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Butler � Parker � Nr. 96 � 96
Günter Dönges �
Das Girl mit dem � Striptease-Tick �
2 �
Die Hauptpersonen: Gloria Stampedo stiehlt wie eine diebische Elster. Ralph Londale vermißt seinen Tascheninhalt. Anthony Warren ist sauer auf Taschendiebe. Joe und Jeff schießen aus allen Rohren. Butler Parker war überhaupt nicht damit einverstanden, daß eine fremde Hand sich vorsichtig und äußerst gekonnt in seine Manteltasche stahl. Parker stand vor der Abendkasse und wartete darauf, die bestellten Karten für seinen jungen Herrn abzuholen. Er befand sich nicht in einer sogenannten Warteschlange, sondern in einem Pulk drängender und schiebender Menschen, die keineswegs jene Ordnung befolgten, die Parker von England her gewöhnt war. Diese Menschen schienen die Abendkasse stürmen zu wollen. Was vielleicht verständlich war, denn an diesem Abend sollte das letzte Gastspiel einer italienischen Operntruppe stattfinden. Es handelte sich um eine Aufführung, die sowohl Kritiker als auch Publikum in helle Verzückung versetzt hatte. Dennoch hatte Parker einiges gegen diese fremde Hand in seiner Manteltasche einzuwenden. Er war absolut nicht der Ansicht, daß die Begeisterung so weit gehen durfte. Natürlich ließ er sich erst mal nichts anmerken. Was seinen doppelten Grund hatte. Einmal war diese
Tasche leer, zum anderen wollte Parker feststellen, wer zu dieser Hand gehörte. Ein Spiegel, der rechts von dem Kassenhäuschen angebracht war, half ihm dabei. Unauffällig schaute der Butler in diesen Spiegel und sortierte die Gesichter durch. Er wollte seinen Augen nicht trauen. Die fremde Hand in seiner Tasche schien mit letzter Sicherheit einer jungen Dame zu gehören, die knapp hinter ihm stand. Sie war mittelgroß, schlank und hatte dunkelblondes Haar. Ihr Gesicht war apart geschnitten, und sie hatte eine kleine reizende Stupsnase. Und die junge Dame stahl wie eine Elster, wenn den Butler nicht alles täuschte. Die Finger der fremden Hand tasteten die Manteltasche vorsichtig ab und suchten nach Beute. Parker war fast angenehm berührt, mit welcher Geschicklichkeit und mit welchem Einfühlungsvermögen die geschmeidigen Finger dieser Hand arbeiteten. Die junge Dame konnte auf keinen Fall nur ein Amateur sein, sie verriet reife Meisterschaft. Die Hand mußte innerhalb der 3 �
nächsten zwei, drei Sekunden merken, daß in dieser Tasche nichts zu holen war. Parker mußte sich also beeilen. Er brachte seinen rechten Arm vorsichtig in die Nähe der Tasche, um dann blitzschnell zuzugreifen. Fast gleichzeitig mit seiner zupackenden Bewegung hörte er schräg hinter sich einen halb erstickten und erschreckten Schnaufer. Die fremde Hand blieb für Bruchteile von Sekunden ruhig, versuchte dann aber, hastig die Flucht aus der Tasche zu ergreifen. Parkers schwarz behandschuhte Finger umspannten das schmale Gelenk in seiner Manteltasche und hielten die dazugehörige Hand unmißverständlich fest. »Kommen Sie«, sagte Parker, sich halb umwendend. Er nickte der dunkelblonden Dame zu und verließ die wartende, schiebende und drängende Menge vor dem Kassenhäuschen. Die junge Taschendiebin wollte nicht mitkommen. Verständlicherweise. Sie sperrte sich, aber sie hatte gegen Parker keine Chance. Widerwillig, aber dennoch äußerst unauffällig ließ sie sich von dem Butler hinüber an eine freie Wand der Kassenhalle drängen. Dabei sorgte Parker dafür, daß sie ihre Hand nicht aus seiner Manteltasche nahm. »Ich kann nicht umhin, Ihnen meine Mißbilligung
auszusprechen«, sagte Parker zu ihr. »Was… was werden Sie tun?« fragte sie mit schneller, ängstlicher Stimme. Während sie sprach, versuchte sie, eine Art Einkaufstasche aus Leder seinen Blicken zu entziehen. »Darüber muß ich mir erst noch eingehend Gedanken machen«, erwiderte der Butler, »aber ich schlage vor, das nicht gerade hier zu tun. Darf ich Sie einladen, ein wenig frische Luft zu atmen?« Sie hatte sich erstaunlich schnell beruhigt und sah ihn abschätzend an. Sie versuchte, sich ein Bild von Josuah Parker zu machen. Die junge Dame wollte herausbekommen, mit wem sie es zu tun hatte. Ihre schnelle Prüfung schien sie beruhigt zu haben. »Gut«, sagte sie leise, »aber es ist ein Mißverständnis, glauben Sie mir!« »Ein Mißverständnis?« »Wirklich«, behauptete sie und versuchte ein erstes Lächeln. »Bei dem Gedränge kann ja leicht ein Irrtum entstehen, nicht wahr?« »Möglicherweise«, sagte Parker mit gemessener, aber neutraler Stimme. »Falls dem so ist, werde ich mich selbstverständlich formgerecht bei Ihnen entschuldigen, Madam. Aber, bitte, kommen Sie!« Parker und die Dunkelblonde verließen die Kassenhalle. Dabei achtete der Butler darauf, daß sie ihm nicht 4 �
entwischen konnte. Er achtete aber leider nicht auf die beiden Männer, die etwa dreißig Jahre alt sein mochten, dunkelgraue Anzüge trugen und etwas zu unauffällig aussahen. Sie nickten sich jetzt gegenseitig zu und schlenderten ebenfalls aus der Kassenhalle. Ein Kenner der Materie hätte festgestellt, daß sie beide Schulterhalfter umgeschnallt hatten, die zur Aufnahme von Handfeuerwaffen dienten. * »Also gut«, räumte sie ein, »ich gebe zu, daß ich in Ihre Manteltasche gegriffen habe, aber…« »Aber?« fragte Parker, als sie eine kleine Pause einlegte. »Aber es handelte sich um eine Wette«, vollendete sie ihren Satz und sah den Butler irgendwie erleichtert an. Wahrscheinlich freute sie sich darüber, welch gute Ausrede ihr eingefallen war. Parker und sein junger weiblicher Gast saßen in einer kleinen Cafeteria nahe dem Theater, in der man sich ungestört unterhalten konnte. »Mit wem, wenn man fragen darf, wetteten Sie?« erkundigte sich Parker höflich. »Mit – mit meiner Freundin«, sagte sie schnell. »Die Ihnen natürlich zusah, nicht
wahr?« »Natürlich«, log sie ganz offensichtlich. »Und warum folgte sie Ihnen nicht?« »Sie wird uns aus den Augen verloren haben.« Sie wurde wieder unsicher. »Als Taschendiebin sind Sie besser«, stellte der Butler fest. »Ihre Ausreden und Einlassungen sind nicht das, was man als überzeugend bezeichnen würde.« »Nun hören Sie mir mal gut zu«, fuhr sie hoch, »bisher habe ich mitgespielt, aber wenn Sie mich nicht endlich in Ruhe lassen, rufe ich um Hilfe.« »Dies, Madam, traue ich Ihnen durchaus zu.« »Worauf Sie sich verlassen können!« »Warum rufen Sie nicht?« »Ich – ich weiß nicht.« Sie senkte den Kopf und sah betreten zu Boden. Dadurch entging ihr der schnelle Griff des Butlers, der ihrer Handtasche galt. Als er sie bereits in der Hand hatte, wollte sie ihm die Beute wieder entreißen. »Wir sollten doch jeden Skandal vermeiden«, sagte der Butler und schüttelte verweisend den Kopf. »Sie werden Ihre Tasche mit Sicherheit zurückbekommen.« Während Parker noch redete, hatte er bereits den Reißverschluß der Tasche aufgezogen und schaute sich 5 �
den Inhalt an. Sein junger weiblicher Gast schien dabei wie aufglühenden Kohlen zu sitzen. Die Sichtung des Tascheninhalts schien der jungen Dame überhaupt nicht zu passen. Parker war beeindruckt. Solch eine Sammlung von kleinen, aber wertvollen Gegenständen hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Er hatte es wirklich mit einer Meisterin ihres speziellen Fachgebietes zu tun. In der Ledertasche zählte er vier Geldbörsen, zwei offensichtliche Silberetuis, drei Taschenuhren, die ihr Geld gekostet haben mußten, und dazu vier Brieftaschen, die prallgefüllt waren! »Sie sind das, was man einen fleißigen Menschen nennen muß«, konstatierte der Butler, als er den Reißverschluß wieder schloß. »Was ich Ihnen jetzt sage, werden Sie mir wahrscheinlich nicht glauben«, erwiderte sie schnell und leckte sich die Lippen wie eine kleine Katze. »Lassen Sie es doch auf einen Versuch ankommen«, schlug der Butler vor. »Ich – ich habe die Tasche gefunden«, behauptete sie. »Ich muß gestehen, daß ich diese Einlassung nicht sonderlich originell finde«, sagte Parker. »Aber das ist die Wahrheit«, reagierte sie wütend. »Seit wann, wenn ich höflich fra-
gen darf, arbeiten Sie bereits in Ihrer Branche?« erkundigte sich Parker, das Thema wechselnd. »Sie… Hören Sie, was wollen Sie eigentlich von mir? Warum haben Sie nicht längst die Polizei alarmiert?« »Dies könnte Sie in Schwierigkeiten bringen.« »Ach so, jetzt geht mir ein Licht auf.« Sie lachte leise und war plötzlich wie umgewandelt. »Sie erwarten von mir irgend etwas dafür, daß Sie den Mund halten, nicht wahr?« »Dies kommt der Wahrheit bereits sehr nahe«, erwiderte der Butler und nickte andeutungsweise. »Kommen Sie«, sagte sie jetzt und stand unvermittelt auf. »Ich wohne nicht weit von hier. Ich bin einverstanden. Ich werde für meine Dummheit zahlen. Darauf läuft ja doch wohl alles hinaus.« Als Parker und seine Begleiterin die Cafeteria verließen, übersahen sie erneut die beiden dreißigjährigen Männer mit den umgeschnallten Schulterhalftern. Aber das hing wohl damit zusammen, daß sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite in einem dunklen Torbogen standen. * Sie wohnte tatsächlich in der Nähe, und zwar in einem kleinen Apartment direkt unter dem Dach eines 6 �
sechsstöckigen Wohnhauses, das mit Sicherheit schon bessere Tage gesehen hatte. Die beiden Geschäfte waren billige Einheitsläden, in denen Kleidung und preisgünstiger Schmuck verkauft wurden. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« fragte sie, als sie zusammen mit Parker das Apartment betreten hatte. »Ein Vorschlag, dem ich auf keinen Fall ablehnend gegenüberstehe«, erklärte Parker höflicherweise. Sie lächelte und öffnete einen Wandschrank, in dem Flaschen und Gläser zu sehen waren. Parker sah sich im Apartment etwas genauer um. Er stellte erst mal fest, daß die Einrichtung freundlich und hell war. Er bemerkte außerdem, daß Sauberkeit herrschte. Es gab neben dem großen Wohnraum ein Badezimmer und eine winzig kleine Küche. »Hier, bitte schön!« Sie hatte die Drinks gemixt und reichte dem Butler ein Glas. Dabei sah sie Parker vielleicht etwas zu unbetont an, und genau in diesem Moment schrillten irgendwo in Parker einige Alarmklingeln. Irgend etwas stimmte nicht. Entweder nicht mit der Frau oder aber mit den Drinks. »Hoffentlich nehmen Sie mich nicht zu sehr ins Gebet«, sagte sie lächelnd und nippte an ihrem Glas. »Man wird sehen«, erwiderte Parker. Dann deutete er mit dem gefüll-
ten Glas an ihr vorbei in Richtung Kochecke. »Ist die Kochplatte eingeschaltet?« Sie fiel selbstverständlich auf den Trick des Butlers herein und wandte sich sofort um. Dieser Moment reichte Parker vollkommen aus, blitzschnell den Inhalt seines Glases in eine nahe Blumenvase zu schütten. »Nein, nein, alles in Ordnung«, meinte sie und wandte sich wieder Parker zu. »Ausgezeichnet«, sagte der Butler und präsentierte ihr sein leeres Glas, »aber wollen wir nicht zur Sache kommen, Miß?« »Gloria Stampedo«, stellte sie sich vor. »Mein bescheidener Name ist Parker – Josuah Parker«, erwiderte der Butler. »Darf ich jetzt erfahren, seit wann Sie Ihrer ungewöhnlichen Arbeit nachgehen?« »Lassen wir doch die Einzelheiten«, bat sie und sah ihn schelmisch an. »Hauptsache, Sie schwärzen mich nicht bei der Polizei an. Vergessen Sie doch einfach den Zwischenfall. Wenn ich darf, möchte ich Ihnen dabei helfen!« Wie sie sich diese Hilfe vorstellte, sollte sich sehr bald zeigen. Sie schob die Hände unter das Nackenhaar und posierte mit angewinkeltem Bein wie ein Modell. Dann griff sie nach ihrem Reißverschluß und zog ihn auf. 7 �
Parker hatte es sich in einem Sessel bequem gemacht und sah ihr interessiert zu. Er ließ sich nicht einen einzigen Moment aus der Fassung bringen. Mit solch einer Überraschung schien er gerechnet zu haben. Gloria Stampedo schlüpfte inzwischen aus dem leichten Kleid und warf dem Butler einladende Blicke zu. Dann beschäftigte sie sich mit ihren Strumpfbändern und knöpfte die Strümpfe los. Parker hielt sein Glas in der Hand und ließ sich verwöhnen, zumal Gloria Stampedo sich sehen lassen konnte. Sie war, wie schon gesagt, schlank und wohl gewachsen. Sie hatte sich ihrer Strümpfe entledigt und mußte sich notgedrungen mit ihrem Hüfthalter befassen, da der Butler die Augen noch nicht geschlossen hatte, womit sie längst gerechnet hatte. Parker nickte beifällig und verfolgte, daß sie jetzt einen Moment lang nicht wußte, was sie machen sollte. Sie hatte nur noch ihren BH und einen kleinen weißen Slip an. Sie wirkte darin auf ihn nicht erotischer als eine junge Frau an irgendeinem Badestrand oder auf einem Reklamefoto. »Noch einen Drink?« fragte sie. »Nein, nein, Miß Stampedo, ich fühle mich ausgezeichnet«, sagte der Butler, »vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ich vorschlagen
darf. Lassen Sie sich in Ihren durchaus gekonnten Darbietungen auf keinen Fall stören!« Sie schluckte und wirkte ein wenig verlegen. Dann aber gab sie sich einen deutlich sichtbaren Ruck und befaßte sich mit ihrem Büstenhalter. Normalerweise hätte der Butler jetzt diskret weggeschaut oder das grausam-reizvolle Spiel beendet. Ihm kam es aber darauf an, ihr eine Lektion zu erteilen. Fast quälend langsam hakte sie den Verschluß ihres BH auf und zögerte, ihn vom Oberkörper zu streifen. Sie schien sich inzwischen zu genieren. Doch es mußte sein, sagte sie sich wohl. Sie preßte die Lippen aufeinander, wartete noch einen Moment und ließ den BH dann zu Boden fallen. »Sie sind das, was man eine Augenweide nennen würde«, lobte der Butler ihre Linien und nickte anerkennend. »Lassen Sie sich nur nicht stören!« Sie schien inzwischen ihre letzten Hemmungen verloren zu haben. Gloria war wohl alles egal. Ohne besondere Vorankündigungen stieg sie aus ihrem weißen Slip und zeigte sich Parker in voller Nacktheit. Das heißt, die Schuhe hatte sie noch anbehalten, aber auf sie kam es wohl auch nicht mehr an. »Zufrieden?« fragte sie mit einem gereizten Unterton in der Stimme. 8 �
»Sie verwöhnen einen alten, müden und relativ verbrauchten Mann«, äußerte sich Parker höflich. »Was erwarten Sie denn noch?« »Ich lasse mich von Ihnen gern überraschen, Miß Stampedo.« »Ja… Also… Doch noch einen Drink?« »Aber nein«, sagte Parker zu Gloria Stampedo, die sich hinter einem schützenden Sessel aufgebaut hatte. »Aber ich möchte noch einen«, gab sie trotzig zurück. Dann verließ sie die schützende Deckung und ging hinüber zum Wandschrank, in dem sich die Flaschen und Gläser befanden. Sie zuckte zusammen, als Parker plötzlich dicht hinter ihr stand. Sie wirbelte herum und holte automatisch zu einem Handkantenschlag aus. Parker nahm fast lässig den Universalregenschirm hoch, der diesen sicher gut geführten Schlag voll abblockte. Sie stöhnte auf, betrachtete ihre geprellte Hand und begann dann plötzlich zu weinen. »Sie sollten sich wieder ankleiden«, meinte Parker fast väterlich, »ich wollte nur feststellen, wieweit zu gehen Sie bereit sind. Mir scheint, wenn ich ein Wort der Kritik äußern darf, daß Sie nicht mit dem Feuer spielen sollten!« Jetzt starrte sie ihn entgeistert an, schluchzte trocken auf und stürzte
sich förmlich ins Badezimmer. Parker ging zurück zu seinem Sessel und sah sich fast wohlgefällig die Blumen in jener Vase an, in die er seinen Drink befördert hatte. Die Blumen schienen sich überraschend zu einem Tiefschlaf entschlossen zu haben. Sie hatten Stengel und Köpfe bereits sinken lassen und zeigten deutliche Spuren von Müdigkeit. Die diebische Elster kam zurück und sah ihn verlegen an. Gloria Stampedo trug jetzt einen kniekurzen Bademantel und kleine Pantöffelchen. »Sie müssen mich für sehr albern halten«, sagte sie. »Keineswegs«, gab der Butler höflich zurück. »Ihre Rechnung ging nur nicht auf.« »Welche Rechnung?« »Sie warteten auf die Wirkung des Schlafmittels, das Sie mir in den Drink gaben«, redete der Butler weiter. »Ich darf hingegen erklären, daß statt meiner bescheidenen Person inzwischen die Blumen ermüdet sind.« »Sie – Sie haben…?« Sie beendete nicht ihren Satz und sah ihn entgeistert an. »Ich habe«, konstatierte der Butler. »Hoffentlich ziehe ich mir dadurch nicht Ihren Unmut zu.« Sie lachte plötzlich hell auf und ließ sich in einen Sessel fallen. Sie verwandelte sich innerhalb weniger 9 �
Sekunden in einen völlig neuen Menschen. »Wer sind Sie wirklich?« wollte sie dann wissen. »Sie sehen wie ein Butler aus, wie man ihn noch in Filmen zu sehen bekommt, aber ich wette, daß Sie das nicht sind.« »Ich bin in der Tat Butler«, korrigierte Parker ihre Meinung. »Muß ich in Ihnen aber nach wie vor eine Taschendiebin sehen?« »Sehen Sie doch in meine Handtasche«, sagte sie etwas ruppig. »Sie werden Beweise in jeder Menge finden.« Parker schaute sie einen Moment prüfend an, dann kam er ihrer Aufforderung nach. Dabei glitt sein Blick über einen runden Wandspiegel, der zwischen den beiden Fenstern angebracht war. Parker glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Der Türknauf wurde im Zeitlupentempo bewegt und herumgedreht. Wenn ihn nicht alles täuschte, sollten die junge Dame und er besucht werden. Und zwar ohne jede Voranmeldung. * Sie hatte seinen Blick bemerkt, wandte sich zur Tür und wurde kreidebleich im Gesicht. Sie preßte ihre zu Fäusten geballten Hände angstvoll vor den Mund und lief zu Parker herüber.
