Verónica Murguía Das grüne Feuer
Verónica Murguía
Das grüne Feuer Aus dem mexikanischen Spanisch von Ilse Layer
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Verónica Murguía Das grüne Feuer
Verónica Murguía
Das grüne Feuer Aus dem mexikanischen Spanisch von Ilse Layer
Redaktion Manuela Waeber Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung. © 2001, Ediciones SM, Mexiko Titel der Originalausgabe: El fuego verde
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© 2003 Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag München Wien Diese Ausgabe erscheint in Koproduktion mit dem Obelisk Verlag Innsbruck/Wien Alle Rechte für Österreich und Südtirol beim Obelisk Verlag e-Book by Brrazo 10/2008 Umschlagbild: © getty images Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kampa, Isabel Thalmann, Zürich Herstellung: Meike Harms und Hanne Koblischka Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann Druck und Bindung: Friedrich Pustet Printed in Germany www.nagel-kimche.ch ISBN 3-312-00939-1 Für Österreich: www.obelisk-verlag.at ISBN 3-85197-456-5
Für David Huerta und für Clara Rojas
Brocéliande VOR LANGER ZEIT glichen die Bäume einem grünen Meer, das die ganze Erde bedeckte. Die Wipfel der Kiefern und Tannen wiegten sich wie Wellen im Wind und waren an einigen Stellen so dicht, dass die Sonne nie bis zum Boden durchdrang. Es gab Wege und Pfade, die von Ast zu Ast führten, und achtunddreißig Bäume auf jeden Baum von heute. Die Elfen, in deren Adern weißes Harz floss wie das der Steineichen, waren die Herrscher des Waldes. Die Menschen achteten und fürchteten sie. Es gab keine andere Kirche als den Wald und unter dieser grünen Kuppel wurden Götter angebetet, die in Baumstämme geschnitzt und mit Blumen geschmückt waren. Die Menschen brachten Brotlaibe und Schälchen mit Honig als Opfer auf den Steinen dar und gingen wieder nach Hause, ohne sich noch einmal umzudrehen. Heiratswillige Frauen legten einen Schlauch voller Milch auf den Fenstersims und freuten sich, wenn der Schlauch verschwand. Am Tag der Hochzeit trugen sie einen Korb mit gesprenkelten Wachteleiern an den Wegrand und ließen ihn dort stehen. Hirsche mit einem weißen Fleck auf der Stirn waren heilig; eine Fee hatte sie bei der Geburt mit kalten Fingern berührt und sie durften nicht gejagt werden. Nachts flocht Fata Titania die Mähne der Pferde und die Reiter leisteten ihren Tribut, indem sie Münzen in die leeren Nester legten. Den Menschen gehörte der Tag und den Herrschern des Waldes die Nacht. Die Männer bedienten sich der Axt und des Feuers und schlugen Lichtungen in das Dickicht, um dort ihre Häuser zu errichten. Die Elfen, die sich mit der Magie auskannten und das Feuer fürchteten, wohnten in den Bäumen. 9
Magier und Geschichtenerzähler hatten als einzige Umgang mit ihnen und nur den mächtigsten und ältesten Magiern war es vergönnt, sie zu sehen. Wenig erfuhr man über diese Begegnungen. Eifersüchtig hüteten sie ihre Geheimnisse und vertrauten höchstens den Geschichtenerzählern ein paar Worte an. Alle anderen mussten sich damit begnügen, beobachtet zu werden. Wenn sie allein im Wald waren, wussten sie nie, ob der Schauder, der ihnen über den Rücken lief, vom Wind herrührte oder vom Blick eines im Unterholz verborgenen Elfen. Die Geschichtenerzähler kannten die Namen der Könige und Fürsten der Elfen sowie deren Heldentaten. Die Stammbäume der weit verzweigten Elfenfamilien setzten sich aus mannigfachen Ahnen zusammen, zu denen auch Eichen, Kiefern und Tannen zählten. Die Geschichtenerzähler erkannten die Zeichen der Verwandtschaft mit den Elfen an diesen Bäumen und markierten sie mit weißen Glöckchen aus Ton, die sie an ihren Ästen befestigten. Wenn der Wind diese Glöckchen hin und her wiegte und die Holzfäller ihr gedämpftes Bimmeln hörten, hielten sie sich fern. Für diesen Schutz waren die Elfen dankbar und erlaubten den Geschichtenerzählern, als Mittler zwischen dem Waldvolk und den Menschen zu dienen. Diese wussten auch den Himmel zu deuten und planten die Feste, die die Ernte begünstigen sollten. Sie zogen von Dorf zu Dorf und boten ihr Können und ihre Musik feil. Als Gegenleistung wurden sie von den Dorfbewohnern im besten Haus untergebracht, bekamen die köstlichsten Speisen und als Bezahlung Beutel voller runder, mit einer Wachsschicht geschützter Käse oder andere haltbar gemachte Lebensmittel. Manchmal erzählte jemand dem Geschichtenerzähler eine neue Geschichte, 10
was als günstiges Zeichen gedeutet wurde. Es konnte ein Traum oder eine Vision sein oder auch eine bekannte Geschichte, die durch seine Fantasie um eine Episode bereichert wurde. Wenn die Geschichte der Prüfung standhielt – selbst die ungewöhnlichsten Erzählungen müssen gewissen Regeln folgen – , machten sich die Geschichtenerzähler, beglückt über dieses Geschenk, daran, sie fein säuberlich in ihren Heften festzuhalten, und zwar mit der grünen Tinte, die aus dem Panzer eines bestimmten Käfers gewonnen wurde. Die Geschichtenerzähler besaßen kaum etwas, doch es fehlte ihnen an nichts und sie hatten die Freiheit zu gehen, wohin sie wollten. Alle anderen hingegen fürchteten sich vor einer Nacht im Wald. Wehe dem Reisenden, der nicht bei Tageslicht sein Ziel erreichte! Er musste sich auf den Bauch legen, mit der rechten Hand seine Amulette festhalten, die Augen schließen und durfte nicht auf die Gesänge der wilden Erdgeister hören.
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Das Mädchen aus dem Wald LUNED FÜRCHTETE die Dunkelheit nicht, denn sie war eine Geschichtenerzählerin. Selbst als sie noch ein kleines, ungelenkes, vergnügtes Mädchen gewesen war und in einem entlegenen Bergdorf tief im Wald gewohnt hatte, hatte ihr die Nacht keine Angst eingejagt. Ihr Dorf war so klein, dass es keinen Namen trug, und seine Bewohner besaßen nur das Allernötigste. Sie waren coloni, frei von der Leibeigenschaft, aber außer ihrer Freiheit gehörte ihnen so gut wie nichts. In winzigen Gärten bauten sie im Schutz der Bäume Zwiebeln, Rüben, Lauch und Rettiche an. Sie besaßen ein paar Schafe, mehrere Schweine, ein Gehege voller Hühner und ein gutes Dutzend Vieh. Im Winter holten sie die Kühe, Schafe, Schweine und Hühner über Nacht ins Haus. Ihr Atem bildete heiße Dampfwolken und ihre wohlriechenden Körper wärmten das Stroh, auf dem Menschen und Tiere schliefen. Für diese Bergbewohner waren das Kreuz und die Kirche wenig mehr als ein Gerücht. Eines Winters hatten sich zwei schwarz gekleidete Geistliche bei ihnen eingefunden, doch sie waren so erschöpft und durchgefroren, dass sie das Predigen bleiben ließen. Hustend und vom Schüttelfrost gepackt nahmen sie die Gastfreundschaft der Bergbewohner dankbar an, wärmten ihre blau gefrorenen, tauben Füße auf heißen, in ein Tuch gehüllten Steinen und tranken sich an Milch mit Honig satt. Eine alte, einsilbige Frau massierte ihnen die Frostbeulen an den Knöcheln mit einer Mischung aus dickem Schweineschmalz und Hühnerfett, bis ihnen warm wurde und sie die Zehen wieder bewegen konnten. Hustend und niesend murmelten die Fremden Stoßgebete vor sich hin, vom Fieber gepackt und zum Umfallen müde. 12
Zum Abschied schenkten die Dorfbewohner jedem von ihnen einen Käse und einen Laib Brot. Die Geistlichen hatten Angst, sich auf den zugeschneiten Wegen zu verirren. Doch vom Wunsch beseelt, in die Stadt zurückzukehren, aus der sie gekommen waren, verstauten sie den Proviant in ihren Taschen, erteilten in einer unbekannten Sprache den Segen und gingen davon. Hin und wieder kam ein fliegender Händler vorbei, ein pede pulvereo, so genannt wegen seiner Füße, die vom vielen Laufen staubig waren, und verkaufte ihnen Nadeln aus Knochen und Metall, Kupferkessel, Kittel, Säckchen mit funkelndem Salz aus einem Ort namens Salzburg sowie blaue Bänder für die Zöpfe der Mädchen. Luned kam im Frühherbst unter einer Tanne zur Welt, und da das Wetter gut und die Erde nicht gefroren war, richtete ihre Mutter sich ein großes Lager aus Laub ein, das rot war wie die untergehende Sonne. Sie wurde gegen Abend geboren, bei rotem Licht, auf dem roten Laub. Sie nannten sie Luned wie die Hofdame von Laudine in der Lieblingsgeschichte ihrer Großmutter. Luned wuchs zu einem schlanken, wagemutigen Mädchen heran, das selten weinte und keine Angst vor den Tieren und der Dunkelheit hatte. Sie fürchtete sich vor anderen Dingen: dem Zorn ihrer Mutter, die sehr heftig werden konnte, und der unbegreiflichen Grausamkeit mancher Kinder gegenüber Tieren. Und ihr graute vor dem Eingesperrtsein, das ihr Beklemmung verursachte, vor dem Winter mit seinem eisigen, unerbittlichen Weiß und vor Schmerzen, aber nicht vor der Nacht. Ungeachtet aller Strafen und Warnungen schlüpfte sie für gewöhnlich aus dem Bett, während ihre Eltern und ihr Bruder schliefen, und lief barfuß und nur im dünnen 13
Nachthemd in den Wald, der ihr Dorf umgab. Ihre bleiche Gestalt mit den bloßen, weißen Füßen im taunassen Gras glich einer Fee, die schwerelos von Baum zu Baum schwebte. Die verstohlenen Geräusche der Tiere, die vor ihr flüchteten, erschreckten sie nicht. Zerstreut verneigte sie sich vor den Göttern in der Nähe der Steineichen und legte ihnen manchmal als Zeichen ihrer Ergebenheit – oder wohl eher, weil sie vermutete, dass Gleichgültigkeit ein Vergehen war – einen Apfel oder ein kleines Stück Stoff aus dem Korb neben dem Webstuhl zu Füßen. Dagegen war sie beglückt über das schwache Leuchten zweier Pupillen, die inmitten des schwankenden schwarzen Laubwerks auftauchten, und über die winzigen Bewegungen der Insekten, die im Gras lebten. Der Wald war das Schloss und Luned die Königin. Die mit Fichtennadeln gepolsterten Wege waren die Flure, die zu dem bemoosten Stein führten, der ihr als Thron diente; die Stämme der Tannen und Ahornbäume waren die Säulen, auf denen der Baldachin ruhte, zwischen dessen Blättern die Sterne funkelten. Der Uhu war der Herold, der ihr Nahen verkündete; sein konzentrischer Blick und sein feierliches Rufen, das sie begleitete, entlockten ihr stets ein Lächeln. Wenn der Mond schien, holte sie zwischen den Wurzeln einer großen Eiche die Feen, Elfen und Zwerge hervor, die der Vater ihr aus Tannenholz geschnitzt hatte, und kletterte zum Spielen auf den Stein. Sonst kauerte sie sich mit weit aufgerissenen Augen ins Moos, in die undurchdringliche Finsternis gehüllt wie in eine vertraute Decke, wie in eines jener zerschlissenen Tücher, die die Kinder ihres Geruchs wegen lieben. Aufmerksam lauschte sie dem Quaken der Frösche und dem Geschrei, das 14
die Beute des Uhus von sich gab. Sie sah den Wolf vorbeikommen – manchmal allein, manchmal in Begleitung seines Weibchens – , gespenstisch in seinem grauweißen Fell mit den schmalen Beinen und dem kantigen Kopf. In ihrer Naivität glaubte sie, er sei der Hund des Waldes. Der Blick des Wolfes, die rötliche Glut seiner Pupillen flößte ihr keine Furcht ein. Neben dem Stein hob der Wolf ein Bein und markierte ihn mit einem schwachen Urinstrahl. Dann nahm er Witterung auf, kräuselte die spitze Schnauze und stieß ein langes Heulen aus. Es war ein schwermütiger Gesang und das Mädchen, das nicht wusste, dass der Wolf auch grausam sein konnte, saß mit baumelnden Beinen auf dem Stein, wandte das Gesicht dem schwarzen Himmel zu und stimmte in sein Geheul ein, um ihm Gesellschaft zu leisten. Wundersamerweise fürchtete Luned sich nur vor dem schrillen Schrei der Fledermaus. Wenn sie ihn hörte, konnte sie vor lauter Angst nicht stillhalten und brauchte Schutz. Dann versteckte sie sich rasch zwischen den Ästen ihrer Tanne und suchte Zuflucht in ihrer noch niedrigen Krone. Dieser Baum war noch sehr jung. Luned schlang ihre Arme um ihn und murmelte: »Hab mich lieb, hab mich lieb …« Dabei drückte sie die Wange an die raue Rinde und atmete den scharfen Geruch des Harzes ein. In ihren Armen spürte sie den schlanken, harten Körper des Baumes, strich mit den Händen über die Nadeln und beruhigte sich. Sie glaubte, der Baum beschütze sie vor der Fledermaus. Sie sprach mit der Tanne – und dem Uhu, den Fröschen, mit allem um sie herum – , bis ihre eigene Stimme sie einlullte und die Angst bezwungen war. Aber den Schlaf konnte sie nicht besiegen und Nacht für Nacht kehrte Luned in ihr Bett zurück, das sie mit Ronan, ihrem 15
Bruder, teilte. Wenn sie das Haus wieder betrat, roch es nach Brot und schlafenden Menschen. An der Feuerstelle erlosch allmählich die Glut und nur hie und da glomm noch ein roter Funke in der Asche. Lautlos legte Luned sich hin und deckte sich zu. Beim Einschlafen horchte sie auf die Atemzüge ihrer Familie, und am nächsten Morgen stellte sie die Geduld ihrer Mutter auf die Probe, wenn sie wach gerüttelt werden musste. Sie galt als unartiges und rebellisches Kind, wurde aber auch geliebt, weil sie sehr zärtlich war. Sie hatte etwas Wildes, das ihrem Vater gefiel, ihre Mutter jedoch erschreckte. Luned zu erziehen bedeutete für ihre Mutter Airmed, sie zu zähmen, ihr beizubringen, sich nicht wie eine Wilde auf die Erwachsenen zu stürzen, um sie zu umarmen, und ihr die Ausflüge abzugewöhnen, von denen sie regelmäßig mit Kratzern und Schürfwunden zurückkehrte. Wenn sie geahnt hätte, dass das Mädchen die Angewohnheit hatte, Schlangen ohne Furcht zu beobachten, und auch wusste, in welcher Höhle der Bär hauste, hätte sie sie hinter Schloss und Riegel gesperrt. Luneds Verwahrlosung war bereits Grund genug für Kummer: die ewig aufgelösten Zöpfe und der Rock voller Risse und Flecken. Ihre knochigen Knie, ihre Ellbogen und Fersen waren mit Narben und Schorf übersät. »Luned!«, rief Airmed. Sie stand in der Hütte neben der Wanne mit dampfendem Wasser, die einen Duft nach Kräutern verströmte. »Komm her, das Wasser wird kalt!« Sie packte das Mädchen heftiger als nötig, zog sie aus und manövrierte sie in die Wanne. Gegen ihren Willen gerührt beim Anblick der vorstehenden Rippen und des winzigen Rückens, auf dem sich ein Rosenkranz runder Wirbel abzeichnete, schrubbte sie sie mit einem ins heiße 16
Wasser getauchten Tuch ab, bis die Haut rot und sauber war. Luned ließ sich willig waschen und kämmen. Ihre Mutter tat, als sehe sie die Tränen nicht, die ihr über die Wangen liefen, wenn sie ihre mit Kratzern bedeckten Knie abschrubbte. Doch Airmed litt ebenfalls und schimpfte vor sich hin, wenn sie Luned Splitter aus den Fußsohlen zog, ihr das Haar entwirrte und Fichtennadeln, kleine Blätter und sogar Federn aus der seidenweichen Mähne entfernte. Luned lächelte, während ihre Mutter ihr das Haar mit einem beinernen Kamm kämmte und sorgfältig flocht, auch wenn das Ziepen eine plötzliche Wut in ihr weckte, die sie nur schwer kontrollieren konnte. Sie beherrschte sich aber und griff nur sanft nach dem Handgelenk ihrer Mutter, wenn das Ziepen unerträglich wurde. Dann lachte sie und erzählte die Einzelheiten eines Zanks zwischen zwei Eichhörnchen, bis ihr Bruder Ronan, klatsch-nass und in eine Decke gehüllt, ebenfalls lachte.
