Norman. Hallo«, kam es matt aus dem Dunkel. »Norman, ich wollte Sie um etwas bitten. Könnte ich wohl mein Büro in den Konferenzraum verlagern?« »Und wo bleiben wir dann mit unseren Konferenzen?« fragte Norman zurück. »Die könnten hier abgehalten werden«, erklärte Jacqueline. »Dieser helle Raum mit der Fensterfront würde eine angenehme Atmosphäre für Abteilungssitzungen schaffen, meinen Sie nicht? Mich persönlich lenken die Fens80
ter ein wenig von meiner Arbeit ab.« Es sah Jacqueline so gar nicht ähnlich, ein Büro mit Fenstern freiwillig aufzugeben. »Sicher geht das«, meinte Norman. »Louise soll ein paar Leute zusammentrommeln, die Ihre Sachen rübertragen und die Telefonkabel verlegen.« »Danke, Norman. Was kann ich für Sie tun?« Norman stand immer noch in der offenen Tür. Er wollte es nicht riskieren, etwas umzustoßen, wenn er im Dunkeln nach einer Sitzgelegenheit tastete. Der heutige Tag hatte ihm schon genug Peinlichkeiten beschert. »Worum geht’s denn bei Ihrem Gespräch mit Pierce?« »Er möchte von mir hören, wie ich mit meinem Konzept vorankomme.« »Will er mich dabei haben?« »Hat er nicht gesagt.« Norman wusste nicht mehr weiter. »Alles in Ordnung, Jacqueline?« »Ja, Norman. Mir geht es gut.« Sie sprach mit tonloser Stimme. »Danke der Nachfrage.« Norman blieb einen Moment lang stehen und starrte hilflos in die Dunkelheit. Da Jacqueline nichts weiter sagte, zog er sich wieder zurück und schloss die Tür. Es blieb ihm keine Zeit mehr, seinen Gedanken nachzuhängen, denn es war bereits zwanzig nach zwei. Um halb drei hatte er seinen Termin beim Leiter der Finanzen. Der Controller, den Norman so gut wie gar nicht kannte, stand kurz vor seiner Pensionierung. In der Firma war er für sein schroffes Wesen bekannt. Er genoss als einziger Topmanager der Firma neben Pierce das Privileg einer eigenen Sekretärin. Die übrigen Manager in leitenden Positionen mussten sich mit Abteilungssekretärinnen begnügen. 81
Die Sekretärin winkte Norman gleich durch. Norman blieb einen Moment lang vor dem Schreibtisch des Finanzchefs stehen, während dieser eine Hausmitteilung fertig stellte und in den Ausgangskorb legte. Schließlich blickte er auf und sah Norman an. »Ja bitte?« Norman wunderte sich über die Gedankenlosigkeit des Mannes. Er hatte vergessen ihm einen Stuhl anzubieten. Norman beschloss, dass es nicht schaden konnte, eine gewisse Nähe herzustellen. Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich eine Armlänge entfernt neben den Finanzchef. Der runzelte ungnädig die Stirn, aber Norman wusste, dass dies bei manchen Leuten eine normale Reaktion auf einen Versuch der Annäherung war. Es war eigentlich mehr ein Abwehrreflex und wenn man den Annäherungsversuch beharrlich weiterverfolgte, wurde er mit der Zeit meistens akzeptiert. »Ich brauche Ihre Hilfe«, begann Norman. »Wir müssen heute Nachmittag noch einen Bonusscheck ausstellen.« Der Controller beäugte ihn misstrauisch. »Dazu bedarf es einer Bonusantragsbewilligung.« »Selbstverständlich«, beeilte sich Norman so verbindlich wie möglich zu sagen. »Pierce meinte allerdings, er braucht den Scheck heute noch. Wir müssen das Genehmigungsverfahren diesmal eben etwas verkürzen.« Der Controller maß Norman mit einem Blick, den man bestenfalls als skeptisch bezeichnen konnte. »Wir müssen überhaupt nichts«, wandte er ein. »Das ist ja wohl nicht mein Problem.« Norman hatte das peinliche Gefühl, dass seine Annäherung nicht funktionierte. »Natürlich nicht«, sagte er. »Ich dachte nur, Sie würden gern etwas für Pierce tun.« 82
»Wenn Pierce unbedingt einen Scheck will, warum sagt er mir das dann nicht selber?« Da war es wieder. Dieses Machtdenken. Dieser Mann wollte auch mitmischen. Norman konnte ihm das nachfühlen, aber er brauchte nun einmal diesen Scheck. Er beschloss an die Kameradschaftlichkeit des Mannes zu appellieren. »Eine lange Geschichte«, hob Norman an. »Unter uns gesagt, das kam so, weil ich gerade dabeistand, als ihm einfiel, dass dieser Scheck ausgefertigt werden muss.« »Das reicht nicht. Erzählen Sie mir die ganze Geschichte.« Der Controller sah auf die Uhr. »Aber machen Sie’s kurz.« Der Wunsch nach Annäherung schien im Fieber des Machtstrebens zu verpuffen. Norman beschloss einen letzten Versuch zu wagen und auf Mitleid zu setzen. »Ich habe ihm erklärt, wie bei uns mit Gratifikationen verfahren wird«, sagte Norman. »Er scheint das Verfahren für lästig und umständlich zu halten. Ich nehme an, dass er mir die Schuld gibt, weil ich es ihm erklärt habe. Also hat er darauf bestanden, dass er den Scheck heute noch haben will.« »Nun«, lenkte der Controller ein. »Es gibt da einen Weg, wie man das Verfahren verkürzen kann.« Norman verspürte einen leises Triumphgefühl. Annäherang zahlt sich eben doch aus. »Ich brauche ein Memo von Pierce, in dem er den Scheck anfordert«, erklärte der Herr der Finanzen. Norman sank der Mut. »Haben Sie kein Vertrauen zu mir?« »Das ist keine Frage des Vertrauens sondern des Vorgehens«, erwiderte der Controller souverän. »Besorgen Sie mir das Memo und innerhalb einer Stunde haben Sie Ihren Scheck.« Norman wusste, dass er den Mann zu keinen weiteren Zugeständnissen würde bewegen können. 83
Ihm blieb keine Wahl. Als er das Büro des Finanzchefs verließ, kam ihm der Gedanke, dass er selbst das Memo für Pierce aufsetzen könnte. Pierce brauchte dann nur noch zu unterschreiben, und das würde ihm sicher behagen. Als er in seine Abteilung zurückkehrte, fand er Cheryl und Louise noch immer bei ihrem Thema. »So ein Quatsch!«, sagte Cheryl gerade. »Ein Vampir kann alles Mögliche. Wenn er will, kann er sich in Rauch auflösen.« Norman verschwand in seinem Büro, setzte sich an seinen Computer und schrieb ein Memo für Ackermans Scheck. Er kam sich ein wenig albern dabei vor, aber es war unmöglich, jemand anders mit dem Memo zu beauftragen ohne die Umstände erklären zu müssen. Das war ihm zu peinlich. Das Memo umfasste bloß zwei Zeilen und er benötigte gerade eine Minute es zu tippen. Er gab den Druckbefehl ein und ging ins Vorzimmer, wo der Drucker stand. Er stellte sich daneben und wartete auf den Ausdruck. »Er kann sich in eine Fledermaus oder einen Wolf verwandeln«, führte Cheryl weiter aus. »Er ist unglaublich stark. Er kann hilflose Frauen hypnotisieren. Nur, in den Büchern, die du liest, kann er solche Sachen manchmal und dann auch wieder nicht. Es gibt auch keine plausible Erklärung, wann er sich in einen Wolf verwandelt und wann er sich in Rauch auflöst. Diese Bücher wären viel unterhaltsamer, wenn sie ihren eigenen Regeln folgen würden.« »Was meinst du mit Regeln?«, wandte Louise ein. »Es ist doch kein Wettkampf oder so.« Sobald das Memo ausgedruckt war, eilte Norman mit dem Dokument davon. Er ging damit zu Pierces Sekretärin, einer jungen Frau, 84
höchstens Mitte zwanzig, die Pierce von Pressman übernommen hatte. Sie hatte große Augen und ein gewinnendes Lächeln, außerdem trug sie mit Vorliebe Blusen, die ihre wohlgeformten Brüste betonten. Norman konnte sich noch daran erinnern, als Pressman sie eingestellt hatte, und an seine unzüchtigen Gedanken, dass Pressman die Qualitäten der Frau womöglich nach ihren Rundungen beurteilte. Als sie noch für Pressman arbeitete, war sie gewöhnlich ziemlich wortkarg und Norman hatte sich manches Mal gefragt, ob ihr Vorgesetzter sie vielleicht mit der Sorte von Vertraulichkeiten einschüchterte, die auf der Grenze zur sexuellen Belästigung lagen und die einige Manager der alten Garde so perfekt beherrschten. Heute fand Norman sie ausgesprochen gesprächig. »Nett Sie zu sehen, Norman«, sagte sie. »In der Personalabteilung muss es derzeit ja ziemlich rund gehen.« Norman gab zu, dass sie gut zu tun hatten, und fragte, ob er Pierce sprechen könnte. »Er ist im Casino«, erklärte die Sekretärin. »Aber Sie dürfen ihn ruhig stören. Im Gegenteil, Sie können ihm bestimmt helfen.« »Was, oben im sechsten Stock?« Norman überlegte, wobei er Pierce wohl helfen könnte. »Jawohl. Hier. Nehmen Sie das mit.« Die Sekretärin bückte sich und zog eine Art gefaltetes weißes Kleidungsstück aus einer Schublade. Norman griff danach. »Soll ich das Pierce geben?« »Nein, anziehen.« Norman faltete das Stück auseinander. Es war eine Schürze. »Ich verstehe nicht ganz.« »Er macht heute Dienst in der Kantine und bedient das Servicepersonal.« Norman war entsetzt. Die Vorstellung, dass der Firmenchef persönlich seinem Personal aufwartete, erschien 85
ihm geradezu pervers. »Ist er nicht ein fabelhafter Chef?« Pierces Sekretärin strahlte. »Bevor er hier anfing, hatte ich keine Ahnung, wozu ich wirklich fähig bin. Wussten Sie, dass ich jetzt zum Sicherheitsstandardausschuss und zum Ausschuss für Betriebsklimaförderung gehöre? Ich bin auch keine Sekretärin mehr. Er hat mich zu seiner Assistentin ernannt.« Norman hatte keinerlei Unterlagen über ihre Beförderung zu sehen bekommen. Er fragte sich, warum. Es war nicht richtig, Leute zu befördern ohne die Personalabteilung einzuschalten oder wenigstens zu informieren. Was glaubte Pierce eigentlich, wozu es diese Abteilung gab? Norman ließ sich seine Gefühle nicht anmerken. Er fuhr mit dem Fahrstuhl zum sechsten Stock hinauf, wartete jedoch mit dem Anlegen der Schürze, bis er sich selber ein Bild gemacht hatte. Fast alle Tische des Casinos waren besetzt. Die Mehrzahl waren Männer, die meisten in ihren Arbeitskitteln oder Overalls mit aufgenähten Namen über der Brust. Sie saßen vor eleganten Platzgedecken, bei einigen lagen die weinroten Stoffservietten noch als kunstvoll arrangierte Fächer auf dem Teller. Norman war noch nie im Casino, dem für die Topmanager reservierten Speisezimmer, gewesen und es erfüllte ihn mit Wehmut, dass er ausgerechnet das erste Mal dort auftauchte um das Servicepersonal dort beim Essen zu erleben. Pierce, mit einer weißen Schürze über dem Nadelstreifenanzug, schenkte gerade ein Glas Weißwein für den Mann ein, der abends Normans Papierkorb zu leeren pflegte. Dieser Mensch musste bereits mehrere Gläser Wein intus haben, denn er fand offensichtlich nichts dabei, dass er vom Firmenchef persönlich bedient wurde. »Ach, Norman«, rief Pierce. »Ziehen Sie Ihre Schürze an 86
und helfen Sie mir.« Norman faltete das Memo der Länge nach und steckte es in die Brusttasche seines Jacketts. Dann band er sich die Schürze um. »Ich müsste Sie sprechen«, stammelte er. »Der ehemalige Führungsstab muss wohl ein Geschäftsessen mit ausgesuchten Köstlichkeiten geplant haben.« Pierce ging unbeirrt weiter und schenkte das nächste Glas Wein ein. »Der Küchenchef hat tagelang an diesem Menü gearbeitet. Ich fand, es sollte jemand essen, der Spaß daran hat.« Norman folgte Pierce auf dem Fuße. »Norman«, sagte Pierce. »Übernehmen Sie die andere Seite. Die Leute warten schon.« Norman tat wie ihm geheißen und schenkte ein. »Ich muss Sie dringend sprechen, Pierce.« »Sobald wir alle bedient haben«, erwiderte Pierce. Als alle Gläser der zwölf Bediensteten der Serviceabteilung gefüllt waren, winkte Pierce Norman zu sich. »Wir haben etwas Zeit vor dem Salatgang. Also, was wünschen Sie?« Norman zückte das Memo und reichte es seinem Boss. »Würden Sie das bitte unterschreiben?« »Was ist das?« Pierce entfaltete das Schriftstück. »Der Controller benötigt eine Rückversicherung, ehe er Ackermans Scheck ausstellen kann.« Norman blickte betreten auf seine Füße und wünschte sich weit weg. Er hatte noch nie andere Leute bei Tisch bedient und fand es auch nicht erstrebenswert. Pierce verschwand durch die Schwingtür zur Küche. Norman blieb unschlüssig stehen. Da kam Pierce wieder zurück. Er nahm seine Schürze ab, warf sie zu Boden und marschierte auf den Ausgang zu. »Das Küchenpersonal kümmert sich um alles andere«, 87
sagte Pierce. »Kommen Sie, Norman.« Norman streifte hastig seine Schürze ab, warf sie dem Mann vor die Füße, der abends den Parkplatz fegte, und eilte Pierce hinterher in den Fahrstuhl. Pierce drückte auf den Knopf für den fünften Stock: Rechnungswesen. Er sagte nichts. Norman vermeinte sein eigenes Herz laut pochen zu hören. Im fünften Stock stiegen sie aus und Pierce steuerte geradewegs auf das Büro des Finanzchefs zu. Norman auf den Fersen. Pierce hielt sich keine Sekunde bei der Sekretärin im Vorzimmer auf, obwohl er sie anblickte und ihr, wie Norman vermutete, eines seiner charmantesten Lächeln schenkte. Er fegte an ihr vorbei direkt in das Chefbüro. Norman folgte ihm auf dem Fuße. Der Chef der Finanzen war gerade mit der Eintragung von irgendwelchen Zahlen beschäftigt und hob überrascht den Kopf. Als er Pierce erblickte, sprang er sofort auf. »Pierce, was für eine angenehme Überraschung!« »Räumen Sie Ihren Schreibtisch«, befahl Pierce. Der Mann wurde weiß wie die Wand. »Wie bitte?« Norman hätte sich zu gerne für den Mann verwendet, aber er traute sich nicht. »Sie haben genau sechzig Sekunden, ehe ich den Wachdienst rufe«, erklärte Pierce. »Worum geht’s hier eigentlich?«, stammelte der Controller. »Es geht um Ihren Abschied«, sagte Pierce. »Sie machen keinen weisen Gebrauch von den sechzig Sekunden.« »Sie können einen Menschen doch nicht grundlos entlassen«, empörte sich der Mann. »Vierzig Sekunden.« Der Controller rührte sich und nahm eine gerahmte Fotografie mit Hund von seinem Schreibtisch. Mit panischem 88
Blick sah er sich um, griff nach einem Kaffeebecher. Dann zog er eine Schreibtischschublade auf und Norman hörte, wie lose Münzen in der Bleistiftschale schepperten. »Die Zeit ist um«, erklärte Pierce. »Das waren aber keine sechzig Sekunden«, protestierte der Mann. »Ich habe es mir anders überlegt.« Pierce griff nach dem Telefonhörer. Der Controller kam hinter seinem Schreibtisch hervor, die Fotografie und den Kaffeebecher an die Brust gepresst. »Das ist nicht nötig. Ich gehe schon.« Er verschwand ohne sich von seiner Sekretärin zu verabschieden. Er schlich davon wie ein geprügelter Hund. Ein gedemütigter Mensch. Er sah so aus, wie Norman sich mit dem gelben Sticker von Pierce an der Krawatte gefühlt hatte. Norman traute sich nicht irgendetwas zu sagen. Pierce sah ihn an. »Glauben Sie, ich habe das getan um ihn zu bestrafen, Norman?« Norman nickte. »Falsch. Ich wollte ihn nicht strafen. Ich wollte ihn bloß feuern. Sie sind derjenige, den ich bestrafen wollte, Norman. Warum, meinen Sie, habe ich Sie alles mit ansehen lassen?« Norman fühlte sich wie an den Boden gekettet. Ein winziger Teil in ihm, der einen Funken Verstand bewahrt hatte, fragte sich, warum er keinen Fluchtreflex zeigte, aber dann sah er ein, dass weder Flucht noch Reflex helfen würden. »Ich denke, Sie sollten heute abend bei meiner Besprechung mit Jacqueline dabei sein, Norman.« Norman glaubte nicht, dass er eine andere Wahl hatte. Wieder in seinem Büro versuchte er Gwen zu erreichen und sie zu bitten der Kinder wegen früher nach Hause zu 89
fahren. Ihr Assistent, Carl, teilte ihm mit, dass Gwen noch immer beim Mittagessen mit Rod im Sky Room saß. Norman begriff, dass es hier um die Beförderung ging, von der Gwen gesprochen hatte. Sie würde den restlichen Nachmittag zur eigenen Verfügung haben wollen um zu feiern und mit den Kollegen anzustoßen. Andererseits graute Norman bei dem Gedanken, was geschehen würde, wenn er an der Abendsitzung mit Pierce und Jacqueline nicht teilnahm. Er bat Carl Gwen auszurichten, dass es sich um einen Notfall handelte und dass sie unbedingt nach Hause fahren musste um sich um die Kinder zu kümmern. Dann versuchte er sich zu entspannen und mental auf die Besprechung vorzubereiten. Gegen sechs Uhr stand Jacqueline wie gerufen in der Tür. Sie wirkte jetzt weniger lethargisch. Sie sah zwar keinen Deut wohler aus, aber ihre Bewegungen verrieten einen gewissen Elan, als ob die bevorstehende Besprechung mit Pierce ihr neue Energien verliehen hätte. Im Arm hielt sie eine Ledermappe. Norman ging mit ihr zum Fahrstuhl. Die Fahrstuhltür glitt beiseite und sie stiegen ein. Als sie beide gleichzeitig auf den Knopf für den fünften Stock drücken wollten, berührten sich ihre Hände versehentlich. Jacquelines Hand war kalt wie Stein. Erschrocken zuckte Norman zurück. Als er den Blick hob, merkte er, dass Jacqueline ihn ernst anschaute. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte sie. Sie betonte das »Sie«, als ob sie ihn im Besonderen meinte. Er hätte sie ja fragen können, aber es tat ihm Leid, dass ihre Körpertemperatur auf einen nahezu todesähnlichen Grad abgesunken war, und er wusste nicht, was er sagen sollte. 90
In Jacquelines Nähe hatte Norman sich immer schon unbehaglich gefühlt, aber heute war es anders. Sein Gefühl der Unzulänglichkeit, das sie ihm normalerweise vermittelte, war etwas anderem gewichen, das Norman nur als Gruseln bezeichnen konnte. Dieses Gefühl verstärkte noch die Befürchtungen, die er in Bezug auf die bevorstehende Besprechung bereits hegte. Sie standen vor Pierces Büro und Jacqueline öffnete die Tür. Drinnen brannte keinerlei Licht. »Pierce«, sagte sie in den düsteren Raum. »Ich habe Norman mitgebracht.« Die Halogenleuchte sprang an und erhellte Pierce, der am Schreibtisch saß. »Ich habe den Scheck, Norman«, sagte Pierce zur Begrüßung. »Der Assistant Controller hat ihn für mich ausgefertigt.« Norman wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Also zuckte er bloß mit den Schultern. »Ich habe schon des Öfteren festgestellt, der beste Weg Angestellte zum Handeln zu bewegen ist ihren Vorgesetzten zu feuern«, erklärte Pierce ruhig. »Nehmen Sie Platz.« Norman setzte sich. Er heftete seinen Blick auf Pierces Hemd und Krawatte vor sich im Lichtkegel. Er hörte, wie Jacqueline sich neben ihm niederließ, sah sie aber nicht an. »Ackerman hat heute eine Lizenz Gewinn bringend verkauft.« Pierces Gesicht lag im Schatten. »Das war ein wichtiger Abschluss und er hat eine Gratifikation verdient. Wenn jemand eine Gratifikation verdient, soll er sie am selben Tag noch bekommen. Das ist meine Devise. Mit Erhalt des Schecks wird er auch den Rat bekommen diese Leistung sofort zu vergessen und die nächste anzustreben. So läuft der Laden von nun an.« »Wünschen Sie, dass ich das Gratifikationsverfahren überarbeite und verbessere?« fragte Norman. 91
»Das wäre reine Zeitverschwendung, Norman. Das ganze Verfahren ist abgeschafft.« Pierce schob ein schwarz gebundenes Heft oder so etwas Ähnliches über den Schreibtisch Jacqueline zu. »Wann immer ich es in Zukunft für nötig erachte, jemandem einen Bonus zukommen zu lassen, wird Jacqueline einfach einen Scheck ausstellen.« Aus dem Augenwinkel konnte Norman beobachten, wie Jacqueline nach dem Heft griff, das sich als großes Scheckbuch entpuppte, und es sich auf den Schoß legte. »Und zwar unverzüglich«, fügte Pierce hinzu. »Ist Jacqueline damit jetzt Ihnen unterstellt?«, wollte Norman wissen. »Nein, Sie arbeitet nach wie vor für Sie.« »Dann habe ich auch die Verantwortung für die Bonusschecks?«, fragte Norman. »Natürlich nicht«, konterte Pierce. Norman hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit im Zimmer seine Auffassungsgabe beeinträchtigte. Wie konnte Jacqueline ihm unterstellt sein, wenn sie eine Funktion ausübte, für die er nicht verantwortlich zeichnete? »Sie werden sich daran gewöhnen müssen, mit Ambivalenzen zu leben, Norman«, meinte Pierce. »Ich hatte ihnen ja gesagt, dass ich hier die alten Mauern niederreißen würde.« »Soll ich von den Schecks, die Jacqueline ausstellt, eine Aufstellung für die Rechnungsabteilung machen?« Norman blieb beharrlich. »Ach ja, ich habe ganz vergessen Ihnen zu sagen, dass es auch keine Rechnungsabteilung mehr gibt.« Norman merkte, wie sein Mund trocken wurde und seine Kehle sich zuschnürte. »Ich habe alle gefeuert«, sagte Pierce. Norman fürchtete sich davor, die entsprechende Frage zu stellen, aber er brauchte Gewissheit. Er musste ein92
fach wissen, wo er stand, wie es um seine Stellung stand. »Was ist mit dem Assistant Controller, der Ihnen heute den Scheck ausgestellt hat?« »Ich habe ihn sofort gefeuert, nachdem er den Scheck ausgeschrieben hatte«, erklärte Pierce ungerührt. Norman bedauerte den armen Menschen, der nur das Beste wollte, der nur tat, was er geheißen wurde, und der dafür den Laufpass erhalten hatte. »Mir gefällt das auch nicht, Norman.« Die Milde in Pierces Stimme stand in krassem Gegensatz zu seinem Vorgehen. »Die Leute glauben gewöhnlich nicht, wozu man fähig ist, bis man es ihnen beweist.« Norman wünschte, er wäre in seinen sicheren vier Wänden um all das zu überdenken und vielleicht mit Gwen darüber zu sprechen. Der Gedanke, dass er seinen Job verlieren könnte, schien gar nicht mehr so abwegig. Für einen Mann wie Pierce zu arbeiten würde er wahrscheinlich auf Dauer nicht verkraften. »Jetzt wissen Sie, wozu ich fähig bin. Nicht wahr, Norman?« Norman wusste, dass Pierce fähig war Leute innerhalb einer Sekunde, ohne Vorwarnung, hinauszuwerfen. Aber er war bestimmt nicht fähig zum Beispiel die Aufgaben der Personaladministration zu verstehen. Die einzige Antwort, die Norman einfiel, wäre unhöflich gewesen, also schwieg er. »Gut«, sagte Pierce. »Genug des Philosophierens. Zurück zum Geschäft. Ich habe beschlossen ein Team aufzustellen, das an Jacquelines Produktidee arbeiten soll.« Norman warf Jacqueline einen schrägen Blick zu um ihre Reaktion zu sehen. Sie lächelte, aber, wie Norman fand, ohne Wärme. Es glich eher dem selbstgefälligen Lächeln eines Menschen, der eine persönliche Prophezeiung erfüllt sieht, als dem Triumphieren von jemandem, der ge93
rade das Steuer eines multimillionenschweren Unternehmens herumgerissen hat. »Ich brauche Ihre Hilfe für die Umbesetzung der Stellen.« Pierce reichte Norman ein Papier, auf dem etwa ein Dutzend Namen standen. Norman hielt das Blatt schräg, damit etwas Licht darauf fiel. Einige Namen waren ihm bekannt. Er mochte vielleicht nicht alles verstehen, was bei Biomethods vorging, aber er war immer noch der Leiter der Personaladministration und konnte lesen. Die meisten Namen auf Pierces Liste gehörten Mitarbeitern des Aidsprojekts. »Einige dieser Leute sind unentbehrlich für die Arbeit an dem Aidsmittel«, konstatierte Norman. »Nicht mehr«, erklärte Pierce leichthin. »Die Abteilung wird aufgelöst.« Norman wäre möglicherweise weniger überrascht gewesen, wenn Pierce ihm mitgeteilt hätte, dass die Firma das Gebiet der Gentechnik verlassen und sich der Hühnerhaltung widmen würde. »Es ist das wichtigste Projekt der Firma.« Norman war bemüht sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. »Es ist aber auch symptomatisch für die Probleme der Firma«, erwiderte Pierce. »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Norman. »Was wissen Sie über Aids, Norman?« »Es ist unheilbar und womöglich die schlimmste Krankheit der Menschheitsgeschichte.« »Sehr gut, Norman.« Pierce hörte sich an, als lobte er einen besonders begriffsstutzigen Schüler. »Was sonst noch?« »Dass es durch ein Virus verursacht wird«, sagte Norman brav. »Und?« Norman überlegte. Worauf wollte Pierce hinaus? 94
»Dass es überwiegend durch sexuellen Kontakt und illegalen Drogenkonsum übertragen wird«, fügte Norman hinzu. Pierce lächelte nachsichtig. »Die Beulenpest wird durch Flöhe verbreitet und das Gelbe Fieber durch Moskitos. Cholera fängt man sich durch verseuchtes Wasser ein. Typhus durch verseuchte Nahrung oder Wasser. Milzbrand kriegt man durch Einatmen von Mikrosporidien – kann leicht vorkommen, wenn man am falschen Ort ist.« »Worauf wollen Sie hinaus?« Norman war selbst überrascht von seiner direkten Art. »Glauben Sie, dass es einen Markt für Medikamente oder Impfstoffe gegen Seuchen gibt?« »Ich weiß es nicht«, gab Norman zu. »Es gibt keinen«, sagte Pierce. »In der zivilisierten Welt sind Seuchen praktisch ausgerottet. Mit der Zeit werden sie aus den Entwicklungsländern auch verschwunden sein. Das liegt aber nicht an den Medikamenten. Wir haben keine Epidemien, weil wir unser Trinkwasser aufbereiten, weil wir die Insektenplage bekämpft haben und es diesen Infektionskrankheiten schwer machen, sich auszubreiten.« »Was hat das alles mit Aids zu tun?«, wollte Norman wissen. »Aids ist die tödlichste Seuche, die der Menschheit je widerfahren ist«, sagte Pierce. »Aber, sie ist auch am einfachsten zu kontrollieren. Warum sollen wir einen Wirkstoff entwickeln für eine Krankheit, die durch gesundheitspolitische Maßnahmen und Aufklärung in den Griff zu bekommen ist?« Diese Argumentation, selbst aus dem Mund eines Mannes wie Pierce, erschien Norman ausgesprochen kaltschnäuzig. »Wir sind dabei, den Betrieb umzustrukturieren«, führ Pierce fort. »Ich werde aus Biomethods ein 95
verbraucherorientiertes Unternehmen machen.« Norman sagte nichts dazu, er wartete, was noch kam. »Wenn wir uns also am Käufer orientieren wollen«, setzte Pierce wieder an, »müssen wir uns notgedrungen die Verbraucher aussuchen, auf die wir unser Interesse setzen, oder etwa nicht?« Norman nickte. Das mit dem Aidsprojekt tat ihm aufrichtig Leid. »Ich glaube nicht, dass es vernünftig ist, auf Aidspatienten zu bauen«, führte Pierce weiter aus. »Das ist nicht die Zielgruppe, die wir anstreben. Die stirbt aus. Wir brauchen einen stabilen Kundenkreis.« »Wenn wir aber etwas herstellen, das ihnen hilft, sie heilt«, wandte Norman ein. »Die Leute sind unendlich dankbar, wenn man ihnen das Leben rettet.« »Das stimmt nicht, Norman.« Der Einwurf kam von Jacqueline. Norman wandte den Blick und sah sie an. Das Licht der Schreibtischleuchte brach sich in ihren blauen Kontaktlinsen und ließ sie irgendwie dämonisch aussehen. »Die Leute hassen den, der ihnen das Leben rettet.« »Sie hat Recht, Norman«, sprang Pierce ihr bei. »Ich habe eine Menge Menschen sterben und eine Menge Menschen leben sehen. Die Letzteren hegen weitaus größere Hassgefühle als diejenigen, die sterben.« Norman hielt das Ganze für einen makabren Scherz, aber Pierces Gesicht lag im Schatten und so konnte er nicht erkennen, ob er lächelte. Und selbst wenn es ein schlechter Witz sein sollte, war Norman nicht nach Lachen zumute. Ihm war vielmehr danach zumute, seine Akten durchzusehen und festzustellen, wann er sie das letzte Mal auf den neuesten Stand gebracht hatte. »Blankenship hasst niemanden«, sagte Pierce. »Jacqueline hasst niemanden. Nicht wahr, Jacqueline?« 96
Der Scherz wurde immer makabrer. »Nein«, antwortete Jacqueline. »Ich hasse niemanden.« »Es ist auch völlig unwichtig, wer von uns wen hasst oder nicht«, sagte Pierce. »Wissen Sie eigentlich, wie viele Konsumgüter pro Jahr auf den Markt gebracht werden?« »Nein«, antwortete Norman pflichtschuldigst. »Die angenommene Zahl liegt bei zwanzigtausend«, führte Pierce aus. »Aber nur einige Hundert sind tatsächlich Neueinführungen. Das meiste sind bereits existierende Produkte unter einem neuen Produktnamen oder mit neuer Verpackung. Ein Zeichen für überholte Marketingstrategie. Heutzutage wissen Vermarkter gar nicht mehr, wie sie den Käufer finden sollen, also versuchen sie die Wurst an ihrem anderen Ende zu packen und modifizieren die Waren für den Verbraucher, den sie nicht finden können. In der Hoffnung mit einem neuen Namen oder einer anderen Verpackung einen neuen Anreiz zu bieten, will sagen, eine Marktnische zu schaffen. Jacquelines Produktidee könnte das alles radikal ändern. Wenn wir vorhersagen können, was ein Mensch zu kaufen beabsichtigt, können wir ihn sein Leben lang begleiten und immer während neue Produkte herstellen, die genau seinen Wünschen und Vorstellungen entsprechen.« Das alles hatte ein groteske, geradezu absurde Logik, aber Norman war nicht willens, seinen Standpunkt aufzugeben. »Das mit dem psychographischen Kundenprofil ist mir noch nicht so ganz klar«, begann er vorsichtig. »Wie kann man darauf ein Produkt aufbauen?« »Jacqueline hat auch dafür eine Idee«, erläuterte Pierce. »Wir werden Daten aus dem Statistischen Bundesamt verwenden und jeden Erwachsenen im Land probeweise anschreiben. Jeder Mensch reagiert in der einen oder anderen Form auf solche Post und wenn er nur darum bittet, nicht mehr behelligt zu werden.« 97
»Worauf sollen sie denn antworten?«, wollte Norman wissen. »Völlig egal«, sagte Pierce. »Notfalls locken wir sie auch mit einer Geldprämie. Weil, und nun hören Sie mir gut zu, wenn sie einen frankierten Antwortumschlag benutzen, sie den Umschlag mit ihrem Speichel anfeuchten werden um ihn zu verschließen. Winzigste Mikrospuren von Speichel liefern uns die Proben, die wir für unseren – dann hoffentlich perfektionierten – Gentest benötigen. Wir werden eine Datenbank für individuelles Käuferverhalten in diesem Land aufbauen.« Dieses Vorhaben erschien Norman schlimmer noch als verrückt. Er klang total übergeschnappt. »Überlegen Sie mal, Norman«, sagte Pierce gerade. »Die ganze Energie, die Leistung und die Kosten, die in die Entwicklung von absolut überflüssigen neuen Produkten fließen. Mit diesem innovativen Konzept können wir das alles vergessen. Stellen Sie sich bloß mal die Produktsteigerung für das Unternehmen vor!« Norman war Produktsteigerung gegenüber immer sehr aufgeschlossen gewesen, er hatte sich allerdings nie vorgestellt, dass deswegen die gesamte Aidsabteilung hops gehen würde.