»Ich darf wohl unterstellen, daß Sie keinen Besuch erwarten, nicht wahr?« Sie schüttelte schnell den Kopf. »Bleiben Sie hier im toten Winkel«, sagte Parker und ging immer noch durchaus gemessen hinüber zur Tür. Er baute sich knapp neben ihr auf und horchte nach draußen. Zu hören war nichts, dafür aber hatte man die Tür von außen bereits aufgesperrt und drückte sie nun vorsichtig auf. Parker wechselte jetzt genau vor das Türblatt und wartete ab. Die Tür wurde weit geöffnet. Um wen es sich handelte, konnte der Butler selbstverständlich nicht ahnen, aber er mußte davon ausgehen, daß er es mit Besuchern zu tun hatte, die man nicht mit Glacehandschuhen anzufassen brauchte. Als die Tür etwa zwanzig Zentimeter weit aufgedrückt worden war, ließ der Butler sich mit Vehemenz gegen das Türblatt fallen. Es gab einen dumpfen Aufschlag, ein Stöhnen, dann ein Poltern, wie wenn ein nicht gerade leichtes Gewicht zu Boden gefallen wäre. Parker legte blitzschnell die Sperrkette vor und begab sich hinüber vor die schützende Wand. Was sein Glück war. Draußen vor der Tür war das Ploppen schallgedämpfter Schüsse zu hören. Und fast synchron dazu erschienen im wahrscheinlich dün10 �
nen und leichten Türblatt zwei kreisrunde Löcher, die nur von Stahlmantelgeschossen herrühren konnten. Daß sie aus Schußwaffen stammten, verrieten die Geschosse, die durch das Apartment sirrten und in der gegenüberliegenden Wand steckenblieben. Gloria Stampedo hatte sich flach auf den Boden geworfen und ihr Gesicht zwischen die Hände genommen. Sie schien vor Angst fast zu sterben. Parker war unwirsch geworden. Er haßte es, wenn man auf ihn schoß. Und noch dazu grundlos, wie er sich sagen mußte. »Darf ich fragen, was Sie wünschen?« sagte er in Richtung der beiden in die Tür gestanzten Löcher. Draußen blieb es zuerst still, dann war eine leicht heisere Stimme zu hören. »Machen Sie auf, Mann«, sagte diese heisere Stimme, »machen Sie bloß schnell auf, oder wir drehen Sie durch den Wolf!« »Mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen?« erkundigte sich der Butler. »Aufmachen!« meldete sich jetzt eine zweite Stimme, die wesentlich härter klang. »Sind Sie angemeldet?« fragte Parker als höflicher Mensch. »Du bist gleich abgemeldet. Und zwar für immer«, verhieß ihm die
heisere Stimme. »Aufmachen, sag’ ich!« »Sie wiederholen sich«, stellte der Butler nicht unrichtig fest. Hinter der Tür blieb es jetzt still. Wahrscheinlich beratschlagten die beiden Männer, was sie tun sollten. Sie fragten sich wohl, ob sie das Risiko eingehen konnten, die Tür einzutreten. Lauter Krach ließ sich bei diesem Verfahren dann wohl nicht vermeiden. »Hallo, Mann, hören Sie! Rücken Sie die Kleine raus!« meldete sich jetzt die kalte und klare Stimme. »Sie hat uns beklaut. Sie ist ‘ne hundsgemeine und raffinierte Taschendiebin!« Josuah Parker sah zu Gloria Stampedo hinüber. Sie hatte die Hände vom Kopf genommen und starrte ihn aus angstgeweiteten Augen an. »Wir wollen nur unser Eigentum zurück«, behauptete jetzt die leicht heisere Stimme. »Machen Sie schon!« Gloria Stampedo hatte genau mitgehört. Sie griff hastig nach ihrer Tasche und streckte sie Parker entgegen. Dabei zitterte ihre Hand. »Sie werden Ihr Eigentum zurückerhalten«, sagte Parker, der sich hütete, vor die Tür zu treten. »Um welche Dinge handelt es sich, wenn ich fragen darf?« »Um eine Brieftasche und ‘ne Taschenuhr mit Gravierung.« »Darf ich um nähere Einzelheiten 11 �
bitten?« »In der Brieftasche ist ‘n Brief, der an einen Ralph Londale adressiert ist. Und in der Taschenuhr steht auch Londale. Reicht das?« »Durchaus«, sagte Parker, »gedulden Sie sich bitte einen Moment.« Unter Wahrung der erforderlichen Vorsicht ging Parker hinüber zu Gloria und nahm die Tasche in Empfang, die sie ihm noch immer fast flehend entgegenstreckte. Er öffnete sie und suchte nach den beiden näher bezeichneten Gegenständen. Er fand die Brieftasche mit dem lose eingelegten Brief, der an einen gewissen Mister Londale adressiert war. Und er fand auch die bewußte Taschenuhr, die alt und kostbar sein mußte. Die Gravierung entsprach der Behauptung des draußen vor der Tür stehenden Mannes. Parker ging zurück zur Tür, aber sehr langsam. Der Name Londale hatte sich in seinem Gehirn festgehakt, der Name Ralph Londale kam ihm irgendwie bekannt vor. »Schnell! Bitte«, rief Gloria Stampedo ihm ängstlich nach. Jetzt wollte sie diesen Teil der Beute so schnell wie möglich wieder loswerden. Parker blieb stehen und schüttelte langsam den Kopf. Noch konnte er mit dem Namen Ralph Londale nichts anfangen, aber die Art und Weise, wie man diese beiden Dinge, nämlich die Brieftasche und die Taschenuhr zurückhaben wollte,
diese Art kam ihm inzwischen mehr als verdächtig vor. Er beschloß, vorerst mal nicht zu entgegenkommend zu sein. * Parker ließ sich in einem Sessel nieder und öffnete die Brieftasche. Draußen wurde gegen die Tür geklopft. »Na, was ist?« fragte die heisere Stimme wütend, »wir warten noch eine Minute!« Der Butler antwortete überhaupt nicht. Er haßte Zwang und Ungeduld. Er öffnete also die Brieftasche und sah sich ihren Inhalt sehr sorgfältig an. Währenddessen verkroch Gloria Stampedo sich in einen Sessel und ließ den Butler nicht aus den Augen. Nun, der Inhalt der Brieftasche war für den Butler nicht interessant. Es gab eine Menge Ausweise und Kreditkarten, Briefmarken und Geldscheine – die allerdings sehr reichhaltig. Der inliegende Brief hingegen konnte ihn schon in eine Art versetzen. Er Hochstimmung stammte von einem gewissen Anthony Warren und war an Mister Ralph Londale adressiert. In diesem Brief bedankte sich Mister Anthony Warren für ein zinsloses Darlehen in Höhe von 50.000 Dollar. Und er freute sich bereits auf ein zweites Darlehen, das ebenfalls 50.000 Dollar 12 �
ausmachen sollte. Diese zweiten 50.000 Dollar sollten, wie die erste Rate, auf das näher bezeichnete Konto einer Schweizer Bank eingezahlt werden. Parker steckte diesen an sich harmlosen Brief zurück in den Umschlag, ließ den in seiner Brusttasche verschwinden und beschäftigte sich anschließend mit der Taschenuhr. Er öffnete von ihr, was sich ohne Hilfsmittel öffnen ließ, und klappte die hauchdünnen Deckel aus massivem Gold wieder zu. »Ich möchte doch sehr bitten, nicht ungeduldig zu werden«, sagte der Butler zur Tür hin. »Wie stellen Sie sich die Rückgabe der beiden Gegenstände vor, meine Herren?« »Leg sie vor die Tür«, erwiderte die kalte und klare Stimme, »wir gehen inzwischen runter in die nächste Etage.« »Ein Vorschlag, den ich akzeptieren werde. Bitte, meine Herren, suchen Sie jetzt das nächstuntere Stockwerk auf.« Hinter der Tür im Treppenhaus waren laute und deutliche Schritte zu vernehmen. »Die gehen bestimmt nicht runter«, rief Gloria dem Butler warnend und ängstlich zu. Parker stand neben der Tür und horchte sehr intensiv nach draußen. Nach wenigen Sekunden war ihm klar, daß sie sich an das hielten, was sie gesagt hatten. Er unterschied
deutlich die beiden Beinpaare, die sich nach unten bewegten. Parker nahm die Brieftasche und die Taschenuhr, hakte die Sicherheitskette aus und wartete noch einen Moment. Dann legte er die Uhr auf die Brieftasche und schob sie mit der Spitze seines UniversalRegenschirms dicht an die Tür. Er öffnete und kickte die Brieftasche blitzschnell nach draußen in den Flur. Seine Eile zahlte sich aus. Gewiß, die beiden Männer vor der Tür waren über die Treppe nach unten gegangen, doch sie hatten sich so geschickt aufgebaut, daß sie immer noch auf die Tür schießen konnten. Was sie auch taten! Es ploppte erneut. Von der Gewalt der Einschläge wurde die Tür zurückgeworfen. Doch Parker war mit dem bleigefütterten Universalregenschirm ebenso schnell. Er hakte mit dem Bambusgriff hinter die Tür und zog sie zurück ins Schloß. Dann legte er schnell die Sicherheitskette vor. »Sie sehen, daß Ihr Beruf nicht ganz ungefährlich ist«, sagte er dann mit leisem Tadel zu Gloria Stampedo. »Was… Was ist mit dem Brief?« fragte Gloria, die genau zugesehen hatte. »Man wird sehen«, erwiderte der Butler. »Um normale Geschädigte 13 �
scheint es sich meiner bescheidenen Ansicht nach kaum zu handeln, Miß Stampedo.« Seine Voraussage stimmte. Es dauerte nur knapp zwei Minuten, bis die beiden Männer draußen im Treppenhaus festgestellt hatten, daß der bewußte Brief fehlte. Sie stürmten wie zwei leicht gereizte Elefanten zurück nach oben und bauten sich vor der Tür auf. »Der Brief!« forderte die Stimme, die jetzt noch heiserer klang. »Hier scheint ein Mißverständnis vorzuliegen«, gab der Butler in Richtung Tür zurück. »Ich weiß nicht, wovon Sie im Augenblick zu sprechen belieben!« Seine Antwort reichte aus, die beiden Männer vor der Tür still werden zu lassen. * »Ob sie gegangen sind?« fragte Gloria nach einer kurzen Weile. Sie sprach sehr leise und brachte ihren Mund in verführerische Nähe von Parkers Ohr. »Dies muß man der näheren Zukunft überlassen«, gab der Butler gemessen zurück. »Meiner bescheidenen Ansicht nach wird man erst mal gründlich beratschlagen. Ich gehe richtig in der Annahme, daß Sie kein Telefon besitzen?« »Es ist unten im nächsten Stockwerk, an der Treppe«, entgegnete
sie. »Ist das schlimm? Glauben Sie, daß die beiden Kerle die Wohnung stürmen?« »Ich fürchte, Miß Stampedo, daß sie noch mehr planen. Wenn Sie erlauben, möchte ich mir Ihr Badezimmer ansehen.« »Warum haben Sie den Brief an sich genommen?« fragte sie, als sie auf Zehenspitzen mit ihm ins Badezimmer ging. »Aus Gründen der Sicherheit und des Faustpfandes«, schwindelte Parker, als er auf ein Dachfenster deutete. »Wohin führt dieses Fenster?« »Raus aufs Dach.« »Handelt es sich um ein Flachdach?« »Doch, ja. Es ist nur leicht geneigt. Ich sonne mich oft da oben.« »Kann man von diesem Dach aus andere benachbarte Dächer erreichen?« Sie nickte und schrak sofort wieder zusammen. »Sie glauben, daß die beiden Männer von dort oben aus…?« »Möglicherweise«, pflichtete der Butler ihr bei, als sie mitten im Satz endete. »Ich möchte mir allerdings auch vorstellen, daß Sie und meine bescheidene Wenigkeit die Dächer als Fluchtweg benutzen.« »Das ginge«, sagte sie schnell. »Demnach sind Sie wenigstens auf diesem Gebiet schwindelfrei«, stellte der Butler fest. Er stieg auf einen Stuhl und öffnete das Dachfenster. 14 �
Vor ihm lag tatsächlich ein nur leicht geneigtes Dach. Rechts vom Dachfenster gab es ein Häuschen, dessen Eisenblechtür weit geöffnet war. »Worauf warten wir noch?« fragte Gloria unternehmungslustig. »Warum flüchten wir nicht, Mister Parker?« »Ich schlage vor, Madam, Sie kleiden sich erst mal an«, sagte der Butler. Sie nickte und verschwand im Wohnraum. Parker schloß das Dachfenster, doch nicht ganz. Er ließ es spaltbreit auf und beobachtete das Häuschen. Was sich auszahlte! Hinter der weit aufgeschwenkten Tür aus Eisenblech erschien jetzt ein etwa dreißigjähriger Mann in einem dunkelgrauen Anzug. Er hielt deutlich sichtbar einen Revolver in der Hand, auf dessen Lauf ein Schalldämpfer aufgeschraubt war. Damit wußte Parker Bescheid. Er ließ das Fenster millimeterweise in den Rahmen gleiten und begab sich zurück in den Wohnraum, wo Gloria Stampedo sich ziemlich ungeniert ankleidete. »Ich bin gleich soweit«, sagte sie und stieg gerade in eine schicke Leinenhose. »Ich fürchte, Miß Stampedo, diesen geplanten Ausflug muß man auf die Ausfalliste setzen«, Parker schüttelte andeutungsweise den Kopf,
»inzwischen ist das Dach unter Schußkontrolle!« »Ich – ich begreife das alles nicht«, ängstigte sich das Mädchen sofort wieder. »Geben Sie den Leuten doch den Brief zurück, dann werden sie bestimmt gehen.« »Besitzen Sie rein zufällig einen Fotoapparat?« erkundigte sich Parker. »Bestimmt«, sagte sie lächelnd und deutete auf einen Wandschrank in dem kleinen Verbindungsflur. Als Parker auf diesen Schrank zuging, sprang sie allerdings schnell auf und lief ihm nach. »Nein, nicht!« sagte sie hastig. »Ich mache das schon. Setzen Sie sich doch, Mister Parker!« Während sie sprach, versuchte sie ihn ziemlich ungeniert vom Wandschrank wegzudrängen. Was seinen Grund haben mußte, wie der Butler sich sagte. Und ob es einen Grund hatte! Er öffnete den Schrank gegen ihren Widerstand und trat beeindruckt einen halben Schritt zurück. Der tiefe, in Fächern unterteilte Schrank war vollgestopft mit Gebrauchsgegenständen und Luxusartikeln aller Art. Es handelte sich um ein wohlsortiertes Warenlager, das von Gloria Stampedo offensichtlich zusammengestohlen worden war. Vom Toaster über Bügeleisen, von Ledertaschen über Schmuck bis hin zu Fotoapparaten und exklusiven Par15 �
fümerien, alles war reichhaltig und mehrfach vertreten. »Beeindruckend«, sagte Parker. »Das wollte ich alles zurückgeben«, erklärte Gloria Stampedo, »und übrigens, die Wohnung gehört überhaupt nicht mir. Sie gehört meiner Freundin. Und die kauft gern ein!« »Natürlich«, bemerkte Parker, ohne näher auf diese neue Schwindelei einzugehen. Er suchte ein geeignetes Gerät, um den bewußten Brief abfotografieren zu können. »Sie sind ausgesprochen gut sortiert«, meinte er, als er gefunden hatte, wonach ihn gelüstete. Er hielt einen Kleinst-Fotoapparat in der Hand, der noch etwas kleiner war als zwei Streichholzschachteln. »Na, sehen Sie«, sagte Gloria verletzt, »seien Sie doch froh, daß ich richtig gewählt habe.« * »Hallo, meine Herren!« Parker stand wieder in der Nähe der Tür und wartete auf Antwort. »Was ist?« fragte die heisere Stimme. »Ich glaube, ich habe den Brief, den Sie vermissen, gefunden«, redete Parker weiter. Und dann, bevor er eine Antwort erhielt, schob er ihn durch den unteren Türspalt nach draußen. Vor der Tür blieb alles still. Wahr-
scheinlich kontrollierte der Mann, ob auch alles seine Richtigkeit hatte. »Okay. Alles in Butter«, meldete sich jetzt die heisere Stimme zu Wort, »warum nicht gleich so. Wir hauen ab! Und sagen Sie Ihrer Kleinen, daß sie in Zukunft verdammt vorsichtig sein soll – ‘n Griff in fremde Taschen kann tödlich sein!« Dann erklangen Schritte auf der Treppe, die sich einwandfrei nach unten bewegten. Der Mann mit der heiseren Stimme gab seinen Posten auf. Parker schritt hinüber ins Badezimmer und drückte das schmale Dachfenster vorsichtig hoch. Es hatte sich kaum um einen halben Zentimeter bewegt, als es ploppte. Das Geschoß pfiff dicht an Parkers Hand vorbei ins Badezimmer und öffnete unnötigerweise einen kleinen Medizinschrank an der Wand. »Ich denke, Miß Stampedo, daß man sich etwas einfallen lassen muß«, sagte Parker, als er zurück ins Wohnzimmer kam. »Bitte, entkleiden Sie sich!« * Mike Rander war leicht gereizt. Er befand sich in der großen Wohnhalle seines Penthouse, das auf dem Flachdach eines großen Bürohauses stand. Er wartete ungehalten auf seinen Butler. Genauer gesagt, er wartete eigentlich auf die 16 �
Eintrittskarten für das Theater. »Er wird sicherlich gleich kommen – oder anrufen«, sagte Sue Weston, seine mehr als reizende Privatsekretärin. Sie war bereits in einem fußlangen Abendkleid und sah darin hinreißend aus. Sie sollte von Rander ausgeführt werden. »Weiß der Himmel, was ihn wieder abgelenkt hat«, erwiderte Rander mißtrauisch. Irgendwie schwante ihm bereits, daß sein Butler sich wieder mal in Schwierigkeiten befand. Und was das für ihn, Mike Rander, bedeutete, wußte er aus Erfahrung: Ärger über Ärger. Butler Parker zog Kriminalfälle an sich wie ein Magnet die oft erwähnten Eisenfeilspäne. Und diese Kriminalfälle hatten es meist in sich. Sie weiteten sich in der Regel zu großen Privatschlachten mit Gangstern und deren Organisationen aus. Rander wanderte wie ein gefangener Tiger in der Wohnhalle umher, sah in immer kürzer werdenden Abständen auf seine Armbanduhr und ließ sich schließlich ergeben in einen Sessel fallen. »Den Theaterbesuch können wir streichen«, meinte er dann, »die Vorstellung dürfte inzwischen begonnen haben.« Mike Rander hatte noch nicht ausgesprochen, als auf einem Lichtband über der Eingangstür ein Signal aufflammte. Das war das Zeichen dafür, daß Parker unten im Erdge-
schoß den Privatlift betreten hatte und jetzt nach oben fuhr. Zu diesem Lift besaßen aus Gründen der Sicherheit nur Rander und Parker einen Spezialschlüssel. »Mister Parker werde ich was erzählen«, sagte Rander und stand auf. Er war fest entschlossen, seinem Unmut Ausdruck zu verleihen. Parker mußte sich seiner Meinung nach endlich mal an seine eigentlichen Aufgaben halten. Rander trat an einen Wandschrank neben der Tür und schaltete das hauseigene Fernsehgerät ein. Das Bild war nach Sekunden voll da. Es zeigte tatsächlich den Butler, der im Lift stand. Doch der Butler war nicht allein. In seiner Begleitung befand sich eine schlanke junge Dame mit dunkelblondem Haar. Sie trug einen Mantel und sah etwas eingeschüchtert und verängstigt aus. »Sie sieht gut aus«, stellte Sue Weston fest. Sie hatte sich neben Rander am Fernsehschirm aufgebaut. »Aber sie ist doch viel zu jung für ihn«, mokierte sich der Anwalt. »Nicht, falls sie sich in gewissen Schwierigkeiten befindet«, schränkte Sue Weston lächelnd ein. Mike Rander schaltete das Fernsehgerät aus und warf sich in Positur. Er war in diesem Augenblick noch fest entschlossen, Parker ein paar deutliche Worte zu sagen. 17 �
Nach knapp drei Minuten hatte der Butler mit seiner Begleitung den großen Dachgarten durchmessen und öffnete die Tür zum Penthouse. »Ich bitte höflichst, meine Verspätung zu entschuldigen, zu der es nicht ohne Grund kam, Sir, wie Sie sich wohl bereits gesagt haben dürften. Darf ich vorstellen, Miß Gloria Stampedo – Mike Rander, Miß Weston.« »Ich bin Mister Parker ja so dankbar«, sagte Gloria, die ein wenig verlegen wirkte. »Ohne sein Eingreifen wäre ich wahrscheinlich ermordet worden!« »In der Tat, Sir!« pflichtete der Butler der jungen Taschendiebin bei. »Ermordet?« Rander schluckte. »Was ist denn passiert?« »Wenn Sie erlauben, Sir, werde ich darüber berichten, sobald Miß Stampedo sich wieder angekleidet hat.« »Angekleidet?« Rander schluckte. Seine Befürchtungen, das wußte er nun, hatten eine reale Bedeutung gewonnen. »Miß Stampedo ist unter dem Mantel nämlich das, Sir, was man entblößt nennen muß.« »Kommen Sie, Miß Stampedo«, mischte Sue Weston sich sofort hilfsbereit und lächelnd ein, »meine Sachen werden Ihnen bestimmt passen.« Sue Weston legte burschikos ihren Arm um Gloria Stampedos Schulter und führte sie aus der Wohnhalle
hinüber in ihr eigenes Apartment. »Sagten Sie nackt?« fragte Rander, als er mit seinem Butler allein war. »Ich sprach von einer totalen Entblößung, Sir«, erwiderte Josuah Parker gemessen. »Sie wurde notwendig, um den hartnäckigen Nachstellungen zweier Gangster zu entkommen.« »Dazu zog sie sich aus?« »In der Tat, Sir! Und zwar auf meinen ausdrücklichen Wunsch hin, wie ich hinzufügen möchte.« »Nun verstehe ich kein Wort mehr«, sagte Rander. »Seit wann betätigen Sie sich als Wüstling Parker?« »Auf meine Bitte hin entledigte sich Miß Stampedo ihrer Kleidung und zeigte sich zeitweilig und dazu winkend am Fenster ihres Apartments.« »Machen Sie’s bloß nicht so spannend«, verbat sich Rander. »Was wollten Sie damit bezwecken? Zum Henker, lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!« »Durch das Zeigen ihres entblößten und durchaus ansehnlichen Körpers, Sir, erregte Miß Stampedo verständlicherweise die Aufmerksamkeit einiger Passanten, die sich allerdings in weiteren Minuten zu einem Massenauflauf verdichteten. Dadurch, Sir, wurde jener Zweck erreicht, der mir vorschwebte.« »Die Polizei wurde alarmiert, oder?« Rander lächelte bereits wider 18 �
Willen. »Umgehend, Sir«, berichtete der Butler würdevoll weiter. »Dadurch sahen die zwei Schützen sich veranlaßt, schleunigst das zu räumen, was man im Volksmund gemeinhin .das Feld nennt!« »Guter Trick«, meinte Rander, »das heißt, falls man eine Dame zur Hand hat, die dieses Spiel mitmacht.« »Miß Gloria Stampedo ist eine außergewöhnliche junge etwas Dame, Sir!« . »Ich höre.« »Sie betätigt sich als versierte Taschendiebin.« »Und so etwas schleppen Sie uns ins Haus?« »Aus Gründen der Humanität, Sir. Sie befindet sich in Lebensgefahr! Wie übrigens auch meine bescheidene Person.« »Warum denn, zum Teufel? Kommen Sie endlich zur Sache! Was ist passiert?« Während Parker berichtete, verschwanden er und Mike Rander im Studio des jungen Anwalts. Parker servierte seinem jungen Herrn einen Beruhigungstrunk und erzählte dazu in erstaunlich knapper Form seine Erlebnisse. »Sagenhaft, Parker, was Sie da wieder erlebt haben«, räumte Rander ehrlich ein, als der Butler seine Geschichte beendet hatte. »Komisch, daß mir so etwas nie passiert!«
»Darf ich Ihren Worten entnehmen, Sir, daß Sie meine Handlungsweise auch noch nachträglich billigen?« »Natürlich. Jetzt sieht Ihre Verspätung ja erheblich anders aus. Sie meinen, die beiden Kerle sind hinter diesem Brief hergewesen?« »Dies, Sir, möchte ich mit Sicherheit annehmen.« »Londale – Londale…!« versuchte Rander sich zu erinnern. »Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.« »Dies bezieht sich auch auf meine bescheidene Person, Sir. Leider kann ich zur Zeit noch nicht mit konkreten Hinweisen dienen.« »Londale – Londale…! Ralph Londale. Diesen Name habe ich in irgendeinem Zusammenhang mit einem Skandal gehört’.« »Dies, Sir, erscheint auch mir so.« »Und wie reagieren Sie auf den Namen Anthony Warren?« »Nur zögernd, Sir. Aber auch dieser Name scheint mit einem Skandal behaftet zu sein.« »Fragen wir doch Captain Madford«, schlug Mike Rander vor, »er kann uns sicher sofort ein Licht aufstecken.« »Wenn Sie erlauben, Sir, würde ich gern mal in meinem Privatarchiv nachsehen. Captain Madford vom Sonderdezernat sollte man vorerst vielleicht aus allem herauslassen.« »Er wird ohnehin bald wissen, daß Sie wieder mal tätig geworden sind, 19 �
oder?« »Sie meinen, nachdem die Polizei sich wegen Miß Stampedo eingeschaltet hatte?« »Natürlich!« »Dies, Sir, glaube ich nicht. Die Polizei war nicht in der Lage, ein Protokoll aufzunehmen, da Miß Stampedo und meine bescheidene Person das Flachdach benutzten, um das Weite zu suchen.« »War aber ein verflixtes Risiko, Parker. Und die beiden Killer? Hatten denn die nicht gerade das Dach abgeschirmt?« »Nur solange, Sir, bis die Polizeisirenen in nächster Nähe vor dem Haus ertönten. Daraufhin verschwanden die beiden äußerst unangenehmen Herren.« »Glauben Sie, daß die sich an Sie gehängt haben?« »Dessen bin ich sicher, Sir. Selbst wenn dies nicht der Fall ist, werden sie inzwischen genau wissen, wo sie Miß Stampedo und meine bescheidene Wenigkeit finden können.« »Na, hören Sie mal! Sind das Hellseher?« »Ich fürchte, Sir, einen Fehler begangen zu haben«, gestand Parker. »Im Eifer der Flucht benutzte ich selbstverständlich meinen Privatwagen. Die Nummer dieses Wagens wird den Gangstern den richtigen Weg weisen.« *
Gloria Stampedo trug einen Hosenanzug von Sue Weston und sah nicht nur reizend, sondern auch wesentlich ruhiger aus. Sie fühlte wohl instinktiv, daß ihr vorerst nichts passieren würde. Sie kam zusammen mit Mike Randers Sekretärin ins Studio und sah den jungen Anwalt prüfend und irgendwie abschätzend an. »Ich weiß, Sie sind Anwalt«, meinte sie dann schnell. »Eigentlich müßten Sie mich ja jetzt der Polizei ausliefern, nicht wahr?« »Weil Sie fremde Taschen ausleeren?« fragte Rander rundheraus. »Ich glaube, ich werde das nie wieder tun«, erwiderte Gloria Stampedo zerknirscht und sah betreten zu Boden. »Seit wann machen Sie das schon?« fragte Rander. »Wir können doch offen darüber sprechen, oder möchten Sie, daß…« »Nein, nein«, unterbrach ihn Gloria Stampedo schnell, »wir können offen darüber reden. Ich glaube sogar, daß es mir guttun wird. Ich muß mich endlich mal gründlich aussprechen.« »Also dann, seit wann?« »Seit vielleicht anderthalb Jahren«, gestand die Taschendiebin. »Es kam ganz plötzlich über mich. Ich – ich stehe dann jedesmal wie unter einem fremden Zwang.« »Sie stehen unter einem Zwang?« 20 �
»Ja, richtig, Mister Rander. Ich muß dann einfach hinaus auf die Straße und stehlen. Erklären kann ich mir das nicht. Vielleicht ist das krankhaft, oder?« »Vielleicht«, sagte Rander und hüstelte leicht. »Ob es mit dem Unfall zusammenhängt, den ich vor anderthalb Jahren hatte?« tippte Gloria vorsichtig an. »Sie hatten einen Unfall?« »Ja, mit einem Auto. Viel passierte mir nicht, aber danach verspürte ich diesen schrecklichen Zwang. Vielleicht bin ich zu einer Kleptomanin geworden.« Sue Westons Mitleid mit Gloria verstärkte sich von Sekunde zu Sekunde. Sie spürte, daß sie es hier mit einem kranken Menschen zu tun hatte, dem man unbedingt helfen mußte. Mike Rander empfand selbstverständlich ebenfalls Mitleid, darüber hinaus aber war sein Interesse von der seelisch-medizinischen Seite geweckt worden. »Was sagen Sie dazu, Parker?« wandte er sich beeindruckt an den Butler. »Ich möchte annehmen, Sir, daß Miß Stampedo keineswegs eine Kleptomanin ist«, äußerte Josuah Parker gemessen und würdevoll. »In meinen Augen ist sie eine ausgezeichnete Schwindlerin, die es immer wieder versteht, interessante Erklärungen abzugeben!«
»Ich weiß, daß Sie mir nicht glauben«, schluchzte Gloria gekonnt in die plötzliche Stille hinein. »Ihre Fingerfertigkeit, Miß Stampedo, ist das, was ich routiniert und äußerst gekonnt bezeichnen muß. Sie dürften ein Profi sein, wenn ich es so ausdrücken darf.« »Das geht aber zu weit, Parker«, rügte Rander. »Wie können Sie so etwas sagen«, meinte Sue Weston, »wir haben es mit einem kranken Menschen zu tun, dem wir helfen müssen.« »Wenn Sie erlauben, möchte ich einige Fragen an Miß Stampedo richten«, erwiderte Parker. Dann, ohne die Erlaubnis abzuwarten, wandte er sich Gloria zu. »Woher stammt das umfangreiche Warenlager in Ihrem Apartment?« »Ich… Wir… Das heißt…« Gloria stotterte herum und kam zu keiner Antwort. »Wo eigneten Sie sich die bewußte Brieftasche und die Taschenuhr Mister Londales an?« lautete Parkers nächste Page. »Bitte, versuchen Sie sich genau zu erinnern. Das ist sehr wichtig!« »Ich… ich weiß es nicht«, schluchzte sie auf. »Irgendwo muß er mir über den Weg gelaufen sein.« »Das nehme ich Ihnen, Miß Stampedo, nicht ab«, redete der Butler gemessen weiter. »Ein professioneller Taschendieb weiß stets sehr genau, wann und wo und wem er 21 �
begegnet ist und was er aus fremden Taschen holte!« »Wie hart Sie zu mir sind!« Sie sah ihn aus verweinten Augen hilflos an. Sue schluckte und mußte einige aufsteigende Tränen zurückdrängen. Mike Rander sah betreten zu Boden. Er verstand seinen Butler nicht mehr. Wie konnte man dieses nette Geschöpf nur derart quälen! »Ich warte auf Ihre Antwort!« mahnte Parker. »Das muß – vor einem Lokal gewesen sein. Ja, richtig. Vor einem Privatklub im Loop.« »Ich denke, wir beenden erst mal die Unterhaltung«, schlug Mike Rander vor. »Miß Weston, bitte, kümmern Sie sich um Miß Stampedo.« Sue nickte und führte Gloria mit fast mütterlicher Geste aus dem Studio. Bevor Gloria den Raum verließ, musterte sie Rander mit einem flehenden Blick, der an ein verwundetes Tier erinnerte. * Die beiden etwa dreißigjährigen Männer saßen in ihrem unauffällig und normal aussehenden Chrysler und ließen die Ausfahrt aus der Tiefgarage nicht aus den Augen. Sie warteten auf nähere Anweisung von der Zentrale und auf die Gelegenheit, endlich eine gewisse Scharte auswetzen zu können. Sie brannten
darauf, einem gewissen Josuah Parker eine gewisse Rechnung präsentieren zu können. Erleichtert, ja, schon fast erlöst, griff Joe, der muskulösere der beiden Männer nach dem Funksprechgerät, das auf seinen Knien lag und sich jetzt durch ein feines Piepsen meldete. »Hier Joe«, sagte er, nachdem er die entsprechende Taste gedrückt hatte. »Sofortige Aktion«, schnarrte eine unpersönlich klingende Stimme aus dem Lautsprecher des Funksprechgerätes. »Zu einer Spazierfahrt abholen und Party feiern – Ende!« »Na, bitte«, meinte Jeff, der am Steuer des Chryslers saß. »Hat ja lange genug gedauert. Mann, bin ich geladen. Ich könnte hochgehen wie ‘ne Rakete.« »Wir fahren rauf zum Penthouse und bringen die Sache in Ordnung«, schlug Joe vor. Dann beugte er sich etwas nach vorn, sah durch die Windschutzscheibe und sagte schnell und hastig: »Das ist dieser komische Schlitten. Er kommt aus der Garage. Was machen wir jetzt?« »Zuerst diesen Butler«, antwortete Jeff entschlossen, »wir hängen uns hinten dran. Vielleicht schaffen wir’s unterwegs. Sag der Zentrale Bescheid!« Er ließ den Chrysler anrucken, während Joe sich sofort wieder mit dem Funksprechgerät befaßte. 22 �
* � Parker saß stocksteif am Steuer seines hochbeinigen Wagens und rollte durch die Stadt. Er war von der Annahme ausgegangen, daß das Penthouse überwacht wurde. Er bot sich jetzt wieder mal als Köder an und hoffte, daß gewisse Schützen sich sofort an ihn hängen würden. Er wußte zwar noch immer nicht, was wirklich gespielt wurde, aber er hoffte, sehr bald mehr zu erfahren. Die Suche in seinem Privatarchiv war übrigens ergebnislos verlaufen. Er war weder auf den Namen Londale noch auf den Namen Warren gestoßen. Was etwas bedeutete, denn sein Archiv führte der Butler mit größter Sorgfalt. Um aber nun endlich zu Ergebnissen zu kommen, unternahm er diese Fahrt, von der er sich einige angenehme Überraschungen erhoffte. Parker benutzte seine beliebte Teststrecke, einen Highway, der in nordöstlicher Richtung aus Chikago hinaus ins freie Land führte. Schon nach knapp zehn Minuten hatte er den ihn verfolgenden Chrysler ausgemacht, der ihm in vorsichtigem Abstand folgte. Er hatte auch die beiden dreißigjährigen Männer erkannt, die in diesem Wagen saßen. Parker blieb etwa zwanzig Minuten lang auf dieser Hauptstraße, bog
dann von ihr ab und steuerte sein hochbeiniges Monstrum zuerst über eine Seitenstraße und schließlich in einen Feldweg, den er von früher her kannte. Parker hatte diesen Weg mit Bedacht gewählt. Er zeichnete sich durch besonders attraktive Schlaglöcher, aber auch durch bösartige Bodenerhebungen aus. Sein hochbeiniger Wagen war gerade noch geeignet, diese Strecke zu absolvieren. Der tiefliegende und weich gefederte Chrysler hingegen mußte bald in Schwierigkeiten geraten. Er stand ja, was seine Insassen anbetraf, unter einer Art Zugzwang. Die beiden Männer wollten und mußten den Kontakt zu Parker halten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, ihn aus den Augen zu verlieren. Parker verlangsamte das Tempo und freute sich wieder mal darüber, welch guten Wagen er fuhr. Es handelte sich um ein ehemaliges Taxi aus London, das nach seinen sehr privaten Vorstellungen restlos umgebaut worden war. Nur die äußere, eckige Form war noch erhalten geblieben. Ansonsten war dieser Wagen, der von Rander »das Monstrum« genannt wurde, nichts anderes als eine raffinierte Trickkiste auf Rädern. Parker bremste dieses Monstrum auf Rädern noch weiter ab und ließ es vorsichtig durch die tiefen und bösartigen Schlaglöcher rollen. Er 23 �
nahm die Bodenerhebungen mit derselben Vorsicht und sorgte dafür, daß sein Wagen nicht aufsetzte. Dabei schaute er immer wieder in den Rückspiegel. Der Chrysler folgte ihm hartnäckig, war aber bedeutend langsamer geworden. Der Fahrer mußte inzwischen nachdrücklich erkannt haben, auf welcher Teststrecke er sich befand. Sein Chrysler bewegte sich wie eine Motorjacht bei Windstärke 7. Parker sah vor sich inzwischen die kleine Wald- und Buschgruppe, die sein eigentliches Ziel war. Knapp vor diesem Waldstück wurde der Feldweg kriminell. Hier mußte der Chrysler mit letzter Sicherheit aufsetzen. * »Verdammte Schei…!« fluchte Jeff, der am Steuer des Wagens saß. Er kurbelte wie verrückt und versuchte, den schweren und tief liegenden Wagen einigermaßen nach vorn zu bekommen. Joe auf dem Beifahrersitz wurde herumgeworfen und mußte sich mit den Füßen gegen den Wagen stemmen. Mit der rechten Hand umklammerte er den Haltegriff über dem Wagenfenster. »Wenn schon«, sagte Joe und grinste. »Wenn er glaubt, uns abschütteln zu können, ist er auf
dem Holzweg.« »Hoffentlich wird’s nicht schlimmer«, warnte Jeff, »wenn das so weitergeht, sitzen wir gleich fe… Verdammt!« Er saß fest! Das Bodenblech unter dem Chrysler knirschte häßlich, als es mit einer Bodenerhebung in innige Berührung kam. Der Chrysler schüttelte sich und bäumte sich ein wenig auf, als Jeff Vollgas gab, und sackte dann auf die rechten Wagenräder. »Los, raus! Schieben!« brüllte Jeff seinem Partner Joe zu. Joe produzierte nun ebenfalls ein Schimpfwort und stieg aus dem Wagen. Er hatte Pech, dabei in ein wassergefülltes Schlagloch zu treten. Er versank fast bis zum Knie in trübem Schmutz und ruinierte sich seine Hose. Wütend stampfte er zum Wagenheck und stemmte sich gegen den Kofferraum. Jeff gab in guter Absicht Vollgas und wirbelte dabei mit den durchdrehenden Reifen eine wahre Fontäne aus Schlamm und Dreck hoch, von der Joe voll erwischt wurde. Schlammbedeckt stieß der Bursche sich wütend vom Wagen ab und versuchte sich in Sicherheit zu bringen. Er stolperte und landete mit dem Gesäß voran in einer zweiten Pfütze, die ihn zusätzlich einweichte. Inzwischen schleuderten die durchdre24 �
henden Hinterräder weitere Dreckund Schlammassen auf und über ihn. Nach Luft schnappend und rasend vor Wut, stemmte Joe sich aus seiner Pfütze und rannte auf der linken Wagenseite hinüber zu Jeff. Der grinste unwillkürlich, als er seinen Partner sah. Was menschlich zu verstehen ist, denn Schadenfreude soll nach einem bekannten Zitat ja die reinste Form der Freude sein. »Hast du ‘ne Schlammpackung genommen?« fragte Jeff dummerweise und völlig unnötig seinen Partner. Joe antwortete nicht. Er tauchte für eine Sekunde vom geöffneten Wagenfenster weg und richtete sich dann wieder auf. Er hatte in der linken Hand eine gehörige Portion zähen Schlamms, die er Jeff nachdrücklich und zielsicher ins Gesicht drückte. Joe traf voll! Jeff nahm die ihm zugedachte Ladung voll ins Gesicht und verschluckte dabei etwa ein halbes Achtel Schlamm, da er gerade den Mund aufgemacht hatte, um Joe noch weitere Frotzeleien zu sagen. Jeff würgte und hustete und wurde krebsrot. Er wischte sich die Schlammladung aus dem Gesicht und trübte sich dabei ungewollt noch weiter und intensiver seine Augen ein. Jeff fuchtelte hilflos mit den Hän-
den in der Luft herum und brauchte ein paar Minuten, bis er endlich wieder einen klaren Gedanken zu fassen vermochte. Doch als es soweit war, öffnete er die Wagentür und stieg aus, konzentriert und angespannt. Joe hielt sich den Bauch vor Lachen. Und es war vielleicht sein sehr persönliches Pech, daß er ziemlich ordinär lachte. Er wieherte, um genau zu sein. Dabei streckte er den rechten Arm in Richtung Jeff und keuchte vor Schadenfreude. Nicht lange allerdings! Jeff griff nach diesem so freundlich ausgestreckten Arm und ließ Joe einen Salto schlagen. Jeff kannte sich in der Kunst des Judo schließlich aus. Joe wirbelte also durch die Luft und landete, wie aus Gründen einer ehrlichen Berichterstattung gesagt werden muß, auf dem Bauch, der seinerseits in ein etwas größeres Schlammloch planschte. Die braune und gelbe, zähe Soße spritzte nach allen Seiten weg und sprühte Jeff noch mal zusätzlich ein. Was ihn aber keineswegs störte, denn jetzt war er es, der sich den Bauch vor Lachen hielt. Joe machte mit seinen Händen und Armen Schwimmbewegungen und brauchte einige Zeit, bis er sich hochknien konnte. Er wischte sich seine Augen frei und stand dann vollends auf. 25 �
»Umgekehrt wird auch ein Schuh daraus«, sagte Jeff mahnend. »Eben!« erwiderte Joe und traf Jeff vor das Schienbein. Jeff heulte auf wie ein liebestoller Schakal und warf sich auf Joe. Doch Joe, gewitzigt durch den Vorfall, trat blitzschnell zur Seite und ließ Jeff an sich vorbeisegeln. Schlammfontänen stiegen hoch, als Jeff, ebenfalls mit dem Bauch zuerst, in der bereits erwähnten Pfütze landete. Als er sich mühsam erhob, war er von seinem Partner Joe nicht mehr zu unterscheiden. * »Und dann?« fragte Rander eine gute Stunde später, als Parker diesen Punkt der Geschichte erreicht hatte. Erwischte sich ein paar Lachtränen aus den Augen und schüttelte immer wieder den Kopf. Wenn es darauf ankam, konnte sein sonst so stets beherrschter und trocken wirkender Butler ausgezeichnet und plastisch erzählen. »Die beiden Herren gerieten in einen handfesten Streit«, berichtete der Butler weiter, »dieser Streit, Sir, mußte von meiner bescheidenen Wenigkeit mit einigem Nachdruck beendet werden.« »Mit Ihrem Regenschirm, oder?« »In der Tat, Sir! Die beiden Herren merkten überhaupt nicht, daß ich mich ihnen näherte.«
»Und mit wem haben wir es jetzt zu tun? Konnten Sie das feststellen?« »Sie heißen Joe Crimp und Jeff Howell«, erläuterte Parker, »sie stehen im Dienst des bereits erwähnten Mister Ralph Londale.« »Da wäre also wieder dieser vertrackte Name!« »Der jetzt allerdings kein Geheimnis mehr ist. Sir, wenn ich auf diesen Umstand hinweisen darf.« »Sie wissen, wer Ralph Londale ist?« »Inzwischen ja, Sir. Dies ging aus den spärlichen Papieren hervor, die ich in den diversen Anzugtaschen der beiden Herren Crimp und Hoswell fand.« »Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter!« »Mister Ralph Londale, Sir, ist ein Bauunternehmer aus New York.« »Moment mal, Parker! Jetzt geht mir eine Laterne auf. Londale…der Mann, der in diesen Bauskandal verwickelt ist.« »In der Tat, Sir! Mister Londale bewarb sich um einen Millionenauftrag der Regierung. Es geht um den Bau eines Protonenbeschleunigers.« »Londales Konkurrenten behaupteten, der Bauunternehmer habe den Mann bestochen, der für die Vergabe der Bauarbeiten zuständig ist, war es nicht so?« »In der Tat, Sir! Es kam zu einem Untersuchungsausschuß, vor dem Mister Londale, seine Konkurrenten 26 �
und auch Mister Warren gehört und vernommen wurden.« »Und Warren, der Mann für die Bauvergabe, stritt alles unter Eid ab.« »Wie Mister Londale, Sir.« »Wie war das noch? Bekam Londale den Auftrag?« »Diesen speziellen Bauauftrag nicht, Sir. Dies geschah wohl aus optischen Gründen. Aber dafür wurde Mister Londales Baufirma mit der Errichtung zweier Atomkraftwerke in den Südstaaten betraut. Ein Auftrag, der dem ersten Bauvorhaben an Umfang in nichts nachstehen dürfte.« »Und Mister Warren vergab diesen Ausweichauftrag?« »Sehr wohl, Sir! Er ist der leitende Beamte der zuständigen Regierungsstelle.« »Dann kann ich alles verstehen«, meinte Rander und wanderte im Zimmer unruhig auf und ab. »Dann kann ich verstehen, warum er so scharf auf seine Brieftasche und vor allen Dingen auf seinen Brief ist!« »Den er inzwischen wieder besitzt, Sir.« »Wenn schon. Er muß immerhin damit rechnen, daß sowohl Sie als auch Miß Stampedo den Inhalt kennen. Das reicht für ihn aus, Sie und Miß Stampedo umbringen zu lassen!« »Dies, Sir, befürchte auch ich.« »Diesem Mister Londale werden
wir gründlich die Suppe versalzen«, versprach Mike Rander grimmig, »er wird hochgehen. Wie dieser Warren, der ihm geschrieben hat!« »Ich bin glücklich Sir, daß Sie diesen Fall so sehen.« »Captain Madford wird uns vor Freude abküssen.« »Warum, Sir, wenn man fragen darf?« »Na ja, wir werden ihm umgehend die Briefkopie übergeben, Parker. Alles weitere ist jetzt Sache der Polizei.« »Wenn Sie erlauben, Sir, möchte ich entschieden widersprechen.« »Kann ich mir vorstellen. Aber was wollen wir denn noch tun, Parker?« »Die beiden Männer der Unterschlagung überführen, Sir. Sowohl Mister Londale als auch Mister Warren werden selbstverständlich nach wie vor alles abstreiten. Auch unter Eid! Sie werden den bewußten Brief mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als eine Fälschung ausgeben.« »Und das Schweizer Konto? Die USA haben mit der Schweiz ein Sonderabkommen hinsichtlich der Bankenauskunft für spezielle Fälle getroffen. Erst vor ein paar Monaten.« »Sir, wenn ich darauf hinweisen darf, so dürfte dieses Warren-Konto inzwischen gelöscht sein – oder werden. Schon in den nächsten Stunden 27 �
oder Tagen. Darf ich Sie bitten, sich mal in die Lage der Herren Londale und Warren zu versetzen. Ihnen bleibt keine andere Möglichkeit.« »Dennoch! Diese Überweisungsspuren lassen sich so schnell nicht verwischen.« »Wenn ich mir einen bescheidenen Vorschlag erlauben darf, Sir, so sollte man diesen Fall intern bereinigen.« »Intern? Das heißt doch nach Ihrer Auslegung, daß wir uns allein mit Londale und Warren herumschlagen sollen, oder?« »Gewiß, Sir, bis zu diesem Brief noch weitere Beweisstücke zusammengetragen sind, die die kriminelle Tätigkeit neu und einwandfrei beweisen und belegen.« »Londale weiß, worum es geht, Parker. Sie wissen doch, daß er selbst vor einem Mord nicht zurückschreckt.« »Und daran, Sir, müßte man diesen Fall aufhängen, wenn ich bescheiden raten darf.« Rander nahm seine Wanderung durch das Studio seines Penthouse wieder auf. Dann blieb er plötzlich ruckartig stehen und wandte sich Parker zu. »Okay«, sagte er, »lassen wir es darauf ankommen. Mehr als einbrechen können wir ja nicht.« Mike Rander hatte noch nicht ganz ausgesprochen, als sich wie auf ein Stichwort hin das Telefon meldete.
»Bei Mister Rander«, meldete sich Parker, nachdem er den Telefonhörer abgenommen hatte. »Marty Baldwin«, meldete sich eine kühle und glatte Stimme, »kann ich Mister Rander sprechen…« »Ich bedaure«, sagte Parker gemessen, »Mister Rander ist zur Zeit in seiner Stadtpraxis… Vielleicht versuchen Sie es dort.« * Joe Crimp und Jeff Hoswell sahen aus wie aus dem Ei gepeilt. Von gewissen Schlammspuren war an ihnen nichts mehr festzustellen. Sie schienen so etwas wie eine chemische Reinigung hinter sich zu haben. Joe und Jeff stiegen aus ihrem Wagen und näherten sich der Praxis Mike Randers, die sich in einem großen Backsteinhaus im Loop befand. In diesen Räumen wickelte Rander seine Geschäfte als Anwalt ab, das heißt, falls er in Chikago weilte. Normalerweise hielten ein paar erstklassige juristische Sachverständige die Stellung und führten die Anwaltspraxis. Sie taten es gern und mit großem Erfolg, denn sie waren durch einen sehr fairen Gesellschaftsvertrag mit Rander liiert. Rander selbst behielt sich nur die Fälle vor, die ihn ganz speziell interessierten. Davon wußten Joe und Jeff selbst28 �
verständlich nichts. Sie hätten auf diese Details auch wahrscheinlich mit Sicherheit gepfiffen. Sie dachten nur an den Auftrag und waren fest entschlossen, ihn diesmal so glatt und reibungslos wie möglich zu erledigen. Sie wollten sich nicht noch mal hereinlegen lassen. Sie bestiegen den Lift, fuhren hinauf in die vierte Etage des Backsteinhauses und erkundigten sich in der Praxisanmeldung nach Mike Rander. Die seriöse, ältere Dame hinter der Anmeldung fragte sie nach ihren Namen und bekam zwei Fälschungen serviert. Dann telefonierte sie mit dem Vorzimmer Mike Randers. »Sie haben Glück«, sagte sie dann, als sie den Hörer wieder auflegte, »Mister Rander hat gerade eine Viertelstunde frei… Aber bitte, überziehen Sie diese Zeit nicht, wir haben noch feste Termine.« »Keine Sorge«, sagte Jeff und bemühte sich um ein freundliches Lächeln, »was wir vorhaben, dauert bestimmt nicht lange!« Sie gingen den langen Korridor hinunter und erreichten die Tür, wo der Name Rander angebracht war. Joe und Jeff nickten sich zu und konnten plötzlich wieder lächeln. Angesichts der Tatsache, daß sie es gleich geschafft hatten, wollten sie ihren Streit und das gemeinsame Schlammbad vergessen. Jeff klopfte an.