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Im Schatten der Tannen OBWOHL LUNED BEGRIFF, dass ihre Mutter sie gern um sich haben wollte, hielt sie es nur schwer in den vier Wänden ihres Zuhauses aus. Wenn sie sich auf ihrem Strohlager ausstreckte und die Decke anstarrte, hatte sie stets das Gefühl, die Hütte werde jeden Moment über ihr zusammenbrechen, und spürte einen dicken Kloß im Hals. Für Luned waren die Fenster zu klein, um den Tag hereinzulassen. Der Geruch nach Essen missfiel ihr und das Knistern des Feuers erschreckte sie, als wäre sie ein Spatz und kein Mensch. Sie hasste den Winter mit seinen eisigen Tagen, an denen sie notgedrungen zu Hause ausharren musste. Dann bekam sie taube Finger vom vielen Spinnen, ihre Zunge wurde wund vom Salz, das die Lebensmittel haltbar machte, und die Tage waren kurz und dunkel. Nachts konnte sie nicht hinaus und im Schnee herumstreunen. Sie verließ ihr Lager, um zwischen den Schafen zu schlafen, die ihr Vater ins Haus gesperrt hatte, und morgens wachte sie schlecht gelaunt und nach Schafskötel riechend zwischen ihnen auf. Tagsüber wagte sie sich gerade mal so weit hinaus, bis die Rauchsäulen des Dorfes aus ihrem Blickfeld verschwanden. Die Tiere verhungerten, die Pflanzen erfroren und von den Bäumen fiel das Laub ab wie von den Kadavern das Fleisch. Sie glichen schwarzen, nackten Skeletten, die sich unter der weißen Last des Schnees krümmten. Es war ihr Bruder Ronan, der ihrer Mutter half, den großen eisernen Haken am Kessel zu befestigen und an das Gestell über dem Herdfeuer zu hängen. Luned sah den beiden mit großen Augen dabei zu, die Hand auf dem Kopf des Hundes der Familie. Wenn Ronan und 18
Luned sich stritten, gewann ihr Bruder immer, wenn er sich den Flammen näherte und sie ohnmächtig aufheulte. Sie scheute das offene Feuer. Manchmal zerbarsten die brennenden Scheite und es stoben Funken. Dann lief Luned in den Wald, auch wenn ihre Mutter ihr drohte und sie mit Gewalt zurückzuhalten versuchte. Im Wald, wenn sie sich beruhigt hatte, betrachtete sie oft die winzigen Halbmonde, die die Fingernägel ihrer Mutter auf ihren Armen hinterlassen hatten, und versuchte zu verstehen, warum sie sie nicht hinauslassen wollte. »Komm, ich bringe dir das Nähen bei«, lockte Airmed verzweifelt, »schau mir am Webstuhl zu, Luned, komm, meine Kleine …« »Ja, Mutter«, erwiderte Luned abwesend und wandte lächelnd den Kopf ab, wenn draußen die Vögel zwitscherten, als riefen sie nach ihr. Ihre Mutter versuchte ihr beizubringen, die Risse in ihrem Kleid zu flicken und in einen Rahmen gespannte Stoffe zu besticken. Doch Luned kämmte lieber die Wolle. Airmed prüfte das Garn und schüttelte missbilligend den Kopf. Ihre Tochter sah ihr geduldig zu, die beinerne Spindel in der Hand. Bald trat sie jedoch von einem Bein aufs andere und lauerte auf einen günstigen Moment, um sich davonzuschleichen. Airmed sah in dem sanften Blick ihrer Tochter hauptsächlich Trägheit. Sie war faul und wollte nichts lernen. Luned begriff nicht, warum ihre Mutter ihr unbedingt das Spinnen und Färben der Wolle beibringen wollte und warum sie in einem Stück Stoff die Farben der Blumen nachahmen sollte, wo sie doch draußen im Wald viel kräftiger leuchteten und schöner waren. Sie hasste die schweren Holzpantinen, die ihr Vater ihr geschnitzt hatte, um ihre Sandalen vor dem Schlamm zu 19
schützen. Dabei war ihr Vater ebenfalls ein Teil des Waldes, denn dort arbeitete er. Er war ein hagerer, trotz seiner Jugend bereits ergrauter Mann, der von einer übernatürlichen Ruhe beseelt war. Schweigsam und gut gelaunt brachte er die Abende damit zu, aus einem Klumpen Lehm Spielzeug für seine Kinder zu formen. Oder er begann zu schnitzen und verwandelte einen Baumstumpf in eine geheimnisvolle, makellose Schar Tiere: Pferde, Eichhörnchen, Frösche, Hunde. Seine geschickten Hände erahnten in dem rohen Holz die perfekt proportionierten Formen dutzender Tiere. Und er roch nach Laub, nach Kiefer, nicht nach Öl und Rauch wie ihre Mutter. Häufig wartete Luned mit ihrem Bruder am Dorfrand auf die Rückkehr der Männer, um ihrem Vater ihre Abenteuer zu erzählen und ihn zu bitten, ihre Mutter zu überreden, sie draußen schlafen zu lassen. Geduldig lachte ihr Vater – und sein Lachen war kaum zu hören, so leise war es – über die Verrücktheiten seiner Tochter, strich ihr mit seinen schwieligen Holzfällerhänden übers Haar und nahm den kleinen Ronan auf den Arm. »Luned, Mädchen, zieh dir die Pantinen an«, sagte er. Luned umarmte ihn und redete unablässig auf ihn ein, bis ihre Mutter sie holen kam. Das Summen des Spinnrockens machte sie schläfrig und unruhig und sie versuchte bei der ersten Gelegenheit in den Wald zu entkommen. Denn sie hatte sich mit der ewigen Schelte und den ziependen Haaren abgefunden und war überzeugt, dass sie nur lächeln und alles still erdulden musste, damit ihre Mutter nicht länger mit ihr schimpfte. Außerdem stand ihre Großmutter auf ihrer Seite und mahnte ihre Tochter, nicht so streng zu ihrer Enkelin zu 20
sein. Nun, da sie alt war, verstand die Großmutter, dass Luned Recht hatte. Dass man im Leben so viel Zeit wie möglich im Wald und in der Sonne verbringen musste. Luned verabscheute den Tisch und die Teller. Sie aß lieber draußen, an einen Baumstamm gelehnt, und kletterte danach auf die höchsten Äste, auch wenn ihre Mutter sich immer über die Harzflecken auf ihrer Kleidung oder über ihre schwarzen, klebrigen Finger beklagte. Sie schnürte ihre Sandalen auf, zog sie aus, hängte sie sich um den Hals und kletterte nach oben, um die Welt von einer Baumkrone aus zu betrachten. Sie studierte die wundersame Architektur der Vogelnester, die Schlupfwinkel der Eichhörnchen und die Waben der Bienen. Zwischen den Zweigen pfiff und zwitscherte es, dort oben war die Luft kühler und voller köstlicher Düfte und die spitzen Wipfel wiegten sich wie Schiffe im Meer aus Luft. In die Arme einer Ulme gelehnt, sah Luned den davonziehenden Wolken nach und hatte das Gefühl zu reisen, ohne sich von der Stelle zu rühren. Das Wasser des Wildbachs war köstlicher als das aus dem Brunnen und die sauren Beeren schmeckten besser als Brot. Sie streichelte die Zeichen, die die Magier auf die Stämme der heiligen Steineichen gemalt hatten, und freute sich am Bimmeln der Tonglöckchen, wenn sie vorüberging. Sie liebte die Frösche im Weiher, die sich mit ihren durchscheinenden, klebrigen Händchen an ihren Zeigefinger klammerten. Ihre winzigen Körper pochten wie Herzen aus Smaragd. Die Frösche faszinierten sie: behände, grün wie Blätter mit einem gelben Streifen, ihre hervorquellenden Augen wie polierte Rubine, ihre winzige Schallblase, die sich rasch aufblähte und wieder abschwoll, ihr goldener 21
Bauch. Luned deutete die amphibische Natur der Frösche falsch und schrieb ihnen magische Fähigkeiten zu: In jedem Sprung sah sie den Ansatz zu einem Flug, aufgrund ihrer grünen Farbe hielt sie sie für Schösslinge der Bäume am Weiher, für Fische und für Vögel zugleich. Luned zog ihr Kleid aus und ließ sich ins Wasser gleiten, während die Fröschlein noch an ihren Fingern hingen, und nun war sie ebenfalls ein Frosch, lang und weiß. In ihrer Gesellschaft lernte sie schwimmen und tauchen und den gelben und grauen Fischen nachzuspionieren, die zwischen den Sonnenstrahlen hin und her huschten, die in dem grünlich dunklen Weiher Büscheln goldener Seidenfäden glichen. Das Gefühl der Schwerelosigkeit, das das Wasser ihr schenkte, war so herrlich, dass sie darin ganze Stunden zubrachte und sich vorstellte, sie schwebe in der Luft. Sie tauchte weiter nach unten und drehte sich in der Nähe des Bodens, der Algen, die flatterten wie Bänder aus Seide, um ihre eigene Achse. Es gab noch andere Frösche, eine große Art mit gelber Haut und schwarzen Flecken und dicken, muskulösen Schenkeln. Sie waren bei den Einwohnern ihres Dorfes sehr begehrt wegen ihres zarten Fleisches. Luned versuchte sich nicht allzu sehr mit ihnen anzufreunden. Eines Morgens ließen ein paar Jungs, unter ihnen Luneds Bruder Ronan, einen großen flachen Stein in einen Tümpel plumpsen, in dem sich hunderte von Kaulquappen und etliche Frösche tummelten. Luned hörte ihr Gelächter und lief zu ihnen. Als sie sah, was die Jungs angerichtet hatten, und den platt gedrückten Körper eines jener winzigen Frösche entdeckte, deren Fleisch nicht gut schmeckte, vergaß sie, dass sie nur ein kleines, einzelnes Mädchen und die anderen vier Jungs waren. 22
»Ihr Feiglinge! Euch werd ich’s zeigen!«, schrie sie und ging mit geballten Fäusten auf sie los. Denjenigen, der am lautesten lachte, zwang sie mit einem gezielten Kinnhaken zu Boden. Sie spürte einen stechenden Schmerz in den Fingerknöcheln und erschrak, als der Junge, ein zaundürrer, sehniger, dunkler Typ namens Ogier, wieder aufstand und sich auf sie stürzte. Als die fünf schließlich Hand in Hand ins Dorf zurückkehrten, blutete Luned aus der Nase und Ogiers Wangen waren zerkratzt. Der Mut des Mädchens und ihr Zorn hatten die Jungs überzeugt. Die armen Frösche. Die Jahre vergingen. Luned stellte fest, wie die Jahreszeiten Spuren an ihrem Körper hinterließen und sie wuchs und heranreifte wie ihre Tanne. Sie war schlank und stark und auf ungehobelte Weise hübsch. Ihr Blick war weich und täuschend träge. Ihre weit auseinander stehenden Augen glänzten stets unter den dicken, scheinbar schläfrigen Lidern. Sie hatte eine empfindliche Stupsnase und einen breiten Mund. Als sie größer wurde, begann sie mehr auf die geschnitzten Götter und ihren Tempel auf der Lichtung in der Nähe der Steineichen zu achten. Aber sie folgte keinem religiösen Impuls; diese länglichen, mit Hirschgeweihen geschmückten Gesichter aus vier schlichten Kerben waren Teil des Waldes und brachten irgendeine seiner Energien zum Ausdruck. Deshalb wischte Luned die Vogelexkremente ab, setzte ihnen eine Krone aus geflochtenen Margeriten auf und hielt die Lichtung von Unkraut frei. Ihre Mutter freute sich, dass Luned diese Pflichten übernahm, im Glauben, ihre Tochter sei von einer achtbaren Frömmigkeit erfüllt.
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Eines Nachmittags wurde Luned von einer seltsamen Verwirrung befallen, während sie mit teilnahmsloser Neugier von der Krone einer Esche aus ein Brautpaar beobachtete. Als der Mann die junge Frau küsste, empfand Luned eine eigenartige Freude, eine köstliche Unruhe, die dem Hunger ähnelte und doch anders war. Sie ahmte den Ruf des Kuckucks nach. Die junge Frau, ein dralles, hübsches Ding, löste sich von ihrem Verlobten und schaute sich um. Sie schien sich ein wenig über ihn zu ärgern und fand auch später nie heraus, weshalb der Gesang eines Vogels sie dermaßen beunruhigt hatte. Luned glitt am Baumstamm hinab und betrachtete sich verblüfft im Weiher, bis sie sich langweilte. Sie lernte die Hirsche mit Salzstückchen anzulocken, die sie aus Airmeds Vorratskammer stibitzte. Sie legte die Köder – die Salzbrocken funkelten wie Diamanten – auf einen Baumstamm und lauerte im Gras, bis die Hirsche lautlos herbeikamen, mit luftig-leichten Schritten. Stets auf der Hut, leckten sie das Salz auf, während das Mädchen die Luft anhielt und sie mit offenem Mund bestaunte: den gebogenen, schlanken Hals der Männchen mit dem gewaltigen Geweih, ihre breite Brust, die schwarze Schnauze, aus der feine Dampfschwaden aufstiegen, die die eisige Luft trübten. Am liebsten mochte sie die Hirschkälber ohne Geweih, ihr kohlschwarzes Fell mit den weißen Flecken, ihre zarten Ohrmuscheln. Die Hirsche nahmen die Salzstückchen mit der Zunge auf, rieben ihre Nase an den Baumstämmen und folgten dem mächtigen Männchen mit dem weit verzweigten Geweih. Wenn sie die Flucht ergriffen, lief Luned ihnen nach in dem sinnlosen Bestreben, sie einzuholen. Oft versteckte sie sich hinter einem Stein – der Wind 24
musste günstig stehen – und stürzte sich dann wie im Spiel auf einen kleinen, knapp einjährigen Frischling, der vor Energie und Temperament nur so strotzte. An den gedrungenen, kräftigen Körper des Tieres geklammert, wich sie geschickt seinen Bissen und Tritten aus, hängte sich an die fettigen, schwarzen Borsten auf seinem Rücken und versuchte auf ihm zu reiten. Seine Flanken voller verkrusteter Exkremente und getrocknetem Schlamm boten Luned keinen Halt und sie presste die Schenkel zusammen, als hinge ihr Leben daran. Der quiekende, erboste Frischling schleifte sie zwischen Sträuchern hindurch, so dass ihr Kleid bald in Fetzen an ihr herabhing. Sie kreischte glücklich, eingehüllt in den strengen Geruch des Tieres, der sich mit dem Duft des Waldes vermischte. Ihr wurde schwindlig und sie lachte, bis sie schließlich erschöpft losließ. Der Frischling warf ihr einen empörten Blick zu und trabte schnaubend davon. Später, als er zu einem gewitzten Wildschwein herangewachsen war, brach er ihr bei einem dieser turbulenten Spiele mit einem Tritt den Zeigefinger der linken Hand. Obwohl Airmed in lautes Jammern ausbrach, weinte Luned nicht. Sie wusste, dass sie Glück gehabt hatte: Die gelblichen, spitzen Hauer des Wildschweins hätten sie töten können. Außerdem war sie selbst schuld, hatte sie doch das Tier mit ihren respektlosen Spielen provoziert. Das Wildschwein wuchs heran und wurde größer und wilder als seine Geschwister. Bald würde es den Wald mit seinem Gebrüll erfüllen. Mit den Jahren würde es sich in den alten Dämon des Waldes verwandeln. Luned untersuchte die Exkremente, die Urinlachen und die Haarbüschel, die an den Ästen hingen; sie folgte den Spuren des Blutes und der Jagd. Neben die Tierka25
daver gekauert und von einer wirren Frömmigkeit erfüllt, betrachtete sie ohne Entsetzen und Widerwillen die halb aufgefressenen Körper der Opfer, die versteinerten Pupillen der von den Bären gerissenen Hirsche. Manchmal tauchte sie die Finger in den Urin der Wölfe und die Hunde wichen zurück, wenn sie ihn witterten. Ihre Mutter schnaubte vor Ungeduld, wenn sie ihre Tochter morgens auf der Decke tief schlafen sah wie eine Katze, mit zerrissener Kleidung und einer Gelöstheit, die sie fremd und eigenartig machte. Zwischen den lang gezogenen Lidern glänzte in einem feuchten Spalt das Weiß der Augen und die junge Brust hob sich schwer wie bei jemandem, der schläft wie ein Stein. Jeden Morgen hatte Luneds Kleid noch mehr Risse und Flecken. Airmed rüttelte sie mit Gewalt wach und scheuchte sie herum. Eher schlecht als recht stopfte Luned die Risse und nähte Flicken über die Löcher. Niedergeschlagen ließ sie den Schwall von Beschimpfungen und Vorwürfen über sich ergehen. Doch mit ihren Gedanken war sie im Wald. Sie machte die Erfahrung, dass im Wald auf jedes lebende Tier viele tote kamen. Sie weinte mit trotziger Resignation, als sie sah, wie die schlitzäugige Füchsin mit dem aufgebauschten Schwanz lächelnd ihre Jungen mit dem Hasen fütterte, der der zutraulichste von allen gewesen war und Luned sogar aus der Hand gefressen hatte. Sie begrub Vogeljunge, die aus dem Nest gefallen waren, mit durchscheinender Haut, noch ohne Gefieder, mit blauen, aufgequollenen Augen, bereits von Ameisen bedeckt. Ihre Mutter war verzweifelt: Luned stand mit Spindel und Spinnrocken auf Kriegsfuß. Der Faden, den sie spann, war dick und ungleichmäßig, sie konnte nicht kochen, und wenn sie webte, war das Ergebnis fast immer ein Stück Stoff voller Löcher und Knoten. 26
Aber Luned verdiente sich ihren Lebensunterhalt, genau wie alle anderen: Sie bestellte den kleinen Garten der Familie und sammelte Heilkräuter für die Hebamme des Dorfes, eine schlanke, spröde Frau namens Fedelm. Fedelm unterhielt sich gern mit Luned über die Eigenschaften der Pflanzen. Sie brauchte ihr eine Pflanze nur ein einziges Mal zu beschreiben, da brachte Luned ihr bereits am folgenden Tag ganze Bündel davon, eingeschlagen in ein altes Stück Stoff. Arzneien, Salben, Gewürze – all das bereitete Fedelm in ihrer Küche dank Luned und deren Vertrautheit mit dem Wald zu. Fedelm lobte das Mädchen in den höchsten Tönen. Luned war großzügig und teilte mit jedem, der es wollte, Pilze, Walderdbeeren, Honig oder was immer sie nach Hause brachte. Stets hatte sie einen Waldapfel, Heu oder einen Blumenstrauß für die Leute im Dorf. Genügsam, wie diese nun einmal waren, wussten sie ihre Geschenke sehr zu schätzen. Wenn jemand krank wurde, machte Luned sich auf die Suche nach Tollkirsche, Eisenhut und Baldrian. Sie sammelte ganze Arm voll Hopfen für das Bier der Männer und lernte, wie man mit einer einfachen brennenden, rauchenden Binse den Bienen Waben voller Honig stibitzte. Manchmal beugte sie sich über eine Blume, über der eine Biene summte, zerdrückte das Insekt zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sich den süßen Honig aus seinem Körper schmecken. Sie wusste, in welchem Teil des Bachs sich die Forellen versteckten, wo die Fasanen ihre Nester hatten und wann die wilden Äpfel reif waren, diese kleinen, duftenden Früchte, die den Durst für Stunden löschten. Sie brachte frisches Eisenkraut und Veilchen mit nach Hause und streute sie auf den Boden; wenn man darauf 27
trat, erfüllte der Duft der Blumen den Raum und machte ihr das Eingesperrtsein erträglicher. Es war die Hebamme, die mit Luned zum ersten Mal über die Magie, die Elfen und die Gefahren sprach, die im Wald auf junge Mädchen lauerten. Luned hörte zu, ohne ein Wort zu glauben, aber zufrieden über die Anerkennung der stets strengen Fedelm. Diese erzählte ihr auf schlichte, schmucklose Weise einige Sagen, die das junge Mädchen mit Staunen erfüllten. Die immer neugierige Luned wollte mehr wissen, aber Fedelm kannte keine weiteren Geschichten, nur zwei Lieder, die sie mit rauer Stimme halb erzählte, halb sang. Aus diesen langen Unterhaltungen, die stattfanden, während beide außerhalb des Dorfes auf einem Baumstumpf saßen und auf den Sonnenuntergang warteten, entwickelte sich eine Freundschaft, die Airmed einigermaßen beruhigte. Fedelm sprach mit ihr über ihre Tochter und überzeugte sie davon, wie wichtig es war, dass jemand aus dem Dorf den Wald in- und auswendig kannte. »Das Mädchen ist schlau«, sagte sie zu Airmed. »Lass sie. Schlag sie nicht.« Außerdem flocht Luned die vollkommensten Weidenkörbe und die leichtesten Schilfmatten. Ihre schwieligen, mit Narben bedeckten Finger waren zwar ungeschickt im Umgang mit Spindel und Spinnrocken, bewegten sich jedoch flink, wenn sie die Binsen flochten und den tadellosen Bau der Vogelnester nachahmten. Unter einer einzigen Bedingung arbeitete Luned den ganzen Tag: Es musste im Freien sein, außerhalb der bedrückenden vier Wände ihres Zuhauses. Ihre Mutter fragte sich, wie sie Luned an den Webstuhl locken und sich zur Gefährtin machen konnte. Sie 28
wünschte sich, ihre Tochter möge eine Frau wie sie selbst werden, ihr Enkel schenken und damit die beruhigende Gewissheit der Kontinuität. Sie wusste nicht, womit das eigenwillige Mädchen seine Zeit verbrachte, das sich im Haus benahm wie ein verirrter Spatz, der voller Panik an die Wände der Hütte prallte, bevor er den Ausgang fand. Genauso prallten sie und ihre Tochter zusammen. Sie wusste nicht, dass Luned das Wildschwein in der Brunstzeit fürchten gelernt hatte, wenn es streitsüchtig durch den Wald lief und seine Hauer mit grünlichem Schaum bedeckt waren. Luned hatte gesehen, wie es – nun ein Ungeheuer, das blind war vor Zorn und Liebe – die Stämme der Eschen stark verletzt und sie ohne Rinde und voller Kerben zurückgelassen hatte. Die Oberfläche unzähliger Eschen war aufgescheuert und mit faserigen, roten Wunden überzogen, aus denen Harz floss. Airmed wusste nicht, dass ihre Tochter kein Kind mehr war seit dem Morgen, als sie ein totes Bärenjunges in einer Falle entdeckt hatte. Bei dem Versuch, sich zu befreien, hatte das Bärenjunge seine von den Zähnen der Falle zerquetschte Tatze beinahe durchgebissen und war verblutet. Luned legte sich den schweren, rührenden Kopf des Bärenjungen in den Schoß und drückte ihm die Augen zu. Sie weinte stundenlang und streichelte dabei über das schwarze, samtweiche Fell. Noch nie war sie so bestürzt gewesen, dabei hatte sie schon viele von Menschenhand getötete Tiere gesehen. Von diesem Tag an machte sie es sich zur Aufgabe, die von den Jägern aufgestellten Fallen mit einem Ast zuspringen zu lassen, die Gruben mit den spitzen Pfählen ausfindig zu machen und diese mit einem Stein stumpf zu schlagen sowie die Fangschlingen aufzuknoten, die den Mardern und Hermelinen die Beine brachen. 29
Die Arbeit anderer Jäger respektierte sie: Nie rührte sie die Körbe an, die die Männer ihres Dorfes für die Turteltauben aufgehängt hatten, oder die Netze, die für die Forellen und Neunaugen bestimmt waren. Sie sah, wie die Salzhändler ihre Pfeile auf Enten und Fasane abschossen, wie die Fuhrmänner Frischlingen und Hasen das Fell abzogen; dann wandte sie sich nur traurig ab, ließ den Kopf hängen und suchte Zuflucht bei dem vertrauten Duft ihrer Tanne. Sie aß ohne jedes Zögern das Fleisch, das ihr Vater nach Hause brachte. Aber diejenigen, die Tiere wegen ihres Fells töteten – die hasste sie. Es war ihr Wald. Sie kannte jeden Baum, jede einzelne Ulme, Birke, Kiefer, Tanne, Stechpalme und Kastanie. Der Stein, auf den Luned sich nachts hingelegt hatte, diente ihr nun als Stuhl. Ihre Tanne war doppelt so groß wie sie selbst und jede neue Nadel an ihr erfüllte sie mit Freude. Die Tanne war zu einer lebenden Skulptur geworden. Sie hatte kegelförmige Zapfen bekommen, die aufgerichtet wie dicke, duftende Kerzen auf ihren Ästen saßen. Luned schmückte sie mit farbigen Bändern und hängte ihre Spielsachen an die Äste, die wunderschönen Tiere, die ihr Vater für sie geschnitzt hatte. Luned konnte singen wie der Kuckuck und der Diestelfink und hatte keine Angst mehr vor der Fledermaus. Sie trug immer eine Schleuder und einen kleinen Beutel voller Kiesel am Gürtel und übte so lange, bis sie aus großer Entfernung einen Tonkrug zerschießen konnte. Ohne Zögern machte sie von dieser Fertigkeit Gebrauch, wenn die Fallensteller sie wütend machten. Verunsichert suchten die Jäger sich lieber andere Reviere. Sie fürchteten die Elfen und glaubten, die un30
brauchbar gemachten Fallen seien Zeichen dafür, dass die Herrscher dieses tiefen, weitläufigen Waldes ihnen zürnten. In diesen Jahren verspürte Luned nie die Gegenwart von etwas Übernatürlichem. Das unergründliche Leben, das, so ahnte sie, unter ihren Fußsohlen pochte und um die Wurzeln zirkulierte – diese verästelten Wunderwerke, diese unterirdischen Spiegelbilder der Bäume – , das die Schlupfwinkel der Maulwürfe und die winzigen Tunnel der Würmer belebte, bildete die Basis für das Leben auf der Erdoberfläche. Und gelangte in die Luft in Form von Blütenstaub, Löwenzahnsamen, Vögeln und deren Gesang. Dieses Leben war es, das Luned spüren konnte und mit dem sie in Form von Wasser, Honig, Harz und Blut in Berührung kam. Sie kannte keine Sagen außer denen, die die Hebamme ihr erzählt hatte – unvollständig und den Warnungen ihrer Mutter ähnlich. Für Luned waren es lediglich Geschichten und nur deshalb interessant, weil sie von Elfen handelten, diesen Fabelwesen, an die nur die Menschen glaubten, die über den Wald nicht so viel wussten wie sie selbst. Sie konnte sich nichts Fantastischeres vorstellen als ein hängendes Nest – so vortrefflich gebaut wie ein gut gewebter Beutel – voller piepender Vogelkinder mit aufgerissenem Schnabel und so feinem Flaum wie dem des Löwenzahns; nichts Faszinierenderes als äsende Hirsche mit Geweihen voller Moos, in dem Tautropfen hingen; nichts Aufregenderes als den Wolf mit seinem rauen Fell oder die winzige Vorratskammer des Eichhörnchens. Ihre eigene Existenz war Teil des bunten, vielschichtigen Lebens im Wald. Sie war glücklich, während sie dies fern von allen anderen Menschen herausfand. 31
Nie hätte sie einen Beruf erlernt, der ihr gefiel, wenn nicht ein Geschichtenerzähler in ihr Dorf gekommen wäre, als sie vierzehn Jahre alt war.