6 Über die Jahre hatte Pierce gelernt sein Leben nach drei Grundsätzen einzurichten. Erstens: Niemals durfte er sich in die Gefühle seiner Mitmenschen hineindenken, da sie ihm möglicherweise eines Tages als Nahrungsquelle dienen würden. Zweitens: Niemals einen Dienstherren 98
zur Ader lassen. Und drittens: Niemals ein Opfer zu Tode bluten lassen. Der dritte Grundsatz beruhte eher auf Berechnung als auf Mitgefühl. Ein Opfer ausbluten zu lassen bedeutete einen Untoten zu schaffen. Und der würde Pierce auf der Nahrungssuche Konkurrenz machen. Untote sind unersättlich. In einem anderen Land, zu einer früheren Zeit, hatte Pierce erfahren, was es bedeutet, eine Plage von Untoten heraufzubeschwören. In der einst so schönen und lebhaften Stadt Kilwa war zum Schluss kein lebender Mensch mehr zu finden gewesen. Dann hatte sich die Seuche selbst ein Ende bereitet. Nie zuvor hatte Pierce so eine Verwüstung gesehen, nie zuvor so einen Mangel gelitten. Daraus hatte er gelernt, denen, die das Pech hatten bei einem Aderlass zu sterben, sofort einen Pfahl durch das Herz zu treiben. Das war die beste Art und Weise die Entstehung eines Untoten zu vermeiden. In Vidalon-le-Haut verbrachte Pierce die Tagesstunden im Büro der Montgolfiers. Während die Mühle schlief, zog er über Land. Er fragte sich nie, warum er selbst nicht schlafen konnte. Die anderen ruhten um ihm seine Nahrungsaufnahme leichter zu machen, das war seine Überzeugung. Den Sterblichen blieb auf diese Weise nichts anderes übrig, als mit ihm zu kooperieren, ob sie das nun wollten oder nicht. Diese nächtlichen Ausflüge erlaubten es Pierce, Land und Leute genau zu studieren. Er konnte sich in Ruhe nach möglichen Opfern umsehen und den Besuch an ihren Betten gewissenhaft planen. Der gesamte Vorgang lief äußerst diskret ab. Pierce musste sich nur viermal im Jahr nähren. Wenn er es klug anstellte, blieb dem Opfer nur eine vage Ahnung dessen, was passiert war. Die betroffene Person tat das Erlebnis meist als Traum beziehungsweise Albdruck ab. Gelegentlich hielt Pierce sich 99
jedoch nicht an seine eigene Regel, erlag der Gier und ließ das Opfer ausbluten. Dann war er gezwungen zum Pfahl zu greifen und die Leiche verschwinden zu lassen. Noch wochenlang nach so einer Völlerei machte er sich Vorwürfe ob der Umstände, die er sich damit bereitet hatte. Pierce brauchte die Nahrungsaufnahme zwar zum Überleben, aber sie nahm nur wenig Zeit in Anspruch. So konnte er fast seine gesamte Energien an die Montgolfier-Mühle geben. Er lernte die neuesten Methoden der Feinpapierherstellung. Man begann mit Leinenlumpen, die von verschiedenen Lumpensammlern geliefert wurden. Die menschliche Zivilisation schien unerschöpflich Lumpen zu produzieren. Der Mühle mangelte es nie an Rohmaterial zu einem günstigen Preis. Die Lumpen wurden in einer Mischung von Kalk und Wasser gekocht, das machte sie sauber und mürbe. Danach kamen sie in eine Zylindermahlmaschine, die nach ihrer niederländischen Herkunft Holländisch Geschirr genannt wurde. Diese Maschine wurde von den Wasserrädern der Mühle angetrieben. Die jetzt in ihre Bestandteile aufgelösten Lumpen mischte man in großen Bottichen mit frischem Wasser. Hierfür war die Bottichmannschaft, assistiert von ihren Familien, zuständig. Die Pulpe durfte breiig, aber nicht zu flüssig sein. Wenn die Beschaffenheit dieses Halbstoffes zu seiner Zufriedenheit ausfiel, tauchte der Bottichmann ein Gerät namens Deckel hinein. Am Deckel befand sich eine Art Rahmen aus Drahtnetz. Damit schöpfte der Mann Brei aus dem Bottich und begann diesen zu schütteln. Beim Schütteln verteilte sich der Papierbrei gleichmäßig und die Fasern verbanden sich miteinander. Dieser Vorgang verlangte am meisten Geschick vom Bottichmann, er musste die Beschaffenheit der Pulpe beobachten. 100
Schüttelte er zu kurz, war sie nicht gleichmäßig, schüttelte er zu lange, verschwendete er Kraft und Zeit. Danach wurde der Papierbrei im Deckel getrocknet. Die Leinenfasern verklebten bei diesem Prozess. Wenn das fertige Blatt nur noch wenig feucht war, legte der Arbeiter es zwischen Filzplatten. Papier und Filz wurden zu Stößen gestapelt und dann zwischen großen Walzen ausgepresst. Nun konnte das Papierblatt zum Trocknen aufgehängt werden. Eine Arbeit, die meist von Frauen verrichtet wurde, da sie vorsichtiger mit dem noch so empfindlichen Papier umgingen. Pierces Bekanntschaft mit der Papierherstellung erwies sich letztendlich als flüchtig. Das Arbeitsjahr war gut und die Gesellen hatten kaum Interesse an Ausschweifungen oder gar Sabotage. Im Frühling begleitete Pierce Etienne Montgolfier nach Paris. Die Herstellung von Papier beruhte auf dem Verkauf von Papier, erklärte der Fabrikant. Und Paris war der richtige Ort um feines Papier zu verkaufen. Die Montgolfiers unterhielten Räumlichkeiten im Troisième Arrondissement. Von hier aus machten die beiden Männer ihre Besuche bei der Noblesse des Schwertes und der Robe sowie bei reichen Kaufleuten und Bürgern. Man präsentierte Proben des feinsten Schreibpapiers aus Vidalon. Auf ihren Wegen sprach Etienne unablässig von der Flugkunst und seinem nächsten Ausflug im Ballon. Dieser war für Juli geplant. Die Aussicht auf dieses Abenteuer war es, was Pierce hielt. Etienne hatte ihm einen Platz im Korb versprochen. Einer ihrer Kundenbesuche führte Montgolfier und Pierce in die Reveillon-Tapetenfabrik im Troisième. Dort trafen sie Monsieur Reveillon persönlich. Vom ersten Moment an verband Montgolfier und Reveillon ein Band der Freundschaft. Den gesamten Nachmittag sprachen sie 101
von der Luftschifffahrt, diskutierten die Vorzüge verschiedener Treibgase und beklagten die Schwierigkeiten mit Arbeitern und reisenden Händlern. Montgolfier vergaß über den Gesprächen völlig sein Papier zu präsentieren. Doch er hatte in dem Wissenschaftler und Industriellen eine verwandte Seele gefunden, die seinen größten Respekt und seine Bewunderung fand. Montgolfier traf sich von da an regelmäßig mit dem Fabrikbesitzer. Beim vierten Treffen bot Reveillon ihm an in seiner Fabrik eine Werkstatt einzurichten. Montgolfier nahm das Angebot sofort an. »Es ist der ideale Ort«, erklärte er Pierce später, »um Ballons zu bauen. Mein Bruder Joseph kann uns Papier und Baupläne von Vidalon herüberschicken, die Arbeiter werden wir vor Ort engagieren.« »Erhoffen Sie sich einen Vorteil davon, die Ballons hier in Paris statt in Vidalon zu bauen?«, fragte Pierce. Montgolfier lächelte wie ein wohlwollender Lehrer, der sich über einen klugen Schüler freut. »Unser Projekt stößt gewöhnlich bei den Mitbürgern auf großes Interesse«, sagte er. »In Paris wohnen weit mehr Menschen als in Vidalon. Wir bereiten der Luftschifffahrt einen Weg in die Zukunft, wenn wir so vielen Leuten wie möglich beweisen, dass der Mensch fliegen kann.« Die Reveillon-Fabrik war ein ähnlich unbezwingbares Gebäude wie die Bastille. Pierce vermutete allerdings, dass die Bastille besser belüftet war. Um die Räumlichkeiten zu entrümpeln und Werkbänke aufzubauen stellte Pierce Tagelöhner ein. Er suchte diese Arbeiter auf der Place de Grève bei Sonnenaufgang aus. Dort fand sich jeden Morgen eine riesige Schar Arbeitssuchender ein. Pierce wählte die, die ihm am nächsten standen. Er hatte keinerlei andere Anhaltspunkte. Er erwartete deshalb auch nicht viel von den Männern, als er sie zur Fabrik führte. 102
Sie schwiegen, als sie den dunklen Raum hinten in der Fabrik betraten, der für einen Tag ihr Arbeitsplatz sein sollte. Es hatte den Anschein, dass sie nichts anderes vom Leben erwarteten als in dunkle, fensterlose Gebäude getrieben zu werden. Den ganzen Morgen kommandierte Pierce die Tagelöhner herum wie lebende Möbelstücke. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen von geringerer Bildung und gesellschaftlichem Stand oft instinktiv wussten, wozu er in der Lage war. Bei jeder Anweisung, und trug er sie noch so sanft und ruhig vor, schreckten sie zusammen und machten sich hastig an die Arbeit. Für Pierce waren sie alle Narren. Hätte ihn einer von ihnen gefragt, er hätte ihm ohne Zögern erklärt, dass ihm ihr Wohl an Leib und Seele völlig egal war. Mittags wies er sie an zu ruhen. Alle, bis auf ein oder zwei der Arbeiter, drückten sich in die entfernteste Ecke. Pierce nahm seine Jacke vom Haken und machte sich auf den Weg zu Montgolfier um über die Fortschritte der Arbeit zu berichten. Als er auf die Straße trat, rief jemand nach ihm. »Monsieur!« Pierce hielt an und wandte sich um. Ein Mann trat aus dem Toreingang ins Licht. Er nahm seine Mütze vom Kopf und ging auf Pierce zu, aber er hielt die Mütze locker an der Seite und schien im Gegensatz zu den anderen Arbeitern eher interessiert als ängstlich. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte er. »Was willst du?« »Wenn Sie in diesem Gebäude mehr vorhaben als Lumpen sortieren, müssen Sie die Beleuchtung verbessern.« Pierce befand, man könnte den Ton des Mannes respektlos nennen, doch Aufsässigkeit war ein menschlicher Begriff, der sein Selbstbewusstsein nicht zu beleidigen 103
vermochte. »Kennst du dich denn mit Beleuchtung aus?«, fragte Pierce.« »Ich besitze gesunden Menschenverstand.« Der Mann knotete sich einen verschwitzten Lappen vom Hals und wischte sich damit den Dreck von den nackten Beinen. Er stopfte den Fetzen in die Tasche seiner geflickten und verschlissenen Jacke. Pierce trieb ein Reflex dazu, auf seine eigenen Beine zu sehen. Aber die Strümpfe waren noch durchaus präsentierbar. »Was schlägst du vor?« »Eine Reihe von Fenstern unterm Dach«, sagte der Mann. »In der Höhe lassen sie das Licht rein, ohne dass die Leute auf der Straße hineinsehen können. Mit Fensterläden wären sie so gut wie einbruchssicher.« »Was würde so eine Arbeit kosten?« »Ungefähr hundert Livres für Material und Männer. Es wäre einfacher gewesen, hätte der Maurer die Fenster gleich mit eingebaut. Aber wenn man sich mit Maurerarbeit auskennt, weiß man schon, welche Steine man entfernen darf.« »Wie kommt es, dass du dich so gut auskennst?«, fragte Pierce. »Ein Mann kann aus vielen Gründen die Mitgliedschaft in seiner Zunft verlieren.« Die Zünfte waren zwar schon vor acht Jahren verboten worden. Doch Pierce wusste, dass eine Einstellung so lange lebt, wie die Menschen, die sie verinnerlicht haben. Es war durchaus möglich, dass ein Handwerker aus seiner Zunft geworfen wurde und damit gezwungen war der harten Welt der Tagelöhner beizutreten. Gleichgültig, wie es zu der Ächtung kam und wie sie ausgeführt wurde, Pierce war sich sicher, dass der Mann vor ihm Opfer überzogener Moralvorstellungen irgendeiner Gemein104
schaft geworden war. »Bist du ein Fachmann auf diesem Gebiet?«, wollte Pierce wissen. »Ich kann die Arbeiten ausführen, aber die Zunft würde Ihnen sicher Ärger machen, wenn Sie mich einstellen.« Der Gedanke, eine Zunft könnte versuchen ihm Ärger zu machen, brachte Pierce beinahe zum Lachen. Er bremste sich. »Ich frage Monsieur Montgolfier, ob er Fenster wünscht.« Der Mann versuchte ein Lächeln. Er hatte offensichtlich keine Übung mehr darin. Montgolfier wollte in der Tat Fenster in der Werkstatt und Monsieur Reveillon willigte ein. Also beauftragte Pierce seinen neuen Arbeiter mit den Umbauarbeiten. Man wollte schon am folgenden Tage beginnen. Am nächsten Morgen wartete der Arbeiter, der Jacques hieß, an der Werkstatt. Pierces traf mit einer neuen Mannschaft Tagelöhner von der Place de Grève ein. Jacques trug einen hölzernen Kasten voller Utensilien und Geräte bei sich, von denen Pierce annahm, sie müssten Maurerwerkzeuge sein. Mit ihnen begann Jacques die Werkstatt zu vermessen, während die Tagelöhner weiter aufräumten. Ab und zu bat er einen der Männer zu sich um das Ende einer Schnur oder ein Senklot zu halten. Dann bat er Pierce um Papier, setzte sich auf einen Bordstein auf die Gasse und zeichnete Entwürfe. Als er mit seinen Entwürfen zufrieden war, schickte er einen Arbeiter los Material für ein Gerüst zu besorgen. Er befehligte die anderen Männer auf eine Art und Weise, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, und Pierce mischte sich nicht ein. Den ganzen Tag lang beobachtete er fasziniert, mit welcher Anmut Jacques sich bewegte: mühelos, zielbewusst 105
und leicht. Als der Arbeitstag mit der Dämmerung zu Ende ging, war die Werkstatt sauber und das Gerüst stand fertig an der Wand. »Morgen fangen wir an die Steine herauszuklopfen«, erklärte Jacques. Pierce zahlte ihm den doppelten Lohn, dankte ihm und schickte ihn nach Hause. Der Arbeiter akzeptierte die Münzen als das, was ihm zustand, suchte seinen Werkzeugkasten und machte sich auf den Heimweg in Richtung Arbeiterquartiere. Am nächsten Tag wies Pierce Jacques an die Arbeiten zu überwachen und bat ihn am folgenden Morgen mit zur Place de Grève zu gehen um neue Arbeiter anzuheuern. Jacques nickte nur und ging seiner Arbeit nach. Er schien die anderen mühelos zu dirigieren, sodass Pierce staunte. Es war selten, dass ein Mann sowohl die Fertigkeiten und das Fingerspitzengefühl eines Handwerkers als auch die Selbstsicherheit und Überzeugungskraft eines Vorarbeiters besaß. Für Pierce blieb nichts zu tun. Doch das machte ihm nichts. Er war in der Lage stundenlang müßig an einer Stelle zu stehen. Und genau so verbrachte er die nächsten Wochen, wenn er nicht gerade mit Etienne Montgolfier Kunden besuchte. Er stand den ganzen Tag und beobachtete Jacques und seine Tagelöhner. Abends ging er zu den Montgolfiers und berichtete über die Fortschritte des Projektes. Eines Tages, ein paar Wochen waren vergangen und das letzte Fenster wurde gerade eingesetzt, erhielt Pierce eine Nachricht von Monsieur Montgolfier, der ihn rief. Pierce fand Montgolfier in seinem Studierzimmer. »Perce«, sagte der Mühlenbesitzer. »Das Papier für den Ballon und die Konstruktionspläne werden morgen ein106
treffen.« Pierce nickte. »Gibt es jemanden in der Werkstatt, der vertrauenswürdig genug ist sie entgegenzunehmen?« »Ja«, sagte Pierce. »Seine Name ist Jacques.« »Gut«, meinte Montgolfier. »Ich brauche dich morgen an meiner Seite. Wir werden den Bischof von Autun besuchen um ihm Papier anzubieten.« »Wir wollen bis nach Autun reisen?« »Eine Reise nach Autun wird nicht nötig sein«, sagte Montgolfier. »Der Bischof lebt in Paris.« Der folgende Tag sah die beiden in der Residenz des Bischofs. Montgolfier meldete sich an und reichte dem Diener seine Karte. Der Mann war etwa achtzehn Jahre alt und trug seine Perücke mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit. Pierce hatte beobachtet, dass in Paris die Perücken aus der Mode gekommen waren. Der Einfluss Amerikas, ohne Frage. Aber die obere Gesellschaft würde ihrer Dienerschaft diese Mode wohl noch mindestens zehn Jahre lang zumuten. Der junge Mann nahm Montgolfiers Karte und führte die beiden in ein Vorzimmer, das offensichtlich den weniger wichtigen Besuchern des Bischofs vorbehalten war. Er verbeugte sich und verließ den Raum um die Karte in die Tiefen des Hauses zu tragen. Pierce konnte eine Situation wie diese nicht erschüttern. Doch Montgolfier war spürbar enttäuscht darüber, nicht in einen würdigeren Raum geführt worden zu sein. Er lief herum, studierte die schäbigen Ölgemälde in ihren schlichten Rahmen und spähte unter die Stühle um den Herstellernamen zu entdecken. »Ich bezweifle sehr, dass er uns empfangen wird«, sagte Montgolfier zu der Unterseite eines Stuhles. »Bis jetzt hat er es noch nie getan. Doch ich gebe die Hoffnung nicht 107
auf ihn irgendwann einmal zu erwischen wenn er gerade Papier braucht.« Pierce verblüffte die Unüberlegtheit dieses Unternehmens. Es gab sicherlich noch andere Wege den möglichen Kunden dann zu besuchen, wenn er Bedarf an der angebotenen Ware hatte. Montgolfier stellte den Stuhl wieder hin und sah Pierce an. »So gut wie alle Pariser haben unseren Ballonflug über den Champ de Mars verfolgt«, sagte er. Diese Bemerkung war nicht unbescheiden, wusste Pierce. Er schätzte Montgolfier für seine Ehrlichkeit und Direktheit. »Ich frage mich, ob wir nicht verlauten lassen sollten, dass zur Herstellung der Ballone Montgolfier-Papier verwendet wird«, fuhr der Mühlenbesitzer fort. »Hat denn die Ballonfahrt etwas mit der Qualität von Schreibpapier zu tun?« Pierce zeigte sich skeptisch. »Nein«, seufzte Etienne. »Ich nehme an, nicht.« Pierce bereute seinen Einwand auf der Stelle. Es war erstaunlich, wie schnell eine Idee starb, viel schneller noch als ein Mensch. Er überlegte noch, wie er das Thema wieder anschneiden könnte, da bewegte sich die Türklinke. Leise wie ein Reh betrat der Diener den Raum. »Seine Exzellenz wird Sie nun empfangen, Monsieur.« Die Freude über diese unerwartete Gnade sprach aus Montgolfiers Bewegungen, während sie dem Diener den Korridor entlangfolgten. Sie fanden den Bischof in einem Raum mit wundervollem Blick auf die gepflegten Gärten. Seine Exzellenz saß an einem Schreibtisch, der groß genug war eine der ärmeren Familien von Paris darin zu behausen. Er trug ein weißes Hemd, Krawatte und einen Seidenmantel in der Farbe alten Weines. Sein Haar berührte fast den hohen Kragen seines Mantels. Auf Pierce machte dies einen 108
sehr modischen, allerdings wenig geistlichen Eindruck. Der Bischof erhob sich und kam hinter seinem Schreibtisch hervor. Er trug seidene Kniehosen, die den Blick auf einen Klumpfuß freiließen. Doch er bewegte sich so geschickt, dass ein unaufmerksamerer Mensch als Pierce die Behinderung niemals bemerkt hätte. Der Bischof kam zu ihnen und schüttelte Montgolfiers Hand wie ein bürgerlicher Kaufmann. Montgolfier war überrascht und dankbar. Dann geschah das Undenkbare. Der Bischof wandte sich Pierce zu und reichte auch ihm die Hand. Pierce hatte keine Wahl, er musste sie ergreifen. Gewöhnlich vermied er es, Menschen zu berühren, da er wusste, dass ihnen die Temperatur und die Beschaffenheit seiner Haut unangenehm war. Aber das Lächeln des Bischofs verriet kein Unbehagen. »Ich heiße Perce und bin der Sekretär des Monsieur Montgolfier.« »Es ist eine Freude, Sie kennen zu lernen, Monsieur«, sagte der Bischof. Gewöhnlich hielt Pierce sich bei Besuchen sehr zurück. Er war es nicht gewohnt, mehr Beachtung zu finden als ein Arbeitsmittel, wie das Terminbuch zum Beispiel, das er seinem Herrn führte. Alles an dem Bischof war Anmut und Zuvorkommen. Nie zuvor war Pierce so angetan von einem menschlichen Wesen. Er erinnerte sich, dass man über den Bischof sagte, sein Gesichtsausdruck ließe sich nicht einmal durch einen Tritt in den Hintern verändern. Was für ein ungewöhnlicher Mann. Der Bischof geleitete seine beiden Gäste zu einer Sitzecke auf der anderen Seite des Raumes und bat sie in zwei großen Polstersesseln neben dem Kaminfeuer Platz zu nehmen. Er wartete, bis sie saßen, dann ließ er sich etwas mühevoll in einem dritten Sessel nieder. Dabei 109
gestikulierte er mit einem Taschentuch. Der Bischof roch nicht wie ein Tabakschnupfer. Pierce fragte sich, ob das Taschentuch nicht einfach ein theatralischer Effekt war um die Leute von seiner Behinderung abzulenken. Als er es sich bequem gemacht hatte, ließ der Bischof das Taschentuch anmutig im Aufschlag seines Mantels verschwinden. »Als ich noch ein junger Mann war«, sagte er, »hätte ich es mir niemals träumen lassen, dass ich eines Tages einem Flieger begegnen würde.« Montgolfier war völlig überwältigt von dieser Bemerkung. Er errötete sogar. »Das ist doch nicht der Rede wert.« »Oh, Sie sind zu bescheiden«, erwiderte der Bischof. »Sie überwinden die Schwerkraft, Sie öffnen den Menschen den Himmel… Monsieur, Sie sind der Vertreter einer neuen Zeit.« Was für eine Verkehrung der Situation, dachte Pierce. Der weltgewandte, modische Bischof katzbuckelt vor dem blassen, unauffälligen Bürger und Wissenschaftler. Montgolfier errötete wiederum und fand seine Sprache nicht. Aber der Bischof fuhr einfach fort, als hätte ihm der Papierfabrikant auf geistreiche Art geantwortet. »Sie produzieren auch Papier, nicht wahr?« »Nun, ja, in der Tat.« »Sie können sich vorstellen, dass ein Bistum ohne Papier nicht arbeiten könnte. Dürfte ich es wagen zu hoffen, seine Papierbedürfnisse mit Montgolfier-Papier zu decken? Ich weiß, ich bitte um viel. Ihre Mühle wird sicher kaum all den Aufträgen nachkommen können. Schließlich haben Sie der Öffentlichkeit mit Ihren Ballons ein Beispiel für die Qualität Ihres Papiers gesetzt.« Hier griff der Bischof die Idee auf, die Pierce zuvor so gnadenlos niedergemacht hatte, nämlich den Ballon als Qualitätsbeweis für Montgolfier-Papier einzusetzen. Pierce wusste jetzt, dass er es in der Tat mit einem außer110
gewöhnlichen Menschen zu tun hatte. Dieser Mann setzte seine Klugheit auf praktische Art ein. Hier war jemand, der das Gefüge von Verbindungen auf eine Art verstand, die Pierce nur bewundern konnte. »Aber selbstverständlich wäre es eine große Ehre für meine Familie, Eure Exzellenz mit Papier zu versorgen«, beteuerte Montgolfier. »Die Nachfrage ist auch nicht so rege, wie man annehmen möchte.« Der Bischof lächelte breit. »Du meine Güte, wie erfreulich!« Er schien sich zur Ordnung zu rufen. »Es tut mir Leid. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich mich an etwas erfreue, das für Sie ein Unglück ist. Aber wenn Ihre Mühle noch Kapazitäten frei hat, würden Sie mir einen großen Gefallen damit erweisen, auch einige meiner Partner und Bekannten als Kunden aufzunehmen. Es würde mein Ansehen in der Stadt beträchtlich erhöhen.« »Aber Eure Exzellenz ist zu gütig«, stotterte Montgolfier. »Es wäre ein Segen für unser Geschäft, Zugang zu Ihren gesellschaftlichen Verbindungen zu erhalten.« »Ich bitte Sie, Monsieur«, erwiderte der Bischof. »Ich betrachte es als einen großen Gefallen an mich.« »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das danken soll«, sagte Montgolfier. »Führe ein christliches Leben und sei barmherzig zu allen«, sagte der Bischof nonchalant. »Die Unglücklichen brauchen immer unsere Unterstützung. In meinem Bistum in Autun, zum Beispiel, leben Familien in großer Not.« Einen Moment lang herrschte Stille. Pierce konnte sehen, wie Montgolfiers Hirn arbeitete. »Aber Eure Exzellenz«, sagte er schließlich. »Vielleicht kann ich einigen dieser Familien behilflich sein?« »Ich möchte Ihnen nicht eine Reise nach Autun zumu111
ten«, meinte der Bischof. »Darf ich dann vielleicht über Eure Exzellenz helfen?«, schlug der Mühlenbesitzer vor. Den Bischof schien die Idee zu überraschen. »Ich nehme an, das ginge.« Er dachte einen Moment nach. »Ja, ich würde mich glücklich schätzen Ihre Hilfe zugunsten der notdürftigen Familien in Autun entgegenzunehmen.« Er verfiel ins Grübeln und Montgolfier wartete. Schließlich sprach der Bischof. »Ich bereite Ihnen eine Liste meiner Pariser Partner und Freunde, die Interesse daran haben, Papier zu beziehen. Mein Diener wird sie Ihnen bringen. Wenn Sie dann meinen Bedürftigen ein Geschenk machen wollen, sagen wir von dreißig Livres pro Namen auf der Liste.« Montgolfier verließ den Bischof mit einer großen Bestellung in der Tasche. Selten hatte Pierce den Mühlenbesitzer so glücklich gesehen. Egal ob Montgolfier selbst verstanden hatte, was da vor sich gegangen war, Pierce hatte begriffen, dass man eine Liste von Namen in ein Geschäft verwandeln konnte. Vielleicht lag eine Zukunft darin.
7 Norman fuhr nachdenklich nach Hause. Wie wollte Pierce das mit der Lohnsteuer handhaben, wenn er Gratifikationsschecks ausstellte? Wie waren die Kompetenzen in einer Firma verteilt, wo die stellvertretende Leiterin der Personaladministration ohne Absegnung durch den Abteilungsleiter Schecks ausschrieb. Was würde mit den Angestellten des Aidsprojektes geschehen, deren Abtei112
lung aufgelöst wurde? Vor dem Haus angekommen stellte Norman den Motor ab und blieb noch eine lange Weile im Wagen sitzen. Er fühlte sich ausgeschlossen und gefangen zugleich und er hatte keine Vorstellung, welche Rolle er bei der Umstrukturierung der Firma übernehmen sollte beziehungsweise, ob er das überhaupt wollte. Am besten wäre es, wenn er die ganze Situation einmal mit Gwen besprechen würde. Sie verstand wesentlich mehr von Betriebsleitung und Firmenpolitik als er. Sie kannte sich aus. Er sah, dass in der Küche und im Wohnzimmer Licht brannte, außerdem hatte Gwen die Außenbeleuchtung für ihn angelassen. Die Schlafzimmerfenster waren dunkel. Über der Küche hing der würzige Duft von Zwiebeln, Käse und Oregano, auf dem Küchentisch lag ein großer Pizzakarton. Auf dem Deckel war mit schwarzem Filzschrift Normans Adresse notiert, daneben klebte ein Bestellzettel, auf dem die Kästchen für Peperoni, Extrakäse und Zwiebeln angekreuzt waren. Zwischen Norman und Gwen herrschte ein stillschweigendes Übereinkommen niemals eine Pizza mit nach Hause zu bringen. Sie beide aßen leidenschaftlich gern Pizza, fürchteten jedoch, dass die Kinder einen ungesunden Appetit auf Pizza entwickeln würden. Wenn sie als Eltern sich nun diesen Luxus selbst auch nicht gönnten, trug das mit Sicherheit zur Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit bei. Insofern war Norman enttäuscht, dass Gwen ihm praktisch in den Rücken fiel. Er klappte den Kartondeckel auf. Die Schachtel war leer bis auf ein fettiges Einwickelpapier. Norman fand Justin und Megan im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen. Über den Bildschirm flimmerte ein Info113
mercial über Stellensuche. Auf dem Couchtisch standen drei Teller. Justins Teller und noch ein anderer waren leer gegessen, auf Megans Teller lagen ein paar Pizzakrusten und ein Häufchen Zwiebeln. »Wo ist eure Mutter?« »Im Bett«, erklärte Megan. »Habt ihr außer Pizza noch etwas gegessen?« »Gab ja nix.« Justin wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Norman sah sich um. Er konnte keinerlei Hinweis darauf entdecken, dass Gwen den Kindern einen Salat bereitet hatte, bevor sie sich die Bäuche mit Pizza voll schlugen. »Ich schau mal nach Mami«, sagte er. Die Schlafzimmertür war geschlossen. Norman öffnete sie leise und spähte ins Zimmer. Es lag im Dunkeln. Auch hier deutlicher Pizzageruch. Aus Richtung der Betten drang ein leises Schluchzen an Normans Ohr. Er trat ein und knipste die Nachttischlampe auf Gwens Seite an. Sie lag noch völlig angezogen auf dem Bett. Ihre Augen waren rot gerändert und ihr Gesicht zeigte Tränenspuren. An ihrem Mundwinkel klebte ein fettiger, kleiner Tomatenfleck. Norman setzte sich auf die Bettkante. »Was ist passiert, Kleines?« Gwen stützte sich auf die Ellenbogen und bohrte ihr Gesicht in Normans Brust. Sie roch nach Käse und Peperoni. »Ach, Norman. Ich hab so auf dich gewartet. Mein Mittagessen im Sky Room, es war…« Gwen brach wieder in Tränen aus und Norman verstand kaum noch etwas. »Was war das?«, fragte Norman. »Er hat mir gesagt, dass dieser Schwachkopf Stevenson stellvertretender Personalchef wird.« Die letzten drei Worte gingen in heftigem Schluchzen unter, aber Norman 114
hatte auch so verstanden. »Das heißt Vizepräsident?« »Ja, genau. Vizepräsident!« schnaubte Gwen verächtlich. »Und nicht ich!« Von Schluchzern begleitet, erzählte Gwen ihre Geschichte. »Man hat mich übergangen. Rod meinte, ich sei so aggressiv. Er sagte, auf Führungsebene sei Teamgeist gefragt. Nach dem Mittagessen musste ich die ganze Zeit so tun, als ob nichts geschehen wäre.« Nun verlor Gwen endgültig die Fassung. Sie löste sich aus Normans Armen und vergrub das Gesicht in ihrem Kopfkissen. Norman blieb eine Ewigkeit neben Gwen sitzen und tröstete sie. Ihre Verzweiflung brach ihm fast das Herz. Er streichelte ihren Rücken und murmelte tröstende Worte, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ. Sie tat ihm unendlich Leid. Sie hatte noch nie zuvor so eine bittere Erfahrung machen müssen und es traf sie umso härter. Norman hätte jetzt ebenfalls Trost gebraucht, nur war er offensichtlich nicht an der Reihe. Man kann jemandes Weltuntergang nicht mit dem eigenen Weltuntergang vertauschen, selbst wenn dieser Jemand die eigene Frau ist – und schon gar nicht, wenn dieser Jemand die eigene Frau ist. Abgesehen davon, was hätte er denn sagen sollen? Vielleicht: Gwen, hör mal eben mit Weinen auf. Wenn du meinst, du hast ein Problem, hör dir erst meines an. Mein Chef und meine Assistentin wollen einen Bluttest für Käuferverhalten entwickeln. Irgendwie klang das nicht nach einem echten Problem. Als Gwens Tränen allmählich versiegten, half Norman ihr beim Ausziehen und steckte sie ins Bett. Mit seinem Taschentuch wischte er ihr den Mund ab. Dann steckte er ihre Bettdecke um sie fest, wie bei einem Kleinkind, und ging wieder nach unten. Die Kinder saßen immer noch vor dem Fernseher. Dies115
mal erläuterte ein Typ mit Föhnfrisur die Vorteile eines selbstbewussten Auftretens bei einem Bewerbungsgespräch. »Ist Mami okay?«, wollte Megan wissen. »Sie hat heute eine herbe Enttäuschung im Büro erlebt.« Norman erinnerte sich an die Flasche Scotch im Hängeschrank über der Spüle. Sie war erste Hilfe und Zuflucht in Momenten der Verzweiflung und Mutlosigkeit. »Ihr zwei geht jetzt ins Bett.« »Ist doch aber erst acht Uhr«, maulte Justin. »Genau. Acht Uhr und Zeit fürs Bett.« »Die Sendung ist aber noch nicht zu Ende.« Norman wollte in der Küche sitzen und sich in aller Ruhe betrinken, aber seine Kinder brauchten ihn dabei nicht zu sehen. »Du kannst sie ja aufzeichnen und den Rest morgen ansehen. Ich will keine Widerrede.« Er steuerte auf die Küche zu. »Aber Papi…!« Norman fuhr herum. »Marsch ins Bett, hab ich gesagt! Ist das klar?« Er war selbst von seinem Befehlston überrascht. Gewöhnlich pflegte er seine Kinder nicht anzuschnauzen. Die beiden starrten ihn erschrocken an und trollten sich. »Zähneputzen nicht vergessen«, rief Norman hinter ihnen her. »Und ja nicht schummeln! Oben anfangen, von vorne nach hinten arbeiten!« Er ging in die Küche, griff sich den Pizzakarton und versuchte ihn so zusammenzufalten, dass er ihn in die Mülltonne stecken konnte. Er ließ sich nur schwer knicken, also schlug Norman den Karton mehrmals auf den Boden. Nach mehreren Schlägen hielt er inne und fragte sich, ob er noch alle beisammen hatte. Schließlich stellte er sich auf zwei Ecken der Schachtel, beugte sich herunter und zog die beiden gegenüberliegenden Kanten so lange hoch, bis die Pappe in der Mitte 116
brach. Nun konnte Norman die Teile zusammenklappen. Um sicherzugehen sprang er noch ein paar Mal auf dem Karton herum. Ohne diese Prozedur hätte die Pappschachtel vermutlich noch Jahrhunderte überlebt und gewiss ebenso gut als Denkmal für den menschlichen Fortschritt gedient wie ein modernes Firmenkonsortium. Schließlich warf Norman die Schachtel in den Müll, holte die Flasche Scotch aus dem Küchenschrank und schenkte sich drei Finger breit ein. Dann setzte er sich an den Küchentisch und begann hastig zu trinken. Er überlegte, ob er zu den Kindern hinaufgehen und sie beim Zähneputzen kontrollieren sollte. Er dachte daran, wie er sich die Zähne putzte. Dann dachte er an Pierce und wie der sich wohl die Zähne putzte. Ob dessen Zähne das überhaupt brauchten? Sie sahen so verdammt teuer aus, dass sie eigentlich mit Selbstreinigungsfunktion ausgestattet sein müssten. Norman nahm wieder einen kräftigen Schluck. Als der Whisky warm durch seine Kehle rann, wurde ihm erst bewusst, wie fröstelig er sich gefühlt hatte. Wie soll man damit fertig werden, wenn der eigene Chef mit der eigenen Untergebenen eine Allianz eingeht? Norman nippte an seinem Whisky und dachte an Blankenship und wie der sein Problem mit seinem Chef gelöst hatte. Aufgrund dessen, was er mit Blankenship erlebt hatte, fühlte Norman sich ihm sehr verbunden, ja, auf eine geradezu verrückte Art vermisste er ihn sogar. Es klingelte an der Haustür. Es war erst kurz nach acht, also nahm Norman an, dass es Leute der Aktion Kampf den Drogen waren, die seit Wochen in der Nachbarschaft herumgingen und für ihren guten Zweck sammelten. Norman hatte ihnen gestern auch eine kleine Spende gegeben und sich dabei gefragt, was sie mit dem Geld eigentlich anfangen wollten. 117
Wofür brauchte diese Aktion Geld? Um Waffen zu kaufen? Norman stellte sein Glas auf den Küchentisch, erhob sich mühsam und ging in die Halle. Er knipste die Außenbeleuchtung an und öffnete die Haustür. Sein Blick fiel auf einen weißen Haarschopf. Es war nicht die Kampf-den-Drogen-Aktion. Draußen stand Pierce. »Norman«, begann Pierce. »Sie sahen etwas verstört aus, als sie das Büro verließen. Ich wollte nur nachsehen, ob Sie sicher nach Hause gelangt sind.« Normans Empfindung schwankte zwischen Furcht und Wut. Wenn ein Mann zu Hause nicht mehr sicher ist, wo dann? »Darf ich hereinkommen?«, fragte Pierce. »Nein.« Norman war selbst verblüfft. Der Scotch in ihm musste das gesagt haben. Er war sonst nicht so unhöflich. Ein feines Lächeln spielte um Pierces Lippen. »Schon gut. Die meisten Leute halten es für bekömmlicher, mich nicht hereinzubitten.« Norman konnte sich auf diesen Satz keinen Reim machen. »Was natürlich nicht stimmt«, fuhr Pierce fort. »Es spielt im Übrigen keine Rolle, ob ich hereingebeten werde oder nicht.« »Warum sind Sie hergekommen?«, wollte Norman wissen. »Um Sie zu beruhigen«, erklärte Pierce. »Brauche ich eine Beruhigung?« »Eine Menge Leute haben heute ihren Job verloren, Norman«, sagte Pierce. »Und es werden noch mehr sein, bis der Betrieb richtig funktioniert. Sie jedoch werden nicht dazugehören. Ich brauche Sie.« Es schmeichelte Norman, dass Pierce ihn brauchte, trotzdem blieb er misstrauisch. »Ich kenne mich in strategischer Planung aus, Norman, 118
und ich weiß, wie man Leute organisiert. Ich weiß, wie man ein Unternehmen führt und wie man Geld macht. Weniger gut bin ich in der Kontaktpflege. Können Sie das verstehen?« »Nein«, sagte Norman. »Das überrascht mich nicht.« Pierce lächelte. »Sie sind kontaktfreudig und können sich nicht vorstellen, dass irgendjemand diese Fähigkeit nicht hat. Dafür bedarf es aber eines Sympathiegefühls, das ich nicht habe.« »Denken Sie daran, wer immer auch übrig bleibt, wenn ich meinen Sanierungsauftrag abgeschlossen habe, wird traumatisiert und verbittert sein. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe das alles schon erlebt. Diese Leute werden Ihre Hilfe brauchen um die Welt wieder begreifen zu lernen.« »Wieso brauchen Sie mich dazu?«, entgegnete Norman. »Warum können Sie die Angestellten nicht einfach anständig behandeln.« »Ich kann mein Wesen nicht ändern, Norman.« Ein seltsamer Ausdruck trat in Pierces Gesicht. »Wir können sein, was wir wollen«, bekannte Norman tapfer, obwohl er selber nicht so recht daran glaubte. »Sie wissen es besser, Norman«, konterte Pierce. »Wenn ich Ihnen jetzt und hier einen Holzstock reichen würde, könnten Sie ihn mir in die Brust rammen?« Norman fragte sich, warum Pierce immer so grauenhaft drastische Bilder bemühen musste. »Ist das wieder so eine Schafottfrage?« »Sie würden es nicht tun. Könnten es nicht tun, Norman.« Pierce überging seinen Einwand. »Weil Sie zu so einer Tat nicht fähig sind.« Er starrte wie geistesabwesend in die Dunkelheit. »Sie könnten niemals vorsätzlich jemanden verletzen.« Pierces Blick war wieder auf Norman gerichtet. »Und ich bin nicht in der Lage eine Bezie119
hung zu jemandem herzustellen. Jeder Mensch hat andere Qualitäten, andere Fähigkeiten. Sie zu bündeln und in den Dienst einer gemeinsamen Sache zu stellen, auf ein gemeinsames Ziel auszurichten, das sind die fundamentalen Aufgaben eines Managers.« Norman überlegte krampfhaft, wie er diese Unterhaltung beenden konnte. »Ich muss die Kinder ins Bett bringen«, stieß er hervor und bedauerte seine Worte sogleich wieder. Pierce wissen zu lassen, dass er Kinder hatte, würde dessen Position noch stärken. »Natürlich.« Pierce lächelte wieder, aber diesmal ein freundliches, zivilisiertes Lächeln. »Ich möchte Sie nicht länger stören. Sie sollen nur wissen, dass wir zum selben Team gehören. Und nichts ist gegenwärtig wichtiger als Teamwork.« Norman schluckte. Natürlich war nichts so wichtig wie Teamwork. Daran glaubte er mit jeder Faser seines Herzens. Ihm war nur nicht klar gewesen, dass Pierce ebenfalls daran glaubte. Pierce spickte seine Unterhaltungen mit brutalen Bildern und Beispielen und er ging auch irgendwie rigoros zu Werk – dennoch, sie bildeten ein Team. Andererseits, musste Norman sich eingestehen, wusste er nicht zu sagen, ob er das nun besonders gut fand. Also schlurfte er, nachdem Pierce gegangen war, in die Küche zurück zu seiner Whiskyflasche.