»Herein…!« war Mike Randers Stimme zu hören. Joe drückte die Tür, während er gleichzeitig nach seiner schallgedämpften Schußwaffe griff. Jeff hielt sie bereits in der Hand. Joe und Jeff blieben im Türrahmen stehen und sahen zum Schreibtisch hinüber, hinter dem Mike Rander saß. Im Zimmer herrschte übrigens leichtes Zwielicht, aber darauf achteten die beiden Killer nicht sonderlich. Sie waren es gewöhnt, treffsicher von der Hüfte aus zu schießen. Was sie auch in diesem Fall wieder mal unter Beweis stellten. Fast gleichzeitig drückten sie ab. Nur das berüchtigte, nervenzerfetzende leichte Ploppen war zu hören, als die Geschosse den Lauf verließen. Fast synchron dazu rutschte der junge Anwalt lautlos in sich zusammen. * Aber gleichzeitig flammte auch ein sehr grelles Blitzlicht auf. Joe und Jeff schlossen geblendet und automatisch die Augen und sahen in den ersten Sekunden nur so etwas wie eine flammendrote Wand vor ihren Pupillen. »Sie wurden soeben fotografiert«, meldete sich gleichzeitig damit die Stimme Butler Parkers. »Wenn Sie darauf bestehen, werde ich Ihnen 29 �
selbstverständlich gern einige Abzüge zukommen lassen. In Farbe oder in Schwarz-Weiß… ich richte mich da ganz nach Ihren speziellen Wünschen.« Jeff und Joe tapsten zurück. Sie wurden das Gefühl nicht los, hereingelegt worden zu sein. Sie kamen sich völlig ausgetrickst und hilflos vor. Und sie sahen immer noch nichts! Sie fuchtelten mit ihren Schußwaffen hilflos in der Gegend herum, aber sie getrauten sich nicht, weitere Schüsse zu lösen. Sie wollten sich schließlich nicht gegenseitig umbringen. Wenig später hätten sie selbst das nicht mehr geschafft, denn ein äußerst harter Gegenstand schlug ihnen die Waffen aus der Hand, und fast gleichzeitig damit wurden ihnen ordinäre Zuckersäcke über die Köpfe und Oberkörper gestreift. Joe und Jeff wehrten sich nur wenig, denn der bereits erwähnte harte Gegenstand legte sich nachdrücklich auf ihren Hinterkopf, worauf sie die Augen schlossen und erst mal geistig wegtraten. »Sehr schön«, sagte Rander, als er zusammen mit seinem Butler die Zuckersäcke verschnürte, »schade um die Gummipuppe hinter meinem Schreibtisch.« »Diese Investition dürfte sich gelohnt haben«, erwiderte der Butler gemessen und verknotete die Stri-
cke, die die Zuckersäcke umschnürten. »Ein entsprechender Ersatz dürfte zudem leicht zu besorgen sein.« »Und was machen wir jetzt mit diesen beiden traurigen Figuren?« »Wenn Sie erlauben, Sir, werde ich mir etwas einfallen lassen«, antwortete der Butler. »Ich fürchte, daß das wieder mal klappen wird«, sagte Rander und lachte leise auf. »Übertreiben Sie aber nicht, Parker! Vielleicht haben wir es mit zwei sehr sensiblen Menschen zu tun!« * Es waren zwei sehr sensible Menschen, wie sich schnell herausstellte. Joe und Jeff schwitzten Blut und Wasser und schrien sich die Kehle heiser. Sie riefen um Hilfe, aber man hörte sie offensichtlich nicht. Sie lagen dicht nebeneinander, aber sie wußten nicht, wo sie sich befanden. Sie wurden allerdings den Verdacht nicht los, daß sie frei im Raum hingen und herumschwangen. Man hatte sie weggetragen, das wußten sie noch sehr genau. Man hatte sie in einem Lift hinunter in einen Keller geschafft. Und dann hatte man sie mit je einem kleinen Nadelstich behandelt, nachdem sie fest eingeschlafen waren. Nachdem sie vor etwa zehn Minuten wieder zu sich gekommen 30 �
waren, merkten sie, daß sie irgendwo frei in der Luft, aber dicht nebeneinander baumelten. Ja, man schien die beiden Zuckersäcke, in denen sie sich noch befanden, fest miteinander verbunden zu haben. Joe und Jeff hörten deutliche Hafengeräusche. Sie registrierten das langgezogene Tuten von Schleppern, das Schwabbern von Wasser, das gegen Bordwände schlug, sie hörten Verladekommandos und das Kreischen von Möwen und Kränen. Sie wurden in ihren Zuckersäcken herumgeschwenkt, angehievt und wieder nach unten gelassen. Sie hörten erneute Kommandos, das Kreischen einer Verladewinde und setzten dann mehr als unsanft auf. »Jeff?« rief Joe mit nur noch krächzender Stimme. »Joe?« rief Jeff zurück. Er war noch heiserer als sein Partner. »Wo sind wir?« fragte Joe. »Irgendwo auf ‘nem Kahn.« Jeff glaubte, die Geräusche richtig gedeutet zu haben. »Die… die hören uns nicht…« »Wir müssen es noch mal versuchen, Joe…« »Sinnlos, Jeff… Hör doch, die machen die Ladeluken dicht.« Jeff hatte richtig gehört. Elektrisch betriebene Ladeluken produzierten unheimliche Geräusche. Das letzte Quentchen Licht, das sie noch hatten sehen können, erlosch. Tiefste und schwärzeste Dunkelheit umgab sie.
Sie kamen sich vor wie lebendig eingemauert. »Wir müssen raus!« schnaufte Joe, dessen Angst sich fast bis zum leichten Wahnsinn steigerte, »weiß der Henker, wohin der Kahn fährt.« »Ich kann keinen Finger rühren.« »Ich auch nicht«, gestand Joe verzweifelt, »aber wenn ich noch mal mit heiler Haut hier rauskomme, dann kann Clairson was erleben. Für den rühre ich keine Hand mehr!« »Und ich bringe ihn vielleicht um«, schwor Jeff, »diesem Schwein haben wir alles zu verdanken.« Sie redeten miteinander und erwähnten den Namen Clairson immer wieder. Er schien ihr Boß oder Auftraggeber zu sein. Und sie steigerten sich in eine Wut hinein, die einem Mister Clairson bestimmt nicht gut bekommen würde. Falls Joe und Jeff die Seereise noch mal vermeiden konnten… Danach sah es allerdings nicht aus. Nach weiteren zehn Minuten schien der Dampfer, auf dem sie sich befanden, vom Liegeplatz abzulegen. »Aus!« sagte Joe, dessen Stimme inzwischen vollkommen heiser geworden war. Dennoch brachte er ein leises Schluchzen zustande. »Hör doch mal!« schrie Jeff plötzlich, »da sind doch Schritte… Hilfe… Hilfe!« Er hatte sich mit Sicherheit nicht verhört. Jetzt hörte auch Joe, der 31 �
plötzlich nicht mehr schluchzte, ebenfalls diese Schritte. Laut und deutlich. »Hilfe!« schrie auch Joe. »Gehe ich recht in der Annahme, Ihnen helfen zu können?« ließ sich wenig später Butler Parkers Stimme vernehmen. * »Und dann?« fragte Sue. Sie hatte gespannt zugehört. Wie übrigens auch Gloria Stampedo. Sie befanden sich im Studio des Anwalts, der seinem Butler den Bericht überlassen hatte. »Aus Gründen der Humanität beendete ich dieses vielleicht etwas grausame Spiel«, berichtete der Butler weiter. »Die angebliche Verschiffung der beiden Killer fand, wie ich betonen möchte, im Keller jenes Hauses statt, in dem Mister Rander sein Anwaltsarchiv untergebracht hat.« »Das dachte ich mir schon«, erwiderte Sue und verbiß sich ein zu lautes Lachen, »und die bewußten Geräusche hat sicher ein Tonband geliefert, nicht wahr?« »Ich war so frei«, sagte der Butler gemessen, »warum soll man sich nicht jener technischen Hilfsmittel bedienen, die die einschlägige Industrie so reichhaltig anbietet.« »Was passierte mit den beiden Killern?« fragte Gloria, die völlig ver-
wirrt zugehört hatte. Was verständlich war, denn schließlich war ihr unbekannt, mit welchen Tricks der Butler zu arbeiten pflegte. »Ich war ‘so frei, die hinderlichen Stricke zu durchschneiden«, erläuterte Parker ihr freundlich, »alles weitere besorgten dann die Herren Joe und Jeff.« »Aber warum haben Sie sie nicht der Polizei übergeben?« »Mister Rander und meine bescheidene Wenigkeit begnügen uns mit dem Tatfoto«, erklärte der Butler weiter. »Eine übrigens ungemein gestochen scharfe Aufnahme. Dieses Beweisstück wird man bei passender Gelegenheit vorzeigen.« »Sie haben die beiden Killer laufen lassen?« Gloria Stampedo konnte sich nur noch wundern. »In der Tat«, antwortete der Butler, »ich möchte nicht, daß sie gegen zwei neue Schützen ausgetauscht werden. Dann müßte man erst neue Bekanntschaften schließen. Zudem muß ich gestehen und einräumen, daß ich mich an die Herren Joe und Jeff fast ein wenig gewöhnt habe.« »Das ist aber ein gefährliches Spiel mit dem Feuer«, sagte Gloria Stampedo. »Sie ahnen ja gar nicht, Miß Stampedo«, sagte Rander lächelnd, »wie gern Mister Parker mit dem Feuer spielt. Scheint fast eine Leidenschaft von ihm zu sein!« 32 �
* � »Einen kleinen Moment, bitte, ich werde sofort nachfragen«, sagte der Mann hinter der Rezeption und nickte dem Butler zu. Dann bemühte er sein Telefon und rief Mister Londale an. »Wie war Ihr Name noch?« fragte er dann, während er die Sprechmuschel zuhielt. »Parker… Josuah Parker«, erläuterte der Butler dem Mann hinter der Anmeldetheke des City Hotels. Der Mann gab den Namen durch die Sprechmuschel weiter hinauf in Mister Londales Zimmer, hörte einen kurzen Moment zu und legte dann auf. »Mister Londale erwartet Sie«, sagte der Clerk fast respektvoll. Es schien ihm etwas zu bedeuten, daß Mister Londale sich die Zeit nahm, einen doch offensichtlich niederen Angestellten zu empfangen. »Zimmer 234, wenn ich bitten darf.« Parker übersah seinen jungen Herrn, der es sich in der Hotellounge mit einer Zeitung bequem gemacht hatte. Parker betrat den Lift und fuhr nach oben. Mike Rander faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Er schlenderte durch die Halle, um dann ebenfalls mit dem Lift hinauf ins Hotel zu fahren. Er wollte seinem Butler möglichst nahe sein.
Parker hatte inzwischen das Zimmer Nr. 234 erreicht und klopfte an. Ein scharfes, knappes Herein war zu hören. Die Tür öffnete sich gleichzeitig von innen, bevor der Butler den Türknauf bewegen konnte. Durch den schmalen Türspalt sah er in das Gesicht eines etwa 35jährigen Mannes, das schmal und windhundartig aussah. »Mister Parker?« fragte der Mann knapp und scharf. »Josuah Parker«, erwiderte der Butler. »Sie dürften der Privatsekretär Mister Londales sein, nicht wahr?« »Kommen Sie rein!« sagte der junge Mann, ohne auf die Frage des Butlers näher einzugehen. Er öffnete die Tür vollends und ließ den Butler ins Zimmer. Es handelte sich um den Wohnraum einer mit Sicherheit teuren Hotelsuite. Hinter dem Schreibtisch, in einer Ecke zwischen Fenster und Schreibtisch, saß Londale. Er war etwa 50-55 Jahre alt, mittelgroß, untersetzt wirkend, bullig und angriffslustig. Er erinnerte an einen Räumer, wie er auf Baustellen verwendet wird. »Was wollen Sie?« fragte Londale und sah nur knapp hoch. Er schien ungemein wichtige Dinge zu tun zu haben. Er blätterte in einem Aktenstück. »Wenn ich offen sein soll, Mister 33 �
Londale, so plagt mich das, was man gemeinhin das Gewissen nennt«, schickte der Butler würdevoll voraus, »darf ich fragen, ob Sie wieder in den Besitz Ihrer Brieftasche, Ihrer Taschenuhr und eines bestimmten Briefes gekommen sind?« »Ob ich was?« Londale sah den Butler völlig entgeistert an. Es war, wie Parker zugeben mußte, eine reife, schauspielerische Leistung. »Darf ich unterstellen, daß Sie demnach niemals Ihre Brieftasche, eine Taschenuhr und einen in der Brieftasche befindlichen Brief vermißt haben?« »Hier scheint eine Verwechslung vorzuliegen«, meinte der Mann, der mit Lesley angeredet worden war, »sind Sie sicher, daß Sie Mister Londale meinen?« »In der Tat! Vollkommen sicher.« Parker nickte und drehte sich wieder zu Londale um, der einen desinteressierten Eindruck machte. »Vielleicht sehen Sie sich diese Fotokopie mal an, Mister Londale… Sie stammt von einem Brief, den ich in einer Brieftasche fand, die offensichtlich einem Mister Ralph Londale gehört!« »Eine… eine Fotokopie?« Dies schien auf Londale Eindruck zu machen. Er interessierte sich plötzlich nicht mehr für die Akte, sondern sah seinen Sekretär etwas überrascht und unsicher zugleich an. »Wenn ich Ihnen diese Kopie rei-
chen darf, Mister Londale…« Parker hatte sie bereits aus der Brusttasche seines schwarzen Zweireihers hervorgezogen und reichte sie Londale, der etwas zu gierig danach schnappte. Londale las, stand auf, warf den Brief auf die Schreibtischplatte, nahm ihn wieder hoch und reichte ihn fast wütend an Lesley weiter, der nun seinerseits mit dem Studium der Fotokopie begann. Parker sah sich unterdessen gelassen im Zimmer um. Er spürte, daß er richtig taktierte und daß diese Fotokopie etwas war, womit Londale auf keinen Fall gerechnet hatte. Was wohl auch zu verstehen war, denn er konnte ja nicht wissen, daß Parker in der Wohnung der Taschendiebin ausgerechnet das Fotomaterial gefunden hatte, um erstklassige Kopien herstellen zu können. »Das… das muß eine Fälschung sein«, sagte Lesley endlich und sah seinen Herrn und Meister unsicher an. »Fälschung! Richtig!« Lesley schien für Londale die erlösende Erklärung gefunden zu haben. Londale wandte sich an Parker und wiederholte noch mal nachdrücklich, »eine hundsgemeine Fälschung…« »Demnach kennen Sie einen Mister Anthony Warren überhaupt nicht?« »Doch, natürlich… Flüchtig… Irgendein Regierungsbeamter.« »Und Ihre Unterschrift, Mister
Londale?« »Fälschung! Was denn sonst! Sagen Sie, woher stammt dieser verdammte Wisch?« »Aus einer Brieftasche, die Ihnen zu gehören schien, Mister Londale… Ich fürchte, dann bin ich zwei äußerst raffinierten Gaunern aufgesessen. Ich hätte es mir eigentlich denken müssen.« »Existiert nur diese eine Kopie?« Londales Kopf schob sich aggressiv von »Na – natürlich«, gab Parker in einer Art zurück, die man als faustdicke Lüge empfinden mußte. »Lassen Sie sie hier«, meinte Londale, nachdem er sich durch einen Blick mit Lesley verständigt hatte. »Ich werde das regeln.« »Eigentlich sollte man diese Fälschung der Polizei übergeben«, schlug der Butler gekonnt naiv vor, »hier scheint man Sie doch auf eine äußerst unschöne Art und Weise beleidigen und schädigen zu wollen.« »Wieso?« Londales Frage kam lauernd. Er wollte herausfinden, ob Parker bereits die Brisanz des Brieftextes erkannt hatte. »Ich bin zwar nicht völlig sicher, Mister Londale, aber mir scheint, daß vor geraumer Zeit eine Pressekampagne gegen Sie und Mister Warren durchgeführt wurde. Wenn mich nicht alles täuscht, wurden Sie der massiven Bestechung geziehen.« Wieder der schnelle Blick zwi-
schen Londale und Lesley. »Schmutzige Manöver der Konkurrenz«, sagte Londale dann wegwerfend und angewidert. »Die ganze Geschichte hat sich als haltlos herausgestellt. Dennoch bin ich Ihnen dankbar, Mister Parker, daß Sie zu mir gekommen sind. Jetzt weiß ich wenigstens, was mich unter Umständen erwartet. Man scheint die alte Geschichte geschickt und neu aufwärmen zu wollen. Darf ich Ihnen einen Finderlohn anbieten?« »Sehr wohl, Sir«, sagte Parker und verwandelte sich ohne Übergang in einen servilen Butler. »Lesley, übernehmen Sie das«, meinte Londale zu seinem Privatsekretär. Dann meinte er zu Parker: »Vergessen Sie diesen Brief… Vergessen Sie am besten die ganze Geschichte. Lesley, ich möchte, daß Mister Parker sehr großzügig belohnt wird.« Worauf Josuah Parker nach knapp fünf Minuten um 200 Dollar reicher war. * Sue Weston befand sich im Studio des Penthouse und saß vor der elektrischen Schreibmaschine. Sie war dabei, einen wichtigen Schriftsatz für Mister Rander zu tippen und überhörte, daß der weibliche Gast des Hauses sich auf Zehenspitzen in den Raum hineinstahl.
Gloria Stampedo schien etwas im Schilde zu führen, denn sie hatte sich die Schuhe ausgezogen. In der rechten Hand hielt sie ein Handtuch, das sie zu einem dicken Strick gedreht hatte. Sue blieb ahnungslos. Sie beugte sich gerade vor, um einen bestimmten und vertrackten Satz, den Rander ihr diktiert hatte, noch mal im Stenogramm zu lesen, als sie plötzlich doch etwas spürte. Es mußte ihr Unterbewußtsein sein, das sich gemeldet hatte. Sie wollte sich umwenden, sah einen flüchtigen Schatten hinter sich und wollte aufspringen. Doch dazu kam es nicht mehr. Gloria Stampedo, die das Handtuch jetzt mit beiden Händen hielt, schlang es blitzschnell um den Hals Sue Westens und drückte sehr hart zu. Sie war im ersten Moment völlig überrascht und überrumpelt. Mit diesem Angriff hatte sie nicht gerechnet. Sie spürte, daß ihr die Luft bereits knapp wurde und rutschte auf den Drehstuhl zurück. Doch dann versuchte sie, mit ihren Beinen auszukeilen. Gloria Stampedo hatte damit gerechnet. Sie wich zur Seite aus, entging den Fußtritten und verstärkte den Druck des Handtuches. Worauf Sue schwarz sah! Sie wehrte sich noch ein wenig, rutschte dann aber haltlos und
offensichtlich ohnmächtig in sich zusammen. Gloria Stampedo wartete sicherheitshalber noch einen Moment, bevor sie das Handtuch lockerte. Sie beugte sich über das Gesicht von Sue und schien zu prüfen, ob sie wirklich ohnmächtig war, um dann schnell und wieder auf Zehenspitzen aus dem Studio zu laufen. In der Tür blieb sie stehen, wandte sich um und lief noch mal zurück zu Randers Arbeitstisch. Sie fand auf Anhieb, wonach sie gesucht hatte. Sie zog zwei der vielen Fotokopien des Briefes, die Parker angefertigt hatte, an sich und ließ sie im Ausschnitt des V-förmig ausgeschnittenen Pullovers verschwinden. In der Eingangshalle des Penthouse machte sie sich dann an der Tür zu schaffen. Sie brauchte einige Zeit, bis sie die Tür aufziehen konnte. Dann, als sie abermals hinaus auf den Dachgarten schlüpfen wollte, wurde sie äußerst schwach in den Beinen… Was damit zusammenhing, daß Sue Weston ihr die Handkante auf die Nackenwirbel gelegt hatte. Kurz, schmerzhaft und nachdrücklich. Gloria rutschte gegen die Tür, die noch weiter aufschwang, rollte sich dann aber ungemein geschickt zurück und faßte nach den wohlgeformten Beinen von Sue Weston. Ein kurzer Ruck, und Sue landete
etwas unsanft auf dem Teppichboden. Bevor sie sich aufrichten konnte, war Gloria bereits über ihr und zeigte keine Hemmungen, ihr die Luft abzustellen. »Was sich jetzt tat, war schon sehr beachtlich.« Die beiden keineswegs unansehnlich aussehenden Damen lieferten sich einen Kampf, der nach einer Filmkamera schrie. Sie setzten List gegen List, Härte gegen Härte und Trick gegen Trick. Sie wälzten sich wütend und unnachgiebig auf dem Boden herum, stöhnten und keuchten und waren sich, wie ein unbefangener Beobachter geurteilt hätte, völlig gleichwertig. Mit dem kleinen Unterschied allerdings, daß Gloria Stampedo vielleicht ein wenig bedenkenloser in der Wahl ihrer Mittel war. Was sich daran deutlich zeigte, daß sie Sue in den Unterarm biß. Worauf Sue Weston sich mit einem Fußtritt revanchierte, der ebenfalls nicht von schlechten Eltern war. Gloria stöhnte auf und… schien plötzlich auf einen Striptease umzuschalten. Sie hob ihren Rock – den Hosenanzug hatte sie gegen ein Kleid von Sue ausgetauscht – und griff nach ihrem Oberschenkel. Plötzlich hielt sie eine kleine Pistole in der Hand, die Sue schon mal gesehen hatte. Und zwar in ihrem Besitz. Auch die Schußwaffe schien Gloria mit selbst-
verständlicher Frechheit in ihren Dienst stellen zu wollen. »Keine Bewegung mehr«, sagte Gloria keuchend und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, »mein Wort, Sue, ich würde schießen!« Sue Weston sah das entschlossene Gesicht von Gloria und nahm ihr prompt jedes Wort ab. »Sie haben es nicht anders gewollt.« Gloria nagte für einen kurzen Moment nachdenklich an ihrer Unterlippe. »Kommen Sie! Jetzt brauche ich Sie… Sie würden sonst ja doch nur Ärger machen. Worauf warten Sie noch?« Sue Weston stand auf und keuchte ebenfalls. Der Kampf hatte sie gehörig mitgenommen. »Das wird Ihnen noch leid tun, Gloria«, sagte sie wütend. »Wenn schon! Kommen Sie! Wir fahren jetzt runter in die Tiefgarage und nehmen Ihren Wagen… Ihre Gastfreundschaft hier geht mir nämlich auf die Nerven!« * Parker hatte das Hotel verlassen und sich nicht um seinen jungen Herrn gekümmert, der sich in der Hotellounge wieder seiner Zeitung widmete. Parker ging auf seinen hochbeinigen Wagen zu, der auf dem Hotelparkplatz stand. Er war sicher, bereits beobachtet und verfolgt zu 37 �
werden. Ein Mann wie Londale hatte ohne Zweifel nicht nur einen Sekretär mit nach Chikago genommen. Und wirklich, Parker sollte sich nicht getäuscht haben. Er hatte den Parkplatz kaum erreicht, als er seinen Namen hörte. Er blieb stehen und wandte sich zu… Lesley um, der ihm zuwinkte. »Hören Sie«, sagte der Privatsekretär von Londale. »Hören Sie, Mister Parker. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?« »Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, erwiderte der Butler. Er sah sich verstohlen um. War der Privatsekretär allein gekommen? Wollte er ihn nur in die richtige Schußlinie bugsieren? Bei einem Mann wie Londale war Vorsicht am Platz. »Ich habe nicht viel Zeit«, sagte Lesley hastig. »Übrigens, mein Name ist Strike… Lesley Strike… Wann und wo kann ich mich ungestört mit Ihnen unterhalten?« »Jetzt und hier, Mister Strike, falls Sie es wünschen.« »Nein, dazu reicht die Zeit nicht, Mister Parker. Londale steht gerade unter der Dusche. Die paar Minuten sind zu kurz.« »Dann schlage ich vor, Mister Strike, daß Sie die Zeit nennen.« »Wie wäre es mit, sagen wir, 20 Uhr?« »Also in etwa anderthalb Stunden?«
»Und zwar nicht im Hotel«, drängte Strike. »Londale braucht nicht zu wissen, daß ich mich mit Ihnen treffe.« »Ich könnte Sie ja vor dem Hotel abholen.« »Ausgezeichnet, Mister Parker.« »Darf ich wenigstens andeutungsweise erfahren, über welche Themen Sie mit mir zu sprechen wünschen?« »Worüber wohl? Über diesen Brief, den Sie in der Brieftasche gefunden haben.« »Über einen Brief, der eine Fälschung ist?« »Ob es eine Fälschung ist, steht noch nicht fest. Wenigstens nicht für mich. Aber Einzelheiten darüber später, ja? Ich kann doch fest mit Ihnen rechnen, oder?« »Ich werde pünktlich vor dem Hotel erscheinen. Gestatten Sie mir noch eine weitere Frage?« Lesley Strike nickte und sah den Butler nervös, aber erwartungsvoll an. »Muß ich unterstellen, daß Sie Ihrem Arbeitgeber, Mister Londale, nicht sonderlich hold sind?« »Und ob Sie das unterstellen können, Mister Parker. Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich hasse dieses Schwein! Entschuldigen Sie diesen Ausdruck, aber er paßt haargenau… Ich sehe endlich eine Möglichkeit, ihm gewisse Dinge heimzuzahlen. Aber das soll nicht Ihr Bier sein, für Sie dürften nur ein paar sehr anstän38 �
dige Banknoten herausspringen. Und wer braucht die nicht!« »Ein durchaus wahres Wort«, pflichtete der Butler dem Privatsekretär Londales bei. »Offen gesagt, Mister Strike, auf diese Unterhaltung freue ich mich schon jetzt, wie ich in aller Bescheidenheit feststellen möchte.« * »Natürlich ist das ein fauler Trick«, meinte Anwalt Rander eine halbe Stunde später, als er zusammen mit seinem Butler in der Tiefgarage des Hochhauses aus dem Wagen stieg. Nach seiner Unterhaltung mit Lesley Strike war Rander zu seinem Butler gestoßen und zusammen mit ihm zurück in die Lincoln Park Avenue gefahren. Rander war froh, daß er nicht hatte eingreifen müssen, wenn ihm auch klar war, daß aufgeschoben noch längst nicht aufgehoben bedeutete. »Gewiß, Sir«, meinte der Butler und beobachtete das Heruntersenken der schweren Scheibe aus Drahtpanzerglas, die die Garagenbox innerhalb der Tiefgarage gegen den übrigen Parkraum abschloß. Diese Sicherheitseinrichtung war auf seine Anregung hin endlich eingebaut worden. In der Vergangenheit hatten schon zu viele Interessenten versucht, seinen jungen Herrn und ihn noch in der Tiefgarage
abzufangen. Diese Tiefgarage barg normalerweise immerhin fast hundert Wagen, die über eine Schrägrampe hinaus auf die Straße gelangten. Parker und Rander gingen zum Privatlift, der sie in einem wahren Expreßtempo auf den Dachgarten beförderte. Wenig später standen sie dem Chaos gegenüber, das von Sue Weston und Gloria Stampedo angerichtet worden war. Wie sehr Mike Rander an Sue Westons Arbeitskraft lag, zeigte sich daran, daß er besorgt durch sein Penthouse lief und nach ihr suchte. Parker hatte im vorhinein darauf verzichtet. Er glaubte zu wissen, was sich abgespielt hatte. Schließlich hatte er Gloria Stampedo nie so recht getraut. »Nichts… Nicht die geringste Spur von ihr«, meinte Rander nervös, als er wieder zu Parker stieß, der in der Eingangshalle stand. »Nun sagen Sie doch endlich was, Parker.« »Es bieten sich zwei Möglichkeiten an, Sir«, erwiderte der Butler, »entweder wurden beide Damen überrascht und nach heftiger Gegenwehr entführt, oder aber…« »Oder aber?« »Miß Gloria Stampedo überredete Miß Weston sehr nachdrücklich, mit ihr das zu suchen, was ich das Weite zu nennen pflege.« »Dann muß es diese Stampedo gewesen sein. Miß Weston weiß, wie 39 �
man sich gegen fremde Besucher absichert.« »In der Tat, Sir… Demnach soll und muß man als sicher unterstellen, daß Miß Weston entführt worden ist.« »Aber warum, zum Teufel, hat diese Stampedo das getan?« »Sie dürfte mehr sein als nur eine Taschendiebin, Sir…« »Nämlich?« »Dies, Sir, vermag ich nicht zu sagen. Sie scheint aber über eine Vielzahl von Talenten zu verfügen.« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Miß Weston kennt sich inzwischen in den Künsten der Selbstverteidigung ausgezeichnet aus, Sir. Demnach muß Miß Stampedo noch besser gewesen sein als ein weiblicher Profi!« »Und Sie haben mir dieses Biest ins Haus geschleppt«, erwiderte Rander anklagend. »Dies, Sir, gestehe ich offen ein.« »Herrliche Aussichten! Und wenn Miß Weston jetz etwas passiert? Haben Sie daran schon mal gedacht? Wenn sie… Telefon! Parker, Telefon!« Er wartete nicht ab, bis der Butler sich an den Apparat in der Eingangshalle begeben hatte, sondern warf sich förmlich auf das Gerät, riß den Hörer aus der Gabel und meldete sich. »Wer?« fragte er dann, »ach so, Miß Stampedo! Hören Sie, was ist
passiert? Wo sind Sie? Wie bitte?« Rander hörte wieder zu, diesmal etwas länger. Dann nickte er und legte den Hörer wortlos auf. Langsam drehte er sich zu seinem Butler um. »Sie haben es ja mitbekommen«, meinte er dann und ließ sich von Parker Feuer für seine Zigarette reichen. »Die Stampedo… Sehr energisch und nachdrücklich, die Dame… Miß Weston wird solange nichts passieren, wie wir uns vollkommen still verhalten, was Londale angeht. Verstehen Sie das?« »War Miß Stampedo in der Lage, dieses Stillhalten zeitlich einzugrenzen, Sir?« »Nein, davon hat sie kein Wort gesagt.« »Die junge Dame scheint eine Art Privatkrieg gegen Mister Londale führen zu wollen.« »Wie kommen Sie denn darauf? Könnte sie nicht…« »Ich fürchte«, redete Parker nachdenklich weiter, »daß sie zwar die eines Taschendiebs Künste beherrscht, daß sie aber dennoch nicht zur Zunft dieser Taschenentleerer gehört.« »Sondern?« Rander sah seinen Butler erwartungsvoll an. »Miß Stampedo dürfte noch für manche unerquickliche Überraschung sorgen«, schloß Parker, ohne auf die Frage seines jungen Herrn einzugehen. 40 �
* Sue Weston war stocksauer. Sie wußte zwar, wo sie sich befand, doch damit konnte sie nichts anfangen. Gloria Stampedo hatte sie sehr nachdrücklich gezwungen, mit ihr eine kleine Ausfahrt zu unternehmen. Diese Fahrt hatte auf einem schäbigen Hinterhof ihren Abschluß gefunden, und zwar in der Gegend der Stadt, die man nicht mehr als elegant bezeichnen konnte. Sues Wagen stand unter dem Dach einer baufälligen Remise. Und Sue selbst befand sich jetzt in der kleinen Wohnung eines Hinterhauses, und zwar in der vierten Etage. Dieses Hinterhaus gehörte zu einem Hotel, das diesen Namen eigentlich nicht verdiente. Es war, wenn man genau sein wollte, eine Art Stundenhotel. Mit dem dazugehörigen Publikum und Durchgangsverkehr. Das alles hätte selbstverständlich nicht ausgereicht, Sue Weston stocksauer werden zu lassen. Ihre innere Stimmung hing damit zusammen, daß sie sich bis auf die Haut hatte entkleiden müssen. Mit anderen Worten, Sue Weston war das, was ein Butler Parker splitternackt genannt hätte. Gloria Stampedo hatte die Kleidung an sich genommen und sie gnadenlos in dem mit Papierabfällen aller Art vollgestopften offenen
Kamin verbrannt. Es bestand also keine Aussicht, sie wieder heimlich an sich zu nehmen. Dieser Ausweg war restlos verbaut worden. Aber damit immer noch nicht genug. Sue Weston befand sich in einem kleinen Badezimmer, in dem sie sich zwischen Dusche, Toilette und Waschbecken gerade noch wenden konnte. Die Tür zum angrenzenden Wohn-Schlafraum war selbstverständlich zugesperrt worden. Wie gesagt, Sue Weston war stocksauer. Sie war sich lange nicht mehr so hilflos und so ausgeliefert vorgekommen. Obgleich sie es wiederholt schon getan hatte, inspizierte sie ihr kleines Gefängnis. Die Tür war wohl kaum zu öffnen, das hatte sie längst herausgefunden. Aber das kleine Fenster, das praktisch nur eine Art Lichtband darstellte, dieses Fenster interessierte sie immer wieder. Vielleicht befand sich dahinter ein Fluchtweg. Sue stellte sich wieder auf den Rand der Badewanne und griff mit ihren ausgestreckten Händen hinauf zum Fensterrahmen. Sie schaffte es nicht, an den Verschluß heranzukommen. Sie hätte zumindest eine Art Stock benötigt, den sie plötzlich und endlich deutlich vor sich sah. Sie schüttelte verärgert den Kopf über sich, als sie die Rückenbürste mit dem langen Stiel entdeckte, die 41 �
am Heißwasserhahn der Dusche hing. Sie stieg von der Badewanne herunter, hakte die Rückenbürste ab und zog den etwas gebogenen Stiel aus der eigentlichen Bürste. Jetzt hatte sie endlich das Gerät, nach dem sie so gierte. Sie wollte gerade wieder auf den Rand der Badewanne steigen, als sie vor der Tür Schritte hörte. Blitzschnell ließ Sue Bürste samt Stiel unter der unverkleideten Badewanne verschwinden und setzte sich auf den Rand der Wanne. Gloria Stampedo schien zurückgekommen zu sein… * »Falls Sie frieren sollten, können Sie den Warmwasserhahn aufdrehen. Er funktioniert sogar«, sagte Gloria lächelnd. »Ein Wunder in diesem Bau!« »Was soll der ganze Unsinn?« fragte Sue gereizt. Sie war aufgestanden und blitzte Gloria an. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Das alles muß doch einen Sinn haben?« »Der ist vorhanden«, erwiderte Gloria, die sich erstaunlich verwandelt hatte, was ihr Äußeres anbetraf. Sie sah aus wie ein billiges Flittchen, das auf den Straßen seine Spezialdienste anbietet. Sie trug einen fast umwerfend kurzen Rock, der dazu noch leicht geschlitzt war, eine Sei-
denbluse, die ihre Brüste aufreizend nachzeichnete und hochhackige Schuhe. »Ist das der Dank dafür, daß wir Sie aufgenommen haben?« sagte Sue wütend. »Hören Sie auf mit Dank«, winkte Gloria ironisch ab, »jeder sieht, wo er bleibt… Ich mache mir da keine Illusionen. Und was Sie anbetrifft, Kindchen, so werden Sie in spätestens einem Tag wieder bei Ihrem heißgeliebten Chef sein!« »Heißgeliebt?« »Das sieht doch ein Blinder, daß Sie in ihn verliebt sind«, meinte Gloria Stampedo wie selbstverständlich. »Sie mögen das Mister Rander gegenüber vielleicht tarnen können, aber einer Frau können Sie doch keinen Sand in die Augen streuen!« »Reden wir lieber von Ihnen«, sagte Sue, die sich ihrer Nacktheit schon nicht mehr bewußt war, »was bezwecken Sie eigentlich, Gloria? Wollen Sie, allein gegen diesen Londale vorgehen?« »Kein Kommentar«, gab diese hart zurück, »halten Sie sich da raus, Kindchen. Und versuchen Sie nicht, mich hereinlegen zu wollen… Ich sehe es Ihnen an der Nasenspitze an, daß Sie mich am liebsten angreifen würden.« »Sie sehen vollkommen richtig!« »Ich würde Sie verprügeln. Tun Sie’s also lieber nicht! Ich bringe Ihnen gleich etwas zu essen.« 42 �
»Bringen Sie mir wenigstens einen Bademantel«, bat Sue, »hier herrschen nicht gerade Saunatemperaturen.« »Kein noch so winziges Kleidungsstück«, entgegnete Gloria und schüttelte den Kopf. »Nur völlig nackt fühlt der Mensch sich hilflos und wie ausgeliefert. Eine uralte Geschichte. Solange Sie nichts am Leib haben, werden Sie mir keinen Ärger machen!« »Wollen Sie Mister Rander und Mister Parker eigentlich mit mir erpressen?« »Das ist bereits geschehen«, gab Gloria lächelnd zurück, »ich komme gerade vom Telefon. Aber Schluß jetzt, ich habe schließlich was zu tun. In einer Stunde bekommen Sie ein paar Happen, bis dahin müssen Sie sich noch gedulden.« Sie war blitzschnell draußen vor der Tür und schloß sehr sorgfältig ab. Sie stellte sogar die Lehne eines Stuhls unter den Türknauf, wie Sue deutlich hörte. Sie wollte aus irgendwelchen Gründen nicht das geringste Risiko eingehen. Sue beabsichtigte, sich gerade wieder dem kleinen Fenster zuzuwenden, als sie jenseits der Tür einen unterdrückten Aufschrei hörte, dem ein hartes Klatschen folgte, das sich nach einer harten und brutalen Ohrfeige anhörte. Sue huschte zur Tür, legte das Ohr gegen die Türfüllung und hörte wil-
des, hastiges Keuchen, Schläge, Stöhnen und das Umfallen von Kleinmobiliar. Sie bückte sich und schaute durch das Schlüsselloch. Sie sah gerade noch, daß zwei schlanke Männer von schätzungsweise 30 Jahren Gloria die Arme auf dem Rücken verdrehten und sie dann aus ihrem Blickfeld schleppten. * Sue war es klar, daß ihr nur noch wenige Minuten zur Verfügung standen. Sie wußte selbstverständlich nicht, wer die beiden Männer waren. Das heißt, sie wußte es nicht genau. Aber sie dachte an Parkers Bericht, in dem von zwei etwa dreißigjährigen Männern die Rede war. Möglicherweise gewesen waren sie es, die Gloria überrumpelt hatten. Sue holte den Bürstenstiel unter der Wanne hervor und stieg entschlossen hinauf auf den Rand. Diesmal hatte sie mehr Glück. Mit der Spitze des Stiels gelang es ihr bereits beim zweiten Versuch, den Sperrhaken zu lösen. Gleichzeitig damit fiel ihr fast der Rahmen des kleinen Fensters samt der Scheibe auf den Kopf. Sie konnte gerade noch zufassen. Behutsam stieg sie herab, stellte das brüchige und morsche Fenster 43 �
gegen die Wanne und wechselte zurück auf den Wannenrand. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, langte nach dem kleinen Mauervorsprung, den sie gerade mit den Spitzen ihrer Finger erreichen konnte, und zog sich hoch. Sie nahm dabei Knie und Füße zu Hilfe, gewann Zentimeter um Zentimeter und konnte, endlich mit den Händen durch das offene Mauerloch ins Freie greifen. Sie fand den Halt, den sie sich wünschte. Durchtrainiert, wie sie war, zog sie sich jetzt hoch, verschaffte sich mit dem Oberkörper einen Halt und schob sich mit dem Kopf nach draußen. Dabei betete sie fast darum, daß sich hinter dem Fenster eine Möglichkeit bot, die Flucht fortzusetzen. Sues Augen weiteten sich vor Freude, als sie etwa anderthalb Meter unterhalb des Fensters ein schadhaftes, aber immerhin noch tragbar aussehendes Flachdach entdeckte, das zu einem weiteren Anbau gehören mußte. Geschafft, dachte sie, im letzten Moment gerade noch geschafft! Sie stemmte sich weiter nach oben und machte sich daran, ihre Schultern durch das schmale Fenster zu schieben. Dabei hatte sie gleich wieder ein ungutes Gefühl. Das Fenster schien tatsächlich zu klein zu sein. Sue Weston versuchte es dennoch. Mochten auch ein paar Quadratzentimeter Haut am Mauerwerk
zurückbleiben, Hauptsache, sie kam durch und konnte das vertrackte Badezimmer verlassen. Es war noch enger, als sie es sich gedacht hatte. Und plötzlich mußte Sue unwillkürlich auflachen. Sie hätte niemals gedacht, daß ihre erfreulicherweise nicht gerade unterentwickelten Körperformen einmal hinderlich sein würden. Jetzt war das leider der Fall. Sie ahnte inzwischen, daß sie sich ziemlich abschinden mußte, wenn sie das Flachdach erreichen wollte. Gerade lachte sie noch, vielleicht ein wenig hysterisch-übernervös, doch Bruchteile von Sekunden später schrie sie überrascht und entsetzt zugleich auf. Zwei Hände spannten sich um ihr linkes Fußgelenk. Und da geschah etwas, was Sue auch nachträglich noch als ziemlich entwürdigend betrachtete. Sie erhielt nicht nur einen freundschaftlichen Klaps auf die nackte Kehrseite, sondern einen Schlag, der mit voller Wucht geführt worden war. Worauf ihre Kehrseite sofort brannte wie ein kleiner Flächenbrand. »Was ist denn los, Süße?« fragte dazu eine leicht heisere Stimme, »wie wär’s denn mit ‘nem Abstieg. Oder soll ich noch mal zulangen? Ich habe nichts dagegen!« »Nein, nein!« schrie Sue entsetzt und strampelte verzweifelt mit den 44 �
Beinen in der Luft herum. Dann schob sie sich vorsichtig zurück und tastete mit dem ausgestreckten rechten Fuß nach dem Rand der Badewanne. »Na, wird’s bald?« fragte jetzt eine kühle und schneidend wirkende Stimme. »Oder soll ich mal vorsichtig nachhelfen?« Sue erstarrte, und eine Gänsehaut lief über ihren nackten Körper. Sie spürte eine vorsichtig tastende Hand, die sich mehr als nur eine kleine Frechheit herausnahm. Sie sehnte sich in diesem Moment geradezu nach einem derben Schlag, der ihr lieber gewesen wäre. Dann löste sich die Erstarrung in ihr. Sue, die wieder die Hand spürte, trat plötzlich und ohne jede Vorwarnung wie ein keilendes Pferd nach hinten aus. Worauf erfreulicherweise ein dumpfes Aufstöhnen zu hören war, das wie Musik in ihren Ohren klang. »Dafür schneide ich dir die Haut in Striemen«, keuchte dann eine wütende, völlig unbeherrschte Stimme. Sue wartete dieses Riemenschneiden erst gar nicht ab, sondern schrie gellend auf. »Flossen weg!« heiserte dann die Stimme hinter ihr, »ich mache dich kalt, du Idiot, wenn du nicht vernünftig bist!« Sie spürte neue, andere Hände auf ihrer nackten Haut, aber Hände, die
sich absolut keine Frechheiten herausnahmen. Es waren Hände, die derb und fest zupackten. Sie zerrten an ihren Beinen und zogen Sue endgültig aus dem Fensterrahmen heraus. Wenig später sprang sie vom Rand der Badewanne hinunter auf den gekachelten Boden des Badezimmers. Sie stand zwei Männern gegenüber. Sie ahnte, ja, sie wußte sofort, daß es Joe und Jeff sein mußten, von denen Butler Parker erzählt hatte. Und Jeff, der Mann mit der kühlen Stimme, hielt sich sein rechtes Auge und schien böse zu sein. Joe grinste breit. Er schien seinem Partner Jeff die Abfuhr gegönnt zu haben. »Schmeiß dir was über«, sagte Joe zu Sue, »aber beeile dich, Puppe! Wir wollen hier nicht gerade Wurzeln schlagen.« Sue war sich im ersten Moment nicht bewußt, daß sie völlig nackt vor den beiden Gaunern stand. Dann aber wußte sie plötzlich nicht, welche Körperpartien sie zuerst bedecken sollte. »Hab dich bloß nicht so«, sagte Joe, der jetzt das Wort führte, während Jeff sein anschwellendes Auge vorsichtig betastete. »Wir sind doch keine Anfänger. Schmeiß dir was über, sonst nehmen wir dich so mit, wie du bist. War mal was anderes!«
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* � »Ihre Ruhe bringt mich noch zur Verzweiflung«, sagte Mike Rander aufgebracht zu seinem Butler. »Miß Weston gekidnappt, jawohl, gekidnappt. Machen wir uns doch nichts vor. Und Sie tun so, als sei überhaupt nichts passiert!« »Ich muß gestehen und einräumen«, schickte Parker voraus, »daß ich im Augenblick das bin, was man ratlos nennt. Ich muß unterstellen, daß Miß Stampedo wohl ein Versteck ausgesucht hat, das mit normalen Mitteln kaum aufzuspüren sein wird.« »Wo bleiben Ihre Ideen, Parker? Wo Ihre Intuition? Sie werden alt und müde!« Rander meinte es zwar nicht so, wie er es sagte, aber er mußte seinem Herzen Luft verschaffen. Er begriff einfach nicht, warum Parker nichts unternahm. Ihm schien die kommende Unterhaltung mit Lesley Strike im Augenblick wichtiger zu sein. Dabei ging es nach Randers Ansicht doch einzig und allein nur um Sue. »Ich bin mir durchaus bewußt, Sir, daß ich mir Ihren verständlichen Unmut zuziehe«, erwiderte der Butler würdevoll, ohne auf die spezielle Frage nach seinem Alter und seiner Müdigkeit einzugehen, »aber ich kann wirklich nur auf die Selbsthilfe Miß Westons verweisen. Und vielleicht auch…«
»Ja?« fragte Rander hoffnungsvoll, als Parker seinen Satz in der Luft hängen ließ. »Auf die beiden Herren Joe und Jeff«, redete der Butler plötzlich weiter. Seine Intuition, die Rander bisher vermißt hatte, schien sich plötzlich wieder zu melden. »Wieso Joe und Jeff?« regte Rander sich auf, »von wem ist Sue denn entführt worden, he?« »Von Miß Gloria Stampedo, Sir«, erklärte Parker, »aber ich gehe von der Annahme aus, daß die Herren Joe Crimp und Jeff Hoswell wohl nach wie vor den Auftrag haben und hatten, das Haus hier zu beobachten. Ich gehe weiter hoffnungsfroh von der Annahme aus, daß sie die Wegfahrt der beiden Damen Sue Weston und Gloria Stampedo registrierten. Dies läßt unter Umständen den freudigen Schluß zu, daß sie die beiden Damen vielleicht verfolgten und so herausbekamen, wo sie sich zur Zeit aufhalten.« »Nicht schlecht«, räumte Rander nachdenklich ein, »das wäre immerhin eine Möglichkeit. Ein Strohhalm, an den man sich klammern kann.« »Daher meine nach wie vor feste Absicht, Sir, die Unterredung mit Mister Strike zu führen. Man darf wohl davon ausgehen, daß Mister Strike im Auftrag Mister Londales den Kontakt zu den Gangstern hält und sie einsetzt.« »Über diesen Strike an die beiden 46 �
Gangster herankommen, das wäre tatsächlich ein Weg!« Rander nickte und war schon wieder begeistert. »Jetzt wünsche ich mir fast, daß Sue und diese Stampedo bereits erwischt worden sind.« »Dies, Sir, wird man mit Sicherheit erfahren, sobald das Gespräch mit Mister Strike stattfindet«, erwiderte Josuah Parker. »Sollten jene Dinge eingetreten sein, von denen ich gerade sprach, so wird Mister Strike mit größter Wahrscheinlichkeit darauf anspielen, um seinen Druck verstärken zu können.« »Ich hoffe, daß Sie richtig liegen, Parker.« Rander seufzte. »Man wird sehen, Sir… Darf ich Sie bitten, während meiner Abwesenheit auf keinen Telefonanruf zu reagieren? Die Gangster dürfen keine Möglichkeit haben, auch Sie noch unter Druck zu setzen. Sie, Sir, müssen die letzten Trumpfkarte bleiben in diesem äußerst heiklen und vielleicht auch gefährlichen Spiel.« * Der Wagen der beiden Gangster Joe und Jeff stand im Hinterhof. Es fiel kaum auf, als Sue und Gloria aus dem Hinterhaus kamen und wie freiwillig in die Wagen stiegen. Sie standen unter dem sichtbaren Eindruck zweier Handfeuerwaffen, auf deren Läufe man Schalldämpfer
aufgeschraubt hatte. Sowohl Sue als auch Gloria wußten, daß Joe und Jeff Profis waren, die schießen würden, falls man nicht spurte. Sue kam sich immer noch nackt und hilflos vor, als sie im Wagen saß. Viel Zeit und Auswahl hatten die beiden Gangster ihr nicht gelassen, was ihre jetzige Kleidung anbetraf. Sie trug über der nackten Haut eine Art Hauskittel, kniekurz, mit großem Ausschnitt. Dieser Kittel bestand zudem aus einem sehr dünnen und durchsichtigen Nylongewebe, das wirklich nicht geeignet war, ihre Linien diskret zu verhüllen. Gloria hingegen war normal gekleidet, aber sie sah reichlich mitgenommen aus. Joe und Jeff schienen sie sehr nachdrücklich überrumpelt zu haben. Sie hatte eine dicke Schwellung am Kinn, einige Platzwunden an der Schläfe und eine dicke Oberlippe. Starr und schweigend saß sie neben Sue im Fond des Wagens. Sie starrte zu Boden und schien endlich zu ahnen, was sie erwartete. Oder wartete sie nur auf eine Chance, das Blatt noch mal wenden zu können? Sue wußte es nicht zu sagen. Sie hatte mit Gloria bisher kein Wort gewechselt, hatte dazu auch keine Lust. Irgend etwas wie Schadenfreude war in Sue. Schließlich war sie ja von Gloria auf eine ziemlich 47 �
unsanfte Art zu diesem Abenteuer eingeladen worden. Gloria hatte mit Gewalt gearbeitet. Nun mußte sie sich damit abfinden, daß man auch ihr gegenüber Gewalt anwendete. Sues Schadenfreude fiel übrigens recht schnell wieder in sich zusammen. Sie durfte Gloria Stampedo schließlich nicht isoliert sehen. Sie befand sich ja leider zusammen mit ihr in einem Boot, das ganz offensichtlich von zwei harten Gangstern gesteuert wurde. Weder Gloria noch Sue Weston hatten übrigens eine Möglichkeit, bei passender Gelegenheit aus dem Wagen zu steigen. Vielleicht an einer Kreuzung, vor einem Verkehrshindernis oder vor einer Ampel. Joe, der Mann mit der heiseren Stimme, saß am Steuer. Jeff, der Mann, dessen Stimme wie Stangeneis wirkte, hatte sich zu ihnen umgewendet und hielt die Waffe schußbereit unter einer Zeitung versteckt. Von außen her mußte der Eindruck entstehen, daß ein immerhin gut gekleideter Mann sich mit seinen beiden weiblichen Fahrgästen unterhielt. »Keine Zicken«, warnte Jeff überflüssigerweise, als Joe vor einer Ampel halten mußte. »Ich bin richtig scharf darauf, euch ‘ne Ladung zu verpassen.« »Was habe ich eigentlich mit der ganzen Geschichte zu tun?« fragte Sue, nur um etwa zu sagen. »Sag ich dir gleich, Süße«, meinte
Jeff und zwinkerte ihr mit dem Auge zu, das noch nicht geschwollen war. »Na, schön«, erwiderte Sue. Und sie überwand sich. Sie schaffte es, Jeff vorsichtig zuzulächeln. Nur ein ganz klein wenig, aber doch so, daß er so etwas wie Vertrautheit herauslesen konnte. Jeff schluckte und sah sie starr an. Vielleicht stellte er sich vor- und Sue hoffte es sehr –, wie sie unter dem dünnen Nylonkittel aussah. Daß sie mit ihrer Vermutung richtig lag, zeigte sich wenig später. Jeff entkleidete sie. Wenn auch nur mit seinem noch nicht geschwollenen Auge! * Josuah Parker war pünktlich und brauchte nicht zu warten. Er sah Lesley Strike etwa zwanzig Meter vor dem Hoteleingang. Der Privatsekretär von Londale wartete und winkte leicht, als Parker sein hochbeiniges Monstrum an den Fahrbahnrand steuerte. Der Wagen glitt noch aus, als Strike bereits die Tür zum Beifahrersitz aufriß und einstieg. Er ließ sich erleichtert auf dem Sitz nieder und nickte dem Butler grüßend zu. »Fahren Sie, wohin Sie wollen«, sagte Strike dann, »aber ich muß in etwa einer Stunde wieder zurück im Hotel sein.« 48 �
»Wenn Sie erlauben, schlage ich ein annehmbares italienisches Lokal im Loop vor.« »Okay, einverstanden, Parker. Aber wir können schon jetzt und während der Fahrt zur Sache kommen.« »Sie meinen sicher den Brief, dessen Kopie ich zu zeigen in der Lage war.« »Genau! Mal offen, mein Lieber. Was haben Sie damit bisher angestellt?« »Ich war so frei, einige Fotokopien herzustellen«, sagte der Butler wahrheitsgemäß. »Weiß Ihr Chef davon?« »Selbstverständlich«, erwiderte Parker. Vielleicht hatte Strike mit einer Lüge gerechnet. Er sah den Butler auf jeden Fall überrascht an. »Und? Was hat er gesagt? Er kennt doch die Geschichte um Londale und Warren, oder?« »In der Tat, Mister Strike.« »Und… Und? Weiter! Wird er was unternehmen?« »In diesen Dingen, Mister Strike, läßt Mister Rander mir völlig freie Hand.« »Er wird die Sache also nicht an die große Glocke hängen?« »Wahrscheinlich nicht, Mister Strike. Zudem weiß Mister Rander, sehr genau, daß Mister Warren nach wie vor die Echtheit dieses Briefes abstreiten wird.« »Der Brief ist echt!«
»Wie darf ich das verstehen?« Parker tat dumm. »Der Brief ist echt. Haben Sie jetzt verstanden? Londale bekam ihn gestern, kurz vor seinem Abflug aus New York hierher nach Chikago… Er las ihn, steckte ihn in die Brieftasche und hatte das unwahrscheinliche Pech, daß die Brieftasche geklaut wurde. Es ist einfach nicht zu glauben, wie das Leben so spielt.« »Dann darf ich wohl unterstellen, daß Sie gern eine weitere Fotokopie von mir erhalten wollen?« »Na, und ob! Ich schlachte diese Geschichte aus. Darauf können Sie sich verlassen. Ich werde etwas daraus machen.« »Nun gut«, sagte Parker, »ich stehe mit einer weiteren Fotokopie selbstverständlich zur Verfügung.« »Wie viele haben Sie eigentlich?« »Noch vier.« »Was verlangen Sie für diese vier Fotokopien?« »Ich muß gestehen, daß ich die einschlägigen Preise nicht recht kenne.« »Sagen wir 500 Dollar. Einverstanden? Das ist ein stolzer Preis, wie Sie zugeben müssen.« »Ich würde gern auf dieses Geld verzichten«, meinte Parker. »Wenn Sie gestatten, möchte ich eine andere Münze vorschlagen.« »Da bin ich aber gespannt.« »Sagen Sie mir freundlicherweise, wo Sie Miß Sue Weston zusammen 49 �
mit einer gewissen Gloria Stampedo festhalten?« »Keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Parker.« »Sind Sie sich vollkommen sicher, Mister Strike?« »Na klar«, sagte der Privatsekretär von Londale. »Mein Ehrenwort! Wie sieht’s also mit meinem Vorschlag aus?« »500 Dollar vermögen meine bescheidene Wenigkeit nicht zu reizen«, gestand Parker würdevoll. »Wie wäre es dann austauschweise mit einem Hinweis auf einen gewissen Mister Clairson?« »Clairson?« »Gewiß! Jener Herr, der die beiden Schützen Joe und Jeff bezahlt.« »Also, ich kenne einen Clairson«, sagte Strike zu Parkers ehrlicher Überraschung, »er lebt in New York.« »Und dürfte sich zur Zeit hier in Chikago aufhalten.« »Richtig… Na, schön… Sobald ich die Fotokopien habe, bekommen Sie die Adresse von Clairson, einverstanden?« »Bitte, bedienen Sie sich!« Parker griff in seine Brusttasche und reichte Strike einen Umschlag, in dem sich, wie Strike schnell prüfte und herausfand, vier Fotokopien befanden. »Sehr gut, prächtig«, murmelte Strike. Er steckte die Fotokopien ein – und zog seine Hand zusammen mit einer Pistole wieder hervor, die
einen Schalldämpfer besaß. »Jetzt gebe ich mal die allgemeine Richtung an«, sagte Strike und grinste triumphierend. »Machen Sie keine Dummheiten, Parker! Ich kenne mich mit den Pustern hier aus.« »Sie enttäuschen mich ausgesprochen herb«, antwortete der Butler. »Muß ich unterstellen, daß Sie mit mir nur Katz’ und Maus gespielt haben?« »Sie naiver Trottel«, erwiderte Strike und lachte leise. »Sie müssen noch verdammt viel lernen. Falls Sie dazu überhaupt noch Zeit haben. Einen Londale legt man doch nicht so aufs Kreuz, Alterchen! Dazu braucht es harte Profis und keine Amateure!« »Wollen Sie denn eventuell gegen Ihren Arbeitgeber vorgehen?« »Na, Mann, hören Sie, ich weiß doch, auf welcher Seite die Toastscheibe gebuttert ist. Ich bleibe bei Londale, einmal, weil ich nicht lebensmüde bin, zum anderen, weil ich am Geld hänge. So, und jetzt raus aus der Innenstadt! Ich weiß ein viel netteres Plätzchen für uns beide.« »Gestatten Sie mir freundlicherweise noch eine Frage?« »Schießen Sie schon los!« »Sie wissen im Gegensatz zu Ihrer eben geäußerten Bemerkung, daß Sie sehr genau darüber informiert sind, wo die beiden erwähnten 50 �
Damen sich zur Zeit aufhalten?« »Nee, Parker, das weiß ich nun wirklich nicht«, gab Strike fast gnädig zurück, »aber vielleicht hat irgendein Vögelchen schon meinem Chef ein Liedchen gesungen. Clairson ist ein Mann, auf den man sich verlassen kann.« Während er redete und offensichtlich froh darüber war, Parker überlistet zu haben, stahl sich Parkers linker Fuß vorsichtig nach vorn und legte sich sanft, aber nachdrücklich auf eine Erhebung, die nach einem Knopf zur Betätigung des Scheinwerfers aussah. * »Aussteigen!« kommandierte Joe, der am Steuer des Wagens saß. Er hatte das Fahrzeug auf dem Umweg über einen Hinterhof in einen langgestreckten Schuppen gefahren, der sich an den Bau eines kleinen Tingeltangel-Theaters anschloß, das allerdings einen völlig verlassenen Eindruck machte. Der Betrieb schien schon vor einigen Monaten eingestellt worden zu sein. Als Sue ausstieg, roch sie deutlich die Ausstrahlung von Untergang, Pleite und Verwesung. Während Jeff Sue und Gloria bewachte, schloß Joe die beiden wackligen Tore des Schuppens und kam dann zurück zu den beiden jungen Frauen.
»Hier sind wir völlig unter uns«, sagte er mit seiner heiseren, unangenehmen Stimme, »denkt daran!« Sie mußten ihm folgen, während Jeff den Schluß bildete. Sue sorgte geschickt dafür, daß sie knapp vor Jeff gehen mußte. Sie hatte längst herausgefunden, wie sehr sie auf ihn wirkte. Diese Wirkung wollte sie verständlicherweise ausbauen und verstärken. Sie wiegte sich in den Hüften wie eine Professionelle. Sie schaukelte gekonnt und schaute sich dann zum erstenmal nach Jeff um, der dicht hinter ihr herging. Er grinste, was bei seinem geschlossenen Auge recht komisch wirkte. Joe schien sich in dem verlassenen Theater gut auszukennen. Er führte die kleine Gruppe durch lange Gänge und Korridore, durch Garderoben und Arbeitsräume. Bis er schließlich nach dem Überwinden einer Treppe das Ziel erreicht hatte: einen Heizungskeller. »So, die Damen«, wandte sich Joe an Sue und Gloria, »jetzt wollen wir mal schleunigst zur Sache kommen.« Gloria Stampedo schien zu spüren, daß jetzt ihre letzte Chance gekommen war. Ohne Übergang warf sie sich gegen Sue Weston, die sofort stolperte und gegen Jeff flog. Jeff stand unglücklich neben einer 51 �
alten Kiste, über die er fiel. Zusammen mit Sue landete er auf dem völlig verdreckten Boden, doch er war geistesgegenwärtig genug, sofort nach Sue zu greifen und sie an sich zu pressen. Gloria huschte wie ein Wiesel zur Treppe, die hinauf zu einem Kellergang führte. Joe war im ersten Moment völlig überrascht. Mit diesem Fluchtversuch hatte er sicher nicht gerechnet. Aus irgendwelchen Gründen konnte er sich auch nicht entschließen, auf Gloria zu schießen. Wahrscheinlich brauchte er sie noch als Informantin. Er rannte also hinter der Frau her, die bereits auf der Treppe war und bereits einen ordentlichen Vorsprung herausgeschunden hatte. Sue wollte aufstehen, doch Jeff hielt sie eisern fest. »Ein Fluchtversuch reicht«, sagte er und schlang seinen rechten Arm um ihren Nacken. Er zog sie noch fester an sich und wollte sein Knie zwischen ihre Beine pressen. »Nein!« stöhnte Sue wütend und angewidert. »Was ist denn, Süße?« Er versuchte, seiner kalten und schneidenden Stimme einen zärtlichen Unterton zu geben, was auf der ganzen Linie mißlang. Sie hörte sich nach wie vor wie nach einer Behandlung mit Eis an. »Was ist denn? An deiner Stelle würde ich doch verdammt
klug sein.« Er drückte ihren Kopf so weit herunter, daß er sie küssen konnte. Im ersten Moment war Sue versucht, ihm kräftig in die Lippen zu beißen, doch dann siegte die Klugheit. Sie wurde plötzlich weich und schlaff in seinen Armen. Und sie erwiderte seinen Kuß in einer Art und Weise, die ihn völlig überraschte. »Mensch, Süße!« sagte er, als ihre Lippen sich getrennt hatten. »Das war ja einsame Spitzenklasse. Aus uns kann noch was werden!« Während er noch redete, schob er den Kittel über ihre linke Schulter weit zurück, um seine Hand dann nach vorn zur Brust rutschen zu lassen. * »Na, was ist denn das?« fragte Lesley Strike ärgerlich und rutschte unruhig auf seinem Sitz herum. »Bitte?« Parker schien ahnungslos zu sein. »Da war doch ein Piekser«, meinte Strike gereizt. Er hob sein Gesäß etwas an und fühlte nach dem Gegenstand, der seine rechte Kehrseite leicht angestochen hatte. »Vielleicht eine schadhafte Feder«, gab der Butler zu bedenken, der seinen Fuß von dem Bedienungsknopf entfernt hatte. »Ich fürchte, der Wagen braucht bei Gelegenheit eine 52 �
gründliche Überholung.« »Stellen Sie ihn auf dem nächsten Schrottplatz ab«, sagte Strike und grinste. Er hatte den feinen Stich schon fast wieder vergessen, zumal er nicht sonderlich schmerzhaft gewesen war. Er hatte aber auf keinen Fall mitbekommen, daß Josuah Parker diesen Stich ausgelöst hatte. Auf dem Umweg über ein kleines hydraulisches System war von Parker eine Art Stricknadel durch das Polster nach oben getrieben worden. Und die nadelfeine Spitze hatte prompt ihr Ziel gefunden. Wie in manchen Fällen vorher. Diese Nadelspitze war selbstverständlich präpariert. Sie enthielt einen Stoff, der geeignet war, die getroffene Person in eine Art Euphorie zu versetzen. Dieser hochselige Glückszustand verwandelte sich aber innerhalb von wenigen Minuten in eine lähmende Müdigkeit. Parker konnte also mit seiner Spezialimpfung zwei Zwecke erreichen. Was sich bald zeigen sollte. »Sie sind ‘ne komische Nudel«, meinte Lesley Strike bereits und lächelte satt und zufrieden. »Warum sind Sie mit den Fotokopien nicht gleich zur Polizei gerannt? Das fragt sich auch Londale.« »In meiner erfreulicherweise reichlich bemessenen Freizeit befasse ich mich mit der Aufklärung von Rechtsbrüchen«, erklärte der Butler. »In diesem speziellen Fall, Mister
Strike, würde die Polizei zudem nichts erreichen. Mister Londale würde ja doch alle Tatsachen abstreiten, nicht wahr?« »Na klar!« Strike gluckste bereits vor Lachen. Er fühlte sich einfach prächtig. »Mister Londale ist nur dann auszuschalten, wenn man ihm ein eindeutiges Vergehen nachweisen kann!« »Das versuchen Sie mal!« Strike freute sich wie ein Kind. Das ZweiPhasen-Präparat wirkte bereits voll. »Mister Londale dürfte nur dann zu stürzen sein, wenn man ihm nachweist, daß er Killer wie Mister Clairson und dessen beide Mitarbeiter Joe und Jeff beschäftigt.« »Mensch, Alterchen, Sie sind ein As!« sagte Strike anerkennend und freute sich noch mehr. »Und dieses Ziel läßt sich im Moment erreichen, wenn ich erfahre, wohin ich zu steuern habe? Wo darf ich Sie und meine bescheidene Person absetzen?« »Milton-Theater«, sagte Strike wie aus der Pistole geschossen. »Dort werde ich wohl auch den Vorzug haben, auf die Damen Sue Weston und Gloria Stampedo zu treffen, nicht wahr?« »Kann schon sein, falls Clairson gespurt hat.« »Und welches Schicksal hat man uns allen zugedacht?« »Na, welches wohl schon, Alter53 �
chen? Nur tote Zeugen halten den Mund.« »Mister Londale läßt es also auf einen Massenmord ankommen?« »Londale ist hart wie Granit«, plauderte Strike weiter aus. »Der hat schon ganz andere Sachen aufgezogen. Warum ist er wohl so groß im Geschäft?« »Ich kann es leider nicht beurteilen!« »Weil er alles aus dem Weg räumt, was ihn stört. Entweder mit Geld oder mit ‘nem gezielten Schuß!« »Wofür er seine speziellen Leute haben dürfte, nicht wahr? Ich denke da an Mister Clairson und an die Herren Joe und Jeff.« »Erraten, Alterchen. Sie spuren so, wie er es will.« »Darf ich fragen, ob Mister Londale diese drei Herren mit nach Chikago brachte?« »Klar. Er will hier doch ‘ne Firma aufkaufen, die schwach auf der Brust ist. Und Clairson soll die Leute noch schwächer und billiger machen!« Strike gähnte und schloß zum ersten mal versuchsweise die Augen. Die zweite Phase des Präparates begann bereits einzusetzen. »Wie lautete der Name dieser Firma noch?« »Zum Teufel!« Strike gähnte und rutschte auf dem Beifahrersitz zusammen, »lassen Sie mich doch in Ruhe. Ich hab’ andere Sorgen.« Er schloß nun endgültig die Augen
und war innerhalb einer Sekunde tief und fest eingeschlafen. Parker aber steuerte inzwischen in Richtung Milton-Theater. Er hoffte, dort eine Spur von Sue Weston zu finden. * Jeffs Absicht, nach ihrer Brust zu greifen, ging Sue Weston zu weit. Blitzschnell wand sie sich unter ihm weg, kniete hoch und wollte aufspringen. Jeff griff ebenso schnell nach ihr und bekam den leichten Kittel zu fassen. Es gab einen häßlichen Laut, als der Kittel einriß. Sue blieb unwillkürlich stehen, als die beiden Kittelhälften nach vorn schwangen. Sie preßte sie zurück, nestelte am Gürtel, um sie festzustecken und verlor dadurch entscheidende Sekunden. »Hab dich bloß nicht so!« sagte Jeff wütend. Er war bereits auf den Beinen und griff nach ihr. Sue duckte sich und rannte unter seinem Arm davon. Sie nahm die Kiste, die schon mal geholfen hatte, und warf sie vor Jeffs Beine. Er stöhnte auf, als seine Schienbeine getroffen wurden. Dann sprang er über die Kiste und nahm die Verfolgung von Sue auf, die selbstverständlich hinüber zur Treppe lief, da sie keinen anderen Ausgang kannte. 54 �
In diesen Minuten hatte sie nur wenig Glück. Sie hatte die Treppe fast halb geschafft, als oben in der Tür Joe erschien. Er baute sich breitbeinig vor der Tür auf und grinste. Sue schaute sich um. Jeff war dicht hinter ihr. Sie schien keine Chance mehr zu haben. Entschlossen sprang sie seitlich von der Treppe hinunter auf den Boden des Heizungskellers. Sie landete ziemlich unsanft und rannte, etwas humpelnd, hinüber zu den großen Heizkesseln, die natürlich längst außer Betrieb waren. Jeff nahm sich jetzt Zeit. Er wußte, daß Sue ihm nicht entwischen konnte. Er war sich seiner Sache wieder mal vollkommen sicher. Sue war für ihn eine Beute, die nur darauf wartete, von ihm genossen zu werden. »He, Jeff!« Joe stand noch in der Tür. »Ja?« »Sie gehört dir, dieses kleine Biest!« sagte Joe. »Ich hab’ jetzt erst mal mit der anderen zu tun. Laß dir Zeit!« Dann verschwand Joe hinter der Tür und drückte sie laut und energisch zurück in den verrosteten Eisenrahmen. Jeff hatte sehr gut verstanden. Er blieb stehen und horchte in das Zwielicht des Heizungskellers, der etwa so groß war wie ein kleiner Maschinensaal. Dann zündete er
sich eine Zigarette an und sah sich um. Irgendwo dort hinten bei den Heizkesseln mußte sich die kleine Katze befinden, wie er sich sagte, irgendwo, aber nicht unauffindbar. Jetzt lag es an ihm, diese kleine Katze aus ihrem Versteck hervorzulocken. Jeff lächelte dünn, als er plötzlich ein Geräusch hörte. Eisen schien gegen Eisen gestoßen worden zu sein. Er wußte, in welche Richtung er zu gehen hatte. * Sue hielt den Atem an, als sie dieses Geräusch dicht neben sich hörte. Sie selbst hatte es verursacht. Sie war mit dem Gesäß gegen die Blechplatte gestoßen, die sich etwas zur Seite gelegt hatte und dann gegen ein Eisengitter gerutscht war. Jetzt wußte Jeff genau, wo sie war. Sie hatte jedes Wort von Joe mitbekommen. Und sie machte sich keine Illusionen. Sie wußte, was Joe gemeint hatte. Jeff durfte sich mit ihr nach Lust und Laune befassen. Was ihm vorschwebte, hatte er ihr bereits deutlich genug gezeigt. »Okay, spielen wir Hasch-mich«, rief Jeff jetzt in die Stille des halbdunklen Kellers hinein. »Wetten, Süße, daß ich dich gleich am Wickel habe?« Sue beugte sich vor, um etwas 55 �
erkennen zu können. Nichts zu sehen… Nichts zu hören… Der Bursche schien sich in ein Phantom verwandelt zu haben, das sich wesenlos bewegte. Wo war er jetzt? Schon dicht neben oder hinter ihr? Sue spürte die Gänsehaut, die über ihren Rücken lief. Sie atmete tief durch und zwang sich zur Ruhe. Sie mußte versuchen, diesem widerlichen Killer eine Falle zu stellen. Sie überlegte noch, als sie plötzlich einen Schrei hörte, der von jenseits der Kellertür kam. Gloria, dachte sie sofort, um Himmels willen, Gloria! Plötzlich war im Keller ein Auflachen zu hören, das in einem vielfältigen Echo nachschwang… * Parker deponierte seinen hochbeinigen Wagen auf einem Parkplatz und versorgte seinen schlafenden Mitfahrer Strike. Aus Erfahrung wußte der Butler, daß Strike nach der Behandlung mit der Sitznadel nicht vor zwei Stunden wieder zu sich kam. Zeit genug also, um in aller Ruhe und Bescheidenheit aktiv zu werden. Parker brauchte auf diesem Parkplatz nicht zu befürchten, daß Lesley Strike entdeckt wurde. Es war inzwischen dunkel geworden, und ein schlafender Mann auf dem Beifahrersitz eines Wagens war eben
ein Autofahrer, der reichlich getrunken hatte und erst später wegfahren wollte. Parker sicherte die Türen seines Wagens, griff nach seinem Universalregenschirm und machte sich auf den Weg, dem Milton-Theater einen Besuch abzustatten. Weit bis dorthin war es nicht. Er brauchte nur um einen Häuserblock herumzugehen. Dann stand er bereits vor der brüchigen und lädierten Fassade des Theaters. Der Eingang war mit Brettern vernagelt, ebenso die Erdgeschoßfenster. Die Scheiben in den Fenstern der ersten Etage waren durch die Bank eingeworfen worden. Dieses Theater mußte eine ideale Stätte für zweiund vierbeinige Ratten sein. Parker, der Theater dieses Zuschnitts kannte, suchte nach einem hinteren Zugang, den er dann auch bald fand. Von einer schmalen Seitengasse aus erreichte man ein Tor, hinter dem sich wohl der Bühnenhof befand. Parker untersuchte das Tor und hörte plötzlich aus dem Halbdunkel der gegenüberliegenden Wand her ein leises Kichern. »Hochbetrieb, wie?« Es war eine brüchige, alte Stimme. Parker wandte sich um und suchte nach dem Besitzer dieses Organs. Er entdeckte den Mann erst, als er hinter überquellenden Müllkästen sich aufrichtete. 56 �
Er hatte es, das sah man auf den ersten Blick, mit einem Stadtstreicher zu tun, dessen Kleidung nur aus Stoffetzen bestand die mit Bindfäden zusammengehalten wurden. »Hochbetrieb?« fragte der Butler zurück. »Jede Menge.« »Dann bin ich also doch richtig«, sagte Parker, »zwei Herren und zwei Damen?« »Zwei Gangster und zwei Puppen«, korrigierte der Stadtstreicher, »für so was hab ich ‘nen Blick.« »Hoffentlich bin ich nicht zu spät.« »Die sind vor ‘ner halben Stunde gekommen«, redete der alte Mann weiter. »Hören Sie, Mann, hauen Sie lieber ab! Die Aufführung paßt nicht zu Ihnen.« »Dennoch vielen Dank für Ihre freundliche Auskunft«, sagte Parker und drückte dem Stadtstreicher eine Banknote in die Hand, »machen Sie sich einen schönen Abend!« Der Mann betrachtete die Banknote fast ehrfürchtig. Mit diesem Betrag hatte er sicher nicht gerechnet. »Mann!« sagte er dann, »dafür kann ich mich zwei Tage lang vollschütten. Seh’ ich Sie wieder?« »Möglicherweise, falls Sie auf den abendlichen Umtrunk noch ein wenig verzichten.« »Seh’ ich Sie mit ‘nem Lappen wieder?« erkundigte sich der Stadtstreicher und hob die Banknote an.