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Demne, der Geschichtenerzähler DIE DÖRFER verwandelten sich, wenn ein Geschichtenerzähler eintraf. Die Bewohner hängten Laternen an die Äste der Bäume und entfachten große Feuer. Die Mädchen gossen Öl in Schälchen und legten lange Dochte hinein, zündeten sie an und stellten diese Lichter um den Stuhl des Geschichtenerzählers herum auf. Die Wachssiegel der Weinkrüge wurden aufgebrochen und die Frauen rösteten Brot in großen Pfannen. An solchen Abenden blieben alle wach und schmausten, bis der Fremde seine Geschichten zu Ende erzählt hatte; es war Brauch, den neuen Tag mit der Sage vom Ursprung der Welt zu begrüßen. Luned entdeckte den Geschichtenerzähler vor allen anderen, als er noch einen halben Tagesmarsch vom Dorf entfernt war. Sie hörte das schwache Bimmeln der Glöckchen, wurde unruhig und pirschte sich zwischen den Büschen hindurch geräuschlos an ihn heran, geduckt und mit zusammengerafftem Rock. Hinter einer Stechpalme versteckt, musterte sie ihn, konnte sich jedoch nicht erklären, welcher Tätigkeit der Mann nachging. Er lief neben einem Maultier her, das einen Karren zog, und trällerte fröhlich vor sich hin. Wie ein Jäger sah er nicht aus – er hatte keinen Bogen und keine Netze bei sich – und hatte auch keine Schwielen an den Händen wie die Holzfäller. Der Mann trug exotische, rot eingefärbte Stiefel aus Saffianleder und die Plane seines Karrens war mit Halbmonden und Sonnen bestickt. Er sah auch nicht aus wie ein fliegender Händler. Er musste auf der Durchreise sein, ein Reisender. ›Er kommt aus anderen Wäldern!‹, sagte Luned sich. Ihre Neugier war groß. 33
Am Zaumzeug des Maultiers hingen Tonglöckchen wie die an den heiligen Steineichen. Luned folgte dem Fremden erfreut. Das dunkle, schon leicht ergraute Haar fiel ihm in die hohe, gewölbte Stirn. Er trug einen kurzen, gepflegten grauen Bart. Eine kleine Narbe überzog seine Nasenwurzel und um seine dunklen, leicht schrägen Augen hatten sich ein paar Falten gebildet. Er musste um die vierzig sein und hatte den regelmäßigen Schritt eines Mannes, der es gewohnt war, durch den Wald zu reisen. Auf einmal drehte er sich zu ihr um und sagte laut und deutlich: »Elf oder Mensch, zeig dich, damit wir uns ein wenig Wasser teilen.« Der Mann hielt einen Krug über den Kopf. Luned verspürte eine seltsame Schwäche in den Beinen. Hatte er mit ihr gesprochen? Hatte er sie gehört? Wie war es möglich, dass der Mann ihre Gegenwart bemerkt hatte, wo sie es doch verstand, sich lautlos an die Hirsche heranzupirschen? Die Neugier verlieh ihr Mut und sie trat zwischen den Büschen hervor. Demne, der Geschichtenerzähler, lächelte bei ihrem Anblick. Vor ihm stand ein Mädchen mit langem, wirrem, kastanienbraunem Haar und weit auseinander stehenden, mandelförmigen Augen. Ihr graues Kleid aus gewöhnlichem, grobem Stoff war voller Harzund Grasflecken sowie roter Punkte vom Saft der Brombeeren. An ihrer Stupsnase hing eine Spinnwebe. Ihre Wangen und ihre breite Stirn waren mit einem glänzenden Schweißfilm überzogen. Demne dachte: ›So muss eine Fee aussehen‹, und stellte sie sich mit Blumenkrone und silbrigem Umhang vor. Die Füße des Mädchens waren lang und schmal; dies 34
war trotz des Schlamms und der Krusten aus trockenem Lehm zu erkennen, mit denen sie überzogen waren. Sie lächelte und zeigte dabei eine Reihe von weißen, regelmäßigen Zähnen. Demne hielt ihr den Krug hin und sie ergriff ihn, machte jedoch keine Anstalten, daraus zu trinken. »Wer bist du?«, fragte sie mit dem Krug in der Hand und leicht zur Seite geneigtem Kopf neugierig. »Und warum hast du ›Elf oder Mensch‹ gesagt? Hast du schon mal einen Elf gesehen?« Demne lachte. »Nein, ich habe nur welche singen hören. Aber das ist schon Jahre her.« »Weißt du noch, was sie gesungen haben?«, fragte Luned aufgeregt. »Nein. Es waren andere Stimmen als unsere«, erwiderte der Geschichtenerzähler und zuckte die Schultern. »Aber ich kenne ein Lied. Hör zu: Bei des Feuers mattem Flimmern Geister, Elfen, stellt euch ein! Tanzet in den bunten Zimmern Manchen leichten Ringelreihn! Singt nach meiner Lieder Weise! Singet! hüpfet! lose! leise!« Demnes Stimme war leis und zart. Luned lachte, als der Fremde sich am Ende mit gespielter Feierlichkeit vor ihr verbeugte. »Kennst du noch eins? Bitte sing noch ein bisschen!«, rief sie. Demne verschränkte die Hände und schaute sie an. Die Bitte klang so begeistert, dass er weitersang, auch 35
wenn er sich in dieser ungewöhnlichen Situation ein wenig lächerlich vorkam: »Elfen, sprengt durchs ganze Haus Tropfen heil’gen Wiesentaus! Jedes Zimmer, jeden Saal Weiht und segnet allzumal! Friede sei in diesem Schloss, Und sein Herr ein Glücksgenoss! Nun genug! Fort im Sprung! Trefft mich mit der Dämmerung!« »Das ist das schönste Lied, das ich je gehört habe!«, rief Luned aus. »Wo hast du es gelernt?« »In einer Stadt namens Corberic. Sie ist ungefähr zwanzig Tagesmärsche von hier entfernt.« »Zwanzig Tagesmärsche? So weit fort?«, fragte Luned mit großen Augen. »Und das nur bei gutem Wetter«, sagte Demne lächelnd. »Das weiß ich, weil ich dort geboren wurde. Ich bereise diesen Teil der Welt mit meinem Maultier. Und du, wie heißt du?« »Luned. Und du?« »Demne. Ich bin Geschichtenerzähler. Warum klettern wir nicht beide auf den Kutschbock und ich bringe dich ins Dorf? Es kann nicht mehr weit sein«, sagte er mit Blick auf ihre bloßen Füße. Demne kletterte zuerst auf den Wagen und reichte ihr die Hand. Als er ihre eisigen Finger berührte, verspürte er einen köstlichen Schauder. Sie glich wirklich einer Fee. 36
Sie unterhielten sich wie alte Bekannte. Bald begriff Demne, dass das Mädchen genauso viel wie er über den Wald wusste oder sogar noch mehr. Sie konnte sich bestens orientieren und jedes Mal, wenn sie das Zwitschern eines Vogels hörte, nannte sie ohne Zögern seinen Namen. Unter einer riesigen Linde machten sie Halt. Demne pflückte Blumen, deren Knospen kleinen Holzknöpfen ähnelten, während Luned behände wie ein Eichhörnchen den Stamm hinaufkletterte. Oben angelangt, hockte sie sich rittlings auf einen Ast und schüttelte ihn so lange, bis ein Blütenregen auf den Geschichtenerzähler niederging. Demne schaute nach oben, und als er die braun gebrannten Waden des Mädchens und ihre Fußsohlen voller Hornhaut erblickte, die wie Früchte über seinem Kopf hingen, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Als sie das Dorf erreichten, wurden sie von den Bewohnern bereits erwartet. Doch die großen und kleinen Kinder wussten nicht, worum es bei den Vorbereitungen ging, denn seit fast zwanzig Jahren hatte in diesem Dorf kein Geschichtenerzähler mehr Halt gemacht. Ein Junge namens Aliki, ein Leckermaul, hatte ein Schwein in den Wald geführt, um Pilze zu suchen. Dabei entdeckte er den bunten Karren mit Demne und Luned, die gerade schallend lachten, und das mit weißen Glöckchen geschmückte Maultier. Er rannte mit dem unwillig grunzenden Schwein im Schlepptau ins Dorf zurück, um es weiterzuerzählen und den ungewöhnlichen Karren zu beschreiben. Zur Überraschung aller sprang Fedelm, die einsilbige Hebamme, vor Freude in die Luft und schrie: »Ein Geschichtenerzähler kommt uns besuchen!« Zusammen mit den Frauen ihres Alters organisierte sie das Fest und die Kinder und Halbwüchsigen sahen 37
quietschvergnügt und sichtlich mit Freude zu. Nach und nach kamen die Männer aus dem Wald und den Gärten zurück und halfen bei den Vorbereitungen mit. Die Alten kramten in ihrem Gedächtnis nach den Namen der Geschichten, die sie hören wollten. Die Jungen sperrten die Schweine und Schafe in die Ställe und die Hühner und Küken ins Haus, sodass alles für den Empfang bereit war, als der Karren am Dorfrand auftauchte. Jahre später sollte Luned sagen, dass dieser Einzug ins Dorf entscheidend dazu beigetragen hatte, dass sie Geschichtenerzählerin wurde: Das fröhliche Dorf, das erleuchtet war wie ein Baum voller Glühwürmchen, die freudigen, erwartungsvollen Gesichter, die lachenden Kinder, die auf die bestickte Wagenplane zeigten, der Duft von gebratenem Mehl, der für den Geschichtenerzähler vorbereitete Stuhl … An diesem Abend erschöpfte Demne sein Repertoire. Als er auf dem für ihn bereitgestellten Stuhl saß und zu erzählen begann, verwandelte er sich: Seine Miene wurde feierlich, ohne dass in seinem Gesicht eine Spur von Überheblichkeit zu entdecken gewesen wäre. Ehrfurcht und Staunen kennzeichneten die Art und Weise, in der er die alten Geschichten darbot. ›Er ist wie ein König, der König der Geschichten‹, dachte Luned, während sie beobachtete, wie er mit seiner zutiefst menschlichen Magie die Zuhörer in seinen Bann schlug. Und tatsächlich wurde das ganze Dorf von dem Zauber erfasst: Die Kinder, denen vor Erschöpfung die Augen zufielen, träumten alle von Merlin, dem großen Magier aus Britannien, der in einer Höhle mit Einhörnern schlief, sie träumten von der Feenkönigin und Beowulfs schrecklicher Geschichte. Demne sang die Heldenepen aus dem Widsith. Die Holzfäller applaudierten und die Frauen hielten sich den 38
Schürzenzipfel vor den Mund. Luned lauschte fast in Trance, die gefalteten Hände im Schoß, den Mund leicht geöffnet und mit einem Ausdruck kindlichen Erstaunens. Im grünen Licht der Magie entrollte sich in ihrem Kopf der bunte Teppich der Sagen. Schauplatz war natürlich immer der Wald. Dort lebte Merlin – und Luned bemerkte in seinem Namen deutlich das Echo eines Vogelgezwitschers – , als er verrückt wurde; dort wurde Parzival geboren und dort lauerte Grendel, das Ungeheuer. Die Feen und Elfen waren die Mütter und Väter der Bäume, die sie so leidenschaftlich liebte. Die Holzfäller spielten auf ihren Trommeln und Rohrflöten und Demne holte seine Zither aus einem wunderschön bemalten Holzkoffer und band sich eine Schnur mit Schellen um jeden Stiefel. Dann steckte er sich kleine Rasseln aus Bronze auf Zeigefinger und Daumen der linken Hand. Das Geschichtenerzählen ging in Musik und Tanz über. Alle Mädchen des Dorfes tanzten nacheinander mit dem Geschichtenerzähler. Als Demne auf Luned zuging, um sie aufzufordern – mit der gleichen tiefen Verbeugung und der gespielten Feierlichkeit wie bei ihrer ersten Unterhaltung – , prustete diese los. Ogier, der neben ihr stand, lachte ebenfalls. Demne und Luned tanzten in perfekter Harmonie, als hätten sie das schon oft getan. Der Geschichtenerzähler spürte an seinen Händen die rauen Schwielen auf Luneds Handflächen und war gerührt. Beide hatten das Gefühl, sich schon lange zu kennen, und dieser Tanz war eine Begegnung alter Freunde, wenn auch auf unbekanntem Terrain. Dabei war Luned nur wenige Meter von der Tanzfläche entfernt zur Welt gekommen, unter der Tanne, dem Lieblingsbaum ihrer Mutter. 39
Luned wunderte sich über Airmeds freudige Miene – ihre Mutter ließ sie beide nicht aus den Augen – und lächelte Demne voller Zuneigung und Dankbarkeit zu. Ohne Erklärungen, allein durch seine Freundschaft und Ehrerbietung hatte der Geschichtenerzähler ihrer Mutter viele Dinge über ihre Tochter verständlich gemacht. »Weißt du«, sagte Luned, »Fedelm hat mir einmal ein paar Geschichten erzählt. Ich habe sie nicht geglaubt. Aber die Lieder, die du uns vorgesungen hast, sind so schön, dass ich jetzt an das Waldvolk glaube und daran, dass du erwählt wurdest, um den Menschen von ihm zu erzählen.« »Ich habe sie gehört, das schwöre ich dir. Und ich habe von weitem das grüne, kalte Feuer gesehen, das ihre Festtafeln erleuchtet. Ich fürchte mich vor ihnen und gleichzeitig liebe ich sie. Die Nacht, in der ich die Irrlichter wie grüne Laternen habe flackern sehen, habe ich vor Angst geschlottert, aber als es Tag wurde, war ich traurig, weil ich wusste, dass ich sie nie mehr sehen würde.« Das Mädchen hörte dem Geschichtenerzähler ehrfürchtig und nachdenklich zu. Sie tanzten weiter, bis die Dorfbewohner ihn überredeten, noch eine Geschichte zu erzählen. Nachdem Demne im zartlila Licht des Morgengrauens die Geschichte vom Ursprung der Welt zu Gehör gebracht hatte (fast das ganze Dorf schlief, außer einigen Frauen, die die Lampen ausbliesen und die Pfannen und Töpfe abräumten), erzählte er Luned von der Stadt. Und von der Schule für Geschichtenerzähler innerhalb der alten – und gut erhaltenen, wie er stolz hervorhob – römischen Stadtmauer. »Komm mit mir, Luned, dann kannst du all die Geschichten und Lieder lernen, die du heute gehört hast. In 40
Corberic gibt es Überreste eines Amphitheaters und samstags kommen Händler aus den umliegenden Dörfern und verkaufen ihre Tiere, Früchte und Stoffe auf dem Markt. Komm mit mir und bring mir bei, was du über den Wald weißt.« Die Geschichten von Elfen und Feen hatten Luned die Augen über das geheime Leben ihres geliebten Waldes geöffnet. Die Vorstellung, andere Wege zu gehen und unter anderen Himmeln zu schlafen, war die schönste, die sie sich denken konnte. Sie willigte ein. »Nimm mich mit, damit ich andere Wälder kennen lerne und die Geschichten hören kann. Ich kann nicht weben und kochen, aber ich weiß immer, wo es im Wald etwas zu essen gibt und wie man Matten flicht, die uns vor dem Regen schützen. Nimm mich mit.« »Ich werde mit deinen Eltern sprechen und ihnen schwören, dass meine Absichten redlich sind. Ich werde dich bezahlen und so kannst du dir eine Aussteuer zulegen.« Bei der Erwähnung der Aussteuer kam Demne sich wie ein Heuchler und Scharlatan vor, denn er wollte Luned vom ersten Moment an zur Ehefrau haben, mit oder ohne Aussteuer, ob sie nun Geschichtenerzählerin, Holzfällerin oder einfach ein wildes Waldmädchen war. »In meinem Haus wird es dir an nichts fehlen.« Stürmisch umarmte Luned den Geschichtenerzähler und küsste ihn auf beide Wangen. Demne seufzte und eine der Frauen in der Nähe lachte schallend. An diesem Abend sprach Demne mit Luneds Eltern. Sie willigten ein unter der Bedingung, dass ihre Tochter sie mindestens alle drei Jahre besuchte. Airmed tat sich schwer. Was würde in der Ferne aus ihrer Tochter werden, die sowieso schon eigenartig war? Aber ihr Ehemann und die Gewissensbisse, die sie insge41
heim plagten, wenn sie wieder einmal ungeduldig mit Luned gewesen war, überzeugten sie von der Richtigkeit der Entscheidung. Ihr Ehemann war die ewigen Reibereien zwischen Mutter und Tochter leid und mit der erstaunlichen, ihm eigenen Ruhe versicherte er seiner Frau, ihrer Tochter werde nichts Böses zustoßen. Denn Airmeds Erwartungen würden sich nicht erfüllen: Nie würde ihre Tochter vor den anderen Frauen des Dorfes einen schönen, von ihr selbst gewebten wollenen Umhang oder eine ansehnliche Stickerei ausbreiten oder wenigstens mit einer achtbaren Verlobung aufwarten. Deshalb würde Airmed sich mit der seltsamen Ehre zufrieden geben müssen, dass ihre Tochter bei einem Geschichtenerzähler in die Lehre ging. An den folgenden drei Tagen machte Airmed sich daran, die Kleidung ihrer Tochter zu flicken und ihr Ratschläge zu geben. In der Zwischenzeit kurierte Demne die Druckstellen seines Maultiers und deckte sich mit Futter und Salz ein. Luneds Großmutter weinte. Sie hatte Angst zu sterben, ohne vorher ihre Enkelin, die sie an ein kleines Tier aus dem Wald erinnerte, wieder zu sehen. Luneds vorletzten Abend im Dorf verbrachten sie zusammen. Ihre Großmutter lächelte tapfer. »Geh in die Welt hinaus, Luned. Komm zurück und bring uns Geschichten und erzähl mir von den anderen Wäldern und der Stadt. Aber komm zurück. Damit ich dich noch einmal sehen kann.« Luned nickte, die zerbrechliche Hand ihrer Großmutter fest umschlossen. Als sie ihr einen Kuss in ihr feines Haar drückte und es auf ihren Lippen spürte, schwor sie sich, zurückzukehren und sie glücklich zu machen.