8 Man reiste über Land nach Lyon, wo der Stapellauf des Ballons stattfinden sollte. Drei Tage waren sie unterwegs; 120
eine Tatsache, die Etienne Montgolfier als schreiende Ungerechtigkeit beklagte. Er lag den verschiedenen Honoratioren, die als Gäste den Ausflug begleiteten, den ganzen ersten Tag lang damit in den Ohren. »Es ist, als reiste man im Mittelalter, drei ganze Tage werden wir hier durchgeschüttelt, wenn wir doch die Strecke mit einer Flotte Ballons sehr kommod in der Hälfte der Zeit geschafft hätten. Für die Zukunft sehe ich voraus, dass Ballone Waren transportieren und so den Handel von einem Ende des Landes zum anderen beleben.« Seine Gäste, zum großen Teil Aristokraten und Mitglieder der Regierung, waren beeindruckt. Sie hingen wie gebannt an seinen Lippen. Es herrschte eine gespannte Vorfreude. Wenn je das Gespräch verebbte, starrten alle zu dem Begleitwagen hinüber, auf dem die gepolsterte Kiste mit dem Ballon geladen war. Obendrauf thronte festgezurrt der große Korb. Die Reisegesellschaft hielt an für die Nacht. Als alle schliefen, machte sich Pierce davon. Bei Dämmerung wanderte er über Felder weit ab von der Straße. Es machte Pierce Spaß, über Wiesen und Äcker zu gehen und über Steinmauern zu springen. Er erstieg die Kuppe eines kleinen Hügels und entdeckte etwas unten im Talkessel: Eine Herde Schafe lief in der Sohle über die Wiese, umkreist von einer kleinen schwarzen Gestalt. Am Fuße des Hügels stand ein Mann. Er hörte Pierce nicht, da der Wind gegen ihn stand. Also konnte Pierce die Szene unbemerkt beobachten. Die kleine schwarze Gestalt war ein Schäferhund, der nah am Boden in Halbkreisen um die Schafe rannte und sie damit nah beieinander hielt. Manchmal umkreiste er die Herde auch ganz. Indem er jedes Mal etwas von seinem vorherigen Kurs abwich, dirigierte er die unruhigen 121
Tiere in eine bestimmte Richtung. Und zwar brachte er die Schafe genau dorthin, wo der Mann sie haben wollte. Dieser teilte dem Hund seine Wünsche durch Pfiffe und Signale mit dem Stock mit. Oft rief er auch einfach »Hopp! Hopp!« Wenn der Mann auch ständig Zeichen gab, trabte die Herde doch nie in einer geraden Linie, sondern bewegte sich über den Hügel wie ein kleines Segelboot, das gegen den unablässigen Wind der Landschaft ankämpft. Die Arbeit von Mann und Hund bestand zwar darin, die Herde zu leiten, aber sie schienen sich hauptsächlich miteinander zu beschäftigen. Ständig achteten sie auf gewünschte oder unerwünschte Reaktionen und korrigierten ihr Handeln entsprechend. Vielleicht war es nur ein Trugschluss anzunehmen, der Mann dirigiere den Hund. Aus der neutralen Sicht des Zuschauers wirkte es vielmehr, als arbeiteten die beiden gemeinsam an einem Programm und kämen damit zu einem weitaus besseren Ergebnis. Während er zusah, überlegte Pierce, ob man das als Kommunikation bezeichnen könnte. Offensichtlich bemühten sie sich auf ihre gegenseitigen Wünsche aufmerksam zu machen, doch dem Austausch fehlte die Vertrautheit zwischen Mann und Mann oder Hund und Hund. Das Verstehen ohne Worte fehlte hier, das den Austausch zwischen Wesen der selben raison d’être so vertraut macht. Sie teilten ihre Arbeit, aber eine tiefe Kommunikation fand nicht statt, genauso wenig wie zwischen Pierce und den Menschen. Und doch hüteten sie gemeinsam die Schafe, geschickter zumindest als einer von ihnen allein es hätte tun können. Nie sah Pierce den Hund ein Schaf beißen. Er schien seine Aufgabe mit einem Minimum an Kraftaufwand durchzuführen, genau wie der Vorarbeiter Jacques in Paris es tat. Pierce war völlig in den Anblick versunken. Er bemerkte erst spät, 122
dass der Mann seinen Hund nicht mehr rief. Als er zu sich kam, sah er, wie der Schäfer ihn anstarrte. Pierce wanderte den Hügel hinunter und sprach ihn an. »Ich habe Sie und ihren Hund beobachtet.« Der Mann lehnte sich auf seinen Stock, spuckte auf den Boden und drehte sich zu seinem Hund. »Hopp!« Pierce sah hinüber und fragte sich, warum der Schäfer seinen Hund gerufen hatte. Dieser schien die Herde gut unter Kontrolle zu haben. »Ihr Hund hört gut, das beeindruckt mich, Sir«, sagte Pierce. Der Mann spuckte wieder, dann sprach er ohne aufzusehen. »Der verdammte Köter ist mit Schafen aufgewachsen. Er denkt, sie sind sein Rudel.« Das war eine dürftige Folgerung, aber nun, sie befanden sich eben auf dem Lande… Pierce hatte sich seit Frühling nicht mehr genährt. Es war an der Zeit. »Hopp!« Der Mann wischte sich die Nase an seinem Jackenärmel, dann drehte er sich wieder Pierce zu. Er wehrte sich mehr als die meisten. Erst drosch er mit seinem Stock auf Pierce ein, dann ließ er ihn fallen und versuchte es mit seinen schwieligen, harten Händen. Pierce, berauscht von dem Blutfluss, stimulierten diese kraftlosen Hiebe noch. Er hatte keine Wahl, er musste ihn ausbluten lassen. Es war ein Fehler gewesen, einen wachen Menschen anzugreifen, doch jetzt war es zu spät. Nun durfte er nicht mehr leben bleiben. Pierce gab sich dem Akt hin. Er lag unter dem Mann und ließ das Blut in seine Kehle rinnen und vergaß alles rings um sich. Wie lange er der restlichen Welt nicht zugänglich gewesen war, wusste er nicht. Plötzlich brachte ihn ein starkes Zerren an seinem Fuß wieder zur Besinnung. Der Hund des Mannes war gekommen. Er riss wütend an des Widersachers Stiefel, den seine scharfen Zähne nicht 123
durchdringen konnten. Pierce setzte sich auf und griff nach dem Hund. Der ließ seinen Fuß los und wich zurück. Pierce stand auf. Der Hund schlich misstrauisch um ihn herum. Sobald Pierce nach ihm griff, wich der Hund ihm aus. Schließlich beugte sich Pierce so, dass er mit dem Hund auf einer Ebene war. Der Hund ließ ihn nicht aus den Augen. Doch als Pierce sich jetzt auf ihn zubewegte, kam der Hund ihm entgegen. Pierce streckte seine Hand aus, die Handfläche nach oben, damit das Tier ihn beschnüffeln konnte. Der Hund machte einen ausgesprochen intelligenten und wachen Eindruck. Pierce vermutete, dass er ein wunderbarer Gefährte wäre. Sicherlich würde ihm eine Geschichte einfallen, mit der er Montgolfier und den Kutscher überzeugen könnte das Tier mitzunehmen. Eine Zeitlang musterte der Hund Pierce. Dann kam er zu ihm. Pierce fühlte, wie jäh eine warme Zärtlichkeit in ihm aufwallte, ein Gefühl, das er bis dahin noch nie verspürt hatte. Der Hund rieb seine Nase an seiner Hand und Pierce drehte sie um ihn zu streicheln. Da schnappte das Tier zu. Pierces Hand saß fest wie in einer Fuchsfalle. Ein atemberaubender Schmerz explodierte in seinem Daumenballen. Er versuchte dem Hund seine Hand zu entziehen, aber das war unmöglich. Das Tier lockerte seine Kiefer um keinen Millimeter. Es ließ sich einfach mitziehen. Eine Flüssigkeit wallte zwischen den Zähnen des Hundes auf, er blickte Pierce entschlossen in die Augen. Pierce stand auf, er riss den Hund mit sich hoch. Gurgelige Laute drangen aus der Kehle des Tieres. Pierce hatte selten solche Schmerzen gefühlt, er musste einen Weg finden den Angreifer abzuschütteln. Schließlich ergriff er den Schäferstock mit der anderen Hand. Er hielt den Stock so niedrig wie möglich. Es war zwar ausge124
schlossen, genügend auszuholen um den Hund zu töten, doch es gelang ihm, ihn mit einem heftigen Schlag auf den Schädel zu betäuben. Der Hund ließ seine Hand los und fiel zu Boden. Dann stand er auf und wankte ein paar Schritte. Bevor er weglaufen konnte, ließ Pierce den Stock fallen, ergriff den Hund und brach das Genick des Tieres an seinem lahmen Arm. Der Hund fiel leblos ins Gras. Pierce besah sich seine verletzte Hand. Er verspürte einen pochenden Schmerz, Flüssigkeit drang aus der Wunde. Aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein, keine wichtigen Elemente der Hand waren verletzt. Er sah auf den leblosen Körper des Hundes. Sein Tod dauerte ihn. Pierce respektierte das Verhalten des Tieres trotz seiner Schmerzen. Er hätte ihn gern behalten. Doch der Hund war offensichtlich zu sehr an sein Leben mit dem Schäfer gewöhnt gewesen. Pierce musste erkennen, dass es unmöglich ist, eine Kreatur zu erobern, die nur darauf aus ist, einen zu töten. Wie schwierig es doch ist, Treue in neue Bahnen zu lenken. Pierce spitzte den Spazierstock mit seinem Taschenmesser und pfählte den Schäfer. Er verscharrte Mann und Hund in einem flachen Grab. Jetzt musste er sich beeilen um das Gasthaus zu erreichen, ehe sich die Reisegruppe von ihrem Nachtlager erhob. Pierces Stellung bei Montgolfier hatte den Vorteil, dass er praktisch nicht wahrgenommen wurde. Die illustren Gäste seines Herren schenkten der Verletzung des Sekretärs ebenso wenig oder so viel Beachtung wie der Tatsache, dass die Straße, die sie mit ihrer Kutsche bereisten, einst von römischen Soldaten geebnet worden war: nämlich gar keine. Montgolfier selbst war viel zu aufgeregt um etwas zu bemerken. Er war in Gedanken bei seiner be125
vorstehenden Ballonfahrt. Pierce verband sich die Hand mit einem Taschentuch. Sie verheilte, noch bevor die Gesellschaft in Lyon angekommen war. Pierce heilte sehr schnell. Am Ende des dritten Tages erreichte man Lyon. Arbeiter hatten auf Montgolfiers Geheiß ein Podium errichtet um den Gästen und den Lyoner Honoratioren einen guten Blick auf das große Ereignis zu ermöglichen. Der flugbesessene Montgolfier war vielleicht bereit dem Sekretär seine Werkstatt in Paris anzuvertrauen. Seinen Ballon wollte er aber höchstpersönlich auspacken oder zumindest die Arbeiten überwachen. Am großen Tag bereitete er das Feuer, mit dem Treibgas hergestellt werden sollte. In der Dämmerung schon schichtete er grünes Holz, Stroh und getrockneten Dung auf. »Am besten steigt der Ballon, wenn das Feuer ordentlich qualmt«, sagte Montgolfier. »Es ist der Rauch, der das Schiff in der Luft hält.« Pierce zweifelte nicht an dieser Aussage, aber er wünschte, es wäre anders. Das Feuer verbreitete einen üblen Geruch und seine Augen brannten. Als die Gäste von ihrem Frühstück kamen, hatte sich eine stinkende Dunstglocke über die Landschaft gelegt. Das übel riechende Gas hatte den mit üppigen Ornamenten verzierten Ballon zur Größe eines kleineren Château aufgeblasen und jetzt riss er an seinen Leinen. Pierce sah, dass die kleinen Qualmwolken, die dem Ballon entwischt waren, dicht über dem Boden hingen. Er fragte sich, wie das sein sollte, dass dieses Gas einen Ballon in die Luft trieb, es konnte sich ja nicht einmal selbst vom Boden heben. Doch Montgolfier würde wohl wissen, was er tat. Also half der Sekretär auf ein Signal seines Meisters den vier Gästen an Bord und schwang sich dann selbst in den Korb. 126
Montgolfier lehnte sich aus dem Korb und rief der Menge zu: »Wir steigen auf zum Ruhm von König und Vaterland!« Er befahl die Leinen zu lösen. Pierce hatte das Gefühl, seine Innereien sänken langsam aber unerbittlich zu Boden. Genauso erging es den anderen Gästen. Er sah durch den geflochtenen Boden des Korbes und versicherte sich, dass sie stiegen und nicht sanken. Warum, fragte er sich, vertauscht unsere Wahrnehmung diese Empfindungen? In Minutenschnelle waren sie mehrere hundert Fuß über dem Publikum und trieben nach Süden. Montgolfier führte das Fahrzeug. Er hielt mit stolzgeschwellter Brust Vorträge über die atemberaubende Aussicht und wie sie doch teilhätten an einem historischen Moment. Abgesehen von dem sinkenden Gefühl im Magen, kämpfte Pierce mit dem beißenden Geruch und dem Brennen in seinen Augen. Es schien hier oben schlimmer zu werden statt besser. Er fühlte sich ganz und gar nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte, und er war sich nicht mehr sicher, ob ihm das Fliegen überhaupt gefiel. »Die vorherrschenden Winde bestimmen unsere seitliche Flugbewegung«, erklärte Montgolfier seinen Passagieren. »Wenn wir nicht mehr nach Süden fahren wollen, müssen wir steigen, bis wir einen Luftstrom finden, der uns in die gewünschte Richtung treibt. Sehen Sie die Vögel da drüben?« Pierce sah nicht zu den Vögeln, wie die anderen Fahrgäste. Er sah hinauf zum Ballon. Dort fand er die Quelle seiner Qual. Da oben war jetzt viel mehr Rauch als vorher. Die zähe Papierhülle war offenbar über ihre Kapazitäten erhitzt worden und hatte Feuer gefangen. Daher der zusätzliche Qualm. Pierce sah durch den Hals des Ballons nach innen. Ganz oben entwickelte sich ein klei127
ner glühender Ring. »Anhand der Vögel kann man oft die Luftströmungen bestimmen«, erklärte Montgolfier gerade. »Monsieur«, sagte Pierce. »Ja, Pierce. Was gibt es?« »Der Ballon hat sich entzündet.« Montgolfier sah nach oben in die Richtung, die Pierce wies. »Ich vermute, Sie haben Recht, Perce. Ja, in der Tat.« Ein Passagier stöhnte laut auf. Auch Pierce konnte eine Angst in sich aufsteigen fühlen. Er mochte vielleicht über besondere Kräfte verfügen, unsterblich war er jedoch nicht. Und ein Feuertod in großer Höhe reizte ihn nicht gerade. »Kein Grund zur Beunruhigung«, sagte Montgolfier. »Das ist mir schon einige Male passiert. Wir steigen sofort ab.« Diese Bemerkung beruhigte die Passagiere. Und es lief auch alles, wie Montgolfier angekündigt hatte. Das Feuer war bescheiden, es zehrte nur langsam an dem zähen Papiersack und der seidenen Hülle. Der Ballon stieg gemächlich ab und landete den Umständen entsprechend sanft. Niemand war verletzt. Für die Zuschauer musste es allerdings spektakulär ausgesehen haben, dachte Pierce, wie sie so inmitten von Rauch und Flammen vom Himmel stiegen. Als die Ballonfahrer mit rußgeschwärzten Gesichtern aus dem Wrack gestiegen waren und sich noch die feine Asche von ihrer Kleidung fegten, wurden sie von den Einheimischen umringt. Einige hoben sie auf die Schultern und trugen sie wie Helden zurück in die Stadt. Andere schirrten sich vor eine Karre und bargen damit den Korb wie eine Trophäe. Die Spitzen der Lyoner Gesellschaft wetteiferten um die Gunst den Luftpionieren Herberge und Gesellschaft bieten zu dürfen. Montgolfier akzeptierte die Einladung des 128
Druckereibesitzers zu Dinner und Unterkunft. In der Intimität ihres Raumes, während sie sich für das Abendessen umkleideten, konnte Pierce endlich die Fragen stellen, die ihn so brennend beschäftigten. »Haben Sie wirklich schon viele Feuer erlebt?« »Um Himmels willen, nein«, beteuerte Montgolfier. »Das war unser erster Brand. Es war auch das erste Mal, dass ich notlanden musste.« »Aber Sie haben doch den anderen gesagt…« Montgolfier hob die Hand. »Pierce, wir müssen die Luftschifffahrt vor den Ängsten der Menschen schützen. Am besten gelingt das, indem wir sie überzeugen, dass alle Ereignisse vorhersehbar sind. Wenn sie glauben, man hat ein Ereignis erwartet, dann glauben sie auch, dass man es unter Kontrolle hat.« Bei ihrer Ankunft in Paris wartete der Diener des Bischofs von Autun schon auf sie. Montgolfier begab sich direkt in sein Studierzimmer. Pierce kümmerte sich um den Boten. Der junge Mann brachte die Liste der Freunde und Partner des Bischofs. Nach dem Gewicht zu urteilen musste es eine lange Liste sein. Pierce fragte sich, ob Montgolfier bei so einer langen Liste ohne weiteres 30 Livres pro Namen zur Verfügung hatte. Das Dokument war auf Vidalon-le-Haut Papier erstellt. Pierce war beeindruckt. Der Bischof war ohne Zweifel ein Meister des Details. Der Diener des Geistlichen folgte Pierce unaufgefordert zu Montgolfiers Arbeitszimmer. Pierce hielt vor der Tür und nickte dem Mann zu hier zu warten. Der lächelte. Pierce klopfte und trat ein. Als er die Tür hinter sich schließen wollte, stieß er an die Hand des Dieners. Der immer noch lächelnde Bote schlüpfte ins Zimmer. Er stellte sich direkt neben die Tür an die Wand, so als 129
wolle er so viel Platz wie möglich zwischen sich und den anderen lassen, aber doch im Zimmer bleiben. Pierce unterdrückte seinen Ärger und ging zum Schreibtisch, wo Montgolfier über Geschäftsbüchern brütete. »Die Liste des Bischofs.« Pierce reichte Montgolfier das Papier. Der nahm es und studierte es sorgfältig. Offensichtlich hatte Monsieur Montgolfier nicht so eine lange Liste erwartet. Er sah angespannt aus, während er lautlos die Namen zählte, seine Lippen bewegten sich und er tippte jeden Eintrag mit dem Finger an. Die Uhr auf dem Kaminsims tickte zu jedem Fingertippen. Fast eine Minute verging, bevor Montgolfier aufsah. »Fünfzig Namen«. Montgolfier lächelte mühsam zu dem Diener herüber. »Bitte sag deinem Herren, ich stehe in seiner Schuld.« Der junge Mann lächelte zurück, machte jedoch keine Anstalten sich vom Fleck zu rühren. Pierce vermutete, der Bischof habe ihn angewiesen Montgolfier nicht aus den Augen zu lassen. Eine unbequeme Gesprächspause entstand. Schließlich brach Montgolfier sie selbst. »Ja?«, fragte er den Diener. »Mein Herr sagte, der Monsieur würde mir ein Päckchen mitgeben.« Einen Moment lang schien es, als würde sich Montgolfier einfach taub stellen und die Botschaft des Boten ignorieren. Aber dann sprach er doch. »Ah, ja«, sagte Montgolfier. »Mein Geschenk an die bedürftigen Familien in Autun. Natürlich.« Pierce dachte schadenfroh, es geschehe dem Herrn Montgolfier nur recht. Das war der Lohn für seine Art Ehrauffassung und sein Gedächtnis. Die Gesellschaft von Paris war diese Art von Wildnis, in der man sich keine Feinde leisten konnte. Vor allem keine, die so raffiniert 130
und verschlagen waren wie der Bischof von Autun. »Ich komme auf 1.500 Livres.« Montgolfier griff zur Feder und nahm ein sauberes Blatt Vidalon-Papier aus der Schreibtischschublade. Er tauchte die Feder in das Tintenfass, dann schrieb er mit präzisen Strichen auf das Papier. »Ich habe meinen Bankier schon verständigt, dass ich einen Wechsel für den Bischof ausstellen werde.« Montgolfier löschte das Papier ab. Er faltete es und griff zu Kerze und Siegelwachs. Er schmolz ein bisschen Siegelwachs, ließ es aufs Papier tropfen. Dann presste er sein Siegel hinein. Er fächelte das versiegelte Papier um es abzukühlen und reichte es Pierce. Pierce gab das Papier weiter an den Diener und zeigte ihm den Weg hinaus. Als Pierce ins Studierzimmer zurückkehrte, stand Montgolfier am Fenster und starrte auf die Straße hinaus. »Dieser Wechsel wird meine Reserven erschöpfen.« Montgolfier wiegte bedächtig seinen Kopf. Dann drehte er sich zu Pierce. »Ein bemerkenswerter Herr, der es schafft, die Ehre eines Mannes in Profit zu verwandeln.« Das war die kritischste Bemerkung, die Montgolfier je in Pierces Anwesenheit über eine andere Person gemacht hatte.
9 Am folgenden Morgen erwachte Norman mit einem faulen Geschmack im Mund. Die Sonne stand schon am Himmel und schickte ihre ersten roten Strahlen zum Fenster herein. Gwen war bereits auf und eben dabei, 131
ihre Schuhe anzuziehen, ihr Halstuch zu verknoten und ihre Jacke überzustreifen. Norman fühlte sich noch genauso angeschlagen, wie er zu Bett gegangen war, nur lag es jetzt an seinen Kopfschmerzen und dem dicken, pelzigen Belag auf seiner Zunge. »Gwen, ich muss mir dir reden.« Norman sprach mit ihr ohne sie dabei anzusehen. Er wollte vermeiden, dass sie seinen grässlichen Atem roch. »Kann das nicht warten, Liebster. Ich bin schon spät dran.« »Es ist ziemlich wichtig«, sagte Norman. Gwen hielt mitten in einer Bewegung inne und sah ihn ernst an. »Norman, tut mir Leid, aber ich bin gestern ausmanövriert worden. Wenn ich heute zu spät in die Firma komme, sieht es aus, als ob ich die ganze Angelegenheit zu schwer nehme.« »Aber…« Norman beendete seinen Satz nicht mehr, Gwen hatte das Zimmer bereits verlassen. Er hörte, wie sie sich unten von Justin und Megan verabschiedete. Dann fiel die Haustür ins Schloss. In seinem Schädel hämmerte es wie in einer Schmiedewerkstatt. Er quälte sich aus dem Bett. Eigenartigerweise sah seine Situation, bei Tageslicht betrachtet, keinen Deut besser aus als gestern abend in der Dunkelheit. Nachdem er geduscht, sich rasiert und mit Mundwasser gegurgelt hatte, fühlte Norman sich schon besser. Als er in die Küche kam, stellte er erfreut fest, dass Gwen sich mit dem Frühstück für die Kinder viel Mühe gegeben hatte. Es gab Frühstücksflocken, gebutterten Toast und Orangensaft. Seine Flasche Scotch, deren Inhalt noch für zwei oder drei Drinks reichte, stand immer noch auf dem Küchentresen. Die Kinder verhielten sich Norman gegenüber etwas reserviert. Er schämte sich deswegen und versuchte fröh132
lich zu sein. »Pass auf eventuelle Weicheier in der Schule auf.« Er wollte Justin die Haare zausen, aber der Junge wich seiner Hand aus. Kurz darauf verließen die Kinder das Haus. Norman verspürte keinen Appetit und fuhr ohne zu frühstücken in die Firma. Als er seine Abteilung betrat, fand er Cheryl an ihrem Schreibtisch sitzen. »Sie haben Besuch. In Ihrem Büro wartet ein Schnüffler«, informierte sie ihn sogleich. Norman staunte. Was konnte ein Privatdetektiv von ihm wollen? Wurde etwa gegen Pierce ermittelt? Bei diesem Gedanken lichtete sich Normans Stimmung. In dem Besuchersessel vor seinem Schreibtisch saß eine streng wirkende Frau, die Resolutheit verströmte. Sie schien in ein Fachjournal vertieft zu sein, von dem sie nicht aufblickte. Zu einem kanariengelben T-Shirt trug sie ein folkloristisch anmutendes buntes Umhängetuch und einen weiten schwarzen Rock, der auf dem bäuerlichen Webstuhl eines osteuropäischen Landes entstanden sein könnte. Für eine Privatdetektivin wirkte sie jedenfalls reichlich exzentrisch. Eigentlich sah sie eher wie eine von Biomethods Akademikerinnen aus. Cheryl hatte sich geirrt. Diese Frau gehörte zum Wissenschaftlerstab und arbeitete in der Forschungsabteilung. Ein Eierkopf also. »Tag.« Norman trottete durchs Zimmer und ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Die Frau blickte auf und als sie die Beine unter dem voluminösen Rock übereinander schlug, bemerkte Norman, dass sie Doc-Martens-Stiefel trug. In den zahlreichen Infomercials, die sein Sohn so liebte, traten häufig so genannte Wissenschaftler auf und sie trugen stets weiße Kittel über ihren Manageranzügen. Bei 133
Biomethods trugen höchstens die Hausmeister weiße Kittel. Die Eierköpfe waren sorgsam darauf bedacht, weder wie Wissenschaftler noch wie Manager auszusehen. Sie wirkten deshalb eher wie skurrile Karikaturen von Doktoranden, sogar der Nobelpreisträger im Vorstand von Biomethods (dessen Namen sich Norman nie merken konnte). Norman vermutete, dass die Wissenschaftler mit ihren Verkleidungskünsten der Welt oder zumindest sich selbst signalisieren wollten, dass sie sich nicht dem Kommerz verschrieben hatten, nur weil sie »in die Wirtschaft« gegangen waren. Die Nachrichtenanzeige von Normans Telefon blinkte. Der Eierkopf machte sich nicht die Mühe sich vorzustellen. »Ich habe Probleme mit einem meiner Laborangestellten«, begann die Frau ohne Umschweife. »Sie meinen disziplinarische Probleme?« »Es ist sein Verhalten«, erklärte die Frau. Verhalten. Es war immer ein schwieriges Terrain, wenn Manager sich über das Verhalten eines Untergebenen beschwerten. »Was ist mit seinem Verhalten?«, wollte Norman wissen. »Er verschüttet Xylol.« Norman fragte sich, ob das schon alles war oder ob es vielleicht ein anderes Problem in Bezug auf die Leistungen des Laborangestellten gab. »Xylol auf dem Labortisch. Kleine Pfützen auf dem Fußboden. Wissen Sie, wie gefährlich Xylol ist?« Die Frau sah Norman an, als ob sie bezweifelte, dass er wusste, was Xylol war. Norman wusste in der Tat nichts über Xylol, es fiel jedoch für ihn unter seinen ungeschriebenen Vorsichtskodex: Alles, was auf »lol« endet, ist eine gefährliche Substanz – zu gefährlich um kleine Pfützen davon auf dem Fußbo134
den zu verschütten. »Gehört das Hantieren mit Xylol zu seinen Aufgaben?« »Selbstverständlich«, erwiderte die Frau. »Er braucht es um die Dias zu präparieren.« »Weiß er, dass er es nicht verschütten darf?« »Natürlich. Jeder weiß das.« »Haben Sie je zu ihm gesagt, ›Verschütten Sie bloß kein Xylol?‹« »Natürlich nicht. Das müsste er wissen.« Norman hatte so seine Zweifel, ob ›das müsste er wissen‹ das richtige Prinzip in der Mitarbeiterführung war, aber seine langjährige Erfahrung mit Angehörigen der Forschungsabteilung hatte ihn darüber belehrt, dass es eine allgemein akzeptierte Regel war. Es war ihm nie gelungen, den Leuten diese Angewohnheit auszureden. »Zuerst«, erklärte Norman, »werden Sie dem Mitarbeiter offiziell eine Abmahnung erteilen müssen, mit einer Kopie für die Personalakte. Wenn ich Ihnen bei der Abfassung behilflich sein kann, sagen Sie es mir bitte.« »Können Sie ihn nicht einfach entlassen?« »Das kann ich nicht«, erwiderte Norman. »Ich bin nicht sein Vorgesetzter. Zum anderen ist es viel sicherer und für die Beteiligten einfacher, wenn alles nach Vorschrift geschieht. Sie würden ihn doch nicht hinauswerfen wollen, wenn er kein Xylol verschüttete, oder?« Die Frau senkte den Kopf. »Vermutlich nicht.« »Also.« Norman beugte sich vor. »Als erstes schicken Sie eine formelle Abmahnung, in der Sie das Fehlverhalten des Mitarbeiters spezifizieren. Dann warten Sie ab, ob sich sein Verhalten bessert. Falls nicht, schicken Sie ihm die zweite Abmahnung, sobald er sich wieder etwas hat zuschulden kommen lassen. Mit dieser wird ihm eine letzte Bewährungsfrist gesetzt.« »Bewährung?« 135
»Eine Art Sicherheitstraining oder so was in der Art«, erläuterte Norman. »Eine Menge Formkram nur um jemanden zu entlassen«, empörte sich die Frau. »Gegenwärtig gehört dieser Mitarbeiter immer noch zum Team«, sagte Norman. »Sie können nicht einfach so jemanden aus dem Team rausschmeißen, bloß weil Ihnen danach zumute ist.« »Könnte ich ihn nicht einfach mal vorbeischicken, damit Sie mit ihm reden?« »Das geht nicht«, befand Norman. »Eine offizielle Abmahnung muss schriftlich erfolgen und von Ihnen kommen. Soll ich Ihnen ein paar Formulierungshilfen aufschreiben?« »Ja, gerne.« »Gut.« Norman war zufrieden. Manchmal brachte man allein schon mit dem Angebot helfen zu wollen die Leute dahin, dass sie ihre Probleme selber lösten. »Ich schicke Ihnen bis heute nachmittag was rüber.« Die Frau schien zwar nicht ganz überzeugt, sie dankte ihm jedoch und verließ sein Büro. Norman sah ihr und dem folkloristischbunten Umhängetuch nach und hoffte, dass sie nicht in einer Xylolpfütze ausrutschte, wenn sie ins Labor zurückging. Das rote Lämpchen an Normans Telefon blinkte immer noch. Er nahm den Hörer auf und drückte die Wiedergabetaste. »Norman, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, aber ich möchte Sie bitten morgen länger zu bleiben.« Beim Klang von Pierces Stimme verlor Norman allen Mut. Er drückte die Stopptaste und blieb, den Hörer in der Hand, sitzen und starrte auf das Telefon, während er tief durchatmete und versuchte sich zu fassen. Eher würde er den Laborangestellten dieser Frau feuern, 136
als den Rest der Telefonnachricht anzuhören. Aber Pierce hatte offenbar mehr Einfluss auf seine Befindlichkeit als alle Eierköpfe von Biomethods zusammengenommen. Zögerlich wie ein Mann, der einen Termin beim Finanzamt hat, drückte Norman noch einmal die Wiedergabetaste und hörte sich den Rest der Nachricht an. »Bitte seien Sie doch so freundlich und kommen um sieben Uhr in mein Büro«, schloss Pierce mit dem generösen Gebaren, das die Mächtigen den Machtlosen gegenüber so gerne anlegen. Norman hatte keine Vorstellung, was Pierce von ihm wollte, wusste jedoch instinktiv, dass es seine Arbeit weder leichter noch angenehmer machen würde. Mit einem Seufzer wählte er Gwens Telefonnummer. Es fiel ihm schwer, sie schon wieder um einen Gefallen bitten zu müssen, aber er hatte keine Wahl. Er war enttäuscht, dass sie schon beim ersten Klingeln abnahm. Es wäre ihm lieber gewesen, sein Anliegen auf ihren Anrufbeantworter zu sprechen. »Worüber wolltest du denn heute morgen mit mir reden?« »Deswegen rufe ich nicht an.« Norman würde sich hüten ihr seine Probleme mit Pierce am Telefon zu schildern. Bestürzt stellte er fest, dass er an Verfolgungswahn litt. Glaubte er wirklich, dass sein Telefon abgehört wurde? »Ich wollte dich bloß fragen, ob du morgen früher Feierabend machen und dich um die Kinder kümmern könntest. Bei mir wird es wahrscheinlich spät werden.« »Du kannst beruhigt sein. Ich mache von nun an immer um fünf Uhr Schluss.« Gwen sprach in ihrem gewohnten nüchternen Geschäftston, nur fehlte ihm die gewisse Schärfe, die sie, wie Norman wusste, am Telefon anwandte. Die Nichtbeförderung hatte ihrem Selbstbewusstsein offenbar einen heftigen Knacks versetzt. Norman machte sich Sorgen um sie, aber er wusste 137
nicht, was er für sie tun konnte. Mit einem Gefühl der Hilflosigkeit bedankte er sich bei Gwen und legte auf. Merkwürdig, wie fremd sie einander in so kurzer Zeit geworden waren. Aber womöglich waren sie es immer schon gewesen und hatten sich bloß Illusionen über ihre Vertrautheit gemacht. Wie gut kannte er Gwen eigentlich? Es konnte nur an einem hormonellen Ungleichgewicht liegen, dass er sein Leben mit einem Mal als so trostlos empfand. Die Dinge standen sicherlich nicht ganz so schlecht, wie er meinte. Sein Blick fiel auf den Berg Papiere, die Cheryl in seinen Eingangskorb gelegt hatte. Er packte den ganzen Stapel, legte ihn mitten vor sich auf die Schreibunterlage und machte sich daran, ihn durchzuarbeiten. Norman konnte nicht behaupten, dass irgendeiner der Vorgänge ihn wirklich interessierte. Sie lenkten ihn bloß von seinen Problemen ab. Das Personalwesen lebt von Detailarbeit und so stürzte Norman sich in die Details und schob alle trüben Gedanken beiseite. Er wurde eingelullt, in eine Art Trance versetzt, die sich aus einer endlosen Reihe von Memos, Anträgen, Formularen und Tabellen ergab. Er las sie, markierte sie, unterschrieb und sortierte sie. Einige knüllte er zusammen und warf sie in den Papierkorb, einige lochte er und legte sie in Aktenordnern ab, andere wanderten in die Hängeregistratur im Rollschrank rechts unter seinem Schreibtisch, wieder andere wurden auf einen Stapel zu den anderen gelegt und noch andere schließlich wurden mit gelben Haftzetteln mit kryptischen Notizen darauf versehen. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er kaum bemerkte, wann Cheryl oder Louise in unregelmäßigen Abständen hereinkamen oder hinausgingen, weitere Papierstöße in seinen Eingangskorb legten oder erledigte Akten mitnahmen. 138
Norman tauchte erst wieder aus seiner Trance auf, als sein Magen beharrlich knurrte. Seine Uhr zeigte viertel nach zwölf an. Er schob seinen Stuhl zurück, streckte sich einmal gründlich und ging ins Vorzimmer. Die beiden Schreibtische waren verwaist. Cheryl und Louise machten offenbar Mittagspause und hatten ihm nichts davon gesagt. Warum sollten sie auch? Vermutlich spürten sie, dass er von dem Umstrukturierungsprozess ausgeschlossen war. Er ging in die Kantine, holte sich ein Sandwich und eine Tasse Tee und machte sich auf die Suche nach einem freien Tisch. Als Norman Cheryl und Louise zusammen entdeckte, steuerte er ihren Tisch an. Ihre Pappteller waren praktisch leer gegessen, es lagen nur noch Krümel und ketschupverschmiertes Plastikbesteck darauf. Auf dem einen Teller lag Kaugummipapier und Norman vermutete, dass Louise sich ihren Kaugumminachtisch genehmigte. Beide hielten halb leere Becher mit Kaffee in der Hand. In der Regel suchte Norman keinen Kontakt mit Aushilfskräften, heute war ihm jedoch nach Gesellschaft zumute und er hegte immer noch die Hoffnung den Titel dieses vertrackten Romans von Louise zu erfahren. Er fragte, ob er sich dazusetzen dürfte, und als die Mädchen nickten, setzte er sein Plastiktablett ab und ließ sich schwer auf den Stuhl neben Louise fallen. Die Mädchen schwiegen beharrlich und Norman fragte sich, ob er in ein tief schürfendes Gespräch geplatzt war. Während er sein Sandwich kaute, überlegte er, ob er Louise nicht rundheraus nach dem Buchtitel fragen sollte. »Louise, wie hieß das Buch noch gleich, das Sie gerade lesen?«, fragte er mit vollem Mund. »Jetzt fangen Sie nicht wieder davon an, Norman«, fuhr Cheryl dazwischen. 139
»Was soll das denn heißen?« Louise fing an in ihrer Handtasche herumzukramen und Norman befürchtete schon, dass sie nach ihrem Haarspray suchte. »Dieses Gerede über Vampire«, sagte Cheryl. Louise gab die Suche auf und sah erst Cheryl, dann Norman mit ernster Miene an. »Es muss doch einen Grund geben, warum es auf der ganzen Welt Geschichten über Untote gibt.« Norman verschluckte sich beinahe. »Was sind Untote?« Cheryl reagierte schneller als Louise. »Das ist Vampirjargon. Ein Untoter ist einer, der von den Toten zurückkommt und umhergeht. Man nennt sie auch Wiedergänger oder lebende Tote. Dieser Volksglaube ist Bestandteil der menschlichen Kultur. Warum auch nicht? Leichname haben eine natürliche Tendenz aus dem Grab zu steigen.« »Sage ich doch.« Louise schloss ihre Handtasche und stellte sie weg. Sie hatte offenbar beschlossen die Unterhaltung ohne Haarspray zu meistern. »Das ist aber nicht, was sie meint.« Cheryl richtete ihre Worte direkt an Norman. »Warum, meinen Sie, haben wir damit begonnen, unsere Toten in Särgen zu bestatten? Wenn wir das nämlich nicht tun, arbeiten sie sich allmählich wieder an die Oberfläche. Wenn sie verwesen, blähen sie sich auf. Raubtiere versuchen sie auszugraben. Es gibt eine Menge natürliche Kräfte, die Tote wieder aus der Erde treiben, nachdem sie begraben wurden.« »Du musst immer alles verderben«, maulte Louise. »Du machst aus einer gewöhnlichen Unterhaltung eine Vorlesung.« »Bevor es die Bestattung mit Särgen gab«, führ Cheryl ungerührt fort, »tauchten Leichname häufig wieder auf. Die Leute haben dann versucht sie mittels Holzpfählen in ihren Gräbern zu halten, sie sozusagen festzunageln. 140
Daher auch das mit dem Pfählen in den Vampirgeschichten.« Louise legte Norman die Hand auf den Arm. »In einem Buch habe ich einmal gelesen, wie sie das Grab viele Monate nach dem Begräbnis wieder geöffnet haben und sahen, dass der Tote ganz glatte Haut und den Mund voller Blut hatte.« Norman schob seinen Teller beiseite. Er verspürte keinen Hunger mehr. Warum nur hatte er sich auf diese Unterhaltung eingelassen? »Das hat alles mit dem Verwesungsprozess zu tun«, dozierte Cheryl. »Aber bitte, mach ruhig so weiter und glaub all das Zeug, es wäre nur besser, wenn du einsehen würdest, dass diese Legenden ihren Ursprung in einem einfachen physikalischen Phänomen hatten. Und erst im neunzehnten Jahrhundert, als einige schlaue Leute auf die Idee kamen diese Geschichten zu vermarkten, wurde der Vampirkult geboren und zu dem gemacht, was er heute ist.« »Du glaubst immer, jeder denkt nur ans Geldverdienen«, murrte Louise. »Etwa nicht?« Cheryl sah Norman herausfordernd an. Er hob die Schultern. »Norman, ist was dran an den Gerüchten?«, wollte Cheryl wissen. Norman hob wieder die Schultern. »Es heißt, die Firma will das Aidsprojekt einstellen. Ist das wahr?« Nach den ungeschriebenen Firmengesetzen kam etwas zu wissen in etwa verantwortlich dafür zu sein gleich und Norman schämte sich für seine Mittäterschaft, weil die Abteilung aufgelöst wurde. »Davon weiß ich nichts«, beteuerte er. Er stand auf und trug sein Tablett zum Tresen. Als er 141
sein Pappgeschirr in den Container kippte, fiel ihm ein, dass er immer noch nicht den Titel von Louises Buch wusste. Er ging in sein Büro zurück. Den ganzen Nachmittag lang arbeitete Norman wie benebelt. Er konnte sich auf nichts konzentrieren. Er nahm sich eine Akte vor, starrte blicklos darauf, sein Geist blieb leer. Seine Gedanken drehten sich ständig um die eine Frage: Sollte er weiter bei der Firma bleiben? Das Aidsprojekt würde eingestellt werden. Obwohl Pierce ihm versichert hatte, dass ihm keine Kündigung drohte, fühlte Norman sich in seinem Stolz gekränkt, den er einst für seine Arbeit bei diesem Unternehmen empfunden hatte. Warum musste man dauernd Entscheidungen treffen? Warum konnte man nicht einfach sein Leben leben und seine Arbeit verrichten? Er bat Louise über die Sprechanlage um die Personalakte des Laborangestellten, über den er am Vormittag mit dem Eierkopf verhandelt hatte. Er besaß natürlich seine eigene Akte, nur war er zu faul aufzustehen. Eine Minute später kam Louise herein und legte ihm einen Aktenordner auf den Schreibtisch. Norman blätterte ein wenig und vertiefte sich in die Arbeitszeugnisse des Angestellten. Sie waren durch die Bank ausgezeichnet. Die Vorgesetzte des Laborangestellten – der Eierkopf, mit dem Norman gesprochen hatte – lobte seine Pünktlichkeit, seinen Teamgeist und seine Leistung in höchsten Tönen. Sie wies in ihrer Beurteilung sogar darauf hin, dass er einige Vorschläge für die Straffung der Arbeitsabläufe im Labor eingebracht hatte. Norman konzentrierte seine Suche auf den Punkt, an dem der fragliche Mann in seiner Arbeit nachlässig wurde, konnte aber nichts finden. Keinen Eintrag, keinen Hinweis, nichts. Er spürte, dass ihn jemand anstarrte. 142