»Das liegt im Bereich der Möglichkeit, falls Sie es verstehen, mich zu informieren, sobald neue TheaterInteressenten erscheinen.« »Klar, mach’ ich! Da oben sind noch ein paar Fenster, die könnte ich einschlagen.« »Ein passabler Vorschlag.« »Hoffentlich sehen wir uns wieder«, sagte der Mann und verschwand hinter seinen Mülltonen. Es sah so aus, als sei er auch noch auf die zweite Banknote scharf. * Das Lachen, das noch in ihren Ohren war, aktivierte Sue Weston. Noch war sie in der Lage, sich gegen Jeff durchzusetzen. Sie erinnerte sich plötzlich der Lektionen, die ein gewisser Josuah Parker ihr verabreicht hatte. War man nicht mehr fähig, sich mit Gewalt gegen Gewalt durchzusetzen, mußte man sich laut Parker der List bedienen. Sue Weston hatte einen Einfall, der ihr gut vorkam. Sie blieb erst mal dort stehen, wo sie sich befand. Schnell und erstaunlich kühl prüfte sie die Möglichkeiten, die sich ihr boten. Rechts von ihr war einer der mächtigen Kessel. Zwei Steigleitern aus rostigem Eisen führten hinauf auf eine Art Laufbrücke. Links von ihr führte eine Leiter 57 �
nach unten zur Basis des Kessels. Gegen den Kessel gelehnt, befand sich das Stück Blech. Entschlossen knöpfte Sue ihren Kittel auf, riß ihn sich vom Körper und drapierte ihn so geschickt unter das Blech, daß der Eindruck entstand, sie habe sich darunter versteckt. Dann stieg sie, nackt wie sie war, über die Steigleiter auf den Kessel. Ausgerechnet hier fand sie das, was sie bisher vermißt hatte, nämlich eine handliche Waffe. Diese Waffe war nichts anderes als eine schwere Eisenlasche, die sie mit ihrer Hand gerade noch umspannen konnte. Die Lasche war etwa dreißig Zentimeter lang und wog sehr schwer in ihrer Hand. Sue legte sich flach auf das kalte Eisen des Kessels und wartete ab. Es dauerte nicht lange, bis das Eisen Schwingungen übertrug, die davon herrühren mußten, daß Jeff vorsichtig über die erste Steigleiter hinauf zur Kesselbühne stieg. Sue schob ihren Kopf lauernd nach vorn. Sie hatte die Situation vollkommen richtig eingeschätzt. Sie sah den Kopf des Killers, dann die Schultern und schließlich den ganzen Oberkörper. Jeff blieb stehen, als er die Bühne überschauen konnte. Er war sehr vorsichtig und wirkte wie ein lauerndes Tier. Er suchte nach Sue,
nach einer Spur von ihr und nahm plötzlich ruckartig seinen Kopf herum. Er schien sie entdeckt zu haben. Jeff fiel auf den zerrissenen Kittel herein, den Sue unter dem schweren und schräg stehenden Blech drapiert hatte. Damit glaubte Jeff Bescheid zu wissen, und für ihn war die Beute in greifbare Nähe gerückt. Er brauchte nur noch zuzulangen und sie sich zu Gemüte zu führen. Wie er glaubte! Vorsichtig schob er sich weiter nach oben und blieb dann erneut stehen. Sue, etwa anderthalb Meter über ihm, hielt unwillkürlich den Atem an. Hatte Jeff etwa Verdacht geschöpft? Hatte er ihre List durchschaut? Nein, er pirschte weiter und schritt langsam auf das schrägstehende Blech zu. »Komm raus!« sagte er dann. Und jetzt, es war erstaunlich, seine schneidend kalte Stimme war ebenfalls heiser geworden. Heiser vor Gier. »Komm raus!« Sues Kittel rührte sich verständlicherweise nicht. »Dann eben nicht«, sagte Jeff und lachte leise auf, »dann zerre ich dich an den Haaren raus, Süße!« Sue Weston hatte sich inzwischen etwas aufgerichtet und hielt die schwere Eisenlasche in der Hand. Sie visierte nach unten, korrigierte 58 �
noch etwas und ließ sie dann auf Jeffs Kopf fallen. Die Lasche zischte an Jeff Hoswells Kopf vorbei und landete krachend auf den Zehen seines linken Fußes. Gewiß, Jeff tanzte daraufhin zwar wie ein Steptänzer auf einem Bein herum und stöhnte, aber er war keineswegs ausgeschaltet, wie Sue es sich vorgestellt hatte. Diesmal verzichtete Jeff auf alle Drohungen. Er hatte Sue längst oben auf dem Kessel bemerkt. Langsam stieg er nach oben, langsam und drohend. * Josuah Parker versetzte sich in die Lage der Killer. Er fragte sich, wohin er die beiden Mädchen wohl gebracht hätte. Er kam zu dem Schluß, daß aus Gründen der Akustik dafür eigentlich nur der Keller in Betracht kam. Wer dort unten festgehalten wurde, den konnte man in aller Ruhe jeder peinlichen Befragung unterziehen. Schmerzensschreie würden niemals hinauf zur Straße dringen. Der Butler ging an jenem Schuppen vorbei, hinter dessen Tor sich der Wagen der beiden Gangster Joe und Jeff befand. Er hatte dieses Tor bereits passiert, als er plötzlich stehenblieb und deutlich hörbar in die
Nacht hineinschnupperte. Wenn ihn nicht alles täuschte, roch es nach warmem Motorenöl, nach den Ausdünstungen eines Wagens, der vor nicht allzulanger Zeit noch gebraucht worden war. Er ging also zurück ans Tor und schnupperte noch eingehender. Sein erster Eindruck verstärkte sich. Parker überlegte nicht lange. Er bemühte sein kleines Spezialbesteck und fand innerhalb weniger Sekunden jenen Sperrhaken, der das Schloß mühelos öffnete. Parker zog das Tor so weit auf, daß er den Schuppen betreten konnte. Und als er seine Hand auf die Motorhaube des Wagens legte, da wußte er, daß Strike ihn nicht belogen hatte. Mit traumwandlerischer Sicherheit fand er den Weg hinunter in die Kellerräume. Was übrigens nicht sonderlich schwer war, denn im dicken Dreck und Staub, der den Boden bedeckte, waren die Fußspuren im scharf gebündelten Lichtstrahl seiner Kugelschreiber-Taschenlampe deutlich auszumachen. Parker hatte gerade eine Treppe erreicht, als er plötzlich einen fast wütenden Aufschrei hörte. Er entsicherte seinen Universalregenschirm und machte sich bereit, etwas für Ruhe und Ordnung zu sorgen. * 59 �
Sue trat mit ihrem nackten rechten Fuß nach Jeff, dessen Oberkörper sich bereits über den Rand des Kessels schob. Jeff erinnerte in diesen qualvollen Sekunden an einen menschlichen Roboter, der, einmal programmiert, nicht mehr von seinem vorgeschriebenen Weg abwich. Jeff ignorierte den Fußtritt, der seine Schulter traf, und stieg weiter nach oben. Sein Gesicht war zu einer starren Maske geworden. Sue trat erneut nach ihm. Sie wußte, wo sie sich befand. Die flache Oberseite des Feuerungskessels war nur wenige Quadratmeter breit. Hier war ein weiteres Ausweichen unmöglich. Der vielleicht letzte Ausweg war ein Herunterspringen. Aber sie konnte sich leicht ausrechnen, wie sie nach diesem Sprung aussehen würde. Ein gebrochenes Bein würde dann das mindeste sein. Sie trat also verzweifelt nach Jeff und schrie entsetzt auf. Wie eine zustoßende Schlange schnellte Jeffs linke Hand nach vorn und umspannte ihren Fußknöchel. Dann ein harter Ruck, ein Verdrehen, und Sue lag auf dem Bauch. Jeff hatte einen einfachen, aber ungemein wirkungsvollen Trick angewendet. Er ließ Randers Sekretärin nicht mehr los. Auch dann nicht, als er die Treppe verließ. Er riß ihr Bein brutal hoch und schleifte sie in die Mitte des Kesselquadrates. Er griff hart in
ihre Haare und zog sie herum. Er brachte sein Gesicht sehr nahe an das ihre. »Einen Jeff Hoswell legt man nicht aufs Kreuz«, sagte er dann leise, »mich nicht, Puppe. Dafür wirste mir was bieten müssen!« Sue wand sich unter seinen Händen, aber sie spürte gleich, daß sie diesmal keine Chance mehr hatte. Noch einmal würde sie diesen widerlichen Gangster nicht austricksen können. Alle Vorteile, lagen auf seiner Seite. Es war wie in einem Kriminalroman, als er plötzlich über ihr erstarrte, die Augen verdrehte und dann schwer auf sie fiel. Er plumpste in einer Art, die deutlich zeigte, daß er keine Kontrolle mehr über seinen Körper besaß. »Schnell, Sue!« hörte sie dann zu ihrer grenzenlosen Erleichterung die Stimme von Gloria. Sue rollte sich unter Jeff hindurch und kniete hoch. Gloria stand vor ihr. Sie sah schrecklich aus. Ihr Kleid war zerrissen, ihr Gesicht geschwollen. Sie schien dem Gangster Joe einen harten Kampf geliefert zu haben. »Wo – wo ist dieser Joe?« fragte Sue, als sie endlich stand. »Später«, sagte Gloria Stampedo hastig, »schnell weg von hier. Noch haben wir es nicht überstanden.« Sue lief auf unsicheren Beinen zur Steigleiter und stieg nach unten. 60 �
Gloria folgte dichtauf. Ihre Bewegungen waren dabei unsicher und eckig. »Und jetzt?« Sue war ratlos. Plötzlich vertraute sie dieser rätselhaften Frau, die vor einer Stunde noch ihre Feindin gewesen war. »Den Kittel.« Gloria zeigte auf die Fragmente des Kleidungsstückes, das Sue unten an der Steigleiter zurückgelassen hatte. Sie zerrte sich die Reste über und band sie mit dem Gürtel zusammen. »Rauf zum Wagen«, redete Gloria weiter, »schnell, Sue! Lange halte ich mich nicht mehr auf den Beinen.« Sue legte Glorias Arm um ihre Schulter und half ihr hinüber zur Treppe. Sie hatten schon fast die Tür erreicht, als Gloria plötzlich stehenblieb und den Zeigefinger vor ihre Lippen legte. Sie schien etwas gehört zu haben. * Parker war baß erstaunt, als er den Gangster Joe auf dem Boden entdeckte. Diesem Mann schien es nicht sonderlich gutzugehen. Er atmete schnell und flach und litt sichtlich unter den Nachwirkungen einer fremden Gewalt. Parker strahlte ihn mit seiner Kugelschreiber-Taschenlampe ab und suchte nach Kampfspuren. Er
fand einige Schwellungen und Hautrisse, aber sie allein konnten den Zustand dieses Mannes nicht hervorgerufen haben. Unwillkürlich dachte Parker an Sue. Hatte sie sich vielleicht mit den Schlägen gewehrt, die er ihr in einer Art Schnellverfahren beigebracht hatte? Nein, das konnte nicht sein, das war unmöglich. Diese Perfektion hatte Miß Weston noch nicht erreicht. Blieb Gloria Stampedo, die Dame, die so gern in fremde Taschen griff. Sein Verdacht, daß sie mehr als nur eine simple Diebin sei, dieser Verdacht verstärkte sich noch in ihm. Es wurde höchste Zeit, so fand er, daß er ein paar passende und vielleicht auch väterliche Worte mit ihr sprach. Aber soweit war es noch nicht. Noch mußte er die beiden jungen Damen Sue und Gloria finden. Noch hatte er es ja mit dem zweiten Gangster Jeff zu tun. Um diese Begegnung kam er nicht herum. Er stand vor einer verrosteten Tür aus Eisenblech und versuchte, sie so geräuschlos wie möglich zu öffnen. Jetzt, so dicht vor dem Ziel, durfte ihm kein Fehler unterlaufen. Eine erwartete Reaktion auf das Öffnen der Tür blieb aus. In dem großen Heizungskeller unterhalb der Treppe schien alles leer zu sein. Parker tat einen Schritt nach vorn, 61 �
und er hörte hinter sich ein schwaches Geräusch. Bevor er sich schnell umwenden konnte, landete eine harte Handkante genau auf der hinteren Biegung seines schneeweißen Eckkragens. Dank der Stahlblecheinlage dieses Eckkragens brauchte er nicht die volle Wucht und Härte dieses Schlages zu nehmen, doch. eine gewisse Beeinträchtigung seiner Handlungsfreiheit stellte sich ein. Daraufhin beschloß er, erst mal ein wenig zu verschnaufen. Was bedeutet, daß er sanft in die Knie ging. * »Du lieber Himmel!« entsetzte sich Sue. Jetzt erst sah sie, was Gloria angerichtet hatte. Gloria Stampedo hatte mit letzter und verzweifelter Kraft diesen Handkantenschlag ausgeführt und gelandet. Dabei war ihre Hand natürlich in innige Berührung mit der Stahlblechfütterung gekommen. Diese Berührung hatte ihr sichtlich den Rest gegeben. Sie hielt sich die Hand, ihr Gesicht verzerrte sich in Schmerzen, und dann sank sie über den Butler. Sie rutschte von seinem Rücken ab und wurde gegen die Türkante geschleudert. Nach einem halb erstickten Laut war es mit Gloria
erst mal vorbei. Sie rutschte in Sues Arme, die schnell zugegriffen hatten. »Oh«, sagte Parker. Dann lüftete er höflich seine Melone und lächelte Sue andeutungsweise zu. »Ich hoffe, Miß Weston, Sie noch bei bester Gesundheit anzutreffen.« »Ich kann wirklich nicht klagen«, erwiderte Sue und hatte plötzlich Tränen in den Augen. Dann fiel sie dem Butler um den Hals und weinte sich erst mal aus. Parker war etwas konsterniert. Er war nicht gewöhnt, daß sich junge und attraktive Damen an seiner Brust ausweinten. Doch er hatte selbstverständlich nichts dagegen. »Sobald Sie sich etwas beruhigt haben, Miß Weston, sollte man vielleicht diese recht ungastliche Stätte räumen«, meinte er schließlich zu Sue. »Zudem benötigen Sie, wie nicht zu übersehen ist, intakte Kleidung.« »Es geht – schon wieder«, sagt Sue mit letzten Schluchzern, »was geschieht jetzt mit Gloria?« »Diese junge Dame steht selbstverständlich unter meinem Schutz«, antwortete der Butler gemessen. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick war von weither das Bersten einer zerplatzenden Fensterscheibe zu hören. *
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Gewiß, Parker wurde dadurch gewarnt. Genauso, wie er es sich von dem alten Stadtstreicher hinter den Mülltonnen gewünscht hatte. Aber auch ein gewisser Clairson blieb sofort stehen, als die bewußte Fensterscheibe sich irgendwo in ihre Bestandteile auflöste. Clairson wußte natürlich sofort, daß etwas nicht stimmte. Und sicherheitshalber verzichtete er darauf, sich weiter in dem stillgelegten Tingeltangel-Theater umzusehen. Am Hineinrennen in eine Falle war er nicht interessiert. Schnell und fast geräuschlos ging er zurück in den Innenhof und wartete hier erst mal ab. Dann entdeckte er den alten Mann, der auf unsicheren Beinen zurück zur Gasse gehen wollte. Mit ein paar schnellen Sprüngen war Clairson hinter ihm und preßte ihm den Schalldämpfer seiner Waffe gegen die Nackenwirbel. »Quatsch dich aus!« sagte er dann leise, während er den jetzt vor Angst zitternden Mann in eine dunkle Ecke des Hinterhofes bugsierte. Der Stadtstreicher, und das war verständlich, zierte sich nicht lange. Die Waffe in seinem Genick machte ihn ungemein redselig. Nach knapp einer Minute wußte Clairson Bescheid. Er hieb mit dem Schalldämpfer kurz zu. Der Stadtstreicher sackte in sich zusammen und fiel auf einen Abfallhaufen.