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Luned nahm wenig mit: ihre Kleider und ihre Schürze, die verhassten Holzpantinen, einen Umhang mit Kapuze und beinerner Schließe, der ihrer Mutter gehört hatte, sowie ein Töpfchen mit in Honig und Thymian eingelegten Erdbeeren. Ihre Steinschleuder schenkte sie Ronan. In den letzten drei Nächten schlich sie sich aus dem Haus zu ihrem geheimen Ort im Wald, um sich von ihrer Tanne zu verabschieden, ihrem über alles geliebten Baum. Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie die raue Rinde küsste. Sie umarmte ihn so fest, dass sie sich beide Wangen zerkratzte. Schließlich schnitt sie sich eine Haarsträhne ab, flocht sie und band sie um den Baumstamm. »Ich komme wieder. Wachs schön weiter und schenk deine Krone einer Nachtigall. Leb wohl«, schluchzte sie in der letzten Nacht. Sie erwies den Göttergestalten ihre Ehrerbietung, indem sie ihnen ein Körbchen mit Wachteleiern zu Füßen stellte. Dann rieb sie ihre Münder (es waren kaum mehr als grobe Andeutungen, die in die länglichen Gesichter geschnitzt waren) mit ein wenig Honig ein und kniete nieder. »Ich danke euch und werde euch immer dienen«, murmelte sie leise vor sich hin. Demne verstaute Luneds Habseligkeiten im Karren, stieg auf und half ihr dann frohgemut auf den Kutschbock hinauf. Luned nahm mit schamhafter, bescheidener Miene neben ihm Platz. Die sie gut kannten, lachten über ihr Verhalten. Ihre Eltern verabschiedeten sich von ihr, als sei sie eine Braut; ihre Mutter trocknete sich die Tränen mit dem Schürzenzipfel und ihr Vater gab dem Geschichtenerzähler gute Ratschläge. 43
Sie war hübsch zurechtgemacht, die Wangen rot vom heißen Wasser, das Haar mit Haselnussöl eingefettet, glatt gekämmt und glänzend. Sie fühlte sich unwohl mit den Zöpfen, die wie eine Krone um ihren Kopf gerollt waren, und der Bluse mit den bestickten Ärmeln. Aber ihre Mutter hatte darauf bestanden und Luned war nicht gegen sie angekommen. Es gab Geschrei, Umarmungen, Tränen, Segenssprüche und sogar einen etwas unanständigen Witz, dem Ogier mit einem zornigen Blick Einhalt gebot. Zusammen brachen sie auf, genau wie sie eingetroffen waren. So kam es, dass Demne aus Corberic Luned zu sich in die Lehre nahm.
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Unterwegs nach Corberic AUF DER REISE nach Corberic lernte Luned viele ihr bisher unbekannte Freuden kennen. In den Nächten ohne Regen schliefen Demne und sie unter freiem Himmel neben einem mit runden Steinen gesicherten Feuer. Demne stimmte die Lieder jenes Nachmittags an, an dem sie sich kennen gelernt hatten. Doch Luned wurde alsbald vom Schlaf überwältigt. Dabei hatte sie gehofft, im Unterholz die smaragdgrünen Fackeln der Elfen zu sehen oder ihre Gesänge zu hören. Jeder Tag bescherte ihr etwas Neues: alte Geschichten, die Demne ihr erzählte, den Anblick einer Herde weißer, wie Wolken aufgeplusterter Schafe tief unten in einem Tal, das Anfassen eines Glases, das ein Händler mit sich führte, den Anblick von Juwelen, die den Hals einer reichen jungen Frau schmückten, eine Tasse süßen Wein, den sie mit einer betagten Heilerin teilte. Einmal besichtigten sie die Ruinen eines alten römischen Sanatoriums; dort staunte Luned über die aus kleinen bunten Steinen zusammengesetzten Fische, die den Grund des ehemaligen Schwimmbades bewohnten, als wären sie quicklebendig. Die Wege gabelten sich wie die Arme eines weit verzweigten Baumes und Luned entdeckte ihre Liebe zum Reisen. Unterdessen entdeckte Demne seine Liebe zu Luned, behielt dies jedoch für sich. Sie begegneten Fuhrmännern, Händlern und Soldaten. Demne setzte sich auf das Bänkchen, das er stets mit sich führte, und gab auf den Lagerplätzen der Reisenden seine Lieder und Geschichten zum Besten. Nur um die Soldaten machte er einen großen Bogen. 45
»Sie hören nur selten richtig zu«, erklärte er Luned. »Die Epen über den Krieg sind schön, aber ich mag lieber die über den Wald. Die Soldaten bezahlen nie etwas und immer gibt es Streit. Sie machen mich wütend. Manche Geschichtenerzähler halten sie für das beste Publikum, aber ich trete lieber in den Dörfern auf.« Luned wusch ihre Kleidung in trüben, trägen Flüssen, die so ganz anders waren als die Gebirgsbäche, die sie kannte. Sie sah Eichen, die mit hunderten von roten Seidenbändern geschmückt waren, Steineichen voller Glöckchen sowie Lichtungen, auf denen Magier tanzten und aus heiligen Kelchen tranken. Sie sah die Männer, die den Magiern dienten, indem sie deren Umhänge mit dem Saft der Walnüsse schwarz färbten und zum Trocknen auf lange, zwischen die Steineichen gespannte Seile hängten; es war, als habe ein Schwarm riesiger Raben in diesem Wald Halt gemacht. Luned sah die christlichen Missionare mit ihren grauen Kapuzen auf den Wegen, die in die Berge hinaufführten. Sie wollten die Frohe Botschaft – die Geschichte eines heldenhaften, verratenen Gottes, wie Demne ihr erklärte – in Dörfer tragen, die noch abgelegener waren als das, aus dem sie selbst stammte. Sie begegneten einem Mann auf einer grauen Stute mit weißem Schwanz und weißer Mähne, der einen Tontopf mit einer blühenden, köstlich duftenden Pflanze bei sich hatte. Der Mann hütete seine Pflanze wie eine brennende Lampe. Die Blüte war außen rot und innen gelb und bestand aus vielen kleinen, dicht gedrängten Blütenblättern. Der Stängel der Pflanze war dick wie ein kleiner grüner Baumstamm. Die Blüte war eine pflanzliche Flamme. Der Mann wollte die Blume in den Garten seines Hauses pflanzen, denn ihr Duft bereitete ihm Freude, und wenn 46
die Pflanze gedieh, würden die Erinnerungen an die Stadt, die er hinter sich gelassen hatte, nie in Vergessenheit geraten. Auf Lichtungen und an Scheidewegen sahen sie verschiedene Gottheiten. Manche waren aus Holz geschnitzt wie die Schutzpatrone in Luneds Dorf, andere in Stein gehauen. Besonders eindrucksvoll war ein großer Gott aus Bronze, der neben einem bemalten Felsblock stand und von Opfergaben umringt war. Er trug ein Geweih, war nackt wie ein Hirsch und mit grünen Flecken überzogen, genau wie der mit Moos überwachsene Stamm einer Ulme. »Das ist Vertumnus«, sagte Demne und verneigte sich vor der Gestalt. »Er sieht aus wie ein Hirsch.« Luned ging auf die Statue zu, um ihren metallischen Fußrücken zu streicheln. Sie verbrachten den ganzen Nachmittag zu Füßen des Gottes und sprachen über den Wald. Häufig überraschte Luned Demne damit, dass sie die Vögel beim Namen nannte, deren Zwitschern sie hörten. Andere Tiere konnte sie anhand ihrer Spuren, ihrer Exkremente, eines Büschels Haare an einem Strauch oder ihrer Laute bestimmen. Von den trockenen, durchscheinenden Häuten der Schlangen zog sie Rückschlüsse auf das Alter und die Farbe der Reptilien, die sie abgestreift hatten. Eines Morgens entdeckten sie eine Ulme, deren Stamm mit tiefen Kerben überzogen war. Luned zeichnete sie mit dem Finger nach und zeigte Demne das weiße Harz, das daran kleben blieb. Dann beugte sie sich über die Spuren in der Erde um die Wurzeln herum und sagte: »Ein Wildschwein. Vor kurzem. Wir müssen einen anderen Weg nehmen.« 47
Demne befolgte ihren Rat. Wenige Stunden später hörten sie das Wüten des Wildschweins. Das Maultier hob erschrocken den Kopf, aber Luned beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann lächelte sie Demne an, der ihr in die Augen sah. Er ging auf sie zu, legte ihr die Hände auf die Wangen und küsste sie sanft auf die Lippen. Verblüfft legte Luned den Finger auf die leichte feuchte Spur, die Demnes Mund auf ihren Lippen hinterlassen hatte. Sie lächelte. Ihr fiel der Nachmittag ein, an dem sie von der Krone einer Esche aus beobachtet hatte, wie die Brautleute sich küssten. Nun wusste sie, was sie empfand, und konnte diesen köstlichen Hunger benennen. Es war das Begehren. Sie unterhielten sich stets wie die besten Freunde und jeden Morgen erzählten sie sich, was sie geträumt hatten. Luned, die sich gern an den Kuss erinnerte, suchte die Nähe des Geschichtenerzählers. Er fuhr ihr zärtlich durchs Haar, hielt ihre Hand oder legte ihr den Arm um die Schultern, küsste sie jedoch nie wieder. »Gibst du mir die Hand?«, fragte sie ihn. Demne nickte und ergriff ihre Hand, mehr nicht. ›Ich werde so geduldig sein wie der Jäger, der wartet, bis der Hase in die Falle geht‹, dachte das Mädchen. Luned brauchte ihre Fähigkeit, im Wald Nahrung ausfindig zu machen, nicht unter Beweis zu stellen, denn als Geschichtenerzähler durfte Demne von den Speisen essen, die die Dorfbewohner den Elfen hinstellten. Für die Brote und Eier, die er an sich nahm, hinterließ er einen mit einer Rune bemalten Kiesel, damit die Waldbewohner wussten, dass sich hier ein Geschichtenerzähler bedient hatte. Erstaunt sah Luned, wie Demne mit einem in 48
grüne Tinte – der Farbe von Schlangenaugen oder Froschhaut – getauchten Pinsel auf die flache Seite des Kiesels die Rune Nyd malte, die ›Not‹, ›Bedürfnis‹ bedeutete. Die Runen sahen immer gleich aus, die Striche entschlossen und einheitlich. Luned hatte zwar an dem Baum abgelesen, dass das Wildschwein brünstig war und sich ganz in der Nähe aufhielt, aber die Schrift starrte sie an, als besitze sie einen geheimen Zauber. »Bald wirst du auch schreiben lernen«, versicherte Demne ihr und sah sie liebevoll an. Voller Zutrauen nickte Luned.
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Vor der Stadtmauer LANGE vor der Ankunft in Corberic hörte Luned bereits die Hunde. Sie bellten unablässig – ein ohrenbetäubendes Konzert, das nicht harmonisch und melancholisch war wie das Heulen der Wölfe. Hier gab es weit mehr Hunde als in ihrem Dorf; deutlich mehr als das Dutzend Hunde, das bei den Holzfällern lebte und ihrem Herrchen hin und wieder eine Turteltaube brachte. Und dann die roten Flecken der Wachfeuer in der Ferne, so zahlreich und riesig wie Brände, die sich auf den bleigrauen Bäuchen der Wolken widerspiegelten. Ihr stockte der Atem. Sie legte die Hand auf die Brust, in der ihr Herz raste. Als schließlich die perfekt erhaltene Stadtmauer vor ihnen auftauchte, entdeckte Luned die Gestalt eines Mannes mit einem Helm – und wehendem Helmbusch – neben einem Wachfeuer. Er hielt eine Lanze in der Hand, so lang wie ihre Tanne, und an deren Spitze war offenbar eine grausame Schneide – vielleicht aus Eisen – angebracht. Er stand vor einem schlichten Holzhäuschen. Absurderweise schoss Luned durch den Kopf, dass diese Lanze nicht so leicht stumpf zu machen war wie die spitzen Pfähle der Fallensteller. Jedenfalls nicht mit einem einfachen Stein. Im rötlichen Widerschein des Feuers zeichnete sich die Silhouette des Soldaten ab. In der Ferne brannte ein weiteres Feuer neben einem zweiten Soldaten, der wegen der größeren Entfernung kleiner wirkte. Luned wunderte sich, dass ihr Atem auf einmal so schnell ging, ohne dass sie rannte oder erschöpft war; sie fühlte sich leicht, fast schwerelos und extrem verwirrt. Sie stellte sich auf den Kutschbock und sprang ohne zu 50
überlegen geschmeidig wie ein Hirschkalb hinunter. Ihre Achseln waren schweißnass – dabei spürte sie den frischen, schneidenden Abendwind – und an ihren Schläfen rannen sogar feine Tropfen hinab. Sie war zutiefst erschrocken, sie, die die Angst kaum kannte. Als Demne Luned springen sah, war es schon zu spät, um den Karren zu stoppen. Er hatte ihr plötzliches Keuchen und ein leises Ächzen gehört und aus den Augenwinkeln heraus gesehen, wie Luned sich die Hand an die Kehle legte. Er wollte sie gerade fragen, was denn los sei, da war sie schon verschwunden, flink wie immer. Er lief ihr nach und hatte Mühe, sie nicht aus den Augen zu verlieren, denn sie huschte barfuß, mit zusammengerafftem Kleid und wehendem Haar zwischen den Steinen und den Leuten hindurch, die auf die Stadt zusteuerten. »Luned! Komm zurück! Hab keine Angst!« Sie drehte den Kopf und starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, schien ihn jedoch nicht zu sehen. Es war der Blick des fliehenden Hirschs, das Weiß der Augen, das die schwarze Pupille wie einen Ring umfasst, die Panik des schaumbedeckten Mundes. Ein dumpfes Ächzen kam über ihre leicht geöffneten Lippen. Demne traten die Tränen in die Augen. Er hatte nicht an die Möglichkeit gedacht, dass die wagemutige Luned beim Anblick der Stadt erschrecken könnte. »Verzeih mir, mein Schatz«, murmelte er, während er keuchend hinter ihr herlief. Als er sie endlich eingeholt hatte, schien sie ihn nicht wieder zu erkennen. Sie ließ sich in die Arme nehmen und Demne wurde von Zärtlichkeit überschwemmt, als er spürte, wie sie am ganzen Leib zitterte – nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Tier. 51
Er flüsterte ihr ins Ohr: »Luned, hör zu. Hab keine Angst. In der Stadt gibt es natürlich Soldaten. Und viele Männer und Frauen, das habe ich dir erzählt, weißt du noch? Aber nicht alle sind schlecht. Und ich schwöre dir bei den Göttern des Waldes, dass ich dich mit meinem Leben beschützen werde. Ich habe dich nicht hierher gebracht, damit du leidest, sondern damit du meinen Beruf erlernst. Hab keine Angst.« Diese Worte wiederholte er ein ums andere Mal, bis sie sich schließlich beruhigte. Aber sie starrte ihn immer noch mit weit aufgerissenen Augen an, in denen die schwarze Pupille die Iris zu verschlingen schien. Genau wie bei einem Tier. Hand in Hand gingen sie zum Karren zurück, Demne mit Tränen in den Augen und Luned mit ausdrucksloser, abwesender Miene. Sie begegneten anderen Karren, mehreren aneinander gebundenen Maultieren sowie einer Sänfte, die von vier in bestickte Seide gekleideten Sklaven auf den Schultern getragen wurde. Der Benutzer der Sänfte verbarg sich hinter dichten Vorhängen. Zu sehen war nur eine Hand mit dicken Fingern voller Ringe, die den Vorhang ein wenig zur Seite schob. Sie beobachteten einen Trupp Soldaten und eine Karawane mit Händlern, die Vorkehrungen für das Betreten der Stadt trafen und das Geld zählten, das sie den ums Feuer versammelten Wachposten bezahlen mussten. Sie lachten. Demne beschrieb Luned jede Einzelheit, als sei sie blind. Sie registrierte alles und nickte stumm, ohne etwas zu erwidern; sie fragte sich jedoch, warum sie die Steinschleuder ihrem Bruder Ronan geschenkt hatte. Dann erreichten sie die Stadtmauer. Der Soldat mit der Lanze 52
grüßte den Geschichtenerzähler und ließ den kleinen Karren ohne weiteres passieren. Die Steine, aus denen die Stadtmauer bestand, waren riesig, größer als der geheime Stein im Wald, auf dem Luned geschlafen hatte, wenn sie sich als Kind nachts aus dem Haus geschlichen hatte. Die Mauer schien bis in den Himmel zu ragen. Und es gab keine Äste und Blätter, die das Licht grün färbten; alles war nackt und grausam entblößt unter der blutroten Abendsonne. Mehr sah Luned nicht, denn vor lauter Erschöpfung nickte sie an Demnes Schulter ein und wachte erst wieder auf, als er ihr ins Ohr flüsterte: »Wir sind da, Luned. Das hier ist das Haus, in dem ich geboren wurde. Hier wohnt mein Vater und ab jetzt wohnst auch du hier. Willkommen.« Er streckte die Hand aus, um ihr vor dem kleinen Haus beim Absteigen zu helfen. In der engen Straße standen mindestens noch zehn weitere Häuser, alle aus Holz und Ziegelsteinen. Es roch nach Essen, nach Kloake und nach Pferdeäpfeln. Vor der Tür saß ein Hund, der jedoch nicht bellte. Er sprang an Demne hoch und stieß dabei zärtliche Laute aus. Demne streichelte ihn liebevoll und ließ zu, dass der Hund sein Gesicht ableckte. Er lachte und tat, als kämpfe er mit dem Tier, das seine stämmigen Vorderbeine auf seine Schultern gelegt hatte und unbedingt an seinem Hals und seinen Wangen schnüffeln wollte. Der Hund – rothaarig und mit einem lang gezogenen schwarzen Fleck auf dem Rücken – hatte ein Gesicht wie ein Fuchs und schien zu lächeln. Seine schmalen schwarzen Lefzen bogen sich an den Mundwinkeln und ließen die Reißzähne sehen. Nun wandte er sich Luned zu und wedelte bei ihrem Anblick mit dem Schwanz. Er trottete 53
auf sie zu, tauchte seine schwarze, feuchte Schnauze in ihre offenen Hände und leckte sie langsam und liebevoll ab. Dann legte er sich vor ihr auf den Rücken, streckte ihr seinen hellen Bauch entgegen und klopfte erwartungsvoll mit dem Schwanz auf den Boden. Schließlich lächelte Luned, beugte sich über ihn und tauchte ihre Finger in sein raues Brusthaar. Sie hatte nicht mehr gelächelt, seit in der Ferne die Stadtmauer vor ihr aufgetaucht war. Demne band das Maultier an einem Haken an der Wand fest, nahm ihm die Kandare ab und hängte ihm den Beutel mit Gerste unters Maul. Dann lud er das Gepäck vom Karren ab. Hinter der Leibung eines Fensters, das mit einem geölten Stück Stoff verhängt war, zeichnete sich das goldene Oval einer Lampe ab. Die Tür ging auf und in dem gelben Licht aus dem Inneren des Hauses tauchte eine schmale Gestalt auf. Wie im Traum sah Luned, wie ein alter Mann mit weißem Haar Demne zur Begrüßung auf die Wangen küsste, in die Arme schloss und sie dann ebenfalls umarmte. Der Alte roch nach Rauch, wie Airmed, und seine schmalen Hände fassten sie fest an den Schultern. Sein Gesicht konnte sie kaum erkennen. Der Hund lief aufgeregt um alle drei herum. Sie betraten das Haus. Wortlos nahm der Alte sie am Arm und führte sie in den Raum hinter dem Fenster. Luned achtete kaum auf das Mobiliar des Hauses. Wie im Traum registrierte sie nur einen Tisch und ein kleines Feuer in einem Kamin. Der Alte deutete auf eine Matratze, sah sie lächelnd an und sagte, sie solle die Lampe ruhig brennen lassen. Demnes Vater hatte eine raue, tiefe Stimme, aber sein Ton war liebevoll. 54
›Die Lampe brennen lassen? Vielleicht sind sie reich!‹, dachte Luned. Demne tauchte neben seinem Vater auf, und als könne er Luneds Gedanken lesen, erklärte er: »Wir sind zwar nicht reich, aber immer, wenn du Angst hast, kannst du die Lampe brennen lassen. Sie wird dir Gesellschaft leisten, auch wenn ich weiß, dass du die Letzte bist, die sich vor der Dunkelheit fürchtet. Schlaf gut.« Wie betäubt streckte Luned sich langsam auf der Matratze aus und schnürte nicht einmal ihre Sandalen auf. Sie starrte die mit Blumen bemalten Deckenbalken an. Alles war ihr fremd. Demnes und seines Vaters Stimme klangen, als wären sie weit weg. Das Gemurmel wirkte beruhigend auf sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie dankbar für den Schutz der vier Wände, die sie von der Stadt trennten. Sie schloss die Augen und begriff, dass die sofortige Rückkehr zu ihren Eltern, nach der ihr Herz sich sehnte, nahezu unmöglich war; sie musste versuchen sich einzugewöhnen und mit der Angst fertig zu werden. An Mut fehlte es ihr nicht, von klein auf hatte sie es verstanden, ihre Angst zu besiegen. Sie betete zu den Göttern ihres Dorfes und machte in Gedanken an ihren Baum die Augen fest zu. Ihr fiel Demnes Kuss ein und sie versuchte sich die Tage auszumalen, die vor ihr lagen. Schließlich schlief sie ein und träumte von dem Bärenjungen, das in der Falle verendet war.