Jacqueline stand in der offenen Tür. Norman hätte es nicht für möglich gehalten, aber sie sah heute noch blasser aus. »Hallo, Norman.« »Hallo«, sagte Norman. Er fragte sich, wie lange sie gestern wohl noch gearbeitet hatte. »Was machen Sie da?« »Ich sehe mir gerade eine Personalakte an. Ein Eierkopf will ein Abmahnungsverfahren einleiten.« Jacqueline schwebte lautlos ins Zimmer und stellte sich neben Norman. Über seine Schulter gebeugt überflog sie die Verbesserungsvorschläge, die der Laborassistent gemacht hatte. »Sieht nach einem vorbildlichen Mitarbeiter aus«, stellte sie fest. »Sieht nach einem guten Teamarbeiter aus«, konstatierte Norman. »Seine Vorgesetzte behauptet, dass er Xylol verschüttet. Ich hoffe, ich kann sie überreden ihn zu einem Sicherheitstraining zu schicken statt eine Bewährungsfrist anzuberaumen.« »Was für ein gütiger Mensch Sie doch sind, Norman.« Sie sagte das so leise, dass Norman glaubte sich verhört zu haben. Als er zu ihr aufblickte, sah sie ihn ungerührt an. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragte er. »Sie sehen ein wenig blass aus.« »Ja, alles in Ordnung.« Jacqueline ging um den Schreibtisch herum und sank auf den Besucherstuhl. Sie saßen sich eine Weile gegenüber und sahen sich an ohne etwas zu sagen. »Entschuldigen Sie bitte.« Jacqueline und Norman fuhren herum und blickten zur Tür, von wo die fremde Stimme kam. Auf der Schwelle stand ein Mann, etwa mittleren Alters. Norman kannte ihn 143
zwar nicht, hatte ihn aber schon des Öfteren auf dem Betriebsgelände gesehen. Der Mann schien nervös zu sein und wich Normans Blick aus. Er trug einen Laborkittel mit einer Strahlenmessmarke am Aufschlag. »Meine Chefin schickt mich zu Ihnen.« Der Mann fingerte an seiner Strahlenmessmarke herum, als ob er befürchtete, Jacqueline und Norman sendeten Gammastrahlen aus. »Warum?«, fragte Norman. »Keine Ahnung. Sie sagte nur, es sei wichtig.« Jetzt dämmerte Norman, dass dies der Laborangestellte sein musste, der das Xylol verschüttete. Der Eierkopf hatte ihn hergeschickt, damit Norman ihn hinauswarf trotz seiner Einwände von wegen Bewährung und so. »Hat Sie Ihnen nicht gesagt, worum es geht?«, wollte Norman wissen. »Nein.« Der Mann hielt den Blick gesenkt. Norman verstand sich als Teamarbeiter, er war aber keinesfalls der Lakai von so einem Eierkopf, der sich nicht an die Vorschriften hielt. »Dann gehen Sie zurück und fragen Sie sie«, sagte Norman. »Ich habe keine Ahnung, was sie will.« Mit einem Achselzucken drehte sich der Mann um und ging hinaus. Norman sah Jaqueline an. »Das ist der Laborangestellte, den die Leiterin der Forschungsabteilung rausschmeißen möchte. Ich werde sie anrufen und ihr sagen, dass die Vorschriften eingehalten werden müssen.« »Lassen Sie mich das tun«, bot Jacqueline an. »Das ist mein Problem«, erklärte Norman. »Ich komme schon klar.« Jacqueline starrte ihn durchdringend an. »Ich möchte mich darum kümmern.« Ihr Blick war so seltsam, dass Norman davor graute, wo144
zu sie im Stande sein würde, wenn er ihr diesen Wunsch verweigerte. Dann ging ihm auf, wie schön es wäre, wenn sie sich um alles kümmern würde. Er zog die Schultern hoch. »Meinetwegen.«
10 Der erste Kunde, dessen Name die Liste des Bischofs schmückte, empfing Pierce und Montgolfier mit offenen Armen. Es handelte sich um einen Steuereintreiber namens Fleury, der laut bekundete, es sei ihm eine große Ehre, von ihnen besucht zu werden. Fleury bewirtete seine Gäste in einem luxuriös ausgestatteten Büro. Pierce dachte bei sich, dass Steuereintreiben ein einträgliches Geschäft sein müsse. »Die ganze Welt spricht von Ihrem Heldenmut, Monsieur«, jubelte der Mann. »Die Salons summen und brummen von Gesprächen über ihren Absturz in Lyon.« »Ich bin kein Held, nur ein Wissenschaftler«, wehrte Montgolfier ab. »Unsinn«, erwiderte Fleury. »Man sagt, Sie hätten im Moment größter Gefahr gerufen: ›Ich opfere mich gerne für König und Vaterland!‹ Man sagt, Sie stürzten in einer Wolke von Rauch und Flammen zur Erde. Man sagt, der Aufprall sei bis Marseille zu hören gewesen. Ganz Frankreich ist dankbar, dass Sie nicht von uns gegangen sind.« Pierce schien es, als spräche Fleury von einer ganz anderen Notlandung, als der ihren. Wie kam es, dass die Menschen solche Geschichten so gern durcheinander brachten? 145
»Es ist nur zum Ruhme Frankreichs, dass ich mich der Luftschiffahrt widme«, beteuerte Montgolfier. »Menschen wie Sie kann die Welt gebrauchen, Monsieur«, rief der Steuereintreiber. »Dieses Land benötigt mehr Menschen, die sind wie Sie. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, Monsieur, wie schwierig es ist, die Leute dazu zu bringen, ihre Steuern zu zahlen. Nur weil ich es bin und nicht die Krone selbst, die sie eintreibt, denken sie, sie können sich drücken. Aber, ich frage Sie, wo käme dieses Land hin, wenn ich mich davor drücken würde, meine Konzessionsgebühren an die Krone zu bezahlen? Nein, Monsieur, dieses Land braucht mehr Bürger, die bereit sind Verantwortung zu übernehmen. Dieses Land braucht mehr Bürger, wie Sie einer sind.« »Monsieur sind zu freundlich«, lenkte Montgolfier ab. »Aber der eigentliche Grund meines Kommens ist, dass der Bischof von Autun…« Montgolfier hielt inne. Als Pierce zu Fleury herübersah, begriff er, warum. Das Gesicht des Mannes war dunkelrot angelaufen. Er sah aus, als hätte Montgolfier erwähnt, er stecke mit dem Liebhaber von Fleurys Frau unter einer Decke. Einen Moment herrschte unangenehme Stille. Dann gewann Fleury wieder Haltung. Seine Gesichtsfarbe blieb zwar dunkel, aber seine Stimme klang nun wieder so sanft wie zuvor. »Der Bischof von Autun und seine Machenschaften interessieren mich nicht«, sagte er. »Der Mann ist ein Schurke.« »Ich wollte Sie nicht beleidigen, Monsieur«, beteuerte Montgolfier. »Ich wollte lediglich nachfragen, ob Sie Interesse an feinem Schreibpapier haben. Sie wissen ja vielleicht, dass meine Familie Papier herstellt.« »Papier?« Monsieur Fleurys Gesicht hatte wieder eine normale Farbe angenommen. Montgolfier nickte nur. Of146
fensichtlich hielt er es für ratsam, so wenig wie möglich zu sprechen. »Papier ist der Lebenssaft des Steuergeschäfts«, sagte Fleury. »Zeigen Sie mal her, was Sie da haben.« Monsieur Fleury verfügte offensichtlich über ein ganz besonders fassettenreiches Gefühlsleben. Das Begutachten von Papier schien ihn zu beruhigen. Pierce und Montgolfier verließen sein Büro mit einer zentnerschweren Bestellung für Vidalons bestes Schreibpapier in der Tasche. »Noch so ein Besuch, Pierce«, sagte Montgolfier, »und die Liste des Bischofs hat sich schon bezahlt gemacht.« »Es scheint jedoch ratsamer zu sein, wenn Sie den Bischof beim Gebrauch seiner Liste nicht erwähnen«, meinte Pierce. Bei ihren folgenden Besuchen bemerkten beide, dass der Name des Bischofs außergewöhnliche Macht über die Menschen besaß. Sie brauchten Autun nur erwähnen. Das reichte schon um Ruhmesbezeugungen oder übelste Schmähungen zu provozieren. Da es unmöglich war, vorauszusehen, welche Reaktion folgen würde, hielt sich Montgolfier an Pierces Rat und sprach den Namen nicht mehr aus. Doch ungeachtet dessen, zeigten sich alle die auf der Liste empfohlenen Geschäftsleute durchaus wohlwollend. Jeder war bereit Papier vom Ikarus von Lyon, wie man Montgolfier nunmehr nannte, zu beziehen. Mehr als einmal betonte Montgolfier Pierce gegenüber, die Liste des Bischofs zusammen mit dem verbrannten Ballon seien eine bessere Investition gewesen, als ein halbes Dutzend holländische Maschinen zusammen. Der Absturz von Lyon sollte das Ende der Fliegerlaufbahn von Etienne Montgolfier markieren. Auch wenn er den Ikarus von Lyon noch so lange spielte, wie es ging. Etiennes Bruder Joseph weigerte sich neue Pläne für 147
einen Ballon zu entwerfen. Es ging ihm weniger um die Sicherheit der Passagiere oder des Ballonführers. Joseph Montgolfier hatte sich einem neuen Projekt verschrieben. Zusammen mit einem Herrn Lavoisier arbeitete er an einem revolutionären System Temperaturen anzugleichen. Er ließ sich für nichts anderes mehr begeistern. Ohne Josephs Entwürfe konnte Etienne nicht mehr Luftpionier sein. Seine besten Pariser Kunden sprangen nach und nach ab. Der Herr der Mühle musste sich nach anderen Einkünften umsehen. Es war schließlich Montgolfiers Plan die Fabrik mithilfe der Regierung auf den neuesten Stand der Technik zu bringen, der Pierce dazu veranlasste, seinen Hut zu nehmen. Manchmal kam es Pierce so vor, als wäre es sein Schicksal, ständig von den Menschen enttäuscht zu werden. Über die Jahre hatte er sich immer wieder bei den höchsten Trägern politischer, gesellschaftlicher oder geistiger Macht – zumindest hielt er sie dafür – in den Dienst gestellt. Und er hatte jedesmal aufs Neue erleben müssen, wie sie ihre Macht opferten oder zu Schaden kamen oder beides. Immer noch suchte er nach der einen Person, die der Macht treu blieb. Die Menschen schienen ja nicht einmal in der Lage zu sein wahrzunehmen, wann sie Macht hatten und wann nicht. Noch viel weniger konnten sie mit ihr haushalten. Entweder ließen sie sich dazu verführen, ihre Macht zu vergeuden, und forderten unüberlegt weit mächtigere Feinde heraus. Oder sie gaben auf, wenn ein Festhalten an der Macht schwierig schien. Vlad Tepes von der Walachei, Karl I. von England, Galileo Galilei – einer nach dem anderen hatte ihn enttäuscht. Pierce wusste, er hatte noch viel über Macht zu lernen. 148
Aber einer Sache war er sicher: In Institutionen lag wenig oder gar keine Macht. Er hatte in seinem langen Leben unzählige Regierungen, Religionen, große Familien und Sozialordnungen kommen und gehen sehen. So weit er es verstand, gab es für die Menschheit nur eine bleibende Institution, und das war der Handel. Sein Instinkt sagte ihm, dass es nur einen Platz gäbe um alles über Handel zu lernen: zu Füßen des Bischofs von Autun. Schließlich hatte es dieser Mann fertig gebracht, aus nichts als einer Liste von Namen ein einträgliches Geschäft zu schlagen. Zu Pierces Überraschung erinnerte der Bischof sich an ihn und empfing ihn freundlich. Mehr noch, er schien außerordentlich erfreut über die Nachricht, dass Pierce frei für seine Dienste sei, und er bot ihm sofort die Stelle seines Sekretärs an. »Haben Sie denn zur Zeit keinen Sekretär?«, fragte Pierce. »Nur Fleury«, erwiderte der Bischof. »Er ist der Sohn eines ansässigen Steuereintreibers. Es war ein Gefallen an seine Mutter, dass ich ihn beschäftige, doch es ist kein gutes Arrangement.« Der Bischof schickte nach Fleury und entließ ihn in Pierces Anwesenheit. Wie immer war er dabei äußerst höflich, einfühlsam und geschickt. Am Ende des Gesprächs wäre jeder Zuhörer überzeugt gewesen, und Fleury selbst ohne Zweifel war es auch, dass der junge Mann aus eigenen Stücken ging. Er verließ den Raum um seine Sachen zu holen, da bemerkte Pierce plötzlich, wie ähnlich er dem Bischof sah. Bis auf seine zwei gesunden Beine hätte man ihn für eine junge Ausgabe des Geistlichen halten können. Als Sekretär des Bischofs durfte Pierce den ganzen Tag lang seinem Arbeitgeber nicht von der Seite weichen. 149
Aber der führte kein besonders anstrengendes Regiment. Normalerweise erhob sich der Geistliche gegen Mittag, frühstückte bis etwa ein Uhr, widmete sich bis zwei Uhr seiner Korrespondenz und besuchte anschließend verschiedene Mitglieder der Gemeinde und der Gesellschaft. Ab vier Uhr konnte man ihn zu Hause antreffen, wo er gewöhnlich den Schneider oder seinen Barbier empfing. Er diktierte Pierce während der Rasur oder Anprobe. Der Bischof erwies sich als exzellenter Gärtner im Lehm menschlicher Verstrickungen. Er säte, hegte und erntete. Autun verfügte über ein beeindruckendes Netz an Verbindungen, gesponnen aus Freunden, Liebhabern und Geschäftspartnern. Pierce bereitete täglich die umfangreiche Korrespondenz des Bischofs vor. Sie bestand aus geschickt formulierten Bittbriefen und Erinnerungsschreiben an ausstehende Verpflichtungen. Pierce bewunderte immer wieder, wie viel Macht darin lag, seine Verbindungen geschickt zu nutzen. Nichts konnte den Bischof in seiner Routine stören. Pierce begriff bald, dass der Würdenträger die Kathedrale seit seiner Weihe nicht mehr betreten hatte. Es wunderte ihn sehr, dass der Geistliche sich seiner klerikalen Pflichten so geschickt entledigte, denn war er auch quasi in absentia, galt er doch als der fähigste Bischof ganz Frankreichs. Dieses ›in den Tag hinein leben‹ war ausgesprochen angenehm. Es überraschte Pierce, wie schnell er sich heimisch fühlte. Immer brannte ein Feuer im Kamin, die Möbel waren komfortabel, die Bediensteten diskret und dienstbeflissen. Selbst die Kleiderfrage war aufs Beste geregelt. Der Bischof reichte einfach seine alten Gewänder an Pierce weiter und ließ sie von seinem Schneider ändern. Und da der Bischof sich ständig neue Kleider zulegte, kam Pierce in den Genuss einer rapide wach150
senden Garderobe. Natürlich war der Stil nicht besonders klerikal. Außer zu feierlichen Anlässen war des Bischofs einzige Konzession an sein Amt ein schlichtes, sehr elegantes Kreuz, das er an einer Kette um den Hals trug und gewöhnlich in der Westentasche verschwinden ließ. Das Leben, das sie führten, war mehr als angenehm. Böse Zungen mochten es als genusssüchtig bezeichnen. Der Bischof war ebenso gebildet wie schlau. Als sein Vertrauter, Kompanion und Sekretär kam Pierce in den Genuss vieler intelligenter, anregender und Gedanken stimulierender Gespräche. Er machte auch die Bekanntschaft fast aller Pariser Gesellschaftsgrößen. Jeden Tag erfuhr er sowohl die klügsten als auch die haarsträubendsten Meinungen zu den Tagesgeschehnissen und aktuellen Problemen des Landes. Man sprach über die Last der Steuer, das Salzmonopol, die hohen Schulden der Krone, die chronische Lebensmittelknappheit und ihre Begleiterscheinungen: die Hungerrevolten. Wenn auch diese Probleme in der Öffentlichkeit allseits präsent waren, schien doch die Gesellschaft unfähig Lösungen zu finden. Nach und nach versank Frankreich in seinen wirtschaftlichen und sozialen Missständen. Die Armen standen vor dem Hungertod, das Leben der Reichen wurde unbequem. Der Handel litt. In einem Pariser Salon hörte Pierce zufällig, dass die Montgolfier-Mühle sich in Schwierigkeiten befand. Im Jahre 1789 tauchten auf den Pariser Straßen Pamphlete und Flugblätter auf. Pierce dachte bei sich, dass diese neue Art der Papierverwertung der Montgolfier-Mühle auch nicht weiterhelfen würde, da die politischen Aufrufe auf billigem, minderwertigem Papier gedruckt waren. Nachdem er eines Tages beobachtet hatte, wie ein Flugblattverteiler von Soldaten verhaftet und in Richtung Bastille abgeführt wurde, machte sich Pierce die Mühe ein 151
Blatt vom Kopfsteinpflaster der Place Louis xv aufzusammeln. Es schien ihm voller Flausen. Zum Beispiel gab es vor dem König raten zu wollen, er solle die Staatsschulden beheben, indem er das Steuersystem verstaatlichte. Pierce warf den Zettel wieder in die Gosse. Steuerfragen langweilten ihn maßlos. Er dachte zurück an seine Zeit bei König Karl. Der hatte noch fest an das Gottesgnadentum der Könige geglaubt. Schlimmer noch, er konnte es sich nicht verkneifen, auf diese hohe Weisung zu pochen, als er mehr Geld von seinen widerwilligen Untertanen verlangte. Nur ein gezielter Hieb von des Henkers Axt und die damit bewirkte Trennung von Kopf und Körper ließen ihn zu diesem Thema endlich schweigen. Eines Morgens im April brachte der Diener mit dem Frühstück die Nachricht, im Troisième Arrondissement sei eine Tapetenfabrik vom Pöbel angezündet und niedergebrannt worden. Es gab nur eine Tapetenfabrik im Troisieme. Pierce bat den Bischof ihm freizugeben, damit er hingehen könne. Es war kalt für April, doch in der Nähe der Reveillon-Fabrik erwärmte sich die Luft. Von dem Gelände stieg immer noch Rauch auf. Pierce gesellte sich zu der Menschenmenge, die um das rauchende Steingerippe versammelt war. Die dicken Mauern waren versengt, Tageslicht drang durch die Fenster, denn das Gebäude hatte kein Dach mehr. Hier und da ragte ein rußgeschwärzter Balken heraus. Pierce meinte zu erkennen, dass innen die Asche bis zu zwei Fuß und höher lag. Durch die Luft flogen Aschefetzen und ein beißender Geruch lag über dem Schauplatz. Alles war zerstört, nur die Steinmauern standen noch. Nichts blieb von der Fabrik und den Wohnräumen der Reveillons. Pierce fragte sich, ob Montgolfier auch etwas bei diesem Feuer verlo152
ren habe. In der Menge drängten sich hauptsächlich Anwohner. Sie waren schäbig gekleidet. Pierce erkannte, dass die Not in dieser Stadt sehr groß war, größer vielleicht als ihm vorher bewusst war. Ein alter Mann mit ungepflegtem Bartwuchs und von unappetitlichem Geruch stand neben ihm. »Geht es Monsieur Reveillon gut?«, fragte Pierce. »Die ganze Familie war im Haus.« Der Mann lachte hämisch. »Aber keine Sorge. Es sind noch genügend Reiche und Adelige übrig. Schön zu sehen, dass sich die Pariser Ratten ab und zu mal einen Braten rösten.« »Wie kam es denn zu dem Feuer?«, fragte Pierce. Er wusste von den Unruhen im Land und erwartete zu hören, Reveillon hätte seine Arbeiter geschunden oder etwas Ähnliches. Aber das war nicht der Grund, den der schäbige alte Mann angab. »Die haben da drin Zunftarbeit geleistet. Aber sie gehörten keiner Zunft an«, empörte sich der Mann. Nach Pierces Meinung waren die Zünfte zumindest zum Teil, wenn nicht hauptsächlich, schuld an der Misere der armen Leute. Die Zünfte verhinderten, dass Menschen Arbeit fanden, wie das Beispiel Jacques bewies. Die Zünfte kontrollierten und behinderten den Handel. Es schien ihm merkwürdig, dass die armen Leute so erbittert kämpften um die Zünfte zu erhalten. Die Sache erinnerte ihn an den Hund, den er bei Lyon erschlagen musste. Nur waren die Leute hier nicht so wohlgenährt. Er wandte sich von der Szene ab und bahnte sich seinen Weg zurück durch die Menge. Seitab fand er Etienne Montgolfier. Der Herr der Mühle hielt eine kleine Mappe im Arm. Er schien sie als Unterlage für eine Zeichnung zu benutzen. Montgolfier war ganz versunken und bemerkte Pierces Kommen nicht. Pierce wartete, bis sein früherer Arbeitgeber einhielt, aufsah und ihn erblickte. 153
»Perce!« »Monsieur«, sagte Pierce. »Es tut mir Leid, was mit Ihrem Freund passiert ist.« »Reveillon war ein Ehrenmann und Wissenschaftler«, antwortete Montgolfier. »Wussten Sie, dass er seinen Arbeitern ein Drittel mehr bezahlte als sonst jemand hier in der Stadt? Ich glaube, darum haben sie ihn verbrannt. Sie waren neidisch auf seine Arbeiter.« Pierce besann sich. Wie empfindlich ist doch das Gefüge, mit dem man Menschen kontrolliert. Verlange zu viel und sie erheben sich und lassen dich köpfen, wie es der Fall König Karls beweist. Kommst du ihnen aber entgegen, wie Monsieur Reveillon, erheben sie sich um dich zu verbrennen. Du musst beides erreichen, sie wohl zu nähren ohne ihnen die Furcht zu nehmen. Wie bei dem Schäferhund und seinen Schafen. »Ist Jacques etwas passiert?«, erkundigte sich Pierce. »Das weiß ich nicht.« Montgolfier beendete mit ein paar Strichen seine Zeichnung, dann schloss er sie in die Mappe. »Ich habe ihn seit gestern nicht mehr gesehen.« Pierce fragte sich, ob sein Protegé überlebt hatte, da er ja wahrscheinlich Anlass dieser heftigen Reaktion des Pöbels gewesen war. Montgolfier sah sich um. »Paris ist ein gefährlicher Ort geworden, Pierce. Ich gehe zurück nach Vidalon.« Er nickte zum Gruß und wandte sich zum Gehen. »Werden Sie wieder fliegen, Monsieur?« Montgolfier schien die Frage einen Moment lang zu erwägen. Dann schüttelte er heftig den Kopf. »Wie könnte ich sicher sein, dass die Erde noch da ist, wenn ich wieder herunterkomme?«
154
11 Norman rollte in die Einfahrt und stellte den Motor ab. Die Außenbeleuchtung an der Hintertür brannte und vermittelte ihm das tröstliche Gefühl, dass seine Familie ihn erwartete. Ihm war schrecklich zumute. Was den Laborangestellten anging, so wurde er das Unbehagen nicht los, dass Jacqueline sich ihm gegenüber eher etwas angemaßt hatte, statt ihm eine lästige Pflicht abzunehmen. Hoffentlich würde sich heute abend eine Gelegenheit bieten mit Gwen über diese Angelegenheit zu sprechen. Er stieg aus dem Wagen, schloss ab und schleppte sich ins Haus. Auf dem Küchentresen stapelten sich die Verpackungen von irgendwelchen Fertiggerichten. Seine Flasche Scotch stand in der Ecke und enthielt immer noch gut zwei oder drei Drinks. Norman beäugte die Schachteln. Sie waren leer bis auf die Spuren einer undefinierbaren Soße. Aber er hatte sowieso keinen Hunger. Er leerte den Rest der Whiskyflasche in ein Glas und begab sich damit ins Wohnzimmer. Der Anblick seiner Familie auf dem Sofa beruhigte ihn ein wenig. Gwen saß zwischen Justin und Megan. Sie hatte die Arme um die Kinder gelegt, alle drei sahen sich eine Fernsehsendung an. Es schien dasselbe Infomercial zu sein, das Justin und Megan am Vorabend gesehen hatten. Derselbe Personalentwicklungsspezialist mit Föhnfrisur ließ sich über die Wichtigkeit von Selbstbewusstsein aus und seine Studiogäste sahen so aus, als ob sie es brauchten. Die Familie hatte Norman nicht eintreten hören, aber Justin schaute zufällig hoch, als er sich hinter sie stellte. 155
»Hallo, Paps.« Gwen und Megan blickten nun ebenfalls auf und begrüßten ihn. Beim Anblick des Whiskyglases in seiner Hand verfinsterte sich Gwens Miene etwas und Norman konnte förmlich sehen, wie viel Mühe es sie kostete, ihn anzulächeln. »Hallo, mein Schatz«, sagte er. Gwen stoppte das Videoband und legte die Fernbedienung auf den Tisch. Dann streckte sie ihm die Arme entgegen. Norman trat um den Couchtisch herum, beugte sich über Gwen und gab ihr einen Kuss. Er umarmte sie mit der freien Hand, in der anderen hielt er sein Whiskyglas. Megan gab er einen liebevollen Knuff, dann zauste er Justins Haarschopf. »Na, was gab’s heute, ihr Weicheier!« Die Kinder gaben ihm einen kurzen Abriss ihres Schultags, dann griff Justin wieder zur Fernbedienung und ließ das Band weiterlaufen. Norman hätte sich gern zu den anderen aufs Sofa gesetzt, aber zunächst brauchte er seinen Scotch. Außerdem fürchtete er, dass sie seine Fahne riechen würden. Also ließ er sich in seinem Fernsehsessel nieder. Mit einem Quietschen kippte die Rückenlehne nach hinten, als er sich bequem zurücklehnte und die Füße hochlegte. Er nippte weiter an seinem Whisky, während er die Sendung verfolgte. Dieses Infomercial gehörte zu der dümmlichen Sorte. Offenbar wurde für eine Art Startset mit Formblättern, Notizbüchern und Software geworben. Angeblich sollte das alles beim Abfassen von Lebensläufen, Formulieren von Bewerbungsschreiben und der Vorbereitung für ein Einstellungsgespräch helfen. Norman fand, dass jeder Mensch, selbst bei einfachster Grundausstattung an 156
Verstand, bereits über derlei Ausrüstung verfügte. »He, Justin«, rief er. »Kommt denn heute gar nichts über Haar aus der Spraydose oder Steakmesser oder so was?« »Norman«, mischte Gwen sich ein. »Ich war der Meinung, es könnte nichts schaden, wenn die Kinder so etwas sehen. Es ist nie zu früh zu lernen, wie man einen Lebenslauf schreibt.« Norman beschloss, dass es nichts schaden konnte, wenn er aufmerksam zuhörte. Am Ende der Sendung war Normans Glas leer und er hatte absolut nichts davon behalten, wie man einen guten Lebenslauf verfasst. Zeit die Kinder ins Bett zu bringen. Norman und Gwen gingen von einem Kinderzimmer ins andere und sagten den Kindern gute Nacht, wie sie es gewohnt waren, nur kam Norman sich diesmal vor, als teilte er dieses Ritual mit einer Fremden. Merkwürdig, dass man mit jemanden so lange zusammenleben kann und dann plötzlich feststellt, dass der andere genauso einsam in seiner Haut ist wie man selber. Norman überlegte, ob er mit Gwen das Thema Blankenship anschneiden sollte. Er beschloss die Unterhaltung auf geschäftliche Belange zu beschränken. Er fragte Gwen, wie ihr Tag verlaufen war. »Och, ganz gut eigentlich«, meinte sie. »Du hast ja wohl den ganzen Whisky ausgetrunken, was?« Norman zuckte die Achseln. »Ich hab Probleme im Betrieb. Heftige Probleme.« Gwen schien nicht überrascht. »Hat das mit der Sanierung zu tun?« »Ja, aber nicht so, wie du denkst.« »Du wirst doch nicht entlassen oder?« »Glaube nicht. Aber diese Umstrukturierung ist mir nicht 157
geheuer.« »Umstrukturierung?« Das war die Sprache, die Gwen am besten verstand. »Ich würde gern mal wissen, was du von diesem Pierce hältst«, sagte Norman. »Will er die Firma wirklich umstrukturieren?« »Weiß nicht. Ich nehm’s an.« »Erzähl.« Gwen war richtig aufgeregt. »Hat er mit einer Blankoseite Papier angefangen, so wie die Experten empfehlen?« »Hat er tatsächlich, ja«, gab Norman zu. »Aber das ist es nicht, worüber ich mit dir reden wollte.« »Löst er alle Abteilungen auf? Wie stellt er sich die Kompetenzverteilung vor, wenn er das Personalwesen abschafft?« »Keine Ahnung«, sagte Norman. »Meine Sorge gilt eher dem, was er mit unserer Produktserie vorhat.« »Produktserie? Was interessiert dich die Produktserie? Du bist der Leiter der Personaladministration!« Das klang ganz so wie das, was Norman erst vor wenigen Tagen zu Jacqueline gesagt hatte. Vor wenigen Tagen? Eine Ewigkeit schien das her zu sein. »Keine Ahnung.« Nichts schien mehr irgendwelchen Sinn zu machen und Norman fühlte sich unter einem entsetzlichen Druck. »Zieh dich aus und geh ins Bett.« Gwen hatte bereits damit begonnen, sich die Kleider abzustreifen. »Du bist total verspannt. Du brauchst Entspannung.« Ehe er wusste, was eigentlich geschah, fand Norman sich splitternackt auf dem Bett wieder und Gwen, ebenfalls nackt, kniete bereits über ihm und nahm mit kreisendem Becken Besitz von seiner Erektion. Sie packte ihn fest an den Schultern, beugte sich vor und begann rhythmisch zu stoßen. Es war nicht unbedingt die Position, in der er ihr die Vorgänge in der Firma erklären konn158
te. Eigentlich konnte er an gar nichts anderes mehr denken als an das, was sich in seinen Lenden abspielte. Nachdem sie beide ihren Höhepunkt gehabt hatten, fiel Norman in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als Norman am nächsten Morgen in seiner Abteilung erschien, fand er Louise in einem Nebel aus Haarspray an ihrem Schreibtisch sitzen und auf einen Stapel Hausmitteilungen starren. »Guten Morgen«, grüßte Norman. »Schon was los gewesen?« »Irgendwie komisch, heute«, sagte Louise. »Keine Anrufe. Keiner kommt vorbei. Und dann hab ich das hier auf meinem Schreibtisch gefunden.« Sie nahm den Papierstoß auf und reichte ihn Norman. Norman überflog die Papiere. Alles Kündigungsanweisungen. Dutzende. Und alle schienen in Jacquelines Handschrift verfasst. »Was geht hier vor, Norman?« »Keine Ahnung«, erklärte Norman. Diese Bemerkung schien sich allmählich zu einer Art Slogan zu entwickeln. »Sie sind der Abteilungsleiter und so etwas bedarf Ihrer Zustimmung«, sagte Louise. Es war nicht ganz klar, ob sie das als Feststellung oder als Vorwurf meinte. Norman setzte sich an seinen Schreibtisch und fragte sich wieder einmal, was hier eigentlich vorging. Er hörte, wie Cheryl hereinkam und sogleich ihr altes Thema mit Louise wieder aufgriff. »Es ist doch immer dieselbe Geschichte«, meinte Cheryl. »Sie kommt einem bloß anders vor, weil sie in einer Kleinstadt spielt.« »Deswegen funktioniert sie ja so gut«, wandte Louise ein. »In einer Kleinstadt erwartet man keine Vampire. Man er159
wartet überhaupt nichts unsäglich Böses in einer Kleinstadt.« Unsäglich Böses. Norman hatte sich noch nie Gedanken über das Böse gemacht, geschweige denn unsäglich Böses. Die Firma stand kurz davor, einen Durchbruch in der Aidsforschung zu erreichen, und Pierce verwarf diese Chance für irgend so eine Sache mit Direktvermarktung. War das nun böse? Oder unsäglich böse? Es schien beinahe so, als warfen die Leute mit Begriffen um sich ohne zu wissen, wovon sie sprachen. Norman erhob sich und stellte sich neben die offene Tür um besser mithören zu können. »Ach, komm schon, Louise«, blaffte Cheryl. »Findest du das nicht ein bisschen einfältig, was du da sagst? Sie spitzen bei Tag ihre Baseballschläger und machen sich in der Dämmerung auf die Suche nach dem Vampir. Und dann wundern sie sich, wenn er sie im Dunkeln packt. Die einzige Person mit wenigstens einem Funken Verstand ist der Vampir!« »Darf ich mal stören?« Norman löste sich von der Türschwelle und betrat das Vorzimmer. Die beiden Sekretärinnen wandten sich mit fragendem Blick zu ihm um. »Haben Sie Jacqueline gesehen?« »Nein, heute noch nicht«, antwortete Cheryl. »Warum haben sie die Baseballschläger angespitzt?«, wollte Norman wissen. »Die eignen sich hervorragend zum Pfählen«, erklärte Cheryl. »Solides Holz, abgeplattetes Griffende, da sitzt jeder Schlag.« »Haben sie ihn denn erwischt?«, fragte Norman. »Haben sie ihn gepfählt? Im Buch, meine ich.« Cheryl verdrehte die Augen, als hätte sie es mit einem Haufen Idioten zu tun. 160
»Ja, den großen haben sie gekriegt«, berichtete Louise. »Aber dann war es zu dunkel und sie mussten die anderen laufen lassen.« »Was geschah dann?« »Alle Einwohner der Stadt wurden Vampire bis auf einen Mann und einen Jungen, die sind entkommen.« »Die ganze Stadt?« »Ja«, sagte Louise. »Der Mann kam später zurück und hat alles abgefackelt.« »Oh Gott!« Cheryl schüttelte sich angewidert. »Am helllichten Tag«, fügte Louise hinzu. Norman ging an seinen Schreibtisch zurück und überdachte, was er da gehört hatte. Angespitzte Baseballschläger. Eine ganze Stadt wird zu Vampiren. Er befand, dass er nicht mehr scharf war auf diesen Roman über einen Vampir-Rockstar in New Orleans. Norman hatte in seiner ganzen beruflichen Laufbahn noch nie Probleme mit der Arbeit gehabt und wusste nicht, wie er die Sache hier in den Griff bekommen sollte. Er war immer ein guter Teamarbeiter gewesen. Er hatte sich zwar im Hintergrund gehalten, aber das Seine beigetragen. Und er war stolz auf seine Firma gewesen, weil er sich als Teil davon verstanden hatte. Nur war dies nicht mehr dieselbe Firma. Pierce sprach zwar von Teamarbeit, schien aber nicht wirklich daran interessiert zu sein. Man brauchte sich doch bloß anzusehen, wie er aus Jacqueline einen Star machte. Norman merkte, dass im Vorzimmer Bewegung entstand, bemühte sich aber, nicht darauf zu achten. Er schaute auf den Berg Kündigungsanweisungen, die Jacqueline geschrieben hatte. Es wurde Zeit, dass er sich damit befasste. Er griff sich das oberste Schriftstück. Wenn er sich nun weigerte die Kündigungen umzusetzen? Würden die Leute trotzdem ihren Job verlieren? 161
»Norman?« Er blickte auf und sah Louise in der Tür stehen. »Ja?« »Haben Sie die Personalakte von einem Mitarbeiter der Arthritisabteilung?« Norman erinnerte sich an den Laborangestellten, der das Xylol verschüttete. Seine Akte lag immer noch da. Er griff nach dem Ablagekorb und fischte den Hefter heraus. »Darf ich sie haben? Die Polizei braucht sie.« »Die Polizei?« Hinter Louise tauchten zwei Personen auf. Sie zuckte ein wenig zusammen, dann trat sie beiseite um die beiden eintreten zu lassen. Die eine war eine Frau jüngeren Alters, die wie eine Bankangestellte aussah, die andere Person war ein älterer Mann, der aussah wie der Typ, den sie in den Geschäften gewöhnlich aus seinem Kabuff an die Kasse rufen, wenn man mit Scheck bezahlen wollte. »Schon in Ordnung«, sagte der Mann zu Louise. »Wir sehen uns die Akte gleich hier an.« Er nickte in Normans Richtung. »Wir müssen sowieso mit ihm reden.« Die beiden traten näher und die Frau mit dem Aussehen einer Bankangestellten schloss die Tür. Der Mann ließ sich auf einem Stuhl nieder, die Frau griff nach der fraglichen Personalakte. Sie legte sie auf einen Aktenschrank und begann im Stehen darin zu blättern. »Ich bin Detective Riordan«, stellte sich der Mann vor. Er könnte dieses Haar aus der Spraydose verwendet haben, das Norman aus der Fernsehwerbung kannte. Er hatte ein faltiges, aber markantes Gesicht. Über seinem Gürtel wölbte sich bereits ein kleiner Bauchansatz. Bei der Polizei gab es offenbar kein Fitnessprogramm für die Beamten. »Und das ist Detective Capuana«, sagte Riordan. 162
Bei der Nennung ihres Namens hob die Bankangestellte kurz den Kopf. Sie hatte dunkles Haar und die blassen Augen einer Charakterdarstellerin, deren Namen Norman entfallen war. Er schätzte sie auf Ende dreißig. Sie sagte kein Wort und vertiefte sich wieder in die Akte. »Worum geht’s denn?«, wollte Norman wissen. »Einer Ihrer Angestellten hat Probleme am Arbeitsplatz«, erklärte Riordan knapp. Er holte ein schmales Notizbuch aus der Manteltasche, dann griff er in sein Jackett und zog einen Kugelschreiber heraus, der offenbar ein Polizeiemblem auf dem Klipp trug. Norman kannte die Sorte Kugelschreiber, sie wurden als Werbegeschenke verteilt. Er bekam regelmäßig Hochglanzkataloge über Werbemittel geschickt. »Sie meinen mit einem Vorgesetzten?«, sagte Norman. »Das wollen wir ja gerade herausfinden.« Riordan klickte den Kugelschreiber und die Mine sprang heraus. »Die Sekretärin da unten fand ihn heute morgen im Labor. Er war verblutet.« Norman starrte ihn an. »Die Aushilfe«, sagte er. »Bitte?« »Sie sagten Sekretärin. Sie meinen bestimmt eine Aushilfskraft.« Riordan wedelte diesen Einwand mit seinem Kugelschreiber als unwichtig beiseite. »Sie sind doch hier der Personalchef, nicht wahr?« »Personaladministration«, entgegnete Norman. »Bitte?« »Ich bin der Leiter der Personaladministration.« Riordan fuchtelte wieder mit dem Kugelschreiber. Norman fragte sich, was dem Mann eigentlich wichtig erschien. »Hat er sich geschnitten?«, fragte er. »Wer?« 163
»Der Laborangestellte. Sie sagten, er sei verblutet.« »Es war kein Schnitt mit einer Rasierklinge oder Ähnlichem«, sagte Riordan. »Es sind Einstiche. Am Hals. Wissen Sie, wer den Kerl auf dem Kieker gehabt haben könnte?« »Seine Vorgesetzte wollte ihn rausschmeißen«, erklärte Norman. »Aber Mordgelüste schien sie mir nicht zu haben.« Riordan machte sich Notizen in seinem kleinen Buch. »Wer sonst noch?« »Er war ein vorbildlicher Mitarbeiter«, meldete sich Detective Capuano von ihrer Position am Aktenschrank. »Warum sollte seine Vorgesetzte ihn entlassen wollen?« »Keine Ahnung«, bekannte Norman. »Jacqueline wollte sich darum kümmern.« »Jacqueline?« Riordan hob eine Braue. »Wer ist das?« »Die stellvertretende Leiterin der Personaladministration«, sagte Norman. Aber tief in seinem Inneren wusste er, dass Jacqueline weit mehr war als das. Er wusste nur nicht, wie er das der Polizei plausibel machen sollte. Sie ist der Shootingstar der Firma, von unserem Obermufti persönlich auserkoren und sie sieht aus, als ob sie an einem hochgradigen Fall von Müdigkeit leidet. »Können wir mit ihr reden?« »Sie ist momentan nicht hier«, erklärte Norman. »Sie kommt in letzter Zeit etwas später zur Arbeit.« »Ach?« Riordan schrieb wieder in sein Büchlein. »Kommt sie gewöhnlich immer zu spät?« »Ich wüsste nicht, was das mit unserer Angelegenheit zu tun haben könnte«, konterte Norman. »Wenn wir es mit einem möglichen Mordfall zu tun haben«, klärte Riordan ihn auf, »gehen wir allem nach, auch Veränderungen in den Gewohnheiten von Leuten. Manchmal bringt uns das auf eine Spur. Manchmal auch 164