Clairson überlegte. In dem stillgelegten Theater befanden sich also seine beiden Mitarbeiter Joe und Jeff, die beiden Frauen und schließlich dieser Butler, dem man nicht über den Weg trauen konnte. Wie groß war also das Risiko, dennoch zurück ins Theater zu gehen? Nun, Clairson beschloß, hier vor dem Schuppen zu warten. Wobei zu fragen war, ob dieser Butler nicht schon die Polizei informiert hatte. Da Clairson sich für sehr wichtig und unersetzbar hielt, kam ihm die nähere Umgebung des Theaters unheimlich und gefahrvoll vor. Er schlüpfte hinaus auf die schmale Gasse und verschwand in der Dunkelheit. Von einem sicheren Platz aus wollte er die weitere Entwicklung in aller Ruhe und Sicherheit erst mal abwarten. * »Ich werde nicht länger als drei Minuten brauchen«, sagte Josuah Parker knapp zehn Minuten später. Gloria Stampedo auf den Armen tragend, hatte er zusammen mit Sue Weston den Hinterhof des Tingeltangel-Theaters erreicht. Vorsichtig ließ er Gloria auf einen ramponierten Bohlenstapel niedergleiten. »Mit dem Wagen, Miß Weston, wird ein unauffälliges Verschwinden sich besser bewerkstelligen lassen.« 63 �
Sie nickte tapfer und griff nach dem Universalregenschirm, den Parker ihr in die Hand drückte. Er erklärte ihr mit wenigen Worten, wie diese Waffe benutzt werden konnte. Dann lüftete er höflich seine Melone und entschwand in der Dunkelheit. Natürlich machte der Butler sich seine Gedanken. Da war einmal das verabredete Einwerfen der Fensterscheibe gewesen. Das hatte doch bedeutet, daß sich eine weitere Person auf das Grundstück des Theaters begeben hatte. Wo hielt diese Person sich jetzt auf? War sie geflüchtet? Lauerte sie in unmittelbarer Nähe? War vielleicht schon der Lauf seiner Schußwaffe auf ihn gerichtet? In der Gasse vermißte der Butler den alten Stadtstreicher. Warum erschien dieser Mann nicht auf der Bildfläche, um sich seine zusätzliche Belohnung abzuholen? Was mochte ihn vertrieben haben? Konnte er es riskieren, die beiden jungen Damen – wenn auch nur für wenige Minuten – allein zurückzulassen? Gewiß, Sue konnte mit seinem Regenschirm umgehen, aber besaß sie auch die Nerven, diese Waffe zu gebrauchen? Die Ereignisse der vergangenen Stunden mußten ihr mit Sicherheit ungemein zugesetzt haben. Während Parker sich das alles durch den Kopf gehen ließ, hatte er
die nahe der Gasse liegende Straße erreicht. Er brauchte sie nur noch zu überqueren und dann hinüber auf den Parkplatz zu gehen, um von dort sein hochbeiniges Monstrum zu holen. Sein Mißtrauen steigerte sich noch, als sich nichts ereignete. Ihm wäre es bedeutend lieber gewesen, wenn sich gewisse Überraschungen eingestellt hätten. Sie hätten den Schwebezustand der Situation schlagartig geklärt. Parker hatte seinen Wagen inzwischen erreicht. Auf dem Beifahrersitz saß nach wie vor Lesley Strike und gab sich seinen Träumen hin. Er merkte überhaupt nicht, daß der Wagen von Parker in Gang gesetzt wurde. Der Butler gestattete sich ein erstes Aufatmen, als er sich mit seinem Wagen der nahen Gasse näherte. Befanden die beiden Damen sich erst mal in seinem Gefährt, konnte so leicht nichts mehr passieren. * »Ich knall’ dich ab, Süße«, sagte Clairson warnend, »halt dich genau an die Abmachung, wenn er hier anrauscht! Und ich werde so schießen, daß du noch ein paar Tage daran zu kauen hast.« Sue Weston nickte in die Dunkelheit hinein, aus der Clairsons Stimme kam. Sie nahm diesem 64 �
Mann, den sie bisher nur vage gesehen hatte, jedes Wort ab. Dieser Mann kannte keine Rücksicht, das war klar. Ihre Angst steigerte sich, als sie bald darauf schon die Scheinwerfer von Parkers Wagen sah, die in die schmale Gasse strahlten. Clairson hatte den Butler genau verfolgt. Zwar nur mit seinen Blicken, aber das reichte ihm vollkommen. Er hatte auch mitbekommen, daß er den Wagen holen wollte. Die Abwesenheit des Butlers hatte er genutzt, sich an Sue heranzupirschen. Sie war überhaupt nicht in der Lage gewesen, Parkers Regenschirm einzusetzen. Wie sollte sie auf eine Stimme schießen, von der sie noch nicht mal wußte, woher sie kam. Clairson hatte sich einen taktisch günstigen Punkt ausgesucht. Er lag flach auf dem Dach einer benachbarten Garage. Falls es zu Überraschungen kam, konnte er sich über einen getrennten Hinterhof, der zu einem Nebengebäude gehörte, blitzschnell absetzen und in Sicherheit bringen. Sue schloß für einen kurzen Moment die Augen, als die Scheinwerfer in den Innenhof des kleinen Theaters hereinstrahlten und sie erfaßten. Gehorsam, wie Clairson es ihr aufgetragen hatte, hob sie winkend den Arm. Parker sollte den Eindruck gewinnen, daß alles in bester Ord-
nung sei. Doch als sie die Hand wieder herunternahm, streifte sie mit der Handkante ganz bewußt in die Fetzen ihres Kittels. Worauf diese Fetzen prompt auseinanderfielen. Sue schauderte zusammen, als die kühle Abendluft sich auf ihre nackte, schweißverklebte Haut legte. * Parker gestattete sich ein leichtes Stutzen. Natürlich sah er im Licht der Autoscheinwerfer genau, daß Sue sich ganz absichtlich entblößt hatte. Er wußte, daß sie keineswegs das war, was er eine Exhibitionistin genannt hätte. Dieser Striptease mußte also einen durchaus realen Hintergrund haben. Sue, das war ihm blitzschnell klar, wollte ihn durch die Ungewöhnlichkeit ihrer Handlungsweise warnen. Sie wollte ihm klarmachen, daß irgend etwas nicht stimmte und daß ihm Gefahr drohte. Parker beging dennoch nicht den Fehler, sie zusätzlich einer Bedrohung auszusetzen. Irgendwo in der Dunkelheit war eine Waffe auf sie gerichtet. Und der Besitzer dieser Waffe würde gnadenlos schießen, falls er sich ausgetrickst und überrumpelt fühlte. Parker hielt also etwa zwei Meter vor Sue den Wagen an und hütete 65 �
sich, sie mit seinem Wagen zu decken. Er wußte ja nicht, wo der Besitzer der Waffe sich aufhielt. Ein Fehler konnte verhängnisvoll und tödlich sein. »Sollte es Ihnen zu warm geworden sein, Miß Weston?« erkundigte sich der Butler und kurbelte die Wagenscheibe spaltbreit herunter. »Clairson!« murmelte Sue, um dann laut fortzufahren, »kommen Sie, ich glaube, Miß Stampedo geht es sehr schlecht.« Während sie sprach, beugte sie sich zu Gloria hinunter, die noch auf den Bohlen lag und nach wie vor bewußtlos war. Parker verspürte ein eigenartiges Kribbeln auf seinem Rücken, als er den Wagen wie selbstverständlich verließ. Clairson, hatte Sue gesagt. Der Boß der beiden Gangster und Killer Joe und Jeff befand sich also in unmittelbarer Nähe. Würde der Mann jetzt schießen? Eine bessere Möglichkeit bot sich ihm so leicht nicht wieder an. Doch dann dachte Parker an den bewußten Brief, an die Fotokopien und an das Risiko, in dem Londale schwebte. Nein, schießen konnte Clairson nicht. Noch nicht. Ja, er schien nicht zu ahnen, daß er in eine Falle hineinmarschierte, von der er sich keine Vorstellung machte. »Rein in den Wagen mit den Pup-
pen«, hörte Parker die Stimme von Clairson. Sie kam ihm bekannt vor. So hatte ein gewisser Mister Baldwin am Telefon gesprochen, »und dann eine hübsche, kleine Rundfahrt durch die Stadt, Parker!« »Und Ihre beiden Mitarbeiter, Mister Clairson?« erkundigte sich der Butler. Er stand stocksteif knapp vor Sue Weston, die ihn aus angstgeweiteten Augen ansah. »Die werden schon nachkommen, sobald sie wieder auf dem Damm sind. Los, ans Steuer! Und hübsch brav sein, Parker, sonst sehe ich schwarz für Ihre beiden Puppen!« Rander schwitzte vor Aufregung. Wie verabredet, befand er sich in seinem Penthouse. Was ihn verrückt machte, war die Tatsache, daß das Telefon sich fast alle zwei Minuten mit einer nervenzerfetzenden Regelmäßigkeit meldete. Gut, er hatte mit Parker ausgemacht, auf keinen Fall an den Apparat zu gehen. Aber er merkte, daß er das nicht durchhielt. Vielleicht rief Sue hier an? Vielleicht hatte Parker sie überhaupt nicht aufzuspüren vermocht? Vielleicht befand Sue sich in Gefahr und brauchte unbedingt Hilfe. Rander zuckte zusammen, als sich das Telefon erneut meldete. Er schlich um den Apparat herum wie die Katze um den heißen Brei. Und dann, mit einem wütenden Griff, langte er nach dem Hörer und hob 66 �
ab. »Na bitte. Ich wußte doch, daß Sie mal abnehmen würden«, sagte eine ironisch-neutrale Stimme, »ich habe Ihnen freundliche Grüße von einer gemeinsamen Bekannten auszurichten.« »Mit wem spreche ich?« »Mein Name tut nichts zur Sache, Mister Rander. Der Name Sue Weston aber wird Ihnen ein Begriff sein, oder?« »Was ist mit Miß Weston?« »Sie möchte Sie sehen.« »Wann und wo?« »Umgehend, wie sie mir sagte. Vielleicht treffen Sie sich mit ihr. Ich könnte das arrangieren.« »Ich… Ich komme sofort. Wohin muß ich fahren?« »Kennen Sie das neue Industriegelände südöstlich der Stadt?« »Natürlich«, erwiderte Rander gereizt, »nennen Sie mir schon die näheren Einzelheiten.« »Ich werde Sie auf dem großen Industriezubringer abholen. Ich mache mich schon bemerkbar. Und kommen Sie allein, Mister Rander, sonst könnte Ihre Privatsekretärin sich noch erschrecken. Nicht wahr, wir haben uns verstanden?« »Ich fahre sofort los«, antwortete Rander und knallte den Hörer auf die Gabel. Er kontrollierte seinen kurzläufigen 38er und rannte förmlich in die Wohnhalle. Er hatte die Tür bereits in der Hand, als ihm ein
Gedanke kam. Auf ein paar Minuten kam es wohl nicht an, sagte er sich. Er wechselte hinüber in das Apartment seines Butlers und sah sich in dessen Bastelstube etwas näher um. Er hatte so das untrügliche Gefühl, daß er ein paar zusätzliche Ausrüstungsgegenstände benötigte. * Parker befand sich in Hochstimmung. Er saß am Steuer seines Wagens, der immerhin einige freundliche technische Überraschungen barg. Er brauchte sich eigentlich nur zu bedienen. Im Wagenfond hatten Sue, die immer noch bewußtlose Gloria und Clairson Platz genommen. Parker brauchte eigentlich nur noch sein Lachgas in Tätigkeit zu setzen, um alle Schwierigkeiten zu beenden. Doch er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. »Damit wir uns richtig verstehen«, sagte Clairson gerade durch die geöffnete Trennscheibe, »sollte ich irgendeinen Trick bemerken, knalle ich los. Mit mir können Sie das nicht machen, was Strike passiert ist…!« Parker nickte andeutungsweise und schaute in den Rückspiegel seines Wagens. Clairson hielt den schallgedämpften Revolver schußbereit auf Sue 67 �
gerichtet. Parker überlegte. Das Lachgas brauchte selbstverständlich einige Zeit, bis es wirkte. Dieser zeitliche Spielraum reichte vollkommen, um Clairson auf Sue Weston schießen zu lassen. Daß Clairson nicht bluffte, konnte der Butler sich leicht ausrechnen. Er hatte es ja schließlich mit einem Vollprofi zu tun. »Wie haben Sie’s denn eigentlich mit Strike geschafft?« erkundigte Clairson sich jetzt fast im Plauderton. »Mister Strike sprach einer Zigarette zu, die ich ihm reichte«, schwindelte der Butler. Er wollte den Trick mit der Nadelspitze im Polster des Beifahrersitzes nicht preisgeben. »Na, ist ja auch egal. Passen Sie auf, Parker, wir fahren jetzt raus zum neuen Industriegelände. Wissen Sie Bescheid?« »Ich denke doch, Mister Clairson.« »Sehr schön, Parker. Dort werden wir uns wahrscheinlich alle treffen und ‘ne Familienfeier veranstalten.« »Wie Sie wünschen, Mister Clairson.« »Das hat man nun davon, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen«, tadelte Clairson. »Anders herum lebt man länger, finden Sie nicht auch?« »Sehr wohl, Mister Clairson!« »Sauer, daß es nicht so klappt, wie
Sie es sich vorgestellt haben, wie?« »In der Tat, Sir!« »Das wird sich geben«, plapperte Clairson weiter. Er genoß seinen Triumph. »Wir werden vor allen Dingen schnell rausbekommen, wer diese Taschendiebin nun wirklich ist.« Parker wurde hellhörig. »Sie zweifeln, daß Miß Stampedo eine Taschendiebin ist?« »Sie ist seit New York schön hinter uns her«, erzählte Clairson weiter. »Schon seit Monaten. Ich glaube, sie spielt die Taschendiebin nur.« »In ihrem Apartment fand ich aber eine erstaunliche Beute, die aus fremden Taschen stammen muß.« »Das kann ‘ne raffinierte Tarnung gewesen sein. Um uns an der Nase rumzuführen. Für den Fall nämlich, daß wir sie erwischten, verstehen Sie?« »Darf ich unterstellen, Mister Clairson, daß Sie in Miß Stampedo eine Privatdetektivin sehen?« »So etwas«, Clairson nickte, »vielleicht auch ‘ne Regierungsbeamtin CIA – FBI… Oder wie diese Knilche sich nennen. Na, sie wird’s uns schon sagen.« »Es scheint ihr nicht sonderlich gut zu gehen, Mister Clairson.« »Die ist hart im Nehmen, Parker. Machen Sie sich deswegen nur keine Sorgen!« »Gestatten Sie mir eine Frage, Mister Clairson?« 68 �
»Immer raus damit, Parker. Ich bin in Redelaune.« »Darf man erfahren, was Mister Londale mit uns vorhat?« »Keine Ahnung«, kam die zu schnelle Antwort, »er will ja eigentlich nur seine Ruhe haben.« »Die Mister Londale doch mit Sicherheit haben wird, sobald er alle Fotokopien in seinen Besitz genommen hat. Das Original befindet sich zudem doch längst wieder in seinen Händen.« »Sprechen Siel mal mit ihm darüber«, sagte Clairson leutselig, »vielleicht läßt er mit sich reden.« * Nach einer Fahrt von etwa einer halben Stunde entdeckte Rander auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Kombi, der auf ihn zu warten schien. Rander befand sich mit seinem Wagen bereits auf der um diese Zeit fast verkehrsleeren Zufahrtstraße zum Industriegelände. Als die Scheinwerfer des Kombi ihn kurz und voll anblendeten, wußte er, daß er sein erstes Etappenziel erreicht hatte. Er verlangsamte das Tempo des Wagens und hielt etwa in gleicher Höhe zum Kombi an. Aus dem Fahrerhaus des Kombi kam ein schlanker, mittelgroßer Mann, der einen Overall trug. Er
überquerte die Straße und fragte bereits im Näherkommen: »Ich habe ‘ne Panne. Können Sie mich zurück in die Firma schleppen? Ist gar nicht weit.« »Zu welcher Firma?« erkundigte sich Rander. »Die Weston-Engineering«, erwiderte der Mann. Das Vorwort Weston betonte er sehr deutlich. »Okay«, sagte Rander. »Das heißt, ich könnte ja auch den Schlitten stehenlassen«, meinte der Mann im Overall, »reicht mir vollkommen, wenn Sie mich nur mitnehmen.« »Steigen Sie ein!« Rander wartete, bis der Mann neben ihm saß. Er benahm sich völlig unauffällig und zündete sich eine Zigarette an. Für Rander schien er sich überhaupt nicht zu interessieren. »Ist es noch weit?« fragte Rander, als sie an den großen Bau- und Lagerplätzen entlangfuhren. »Wir haben’s gleich geschafft. Da hinten… Das Tor…!« Rander rutschte auf seinem Sitz unruhig hin und her. Dann entschloß er sich, aktiv zu werden. »Der Kaugummi im Handschuhfach. Holen Sie mir den mal raus?« bat er. »Wenn es weiter nichts ist.« Der Mann nickte, öffnete das Handschuhfach und griff nach dem schmalen Päckchen. Er wollte es an 69 �
Rander weiterreichen, als er schon schwach wurde. Rander hielt an und der Mann rutschte bereits bewußtlos gegen ihn und spielte nicht mehr mit. Rander war froh, daß er sich in Parkers Bastelstube, Abteilung Kontaktgriff, so genau umgesehen hatte. Jetzt bot sich ihm wenigstens eine kleine Chance. * Etwa um diese Zeit rollte durch das Osttor der Firma Parkers hochbeiniger Wagen auf das zweistöckige Bürogebäude der Baufirma zu. Clairson stieg aus und wußte dabei seine Waffe so einzusetzen, daß Parker kein Risiko eingehen konnte. Clairson trug dem Butler auf, Gloria Stampedo in das Gebäude zu tragen, er selbst befaßte sich mit Sue, die sich erstaunlich zurückgehalten hatte. Strike blieb auf dem Beifahrersitz, er war im Moment nicht so wichtig. »Da wären wir«, sagte Clairson, als sie in einem Büro angelangt waren, »ich brauche ja wohl nicht in Vorstellung zu machen, nicht wahr?« Er brauchte es tatsächlich nicht, denn Parker und ein gewisser Mister Londale kannten sich bereits. Londale stand neben einem Zeichenbrett und hielt eine Pistole in der Hand. Er nickte Clairson anerkennend zu. Parker ließ Gloria Stampedo auf
einen Stuhl gleiten, und er merkte bei der Gelegenheit, daß sie endlich wieder zu sich kam. Aber noch hielt sie die Augen geschlossen. Sue Weston baute sich hinter Gloria auf und beschäftigte sich mit den Fetzen ihres Kittels. Parker stand am Fenster, dessen Rolläden selbstverständlich herabgelassen worden waren. »Das ist nun das Ende vom Lied«, sagt Londale fast vorwurfsvoll zu Parker. »Inzwischen habe ich Erkundigungen eingezogen. Ich weiß genau, wer Sie und dieser Rander sind. Amateurdetektive. Wie ich so etwas hasse! Sie ahnen es einfach nicht.« »Darf ich unterstellen, daß Sie uns umbringen wollen?« fragte der Butler rundheraus. »Was bleibt mir denn anderes übrig«, beschwerte Londale sich fast vorwurfsvoll. »Ich kann es doch nicht zulassen, daß sie meine Existenz untergraben!« »Dann haben Sie einen Massenmord vor, Mister Londale?« »Nun übertreiben Sie nur nicht«, lächelte der Mann, »ich werde ihn auf jeden Fall überleben. Aber kommen wir zum Thema. Wie viele Fotokopien besitzen Sie noch?« »Einige, in Mister Randers Wohnung.« »Das dachte ich mir. Aber das spielt keine Rolle – Clairson, Sie werden gleich mit Miß Weston in 70 �
Randers Wohnung fahren und für eine gründliche Spurenvernichtung sorgen, ist das klar?« »Ein Flächenbrand soll seine Vorzüge haben«, meinte Clairson, der sehr gut verstanden hatte. »Genau«, sagte auch Londale, der sich seinerseits verstanden fühlte, »Miß Weston kann an Ort und Stelle zurückbleiben.« »Und was planen Sie mit Miß Stampedo?« erkundigte sich Parker ausgesprochen höflich. »Die behalten wir hier zurück. Wie Sie, Mister Parker. Es wird sich schon eine günstige Gelegenheit finden, denke ich.« »Sie haben die Rechnung ohne Mister Rander gemacht.« »Mister Rander? Nun, er wird meiner freundlichen Einladung inzwischen gefolgt sein und bald hier eintreffen. Sehen Sie, Mister Parker, ich wiederhole noch mal. Solche Dinge, wie sie hier passieren, überläßt man den Profis.« »Und Sie glauben wirklich, Mister Londale, daß dieser Massenmord ungesühnt bleiben wird?« »Aber sicher, Parker! Wie gesagt, Sie haben es mit Profis zu tun.« Londale legte eine kleine Pause ein, um dann in einer immer gereizteren Tonart fortzufahren. »Ich lasse mir meine Geschäfte nicht vermasseln. Ich lasse mich nicht unterbuttern. Nur der Starke wird überleben und sich durchsetzen. Und wie!«
Er kam nicht mehr so recht dazu, seinen Satz zu beenden, denn Gloria Stampedo, die Taschendiebin, hechtete sich ohne Übergang aus scheinbar tiefer Ohnmacht auf Londale und riß ihn mit sich zu Boden. Dieser Angriff kam derart überraschend, daß Londale nicht mehr in der Lage war, die Schußwaffe in Position zu bringen. Dafür wollte aber Clairson, der Vollprofi, zum Schuß kommen. Aus der Hüfte heraus feuerte er zielsicher und – traf Londale, der sich gerade auf Gloria Stampedo gerollt hatte. Was Londale zu schaffen machte, denn er stieß einen Schrei aus und griff nach seiner Hüfte. Bevor der Vollprofi Clairson einen zweiten Schuß anbringen konnte, hatte Josuah Parker bereits seine Melone als Diskus zweckentfremdet und an Clairsons Kopf geworfen. Worauf der Vollprofi alle weiteren Absichten aufgab und sich zu einem kurzen Schläfchen auf dem Boden zusammenrollte. * Mike Rander hatte den Wagen gerade angehalten, als er einen Schuß hörte. Er sprang ins Freie und rannte auf das zweistöckige Bürogebäude zu. Er war nicht wiederzuerkennen, denn er hatte sich aus Gründen der 71 �
Tarnung den Overall des Kombifahrers übergestreift. Seinen 38er schußbereit in der Hand, pirschte Rander sich durch den Eingang in einen langen Korridor und blieb jäh stehen. Er hörte Stimmengewirr, Schritte und wußte, wohin er sich zu wenden hatte. Auf Zehenspitzen näherte er sich der Tür. Es lag bei ihm, gewisse Dinge im letzten Moment noch abzuwenden. Da war die Tür. Er holte tief Luft und griff langsam nach der Klinke. Sekunden später mußte alles sehr schnell gehen. * Parker hatte das Geräusch des haltenden Wagen natürlich mitbekommen. »Ich bitte höflichst weiterzusprechen«, sagte er, worauf Gloria und Sue dies auch taten. Londales Stöhnen verstärkte den Eindruck, daß man hier im Raum nichts begriffen hatte, daß man ahnungslos war und den Wagen überhört hatte. Die beiden jungen Damen bauten sich links und rechts von der Tür auf. Parker begab sich hinter das Zeichenbrett. Er hatte sich inzwischen mit den Schußwaffen von Londale und Clairson ausgerüstet. Er brauchte eine Konfrontation mit einem bewaffneten Gegner nicht zu
scheuen. Sekunden später, nachdem sie dieses Arrangement getroffen hatten, wurde die Tür blitzschnell aufgedrückt. »Hände hoch!« sagte ein Mann, der einen Overall trug. Zu mehr kam er nicht, denn Sue und Gloria hatten sich auf ihn geworfen, schlugen ihm gekonnt und mit Handkantenschlägen die Waffe aus der Hand und verpackten ihn auf dem Boden zu einem etwas unhandlichen, dafür aber kleinen Paket. »Mir scheint«, sagte Parker, der die Situation bereits durchschaut hatte, »daß hier ein peinliches Versehen vorliegt. Mister Rander dürfte von diesem Empfang nicht sonderlich begeistert sein.« Worauf Sue Weston und Gloria Stampedo sich daranmachten, den jungen Anwalt wieder auf die Beine zu bekommen. Was schwer war, denn sie hatten ziemlich nachdrücklich zugelangt. * Es war früher Morgen, als man sich wieder im Penthouse von Mike Rander befand. Parker servierte ein opulentes Frühstück, während Gloria Stampedo genau das bestätigte, was Clairson schon vermutet hatte. Gloria gehörte der Fahndungsabteilung der Finanzbehörde an und war auf 72 �
Londale angesetzt worden. Sie hatte schnell herausgefunden, daß Londale nicht nur Steuern hinterzog, sondern daß er auch auf dem Gebiet der Bestechung einsame Klasse war. Sie entschuldigte sich, daß sie Rander, Parker und auch Sue nicht richtig eingeschätzt hatte. »Ich bin schließlich fremd hier in Chikago«, sagte sie lächelnd, »und bis zu uns in New York hat sich Ihr Trio noch nicht herumgesprochen!« »Demnach hielten Sie Mister Rander, Miß Weston und meine bescheidene Wenigkeit für Gauner, Madam?« erkundigte sich Parker. »Durchaus!« räumte Gloria Stampedo ehrlich ein, »wie Sie mich ja für eine Taschendiebin hielten. Halten mußten, wenn ich es richtig sehe.« »Durchaus«, sagte nun auch Parker, »vor allen Dingen dann, wenn ich an Ihr Warenlager denke.« »Das habe ich mir natürlich nicht zusammengestohlen, sondern in einem Koffer mitgebracht«, erklärte Gloria weiter, »ich brauchte das für den Fall, daß Londale mich beschatten ließ.« »Ist Londale denn nun geliefert?« schaltete Rander sich ein. »Selbstverständlich – inzwischen haben wir ja sogar wieder das Original. Meine Kollegen vom FBI fanden es in seinem Hotelzimmer. Londale und Warren dürften aus dem Verkehr gezogen werden können.« »Wie Clairson«, sagte Sue verson-
nen, »und vor allen Dingen wie Joe und Jeff.« »Dieser Fall ist abgeschlossen«, meinte Gloria Stampedo, »und ohne Sie… Nun, ich weiß nicht, ob es noch geklappt hätte.« »Es war mir ein Vergnügen«, sagte Parker, was ihm auch zu glauben war. »Mich hat’s einige Nerven gekostet«, gestand Rander. »Und ich werde irgendwo ein graues Haar auf meinem Kopf entdecken«, hielt Sue Weston lächelnd für möglich. Sie wurden unterbrochen vom Läuten der Türklingel. Parker verließ den Raum, um bald darauf mit Captain Madford vom Sonderdezernat zurückzukommen. Nach der Vorstellung war er absolut nicht gegen eine Tasse Kaffee. Sergeant McLean, der ihn selbstverständlich begleitete, grinste den Butler freudig an, der ihm einen doppelten Whisky ohne Eis und Soda servierte. »Zufällig vorbeigekommen?« erkundigte sich Rander harmlos. Er ahnte schon im voraus, was Madford bedrückte. »Vollkommen zufällig«, erwiderte Madford, »irgendwelche Neuigkeiten?« »Nein. Nicht, daß wir wüßten.« Rander und Sue Weston sahen sich gespielt ahnungslos an. »Ich dachte nur.« 73 �
»Wieso, Madford? Lassen Sie schon endlich die Katze aus dem Sack!« »Nun ja. Vor ein paar Stunden hat’s draußen im Industriegelände Trouble gegeben.« »Ärger? Mit wem?« Rander wußte absolut von nichts. »Mit irgendwelchen Gangstern, Schießereien. Dann tauchte das FBI auf. Ich dachte, Sie wüßten etwas?« »Und woher wissen Sie’s?« »Durch den internen Dienstweg«, sagte Madford ausweichend.
»Nähere Einzelheiten werde ich wohl gegen Mittag erfahren.« »Bestimmt«, sagte Mike Rander und verbiß sich ein Lächeln, »aber falls Sie nicht warten wollen, Madford, können Sie dieses Einzelheiten auch von uns bekommen.« »Wieso?« fragte Madford und richtete sich steil auf. »Weil wir alle zufällig dabei waren«, schloß Rander, »Sie wissen doch, wie das Leben so mit einem spielt.«
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