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Corberic IM MORGENGRAUEN wurde Luned vom Geschnatter etlicher Gänse, die zum Fluss getrieben wurden, sowie vom Krähen der Hähne wach. Ein Brotverkäufer pries seine Ware an. Sie schlug die Augen auf. Die Reise hierher schien viele Wochen zurückzuliegen. Andererseits war ihr, als habe sie ihr Dorf erst gestern verlassen. Sie hatte Heimweh. Sie stützte sich auf einen Ellbogen und war überrascht über die Weichheit der mit Stroh gefüllten Matratze, auf der sie geschlafen hatte. Ihre Füße waren taub, denn sie hatte die Sandalen die ganze Nacht anbehalten. Das Zimmer war klein. Licht fiel durch das winzige Fenster ein und davor stand ein Tisch und als Sitzgelegenheit ein breiter Kasten mit einem Kissen aus Wolle und einem Holznapf. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm und war mit frischem Stroh bedeckt. Das Öl der Lampe war im Lauf der Nacht aufgebraucht und auf dem Grund der Schale lag nur noch ein verkohltes Stückchen Docht. Luned hörte leise Stimmen und stand auf. Als sie über die Schwelle trat, erblickte sie den Alten – Demnes Vater, fiel ihr ein – , der neben einem Tisch stand und sie mit einer großen Tasse in der Hand wohlwollend ansah. Er war schlank und Demne hatte von ihm die schräg gestellten Augen, aber seine waren breiter. Er war einfach gekleidet: schwarzer Kittel aus grober Wolle und graue Strumpfhosen. Er trug das Haar sorgfältig nach hinten gekämmt und hatte leichte Pockennarben im Gesicht. Das Haus schien zwei Zimmer zu haben, das, in dem sie geschlafen hatte, und das, in dem sie nun stand. Hier befanden sich zwei Matratzen sowie ein Kamin, ein Wandschrank, eine Truhe und ein Tisch. Ein roter, po56
lierter Kupferkessel hing über dem Feuer an einem Haken, der an einer Kette im Kamin baumelte (der erste Kamin, den Luned in ihrem Leben sah), und verströmte den unverwechselbaren Duft von Ziegenmilch. Auf dem Tisch lagen zwei Wachstäfelchen, mehrere Stücke Pergament sowie zwei mit Leder überzogene rechteckige Kisten mit Kupfernägeln und einem breiten Band, das von einer goldenen Schließe zusammengehalten wurde. Mit einem stolzen Lächeln deutete der Alte darauf. »Guten Morgen, Luned. Willkommen in unserem Haus. Mein Sohn hat mir erzählt, dass du Lesen und Schreiben lernen willst. Schau dir unsere Bücher an. Sie wurden uns von Mönchen anvertraut; wir fertigen seit mehreren Jahren Abschriften an. Eine Kopie von jedem Buch wird uns gehören«, sagte er. Luned wusste nicht, wie wertvoll diese außergewöhnlichen Gegenstände waren, die aus der Vergangenheit stammten; bevor die Texte niedergeschrieben wurden, waren es Kostbarkeiten des Gedächtnisses gewesen, die aber in ihrer jetzigen Form bereits seit mehr als einem Jahrhundert von Hand zu Hand und Generation zu Generation gegangen waren. Daher betrachtete Luned sie ohne Neugierde. Sie trat ein wenig näher. Zwei Kisten aus Leder. Sie wusste nicht, dass Efras und Demnes Arbeit für die Zukunft gedacht war. Sie wusste nicht, dass für die Herstellung des Pergaments, das für die Abschrift eines Buches notwendig war, eine ganze Herde Schafe gebraucht wurde. Sie erwiderte das Lächeln des Alten mit einer unsicheren Geste. »Sieh mal, Luned, schau her. Diese Schließe hier ist vom besten Buchbinder der Stadt hergestellt worden«, sagte er und deutete auf die goldene Schnalle, die dem Buch als Verschluss diente. 57
»Ah«, erwiderte sie und warf einen Blick auf den Wandschrank. Der Alte ging jedoch zur Truhe und öffnete sie. Er holte ein Stück porösen Stein und einen Gänsekiel mit ausgehöhlter Spitze heraus. »Sieh mal, Mädchen, diese Dinge wirst du benutzen.« Heiter und vergnügt erschallte Demnes Stimme: »Aber heute noch nicht, Vater. Zuerst einmal muss sie einiges erfahren, sich ausruhen, ihre Umgebung und unsere Gewohnheiten kennen lernen. Mit dem Schreiben fangen wir morgen an.« Es war die Größe des Hauses, die Luned an diesem ersten Tag faszinierte. Daran gewöhnt, in einem einzigen Zimmer zu wohnen, war sie verblüfft über die Geräumigkeit, die hohen Decken, die von bemalten Balken abgestützt wurden, sowie die Fülle der Gegenstände im Wandschrank. Sie sah einen Schleifstein, eine kleine Mühle, vier Messer und einen Korb. Durch ein großes, mit einem geölten Stück Stoff verhängtes Fenster fiel Licht auf den Tisch, denn Geschichtenerzähler benötigen für ihre Arbeit Licht, genau wie die Mönche in ihrer Schreibstube. Von der Eingangstür aus sah Demne sie liebevoll an, einen Korb mit Eiern in der Hand. »Demne«, sagte sie. »Luned, das ist Efra, mein Vater. Er war und ist Geschichtenerzähler und wird ebenfalls dein Lehrer sein. Gestern warst du sehr müde von der Reise, das habe ich ihm schon erklärt«, sagte Demne zartfühlend. Luned lächelte dankbar. Der Geschichtenerzähler fügte hinzu: »Vielleicht möchtest du dein Fasten mit uns brechen. 58
Es gibt Brot und Milch und dann sind da auch noch die Erdbeeren, die wir aus deinem Dorf mitgebracht haben.« An seinen Vater gewandt hob er den Korb und sagte: »Sie haben vier Eier gelegt, Vater.« Dann richtete er sich wieder an Luned. »Wenn du Lust hast und ausgeruht bist, könnten wir später einen Spaziergang durch die Stadt machen.« Sie frühstückten schweigend. Jedes Mal, wenn Luned den Alten musterte, begegnete sie seinem heiteren, liebevollen Blick. Die Holznäpfe, aus denen sie das in Milch gebrockte Brot aßen, waren mit einem glänzenden blauen Band verziert. Demne und sein Vater tranken lauwarmes Bier aus großen Tontassen und auf einer Scheibe Brot glänzte eine perfekt geformte Butterkugel. Das Mädchen betrachtete alles voller Neugierde. Demne lächelte ihr zu. Hin und wieder streckte er die Hand aus und streichelte ihr über den Kopf. Der rothaarige Hund vom Vorabend stieß mit einem Ruck die Tür auf und kam auf sie zugelaufen. Luned tätschelte ihm den Kopf. »Nehmen wir den Karren?«, fragte sie. »Das ist nicht nötig«, antwortete Demne. »Corberic ist eine kleine Stadt mit engen Straßen. Zu Fuß sieht man vieles besser. Außerdem ist der Stall, in dem das Maultier steht, ein ganzes Stück von hier entfernt.« Bevor sie auf die Straße traten, steckte Luned in einem ihr selbst unverständlichen Impuls die Füße in die Holzpantinen. Sie wusste nicht, warum sie das Gefühl hatte, in den Straßen der Stadt werde es Dinge geben, auf die sie lieber nicht treten wollte. Sie sollte Recht behalten.
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Luned in der Stadt DIE GERÜCHE waren die ersten Eindrücke, die auf das Mädchen einstürmten. Die an den Wald gewöhnte Luned hatte das Gefühl, in den Rauchschwaden, den seltsamen Düften und dem unbekannten Gestank, der überall in der Luft lag, zu ersticken. Es wimmelte von Menschen. Sie sah unzählige Häuser, Pferde, Hunde, Esel, Maultiere und Ochsen; zwischen zwei Gebäude eingezwängte Gärten, die kleiner waren als die in ihrem Dorf, sowie dutzende von Handwagen und Karren und dahinter die Stadtmauer, die alles umringte. Und dieses »alles« erweckte den Anschein von etwas Unverrückbarem und Versteinertem, denn Steine gab es in Corberic im Überfluss und keines der Häuser sah aus wie die in ihrem Dorf. Die Zeit hatte die Säulen der früheren Stadt zum Einsturz gebracht und nun lagen sie auf dem Boden wie mit Unkraut überwucherte Bäume aus Stein. Die Schweinehirten trieben ihre Tiere mitten über die Straße in die Ställe, wobei sie mit einem dicken, über dem Feuer gehärteten Ast auf sie einschlugen. In Luneds Dorf hatten nicht einmal die Eber so gestunken. Überall lagen Berge von Unrat herum: Fischinnereien, versengte Federn, Asche, Obstschalen, Exkremente von Menschen und Tieren. Niemand kümmerte sich um die Beseitigung, die Leute machten nur ohne viel Aufhebens einen Bogen darum. Der Abfall wurde von Ratten durchwühlt, scheuen, schwarzen Ratten, größer als die Feldratten mit dem weißen Bauch, die Luned kannte. Auf den Straßen wechselten sich gepflasterte Abschnitte mit schlammigen Stellen ab, in die sie mit ihren Pantinen einsank, sodass sie den Rock heben musste. Demne ging lächelnd und 60
schweigsam neben ihr. Hin und wieder grüßte er jemanden, indem er die rechte Hand hob und irgendetwas murmelte, was Luned nicht verstand. Demne richtete sein Augenmerk vor allem auf seine Begleiterin. Aus der Werkstatt des Schmieds, die dunkel war wie eine Höhle und vom Widerschein der Esse wie ein Ofen von innen erleuchtet wurde, drang das lauteste Gehämmer, das Luned je gehört hatte. Sie hielt sich die Ohren zu, während sie verblüfft beobachtete, wie die Leute daran vorbeigingen, ohne dem Lärm die geringste Beachtung zu schenken. Demne schlug vor, sie solle die Mühle und das Lagerhaus kennen lernen, aber Luned war so benommen von dem Radau, dass ihr die Wörter nichts sagten. Manche Frauen waren im Gesicht bemalt. Ihre Münder schienen mit Beerensaft oder Blut bedeckt zu sein und auf den künstlich bleichen Wangen trugen sie rote Kreise, die wie Verbrennungen aussahen. Die Männer und Frauen, die reich wirkten, trugen Kleidung in vielen Farben, was Luned überraschte; sie begriff, dass Demnes rote Stiefel, über die sie im Wald so gestaunt hatte, für Corberic ein ganz gewöhnliches Paar Schuhe waren. Nun wurde ihr klar, wo die Felle der Tiere landeten, die die Fallensteller fingen: Auch wenn es gar nicht mehr richtig kalt war, trugen viele Männer Fellhüte, ihre Kapuzen waren mit Marderfell besetzt und die Hände ihrer geschminkten Frauen steckten in Muffen aus wunderschönem Bärenfell. Die Reichen unterhielten sich nur mit ihresgleichen und hielten Abstand zu Demne und ihr, würdigten sie nicht einmal eines Blickes. Manchmal zeigte Demne auf ein Gebäude, auf eine 61
römische Inschrift an einer Wand, eine in einem Innenhof verborgene Statue, einen Kornspeicher oder einen Brunnen. Luned fiel hingegen anderes ins Auge: ein Mann ohne Füße, der auf einer schmutzigen Matte saß, sowie die Münzen, die manche Passanten im Vorübergehen neben die zur Schau gestellten Stümpfe fallen ließen. Ein Junge, dessen Beine aussahen wie die eines Vogels; er schleppte sich auf kleinen Holzkrücken vorwärts und hatte deshalb mehr Schwielen an den Händen als jeder Holzfäller. Luned sah einen Betrunkenen mit einem runenähnlichen Zeichen auf der Stirn, der Selbstgespräche führte. Der Mann pinkelte an die Tür eines Hauses und schimpfte vor sich hin. Hinter dem winzigen Fenster war das bleiche, furchtsame Gesicht einer Frau zu erkennen, die ihn beobachtete. Luned blieb stehen. Demne fasste sie am Ellbogen und zog sie sanft weiter. »Er ist ein Dieb«, flüsterte Demne. »Siehst du das Zeichen auf seiner Stirn? Das wurde ihm mit einem glühenden Eisen eingebrannt, damit alle wissen, welches Verbrechen er begangen hat.« Entsetzt spürte Luned, wie sich hinter dem Rand ihrer Lider erneut Tränen zusammendrängten. Sie beobachtete, wie Hunde sich ein Stück Fleisch streitig machten, das einer Frau aus dem Korb gefallen war. Ein buckliger Alter verjagte die Hunde mit seinem Stock und bückte sich nach dem Fleisch. Ohne den Schmutz abzuwischen, schnupperte er daran und schob es unter seinen Umhang. Ihr wurde schwindlig von den Horden zerlumpter, vor Dreck starrender Kinder, die Krieg spielten, indem sie sich mit Erdklumpen und Steinen bewarfen. Auch der wahnsinnige Radau auf dem Markt bestürzte sie: das Gackern der Hühner, wenn ihnen der Hals umgedreht wur62
de, das Grunzen der Schweine, das Meckern der Ziegen, das Geschrei der Händler, die ihre Ware anpriesen, das Fluchen der Soldaten, die die Leute zur Seite schubsten. Sie entdeckte einen Galgen, eine klobige Konstruktion, die aussah wie ein verdorrter Baum, von dessen einzigem Ast ein dickes, schmutziges Seil herabhing. Als Luned fragte, was es mit dieser unheimlichen schwarzen Bühne auf sich habe, ließ Demne den Kopf hängen und antwortete verlegen: »Das ist der Galgen. Dort werden die Verbrecher gerichtet und auch diejenigen, die der Herr von Corberic bestraft.« »Gerichtet? Was heißt das und worin besteht es? Wird die Stirn mit Feuer gezeichnet?« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da schämte sie sich ihrer Fragen. Ihre Stimme kam ihr seltsam rau vor. Demne zeigte ihr den Pranger mit dem Halseisen und erklärte ihr seine Funktion. Er zeigte ihr das schmale, vergitterte Fenster des Gefängnisses und in der Ferne auf einem kleinen künstlichen Hügel die hohe Mauer des Hauses, in dem der Stadtherr wohnte. Sie setzten die Unterhaltung unter einem Dachvorsprung fort. Am Ende zitterten Luned die Hände. Sie konnte die Augen nicht abwenden von den Bettlern, die auf sich aufmerksam machten, indem sie mit ihren Näpfen gegen die Steine schlugen, von den Krüppeln, die sich auf Krücken vorwärts schleppten, von den Blinden, die zum Gehen einen Stock benutzten und sich mit erhobenem Kopf und beklommener Miene vorantasteten. Sie bekam diejenigen zu Gesicht, die ihre Wunden und Geschwüre zur Schau stellten und aus deren Mund hellroter Schaum auf die eingefallene, schmutzige Brust tropfte. 63
Die Glocken der schlichten Kirche von Corberic fingen an zu läuten und erfüllten die Luft mit ihren gebieterischen Stimmen. Mehrere Männer und Frauen bekreuzigten sich. Luned sah sie verständnislos an. Der Junge mit den Vogelbeinen, der sich durch den Unrat schleppte, lächelte sie an, bevor er mit klagender Stimme um eine Münze bat. Luned brachte keinen Ton heraus: Wie die Stadtfrauen um sie herum lüpfte sie lediglich den Rock und ging davon. Sie besaß nichts, was sie dem Jungen hätte geben können. Eine Münze. Das war ebenfalls neu für Luned. Sie hatte mit Demne über einen Lohn gesprochen, eine Bezahlung, aber sie hatte dabei nicht an Geld gedacht. Sie hatte angenommen, der Geschichtenerzähler werde ihr ein Säckchen Salz für jede geflochtene Matte geben, für das Säubern und Füttern des Maultiers, für das Sammeln von Heilkräutern im Wald. Natürlich hatte sie in ihrem Dorf Münzen gesehen. Zwei oder drei Münzen aus Eisen, altes Geld, das ins Dorf gekommen war wie die Überreste eines Schiffbruchs, die durch Willkür und Zufall an einen einsamen Strand geschwemmt werden. Sie bezweifelte, dass diese schweren, achteckigen und auf einer Seite geprägten Münzen in Corberic gültig waren. Im Wald waren sie bloß ein Kuriosum gewesen. Ach, der Wald, von dem sie gerade mal ein paar Tannen auf einem Hügel jenseits der Stadtmauer erspähen konnte! Sie dachte an den Duft ihrer Tanne und hustete. Luned war der Tod nicht fremd – wie auch, wo sie doch im Wald gelebt hatte? –, ebenso wenig wie Alter und Krankheit. Sie hatte den Tod gesehen, tiefe Wunden, die von Reißzähnen, Krallen, Hörnern, Fallen und Messern verursacht worden waren. Sie hatte einen Hasen mit gebrochenem Genick hoch oben in einem Baum ent64
deckt, wo der Luchs ihn hingeschleppt hatte (und über die graue Rinde des Baums zogen sich Blutspuren). Sie hatte das tote Bärenjunge in der Falle gestreichelt, sie hatte beobachtet, wie der zerbrechliche Körper eines Hirschkalbs, das ihr einmal auf der Suche nach Salz die Finger geleckt hatte, von zwei Wölfen fortgeschleift wurde. Sie hatte eigenhändig dutzende von toten Tieren begraben und alle, auch die nicht begrabenen, wurden von der Natur mit Hilfe der Ameisen und Würmer in einen Teil des Waldes verwandelt. Aber noch nie war sie einem Gestank wie in diesen Straßen begegnet. Sie hatte den Leichnam ihres alten Onkels gewaschen und ins Leichentuch gehüllt, einen anrührenden Körper mit eingefallenen Wangen und unsichtbaren Lippen. Sie hatte geholfen, Fedelms Mutter unter die Erde zu bringen, die Kinder, die im Winter an Auszehrung gestorben waren, einen Mann, der von einem Baum gefallen war und sich das Genick gebrochen hatte. Dabei hatte sie jedoch nie solch ein angstvolles, zorniges Mitleid empfunden. In ihrem Dorf ging es anders zu: Die Alten hatten das Recht, an allem teilzuhaben, was die anderen besaßen. Dies machte für Luned das Alter aus: ein unerbittlicher Verfall, eine Sehnsucht nach dem Wald und nach Kraft, ein trauriger Abschied vom Körper, aber nicht dieses Entsetzen, das aus den Blicken der Bettler sprach. Die Krankheiten waren die gleichen, die sie auch in ihrer eigenen Umgebung gesehen hatte. Aber sie waren nicht so zur Schau gestellt worden wie auf einem Markt. Die Kranken hatten sich in ihr Haus zurückgezogen, um in Würde zu sterben. Ihre Großmutter war eine geliebte und geachtete Frau. 65
Die Dorfbewohner suchten sie auf, um sie um Rat zu fragen, und wenn sie das Haus verließ, wurde sie mit Respekt behandelt. Ganz anders erging es der Alten, die ihnen gerade verängstigt und mit hängendem Kopf entgegenschlich. Die Händler schubsten sie aus dem Weg, für die jungen Leute war sie Luft und in der ganzen Zeit, während sie sich in Luneds und Demnes Nähe aufhielt, richtete niemand das Wort an sie. Die Bettler waren alt oder krank. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte Luned, die aus einem Dorf im tiefsten Wald kam, das nicht einmal einen Namen hatte, eine schändlichere Armut gesehen als in Corberic. Dort wirkten die Armen noch ärmer neben den Frauen, die sich in ihrem maskierten, niederträchtigen Hochmut in Sänften auf Schultern tragen ließen. Luneds Herz folgte jedem gebeugten Rücken und weißhaarigen, mit Staub bedeckten Kopf; den jungen Sklaven, die an den Haustüren ihrer Herrschaften saßen und mit sehnsüchtiger Miene die freien Menschen vorübergehen sahen. Demne schwieg, denn er ahnte, was in Luned vorging. Wenn er von seinen Reisen durch die Wälder zurückkehrte, hatte er an den ersten Tagen – bis das Leben in der Stadt ihn wieder im Griff hatte – häufig ein Gefühl von Eingesperrtsein und vager Bestürzung. Nachdem er Luneds Entsetzen beim Anblick der Stadtmauer miterlebt hatte, konnte er sich vorstellen, wie viel Anstrengung und Mut es sie kostete, neben ihm zu gehen. Bleich, aber mit erhobenem Kopf. Ergriffen zog er sie an sich und küsste sie auf die Stirn. Luned lächelte ihn an. ›Wie offen und ehrlich ihr Lächeln ist‹, dachte Demne. Er war sich sicher, dass ihr die Stadt erträglich würde, sobald sie mit dem Unterricht 66
begannen. Er malte sich aus, welche Freude es ihr bereiten würde, Lesen und Schreiben zu lernen und die Runen zu üben. Wenn die mühseligen Gedächtnisübungen, die jeder Geschichtenerzähler kannte, irgendeinen Sinn hatten, dann den, dass sie den Kopf frei machten. Außerdem hatte Luned die Aufgabe vor sich, die großen Epen kennen zu lernen und sich einzuprägen. Deren Schönheit und Vielschichtigkeit prägten das Leben eines Geschichtenerzählers und mussten in ihr den Impuls zum Erzählen wecken. Demne war ebenfalls nervös. Er befürchtete, wie der Mann zu sein, der eine lebende Blume in einem Topf nach Hause trug, weil er ohne ihren Duft nicht leben konnte. Was war, wenn Luned es in Corberic nicht aushielt? Sollte sie ihn je darum bitten, sie in ihr Dorf zurückzubringen, würde er sich nicht weigern – das schwor er sich – , sondern sofort die Reisevorbereitungen treffen. Aber lasst es nur nicht so bald sein, dachte er, nicht bevor ich ihr sagen kann, was ich für sie empfinde, bitte, ihr Götter des Waldes!