nicht. Wann erwarten Sie Jacqueline?« »Ich weiß es nicht«, gab Norman zu. Riordan erhob sich. »Hier ist meine Telefonnummer.« Er reichte Norman eine Visitenkarte. »Sagen Sie ihr, ich möchte sie sprechen.« Dann wandte er sich Detective Capuana zu. »Was gefunden?« Sie zuckte die Achseln. »Dann nehmen Sie die Akte eben mit«, sagte Riordan. Die beiden wandten sich zum Gehen. Norman stand ebenfalls auf und begleitete sie hinaus. Cheryl und Louise hielten in ihrem Gespräch inne und starrten den Polizeibeamten nach. »Norman«, sagte Cheryl. »Noch ein Toter für die Akten.« Mit einem Schulterzucken drehte Norman sich um und ging in sein Büro zurück. Er dachte an Jacqueline. Er wollte sie fragen, ob sie den Laborangestellten gestern gesehen hatte. Aber an diesem Tag kam sie nicht mehr ins Büro. Als es Zeit wurde, fuhr Norman in den fünften Stock zu Pierce hinauf. Der Korridor lag, wie immer, verlassen da, als Norman aus dem Fahrstuhl trat. Er ging geradewegs zu Pierces Büro und klopfte an. Die Tür öffnete sich wie von Geisterhand. »Kommen Sie herein, Norman.« Jacqueline saß auf der Ecke von Pierces Schreibtisch. Es überraschte Norman nicht, sie zu sehen. Er war über das Stadium hinaus, wo ihn überhaupt noch irgendetwas überraschte. Sie trug ihr Powerkostüm, aber es sah so aus, als ob es dringend in die Reinigung musste, ja, Norman fragte sich, ob es überhaupt dasselbe Kostüm war, das sie gestern getragen hatte. In der Hand hielt sie einen Stoß Hausmit165
teilungen, die sie rasch überflog, obwohl Norman fand, dass man bei dieser schummerigen Beleuchtung schlecht lesen konnte. »Pierce wird sich etwas verspäten.« Jacqueline machte sich nicht die Mühe aufzuschauen. »Ich wollte Sie sowieso sprechen«, sagte Norman. Jacqueline reagierte nicht darauf und setzte ihre Lektüre fort. »Die Polizei war heute hier und möchte mit Ihnen reden.« Jacqueline rührte sich nicht. »Sie glauben, der Laborangestellte wurde ermordet«, sagte Norman. »Um welchen Angestellten handelt es sich?«, fragte Jacqueline endlich. »Über den wir gestern geredet haben«, klärte Norman sie auf. »Von der Arthritisabteilung, den der Eierkopf rauswerfen wollte.« »Man wird ihn bestimmt vermissen«, meinte Jacqueline ungerührt. Norman fehlten die Worte ob so viel Kaltblütigkeit. Er gab sich völlig locker und stolzierte durch Pierces Büro, als ob es hell erleuchtet wäre. Er beäugte die Buchrücken auf den Regalen, betastete das Mobiliar, befingerte die schweren Vorhänge. Es fiel ihm auf, dass Pierces Büro keinerlei persönliche Note trug. Es gab keine Erinnerungsstücke, keine Fotos, nichts von alledem, was die Schreibstuben und Kabuffs von Angestellten üblicherweise schmückte. Es gab noch nicht einmal gelbe Haftnotizen an seinem Computerbildschirm. Während Norman so herumwanderte, näherte er sich Pierces Schreibtisch. Irgendwann stand er Jacqueline genau gegenüber. Da lag ein Brieföffner. Er hatte nicht die firmenübliche Größe und Norman versuchte daraus auf Pierces Charakter zu schließen. Er musterte das Ding 166
eingehend und sagte sich, dass es nicht unbedingt ein Brieföffner sein musste, aber dann, warum um Himmels willen musste jemand, selbst so ein Sonderling wie Pierce, ein Stilett auf seinem Schreibtisch liegen haben? Der Griff war mit einem Lederstreifen umwickelt und an seinem Ende baumelte eine Quaste in der Form eines menschlichen Schädels. Norman konnte bei der schummerigen Beleuchtung nicht allzu gut sehen, meinte aber zu erkennen, dass das Gesicht einen verschmitzten Ausdruck trug. Norman hob das Instrument auf und wog es in der Hand. Ja, es war ein Brieföffner; die Schneide endete in einer stumpfen Spitze. Sie war etwa 17 cm lang, aber nicht scharf. Das Utensil lag bequem in der Hand wie eine perfekte Waffe. Norman stellte sich vor, wie er den ganzen Tag lang am Schreibtisch saß und mit diesem Ding Briefe öffnete. »Ein Stilett«, sagte Jacqueline. »Aus dem achtzehnten Jahrhundert. Pierce schätzt das achtzehnte Jahrhundert ganz besonders.« Jacquelines Demonstration ihrer Intimität mit dem Machtzentrum der Firma hatte den Effekt, den er haben sollte. Norman fühlte sich ausgeschlossen. Er legte das Stilett zurück. »Ich dachte, es ist ein Brieföffner.« »Ist es ja auch.« Jacqueline las immer noch ihre Memos durch. »Für einen Dolch gibt es ja in einem Büro wahrhaft keinen anderen Verwendungszweck.« Norman wusste genau, was Jacqueline ihm antat, und er ließ es zu. Sie machte ihn wieder einmal klein. Sie hatte den direkten Draht zum Schaltzentrum der Macht und er spielte nur eine Statistenrolle. Von ihm wurde praktisch erwartet, dass er ihre Füße leckte, als ob sie in der Machthierarchie über ihm stand. Was sie schließlich auch tat. Norman konnte nicht anders, als sich so zu verhalten, wie von ihm erwartet wurde. 167
»Wie geht es Ihnen, Jacqueline?«, begann er höflich. Jacqueline blickte auf. Sie trug keine Kontaktlinsen und in ihren dunklen Augen brannte ein kaltes Feuer. »Was schätzen Sie wohl?« »Ich wollte Sie nicht ärgern«, beeilte sich Norman zu sagen. »Ich ärgere mich nicht«, erklärte Jacqueline gelassen. »Ich ärgere mich überhaupt nicht mehr.« Mehr fiel Norman zum Thema Schleimer nicht ein. Was sollte er denn noch sagen? Er hatte sich nach ihrem Wohlergehen erkundigt, nach ihrer Familie konnte er schlecht fragen, weil er wusste, dass sie alleine lebte. Er musste sich der Tatsache stellen. Nachdem ihnen die Basis für eine belanglose Plauderei fehlte, musste er das Gespräch eben auf das rein Geschäftliche beschränken. Er deutete auf die Papiere in ihrer Hand. »Was Wichtiges?«, fragte er neutral. Jacqueline zuckte die Schultern. Norman hatte sie diese Geste noch nie zuvor machen sehen, ja nicht einmal geglaubt, dass sie dazu fähig wäre. Aber nun tat sie es und dazu noch mit einer eleganten Grazie, die er geradezu bewunderte. Eigentlich fand Norman alle ihre Bewegungen in letzter Zeit anmutiger im Vergleich zur früheren Jacqueline mit ihrem ungeduldigen und energischen Auftreten. Sie schaute ihn über die Memos hinweg an. »Wer weiß denn überhaupt, was noch wichtig ist?« Norman glaubte, dass diese Frage rein rhetorisch gemeint war, aber Jacqueline klang so aufrichtig mutlos, dass es ihn rührte. Er musste daran denken, wie lange sie schon zusammen arbeiteten und dass sie in seinen Augen eine vorbildliche Vorgesetzte war. »Alles in Ordnung bei Ihnen, Jacqueline?« »Aber ja. Warum fragen Sie?« »Um ganz ehrlich zu sein«, begann Norman, »sie sehen 168
schlecht aus. Ihr Benehmen ist auch anders geworden. Sie waren die beste Managerin, mit der ich je zusammengearbeitet habe, nur scheinen Sie in letzter Zeit die Vorschriften nicht so recht zu beachten.« Norman vermeinte einen Funken Wärme in dem kalten Feuer ihrer Augen aufblitzen zu sehen, so als ob Jacqueline sich über irgendetwas freute. Doch dann kehrte die Härte in ihren Blick zurück und sie stand da wie eine Eisskulptur in einem schlecht gebügelten Geschäftsanzug. »Im Gegenteil, ich bin jetzt eine viel bessere Managerin, Norman.« Jacqueline legte die Memos mit einem deutlichen Plop auf den Tisch. »Wir haben eine Menge Arbeit vor uns und können uns dabei nicht von Vorschriften behindern lassen.« Sie brach ab und blickte zur Tür. »Hallo, Pierce.« Norman schrak zusammen. Pierce stand in der offenen Tür. Pierce ging auf Norman zu und blieb vor ihm stehen. »Jacqueline, ich muss mit Ihnen reden. Warten Sie bitte nebenan, ich komme gleich zu Ihnen.« Jacqueline glitt vom Schreibtisch und schwebte hinaus. Norman blickte ihr nach, wie sie in den Schatten eintauchte. Als er sich wieder umdrehte, hatte Pierce es sich an seinem Schreibtisch bequem gemacht. »Norman! Schön Sie zu sehen.« »Pierce, finden Sie nicht, dass Jacqueline schlecht aussieht? Sie scheint überarbeitet zu sein.« »Wenn Leute einen Betrieb verlassen, tragen diejenigen, die zurückbleiben, die Last zusätzlicher Arbeit. Jacqueline kennt das Problem.« Pierce musste gelächelt haben, denn seine weißen Zähne blitzten kurz aus dem Schatten auf. »Ich mache das schon sehr lange, Norman. Glauben Sie mir, ich kenne mich aus in solchen Dingen.« »Machen was?«, fragte Norman. 169
»Nicht so wichtig«, erwiderte Pierce. »Wir müssen uns um unsere Arbeit kümmern.« »Moment mal, Pierce.« Norman war selbst überrascht, wie selbstsicher und bestimmt er auftrat. »Jacqueline hat sich seit der Besprechung mit Ihnen vor einer Woche total verändert. Sie benimmt sich ganz anders. Was geht hier vor?« »Wir sind beim Umstrukturieren, Norman. Das ist kein einfacher Prozess. Man gewinnt keine Schlacht ohne jemanden zu töten.«. »Wer redet denn von Schlachten?«, ereiferte sich Norman. »Oder vom Töten?« »Das ist bloß eine Metapher«, erklärte Pierce leichthin. »Wie Sie.« Norman merkte, dass Pierce etwas mit ihm teilte, er wusste nur nicht, was. Er bemühte sich einen Sinn in Pierces letzter Bemerkung zu erkennen. Pierce schien seine Gedanken erraten zu haben. »Sie sind eine Metapher für einen Bordercollie.« Stille senkte sich über den Raum und Norman überlegte, ob er antworten sollte. Er konnte es gar nicht. Irgendwann hatte sich seine Beziehung zu Pierce gewandelt und einen Punkt erreicht, an dem es keine Verständigung mehr gab. Norman verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was sein Boss sagte. Die grundsätzliche Idee der Metapher hatte er sowieso nie begriffen. Als die dran war, hatte er in der Schule gefehlt. Pierce setzte erneut an. »Entschuldigen Sie, Norman. Ich wollte Sie nicht mit einer Idee behelligen. Ich hatte ganz vergessen, dass Sie damit Probleme haben.« Pierce Stimme hatte einen warmen Klang, er sprach so, wie Norman es mit Justin tun würde. »Pierce«, sagte Norman. »Ich muss wissen, was los ist. Ich muss wissen, was Sie von mir wollen. Keiner küm170
mert sich mehr um Vorschriften. Abteilungen werden aufgelöst. Leute sterben. Die Polizei ermittelt.« Es brachte eigentlich gar nichts, den Tod des Laborangestellten auch noch ins Spiel zu bringen, aber irgendwie schien alles plötzlich auseinander zu brechen und miteinander verquickt zu sein. Nur Pierce, der schien sich nicht darum zu scheren! »Machen Sie mich für den Tod dieses armen Menschen verantwortllich, Norman?« »Natürlich nicht«, erwiderte Norman. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er denken sollte. Ein Gefühl der absoluten Mutlosigkeit überkam ihn. »Tut mir Leid. Ich glaube, die Belastung ist für mich zu groß.« »Kämpfen Sie dagegen an, Norman«, erklärte Pierce ruhig. »Ich sagte Ihnen ja, wie sehr ich Sie brauche. Wenn Sie unter dem Druck zusammenbrechen, werden eine Menge Leute in dieser Firma verloren sein. Diese Menschen brauchen Sie, Norman. Sie müssen wachsam sein, sie vor Gefahr schützen. Das meine ich, wenn ich Sie mit einem Collie vergleiche.« Norman wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte. Doch seine Frustration wischte seine Zurückhaltung beiseite. »Sie sollten das Aidsprojekt nicht aufgeben, Pierce. Es war das Beste an dieser Firma.« Pierce blieb einen Augenblick stumm. Als er wieder zu sprechen begann, war sein Ton eher geschäftsmäßig, weniger verbindlich. »Es gibt kein Mittel gegen Aids, Norman. Wird es auch nie geben.« Er sprach mit solcher Autorität, dass Norman beklommen einsah, dass er wohl Recht hatte. »Woher wissen Sie das?«, fragte er schließlich. Pierce überging die Frage. »Ich habe Ihnen ein paar Kündigungsanweisungen geschickt«, sagte er. »Ich erwarte, dass Sie sie ausführen.« 171
»Ich soll Leute auf die Straße setzen?« »Ja.« »Das gehört nicht zu meinen Aufgaben, Pierce. Ich mache Personaladministration. Ich entlasse niemanden.« »Von heute an, ja«, erklärte Pierce. »Ich habe die anderen Abteilungsleiter bereits gefeuert. Also bleiben nur noch Sie übrig.« »Ich habe aber keine Kündigungsanweisungen für irgendwelche Abteilungsleiter erhalten.« Norman kam sich vor, wie in einem Ruderboot ohne Riemen. »Ich hatte angenommen, Sie wüssten mittlerweile, dass ich oftmals schneller bin als der Schriftverkehr.« Norman fiel nichts dazu ein. Beide saßen sich einen Moment lang schweigend gegenüber. Schließlich ergriff Pierce wieder das Wort. »Nach reiflicher Überlegung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Sie etwa neun Kündigungen pro Tag schaffen. Sie würden vermutlich noch mehr schaffen, wenn Sie sie en bloc bearbeiteten, aber wir wollen ja keine Unmenschen sein, nicht wahr?«
12 Die Regierung stand vor dem Bankrott. Kurz nach dem Brand der Reveillon-Fabrik willigte der König endlich ein die Generalstände einzuberufen. Er hoffte, man würde eine neue Steuerform finden. Pierce erinnerte sich an Karl I. und das Rumpfparlament. War es den Königen denn völlig unmöglich, voneinander zu lernen? Der Bischof ließ sich in einem Anfall von Bürgerbewusstsein für den ersten Stand, den Klerus, zur Wahl stellen. 172
Pierce hatte für Politik nichts übrig. Dennoch wusste er, wenn irgendwer in diesem Metier erfolgreich sein würde, dann der Bischof. Er half ihm seine Wahlrede zu schreiben. In ihr versprach der Bischof große politische Änderungen, erklärte diese aber nicht näher. Männer, die für ein zweitausend Jahre altes Unternehmen arbeiten, sind konservativ. Die Priester, die ihn wählten, waren solche Männer. Der Bischof gewann die Wahl. Allerdings hatte er keine Gelegenheit mehr seinen Kollegen vom ersten Stand Neuerungsvorschläge zu machen. Sofort nach den Wahlen verlangte der dritte Stand, die Bürger, Vorrangstellung vor den anderen beiden Ständen und sogar vor dem König selbst. Der folgende Kampf resultierte darin, dass der dritte Stand sich zur Nationalversammlung konstituierte. Es wurde gemeinhin angenommen, die bürgerlichen Politiker des dritten Standes wollten lediglich die Aristokraten und den Klerus beschämen. Doch die Situation erwies sich als um vieles ernster. Die Nationalversammlung erklärte, sie würde Frankreich eine neue Verfassung geben und die konstitutionelle Monarchie ausrufen. Die darauf folgende Verhandlungspause zwischen der Nationalversammlung und den anderen zwei Ständen währte nur sehr kurz. Alle von der konstitutionellen Idee begeisterten Mitglieder des Adels und des Klerus schlossen sich schnell der Nationalversammlung an. Auf der Straße, in den Zeitungen und Flugblättern erschienen jede Woche mehr Namen dieser Überläufer. Der Bischof beobachtete die Entwicklung sehr genau, bevor er den besten Zeitpunkt für seinen eigenen Wechsel wählte. Schließlich schloss er sich genau eine Woche vor Auflösung des ersten Standes der Nationalversammlung an. Das war gerade noch früh genug um im Heldenruhm 173
des Revolutionärs zu baden. Und doch war es spät genug um sicherzugehen, dass die Institution, der er gerade den Rücken gewandt hatte, nicht doch noch am längeren Hebel säße. Pierce bewunderte wieder einmal das Zeitgespür seines Herren. Der Bischof war ohne Frage ein Mann, der die politischen Kräfte bestens einzuschätzen und zu nutzen wusste. Niemand jedoch war in der Lage die Kräfte auf den Straßen von Paris einzuschätzen. Im Juli stürmte der Pöbel die Bastille. Etwa sechshundert Menschen, unterstützt von abtrünnigen Soldaten, befreiten sieben ältliche Gefangene, die schon halb vergessen dort schmachteten, und besetzten dann die größte Pulverkammer der Stadt. Das Volk war selbst von der Gewalt seiner Maßnahmen überrascht. Der Nation wurde mit einem Schlag bewusst, dass die Bürgerarmee jetzt losgelassen war wie der Geist aus der Flasche und es kein Zurück mehr gab. Das Land erbebte unter der entfesselten Kraft. Jedes Dorf und jede Stadt im Königreich wurden von Gewalt heimgesucht. Überall fanden Überfälle und Morde statt. Es hieß, sie würden von streunenden Banditen begangen, doch starben wohl weit weniger Menschen von der Hand eines Banditen als von den Händen ihrer Nachbarn und Freunde. Die Öffentlichkeit fürchtete sich lieber vor dem unbekannten als dem bekannten Übel. Das Land lebte in Furcht und Schrecken. Pierce hatte schon früher erlebt, wie ganze Völker von einem Wahn ergriffen wurden – in den Albigenser Kriegen, bei den Hexenverfolgungen 1580 und im Dreißigjährigen Krieg. Doch er hatte immer angenommen, das wären Auswüchse des Christentums gewesen. Dies war der erste weltliche Wahn, den er miterlebte. Er vergaß die politische Karriere seines Herrn und setzte sich aufs Land ab um dieses verwirrende Spektakel aus der Nähe 174
zu betrachten. Nachts wanderte er von Stadt zu Stadt, tagsüber mischte er sich unter die Menge. Überall erlebte Pierce Steinigungen, Hinrichtungen und böse Schlägereien. Nie zuvor hatte er eine Luft geatmet, die so verpestet von Misstrauen und Angst gewesen war. Er fand es wundervoll. In diesen Sommer wählte Pierce eine blutjunge Bäckerstochter zu seinem ersten Opfer. Er hatte die Bettler und Tagelöhner satt. Zudem war der Vater des Mädchens so wohlhabend, dass sie eine eigene Schlafstube besaß. Zwei Tage lang folgte Pierce der Bäckerstochter zur Messe. Dann kroch er mitten in der Nacht in ihr Bett. Er war geübt im Anschleichen. Nicht ein Geräusch war zu hören, als er vom Fenster zum Bett schlüpfte. Dennoch saß sie aufrecht, sobald er ihre Schlafstelle berührte. »Bist du ein Engel?«, fragte sie. Sie konnte in der Dunkelheit Pierces Gesicht zwar nicht erkennen, dennoch bemühte er sich seine Erheiterung im Zaume zu halten. »Ja«, log er. »Ich wusste, dass du kommen würdest«, fuhr sie fort. »Ich habe jeden Tag darum gebetet. Bist du gekommen mir deinen Segen zu geben?« »Hast du dir denn eine Segnung verdient?«, fragte der Eindringling. »Oh, aber ja, ja«, antwortete das Mädchen mit Inbrunst. »Selbst wenn es ein wenig weh tut?« »Ja.« Also legte Pierce seine rechte Hand auf ihre Stirn und drückte ihr Gesicht sachte zurück. Mit seiner linken Hand bedeckte er ihren Mund und biss dann in die kleine Mulde ihres Halses. Er hätte ihren Mund nicht zuhalten zu brauchen, sie schrie nicht auf. Pierce bewunderte ihre Beherrschtheit. Sie musste sich diese Segnung sehr gewünscht haben. Ihr Blut schmeckte süß wie die Reinheit 175
der Jugend. Die Versuchung war zu groß. Pierce gab ihr nach und trank, bis das Herz des Mädchens keine Kraft mehr hatte zu schlagen. Als er sich in der Morgendämmerung erhob, lag sie da, blass und leblos. Etwas rührte sich im Haus. Pierce musste fliehen bevor man ihn fand. Er hatte keine Zeit mehr sie zu pfählen. Als er sich durch den Garten davonschlich, hörte er das leidvolle Geschrei des Vaters. Am nächsten Tage schwirrten Gerüchte durch die Stadt, es ging eine neue Krankheit um. Das Mädchen war sehr beliebt gewesen. Die Trauer in der Gemeinde war groß. Noch vor Ende der Woche fand eine imposante Begräbnisandacht statt. Auf Wunsch des Vaters buk die Zunft Brot und verteilte es zum Gedenken seiner Tochter an die Bürger. Diese Speisung machte sie noch populärer und die Tränen fanden kein Ende. Das änderte sich allerdings schlagartig, als das Mädchen am nächsten Tag von seinem Grabe aufstand und die braven Bürger in ihren Betten angriff. Der Gemeindepfarrer rief eine posse comitatus zusammen und spürte die Besessene mit diesen tapferen Männern noch vor Sonnenuntergang des nächsten Tages auf. Pierce schloss sich ihnen an, hielt sich aber am Rand der Gruppe. Es amüsierte ihn, wie wichtig es diesen Bürgern zu sein schien, sie noch vor Sonnenuntergang zu erwischen. Schließlich hatten sie das Mädchen auf den Marktplatz vor die Kirche getrieben und umringten es. Es trug sein weißes Grabgewand, allerdings war es nicht mehr völlig rein. Braune Flecken am Kragen ließen darauf schließen, dass sie nicht sehr manierlich getafelt hatte. Außerdem war das Gewand unten eingerissen um mehr Bewegungsfreiheit zu gewähren. Die Männer, bewaffnet mit Spießen und Knüppeln, zogen ihren Kreis enger. Zwei 176
warfen ihre Waffen nieder und ergriffen das Mädchen. Sie biss wütend um sich. Der eine blutete schon und versuchte sie zu schlagen, doch der Pfarrer gebot ihm Einhalt. »Wir sind nicht hier um zu strafen«, sagte er. »Unsere Aufgabe besteht lediglich darin, das Böse, das diesen Körper besessen hat, auszutreiben.« Also rangen die beiden Männer sie auf den Boden nieder und hielten sie fest. Der Geistliche kniete sich daneben und sang ein Gebet auf Lateinisch. Er zielte den Pfahl gegen ihre Brust. Pierce verstand das Gebet nicht richtig. Es war Jahrhunderte her, dass er Latein gehört hatte. Mit dem ersten Schlag des Holzhammers stieß die Untote einen Schrei aus, der das bunte Glas der Kirchenfenster erschütterte. Sie blutete nicht sehr stark, denn sie hatte nur zweimal ein Opfer geschlagen und auch dann ihre Mahlzeiten nicht beendet. Beim zweiten Hieb war sie schon leblos. Der Geistliche erhob sich langsam und sprach mit seiner Gemeinde ein Gebet. Pierce betete mit um nicht aufzufallen. Er hätte sich nicht die Mühe machen brauchen. Die Leute waren so vom Austreiben des Bösen in Anspruch genommen, dass sie sich um nichts kümmerten als um ihr Gebet. Sie ließen den Körper über Nacht auf dem Marktplatz liegen um andere Untote abzuschrecken. Dann gingen die Bürger noch vor Dunkelheit nach Hause. Pierce kehrte spät in der Nacht zur Kirche zurück. Ein Licht brannte in der Pfarrei. Offensichtlich war der Geistliche noch wach. Pierce entschloss sich ihm einen Besuch abzustatten. Er hieß Vater Henri. Sein Quartier war ausgesprochen bescheiden und Pierce vermutete, dass er dieses spartanische Leben gern und aus Überzeugung führte. In dem kleinen Zimmer befand sich nichts außer einem Stuhl und einem Bett. 177
Vater Henri wies Pierce den Stuhl an, er selbst saß auf dem Bett. Pierce ertappte sich dabei, wie er den einzigen Zimmerschmuck anstarrte – ein Kreuz über dem Bett. Er musste an die Legende denken, solche wie er hätten Angst vor diesem Symbol. Er betrachtete das Ding. Eine mittelmäßige Arbeit, wer war nur jemals auf den Gedanken gekommen, so etwas könnte ihm schaden. Vielleicht wenn sie das Ende anspitzten und es ihm in den Körper trieben – das könnte ihn eventuell aufhalten. Aber selbst da wären sie mit einem Spieß besser bedient. Vater Henri riss Pierce aus seinen Gedanken. »Was kann ich für Sie tun, Monsieur Perce?« »Sie sagten heute, es sei nötig, das Böse aus dem Körper des Mädchens zu vertreiben. Wie aber kann man das Böse erkennen?« »Jeder, der guten Glaubens ist, vermag das Böse zu erkennen«, bekannte Vater Henri. »Und wie kann ich den Glauben erkennen?«, wollte Pierce wissen. Vater Henri sah ihn prüfend an. »Haben Sie keinen Glauben, Monsieur Perce?« »Ich weiß nicht genau«, antwortete Pierce. »Ich bin bar jeder spirituellen Erleuchtung.« Vater Henris Augen leuchteten auf, so als wäre er Entdecker in einer unerforschten Wildnis Amerikas. Dann erzählte er Pierce eine lange Geschichte über seine Berufung zum Dienste Gottes. Henri (denn das Erlebnis hatte noch vor seiner Weihe zum Priester stattgefunden) war damals Soldat im Dienste des Comte de Rochambeau. Seine Brigade wurde nach Amerika geschickt, wo sie auf Rhode Island dem amerikanischen General George Washington unterstanden. Trotz der Sprachschwierigkeiten arbeiteten sie eng 178
mit den amerikanischen Soldaten zusammen. Auf einem strammen Marsch Richtung Süden nach Yorktown in Virginia kamen sie ihren amerikanischen Kameraden näher. In Yorktown belagerten die amerikanischen und französischen Streitkräfte gemeinsam die Engländer unter General Cornwallis. »Wenn Sie noch nie eine Belagerung mitgemacht haben, Monsieur«, erklärte Vater Henri, »kann ich Ihnen versichern, dass da mehr Arbeit drinsteckt, als man sich generell vorstellt. Die belagernde Armee baut eine Stadt, die der belagerten durchaus gleicht: Es gibt Festigungsanlagen, Stellungen für die Gewehre und eine große muntere Gemeinde von Soldaten und Marketenderinnen. So ein Lager zu bauen ist schon eine stolze Leistung. Leider ist diese in den Dienst von Gewalt und Zerstörung gestellt.« Pierce war fasziniert. Nach Vater Henris Beschreibung klang ein militärisches Manöver fast so interessant wie der Handel. Henri gehörte der wichtigsten Einheit in solchen Belagerungsmanövern an, nämlich den Pionieren. Diese Männer müssen die Befestigung des Feindes unterminieren. Sie arbeiten sich in Gräben, die man Sappen nennt, im Zickzackkurs so nah wie möglich an den Feind heran. Dann versuchen sie in die gegnerische Befestigungsanlage eine Bresche zu schlagen. Meist benutzten sie dazu Sprengladungen. »Diese Aufgabe erfordert Fingerspitzengefühl und ist sehr gefährlich«, erklärte Vater Henri. »Dabei fehlten uns Arbeitskräfte um all die Sappen zu graben, die unsere Generäle für nötig hielten. Also forderten wir Verstärkung aus den amerikanischen Reihen an. Wie gesagt, hier handelte es sich um gefährliche und schwierige Arbeit. Wir waren nicht direkt überrascht, dass sich keine Freiwilligen bei den Amerikanern meldeten. Sie schickten uns 179
ihre Sklaven.« Zunächst haben die Franzosen wegen der Sklaven ganz schön gemurrt. Schließlich waren es ja die Amerikaner, die von dem Manöver am meisten profitierten. Es war undankbar und feige von ihnen, nicht selber das Risiko auf sich zu nehmen. Doch die Klagen verstummten, als sie die Sklaven kennen lernten. Man vertrug sich nämlich glänzend. Schließlich besteht gar kein so großer Unterschied zwischen einem Soldaten und einem Sklaven. Beide sind nicht frei, jedenfalls nicht wirklich. Beide hängen mit Leben und Tod von ihren Herren ab. Beide werden geprügelt, wenn ihre Herren nicht zufrieden sind. Während sie so Seite an Seite arbeiteten, brachten die Soldaten den Sklaven Französisch bei. Und die Sklaven brachten den Franzosen ihre merkwürdigen traurigen Lieder bei, gesungen in einer Sprache, die keiner von den Soldaten zuvor gehört hatte. Henri freundete sich mit einem kräftigen jungen Sklaven namens Cicero an. Diesen Namen hatte er nicht selbst gewählt, wie er Henri in seinem gebrochenen Französisch erklärte. Er war ihm gegeben worden. Auf hartnäckiges Nachfragen nannte er Henri seinen wirklichen Namen, doch der Franzose konnte ihn nicht aussprechen und so blieb er bei Cicero. Nachts wurde Cicero an seine Gefährten gekettet. Manchmal schlich sich Henri zu ihnen und brachte ihnen Extrarationen und Grog mit, über den sie sich ganz besonders freuten. Einmal, nach dem Genuss einer ordentlichen Ladung Grog, erzählten sich Henri und Cicero von den Prügeln, die sie im Dienst bezogen hatten. Ciceros Strafen hörten sich auch nicht schlimmer an als die, welche Henri erleiden musste. Nur schien er öfter drangenommen zu werden. Cicero schätzte, dass er schon über hundert Mal in seinem Leben ausgepeitscht worden war. Allerdings konnte er nicht einmal unter Einfluss des Alko180
hols dazu gebracht werden, Klagen zu äußern. Henri vermutete, diese Zurückhaltung lag weniger an Ciceros Loyalität für seine Herren, als an seinem tief verwurzelten Misstrauen weißen Gesichtern gegenüber. Ein halbes Dutzend Männer, unter ihnen Henri, sollte in der weichen Erde Virginias einen Schacht ausheben. Sie konnten immer nur ein paar Fuß weit graben und mussten dann die Aushebung mit Holzbalken abstützen, bevor sie wieder weitergraben konnten. Der Schacht war eng und schmal. Alle zwanzig Fuß mussten sie ein Luftloch in die Decke arbeiten. Irgendjemand hatte einen Fehler gemacht, ob es nun der Zeichner war, der die Pläne erarbeitet, oder der Zimmermann, der die Stützbalken im nahen Wald zurecht gehauen hatte. Auf jeden Fall stürzte der Tunnel nach etwa fünfzig Fuß Aushebung ein. »Zu der Zeit waren drei Sklaven im Schacht«, berichtete Vater Henri. »Genauer gesagt waren sie die einzigen Männer dort unten. Ich erreichte die Unfallstelle als erster und fand Cicero, kaum noch am Leben. Ein großer Stützbalken lag auf seiner Brust. Er konnte nicht sprechen. Er lebte nur noch einen Moment lang, seinen Kopf in meinen Händen. Während er starb, überkam mich ein wunderbares Gefühl des Friedens. Ich spürte, wie seine Seele an mir vorbeistrich.« »Und das war der Moment Ihrer Erleuchtung?«, fragte Pierce. »Ja«, sagte Vater Henri. Pierce hatte ja schon viele Köpfe im Moment des Todes gehalten, aber noch nie hatte er etwas Ähnliches erlebt. Ein spirituelles Erlebnis schien wohl von der Empfänglichkeit des Geistes abzuhängen. Pierce dachte, dass diese Empfänglichkeit ihm vermutlich fehlte. »Kann ich denn das Böse nicht erkennen, wenn ich nie eine Erleuchtung hatte?« wollte er wissen. 181
»Das Böse ist die Abwesenheit des Guten«, erklärte Vater Henri. »So wie die Dunkelheit die Abwesenheit von Licht ist. Wenn du Licht erkennen kannst, kannst du Dunkelheit erkennen. Wenn du Gutes erkennen kannst, kannst du auch das Böse erkennen.« Vater Henris Argumentation erschien Pierce wie die eines Kindes und dieser Gedanke spiegelte sich offenbar auf seinem Gesicht wieder. Vater Henris Augen weiteten sich. »Dich schickt der Teufel, nicht wahr?« »Ich habe vielleicht mehr gesehen, als Ihr Euch vorstellen könnt, aber den Teufel habe ich nie getroffen«, erwiderte Pierce. Der Geistliche griff nach dem Rosenkranz an seiner Mitte. Pierce fürchtete, er könnte zu beten anfangen, und war jetzt nicht in der Stimmung für eine Litanei. Also griff er nach dem Pfarrer, auch wenn es noch nicht lange her war, dass er zuletzt gespeist hatte. Der Geistliche kämpfte wie ein Tiger. Auf so einen Kampf war Pierce nicht vorbereitet. Er riss eine viel größere Wunde als sonst und verletzte dabei eine Arterie. Vater Henris Blut spritzte aus der verletzten Ader durch den ganzen Raum. Während seine Seele ihn verließ, zischte der fromme Mann noch ein letztes Gebet. »Vater im Himmel, schütze die Seele deines Dieners vor diesem Bösen.« Pierce war gekränkt. Würde Vater Henri ihn auch für böse halten, wenn er wüsste, dass ihm keine Wahl blieb? Er war, was er war. Aber Vater Henri verschied, ehe er dieses Thema mit ihm erörtern konnte. Pierce sah sich um. Der Raum bot einen fürchterlichen Anblick. Bett und Stuhl waren umgeworfen, das Kreuz von der Wand geschlagen und überall klebte Blut – auch an Pierce selber. Pierce war entsetzt, er nahm es immer 182
sehr genau mit seinen Tischmanieren. Es bereitete ihm keinen Genuss, Blut zu vergießen. Um einen Pfahl zu schnitzen musste er den Stuhl auseinander brechen. Dann pfählte er Vater Henri. Der Geistliche wäre sowieso ein schlechter Untoter gewesen. Pierce verließ den Raum und trat auf die dunkle Straße. Vater Henris Gebet machte ihm das Herz schwer. Hatte der Mann tatsächlich erwartet, dass eine übernatürliche Kraft ihm zu Hilfe eilen würde? Pierce ärgerte sich bis zum Punkt der Scham über sein eigenes Verhalten. Erst hatte er ein Opfer laufen lassen und erlaubt, dass es zum Untoten wurde, und jetzt hatte er ein anderes ohne Not getötet. War er schon infiziert von der Unruhe des Landes? Hatte die Große Angst auch ihn schon gepackt? Hatte er es zugelassen, dass diese Leute ihn dazu brachten, seine eigenen Vorsätze zu vergessen? Nie war Pierce näher daran gewesen, Gewissensbisse zu verspüren, und das Gefühl war ihm äußerst unangenehm. Pierce hatte auch noch nie ein menschliches Wesen um Rat gefragt. Doch jetzt erinnerte er sich, dass da jemand war, der ihm helfen könnte. Er fuhr zurück nach Paris um den Bischof von Autun aufzusuchen. Der Bischof war entzückt ihn zu sehen. Er forderte Pierce auf an seinem alten Schreibtisch Platz zu nehmen, während sie sich unterhielten. Ganz so, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten. »Perce, ich fürchtete schon, ich hätte Sie ganz verloren. Überall habe ich nach Ihnen gesucht.« »Ich war auf dem Land«, sagte Pierce. »Es scheint Ihrer Gesundheit nicht sehr zuträglich gewesen zu sein«, bemerkte der Bischof. »Sie sehen müde aus.« 183
Pierce fühlte sich in der Tat sehr müde. »Die politische Situation im Lande hat sich gravierend verändert. Ich arbeite jetzt mit Monsieur Mirabeau an einem Plan die Autorität der Nationalversammlung sogar dem Klerus voranzustellen. Wir werden die Kirchengüter einziehen. Wir werden den Geistlichen ab sofort ein Gehalt zahlen.« Pierce fragte sich, ob Vater Henri über diese Neuigkeit erfreut gewesen wäre. »Eure Exzellenz«, warf er ein. »Können Sie mir erklären, was eine Kreatur böse macht?« »Nanu, Perce, was für eine ungewöhnlich Frage.« Der Bischofspielte mit seinem Kreuz an der Kette. Dann erleuchtete eins seiner bezaubernden Lächeln den Raum. »Ich hoffe, Perce, in Ihnen ist nicht ein religiöses Gewissen erwacht.« Da besteht keine große Gefahr, dachte Pierce. Aber das Erlebnis mit Vater Henri beschäftigte ihn immer noch. »Ich werde nicht mehr lange Bischof sein, Perce. Und ich denke, mit Ihnen kann ich frei über meinen Glauben sprechen.« Der Bischof versenkte das Kreuz in seiner Westentasche. »Lassen Sie mich ein wenig von mir selbst erzählen. Ich bin der zweite Sohn meines Vaters. Als solcher habe ich keinen Anspruch auf ein Erbe. In meiner Position gab es nur zwei Möglichkeiten: das Militär oder die Kirche. Da ich Gewalt in jeder Form ablehne, blieb mir nur die Kirche. Diese Institution bietet gute Möglichkeiten für einen intelligenten, gebildeten Mann. Mir ist bewusst, dass viele meiner Zeitgenossen mich für einen Opportunisten und gewissenlosen Mann halten. Aber auch ich habe meine Werte. Ich glaube an den Anstand und ich glaube daran, dass ein Mann für das, was er tut, verantwortlich ist. Jeder Mensch hat eine ungezähmte Kreatur in sich, die 184
nur darauf wartet herauszukommen. Manche Menschen haben nicht die Selbstbeherrschung diese Kreatur unter Verschluss zu halten – das sind die Kriminellen. Aber selbst anständige Menschen haben manchmal Schwierigkeiten die Kreatur zu kontrollieren, vor allem wenn sie unter Druck stehen, wie im Krieg, bei Hunger und in politischen Wirren. Anstatt nun aber zu ihren unkontrollierbaren Gefühlen zu stehen, schieben die Menschen – ob nun anständig oder nicht – ihr Verhalten auf etwas, das sie das Böse nennen. Und die Vorstellung vom Bösen, in dem Sinne, dass wir unserer eigenen Verantwortung entledigt sind, fordert noch mehr Böses. Ein interessantes Puzzle, nicht wahr?« Pierce hatte für Puzzlespiele nicht so viel übrig wie der Bischof. »Beantwortet das ihre Frage?«, hakte der Bischof nach. »Ehrlich gesagt, nein«, erwiderte Pierce. »Dann erzähle ich Ihnen eine Geschichte«, meinte der Bischof. »Im Jahre 1212 rief ein Landarbeitersohn, Stephan von Cloyes, zu einem heiligen Kreuzzug auf. Kinder aus dem ganzen Land schlossen sich ihm an. Tausende marschierten nach Marseiile. Es waren zwei bedeutende Männer ihrer Zeit, Hugo der Eiserne und Wilhelm von Posqueres, die den Kindern Boote zur Verfügung stellten. Damit sollten sie ins Heilige Land gebracht werden. Doch als alle Kinder an Bord waren, brachten die Männer sie nach Afrika und verkauften sie als Sklaven.« Zufälligerweise kannte Pierce Hugo den Eisernen. Er hatte ihn als einen gewöhnlichen Mann in Erinnerung. »Ich wage zu behaupten«, fuhr der Bischof fort, »drei Viertel der Menschheit, vorausgesetzt sie hätten die Boote und die Gelegenheit, würden genau das Gleiche tun. Aber niemand will das von sich selbst behaupten. Also sagen sie, diese Tat sei böse. Und hoffen, indem sie das 185
Böse meiden, werden sie auch nicht in Versuchung geraten etwas dergleichen zu tun. Und wenn, dann würden sie wenigstens nicht dafür zur Verantwortung gezogen. Schließlich taten sie es ja nur unter dem Einfluss des Bösen.« Diese Erklärung war einleuchtend. Das Böse als menschliche Erfindung, die es erlaubt, die Verantwortung für das eigene Handeln abzuschieben. Pierce fand es schade, dass der Bischof die Kirche verlassen wollte. Wie viel hätte er der Menschheit geben können. »Jetzt verstehe ich, Euer Exzellenz. Vielen Dank.« »Nun denn, Perce«, fuhr der Bischof fort. »Es wurde mir übertragen, die neue konstitutionelle Kirche zu weihen. Das wird meine letzte Amtshandlung als Bischof sein. Ich habe vor das Bischofsamt niederzulegen und mich zur Wahl aufstellen zu lassen. Für Paris. Ich werde einen guten Sekretär gebrauchen können. Bei diesem Unternehmen hätte ich Sie gern an meiner Seite.« »Ich werde schon sehr bald exkommuniziert sein«, fuhr der Bischof fort. »Sie brauchen mich nicht mehr mit Exzellenz anzusprechen. Ab heute gilt wieder mein Familienname, Talleyrand.« »Ich fürchte, ich kann für die Politik kein Interesse aufbringen, Monsieur Talleyrand«, erwiderte Pierce. »Ich kann Ihr Angebot nicht annehmen.« »Das ist sehr schade«, bedauerte Talleyrand. »Sie waren der beste Sekretär, den ich je gehabt habe. Intelligent und unermüdlich.« Pierce wünschte ihm viel Glück und ging. Draußen auf der Straße war dunkle Nacht. Pierce beschloss sich ein Opfer zu suchen.