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Der Unterricht JEDEN MORGEN, wenn Luned aufwachte und aus dem Fensterchen ihres Zimmers schaute, stellte sie sich unwillkürlich dieselbe Frage: Wie war es möglich, dass die großen Epen und Sagen an diesem Ort bewahrt und weitergegeben wurden, an dem die Niedertracht regierte und der einen krassen Gegensatz zum Wald darstellte? Denn im Grunde ging es in allen Geschichten um den Wald: Er bildete den Schauplatz und im Mittelpunkt standen seine Bewohner, die schönen, unsterblichen Elfen und die dort lebenden Menschen. Luned gähnte und streckte sich wie eine Katze, während die Kirchenglocken herrisch läuteten und ein ganzer Chor von Hähnen krähte. ›Wie anders als die Tonglöckchen, deren Bimmeln sich anhört wie knirschende Kiesel, wie ein Geräusch der Natur, wie Schritte …‹, sagte sich das Mädchen, die Ellbogen auf den schmalen Fenstersims gestützt. Draußen brach ein neuer turbulenter Tag in der Stadt an: Die Bäcker hatten die großen Backöfen, die Lehmhöhlen glichen, bereits angeheizt, der Schweinehirt trieb seine Tiere aus der Stadt, damit sie Eicheln fressen konnten, und auch wenn der Schlachthof jenseits der letzten Häuser lag, drangen die Geräusche von dort manchmal bis zu Demnes Haus. Nach und nach gesellten sich die Rufe der Wasserverkäufer, Kohlenhändler und Fischverkäufer hinzu. Die Stalljungen führten Pferde und Maultiere durch die Straßen, bevor die Leute das Haus verließen, um ihren Geschäften nachzugehen. Luned wusch sich das Gesicht mit dem Wasser aus dem Krug und öffnete die Tür, um sich zu Demne und Efra zu gesellen, die mit der Zubereitung des Frühstücks 68
begannen, wenn sie noch schlief. Seit ihrer Ankunft war sie noch nie früh aufgewacht; sie war immer müde und sosehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nie, vor ihnen aufzustehen. Die Geschichtenerzähler waren nicht arm, konnten aber auch nicht mit dem Geld um sich werfen. Es gab fast immer Hafer, Brühe, helles Weizenbrot, das sie im Tausch für Salz erhielten (Demne brachte von seinen Reisen lauter Säckchen mit weißen Salzbrocken mit, denn in vielen Dörfern galt dies als Zahlungsmittel), Bier und kandierte Früchte. Im Topf wurde die Milch oder das dickflüssige, dunkle Bier von Corberic warm gemacht. Sie breiteten alles auf dem Tisch aus in dem Wunsch, Luned Freude zu bereiten. Aber sie hatte wenig Appetit: Sie aß, weil ihr Demnes und Efras erwartungsvolle Blicke peinlich waren und weil ihre Bemühungen sie rührten. Sie wollte sich nützlich machen und so übernahm sie nach einer Woche die Aufgabe, das Korn zur Mühle zu bringen. Dort hörte sie die Unterhaltungen der Sklaven und der Frauen und kam sich unbedarft und fehl am Platz vor, denn nichts von dem, worüber da gesprochen wurde, interessierte sie, auch wenn es ihr neu war. Der Klatsch und das Getuschel über die Männer, die Schauergeschichten über Liebe und Betrug, über Schwüre und Verrat sowie der tränenerstickte Bericht von der einen oder anderen Tracht Prügel verwirrten sie und weckten in ihr fast einen Widerwillen gegenüber dem Begehren, das sie zu Demne hinzog. Die Männer ließen die Frauen sitzen und die wiederum liefen zur Mühle und weinten sich an der Schulter der älteren Frauen aus, denen sie vertrauten. Luned versuchte Demnes Lächeln und auch seine geschickten Hände beim Schreiben zu ignorieren.
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Wenn sie an der Tretmühle vorbeikam, in der zwei blinde Sklaven von früh bis spät arbeiteten, überfiel sie eine seltsame Traurigkeit. Es waren kräftige Männer mit knotigen, harten Muskeln und ausdruckslosen Gesichtern, die an Masken erinnerten. Sie blinzelten und gestikulierten nicht wie die Blinden, die in der Nähe der Kirche bettelten. Sie trugen Zöpfe wie die Bulgaren und waren an der Stirn rasiert. Die beiden sahen einander ähnlich und Luned wusste nicht, ob sie durch eine Krankheit oder das Schwert erblindet waren. Luned beobachtete sie aus der Ferne, wohl wissend, dass sie die Tränen nicht sehen konnten, die ihr über die Wangen liefen. Aber sie hatte Angst, auf sie zuzugehen und ihnen Wasser oder Brot anzubieten, denn sie hatte einmal einen Mann am Pranger gesehen und fürchtete das brutale – und für sie unverständliche – Gesetz, das auf der Stadt lastete. Sie bemerkte, dass die Frauen, denen sie an der Mühle begegnete, sich über sie lustig machten. Einmal die Woche trug sie die Wäsche an den Fluss und beobachtete die grauen, scheuen Frösche von Corberic. Irgendetwas stellte die Stadt mit Luneds Geist und Körper an. Nacht für Nacht schlief sie beim Schein der Lampe ein – früher hätte sie jeden ausgelacht, der behauptet hätte, eines Tages werde sie ein Licht, so winzig wie ein Glühwürmchen, am Bett benötigen. An dem Tag, als sie auf die Stadtmauer kletterte und das weite grüne Meer rings um die Stadt sah, weinte sie vor Heimweh an Demnes Schulter und dieser streichelte ihr bekümmert übers Haar. »Warum haben sie die Stadtmauer gebaut? Damit der Wald draußen bleibt?«, fragte sie. 70
»Nein. Um andere Menschen fern zu halten, Banditen mit Holzschilden und Wolfsfellen, nicht den Wald!« »Warum gibt es dann hier drinnen fast keine Bäume? Die einzigen Bäume von Corberic wachsen am Flussufer. Alle anderen sind verschwunden! Und die Menschen, die sie fern halten wollen – woher wissen sie, dass sie böse sind, wenn sie sie doch gar nicht kennen? Wer hat die Sklaven von der Tretmühle blind gemacht?« Demne seufzte und schwieg. Aber genau wie beide vermutet hatten, fand Luned am Lernen tiefe, wahrhaftige Freude: an ihrem Wachstäfelchen und dem schlichten, aber praktischen Griffel, den Demne aus einer schlanken Haselnussgerte hergestellt hatte. Jeden Vormittag übte sie am Tisch neben dem großen Fenster unverdrossen die Runen, die sie von den Steinen im Wald kannte. Im Unterschied zum einzigen Fenster im Haus ihrer Eltern fiel das Licht durch dieses Fenster wie eine Kaskade ein. Sie lernte die sechzehn gebräuchlichsten Runen – den Futhark – , die von rechts nach links gelesen wurden. Aus ihnen ließen sich die Beschwörungsformeln bilden, die die Geschichtenerzähler kannten. Die Magier benutzten vierundzwanzig Runen, die sechzehn allgemein üblichen sowie acht geheime, um die Absichten ihrer Feinde mit ihren Zauberkünsten zu durchkreuzen. Die Leute suchten Efra und Demne auf, um sich von ihnen Beschwörungsformeln, Briefe, Dokumente und Grabinschriften in Runenschrift verfassen zu lassen. Manche wollten auch nur ihren Namen auf ihren Habseligkeiten haben: auf Schatullen, Truhen oder Ringen. Dann malten die Geschichtenerzähler sie auf oder ritzten sie ein. 71
Sobald Luned die Runen fehlerfrei würde lesen und schreiben können, wollten Efra und Demne ihr einige Zeilen Latein anvertrauen, damit sie sie kopierte. Diese wunderschöne Schrift wurde von den Mönchen benutzt und von links nach rechts gelesen. Luned fragte Demne: »Kannst du Latein lesen und schreiben? Verstehst du die Geschichten in diesen Büchern?« Belustigt hatte Demne geantwortet: »Nein, ich kenne nur die Runen und unsere einheimischen Werke. Die lateinischen Bücher gefallen mir, weil sie voller farbiger Zeichnungen sind, aber nein, ich verstehe kein Latein.« Die beiden Bücher, die Efra und Demne von den Mönchen anvertraut worden waren, hatten Luneds Neugier geweckt. Sie waren schöner und umfangreicher als die mit Runen beschriebenen Steine und Blätter. Als sie die beiden dicken Bände zu schätzen wusste, wurde ihr klar, dass ihr Wert unermesslich war. Sie hatte keine Ahnung, was darin stand, aber sie begriff, dass diese Schrift komplizierter war als die Runen. Die Bücher waren in Leder gebunden und das verwendete Pergament entsprach der Haut von einem Dutzend Schafe. Der Anfangsbuchstabe jedes Kapitels war mit einer Minium genannten dicken, roten Farbe (Efra mengte ihr Eigelb bei, damit sie schöner glänzte) sowie tiefen Blautönen ausgestaltet und glich dem lackierten Schmuck an der Kleidung der Reichen. Vielleicht hätte nicht einmal aller Besitz ihres Dorfes – Kleidung, Vieh, Gerätschaften – ausgereicht, um den Wert auch nur eines dieser außergewöhnlichen Gegenstände aufzuwiegen. 72
Dass es in der Stadt jemanden gab, der bereit war, derartig viel Gold und Lebenszeit zu investieren – denn wie viele Jahre mühseliger und liebevoller Arbeit stellte jedes Buch dar? – , stimmte sie dankbar, auch wenn diese Kostbarkeiten innerhalb der Stadtmauer geschaffen wurden. Nach kurzer Zeit lernte sie die sorgfältige Hand lieben, die die Geschichten kopiert und den Mönchen eine makellose Schönschrift geschenkt hatte, die gewissenhaft die goldenen Groß- und die runden Kleinbuchstaben auseinander hielt. Efra und Demne erklärten ihr die Unterschiede sowie den schönen Duktus, das heißt die für den Schreiber charakteristische Art, die Buchstaben miteinander zu verbinden. Obwohl Luned die Schrift nicht lesen konnte, war sie fasziniert von den Büchern. Mit Demnes Latein haperte es ebenfalls, aber er erklärte ihr die einzelnen Buchstaben und die eigenwilligen Ausschmückungen. In den Exemplaren der Mönche war der Anfangsbuchstabe jedes Kapitels mit Blumen, Bäumen und Fantasiegeschöpfen verziert. An die Ränder, um den Text herum, hatte der Kopist lange Ranken gemalt, die nahtlos in das Haar von Elfen und Feen, die spiralförmigen Schwänze kleiner Drachen und die gekräuselten Fühler von entfernt an Menschen erinnernden Schmetterlingen übergingen. ›Wer und wie warst du, Schreiber? ‹, fragte sich Luned, während sie mit den Fingerkuppen die sorgfältige Arbeit des Mönchs oder Schreibers nachzeichnete, der die Texte für kommende Generationen bewahrt hatte. Außer den beiden Büchern besaß Demne ein knappes Dutzend Täfelchen, auf die er in jahrelanger mühseliger Arbeit in tadellosen Runen den Beowulf geschrieben hatte, das große Epos dieses Landes. Wenn Efra oder Dem73
ne sie herausholten und auf dem Tisch ausbreiteten, war es, als öffneten sie die Tür zu einem Garten: In der Mitte stand Beowulf, der Bärensohn, der »Bienenwolf« mit seinem riesigen Schwert und hinter ihm Grendel, das bezwungene Ungeheuer, bereits ohne den Arm, den der Held ihm eigenhändig ausgerissen hatte. Grendel, der Inbegriff des Bösen, Abkömmling von Kain. Luned erfuhr auch von Parzival, dem Ritter, der etwas von einem Elf hatte. Sie schloss ihn ins Herz, denn er war wie sie ein Bewohner des Waldes, der nichts zu schaffen hatte mit dem, was in der Welt vor sich ging. Efra las ihr vor, wie Parzival, der seine Jugend in Unschuld zwischen den Bäumen des Waldes verbracht hatte, zum ersten Mal ein Pferd sah und es für einen großen Ziegenbock hielt, der seine Hörner verloren hatte. Parzival war schnell – das Laufen hatte er von den Hirschen gelernt – und mit der Tierwelt so vertraut, dass es ihm gelang, die großen, schweißbedeckten Pferde zusammen mit den Ziegen nach Hause zu bringen. Alle Tiere des Waldes waren ihm dabei behilflich, denn sie liebten ihn. So landeten die entlaufenen Stuten einiger Ritter im Stall von Parzivals Mutter. Voller Stolz auf seine Heldentat zeigte er ihr die seltsamen Tiere. Seine arme Mutter, die ihn im Wald aufgezogen hatte, um ihn vor Krieg und Tod zu bewahren, wurde ohnmächtig vor Kummer und angesichts der Gewissheit, dass man niemanden von der Welt fern halten kann. Parzival war im Wald aufgewachsen, fern aller Machenschaften der Menschen. Deshalb war Parzival rein und konnte als Einziger den heiligen Kelch berühren. Luned ließ sich auch von der Begeisterung des Dichters über die Ehre und das schlichte und gleichzeitig majestätische Auftreten der Könige in den Geschichten an74
stecken. Schneid, Ehre, Barmherzigkeit und vor allem die glanzvolle, klare Auffassung der Treue – Werte, die Luned bisher lediglich instinktiv erfasst hatte – nahmen in den langen Lektürestunden mit Demne Form und sogar Gestalt an. Der Krieg war in den Epen etwas ganz anderes als im wirklichen Leben. Das konnte Luned sich nicht erklären. Ihr fehlte zwar die eigene Erfahrung, aber Efra hatte als Junge zwei Schlachten miterlebt und seine Erzählungen klangen alles andere als poetisch; er versicherte, alles sei Chaos, Schmerz und Tod gewesen. Er erinnerte sich besonders an die Schreie der Verletzten und an den allgegenwärtigen Geruch nach Blut, Urin und Exkrementen. »Das Röcheln der Pferde, das Stöhnen, die sterbenden Männer …«, murmelte er mit abwesender Miene, »der Geruch nach Tod … All das war entsetzlich und ich hatte Angst. Große Angst«, fügte er hinzu und schüttelte dabei den Kopf. Anschließend hatte Efras Vater ein Lied über diese beiden Schlachten geschrieben. Darin waren sie noch wieder zu erkennen und zugleich aber auch ganz anders. Alle drei waren sich einig, dass darin vielleicht eine der feinen Zauberwirkungen der Worte bestand. Wenn der Dichter anstatt »Geier« »blutrünstiger Schwan« und anstatt »Galgen« »Wolfsbaum« schrieb, dann dachten sie dabei an etwas Schönes. Ein Wolfsbaum war dann kein hoher Wacholder mit blauen Beeren, sondern ein Baum, dessen Äste sich unter dem Gewicht der grauen, gekrümmten Körper der Wölfe bogen. Und anstelle von Blättern hingen an ihm die roten, in der Dunkelheit wie Brombeeren funkelnden Augen der Wölfe. Ein Baum, der zum Mond heulen würde. 75
Dagegen die Vorstellung eines Gehenkten, eines Hingerichteten, dieses entsetzlichen Pendels, der im Todeskampf zuckenden Füße, der aus den Höhlen tretenden Augen – schon der bloße Gedanke daran genügte, um Luned in Angst und Schrecken zu versetzen. Der Dichter nannte den Ruß also »schwarzen Tau am Herd« und Luned schüttelte in spöttischer Ungläubigkeit den Kopf, während sie hustend den Ruß aus dem Kamin von den Wänden wischte. Sie wollte den Beowulf auswendig lernen und ehren und damit die Generationen von Menschen, durch die er bis zu ihr gelangt war. Sie dachte an Beowulf und die ernsten Gesichter der Krieger, die diese Geschichte liebten und im Schein eines Feuers oder des kalten Glanzes der Sterne um den Geschichtenerzähler herum zusammensaßen. Sie wollte sich das gesamte Epos einprägen, damit es nicht in Vergessenheit geriet und dieser mutige, gerechte Krieger im Gedächtnis der Menschen blieb. Sie träumte mit offenen Augen und stellte sich vor, wie andere Männer und Frauen das Heldenepos von dem Blatt ablesen würden, auf das sie es geschrieben hatte. Sie würden die von ihrer Hand gemalten Buchstaben lesen, wenn sie selbst schon längst tot war. Luned sah, wie diese Menschen die Finger über die Runen gleiten ließen, so wie ihre eigenen über Demnes Abschrift geglitten waren. Sie malte sich aus, wie Beowulf vom Drachen getötet wurde und wie seine Krieger »seinen Namen feierten«. Sie stellte sich die schönen, traurigen Gesichter der Helden vor, wie sie um das Feuer herumritten, in dem der Leichnam ihres geliebten Königs brannte. Dabei weinte sie. Demne freute sich über die Leidenschaft, die er hinter 76
diesen Tränen vermutete, und bot Luned an, ihr beim Abschreiben der ersten Verse auf ein gekalktes Täfelchen zu helfen, sobald sie das Epos gut kannte. Zuerst las er ihr die wichtigsten Teile vor und sie hörte einfach zu, auf einer Truhe sitzend, die Hände im Schoß, mit geschlossenen Augen und den großen Hund zu ihren Füßen. Diese gekünstelte Feierlichkeit reizte Demne zum Lachen und er versuchte seine Schülerin zu einer lockereren Haltung zu bewegen, aber sie konnte nicht anders. Die Epen waren für sie eine sehr ernste Angelegenheit. Anschließend übten sie das Schreiben der Runen auf einem Wachstäfelchen. Sie studierten im größeren Zimmer und Efra, der nicht nur das lateinische Alphabet und die Runen beherrschte, sondern auch im Zeichnen und Ausmalen geübt war, kam ihnen zu Hilfe. Wenn Demne verzweifelte, weil er sich nicht verständlich machen konnte, erklärte Efra seiner Schülerin die kompliziertesten Dinge anhand von Beispielen. Luned übte ihr Gedächtnis, wobei der Geruch der smaragdgrünen Tinte, der Wachstäfelchen und des Hundes, ihr Freude bereitete. Beim Studieren wurde Luned niemals müde, doch alles andere – essen, irgendwo hingehen, eine Matte flechten, Efra beim Hausputz helfen, Wasser vom Brunnen holen – war anstrengend und erschöpfte sie. Nur das Studieren nicht. Zum Beispiel weinte Luned an dem Nachmittag, als Demne ihr Math, Sohn des Mathonwy vorlas, vor Freude und Wehmut große, runde Tränen. Dieses Epos war einer der Zweige des Mabinogi, der wie ein freigebiger Baum die Fantasie und den Geist der Zuhörer nährte. 77
Als Demne erschrocken aufstand und auf sie zuging, schüttelte Luned nur den Kopf und zeigte ihm ihren Unterarm mit den gesträubten Härchen. Efra lachte. »Sie ist ergriffen. Das ist alles. Komm, Kind, sprich die Einleitung nach«, bat er sie mit einem Zwinkern in Demnes Richtung. Luned stand auf. Ernst und feierlich, den Blick fest auf einen Punkt gerichtet, deklamierte sie mit klarer, wenn auch erstickter Stimme: »Es wächst eine Eiche zwischen zwei Seen Dunkel überschattet sie Himmel und Tal. Wenn ich nicht irre, stammt dieses Zeichen von Lleus Blumen. Es wächst eine Eiche auf einer Hochebene, von keinem Regen benetzt, von keiner Hitze versengt auf ihrer Anhöhe, Lleu Llaw Gyffes …« Luned hielt inne und brach in Tränen aus. Sie vermisste die Tanne, ihren besten Freund. Ach, wenn sie sie doch mit diesen edlen Worten grüßen könnte, die das Gedächtnis und die Intelligenz geformt hatten! Seit ihrer Ankunft in der Stadt hatte sie auch andere, schreckliche Wörter gelernt: Galgen, Mörder, Pranger, Halseisen, Folter, Kerker. Ihr Dorf war so klein, dass diese Wörter dort unbekannt waren. Tod, Hunger, Pest, Schmer^ hingegen gab es sehr wohl. Sie sagte sich (und machte dabei Gebrauch von einer neuen, erst kürzlich erlernten Sprache), dass jedes Wort wie eine Frucht war, wie der Wipfel eines Ideenbaums; dass das Wort sie mit dem Blitz der Erleuchtung durchzuckte, wenn sie es lernte und seinen Ursprung begriff. 78
So erging es ihr auch mit den Geschichten. Und mit Demnes Gesicht.
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Demnes Geheimnis ZUM ERSTEN MAL seit jenem Sommer, in dem Demne Schreiben gelernt hatte – vor mehr als zehn Jahren – , verzichtete er darauf, Corberic zu verlassen. Nicht weil er glaubte, der Lernprozess seiner jungen Schülerin werde wegen einer Reise ins Stocken geraten: Für Demne war das Erzählen selbst, das Gefühl dafür, was die Bewohner der entlegensten Dörfer hören wollten, eine Kunst, die so grundlegend war wie das korrekte Schreiben der Runen. Als Geschichtenerzähler genoss er Sicherheit auf den Wegen. Es war, als wäre er Soldat oder Steuereintreiber, doch im Unterschied zu diesen – ihre Berufe fand er verachtenswert – wurde er willkommen geheißen. Er konnte sich nicht vorstellen, ohne Luned zu reisen, hatte jedoch auch Angst, die Stadt mit ihr zu verlassen. Er ahnte, dass sie nicht würde zurückkehren können, wenn sie sich erst einmal außerhalb der Stadtmauer befand. Er hatte leichte Schuldgefühle, weil er sie an sich band. Manchmal waren Luneds Verstörung und Verängstigung so offensichtlich, dass er sich zwang, nicht allzu sehr darauf zu achten. Denn wenn er Anzeichen von Furcht bei ihr entdeckte, verspürte er fast zwanghaft den Impuls, ihr die Rückkehr in ihr Dorf anzubieten. Wenn sie im Traum zitterte und stöhnte, stand er die ganze Nacht in der Tür ihres Zimmers und betrachtete das an die Wand gekauerte Mädchen, ihren angespannten Rücken im schwachen gelben Schein der Lampe. Er hatte sie auch unterwegs schlafen sehen, unter freiem Himmel. Das war ein ganz anderer Schlaf gewesen und auch der träumende Körper schien ein anderer gewesen zu sein. In der freien Natur hatte Luned an ein schönes Tier er80
innert, das mit gelöstem, entspanntem Körper, halb offenem Mund und ungeschützter Kehle geschlafen hatte, die Arme über der Decke im taunassen Gras, die Hände offen. Damals hatte er sie geküsst und sie hatte erfreut reagiert. Nun hatte sie einen harten Zug um den Mund und ihre Hände lagen zu Fäusten geballt auf der Brust. Sie beklagte sich nicht und versuchte ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie gab sich Mühe, das Haus sauber zu halten (auch wenn sie eine schlechte Köchin war und sich oft die Finger verbrannte), ging zur Mühle und wusch die Wäsche im Fluss; aber die einzigen Stunden, in denen sie wieder sie selbst wurde, waren die des Studiums. Zu seiner großen Überraschung beobachtete Demne, wie seine Schülerin sich zunehmend für die Erzählung von Beowulfs Heldentaten begeisterte. Natürlich war dies ein zentrales Epos für den Geschichtenerzähler: Die überragenden Figuren des menschlichen Kriegers und des übernatürlichen Ungeheuers, die in unzähligen anderen Epen und Liedern wieder auftauchten, waren im Beowulf lebendig und eindringlich gestaltet, verklärt durch einen Nimbus von Wirklichkeit. Aber Luned sah Dinge, auf die Demne nie gekommen wäre. Ihre Kenntnis des Waldes und der Tiere inspirierte ihre Visionen, füllte sie mit Geräuschen, Lichtern und Gerüchen, winzigen, aber unabdingbaren Details. Die schlichten Verse des Gedichts füllten sich mit Laub, Seufzern und grünen Gifttropfen und das Leben begann in ihnen zu funkeln wie Glut. Im neunzehnten Gesang zum Beispiel, als Grendels Mutter, von fürchterlichem Zorn über den Tod ihres Sohnes gepackt, König Hrothgars Gefolgsmann entführt 81
und es im Epos heißt, dass sie »ihn ins Moor schleppte und im Schlaf meuchelte«, wollte Luned dutzende von Wörtern einfügen, anstatt einfach nur den Text zu lernen. »Ah, ja, ich kann es sehen, ich kann es sehen«, murmelte sie mit verklärtem Blick. »Was siehst du, Kind? Sag mir, was du siehst …«, bat Efra. Sicher und beredt erzählte Luned, wie sie die Szene vor ihrem geistigen Auge sah: die riesige nackte Frau, behaart wie ein Mann. Den schlafenden, blutüberströmten Alten – in Purpur und Fell gekleidet – in den kräftigen, dunklen Armen des Ungeheuers. Sein silbergraues Haar, das im Nebel über dem Moor leuchtete und über den steinernen, spitzen Busen von Grendels Mutter wehte. Deren unförmige Hände mit dicken, scharfen Fingernägeln, die schmalen Hände des Alten, die über dem Morast hingen, den ehernen Ring am Zeigefinger, das Krächzen der Vögel in der kalten, grauen Morgendämmerung. Grendels Mutter watete durch das Moor, das Grauen erregende Antlitz zum Himmel gewandt, und ihr Gebrüll voller Schmerz und Wut schreckte die Vögel auf, während die Binsen unter ihren Schritten tödlich geknickt wurden. Tränen strömten über ihre aufgedunsenen Wangen und benetzten ihren Hals. All dies beschrieb Luned. Efra und Demne hörten ihr aufmerksam zu. Am Schluss sah das Mädchen den noblen Leichnam des Gefolgsmannes im Moor liegen, seine offenen, toten Augen, sein tapferes Blut, das sich in roten Rinnsalen mit dem trüben, lehmigen Wasser mischte. Unterdessen »dröhnten die Balken des Saals, als der berühmte Held mit seinen Männern den Raum durchquerte«. 82
Demne lauschte ihr mit weit aufgerissenen Augen. Dieses Mädchen, das aus einem entlegenen Bergdorf stammte, konnte sich mit bewundernswerter Genauigkeit den Hof der heldenhaften Dänen vorstellen. Darin bestand Luneds Talent, mehr als in ihrem guten Gedächtnis oder der Geschicklichkeit ihrer Finger. Efra stand auf und umarmte sie. Als Luned sich zum Schlafen zurückzog, ordnete Demne die weißen Täfelchen, auf die er das Epos geschrieben hatte, und las sie noch einmal aufmerksam durch. Er begriff, dass seine Schülerin die Geschichten bereichern und – so dachte er – als Geschichtenerzählerin glücklich werden konnte. Doch er machte sich auch große Sorgen, denn es war offensichtlich, dass Luned in Corberic sehr litt. Der Geschichtenerzähler stand auf und trat auf die Schwelle ihres Zimmers. Er betrachtete Luned: auf dem Strohsack zusammengekauert, die Hände auf der Brust zu Fäusten geballt, die Lider zusammengepresst, die Lippen zusammengekniffen und starr. Aus einem angespannten Mundwinkel tropfte ein dünner Speichelfaden und machte die Decke nass. Die Lampe warf ein sanftes Licht auf die schlafende Gestalt. Vom Kummer überwältigt, begann er zu weinen. Da näherte sich Efra und legte ihm die Hand auf die Schulter. Demne sagte leise zu seinem Vater: »Sie ist hier nicht glücklich. Schau sie dir an, sogar im Schlaf ist sie verängstigt. Sieh nur, wie schmal sie geworden ist.« Efra fragte: »Was hast du vor?« »Sobald sie mich darum bittet, bringe ich sie in ihr Dorf zurück. Wenn sie mich haben will, nehme ich sie 83
zur Frau. Aber jetzt kann ich unmöglich mit ihr reden. Schau sie dir an! Ich trage die Verantwortung für das, was geschieht. Ich bin schuld, dass sie krank ist.« Efra seufzte und trat ans Feuer. Demne blieb stehen und betrachtete Luned erneut. Er liebte sie, wie er noch nie eine Frau geliebt hatte. Beklommen stieß auch er einen Seufzer aus. Auf einmal war ihm, als lege sich eine warme Hand auf seine Brust und spende ihm Trost; als sei eine wohlgesinnte Gestalt neben ihn getreten und flüstere ihm aufmunternde Worte ins Ohr. Er verspürte das zarte, zerbrechliche Wohlgefühl der Hoffnung. Vielleicht würde sie ihn irgendwann lieben. Sie hatte freudig gelächelt an dem Tag, als er sie geküsst hatte. ›Wenn es denn sein soll, dann möge es gut ausgehen‹, sagte er sich, wischte mit dem Handrücken die Tränen ab und setzte sich wieder an den Tisch, um den Beowulf weiterzulesen.
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Cai, der Maurer IN EINEM getünchten Haus in der Nähe wohnte ein Maurer namens Cai. Er war nicht mehr ganz jung und lebte allein, war aber ein fröhlicher, freundlicher Mann. Sein schmales, entfernt an ein Pferd erinnerndes Gesicht wurde immer von einem Lächeln erhellt und in seinem dichten, sandfarbenen Schopf fielen die grauen Haare kaum auf. Er war schmal wie ein Stück Schnur und genauso zäh. Immer hatte er einen Knochen für den rothaarigen Hund dabei. Cai gehörte zu den wenigen Menschen, die das Wort an Luned richteten. Dass sie abweisend wirkte, führte er auf ihre Schüchternheit zurück und hinter ihrer Schlichtheit erahnte er eine zarte, liebenswerte Person. Luned mochte ihn ebenfalls. Seine groben Maurerhände voller Narben erinnerten sie an die Hände ihres Vaters. Cai war ein einfacher Mann, ganz im Gegensatz zu anderen Menschen, die sie in den Monaten, seit sie in der Stadt lebte, kennen gelernt hatte. Außerdem waren Efra und Demne mit ihm befreundet. Genau wie früher für Luned war für Cai das Schreiben etwas, das an Zauberei grenzte – schließlich bedeutete das Wort Rune Geheimnis. Ganz zu schweigen vom lateinischen Alphabet, dessen nur den Geistlichen verständliche Buchstaben auf manch baufälligem Gemäuer wie geheimnisvolle Mahnungen wirkten. Niemand außer den Geistlichen sprach Latein. Und vor ihnen hatte Cai Angst. Für ihn waren sie undurchschaubare fremde Magier. Es konnte auch niemand Latein schreiben außer ihnen. In dieser Sprache waren ihre Rituale verfasst, die nicht aus diesem Land stammten. Dass die Geschichtenerzähler mit ihnen zu tun hatten, war nicht ungewöhnlich, 85
sie hatten ja auch Umgang mit Magiern. Und auch in den Epen selbst, nicht zuletzt im Mabinogion am Ende vom Traum Rhonabwys, hieß es, kein Barde oder Geschichtenerzähler könne den Traum ohne Buch kennen lernen wegen der großen Anzahl unterschiedlicher Pferde und der vielen eigenartigen Details bei den Waffen, der Kleidung, den kostbaren Umhängen und den magischen Steinen. Cai kannte viele Epen und Lieder, konnte jedoch weder lesen noch schreiben. In der Zeit, als Luned und er Freunde wurden, zeigte sie jedem, der es sehen wollte, ihr mit Buchstaben bedecktes Wachstäfelchen. Der Maurer betrachtete das gelbliche, überall eingeritzte Wachs und das Schreibgerät mit einer Hochachtung, die an Verehrung grenzte. Er konnte kaum glauben, dass man all die Dinge, die in einer Geschichte eine Rolle spielen, auf solch einer kleinen Fläche unterbringen konnte. Eines Abends zeigte Demne Cai auf Luneds Bitte hin die Bücher. Beim Anblick der Lederkisten mit den starren Stoffstücken voller Zeichen und Verzierungen lachte der Maurer schallend. »Du willst mir weismachen, dass da drin Wälder und Menschen und Pferde und Königsschlösser untergebracht sind? Wie denn?« »Die Geschichten sind aufgeschrieben …«, antwortete Demne amüsiert. »Dann zeig sie mir doch, die Menschen und die Pferde und die Bäume!« »Cai, in deinem Kopf steckt die beste Art und Weise, eine Mauer zu bauen. Und die Fassaden aller Häuser dieser Stadt. Auch die Lieder, die du in der Taverne singst … Und all das ist auch nicht zu sehen.« Efra hatte sich 86
eingemischt. »Deine Erinnerungen, dein Wissen, Menschen, Pferde und Bäume sind da drin« – Efra tippte ihm mit dem Zeigefinger an die Stirn – , »auch wenn du sie nicht sehen kannst …« Begeistert stimmten Demne und Luned zu. Cai schwieg. Er hatte es nicht begriffen. Die Zeichnungen, die die Ränder zierten, genügten ihm nicht. Woher Demne und Efra wussten, was in den Kisten steckte, war und blieb für ihn ein Wunder oder Zauberei. Cai erging es wie den meisten Leuten, für die die Schrift niemals das Gedächtnis ersetzen würde. Selbst nach dieser Unterhaltung waren ihm diese Dinge genauso rätselhaft wie vorher. Für die nordischen Völker und ihre Nachkommen war das geschriebene Wort eng mit den Beschwörungsformeln und der Zauberei verwandt. Cai glaubte zum Beispiel, die Runen, mit denen man »Baum« schrieb, stellten auf obskure, magische Weise einen Baum dar, der einer Art Jenseits angehörte; der Baum, der Inhalt der magischen Rune, sei nur für die Magier und Geschichtenerzähler sichtbar. Luned gab ihm teilweise Recht. »Ja, genau«, sagte sie, »bloß ist die Rune nicht nur eine Zeichnung, sondern mehrere.« Cai ließ nicht locker, bis Luned auf ihr Täfelchen die Runen schrieb, die einen Baum darstellen sollten. Als sie damit fertig war, schnupperte der Maurer am Wachs, ließ die Finger über die Oberfläche gleiten und schüttelte leicht verärgert den Kopf. »Zeig mir die Krone, die Wurzel und die Blätter. Davon ist hier absolut nichts zu sehen.« 87
»Die Krone, die Wurzel, die Blätter – das sind andere Wörter.« »Und das hier? Welchem Teil des Baums entspricht das? Oder ist es ein Baum aus der Ferne?« Da Luned die Äste und Blätter des Wortes Baum nicht vorweisen konnte, bat Cai sie, Ulme und Brombeere zu schreiben. Die Diskussion flammte wieder auf, denn nun wollte Cai wissen, warum die Runen, die die Ulme darstellten, nicht mehr Platz einnahmen als die, die für die Brombeere benutzt wurden. Auf Luneds mysteriösem Täfelchen war es gerade umgekehrt: Ulme wurde durch eine kurze Gruppe von Runen dargestellt und Brombeere durch eine längere; in der Wirklichkeit war die Ulme dagegen groß und stark und die Brombeere ein Gestrüpp aus eher schmalen Ranken. Luned geriet in Verwirrung und war bald genauso durcheinander wie Cai. Sie kam mit ihren Erklärungen nicht weiter und der Maurer genierte sich, die Geschichtenerzähler zu fragen. Als Demne jeden Tag ins Kloster musste, um unter der Aufsicht der Mönche von Corberic zu arbeiten, verbrachte Luned die Nachmittage mit Efra und Cai. Cai war ein freier Mann. Arm und frei, genau wie sie selbst. Ihr war seine Gesellschaft angenehm. Cai, der erfahrene Maurer, bewunderte die Erfindungsgabe und Geschicklichkeit der alten römischen Architekten. Die Reste der Heerstraße, der Stadtmauer, des Aquädukts und die Bruchstücke von Säulen, die man für das Fundament der Kirche benutzt hatte, waren für ihn die Schätze von Corberic – wertvoller als das Gold im Haus des Stadtherrn oder die auf den Ambossen geschmiedeten Schwerter und der Weizen im Lagerhaus. Während Luned den Wald als ihr Zuhause betrachtete, 88
stellte für Cai die Stadt die freundlichste aller Herbergen dar. Efra und er gaben sich Mühe, dem Mädchen Corberics angenehme Seiten zu zeigen. Sie führten Luned an die Mole, wo sie Schiffe mit weißen gehissten Segeln ankommen oder ablegen sahen. Gemeinsam warteten sie auf die Händler aus dem Norden und erlebten ihre Ankunft auf Flößen mit, die aus einem halben Dutzend zusammengebundener Fässer bestanden. Der Maurer, der alle Orte kannte, an denen Lebensmittel verkauft wurden, schenkte dem Mädchen eine Tüte voller Marzipankugeln aus Mandelpaste, die mit Rosenwasser parfümiert war. Cai zeigte ihr, wie die Menschen in Corberic ein Netz knüpften und damit fischten, und dabei überraschte ihn ihre Geschicklichkeit. An einem Donnerstag zogen sie die Netze voller Neunaugen aus dem Wasser und Demne bereitete sie mit Honig und Thymian zu. Auch unter den Gemüseverkäufern auf dem Markt hatte er Freunde; und er kannte einen Mann, der mit Juwelen handelte und sich eines Abends bei Bier und Unterhaltung unter Luneds staunenden Augen daranmachte, zwei raerowingische, mit Amethysten besetzte Armbänder mit einem Tuch zu reinigen. Cai führte sie zur Kirche, damit sie den goldenen Altar und das christliche geschnitzte Kreuz bewunderte. Gemeinsam knieten sie nieder, fasziniert von dem verschwenderischen Reichtum des Gotteshauses. In Cai fand Luned einige Eigenschaften ihres Bruders Ronan wieder. So zum Beispiel die Fähigkeit, sie zu trösten, wenn sie traurig war, aber auch andere, die ihr neu waren, etwa seine endlose Geduld. Es war Cai, der Luned zum ersten Mal einen Text diktierte. Cai kannte die Sage über den verwegenen Magier 89
Merlin, den Beschützer und Ratgeber des Königs Artus. Merlins Abenteuer begannen noch vor seiner Geburt, denn bereits im Leib seiner Mutter verteidigte er diese in perfektem Latein vor ungerechtfertigten Anschuldigungen. Merlin war verrückt, er lebte im Wald und zwitscherte wie ein Vogel. Er bekam Drachen zu Gesicht, konnte Steine durch die Luft fliegen lassen und sorgte dafür, dass seine Heldentaten aufgeschrieben wurden. Auch wenn Luned das Epos über den Magier nicht so schön fand wie den Beowulf, bedrängte sie Cai, ihr die Heldentaten der Ritter und des mächtigen Druiden zu erzählen. Besonders beeindruckt war sie von Cais Aussage, die Steine, die Merlin aus Irland hatte kommen lassen, befänden sich noch im Friedhof von Salisbury und bildeten dort einen Kreis, der die geheime Ordnung des Himmels widerspiegelte. Luned hörte mit offenem Mund zu. Geschmeichelt von so viel Aufmerksamkeit, erzählte Cai ihr alle Geschichten, die er kannte. Manchmal hatte Luned Lust, den Dialog zwischen König Vortigern und dem Magier zu hören. Dann ließ sie ihre Arbeit liegen und machte sich auf die Suche nach Cai. Anfangs ließ der Maurer sich willig darauf ein, belustigt über eine solche Anwandlung, und deklamierte die Verse feierlich. Aber Luned schien nicht genug bekommen zu können. Nachdem sie Cai einmal beim Essen unterbrochen hatte, ihn ein andermal aus dem Mittagsschlaf gerissen und zuletzt bei der Plauderei mit einer hübschen, koketten Witwe gestört hatte, die ihm die Sache übel nahm und ihn danach nicht mehr grüßte, hatte der Maurer die Nase voll. Jedes Mal, wenn Luned den Dialog hörte, klatschte sie begeistert, aber für Cai war er durch die ständige Wie90
derholung zu leerem Geschwätz geworden. Daher schlug er vor, sie solle ihn auf ihr Täfelchen schreiben. Das nahm einen ganzen Nachmittag in Anspruch. Luned schrieb mit unsicherer Hand die Geschichte des roten und des weißen Drachens nieder; der eine war Sinnbild für das grausame, feurige Herz des Königs, der andere stand für die Gerechtigkeit, die früher oder später einkehren würde. Wie der weiße Drachen den roten versengte und der rote sich verwundet ins Gestrüpp rettete und schließlich starb. Luned schrieb auf ihr Täfelchen, löschte missglückte Runen wieder aus und setzte noch einmal neu an. Als Efra und Demne nach einem Besuch bei einem Kunden nach Hause kamen, trafen sie sie glücklich und stolz an. Efra beugte sich über das Täfelchen und umarmte das Mädchen: »Was für eine klare Schrift!«, rief er aus. Demne ergriff Luneds Hände und sagte: »Nun geht das Versprechen in Erfüllung, das ich dir gegeben habe, aber das hast du dir selbst zu verdanken. Weißt du, ich kannte diese Version des Epos nicht. Wir wollen sie unseren Tafeln hinzufügen.« Luned empfand große Freude. Am Abend legte sie ihr Täfelchen neben die Lampe und las den Dialog des Königs mit dem Magier immer wieder, bis sie einschlief. Sie war überglücklich, dass sie ihn ganz allein aufgeschrieben und den Geschichtenerzählern damit eine Freude bereitet hatte. Nun, beim Lesen, spürte sie, dass sie bei diesem Kampf dabei gewesen war und Merlins schönes, edles Antlitz von weitem gesehen hatte.