186
13 Abends zu Hause versuchte Norman mit Gwen über seine Probleme zu sprechen. Sie hockten im Schneidersitz im Dunkeln auf dem Bett und Norman schilderte den Hergang der Ereignisse in der Firma, angefangen mit vergangenem Freitag. Da er nicht melodramatisch klingen wollte, ließ er einige Dinge aus. So erwähnte er zum Beispiel nicht, dass Pierce immer nur bei Schummerlicht im Büro saß oder dass Jacqueline allmählich so verhärmt aussah, als käme sie gerade aus einem Arbeitslager. Es schien ihm auch nicht relevant, dass einer der Laborangestellten ermordet worden war. Als er seine Geschichte nun ohne diese Details erzählte, wurde ihm mit einem Schlag bewusst, dass er eigentlich den klassischen Fall einer Firmensanierung schilderte. Und es überraschte ihn auch nicht, dass Gwen ziemlich gelassen reagierte. »Ich verstehe nicht ganz, wo dein Problem liegt, Liebster«, sagte sie aus ihrer dunklen Ecke. »Er will, dass ich mehrere Dutzend Leute rauswerfe«, empörte sich Norman. »Hast du erwartet, man könnte einen Betrieb ohne Entlassungen neu organisieren?« »Ich finde nur die Vorgehensweise reichlich brutal«, sagte Norman. »Ein Unternehmen ist immer brutal, mein Lieber. Das weißt du doch.« Gwen tätschelte im Dunkeln sein Bein. »Du schenkst ihnen deine ganze Loyalität und wenn es darum geht, den Posten des Vizepräsidenten zu besetzen, geben sie einem Blödmann wie Stevenson den Vorzug. So ist das nun mal. Du musst halt so lange 187
einstecken, bis du selber dran bist mit austeilen.« Sie gab ihm einen Gutenachtkuss, dann krochen beide unter ihre Decken und streckten sich zum Schlafen aus. Norman konnte nicht einschlafen. Nachdem er sich eine gute Viertelstunde herumgequält hatte, stieg er aus dem Bett, zog sich seinen Bademantel an und ging ins Wohnzimmer hinunter. Er griff sich Anatomie einer Sanierung, machte es sich in seinem Fernsehsessel bequem und schlug das Kapitel über den, wie der Autor es nannte, Liquidator auf. Man darf den Firmensanierer nicht mit dem Liquidator verwechseln. Obwohl der Letztere oftmals als der Erstere fungiert, unterscheiden sich beide erheblich voneinander. Der Firmensanierer ist bemüht einem Betrieb wieder auf die Beine zu helfen, ihn zu sanieren, während dem Liquidator nur daran gelegen ist, alles, was irgendeinen Wert darstellt, zu liquidieren. Der Liquidator ist ein Plünderer. Er demontiert und verkauft alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Wenn das Arbeitsrecht es erlaubte und der Preis die Mühe lohnte, würde er sogar die Belegschaft ausbluten. Das war natürlich nur ein makabrer Scherz des Autors, aber es machte Norman dennoch nachdenklich. Hatte Pierce den armen Laborangestellten bluten lassen? Norman wusste, dass dieser Gedanke seiner nicht würdig war, aber er ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Pierce sprach selber davon, dass Leute sterben müssen, damit man Schlachten gewinnt, und plötzlich lag da ein toter Mitarbeiter. Was für einen Vorteil brachte ein toter Angestellter? Was für ein Motiv steckte überhaupt dahinter? Norman sank in seinem Sessel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Er erwachte noch vor Sonnenaufgang und schaute auf die Uhr. Zeit aufzustehen. Nach der Nacht im Sessel fühlte er sich wie zerschlagen. Seine Zukunft er188
schien ihm noch genauso trüb wie vorher und vor ihm lag ein weiterer Arbeitstag, an dem er sich mit der Polizei herumschlagen, unschönen Überraschungen aus dem Weg gehen und Leute entlassen musste. Leute entlassen. Als erste Amtshandlung an diesem Tag fuhr Norman geradewegs zu Pierce hinauf. Seine Sekretärin schickte ihn gleich zu Pierce ins Büro. Norman war erleichtert, dass er nicht wieder irgendwelchen Leuten aufwarten musste um an Pierce heranzukommen. Sein Chef saß wie gewohnt im abgedunkelten Büro, nur die Schreibtischlampe brannte. »Norman«, begann Pierce ohne Umschweife. »Haben Sie schon Termine für die Entlassungsgespräche gemacht?« »Noch nicht«, erwiderte Norman. »Ich wollte das erst mit Ihnen besprechen.« »Da gibt es nichts zu besprechen«, sagte Pierce. »Sie müssen sich an die Arbeit machen. Je eher sie damit beginnen, desto einfacher wird es für die Leute, die entlassen werden. Außerdem will ich neue Kräfte einstellen, da müssen die anderen weg sein.« »Warum stellen wir neue Leute ein, wenn wir andere auf die Straße setzen?« Norman war entgeistert. »Ich weiß Ihre Sorge um diese Menschen zu schätzen, Norman«, erklärte Pierce. »Aber versuchen Sie mal sich in deren Lage zu versetzen. So, wie es für sie aussieht, stellen wir die Welt auf den Kopf. Wir organisieren die Firma neu, wir bauen sie um und der Boden wird plötzlich nicht mehr unten sondern oben sein. Ich habe lange genug mit Betrieben und Belegschaften zu tun gehabt und ich gebe Ihnen jede Garantie, dass praktisch keiner sich je an diese ›auf den Kopf gestellte‹ Welt gewöhnen wird. Die Leute zu entlassen ist dann wirklich freundlicher und 189
sanfter.« Norman konnte nichts Freundliches und Sanftes daran finden. »Deswegen haben ich Sie mit dieser Aufgabe betraut, Norman«, fugte Pierce hinzu. »Sie sind ein freundlicher, hilfsbereiter Mensch.« »Jacqueline«, fuhr er fort, »wird die Einstellungsgespräche mit den neuen Kandidaten fuhren, während Sie die Entlassungsgespräche mit den alten Mitarbeitern übernehmen.« Norman hätte am liebsten auf der Stelle gekündigt, Pierces nächste Bemerkung ließ ihn jedoch zögern. »Wenn Sie die Leute nicht entlassen wollen, Norman, werde ich Jacqueline damit beauftragen. Sie hat darum gebeten. Sieht so aus, als würde sie es gern machen.« Die Vorstellung, dass Jacqueline die Belegschaft feuerte und auch noch Spaß dabei empfand, war beängstigend. Norman hatte einige dieser Leute selber eingestellt. Er konnte ihr Schicksal kaum guten Gewissens in Jacquelines Hände legen, damit sie ihren Spaß hatte. Es würde vermutlich das Letzte sein, was er für diese Firma zu tun bereit war, aber er würde es tun. Er würde die Entlassungen selber vornehmen. Schließlich verstand er sich immer noch als Teamarbeiter. Als Norman in seine Abteilung zurückkam, war Jacqueline bereits da. Sie sah heute auch nicht besser aus, als die Tage zuvor, und ihr Powerkostüm roch bereits recht muffig. Sie folgte ihm in sein Büro. »Sie sind früh dran heute«, bemerkte Norman. »Ich habe eine Menge Arbeit«, erklärte sie. »Ich habe die wichtigsten Punkte notiert. Ich denke, ich führe die Einstellungsgespräche am besten im Konferenzraum. Meinen Sie nicht?« Norman fragte sich, ob sie diese armen Menschen etwa 190
im Dunkeln empfangen wollte. Er wollte ihr davon abraten, aber schließlich hatte Jacqueline genug Erfahrung auf diesem Gebiet um zu wissen, was sie tat. Zudem konnte er sich des unguten Gefühls nicht erwehren, dass die ganze Situation ihm sowieso aus der Hand genommen war, dass Jacqueline längst nicht mehr seine Untergebene war und von ihm keinerlei Anweisung mehr entgegennehmen würde. Er rettete sich auf das einzige Terrain, das ihm noch offen schien. »Und wo wollen sie sich mit der Polizei unterhalten?« Es war in diesen Tagen nicht mehr einfach, aus Jacquelines Gesichtsausdruck schlau zu werden, dennoch fand Norman, dass sie ihn leicht bestürzt ansah. »Haben Sie die Polizei gerufen?«, fragte sie. »Nein«, sagte Norman. »Aber ich soll Ihnen ausrichten, Sie sollen dort anrufen.« »Gut«, meinte Jacqueline. »Ich rufe sie an, sobald ich eine Minute Zeit habe. Warum lassen Sie Louise nicht Ihre Gesprächstermine machen und Cheryl arrangiert meine?« Norman legte keinen besonderen Wert darauf, mit Louise zusammenzuarbeiten, außerdem fand er, dass ihr das nötige Feingefühl für die Anberaumung von Entlassungsgesprächen fehlte. Jedenfalls wollte er diese delikate Angelegenheit nicht in die Hände einer Kaugummi kauenden Aushilfssekretärin legen. »Ich arbeite lieber mit Cheryl.« »Ich habe bereits angefangen mit Cheryl zu arbeiten«, wandte Jacqueline ein. Norman fühlte sich wieder einmal in die Enge getrieben und merkte zu seinem Erstaunen, dass ihn kalte Wut packte. Noch mehr erstaunte ihn jedoch, zu welcher Entgegnung er sich hinreißen ließ. »Ich bin immer noch der Leiter dieser Abteilung und ich entscheide, wer was tut. 191
Cheryl arbeitet mit mir.« Wenn sein eigener kleiner Wutausbruch ihn schon überraschte, um wie viel mehr dann Jacquelines Reaktion. »Zu Befehl, Sir.« Obwohl ihr permanent müder Ausdruck Norman Rätsel aufgab, war er sich diesmal sicher, dass sie es nicht ironisch gemeint hatte. Als sie gegangen war, dachte Norman über ihre Reaktion nach. Jacqueline hatte noch nie Autoritätsbekundungen gezeigt, ihm gegenüber schon gar nicht. Und mit Sir hatte sie ihn überhaupt noch nie angeredet. Die enge Zusammenarbeit mit Pierce schien Auswirkungen auf ihr Verhalten zu haben. Sie hatte sich offenbar bereits auf ihre Reinlichkeit ausgewirkt, warum also nicht auch auf ihren Arbeitsstil? Norman rief Cheryl zu sich und händigte ihr einen Stoß Kündigungsanweisungen aus. »Machen Sie mir bitte mit all diesen Leuten einen Gesprächstermin. Ich werde mir für die ganze Woche nichts weiter vornehmen. Sehen Sie zu, dass Sie den ersten Termin schon für heute Nachmittag arrangieren. Und hängen Sie danach alle anderen dran. Geben Sie mir ein- oder zweimal am Tag eine Liste. Rechnen Sie 45 Minuten pro Gespräch.« Man braucht gewöhnlich nur 15 Minuten um jemanden zu entlassen, aber Norman wollte sichergehen, dass die Kündigungsopfer sich in seinem Büro nicht in die Arme liefen. Cheryl schaute auf die Memos und nickte. »Dies ist eine delikate Angelegenheit, Cheryl«, erklärte Norman. »Als Folge der Umstrukturierung müssen diese Leute gehen. Sie sollten die Gesprächstermine diskret behandeln und wenn die Leute hier auftauchen, seien Sie freundlich zu ihnen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass alles streng vertraulich gehandhabt werden 192
muss.« Cheryl nickte feierlich, und Norman stellte mit Genugtuung fest, dass er mit ihr eine gute Wahl getroffen hatte. Er schickte sie an ihren Schreibtisch zurück. Norman schaltete seinen Computer ein und rief die Datei über das Managerhandbuch auf um sich mit irgendetwas zu beschäftigen. Bis zu dem Kapitel über Überstundenregelung war er bereits gekommen. Er beschloss sich in der Teeküche erst einmal einen Kaffee zu holen, ehe er mit der Arbeit begann. Als er durch das Sekretariat ging, stellte er fest, dass Louise nicht an ihrem Platz war. Vermutlich nahm sie gerade ihre Instruktionen von Jacqueline entgegen. Cheryl hing am Telefon. Sie senkte die Stimme, als Norman an ihrem Schreibtisch vorbeiging. Er freute sich, dass sie so diskret vorging. Er ging den Korridor hinunter zu der kleinen Küche. Es dauerte ein wenig, bis er seinen Kaffeebecher gefunden hatte, den mit dem Wolf und der Aufschrift: Rettet die wilden Tiere. Er starrte einen Moment lang auf den Becher, ehe er sich Kaffee eingoss. Rettet die wilden Tiere. Kümmerte sich denn niemand mehr um domestizierte Tiere? Er goss sich den schwarzen, bitteren Kaffee ein. Das Gebräu stand wohl schon seit einer Woche auf der Warmhalteplatte. Dann nahm er mehrere Löffel von dem Milchpulver, das den scharfen Kaffeegeschmack überspielen sollte, und rührte nachdenklich um. Schließlich ging er langsam mit seinem Kaffeebecher zu seinem Büro zurück. Seine Schritte wurden vom Teppichboden verschluckt. Als er sich der Tür zum Sekretariat näherte, hörte er Cheryl am Telefon sprechen. Ihre Stimme klang aufgeregt und schrill, keine Spur von feierlichem Ernst. »Stell dir vor, Mutter! Fünfundvierzig Leute! Das reinste Massaker. Und ich muss die Entlassungsgespräche terminieren. Das letzte Mal, als einem hier gekündigt wurde, 193
hat der Mann Selbstmord begangen und…« Sie brach ab, als sie Norman hereinkommen hörte. Norman sagte nichts. Er ging einfach weiter in sein Büro und ließ sich mit seinem Kaffee hinter dem Schreibtisch nieder. Cheryl genoss offensichtlich ihren Part in diesem Prozess, wo fünfundvierzig Leute über die Klinge springen sollten. Warum auch nicht? Sie war schließlich nicht verantwortlich. Sie konnte diese armen Opfer ohne irgendwelche Gewissensbisse zur Schlachtbank fuhren. In dem Existenzkampf bei Biomethods war sie von ihrer Position eines menschlichen Wesens zum Engel befördert worden. Sie spielte den Racheengel. Norman setzte sich wieder an seinen Computer und fuhr mit seinem Handbuch fort. Es gelang ihm, so in der komplizierten Beschreibung von Biomethods Überstundenregelung und Genehmigungsverfahren aufzugehen, dass er jedes Gefühl für die Zeit verlor. Nachdem er drei Seiten verfasst hatte, schaute er auf die Uhr und stellte fest, dass eine Stunde verstrichen war. Er wunderte sich, dass Cheryl ihm noch keinen Zwischenstand durchgegeben hatte, war aber gleichermaßen erleichtert darüber. Er führte den Kaffeebecher zum Mund, er war leer. »Norman?« Norman stellte den Becher ab und schwang sich mit seinem Stuhl herum. Louise stand in der offenen Tür. »Dürfte ich Sie mal sprechen? Privat?« Norman legte keinen Wert darauf, Privates mit Louise zu besprechen, als Manager pflegte er aber den Grundsatz, dass man derlei Begehren von Untergebenen stattgeben sollte. Er bedeutete ihr näher zu treten. Louise schloss die Tür hinter sich und ließ sich auf dem Besucherstuhl nieder. »Ich mache mir Sorgen um Jacqueline.« Norman hätte ihr gern beigepflichtet, hielt es aber nicht 194
angemessen für einen Vorgesetzten. »Wie meinen Sie das?« »Sie müssen doch gemerkt haben, wie seltsam sie aussieht.« Louise starrte ihn mit panischem Blick an. »Ja, sie sieht ganz schön überarbeitet aus.« »Überarbeitet?« Louise war so erregt, dass ihr kunstvoller Haaraufbau zitterte. »Norman, sie sieht aus wie der Tod!« Norman fand, dass er schon genug Probleme am Hals hatte. Auf den plötzlichen Wahnsinnsanfall einer Mitarbeiterin konnte er gut und gern verzichten. »Louise, hatten Sie mir etwas Wichtiges zu sagen?« »Es ist wichtig, Norman. Schauen Sie doch nur, wie blass sie ist. Sie pflegt sich auch nicht mehr. Sie sitzt im Konferenzzimmer im Dunkeln.« »Ich weiß, dass ihr Verhalten ein wenig…« »Sie hat eine Wunde am Hals.« »Ich glaube nicht…« »Nun mal im Ernst, Norman! Jacqueline ist in der Gewalt eines Vampirs. Ich kenne die Anzeichen.« Die nächste halbe Stunde sah sich Norman Louises Fantastereien über Vampire, Wiedergänger, Untote und Ähnliches ausgesetzt, alles Dinge, an die Norman weder glaubte noch je einen Gedanken verschwendet hatte. Dabei war Louise bei ihrem Vortrag vollkommen beherrscht, nur was sie sagte, war der blanke Unsinn. Als sie am Ende ihrer Ausführung anlangte, sagte sie etwas, das alle Verrücktheiten davor noch übertraf. »Man muss sie pfählen, Norman.« »Pfählen?« Norman hoffte im Stillen, dass er sich verhört hatte. »Vielleicht nicht sofort«, wandte Louise ein. »Ich glaube, ihre Transformation ist noch nicht abgeschlossen. Aber bald.« Norman mochte einfach nicht glauben, was er da hörte. 195
Selbst mit all ihrem wirren Zeug im Kopf pflegte Louise sich normalerweise verständlich auszudrücken. »Wovon reden Sie da, Louise?« »Der einzige Weg, damit sie Erlösung findet.« »Erlösung? Wovon denn?« »Sie wird es uns danken, glauben Sie mir. Oh ja, sie wird sich mit aller Kraft dagegen wehren, aber sie wird dankbar sein. Das sind sie immer.« Eine innere Stimme sagte Norman, dass er Louise hinauswerfen sollte, aber eine andere Stimme sagte ihm, dass sie womöglich gefährlich war. Er überlegte, was er tun sollte. »Und glauben Sie ja nicht den Unsinn, den man über ein spezielles Holz verzapft«, führte Louise weiter aus. »Alles, was man in ein Herz treiben kann, eignet sich dafür.« »Louise«, versuchte Norman zu beschwichtigen. »Ich rufe gleich den Wachdienst.« »Die meisten Leute haben einfach nicht die Willenskraft einen Körper zu pfählen, der wie ein menschliches Wesen aussieht. Einige Vampire machen es einem besonders schwer, weil sie sich einfach in eine einem nahe stehende Person verwandeln. Können Sie sich vorstellen, wie schwierig es wäre, eine Person zu pfählen, die aussieht, sagen wir mal, wie Ihre Mutter?« Norman war zu keiner Antwort fähig, aber Louise schien auch keinen Wert darauf zu legen. »Wenn Sie den Pflock hineinrammen, fängt der Vampir erst einmal an zu schreien, egal ob er wach ist oder schläft. Dann versucht er Sie zu packen und sagt Ihnen Dinge, damit sie aufhören. Beim zweiten Schlag fängt der Vampir gewöhnlich an aus dem Mund zu bluten. Das bedeutet, dass seine Lebenskraft schwindet. Wenn man dann weiterschlägt, altert und verwittert der Körper des Vampirs vor Ihren Augen, je nachdem, wie alt er tatsäch196
lich ist. Manchmal zerfällt er auch zu Staub.« Norman nahm den Telefonhörer ab. »Ich rufe jetzt den Wachdienst.« »Ich sage Ihnen das bloß, weil Sie die Verantwortung tragen, Norman.« Norman war gerade dabei, die Nummer für den Wachdienst zu wählen, als es an die Tür klopfte. Louise saß wie erstarrt. Sie sagte nichts, aber ihr Mund formte ein stummes »Nicht antworten.« »Ja?«, rief Norman. Jacquelines Stimme ertönte durch die Tür. »Ist Louise da drinnen bei Ihnen?« Normans Blick wanderte zu Louise. Sie starrte ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an und schüttelte bedeutsam den Kopf. Norman wusste nicht, was er sagen sollte. Jacqueline ersparte ihm die Mühe und öffnete die Tür. »Da sind Sie ja, Louise. Ich habe beschlossen Ihnen den Nachmittag freizugeben.« Hinter Jacqueline tauchte ein Wachmann im Türrahmen auf. Louise schien die Fruchtlosigkeit jeglichen Widerstands gegen den stämmigen Mann einzusehen und folgte brav nach draußen ins Sekretariat. Dann machte sie einen Satz an ihren Schreibtisch und versuchte ihre Schreibtischschublade aufzumachen, als der Wachmann sie am Arm packte und fortzerrte. »Ich will nur meine Sachen holen«, rief sie. »Dafür ist keine Zeit mehr, Louise«, sagte Jacqueline. »Sie haben einen Termin.« »Lassen Sie sie doch«, mischte sich Cheryl ein. Jacqueline schoss einen ihrer Blicke auf sie ab. Cheryl verstummte und verzog sich an ihren Schreibtisch. Jacqueline begleitete den Wachmann bis auf den Flur. 197
Der Mann führte Louise zum Fahrstuhl. Es gelang Louise, sich für einen kurzen Moment loszureißen. Ihr schreckerfüllter Blick fiel auf Norman. »Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe«, rief sie. Der Wachmann zerrte sie in den Fahrstuhl. Einen Augenblick später glitten die Fahrstuhltüren zu. Jacqueline kam zurück und gesellte sich zu Norman. »Vielleicht könnte Cheryl sowohl die Einstellungs- als auch die Entlassungsgespräche für uns koordinieren.« »Wahrscheinlich.« Norman wich ihrem Blick aus und betrachtete seine Schuhe. Er müsste sie mal wieder putzen, dachte er. »Das müsste eigentlich klappen«, meinte Jacqueline. »Solange sie nichts durcheinander bringt.« Norman schaute auf und bemerkte, dass sie lächelte. »Das war ein Scherz, Norman.« Er lachte höflich. »Na ja, immerhin hat sie für heute noch einen Termin zustande gebracht«, seufzte Jacqueline. »Eine Kandidatin stand uns kurzfristig zur Verfügung. Sie wohnt hier in der Stadt und war bereit sofort herzukommen.« Norman hörte kaum noch zu. Er bemühte sich die Dinge in seinem Kopf zu koordinieren. Die Klingel des Fahrstuhls ertönte. »Das wird die Dame sein«, sagte Jacqueline. Norman hörte die Fahrstuhltüren rumpeln. Geistesabwesend schaute er auf. Zu seinem Erstaunen trat Gwen durch die Tür. »In der Tat«, bemerkte Jacqueline. »Da ist sie.«
198
14 Pierce war berauscht von dem Dreck, Krach und all der Hässlichkeit, die das Stadtbild Manchesters im Jahre 1810 bot. Die Stadt pulsierte vor Unternehmergeist und wirtschaftlichem Aufschwung. Die Einwohner von Manchester waren davon überzeugt, dass ihre Spinnereien und Webereien, ausgestattet mit den modernsten Spinnmaschinen und Webstühlen, die ganze Menschheit bekleide. Sie hatten guten Grund dazu. Vidalon-le-Haut lag weit hinter Pierce. Er behielt jedoch seine Angewohnheit bei für seine Nahrungsaufnahme die Stadt zu verlassen und die ländliche Umgebung aufzusuchen. Die allerdings schrumpfte merklich um Manchester herum. Die Stadt wuchs. Die bahnbrechenden Veränderungen in der Industrie forderten ihren Tribut. Für seine diesjährige Frühlingsmahlzeit suchte er eine alte Weberhütte auf. Er betrat die Hütte lange vor Dämmerung. Fast die Hälfte des Wohnraumes nahm ein großer, kastenförmiger Webstuhl aus kräftigem Holz ein. Es war ein sehr altes Stück. Er untersuchte das Gerät näher. Da waren mehrere Tritte, die die Schäfte mit ihren Litzen bedienten um die eingefädelten Kettfäden im Wechsel zu heben und zu senken. Dadurch wurde jeweils ein Fach ausgehoben – eine Art Fadentunnel, durch den der Schussfaden mit dem Schützen eingetragen werden konnte. Mit schwingenden Bewegungen schlug die Lade mit dem Webblatt – nach jedem Fachwechsel – den Schussfaden an das bereits fertige Gewebe. Ein seitwärts angebrachter Hebel diente zur Regulierung des Kettablasses vom Kettbaum und zur Stoffaufwicklung auf dem Warenbaum. Es war eine geniale Maschine. Pierce hatte schon immer ein Faible für Maschinen ge199
habt. An diesem Webstuhl konnte man die vier Arbeitsgänge des Webens genau verfolgen: Fachbildung, Schusseintrag, Schussanschlag und Warenschaltung. Man konnte sich vorstellen, wie die ganze Familie daran arbeitete: Der Vater saß am Brustbaum und bediente Tritte und Webschützen; der jüngste Sohn saß oben auf dem Rahmen als Ziehjunge und hob nur einzelne Litzen aus dem Webgeschirr nach einer bestimmten Vorgabe. Auf diese Weise webte die Familie ein aufwendiges Baumwollpikeemuster, das sicher mehr Zeit in Anspruch nahm als eine einfache Leinwandbindung. Pierce schätzte, dass vielleicht täglich fünf bis sechs Meter Stoff entstanden. Die schöne häusliche Szene, die Pierce sich da ausmalte, wurde durch die Arbeit der Mutter und der anderen Kinder ergänzt: Sie füllten die Spulen auf und entfernten die Flusen vom fertigen Stoff. Das hielt die Familie zusammen. Mehrere Stoffballen lehnten in der Ecke an der Wand und warteten auf den Händler. Es war Baumwollpikee. Das erklärte, warum diese Familie mit Heimarbeit noch im Geschäft war. Keine Weberei und kein Maschinenwebstuhl in dieser Gegend konnte solch eine besondere Ware herstellen. Wahrscheinlich würde der Händler morgen kommen, denn es waren reichlich fertige Stoffballen vorhanden. Auf der anderen Seite des Zimmers schliefen drei Kinder auf einer Pritsche. Die Eltern und ganz kleinen Kinder, sofern welche da waren, schliefen wahrscheinlich in dem einzigen anderen Raum der Hütte. Pierce schlich sich hinüber und hob ein Kind auf. Er wählte das größte, damit der Kleinste morgen wieder seine Arbeit auf dem Webstuhl verrichten könne. Der Knabe wachte nicht auf, als Pierce ihn ergriff. Er war etwa zehn Jahre alt. Pierce trug ihn von den anderen Kindern weg und bediente sich 200
nur ein bisschen an ihm. Der Junge schlief einfach weiter. Pierce nahm nicht mehr, als er brauchte. Dennoch würde das Kind am nächsten Tag müde sein und nicht arbeiten können. Pierce hoffte, dass er verständnisvolle Eltern hatte. Er trat aus der Hütte in die kühle Nachtluft. Es ging ihm nicht aus dem Sinn, dass es solche Familien bald nicht mehr geben würde. Nur noch eine Handvoll dieser Betriebe nahmen Auftragsarbeit von Händlern an. Seit der frühesten Menschheit war das Heim die natürliche Arbeitsstätte einer Familie gewesen. Hier auf dem Lande um Manchester nahmen Weber seit Jahrhunderten ihre Aufträge von reisenden Händlern an. Der Händler brachte einen Vorrat an Baumwolle und einen Vorschuss. Dann kam er später wieder, holte die fertige Ware ab und bezahlte den Rest. Im Jahre 1764 erfand ein Mann namens James Hargreaves die Feinspinnmaschine. Diese Maschine spann die Baumwolle um ein Vielfaches schneller als eine menschliche Arbeitskraft mit dem Spinnrad es jemals hätte tun können. Im Jahre 1769 kam ein gewisser Richard Arkwright darauf, diese Maschinen mit Wasserturbinen anzutreiben. Er erlaubte damit eine Produktion, die andere Spinnereien bald arbeitslos machte. Pierce hatte sich von den Söhnen beider Männer, Hargreaves und Arkwright, kurz nach ihrer Ankunft in Manchester 1792 genährt. Dieser Boom in der Garnherstellung verschaffte den Webern zunächst mehr Aufträge denn je. Sie gehörten bald zu den wohlhabendsten Handwerkern ihrer Zeit. Ihr Einkommen stieg bis Ende des Jahrhunderts gleichmäßig an. Aber Arkwright hatte mit seiner Erfindung einen Schritt getan, der nicht mehr rückgängig zu machen war. Er hatte die industrielle Produktion von menschlicher Arbeits201
kraft befreit. In den folgenden Jahren mechanisierten englische Techniker und Erfinder jeden einzelnen Schritt in der Textilproduktion. Überall in Manchester schossen zur Jahrhundertwende Schlote aus der Erde und ein reger Handel entstand. Kohle musste zu den Fabriken geschafft werden um den Dampf zu erzeugen, mit dem die Spinnmaschinen und Maschinenwebstühle angetrieben wurden. Die Webereien spukten Baumwollstoffe und Rauch zu gleichen Mengen aus. Sie produzierten so schnell, dass der Lohn für die Weber auf dem Land in den ersten zehn Jahren des neuen Jahrhunderts um ein Drittel fiel. Im Jahre 1810 gab es diese Auftragsarbeit nicht mehr. Die Weber begannen mit ihren Familien nach Manchester zu ziehen um dort Arbeit zu finden. Die dreckigen, lauten, gefährlichen, von Dampf getriebenen Fabriken warteten schon auf sie. Die Bevölkerungsdichte dieser Stadt explodierte zur Jahrhundertwende. Die Löhne fielen weiter. Mehr und mehr Arbeiter kämpften um Arbeitsplätze mit immer schlechterer Bezahlung. Allerdings verdienten die meisten Arbeiter doch immer noch mehr als die Weber es in Heimarbeit getan hatten. Die Unterschied lag in der Eigenbestimmung. Bei der Auftragsarbeit hatten die Weber ihre Arbeit selbst geplant. Sie hatten selbst entschieden, wann sie anfingen, wie viele Stunden am Tag sie arbeiteten und wie schnell sie arbeiten wollten. In den Webereien konnte kein Arbeiter selbst bestimmen; hier hatten die Maschinen das Sagen. Und die webten in halsbrecherischem Tempo ohne Rücksicht auf die Wünsche und Bedürfnisse der Arbeiter. Seit Pierce sich in Manchester aufhielt, waren verarmte, erschöpfte Familien zu Tausenden in die Stadt eingebrochen. Jeden Tag wurden es mehr. 202
Manchester hatte keine Probleme seine Arbeiterschaft zu kontrollieren. Pierce musste an Vidalon-le-Haut denken. Hier gab es mehr Arbeitslose als Arbeitsplätze und das Einkommen sank von Jahr zu Jahr. Die Arbeiter kämpften gegeneinander und nicht miteinander gegen ihre Arbeitgeber. Hier gab es keine Feiertage und großzügigen Geschenke, wie bei den Montgolfiers. Hier wurden die Arbeiter nicht zusätzlich beschenkt. Die Lebensumstände waren beengt, Straßen und Plätze dreckig. Die Arbeit in den Fabriken war gefährlich und die Luft brannte in den Augen und schmeckte nach glühender Kohle. Pierce dachte bei sich, dass diese Stadt einer Vision der Hölle auf Erden sehr nahe kam. Doch so erschreckend es auch war, er wusste, hier brach ein neues Zeitalter für die Menschheit an. Das vorangegangene Zeitalter war 1792 in Paris gestorben. Es starb mit Louis XVI., der vieles von dem, was gut, und das meiste von dem, was schlecht am alten Regime war, verkörperte. Die Welt hatte selten einen freundlicheren Mann gesehen und selten einen ebenso unfähigen die entfesselten Kräfte einer Gesellschaft zu lenken, die sich selbst von ihrer ältesten Institution befreit hatte. Seinen letzten Weg ging Louis XVI. mit Würde und auf entwaffnende Weise hilflos. Pierce zählte dieses Erlebnis zu einem der entscheidensten Momente seines Lebens. Dichter Nebel lag über dem Platz der Revolution. Er dämpfte alle Geräusche und drang in die Kleidung. Ein Regiment Soldaten formierte sich quadratisch um das Schafott, etwa 100 Fuß entfernt. Dann wurde ein Sondertrupp entsandt um die Menge von der Hinrichtungsstätte fernzuhalten. Es wurde acht Uhr bevor der erste der 1200-Mann star203
ken Eskorte des Königs den Platz betrat. Die Wachen ließen die Kutsche durch. Sie rollte langsam, gezogen von zwei ruhigen Pferden, auf den Platz vor dem Schafott. Die Soldaten schlossen wieder ihre Reihen. So hielten sie den Pöbel fern. Es entstand Unruhe, als die Eskorte ihren Weg durch die Menge der Bürger fädelte. Pierce hörte Offiziere Befehle herausbellen, mit denen sie ihre berittenen und marschierenden Truppen in Reih und Glied über den Platz dirigierten. Erst als wieder Ruhe eingekehrt war, öffnete ein Mann in schlichtem dunklen Tuch die Tür der Kutsche. Der König erschien. Er kletterte die Stufen hinunter und betrat das Steinpflaster. Hinter ihm erschien ein Priester. Er stellte sich dicht neben den König und flüsterte eindringlich in dessen Ohr. Der König war ein beleibter Mann von mittlerer Größe. Pierce war erstaunt, was für eine imposante Figur er machte. Der Monarch stand gerade, vielleicht ein wenig trotzig. Seine Perücke lockte sich links und rechts der vollen Wangen, die das Gesicht umrahmten, und über dem Rücken entfaltete sich eine besonders üppige Lockenpracht. Pierce dachte, wie galant es von dem Verurteilten sei, selbst den Gang zum Schafott in Perücke anzutreten. Es entstand Unruhe auf dem Platz. Pferde tänzelten, Männer liefen hin und her. Pierce konnte nicht sehen, was in der Mitte des Tumults geschah. Aber er hörte Rufe. Dann drang ein einzelner Satz laut und klar aus dem Lärm. »… Rettet den König!« Die Reihen der Soldaten reagierten nicht auf den Tumult. Die Rufe erstarben nach einer Weile. Alles wurde wieder still. Der König, immer noch mit dem Priester an seinem Ohr, gefolgt von dem Mann im dunklen Mantel, schritt auf das Schafott zu. 204
Der Scharfrichter und seine zwei Gehilfen trafen den König am Fuße der Stufen. Einer der Gehilfen fasste die Aufschläge des königlichen Mantels um dem Träger herauszuhelfen. Der König riss sich los. Während dieser Handgreiflichkeit konnte der Priester seinen Platz am Ohr des Königs nicht halten und trat für einen Moment zurück. Pierce stand nicht nah genug um zu hören, was gesagt wurde. Aber er konnte sehen, wie der König seinen Mantel an den Aufschlägen festhielt und sich offensichtlich weigerte ihn auszuziehen. Der Scharfrichter und seine Mannen zögerten einen Moment, dann bewegten sie sich entschlossen auf den Verurteilten zu. Da gebot der Mann im dunklen Tuch mit der Hand Einhalt. Er sprach kurz mit dem König. Schließlich nickte der Monarch. Der Mann im dunklen Mantel winkte den Scharfrichter heran. Der König stand mit hoch erhobenem Kinn, während einer der Henkersgehilfen ihm den Mantel auszog. Er brachte es fertig, so auszusehen, als helfe ein Diener ihm aus dem Mantel und nicht sein Henkersknecht. Der andere Mann band ihm die Hände auf dem Rücken. Und noch immer entstand der Eindruck, der König sei der Herr dieser Szene und nicht das Opfer. Der Priester nahm wieder seinen Platz ein und flüsterte erneut in das Ohr des zum Tode Verurteilten. Pierce fragte sich, ob das Geflüster den König nicht störe. Ihn selbst würde es gewiss ärgern, wenn ihm ein Priester auf diese Art ständig ins Ohr spräche. Als der König die Stufen zur Guillotine erklomm, rutschte er fast aus. Der Priester stützte ihn ohne sein Getuschel zu unterbrechen, bis er oben angelangt war. Der Henker folgte ihnen auf die Plattform. Der König stand im feuchten kalten Nebel ohne Mantel, die Hände auf dem Rücken gefesselt und drehte sich der 205
Menge zu. Der Priester trat zurück. Der Scharfrichter näherte sich mit einer riesigen Schere. Einen Moment lang glaubte Pierce, man versuche sich hier an einer völlig neuen Art der Hinrichtung. Doch dann sah er, wie der Henker die lange Mähne ergriff, die dem König über den Rücken fiel. Mit drei geübten Schnitten entfernte er die Lockenpracht. Also war es doch keine Perücke gewesen. Der König, beraubt seiner Haare und mit kahlem Nacken, nickte dem Henker zu, sehr würdevoll, wie es Pierce schien. Dann begann er zu der Menge zu sprechen: »Ich sterbe unschuldig all der Verbrechen -«, begann der Monarch. Doch der Scharfrichter gab ein Handzeichen und ein Trommelwirbel ertönte aus den Reihen der Soldaten. Die Trommeln schlugen weiter, während der Henker den König packte und auf die Planke drückte. Der König wehrte sich nicht. Der Mann zurrte ihn mit geübter Hand fest und schob das Brett zurecht. Selbst in dieser Haltung, auf die Planken gebunden, strahlte der König noch Würde aus. Der Trommeln wirbelten weiter und der Henker schob die obere Planke in Position. Jetzt saß der Kopf des Königs in der Klammer. Der Henker ergriff die Schnur und zog. Die Trommeln übertönten das Zischen des fallenden Klingbeils. Die Trommler machten ihre Sache so meisterhaft, dass der Wirbel in dem Augenblick mit einem Schlag endete, als die Klinge ihr Ziel fand. Und dem lauten Wirbel der Trommeln folgte ein zweiter, leiserer Schlag, als der Kopf des Königs im Korb vor der Guillotine landete. Aus seinem Hals spritzte das Blut fast drei Fuß weit. Der Druck ließ nach, als sein tapferes Herz zu schlagen aufhörte. Nun konnte der Scharfrichter in den Korb greifen und den abgetrennten Kopf am Haar herausziehen. Er hielt den Kopf vor sich und drehte sich langsam auf der 206
Plattform, damit so viele Bürger wie möglich einen Blick auf ihren ehemaligen König werfen konnten: die große Nase, die rundlichen Wangen, die geschlossenen Augen, der entspannte Mund. Die Menschen in der Menge starrten das Gesicht an, als suchten sie nach einem Zeichen der Vergebung oder Milde. Es rann immer noch Blut aus dem kopflosen Körper des Königs. Es rann aus dem Stumpf am Hals herunter auf die Plattform. Pierce wunderte sich, wie wenig es doch war. Niemand sprach. Schließlich bellte ein Offizier einen Befehl. Die Soldaten formierten sich neu. Der Henker warf den Kopf des Königs zurück in den Korb und zog ein Schnupftuch aus seiner Tasche um seine Hände abzuwischen. Dann stieg er die Stufen hinunter und die Soldaten marschierten ab. Die Menge stand schweigend. Jetzt tropfte das Blut nur noch langsam aus dem Stumpf. Ludwig XVI. war die Verkörperung einer Epoche und die lag nun, kopflos und blutend, auf dem Schafott. Das französische Volk wollte ein neues Leben und die Menschen wussten nur einen Weg dies zu erreichen: Sie mussten das alte Leben völlig ausrotten. Damit hatten sie natürlich Recht. Doch nur wenige ahnten, wie viele Hinrichtungen noch stattfinden mussten, bis sie ihr Ziel erreicht haben würden. Pierce sah sich die Leute an, die da so still standen. Da waren Aristokraten in feinen Westen und seidenen Kniehosen, Tagelöhner in Lumpen, schöne Damen mit aufwendigen Frisuren, Sansculotten, Waschfrauen, Ladenbesitzer, Anwälte, Soldaten, Priester. Er fragte sich, wie viele von ihnen noch ihren Kopf verlieren würden. Wahrscheinlich würden noch Hunderte, ja vielleicht Tau207
sende von Köpfen in den Korb fallen, bis dieser Wechsel vollbracht war. Der Gedanke widerte ihn an.
15 »Wo ist Mami?«, wollte Megan wissen. »Sie ist noch im Büro. Ich nehme an, sie wird heute ein bisschen später nach Hause kommen.« Norman öffnete den Geschirrspüler. Eine Dampfwolke entwich der Klappe und er griff sich eine Hand voll Besteck. Es war noch warm. Er reichte es seiner Tochter. »Deck doch schon mal den Tisch, Kleines.« Megan ging ins Esszimmer und Norman begann die Geschirrspülmaschine auszuräumen. Er nahm immer drei oder vier Teller auf einmal und packte sie auf einen Stapel um ihn dann auf der anderen Seite des Tresens wegzuräumen. Er war immer noch dabei, als Megan in die Küche zurückkam. »Papi, warum tust du das Geschirr denn in den Mülleimer?« Norman schaute auf und merkte, dass er genau vor dem Abfalleimer stand. Ein halbes Dutzend Teller steckte bereits in der Mülltüte inmitten von Essensresten und Bananenschalen. Er holte die Teller wieder heraus und stellte sie in die Spüle. »Ich war mit meinen Gedanken nicht bei der Sache«, sagte er. »Lass mich das machen«, bot Megan an. »Geh du ins Wohnzimmer zu Justin.« »Gute Idee.« Norman gab sich Mühe seine Verärgerung darüber, dass er von einer Zehnjährigen Anweisungen erhielt, nicht zu zeigen, aber Megan schien die Situation 208
vollkommen unter Kontrolle zu haben. Warum hatte nur jeder die Sache unter Kontrolle, nur er nicht? Er blickte sich suchend nach seiner Whiskyflasche um. Da fiel ihm ein, dass er sie bereits leer getrunken hatte. Er stapfte schwerfällig ins Wohnzimmer. »Papi?« Norman hielt an und drehte sich zu Megan um. »Soll ich auch für Mami decken?« »Keine Ahnung«, sagte Norman. »Ich hatte keine Gelegenheit sie zu fragen, ob sie zum Essen da sein wird.« Norman brauchte jemanden zum Reden. Er wollte jetzt über seine verletzten Gefühle und seine Enttäuschung sprechen und auch darüber, dass seine Frau sich ausgerechnet in seiner Firma um einen Job beworben hatte. Er wollte darüber jammern, dass er seinen Job hasste, obwohl er keine andere Wahl hatte. Er wollte flennen, weil sein Boss sich mit seiner Untergebenen verbündet hatte und er sich in der Falle fühlte. Er musste sich unbedingt jemandem darüber anvertrauen, wie schwer es ihm gefallen war, heute nachmittag den Leiter der PR-Abteilung zu feuern. Er musste jemandem erzählen dürfen, wie der Mann geheult hatte und dass Norman nichts weiter für ihn hatte tun können, als ihm ein Papiertaschentuch anzubieten. Er fragte sich, wann Gwen wohl nach Hause käme. Das letzte Mal hatte er sie in der Firma gesehen, als Jacqueline sie die Treppe hinaufeskortierte. Norman hatte ihr gerade noch zuwinken können. Jacqueline hatte sie durch den ganzen Betrieb geführt, ihr offenbar auch selbst alles über das Personalwesen erklärt und dabei geflissentlich Norman übergangen. Er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt Gwen vor Feierabend noch einmal zu sehen. Norman saß neben Justin vor dem Fernsehapparat ohne 209
auf die Sendung zu achten. Seine Gedanken kreisten um die Firma. Biomethods stellte gewöhnlich keine Angehörigen von Angestellten ein. Folglich konnte die Firma nicht gut Gwen anheuern und Norman behalten. Norman war realistisch genug einzusehen, wie sich die Firma entscheiden würde. Sie würden ihn in die Wüste schicken. Pierce würde das ›die sanfte Art‹ nennen. Der restliche Abend – Fernsehen mit Justin, Abendessen mit den Kindern – verstrich wie in einem Nebel. Norman verrichtete alle notwendigen Tätigkeiten wie in Trance und war dankbar für die Präsenz der Kinder, die ihn davon abhielten, zum Beispiel sauberes Geschirr in den Mülleimer zu packen. Er war fest entschlossen, wenn Gwen nach Hause kam, würde er ernsthaft mit ihr reden. Er hatte immer geglaubt ihr alles zu geben oder alles für sie tun zu wollen, aber das war, als er noch dachte, dass sie ihn niemals darum bitten würde. Schon der Gedanke, dass sie seine Kollegen in der Firma kennen lernen, wie sie unverbindlich mit ihnen plaudern und sich wie eine absolute Topmanagerin gerieren würde, machte ihn mürbe. Was mussten sie von ihm denken? Könnt ihr euch das vorstellen, diese Powerfrau verheiratet mit unserem Norman? Die Kinder waren bereits im Bett und Norman stand noch im Wohnzimmer, unschlüssig, ob er noch einmal losfahren und eine Flasche Whisky kaufen sollte, als er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Gwen stand auf der Schwelle. Sie sah bleich und abgespannt aus, so als ob sie den ganzen Tag lang Bewerbungsgespräche geführt hatte, nur irgendwie schlimmer. »Hast du was gegessen?«, fragte Norman. Sie verzog das Gesicht. »Ich hab keinen Hunger. Mir hängt der Magen ziemlich schräg.« 210
Sie standen sich einen Moment lang schweigend gegenüber und Norman beschlich schon wieder dieses Gefühl, dass er seine Frau eigentlich gar nicht richtig kannte. »Sind die Kinder im Bett?«, fragte sie. »Klar.« Norman wusste nicht so recht, wie er sein Gespräch mit ihr beginnen sollte. »Hast du irgendwas, Norman?« »Aber nein«, wiegelte er ab. »Warum sollte ich was haben? Ein Fremder taucht in meiner Firma auf und nimmt mir genau den Bereich meiner Arbeit weg, auf den ich einigermaßen stolz bin. Und dann fällt meine eigene Frau mir noch in den Rücken und untergräbt meine Position in der Firma. Warum sollte ich also etwas haben?« »Ich untergrabe gar nichts.« Gwen warf ihre Aktenmappe auf das Sofa mit etwa der gleichen Feinfühligkeit, mit der sie Normans Ego behandelte. Norman wurde erst jetzt gewahr, wie schrecklich sie aussah. Sie war nicht nur blass, sie wirkte total erschöpft. Sie sah beinahe so ausgelaugt aus wie Jacqueline. »Alles in Ordnung mit dir?« »Er verlangt eine ganze Menge von einem.« »Hat er dich sexuell belästigt?«, wollte Norman wissen. »So würde ich das nicht nennen«, sagte Gwen. »Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden. Ich fühle mich nicht besonders. Ich denke, ich werde gleich ins Bett gehen.« Sie blieb unschlüssig stehen. Es hatte den Anschein, als ob sie daraufwartete, dass sie ihre eigene Anweisung befolgte, so als ob sie es mit einer störrischen Untergebenen zu tun hatte. Norman war perplex. Ihm ging es doch nicht besonders gut, wieso konnte sie dasselbe von sich behaupten? Sie standen beide schweigend da und Norman fühlte sich verraten, verwirrt, gedemütigt und gleichermaßen in pa211
nische Angst versetzt. Dieser Zustand war aber offenbar völlig normal. Eine Menge Menschen kannten das gar nicht anders. Es klingelte an der Tür. Gwen starrte immer noch wortlos die Wand an. Sie schien das Klingeln nicht gehört zu haben. Norman fragte sich, was bloß mit ihr los war. Es klingelte noch einmal. Norman ging zur Haustür und machte auf. Im Lichtkegel der Außenleuchte stand Cheryl. »Cheryl, was machen Sie denn hier?« »Sie haben Louise geschnappt.« Sie stürmte an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Norman folgte ihr. »Was wollen Sie?« Cheryl war vor Gwen stehen geblieben. »Ich bin zu spät gekommen.« »Cheryl.« Norman wollte sie Arm packen. »Was wollen Sie in meinem Haus?« »Bevor sie sie weggebracht haben, hat Louise mir noch erzählt, was geschehen ist.« Cheryl hatte sich Norman zugewandt. »Ich wollte es nicht glauben. Aber heute abend bin ich zu ihr nach Hause gefahren. Sie ist nicht da. Ihre Familie hat sie nicht mehr gesehen. Die ganze Zeit habe ich es immer für die Spinnereien eines ungebildeten, abergläubischen Geschöpfes gehalten. Aber Louise hat Recht. Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als uns unsere Schulweisheit träumen lässt. In der Firma sind die Vampire los, Norman. Sie haben den Laborassistenten, sie haben Louise und wie es aussieht, ist Ihre Frau das nächste Opfer.« »Was reden Sie den da?«, fuhr Norman sie an. »Sehen Sie sie doch an.« Norman drehte sich unwillig zu Gwen um. Sie stand vor ihm, die Augen weit geöffnet, aber offenbar blicklos. 212
»Sie ist sehr müde«, sagte er. »Soll ich jemanden für Sie rufen, Cheryl?« »Müde, ich lach mich tot.« Cheryl trat näher an Gwen heran und betrachtete sie von allen Seiten, als sei sie ein Museumsstück. »Sie ist gebissen worden, Norman.« Gwen stand weiterhin reglos da, zeigte keinerlei Reaktion und starrte ins Leere. Hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch Cheryl loszuwerden und dem Bedürfnis seiner Frau in ihrem Zustand – was immer das sein mochte – beizustehen, war es Norman schier unmöglich, klar zu denken. Warum führte neuerdings alles um ihn herum dauernd zu einer Entscheidung, der er sich nicht gewachsen fühlte? »Es würde wieder in Ordnung kommen, wenn Sie Ihre Frau von denen fern halten«, erklärte Cheryl. »Aber wenn Sie es versuchen, werden sie sie holen kommen.« »Cheryl, ich glaube wirklich, Sie sollten jetzt gehen.« Norman legte seine Hand auf Gwens Schulter und versuchte sie in Richtung Schlafzimmer zu bewegen. Da ging ihm auf, dass er praktisch an zwei Fronten gleichzeitig kämpfte. »Nein«, entgegnete Cheryl. »Ich glaube eher, Sie sollten endlich aufwachen und erkennen, was hier vorgeht.« Doch Gwen rührte sich nicht vom Fleck und Cheryl machte keine Anstalten zu gehen. Es war jetzt wichtig, Prioritäten zu setzen. Ein Blick auf Gwen verriet Norman, dass sie nirgendwohin gehen würde. Also konzentrierte er sich auf Cheryl. »Es ist wohl besser, wenn Sie jetzt gehen, Cheryl. Sonst muss ich die Polizei rufen.« »Sparen Sie sich die Mühe, Norman. Die Polizei hat keine Ahnung, wie man mit solchen Dingen umgeht.« »Nein«, warf Norman ein. »Ich meinte damit, dass ich die Polizei rufen werde, damit sie Sie abholt.« »Tun Sie das nicht, Norman. Sie haben außer mir keine 213
Freunde mehr.« Norman war schon auf dem Weg in die Küche. Er nahm den Hörer vom Wandtelefon und wollte eben den Notruf wählen, als ihm klar wurde, dass er gar nicht wusste, was er der Polizei eigentlich sagen sollte. Er wollte Cheryl nicht in seinem Haus haben, okay, aber besonders gefährlich schien sie nicht zu sein. Da fiel die Haustür ins Schloss. Norman legte den Hörer auf und stürzte ins Wohnzimmer. Cheryl war fort, Gwen ebenfalls. »Gwen?« Eine Sekunde lang befürchtete er, dass Cheryl sie gekidnappt hatte. Er machte kehrt und raunte in das dunkle Schlafzimmer. Er knipste das Licht an und fand Gwen auf dem Bett liegen, vollständig angezogen, aber bewusstlos. Er trat zu ihr und legte ihr die Hand auf die Stirn. Sie fühlte sich kalt an. Alarmiert griff er nach ihrem Puls. Er schien schwach und unregelmäßig. »Gwen?« Sie rührte sich nicht. In panischem Schrecken griff Norman nach dem Telefon neben dem Bett und wählte den Notruf für die Ambulanz. Dem Mann von der Bereitschaft erklärte er, dass seine Frau offensichtlich in ein Koma gefallen sei. Der Mann notierte Normans Name und Adresse und bat ihn vor dem Haus auf die Ambulanz zu warten. Norman setzte sich auf das Bett neben Gwen und hielt ihre eiskalte Hand. Sekunden zogen sich hin wie Monate und nach etwa fünfzig Jahren, so hatte er das Gefühl, hörte er das ferne Heulen einer Sirene. Er erhob sich und ging nach draußen, wie ihm geheißen worden war. Er sah das Blinklicht der Ambulanz, die Sirene war verstummt. Norman stellte sich in die Einfahrt und winkte. 214
Die Ambulanz hielt an, zwei Sanitäter sprangen heraus. Sie rannten zur Rückseite des Krankenwagens und zogen eine rollbare Trage heraus. Norman dirigierte sie ins Haus, ins Schlafzimmer. Das Bett war leer. »Sie ist nicht da«, sagte Norman. »Wo ist das Badezimmer«, fragte einer der Sanitäter. Norman wies in die Richtung. Der Sanitäter verschwand im Bad, kam wieder heraus und schüttelte den Kopf. Norman bemerkte, dass das Badfenster offen stand, aber es schien ihm unwahrscheinlich, dass Gwen durch das Fenster entschwunden war. Das traute er ihr nun doch wieder nicht zu. Auf der Suche nach Gwen durchforschte Norman mit den Sanitätern das ganze Haus. Megans Zimmer lag im Dunkeln und sie schrie erschrocken auf, als der Lichtstrahl sie traf. »Schon gut, Meg.« Norman sah sich um, keine Spur von Gwen. »Schlaf weiter, Kleines.« In Justins Zimmer brannte das Licht, Justin war im Pyjama auf dem Bett sitzend eingeschlafen. Norman legte ihn vorsichtig hin und stopfte die Decke um ihn herum fest. Dann löschte er das Licht und zog die Tür leise ins Schloss. Die Sanitäter erwarteten ihn im Flur. »Ich verstehe das nicht«, erklärte Norman. »Sie werden sowieso bezahlen müssen«, sagte der eine Sanitäter. »Sobald wir aus der Garage rollen, zählt das schon als Einsatz.« »Ja, ja. Schon gut.« Norman scherte sich nicht um die Kosten. Er wollte nur Gwen finden. Aber die Sanitäter hatten noch andere Verpflichtungen. Norman brachte sie an die Tür. Er blieb auf der Schwelle stehen und sah ihnen nach, wie sie die Trage davonrollten. Sie fuhren ohne Sirene, nur das Blaulicht blinkte. Am unteren Ende der Straße schwenkte das Licht über eine 215
Gestalt auf dem Gehweg. Norman rannte so schnell er konnte hinterher, bis er merkte, dass die Gestalt auf ihn zukam. Gwens Schritt hatte sie jedoch nicht. Er hielt unter einer Straßenlaterne an und wartete. Als die Gestalt im Lichtschein auftauchte, erkannte er Cheryl. Sie hielt etwas in der Hand. Als sie vor ihm stand, drückte sie ihm einen Krocketschläger und einen gestreiften Holzstab in die Hand. »Das werden Sie brauchen.« »Haben Sie unterwegs irgendjemanden gesehen?«, fragte Norman. »Sie ist wohl abgehauen, was?« »Ich weiß nicht.« Norman gestikulierte hilflos mit dem Schläger. »Sie ist weg.« »Sie werden Sie im Büro finden«, erklärte Cheryl. Norman glaubte ihr kein Wort, aber sie sprach mit einem derartigen Selbstverständnis, dass er an sich selber zu zweifeln begann. Ihr Verhalten entsprach ihrem Arbeitsstil: Rasche Auffassungsgabe gepaart mit einem untrüglichen Gespür, wie die Dinge angepackt werden mussten. »Sie werden jetzt wahrscheinlich gerade mit der Arbeit beginnen«, sagte Cheryl. »Ihr Herr und Meister hat sie gerufen. Reißen Sie sich zusammen, Norman. Gehen wir ins Haus. Ich werde Ihnen erklären, was los ist und was Sie zu tun haben.«
16 Ganz Britannien und vor allem Manchester litt noch unter der Slater-Afrare. Samuel Slater, ein Lehrling aus Mr. 216
Arkwrights Spinnerei, emigrierte 1789 nach Amerika unter Protektion eines Händlers aus Providence, Rhode Island. Lehrlinge gab es in der Textilindustrie zuhauf. Und niemand in England beklagte seinen Verlust. Das heißt, niemand beklagte den Verlust, bis Slater Amerikas erste eigene Spinnerei aufgebaut hatte. Bald produzierte man in Providence, Rhode Island, genau so viel Baumwollgarn wie die amerikanischen Weber brauchten. Die Engländer waren aufgebracht. Wie konnte der Verlust eines Lehrlings die Wettbewerbsfähigkeit eines Handelspartners stärken? Nach Meinung der Briten sollte Amerika Baumwollgarn kaufen und nicht produzieren. Das Parlament verabschiedete ein Gesetz, welches Textilarbeitern verbot zu emigrieren. Und noch ein zweites, das den Export von Textil produzierenden Maschinen oder Maschinenteilen untersagte. Britanniens Fabrikbesitzer sahen es als ihre heilige Pflicht fürs Vaterland, die Produktionsabläufe der Branche zu schützen und geheim zu halten. Die Feinspinnmaschine war vielleicht entwischt. Und auch der Prozess des Krempelns war bekannt. Doch Englands internationales Monopol auf den Maschinenwebstuhl musste erhalten bleiben, da blieb die britische Regierung hart. Pierce entschloss sich derjenige zu sein, der den Maschinenwebstuhl nach Amerika bringen würde. Sicherlich war da ein Vermögen zu verdienen, aber das war es nicht, was ihn an dieser Aufgabe reizte. Er sah sich in dem verwahrlosten Manchester um, betrachtete das Elend, den Dreck und die ungesunde Umgebung. Er hatte den Drang herauszufinden, ob die Textilindustrie nicht auch funktionierte ohne ihre Mitarbeiter gesundheitlich zu ruinieren. Und das konnte er nur, wenn er den Maschinenwebstuhl besaß. Pierce wählte für sein Vorhaben die Little-Weberei217
Gesellschaft. Diese Weberei war nicht aufgrund ihrer Größe so benannt worden, sondern nach ihrem Gründer, einem Herrn Asa Little. Pierce wählte die Little-Fabrik, weil sie weder die größte noch die kleinste Weberei Manchesters war. Die kleinsten verfügten nicht über die modernsten Maschinen und die größten wurden zu gründlich überwacht, sowohl von ihren Besitzern als auch von den Wachmännern. Mit der für ihn typischen unerschöpflichen Geduld beobachtete Pierce die Weberei eine Woche lang. Er stand am ersten Tag in aller Herrgottsfrühe vor den Fabriktoren und wartete auf die Heizer. Zwei Stunden vor Sonnenaufgang kamen die fünf Männer. Sie wurden vom Wachmann eingelassen, der dann hinter ihnen das Tor sofort wieder abschloss. Die Männer kamen sicherlich so früh, da der Kessel zunächst ordentlich eingeheizt werden musste. Man hörte sie in der Morgenstille bis über den Webereihof rufen und lachen, das Krachen ihrer Kohleschaufeln begleitete sie. Ein Vollmond stand über der Weberei. Aus dem Schornstein stieg dünner Rauch, doch mit der Zeit entwickelte sich dieses nächtliche Rauchfähnchen in eine dicke, zähflüssige schwarze Rauchsäule. Aus dem Inneren der Fabrik ertönte ein Stampfen, die Dampfmaschine hatte ihre Arbeit aufgenommen. Diese Maschine trieb eine lange aufrechte Antriebswelle, die durch die vier Etagen der Fabrik führte. In jedem Stock hing an dieser Antriebswelle ein Zahnkranz, der sich den ganzen Tag lang ungeheuer schnell drehte. Mit diesem Zahnkranz konnten waagerechte Antriebswellen verbunden werden, die jeweils über einen Treibriemen die Webstühle antrieben. Die gigantische Dampfmaschine gab plötzlich ein schrilles Pfeifen von sich. Innerhalb weniger Minuten strömten 218
Menschen zur Fabrik und sammelten sich vor ihren Toren. Erst waren es nur ein paar. Doch nach zehn Minuten, als das Pfeifen zum zweiten Mal erklang, trafen mehr und mehr ein, Männer, Frauen und Kinder in jedem Alter, einzeln oder in Gruppen. Jeder trug ein Bündel oder einen Eimer. Pierce vermutete, dass sie darin ihre Mahlzeit transportierten. Leise reihten sie sich am Fabriktor auf. Es war erst früher Morgen und doch wirkten sie alle zu Tode erschöpft. Sie erinnerten Pierce an etwas. Er brauchte einen Moment, bis er darauf kam. Sie sahen aus wie seine Opfer, kurz nachdem er sie zur Ader gelassen hatte. Als das Pfeifen zum dritten Mal ertönte, schloss der Wachmann das Tor auf und die gut hundert Leute fädelten sich rasch hindurch ins Innere der Fabrik. So wie Pierce es sehen konnte, trieb sie eher Angst als Fleiß. Ein korpulenter Mann im dunklen Anzug stellte sich ein, doch er grüßte keinen und auch zu ihm sprach niemand. Innerhalb von zehn Minuten waren alle im Bauch der Fabrik verschwunden. Der korpulente Mann winkte dem Wachmann zu, welcher daraufhin das Fabriktor schloss und verriegelte. Pierce konnte hören, wie die Maschinen zu mahlen und zu klappern begannen. Jetzt hatten die Maschinenführer sie an die Treibriemen angeschlossen. Der Arbeitstag konnte beginnen. Pierce sah auf seine Taschenuhr. Es war fünf Uhr morgens. Pierce beobachtete die Weberei, während die Sonne den Horizont erklomm. Man erkannte nur eine schmutzig bronzene Scheibe in dem Dunst. Ganz Manchester produzierte solchen Rauch. Selbst als die Sonne höher stieg, blieb der Himmel düster wie am Abend. Das Stampfen, Klappern und Brüllen ertönte ohne Unterlass aus der Fabrik. Der Schornstein spuckte jetzt eine dicke Rauchsäule aus. 219
Um halb acht ertönte das Pfeifen wieder und der Krach ließ etwas nach. Das Klappern der Webstühle verstummte, doch die Maschine stampfte weiter. Niemand erschien vor der Fabrik. Die Arbeiter machten wohl eine Essenspause. Dreißig Minuten dauerte die Stille an, dann schrillte das Pfeifen und die Webstühle nahmen ihr Geklapper wieder auf. So blieb es bis zum Mittag. Um zwölf wiederholte sich das Ritual – Pfeifen – dreißig Minuten Pause. Doch danach arbeitete die Weberei ohne Unterbrechung bis halb acht Uhr abends. Es war schon dunkel, als die Sirene das letzte Mal für den Tag ertönte und sich die Tore öffneten um die Arbeiter freizugeben. Sieben Tage lang beobachtete Pierce diese Routine. Bis auf Sonntag blieb der Ablauf immer gleich. Sonntags ruhte die Fabrik, nur zwei Männer sah man ab und zu zwischen Fabrik und Zaun auftauchen. Wahrscheinlich waren sie da um die Weberei zu bewachen und das Feuer im Hochofen in Gang zu halten. In der darauf folgenden Woche machte Pierce Mr. Little seine Aufwartung. Er klopfte an die Fabrikpforte und behauptete, er wolle Stoff kaufen. Der Wachmann nickte, ließ ihn ein und schickte ihn zu einer Tür. Diese lag neben dem Fabrikeingang, in den die Arbeiter verschwunden waren. Pierce erklärte sein Anliegen einem Buchhalter, der an seinem hohen Pult saß und ihn an einen Storch erinnerte. Der Buchhalter kletterte von seinem hohen Hocker und ging in den angrenzenden Raum. Pierce spürte, wie der Fußboden vibrierte, auch das Maschinendröhnen war präsent, wenn auch gedämpft. Nach ein paar Minuten kehrte der Mann zurück und führte Pierce in den angrenzenden Raum. Mr. Little war der korpulente Mann, den Pierce schon an der Fabrikpforte beobachtet hatte. Er saß hinter einem 220
großen Schreibtisch, auf dem sich ein Dutzend Hauptbücher stapelten. Außerdem lagen da noch drei hölzerne Objekte in der Form eines Schiffchens. Das mussten Webschützen sein. »Mr. Pierce.« Little erhob sich von seinem Schreibtisch. »Mein Sekretär sagt, Sie möchten Stoff kaufen.« Pierce hatte sich einen Monat lang intensiv mit Textilien befasst und eine Antwort auf diese Frage vorbereitet. »Ich habe vor einen Kurzwarenhändler aus New England zu beliefern. Er braucht etwa 3 000 Yard edle Stoffe, fein gewebt, aber haltbar. Wenn die Little-Gesellschaft in der Lage ist Stoff nach seinen Anforderungen zu weben, hofft er die Order regelmäßig zu wiederholen.« Mr. Littles Augen leuchteten auf, als er hörte, dass es sich um einen Dauerauftrag handelte. »Was wird gewünscht?« »Tuch aus Garn Nr. 14«, sagte Pierce. »37 Zoll breit, 44 Fädchen auf ein Zoll, das Gewicht soll etwas weniger als ein Pfund für drei Yard betragen.« »Wir stellen solch ein Tuch regelmäßig her«, freute sich Mr. Little. »Wie Sie sich vorstellen können«, fuhr Pierce fort, »ist solche Ware in Amerika nicht so leicht zu bekommen. Was berechnen Sie für diese Stoffe?« Mr. Little nahm einen Bleistift aus seiner Schublade und öffnete eines seiner Bücher auf der letzten Seite. Er schrieb in das Buch. Nach einem Moment sah er auf. »Unsere übliche Rate für diese Menge Stoff beträgt 208 Pfund, eine Hälfte ist sofort zahlbar, die andere nach Lieferung.« Pierce hatte nicht vor auf die Lieferung zu warten. Aber 104 Pfund waren nicht zu viel für einen Maschinenwebstuhl. Er nahm eine Rolle Banknoten aus der Tasche und begann sie auf den Tisch zu zählen. »Hier ist Ihre Anzah221
lung. Gibt es einen Standardvertrag für eine Transaktion dieser Art?« Mr. Littles Augen glänzten noch mehr, als er den Stapel Banknoten erblickte. »Ein Vertrag ist doch nicht nötig, wenn man mit einem Gentleman Handel treibt«, antwortete er. »Ihr Handschlag genügt mir vollauf.« Er reichte Pierce seine Hand. Pierce hatte keine Wahl, er musste einschlagen. Als der Mann seine Hand ergriff, schaute er drein, als hätte Pierce ihm einen Fisch gereicht. Doch die Körpertemperatur seines neuen Kunden ließ ihn kalt. Lieber konzentrierte er sich auf die Banknoten. Er legte sie zu einem ordentlichen Häuflein zurecht. »Die meisten Kunden erledigen Geschäfte mit einem Schuldschein.« »Mir scheint Bargeld zweckmäßig«, erwiderte Pierce. Mr. Little sah auf seine Taschenuhr. »Darf ich Ihnen etwas Tee anbieten, Mr. Pierce?« Gewöhnlich trank Pierce keinen Tee. Doch er hatte gelernt zu simulieren um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Also dankte er freundlich. Schließlich lag ihm an dem Wohlwollen dieses Mannes. Mr. Little rief seinen Sekretär und bat um Tee. Pierce deutete auf die Schiffchen auf dem Schreibtisch. »Sind diese Objekte Webschützen, Mr. Little?« »Aber ja doch!« Mr. Little hielt einen hoch. »Sehen Sie, hier in diese Vertiefung passt die Garnspule, der Faden wickelt sich glatt durch das Fadenauge hier ab, während der Webschütz durch das offene Fach von Kettgarn schießt.« »Warum sind die Enden denn zugespitzt?«, wollte Pierce wissen. »Der Schütze muss sich in beide Richtungen bewegen. Ich nehme an, die Enden verjüngen sich, damit er sicherer in seiner Spur geführt wird. Das geht nämlich ziemlich 222
schnell.« Der Sekretär, ein junger Mann mit Brille, brachte ein Tablett mit einer schlichten Teekanne und zwei dicken Tassen. Die beiden Männer unterhielten sich freundlich, während Mr. Little lautstark aus seiner Tasse schlürfte und Pierce vorgab an seiner zu nippen. Er fragte den Fabrikbesitzer nach dem Verfahren der Textilherstellung und den dazu benötigten Maschinen aus. »Sind Sie Engländer, Mr. Pierce?« »Nein.« »Das dachte ich mir.« Mr. Little schlürfte noch etwas Tee und stellte dann seine Tasse ab. »Das Gesetz verbietet mir Ihnen einen Maschinenwebstuhl, irgendwelche Maschinenteile oder Pläne zu einem solchen Webstuhl zu verkaufen oder zu überlassen. Aber es gibt kein Gesetz, das verbietet über den Webstuhl zu sprechen.« Pierce tat so, als nippte er noch einmal an seinem Tee. »Wir in der Textilindustrie haben dem Staat gegenüber eine große Verpflichtung. Wir müssen unsere Verfahren schützen um Britanniens staatliche Vorherrschaft auf diesem Gebiet zu erhalten. Aber reden dürfen wir beide, so viel wir wollen, vielleicht zeige ich Ihnen sogar die Maschinen bei der Arbeit. Ohne Maschinenteile kann niemand davon profitieren. Schließlich können Sie sich ja nicht alle dreihundertundsiebenundachtzig Teile merken!« Mr. Little hielt seinen Witz für sehr gelungen, er lachte von Herzen. »Darf ich denn die Maschinen einmal in Betrieb sehen?«, fragte Pierce. Mr. Little bejahte mit Begeisterung und riss Pierce förmlich aus seinem Stuhl. Er führte ihn aus dem Büro in den ersten Stock, wo sich die Webhalle befand. Dort betreu223
ten Arbeiter ein Dutzend Maschinenwebstühle. Der Krach in der Halle war ohrenbetäubend. Jeder einzelne Produktionsschritt an so einem Webstuhl ist eine Bewegung. Und jede Bewegung verursacht ein anderes Geräusch: Das Dröhnen des Anschlags vom Schussfaden an das Gewebe, das Pfeifen des Webschützen auf seiner Bahn, das rhythmische Klatschen der ledernen Treibriemen, das Rasseln der Antriebsketten, alles zusammen verursachte eine Kakophonie, die man fast schon musikalisch nennen konnte. Über allem lag das Summen der großen, sich drehenden Antriebswelle mitten im Gebäude. Pierce prägte sich ein, wie die Welle in der Mitte einen Zahnkranz bewegte, der wiederum kleinere Antriebswellen entlang der Decke mit Bewegung fütterte, bis die Kraft schließlich den einzelnen Webstuhl antrieb. Die große zentrale Antriebswelle drehte sich fast langsam verglichen mit den kleineren entlang der Decke. Die Zahnräder an den Webstühlen drehten sich so schnell, dass ihre Umrisse verschwammen. Je zwei Personen bedienten einen Webstuhl, in der Regel jeweils ein Erwachsener und ein Kind. Wahrscheinlich konnten die kleinen Finger eines Kindes einige der Arbeitsgänge besser ausführen. Ein dünner, verhärmt aussehender Mann in einem dunklen Mantel wanderte den Gang zwischen den Webstühlen entlang. An seinem Gürtel trug er etwas, das wie eine Knute aussah. Als der Mann Pierce und Mr. Little erblickte, kam er sofort zu ihnen. »Mr. Pierce«, brüllte Mr. Little über den Krach der Maschinen. »Das ist mein Vorarbeiter Stryker.« Stryker verbeugte sich und Pierce erwiderte seine Verbeugung. Mr. Little deutete auf einen der Webstühle. »Stryker, warum ist die Maschine da drüben nicht in Betrieb?« 224
»Der Webschütze ist aus seiner Spur gesprungen«, brüllte Stryker zurück. »Wir versuchen herauszubekommen, warum.« Pierce sah einen Mann und ein Kind, die die stillgelegte Maschine untersuchten. Der Warenbaum war etwa ein Viertel voll mit dunkelblauem Stoff. Das Kind warf immer wieder nervöse Blicke in ihre Richtung. Pierce fragte sich, ob die Blicke etwas mit der großen frischen Prellung auf seinem Gesicht zu tun haben könnten. »Webschützen fliegen jeden Tag aus der Spur, Stryker«, rief Mr. Little. »Die Maschine sollte heute schon einen halben Ballen geschafft haben.« »Wir werfen sie gleich wieder an«, antwortete Stryker. »Werfen Sie sie sofort an«, befahl Mr. Little. Stryker nickte und ging zum Webstuhl hinüber. Das Kind verzog sich hinter den Webstuhl, als wolle es so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Vormann schaffen. Über dem Getöse der Maschinen konnte Pierce nicht verstehen, was gesprochen wurde. Doch es war klar, dass Stryker den Mann instruierte den Webstuhl wieder anzustellen. Das Kind beobachtete die Männer aus seiner Position hinter der Maschine. Der Mann schüttelte den Kopf und sagte etwas, worauf Stryker zur Knute griff. Sofort warf der Mann den Hebel an, der die Maschine in Gang setzte. Der Webstuhl webte augenblicklich in rasendem Tempo los. Die Litzen hoben das Kettgarn, der Webschütze sauste hin und her, die Rollen drehten sich. Mr. Little lehnte sich zu Pierce hinüber und brüllte mit einem vertraulichen Zwinkern: »Man muss nur ihre Aufmerksamkeit gewinnen.« Er lachte. Während Pierce zusah, schoss der hölzerne Webschütze plötzlich aus seiner Spur, ja, sogar aus der Maschine. Das Kind, das noch neben dem Webstuhl stand, wurde 225
an der Schulter getroffen. Es fiel zu Boden. Sofort stellte der Mann den Webstuhl wieder ab und lief zu dem Kind. Als die anderen Arbeiter in der Halle sahen, was geschehen war, stellten auch sie ihre Maschinen ab und traten zu dem auf dem Boden zusammengekrümmten Körperchen. Bald standen alle Maschinen still und die Männer drängten sich um das Kind. Es wurde viel ruhiger im Raum, auch wenn die Antriebswellen noch dröhnten. Pierce war klar, dass der Webschütze das Kind mit der Kraft einer Gewehrkugel getroffen haben musste. Wahrscheinlich war seine Schulter zerschmettert. »Was ist denn hier los?«, bellte Mr. Little. »Stryker, sehen Sie zu, dass die Maschinen wieder in Gang kommen.« »Der Junge scheint verletzt zu sein«, antwortete Stryker. »Na und? Dann schaffen Sie ihn raus und schalten Sie die Maschinen wieder an«, befahl Mr. Little. Stryker nickte und machte sich daran, die Ansammlung aufzulösen. Er schickte alle Arbeiter wieder an ihre Webstühle. Als das Klappern, Mahlen und Dröhnen wieder einsetzte, wandte sich Mr. Little an Pierce. »Es dauert schon eine Weile, bis man seinen Vormann angelernt hat«, brüllte er. »Stryker sollte mittlerweile wissen, dass wir das Kind leicht ersetzen können. Vor dem Fabriktor warten gerade wieder welche.« Damit trat Mr. Little auf einen Webstuhl zu, der am anderen Ende der Halle stand. Pierce folgte ihm. Der Webstuhl war im Holzfußboden verankert. Ein lederner Treibriemen verband ihn mit der Antriebswelle an der Decke. An jedem Ende übertrug eine Riemenscheibe die Bewegung. Mit dämonischer Geschwindigkeit öffnete und schloss sich das Fach der Kettfäden, dazwischen schoss 226
der Webschütze hin und her. Das Tempo und die gerade Spur, die er lief, ließen ihn beinahe lebendig und von eigenem Willen getrieben erscheinen. Pierce hatte das Gefühl, wenn er hier nur lange genug stehen blieb, würde der Webstuhl anfangen zu ihm zu sprechen. Aber dessen bedurfte es nicht. Jemand, der sich mit dem Weben auskannte, verstand seine Geschichte auch ohne Worte. Der Webstuhl sprach eine deutlichere Sprache als jede Beschreibung. Pierce hatte den Webvorgang ausgiebig studiert um auf diesen Moment vorbereitet zu sein. Er wusste genau, wo die Probleme im Herstellungsprozess lagen. Diesen Bereichen schenkte er die größte Beachtung. Er veranschlagte die Abmessungen und Größen und verinnerlichte die Formen der Maschinenteile. Während Mr. Little sich über die Kosten der Maschine ausließ, über die langen Lieferzeiten klagte und all die Umstände mit der Installation schilderte, wanderte Pierce um den Webstuhl herum und studierte jedes Detail und jede Bewegung. Allerdings achtete er darauf, nach dem, was mit dem Kind passiert war, nicht zu nah an den Enden der Schussspur vorbeizugehen. Bevor noch Mr. Little seine Geschichte über den Erwerb der Maschine – es handelte sich dabei allerdings eher um ein längeres Epos – beendet hatte, kannte Pierce die Maschine schon in- und auswendig. Er dankte Mr. Little, machte einen Termin für die Stofflieferung aus und verließ die Fabrik. Pierce hatte nicht vor je wiederzukommen und seinen Stoff abzuholen. Er wollte nur so schnell wie möglich an Papier und Bleistift kommen um die Entwürfe für den Maschinenwebstuhl zu zeichnen. Danach würde er die Pläne vernichten, er wollte nicht mit ihnen in der Tasche beim Zoll erwischt werden. Wenn er die Maschine nur 227
einmal ohne Hilfe zeichnen konnte, dann würde er sie auch in Amerika rekonstruieren können. Er kam sich vor wie Prometheus. Als er ging, spielten drei Kinder vor dem Fabriktor. Er achtete nicht auf sie. Und er drehte sich auch nicht um, als er Stryker eins von ihnen rufen hörte.
17 Als Norman mit Cheryl im Schlepptau durch die Haustür trat, waren beide Kinder auf. Sie standen in ihren Schlafanzügen im hinteren Teil des Hausflurs. »Ist Mami noch nicht da?«, fragte Justin. »Nein«, antwortete Norman. »Sie arbeitet heute länger.« Justin zuckte mit den Schultern und trottete davon. »Ich komme gleich und sag dir gute Nacht«, rief Norman hinter ihm her. Justin reagierte nicht und Norman fragte sich, ob er überhaupt richtig wach war. »Papi«, kam Megans dünnes Stimmchen. »Was machst du denn mit dem Krocketschläger?« Norman schaute betreten auf den Schläger in der Hand. Cheryl hatte ihm einen mit grünen Streifen gegeben. »Nichts.« Er wies mit einer vagen Handbewegung auf Cheryl, die neben ihm stand. »Er gehört Cheryl. Ich halte ihn bloß für sie.« »Man bekommt nirgendwo mehr Baseballschläger aus Holz«, ereiferte sich Cheryl. »Können Sie sich so was vorstellen? Ich war in drei verschiedenen Sportgeschäften. Heutzutage sind die Baseballschläger aus Aluminium.« 228
Megan betrachtete sie aufmerksam. »Wer sind Sie?« »Ich bin Cheryl, Kleine. Ich arbeite für deinen Papi.« Cheryl trat auf Megan zu und wollte sie umarmen. Megan wich zurück. »So ist’s recht«, meinte Cheryl. »Immer vorsichtig mit Fremden. Das ist gut.« »Megan, warum gehst du nicht wieder ins Bett?«, schlug Norman vor. »Wenn Mami nach Hause kommt, werde ich ihr sagen, dass sie bei dir reinschauen soll.« Megan blickte unschlüssig drein. Sie wollte offensichtlich nicht ins Bett zurückgehen, hielt es dann aber doch für das kleinere Übel, als mit Cheryl im selben Zimmer zu bleiben, der sie aus unerklärlichen Gründen misstraute. »Gute Nacht, Papi.« Sie wandte sich zum Gehen. »Gute Nacht, Kleine«, sagte Cheryl. Megan warf ihr einen schrägen Blick zu. »Gute Nacht.« Kaum war Megan verschwunden, warf Norman Krocketstab und -schläger auf die Couch neben Gwens Aktenmappe. Vermutlich hatte Cheryl Recht und Gwen war im Büro, aber warum hatte sie ihre Tasche nicht mitgenommen? »Ich bleibe bei den Kindern, dann können Sie in die Firma fahren und Pierce pfählen«, schlug Cheryl vor. Norman hatte nicht die Absicht Pierce zu pfählen, dennoch würde er Cheryls Angebot annehmen um nach Gwen zu suchen. »Danke, Cheryl«, sagte er. Er hielt es für angebracht, sich vorher ein frisches Hemd anzuziehen und eine Krawatte umzubinden. Auf dem Weg ins Schlafzimmer knöpfte er sich das Hemd auf. Er wollte es gerade über den Kopf ziehen, als er stutzte. Er benahm sich ja schon genauso verrückt wie Cheryl. Sollte er wirklich gehen und die Kinder in der Obhut dieser Irren lassen? Er machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Wohnzimmer zurück. »Was ist los, Norman?« Cheryl sah ihn fragend an. 229
»Ich gehe nicht, Cheryl«, erklärte er. »Vermutlich haben Sie Recht«, meinte Cheryl. »Bei Nacht ist es zu gefährlich. Warten Sie bis morgen früh.« »Ich werde ihn auch morgen früh nicht pfählen«, sagte Norman. »Ich werde ihn überhaupt nicht pfählen.« »Sie müssen es tun, Norman. Er hat Ihre Frau.« »Hören Sie, Cheryl«, drängte Norman. »Sie brauchen Hilfe.« »Jeder andere Mensch, der so viel durchgemacht hat wie Sie, wüsste inzwischen, was los ist, Norman.« »Sie haben jeden Sinn für die Realität verloren, Cheryl.« »Norman, wachen Sie endlich auf und riechen den Braten beziehungsweise die Leiche um im Bild zu bleiben.« »Es gibt nur eine Leiche, Cheryl«, gab Norman zurück. »Außer Blankenship natürlich. Aber das war vor Pierce. Ich denke, Sie sollten jetzt gehen.« Er drehte sich zur Couch um, griff nach dem Krocketstab und -schläger und reichte beide Cheryl. Cheryl tat einen tiefen Seufzer. »Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie mich nicht lassen.« »Ich möchte nicht, dass Sie mir helfen«, erklärte Norman. »Ich möchte, dass Sie gehen.« Cheryl blickte nachdenklich auf seine nackte Brust unter dem offen stehenden Hemd. Der Gedanke schoss Norman durch den Kopf, dass Cheryl dies alles nur als Vorwand für ein Techtelmechtel benutzte. Aber dann wiederum glaubte er nicht, dass Frauen so zielstrebig vorgingen. »Ich werde gehen, Norman, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten und dann zuhören, was ich Ihnen zu sagen habe.« Norman überlegte einen Moment lang. »Ich habe für derlei Quatsch keine Zeit«, sagte Norman. »Meine Frau ist verschwunden. Ich muss die Polizei ru230
fen.« Er ließ den Krocketschläger und den Stab auf die Couch fallen. »Sie haben Zeit genug mir zuzuhören.« Norman wollte nichts von ihrem übersinnlichen Gewäsch hören, aber es schien im Augenblick die einzige Möglichkeit sie loszuwerden. Er ließ sich auf das Sofa fallen. »Meinetwegen.« Cheryl setzte sich neben ihn. »Wie ich sehe, tragen Sie ein Kreuz um den Hals, Norman.« Norman fuhr sich mit der Hand an die Brust. Cheryl hatte Blankenships Amulett entdeckt. Es war ihm peinlich. »Ich wusste nicht, dass Sie ein religiöser Mensch sind«, fuhr Cheryl fort. »Aber womöglich ist das Ihr Schutz. Ihre Frau trägt wohl kein Kreuz?« »Hören Sie, das wird mir alles viel zu persönlich.« Norman fühlte sich unbehaglich. Cheryl griff sich an die Bluse und zog eine Kette mit einem Kreuzanhänger aus dem Ausschnitt. Der Anhänger war aus Gold, kunstvoll gearbeitet und mit verschiedenen Edelsteinen verziert. »Er gehörte Louise.« Cheryls Augen wurden feucht und Norman verfolgte mit Staunen eine dicke Träne, die sich löste und Cheryl über die Backe rann. »Das war es, was sie in ihrer Schublade gesucht hatte. Ich hab nachgeschaut, nachdem sie sie weggebracht hatten, und das hier gefunden.« Jetzt rollte ihr noch eine Träne über das Gesicht. »Ist zwar nicht mein Geschmack, aber es wirkt. Du meine Güte, Norman, sie fehlt mir so! Sie war wirklich in Ordnung und ich habe mich immer lustig über sie gemacht.« Cheryl schnüffelte, dann fuhr sie sich mit ihrem Blusenärmel über die Nase. Norman hatte noch nie eine Frau getroffen, die sich die Nase mit ihrer Manschette abwischte. Er sprang auf, ging 231
in die Küche und holte die Schachtel Papiertaschentücher, die dort immer bereitstand. Er reichte sie Cheryl. Sie putzte sich die Nase, knüllte das Taschentuch zusammen und zog noch eines aus der Box. Sie wischte sich damit über das Gesicht, dann schnäuzte sie geräuschvoll hinein. »Sie sind doch andauernd mit dem Big Boss zusammengekommen.« Cheryl hatte sich wieder gefasst. »Er hat sie aber nicht attackiert, weil Sie ein Kreuz tragen. Sie können es spüren, wenn heilige Symbole oder Reliquien in ihrer Nähe sind. Er hat Ihren Anhänger wohl nicht gesehen, aber gespürt, dass er da war.« »Meinen Sie Pierce?« »Es passt doch alles zusammen, Norman. Denken Sie doch nur, wie plötzlich er aufgetaucht ist. Er scheut das Tageslicht. Seit Jacqueline damals die Besprechung allein mit ihm hatte, sah sie aus wie Tod auf Urlaub. Und nun ist auch noch der Laborassistent tot – verblutet aufgrund von Stichwunden am Hals. Und es gibt noch mehr Beweise.« »Was für Beweise?« »Ich habe mit den Sekretärinnen der anderen Abteilungen gesprochen und so manches erfahren«, fuhr Cheryl aufgeregt fort. »In der ganzen Firma gibt es mittlerweile Leute, die zu den merkwürdigsten Zeiten arbeiten, wie Jacqueline. Sie sitzen in abgedunkelten Büros, wechseln ihre Kleidung so gut wie nie. Sie sind überall, Norman. Es ist wie eine Seuche.« »Selbst wenn es so wäre, wie Sie sagen. Was haben Sie dann mit uns vor?« »Genau das habe ich noch nicht rausgekriegt«, sagte Cheryl. »Es überrascht mich nicht, dass sie ein Biotechunternehmen gewählt haben, aber was ich nicht ver232
stehe, ist, dass sie das Aidsprojekt einstellen wollen. Man sollte meinen, dass ein Mittel gegen Aids in ihrem Interesse ist. Ich könnte mir vorstellen, dass Aids für einen Vampir kein Vergnügen ist.« »Pierce meint, gegen Aids wird es nie ein Mittel geben.« Norman war selber überrascht, wie er sich an diesem Gespräch beteiligte, als ob sie eine ernsthafte Unterhaltung oder Ähnliches pflegten. »Vielleicht kümmert es sie nicht«, meinte Cheryl. »Vielleicht schmeckt es nur schlecht und sie haben andere Vorlieben.« Es klingelte an der Tür. Ein vager Hoffnungsfunke stieg in Norman auf, bis ihm einfiel, dass Gwen sicherlich nicht an der Haustür klingeln würde. Er erhob sich und begann sich das Hemd zuzuknöpfen. Cheryl nahm den Krocketschläger und den Stab an sich und eilte in Richtung Küche. »Vielleicht muss ich mich selber darum kümmern«, erklärte sie. Norman wollte nicht, dass sie jemanden mit dem Schläger und dem Stab attackierte. »Moment mal, Cheryl. Warten Sie.« »Ich verstehe nicht, Norman.« Es klingelte noch einmal. »Hören Sie«, sagte Norman. »Ich muss an die Tür. Warten Sie einfach in der Küche, ja?« Mit einem Schulterzucken wandte Cheryl sich um und verzog sich in die Küche. Norman ging an die Haustür und öffnete. Vor ihm stand Pierce. »Was machen Sie denn hier?«, fragte Norman. »Hallo, Norman.« Pierce stand genau im Lichtkegel der Außenbeleuchtung. »Ich wollte nur nachsehen, ob Gwen heil nach Hause gekommen ist. Sie sah sehr müde aus, 233
hat es aber abgelehnt, dass ich sie fahre.« »Sie war sehr müde«, erwiderte Norman. »Sie ist ohnmächtig geworden oder so was.« »Ach ja?«, sagte Pierce. »Nun, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie wird schon wieder.« »Ich mache mir aber Sorgen«, gab Norman zurück. »Sie ist verschwunden. Ich habe sie ins Bett gelegt und als ich nach ihr schauen wollte, war sie fort.« Pierce blickte etwas irritiert. Norman hatte das noch nie bei ihm erlebt und fand es seltsam. Viel Zeit zum Überlegen blieb ihm allerdings nicht, denn Pierce stieß nur ein Wort hervor, machte auf den Treppenstufen kehrt und verschwand in der Nacht. Dieses eine Wort gab Norman zu denken. »Jacqueline.« Auf dem Parkplatz von Biomethods brannten aus Gründen der Sicherheit alle Leuchten, aber als Norman eintraf, standen nicht sehr viele Autos dort. Er blieb einen Moment lang im Wagen sitzen und starrte auf das dunkle Firmengebäude. Er betete im Stillen, dass Justin und Megan bei Cheryl sicher aufgehoben sein würden, dann nahm er den Krocketschläger und den Stab vom Beifahrersitz und stieg aus. Ein Teil von ihm fand, dass es albern wirkte, mitten in der Nacht mit einem Krocketschläger in der Hand in der Firma aufzutauchen. Aber ein noch größerer Teil von ihm fand, dass die Welt sich irgendwie zum Bösen gekehrt hatte und er auf alles vorbereitet sein sollte. Er blickte nachdenklich auf die Utensilien in seiner Hand. Der Stab war wirklich albern, aber der Schläger würde sich ganz gut als Waffe eignen. Er hatte einen hammerartigen Kopf und einen soliden Holzstiel. Man konnte den Stiel mit beiden Händen fassen und das Ding wie einen Holz234
hammer schwingen. Ein beidhändiger Schlag mit diesem Schläger konnte einen Schädel zertrümmern. Norman hielt inne. Wieso dachte er überhaupt so etwas? Er war doch nicht der Typ, der Schädel zertrümmerte? Und wessen Schädel gedachte er überhaupt zu zertrümmern? Der Firmeneingang war nicht verschlossen, in der Halle stand jedoch kein Wachmann. Es schien so, als ob das Firmenmanagement keine Furcht vor Eindringlingen hatte – im Gegenteil, sie vielleicht sogar einlud. Norman steckte den Holzstab in seinen Gürtel und nahm den Schläger in die andere Hand, damit er mit der Rechten die Tür aufziehen konnte. Er betrat das Gebäude. Norman wusste nicht, was er eigentlich erwartete. Pierce würde er gewiss nicht hier finden, denn der hatte zwar einen gewissen Vorsprung, schien aber zu Fuß unterwegs zu sein, während Norman mit dem Wagen gekommen war. Warum ging dieser Mann zu Fuß? Das Firmengebäude lag im Dunkeln, nicht einmal ein Nachtlicht brannte. Normans Absätze klickten auf den Fliesen. Nach wenigen Schritten hielt Norman an, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Er nahm den Schläger wieder in die rechte Hand und tastete mit der Linken nach dem Amulett unter seinem Hemd. Cheryl hatte ihm Engstirnigkeit vorgeworfen, weil er ihr nicht glauben wollte, dass Pierce übersinnlich und bösartig sei. Er glaubte das immer noch nicht, aber hier allein in der dunklen Halle beschlichen ihn erste Zweifel. Er beschloss zunächst in Pierces Büro zu gehen. Es schien das Schaltzentrum für alle dubiosen Vorgänge in diesem Haus zu sein. Er tastete sich durch die Dunkelheit, bis er den Fahrstuhl erreichte. Er drückte den Aufwärtsknopf, die Bereit235
schaftslampe warf ein sanftes grünes Licht in die schummerige Halle. Norman hörte, wie eine Fahrstuhltür zur Seite glitt und das eine Rechteck der Fahrstühle dunkler erschien. Er ging darauf zu und tastete mit dem Schläger nach der Fahrstuhltür. Sie stand offen. Norman spähte in das dunkle Rechteck. Er vermeinte eine Kabine mit Teppichboden zu erkennen, aber bevor er eintrat, vergewisserte er sich mit seinem Schläger, dass die Fahrstuhlkabine tatsächlich vorhanden war. Er stieg ein, fühlte nach dem Knopf für den fünften Stock und drückte ihn. Die Fahrstuhltür schloss sich wieder und die Kabine setzte sich in Bewegung. Es gab keinerlei Licht, nur die Leuchtdiode der Stockwerksanzeige flimmerte über der Tür. Nach einer Ewigkeit hielt der Fahrstuhl an und die Tür rumpelte zur Seite. Norman betrat den dunklen Korridor. Er tastete sich an der Wand entlang bis zur Rechnungsabteilung. Die Glasdoppeltür zum Vorzimmer stand offen. Die Fensterfront ging auf den Firmenparkplatz und die Bogenlampen tauchten den Raum in ein fahles Zwielicht. Norman sah sich vorsichtig um. An der gegenüberliegenden Wand, nahe bei der Tür zu Pierces Büro, entdeckte er eine Frauengestalt. Er war sich nicht sicher, aber er dachte – hoffte es vielmehr -, dass es Gwen sei. »Gwen?« Er ging langsam auf sie zu. »Gwen?« Sie antwortete nicht. Als Norman nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, stolperte er über etwas und stürzte zu Boden, wobei ihm der Schläger aus der Hand fiel. Das spitze Ende des Holzstabs in seinem Gürtel bohrte sich schmerzhaft in seinen Schenkel. Norman glaubte nicht, dass er sich ernsthaft verletzt hatte, aber es tat weh und würde be236
stimmt einen hässlichen blauen Fleck machen. Warum, um alles in der Welt, musste er auch mit einem spitzen Gegenstand am Gürtel im Dunkeln herumstolpern? Er musste den Verstand verloren haben. Er zerrte den Holzstab aus seinem Gürtel und wollte ihn gerade in eine Ecke feuern, da wurde ihm bewusst, dass ihm das Ding vielleicht noch nützlich sein konnte. Er wollte nachsehen, worüber er gestolpert war, konnte aber nichts Genaues erkennen. In dem Moment ging das Licht an. Norman sah sich nach Gwen um und entdeckte Pierce direkt neben ihr, die Hand am Lichtschalter. »Hallo, Norman.« »Gwen«. Norman rappelte sich auf die Knie und stemmte sich mühsam hoch. »Glauben Sie mir, Norman«, sagte Pierce. »Ihr fehlt nichts. Sie ist ein bisschen benommen, aber ich war rechtzeitig zur Stelle.« Er deutete mit einer Handbewegung auf das Ding, über das Norman gestolpert war. Norman drehte sich um und erkannte, was es war. Auch wenn ihm das Gesicht nicht vertraut gewesen wäre, hätte er den Powerdress erkannt, der dringend einer Reinigung bedurfte. Jacqueline lag reglos da. Aus ihrer Brust ragte der Griff von Pierces Brieföffner, dem Stilett. »Eine erstaunliche Mitarbeiterin«, bemerkte Pierce. »Ich fürchte jedoch, ich habe sie ziemlich schlecht behandelt.« Norman zuckte vor dem leblosen Körper zurück. »Ich weiß nicht, wovor sie sich fürchten, Norman«, fuhr Pierce fort. »Eine Tote? Sie ist jetzt seit bald einer Woche tot, und das hat Sie bislang nicht weiter gekümmert. Sie sind nicht gerade das, was ich eine einfühlsame Führungskraft nennen würde. Man sollte meinen, dass die meisten Vorgesetzen es merken, wenn einer ihrer Untergebenen Probleme hat. Aber Ihre wichtigste Mitarbeiterin – ihre Assistentin wohlgemerkt – rennt seit einer Woche 237
wie ein Gespenst herum und sie haben sich nicht einmal die Mühe gemacht sie zur Personalbetreuung zu schicken.« Norman nahm den Krocketschläger wie eine Krücke zu Hilfe und hievte sich vorsichtig auf die Beine, wobei er Acht gab, dass er sich nicht noch einmal mit dem Holzstab verletzte. »Ich bin wegen Gwen hier, Pierce.« »Sie hat eine große Zukunft vor sich, Norman. Sie sollten sie ihr nicht verderben.« Jetzt wusste Norman, was er zu tun hatte. Er nahm den Holzstab in die linke Hand, dann warf er den Schläger am Kopf hoch, damit er ihn am Stielende packen konnte. Ehe er noch einen Schritt auf Pierce zumachen konnte, kam der auf ihn zu. Norman erkannte die Ausweglosigkeit seiner Lage. Sein Boss war offenbar schneller gewesen als er mit seinem Wagen. Wie konnte er erwarten, dass sein Boss stillhielt, während er ihm einen Holzpfahl ins Herz trieb? »Ich hatte meine letzte Stärkung verpasst, als Jacqueline auftauchte, und ich konnte mich nicht beherrschen.« Pierce sprach im Plauderton, während er unbeirrt auf Norman zuging. »Ein Betriebsunfall, sozusagen.« »Keinen Schritt näher, Pierce!« Norman hielt den Stab mit der Spitze auf Pierce gerichtet und hob den Schläger. »Ich hatte gedacht, sie wäre anders. Aber sie war wie die anderen auch – unkontrollierbar.« Pierce blieb vor Norman stehen und packte den Stab an seinem spitzen Ende. Es zeigte immer noch auf seine Brust. »Ich hatte ihr befohlen Gwen in Ruhe zu lassen, aber sie folgte ihr und holte sie direkt aus Ihrem Haus. Sie brachte Gwen hierher um sich hier an ihr zu laben. Jacqueline fühlte sich wohl hier. Untote haben oft eine Vorliebe für bestimmte Orte.« Pierce hatte jetzt das andere Ende des Stabes gepackt und hielt es fest, als ob er Norman zum Schlag 238
ermuntern wollte. Die eine Hand fest an dem Stab, holte Norman mit dem Krocketschläger aus. Mit einer blitzschnellen Handbewegung hatte Pierce den Stab zur Seite gedreht und der Schlag ging ins Leere. Norman verlor das Gleichgewicht. Dieser Mann war unglaublich behände. »So einen ambitionierten Menschen habe ich noch nie getroffen.« Pierce besah sich den Stab in seiner Hand, dann steckte er ihn sich mit einem Schulterzucken in den Gürtel. »Den brauche ich vielleicht noch.« Norman hatte sein Gleichgewicht wiedergefunden. Er nahm all seinen Mut zusammen und führte einen beidhändigen Schlag mit dem Hammer gegen Pierces Kopf. Er traf auch etwas, das hart genug war den Stiel erzittern zu lassen, es war aber nicht das, worauf er gezielt hatte. Es war Pierces Handfläche. Pierce hatte den Schlägerkopf abgefangen, als hätte Norman einen Tennislob gespielt. Mit einem milden Lächeln entwand er Norman den Schläger. »Den werde ich auch brauchen.« Pierce trat noch einen Schritt auf Norman zu. »Sie hat in der gesamten Firma gewütet. Ich habe es mit einer Plage Untoter zu tun.« Norman wusste, dass er unverzüglich handeln musste. Pierce stand jetzt unmittelbar vor ihm. Er griff sich in das offene Hemd, zog das Kreuz heraus und hielt es Pierce vor die Nase. Pierce sah das Kreuz und lächelte. »Kommen Sie ja nicht näher«, sagte Norman. »Glauben Sie, das wird Sie schützen?« Pierce packte das Kreuz und zog einmal heftig daran. Norman spürte, wie die Halskette unter seinen Händen riss. Tausend metallene Perlen tanzten über den Boden. »Dieses Stückchen Ikonographie ist so menschlich.« Pierce sprach das Wort menschlich so verächtlich aus, 239
als meinte er bestialisch. Norman vermochte nichts zu sagen, eine tiefe Angst schnürte ihm die Kehle zu. »Es bietet Ihnen keinerlei Schutz, Norman.« Pierce ließ das Kreuz auf den Boden fallen und zertrat es mit dem Absatz. Dann brachte er sein Gesicht ganz nahe an Normans heran. »Werden Sie mich jetzt beißen?«, fragte Norman. »Beißen?« Pierce sah ihn verblüfft an. »Ach, Sie wollen wissen, ob ich mich jetzt an Ihnen delektieren werde?« Norman wollte nur noch weg von allem und die Polizei rufen. »Nein, ich werde Sie nicht behelligen. Ich muss mich nur viermal im Jahr nähren und derzeit habe ich keinen Bedarf.« »Haben Sie sich von Jacqueline genährt?«, fragte Norman. »Ja«, gab Pierce zu. »Leider zu oft, muss ich gestehen.« Sie wandten sich gleichzeitig zu Gwen um, die noch immer dastand, wo Pierce sie verlassen hatte, und ins Leere starrte. »Nur weil ich es nicht brauche, heißt nicht, dass ich es nicht von Zeit zu Zeit mache«, bekannte Pierce. »Aber seien Sie unbesorgt. Sie sind für mich nicht so verlockend wie ihre Frau es heute war.« Normans Furcht verwandelte sich in Verärgerung. »Stimmt mit mir irgendetwas nicht?« »Ich bitte Sie«, erwiderte Pierce. »Ich habe nun mal keinen Appetit auf Sie, das ist alles. Nun ja, es gibt eben Nahrungsmittel, auf die man einfach keine Lust hat. Und ich habe keine Lust auf Sie.« »Was geschieht jetzt mit Gwen?«, wollte Norman wissen. »Ich habe keine übernatürlichen Kräfte und versklave auch niemanden. Ich bin immer wieder erstaunt, welche 240
Ammenmärchen die Menschen über mich und meinesgleichen verbreiten.« Norman deutete auf Gwen. »Sie lügen. Sie kommt mir vor wie ein Zombie.« »Nein«, sagte Pierce. »Sie ist nur müde. Hinterher ist das immer so. Aber das geht vorbei, in ein oder zwei Tagen ist sie wieder auf den Beinen. Ich habe mich nur kurz an ihr gestärkt.« Norman machte Anstalten zu ihr zu gehen und Pierce hielt ihn nicht auf. »Ich glaube, ich lerne allmählich mich zu beherrschen«, lächelte Pierce. Norman griff nach Gwens Hand. Sie war warm, wie es sein sollte. Er beugte sich über sie, legte einen Arm um ihre Schultern und schob den anderen unter ihre Knie um sie hochzuheben. Sie war schwerer als erwartet. »Was…«, murmelte sie. »Schon gut.« Norman versuchte zwei Schritte, dann setzte er seine Last behutsam nieder. »Schlaf ein wenig.« Er bückte sich, umfasste ihre Knie, hob sie hoch und kippte sie wie einen Sack über seine Schulter. Sie schien wie bewusstlos. »Bringen Sie sie nach Hause, Norman«, sagte Pierce. »Sie kann mich morgen anrufen – wenn sie möchte. Was Sie betrifft, sie können zu Hause bleiben. Ich mag mich vielleicht nicht an Ihnen laben, aber ich habe beschlossen Sie zu liquidieren.« Norman beeilte sich von ihm wegzukommen. »Ich werde Ihnen nicht folgen«, rief Pierce ihm nach. »Vor einem Jahrhundert noch hätte ich gedacht, dass es zu gefährlich wäre, Sie leben zu lassen. Aber, offen gestanden, fange ich an mich zu langweilen. Ich hatte geglaubt, eine Finnensanierung wäre wirklich spannend, nur hat es sich nicht so entwickelt, wie ich erwartet hat241
te.« Norman erreichte den Fahrstuhl und als er den Knopf betätigte, öffnete sich die Fahrstuhltür beinahe automatisch. Er betrat die Kabine und drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss. »Rufen Sie doch die Polizei«, rief Pierce hinter ihm her. »Das würde wirklich spannend werden!« Die Fahrstuhltür schloss sich geräuschlos. Norman wollte erleichtert aufatmen, als ihm einfiel, dass Pierce womöglich die Treppen hinunterlief um ihn in der Eingangshalle in Empfang zu nehmen und zu töten. Er wusste mittlerweile, dass Pierce mit seiner Beute zu spielen liebte. Aber Pierce war nicht da. Norman trug Gwen aus dem Firmengebäude zum Parkplatz. An seinem Wagen setzte er sie vorsichtig ab und lehnte sie an das Auto, während er aufschloss. Dann verfrachtete er sie auf den Beifahrersitz. Er ging um das Fahrzeug herum und schob sich hinter das Steuer. »Schon Zeit zum Aufstehen?« fragte Gwen. »Schlaf weiter.« Norman klickte ihren Sicherheitsgurt ein. Aber sie schlief nicht mehr. »Was ist passiert?«, wollte sie wissen. »Jacqueline hat dich gekidnappt.« »Ich war so müde, dass es mir wie ein Traum vorkam«, sagte Gwen. Pierce hatte gemeint, sie würde in ein oder zwei Tagen wieder auf den Beinen sein, aber er hatte Gwens Vitalität unterschätzt. Auf der Fahrt nach Hause stellte sie Norman ununterbrochen Fragen, wollte alles genau wissen und vor allem, warum er nicht schon früher etwas gegen Pierce unternommen hatte. »Ich wusste doch nicht, mit wem ich es zu tun hatte«, versuchte Norman zu erklären. »Außerdem ist er ein sehr resoluter Manager. Es ist schwer, so jemandem zu wi242
dersprechen.« Norman lenkte den Wagen in die Einfahrt und stellte den Motor ab. Sie blieben im Dunkeln sitzen und redeten weiter. »Er erwartet, dass du ihn morgen anrufst, Gwen.« »Damit er mir so was wieder antut?« Sie rieb sich den Hals. »So ein Blödsinn.« »Stehst du…« Norman brach ab und überlegte, wie er das, was er sagen wollte, am besten in Worte kleidete. Es fiel ihm nichts ein, also sagte er es ohne Umschweife. »Stehst du nicht unter irgendeinem Zwang zu ihm zurückzumüssen? Ist das nicht so eine sexuelle Sache oder so?« »Nein, Norman. Es ist keine sexuelle Sache. Er verfügt über so eine Art Hypnosetechnik, die dich total entspannt und jeden Widerstand aufgeben lässt, aber es ist genauso wenig sexuell wie eine Blutprobe. Ich habe kein Verlangen ihn je wiederzusehen.« Gwen war in der Lage ohne Hilfe auszusteigen und ins Haus zu gehen und als sie im Wohnzimmer standen, schien sie beinahe wieder ihre normale Kondition erreicht zu haben. Cheryl berichtete stolz, dass die Kinder sich nicht gerührt hatten, und sah Norman mit unverhohlener Bewunderung an. »Sie haben es geschafft, Norman«, stieß sie hervor. »Sie haben sie gerettet.« Norman hatte nicht das Gefühl, dass er irgendjemanden gerettet hatte, er wurde sich aber bewusst, dass Gwen ihn mit einem völlig neuen Ausdruck ansah. Cheryl wollte noch bleiben und eine Strategie entwickeln, wie man Pierce beikommen sollte. Norman machte ihr klar, dass sie besser nach Hause fuhr, und brachte sie zur Tür. Da gab es nichts, wie man Pierce beikommen sollte. Er 243
würde die Polizei rufen und die Sache mit Jacqueline erklären, er hatte nur die Befürchtung, wenn die Polizei wirklich eine Gefahr für Pierce darstellte, würde er schon längst verschwunden sein, ehe sie am Tatort eintraf. Alles, was er jetzt noch wollte, war schlafen und am nächsten Morgen sein Curriculum vitae auf den neuesten Stand bringen. »Lass uns schlafen gehen«, sagte er zu Gwen. Sie sah ihn in auf eine Art und Weise an, wie nie zuvor. »Du hast eine Menge riskiert um mich da herauszuholen.« »Ich sagte mir, entweder das oder ich hab dich für immer verloren«, erklärte er. Gwen lächelte. »Willst du mit mir duschen?«
18 Pierce sah Norman und Gwen nach, als sie das Gebäude verließen, dann legte er den Krocketschläger und den Stab beiseite, knipste das Licht aus und trat zu Jacquelines leblosem Körper. Er zog das Stilett aus ihrer Brust. Jacqueline hatte keine Gelegenheit mehr gehabt sich an Gwen zu laben, folglich blutete sie auch nicht sehr stark. Er betrachtete das Stilett. Ein Film von einer dunklen Flüssigkeit überzog die Klinge. Der kunstvoll gearbeitete Knauf schimmerte im fahlen Licht der durch die Fensterfront scheinenden Bogenlampen. Die Klinge war ein wenig länger, als für einen Brieföffner üblich, aber Pierce war froh, dass er das Stilett im Büro aufbewahrt hatte. Es war ein wunderbares Instrument und stammte aus einer Zeit, da die Kunst noch reines Handwerk war. Pierce reiste gewöhnlich mit leichtem Gepäck und die 244
wenigen Dinge in seinem Besitz stammten überwiegend aus dem 18. Jahrhundert. Er fühlte sich jener Epoche besonders verbunden und hegte seine Erinnerungsstücke. Das Stilett war so ganz seiner Zeit gemäß: funktionell, ausgewogen, einfach zu handhaben und wie ein Hochzeitskuchen verziert. In jenen Tagen legten die Menschen allergrößten Wert auf Schmuck und kunstvolle Dekoration und im Großen und Ganzen machte die Welt damals einen Sinn. Damals bedeutete arbeiten etwas handwerklich herstellen. Pierce zog ein Taschentuch hervor und wischte die Klinge ab. Es würde noch Stunden dauern, ehe die ersten Leute in das Firmengebäude kamen, und so blieb ihm genug Zeit zu entscheiden, was er mit Jacquelines Leiche machen sollte. Er ging in sein Büro zurück, wobei er behutsam über einen Laborangestellten stieg, der am Boden lag. In seinem Körper prangte ein Loch, das dem in Jacquelines Brust verteufelt ähnelte. Pierce setzte sich an seinen Schreibtisch und fragte sich, wie viele Untote noch in der Firma herumgeisterten um die er sich kümmern musste. Es war ihm keine Zeit mehr geblieben, Jacqueline zu fragen, wie oft sie sich genährt hatte. Als er sie mit Gwen erwischt hatte, war es zu einem Kampf gekommen. Jacqueline verfügte über erstaunliche Kräfte, aber es mangelte ihr an Erfahrung im Umgang mit einem wie Pierce. Pierce empfand ein gewisses Mitgefühl für sie und diese Art von Gemütsbewegung kannte er eigentlich nicht. Er hätte sich leicht über sie hermachen und sich an ihr delektieren können, dann wäre sie immer noch am Leben und produktiv. Das war auch insofern bedauerlich, als er sie bestimmt für seine Marketingdatenbank hätte brauchen können. Die Idee war wirklich gut, aber Pierce traute der Sache 245
nicht ganz. Genau genommen empfand er ein tiefes Misstrauen gegenüber der Firma, die er auftragsgemäß umstrukturieren sollte. Jeder Betrieb war irgendwie einzigartig, Biomethods jedoch war der seltsamste Ort, an dem Pierce je gearbeitet hatte. Diese vielen Angestellten, dieses ganze Potenzial und sie stellten rein gar nichts her. Soweit die Firma überhaupt Geschäfte tätigte (das war bei den Kosten schwer festzustellen), bestanden sie darin, Entwicklungen und Forschungsergebnisse in Lizenz zu verkaufen. Hier wurde also nichts produziert außer Informationen. Einige der Wissenschaftler arbeiteten nicht einmal mehr mit lebenden Versuchsobjekten, Ratten, weißen Mäusen und dergleichen, sondern führten alle ihre Versuche an Computermodellen durch. Sie nahmen Daten, bearbeiteten sie, jonglierten damit herum und erklärten die Ergebnisse dann zu neuen Erkenntnissen. Niemand fertigte noch irgendetwas. Es gab kein Fabrikgebäude, keine Maschinen, keine Rohstoffe. Und dann war es so grauenhaft still überall! Die ganze Firma ähnelte eher einer Bibliothek als einem Betrieb. Pierce dachte an die Fabriken, die er errichtet, die Fließbänder und Fertigungsstraßen, die er entworfen und gebaut hatte. Er fühlte sich bei Biomethods fehl am Platz. Genauer gesagt, er fühlte sich in dieser gesamten Epoche fehl am Platz. Hatte er hier auch nur irgendetwas gelernt? Das Bild von Norman und Gwen, wie sie zusammen die Firma verließen, kam ihm in den Sinn. Nur, dass man eben aus einem Schaf keinen Bordercollie machen kann.
246