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Eine ungerechtfertigte Verbannung WENIGE WOCHEN SPÄTER befiel Cai ein Fieber, das ihn ans Bett fesselte. Luned und die hübsche Witwe – die mittlerweile wusste, dass Luned bei Demne in die Lehre ging, und eine gute Gelegenheit sah, ihre Freundschaft mit Cai wieder anzuknüpfen – brachten ihm abwechselnd Körbe mit Käse, Brot und Bier. Cai bestand darauf, es sei nichts weiter, nur ein Ungleichgewicht der Körpersäfte, weil er einen fettigen Kapaun mit einer dicken Soße mit Walnüssen und Rettich gegessen habe. Nach drei Tagen war er wieder gesund. Die Krankheit hinterließ nur eine Spur: einen silbrigen, tropfenförmigen Fleck auf seiner linken Wange. Anfangs beachtete ihn niemand; der Fleck fiel auf seiner hellen Haut kaum auf, genauso wenig wie seine grauen Haare in seinem blonden Schopf. Aber Cai spürte dort keine Wärme und Kälte mehr und suchte den Arzt auf, damit er ihm eine Salbe gab, die die Haut wieder empfindlich machte. Doch die Salbe half nicht, denn was Cai auf der Wange hatte, war das perlmuttfarbene, verhärtete Anzeichen der Lepra. Der Arzt ließ ihn mit Blutegeln zur Ader und setzte ihm Schröpfköpfe auf die sommersprossige Haut am Rücken. Ohne Erfolg. Er gab ihm ein Heilmittel aus Fuchsurin und Eisenraspeln zu trinken. Ohne Erfolg. Als der Maurer am nächsten Tag den Behandlungsraum des Arztes betrat, bot dieser ihm einen Stuhl an und stach mit der Spitze eines heißen Messers in den Fleck. Cai saß mit weit aufgerissenen Augen da und keuchte vor Angst, doch das Messer spürte er nicht. Die Miene des Arztes sagte ihm alles. Cai wurde aus der Stadt gewiesen, denn der Arzt er92
stattete Meldung bei der Behörde. Er war ein dicker, habgieriger Mann von gespielter Herzlichkeit, dessen einziger Ehrgeiz darin bestand, ein großes Haus voller Sklaven in der Nähe des Viertels der Reichen zu erwerben, bei denen er sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit einschmeichelte. Vertreibung und Verbannung, die althergebrachte separatio leprosorum, erfuhr einer, der nie jemandem etwas zu Leide getan hatte. Am Nachmittag standen die Wachen des Stadtherrn vor seiner Tür, angeführt vom Arzt und begleitet von einem finsteren Priester, der unaufhörlich Gebete vor sich hin murmelte und nervös sich bekreuzigte. Mit gezücktem Schwert wurde Cai aus seinem Haus geholt. Dort erwartete ihn der wohl genährte Arzt mit maskiertem Gesicht, umringt von Schaulustigen und Nachbarn, unter ihnen die hübsche Witwe, die weinte, und Efra, der innerlich vor Zorn kochte. Ein Soldat setzte dem Maurer das Schwert auf die Brust und zwang ihn, auf den Arzt zuzugehen. Dieser streifte Cai eine weiße Kapuze aus gewöhnlichem, grobem Stoff über das erschrockene Gesicht. Unwirsch forderte er ihn auf, die Klapper in die Hand zu nehmen, das Kennzeichen für seine Krankheit. Mit ihr musste er die Leute vor seiner Anwesenheit warnen. In diesem Moment kam Demne nach Hause. Als er begriff, was vor sich ging, bahnte er sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge und stellte den Arzt zur Rede. »Was für Beweise gibt es, dass dieser Mann Lepra hat?«, schrie er und schubste ihn von seinem Freund weg. Er riss Cai die Klapper aus der Hand und schleuderte sie auf den Boden. Der Arzt zog eine lange Eisennadel aus der Tasche 93
und hielt den Maurer an der Schulter fest. Er lüpfte die Kapuze und ließ das Gesicht aufgedeckt. Cai schluchzte, während der Arzt die Spitze der Nadel in den Fleck auf seiner Wange senkte. »Er spürt nichts, das Fleisch in seinem Gesicht ist abgestorben. Ich halte mich nur an die Gesetze.« Da löste sich Efra aus der Menge und ergriff Demnes Arm. Demne schüttelte die Hand seines Vaters ab und trat drei Schritte von dem Arzt und dem Maurer zurück. Der Arzt bedeutete Cai, er solle die Klapper aufheben. Dann warf er ihm mehrere Hand voll Erde auf die Füße, als wolle er ihn lebendig begraben, und verbrannte vor seinen Augen seine wenigen Habseligkeiten. Überstürzt haspelte er die Litanei der Verbote herunter, die von nun an das Leben des Maurers bestimmen würden. Unter anderem durfte er »nie wieder in Gesellschaft von anderen außer Leprakranken essen, nie wieder aus dem Brunnen trinken, nie wieder eine Frau oder sonst jemanden berühren, keine Nachkommen haben, keine Kinder anfassen …« Luned sammelte gerade die Kleidung ein, die sie am Flussufer gewaschen hatte, da entdeckte sie den Rauch und eilte rasch herbei, gefolgt von einem Schwarm Kinder, die Kiesel nach ihr warfen und die saubere Wäsche schmutzig machten. Als sie ankam, sah sie vor Cais Haus ein Feuer und einen Menschenauflauf. Sie konnte gerade noch hören, wie der Arzt den Maurer in hochtrabenden Worten belehrte: »Dein Heim wird der Wald sein und nie wieder wirst du – bei Strafe des Todes – die Gesellschaft der Menschen suchen, denn du sollst wissen, dass die Lepra eine Strafe für deine Sünden und deine Unterlassungen ist. 94
Hiermit verhänge ich den Bann über dich, auf dass du dich in Corberic nie wieder blicken lässt.« Cai war auf die Knie gesunken und weinte, die weiße, spitz zulaufende Kapuze schief auf dem Kopf. Luned bahnte sich einen Weg durch die Menge. Der Arzt sah sie näher kommen, ahnte jedoch nicht, was das Mädchen vorhatte. Er sprach weiter, bis es ihm schließlich die Sprache verschlug. Demne machte einen Schritt auf Luned zu, aber Efra hielt ihn zurück und diesmal gehorchte Demne ihm, ebenso verblüfft wie der Arzt. Luned kniete neben dem Maurer, packte fast gewaltsam seine Hand und führte sie an ihre Lippen. Cai sträubte sich und versuchte sich loszumachen, ohne das Mädchen vor den Kopf zu stoßen. Seine Augen waren weit aufgerissen und ihm liefen Tränen über die eingefallenen Wangen. Sein hervorstehender Adamsapfel zitterte und aus seiner Kehle drang ein leises, fortwährendes Stöhnen. Luned, die ebenfalls weinte, fragte die Leute um sie herum: »Was wird ihm vorgeworfen? Was soll er getan haben, gute Leute? Ich kenne diesen Mann, er ist rechtschaffen. Er ist mein Freund!« Eines der Kinder, das ihr nachgelaufen war, warf einen Erdklumpen nach Cai, der auf der Kapuze des Leprakranken einen dunklen Fleck hinterließ. »Er hat Lepra!«, rief eine Frauenstimme. »Küss ihn nicht!« Ohne Cais Hand loszulassen, die er ihr nach wie vor zu entziehen versuchte, fragte Luned: »Was ist dabei, wenn ich ihn küsse? Wenn er die Lepra wegen seiner Sünden bekommen hat, brauche ich keine Angst zu haben, mich anzustecken – seine Sünden 95
sind doch nicht die gleichen wie meine! Warum stoßt ihr ihn aus? Lasst ihn in Ruhe!« »Du bist frech und unwissend!«, schrie der Arzt. »Lass ihn los, sonst verbanne ich dich ebenfalls! Er hat Lepra, du dumme Gans!« In diesem Augenblick spürte Luned Demnes Hände auf den Schultern. Demne wies den Arzt zurecht: »Mit welchem Recht beleidigen Sie das Mädchen, nur weil sie gut zu Cai ist? Sie sind sehr hart mit diesem Mann umgesprungen. Wenn er irgendeine Schuld auf sich geladen hat, ist die Lepra Strafe genug.« »Das ist wahr«, sagte mit heiserer Stimme der Priester, der bis zu diesem Moment geschwiegen hatte. »Die Lepra ist eine Sache zwischen Gott und ihm. Wir kennen seine Sünden nicht. Das Mädchen ist unschuldig. Lass ihn, Bruder, er möge mit Gott gehen. Und du«, fügte er an Cai gewandt hinzu, »verzeih mir, wenn ich ungerecht zu dir bin.« Mit bebender Stimme murmelte der Priester das endgültige Urteil: »Für die Welt bist du tot, doch für Gott lebst du«, und schlug elegant das Zeichen des Kreuzes über dem gesenkten Kopf des Maurers. Die Umstehenden reagierten mit beifälligem Gemurmel. Efra trat näher, fasste Cai am Arm und half ihm beim Aufstehen. Der Priester stellte sich zwischen den Arzt und den Leprakranken. Demne streichelte Luned über den Kopf, die die Szene wie gelähmt vor Trostlosigkeit betrachtete. Der Arzt trat zur Seite und die Menge teilte sich, um den greisen Geschichtenerzähler und den Maurer hindurchzulassen. Langsam gingen die beiden in Begleitung des rothaarigen 96
Hundes die Straße hinunter, auf das Tor in der Stadtmauer zu. Mit einigen Schritten Abstand folgte ihnen die hübsche Witwe, die liebevoll auf Cai einredete. Bald schlossen sich ihr andere Personen an. Die Menschenmenge löste sich auf und schließlich standen nur noch der Arzt, Demne und Luned neben den verkohlten Resten von Cais Möbeln und Kleidung. Demne stieß zwischen den Zähnen hervor: »Sie haben hier nichts mehr zu tun. Gehen Sie doch wieder zu Ihren trägen Kranken und behandeln Sie sie mit Ihren Elixieren, die bestimmt aus Maultierurin sind …« Luned hörte nichts. Sie beobachtete, wie Efra sich am Stadttor von Cai verabschiedete, neben ihnen die Leute, die den beiden gefolgt waren, sowie Schaulustige. Der Wachposten vor seinem Häuschen ließ sie nicht aus den Augen und balancierte dabei mechanisch seine Lanze. In der roten Abendsonne sah sie Cai in Richtung Wald davongehen, gefolgt von dem rothaarigen Hund. Ihre Tränen versiegten nicht.
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Eine geheime Unterredung IN DIESER NACHT erwachte Luned mit einem beklemmenden Gefühl des Eingesperrtseins und der Sorge um Cai. Sie stand auf, warf sich den Umhang über, der ihrer Mutter gehört hatte, schlüpfte in ihre Sandalen und löschte die Lampe. Alte Fertigkeiten kamen ihr zugute: Da sie im Dunkeln wie eine Katze sehen konnte, schlich sie lautlos an den Strohsäcken von Demne und Efra vorbei. Die beiden schliefen den tiefen Schlaf derjenigen, die bei Tagesanbruch aufstanden, hart arbeiteten und bestimmt – so überlegte sie – erschöpft vor Traurigkeit waren. Sie hielt die Luft an, schickte ein Stoßgebet zu den Göttern, die das Dorf ihrer Eltern beschützten, und öffnete die Tür. Corberic lag vor ihr im Mondlicht wie ein kleines Gebirge mit ungleich hohen, dunklen Spitzen. Luned schlang ihren Umhang fester um sich und steuerte auf das Stadttor zu, immer an den Hauswänden, unter den Dachvorsprüngen und den Vordächern entlang; ein beweglicher Schatten, der sich zwischen den eckigen, reglosen Schatten der Häuser dahinschlängelte. Sie huschte auf die Stadtmauer zu und versteckte sich in deren dunklem Schatten. Neben dem Holzhäuschen des Wachpostens brannte ein Reisigfeuer. Das riesige Fallgitter aus gekreuzten Eichenbohlen, mit dem man die Stadt abriegeln konnte, war bereits herabgelassen. Die Soldaten unterhielten sich und an Luneds Ohr drangen abgehackte Satzfetzen und schallendes Gelächter. Die Mauer zu erklimmen war kein leichtes Unterfangen, nicht einmal für Luned, die im Klettern auf Bäume und moosige Steine doch viel Übung hatte. Zum Glück 98
richtete sich die Aufmerksamkeit der Soldaten ganz auf das Geschehen außerhalb der Mauer sowie auf das Würfelspiel, mit dem sie sich die Zeit vertrieben. Die gedämpften Geräusche aus dem Inneren der Stadt beunruhigten sie nicht. Luned machte einen Bogen um das Tor, hielt sich jedoch immer dicht an der Stadtmauer und tastete sie mit zusammengekniffenen Augen ab. Die Zeit und die Witterung hatten zwischen den Steinen Spalten hinterlassen, die sie sich zunutze machen wollte. Weit weg von den Wachen und dem Schein ihres Feuers fand Luned schließlich, was sie suchte. Sie zog ihre Sandalen aus, band sie zusammen und hängte sie sich um den Hals. Den Umhang ihrer Mutter legte sie sorgfältig zusammen und versteckte ihn in der Nähe. Mit hochgekrempeltem Rock kletterte sie wie eine Katze auf die Mauer und sprang aus der Stadt hinaus. In der Ferne war der ersehnte Schutz des Waldes wie ein dunkler Fleck zu sehen. Luned lief auf die Bäume zu und atmete tief ein, spürte, wie ihr Brustkorb sich weitete, um die Luft willkommen zu heißen, die frei war vom Rauch und Gestank der Stadt. Doch die Luft war kalt und die plötzliche Kühle bewirkte, dass sich die Muskeln in ihrem Hals zusammenzogen und ihre Nase zuschwoll. Alles war köstlich: der Schmerz, die Düfte, die beinahe vergessene eisige Feuchtigkeit in den Kniekehlen. Einfach alles. Luned bewegte sich leicht wie ein Reh. Sie hörte die Hunde, bekam jedoch keine Angst. Ihr Bellen war eines der wenigen Dinge, an das sie sich in diesen Monaten gewöhnt hatte. Beim Laufen sanken ihre Füße in das feuchte Gras abseits des Weges, der zum 99
Stadttor führte; hier gab es fast keine Spuren von Karren und Menschen. Luned hustete und stieß kleine Schreie aus. Wie in den Sagen spürte sie, dass die Berührung mit der Erde sie von der allgegenwärtigen Fäulnis in der Stadt reinigte und ihr neue Kraft verlieh. Als sie den Wald erreichte, umarmte sie nacheinander mehrere Kiefern, während sie immer weiter hineinlief. Sie bückte sich, hob einen Arm voll trockenes, duftendes Laub auf und tauchte das Gesicht hinein, ohne sich um die Klümpchen Erde zu kümmern, die ihre Wangen beschmutzten und wie Wassertropfen auf ihr Kleid rieselten. Sie war ein Geschöpf des Waldes und nun befand sie sich in Sicherheit. Sie ließ das Laub fallen, rannte über den weichen Waldboden und rief: »Cai! Cai! Ich bin’s, Luned!« Der rothaarige Hund hörte sie als Erster. Bellend und freudig springend tauchte er wie ein Löwe zwischen den Bäumen auf und stürzte sich auf sie, um sie zu begrüßen. Zum zweiten Mal gelang es ihm, sie zum Lachen zu bringen, obwohl sie traurig war: das erste Mal an jenem Tag, als sie in der Stadt angekommen war, und nun, da sie im Dunkeln heimlich nach ihrem verbannten Freund suchte. Weise wie ein Magier warf der rothaarige Hund sich ihr zu Füßen und streckte ihr erneut den hellen Bauch entgegen. Luned bückte sich, um ihn zu streicheln, da hörte sie Schritte und das Knistern von dürrem Laub. Als sie den Blick hob, stand Cai vor ihr. »Ich brauche doch nicht die Klapper zu benutzen, um dir meine Anwesenheit mitzuteilen, oder? Nicht bei dir«, sagte er mit Tränen in den Augen. 100
»Nein, Cai, bei mir nie!«, rief Luned und richtete sich auf, um ihn zu umarmen. Der Leprakranke wich zurück und schlug die Hände vors Gesicht. »Komm mir nicht zu nahe. Ich bin krank.« »Das ist doch nicht deine Schuld! Niemand wird absichtlich krank. Wer die Aussätzigen verantwortlich macht, ist feige und unbarmherzig. Ich bin deine Freundin und will dir etwas Wichtiges sagen. Hör zu, Cai, du musst einen Ring aus roten Blumen suchen und ihn betreten. Diese Ringe sind Tore zur Welt der Elfen, das weiß ich aus den Epen.« »Kleine, ich habe viel zu viel Angst davor, an dieser Krankheit zu sterben, die einen zerfrisst, und allein zu sein wie ein Wolf im Wald. Da kann ich nicht auch noch das Reich des Waldvolks suchen«, erwiderte Cai mit gesenktem Kopf. »Hör auf mich, Cai!« Luned wurde ungeduldig. »Im Reich der Feen hat die Lepra keine Bedeutung. Dort zählen andere Dinge; wenn du sie aufsuchst, werden sie dich aufnehmen. Sie weisen niemals jemanden ab, der aus freien Stücken zu ihnen kommt. Du bist nicht auf Schätze, Reichtümer oder Macht über sie aus. Die Feen nehmen dich ganz bestimmt auf; sie leben ewig und sind ganz anders als die Menschen in der Stadt. Sie können viele Gestalten annehmen. Glaubst du, dass jemand, der sich in ein Wildschwein, eine Schlange, einen kristallklaren Wasserfall oder eine nie welkende Rose verwandeln kann, Angst vor einer menschlichen Krankheit hat? Geh zu ihnen!« »Sag mir bitte, wie sie sich in kristallklares Wasser verwandeln«, schluchzte der Leprakranke und brach neben einer Kiefer zusammen. Luned kniete neben ihm 101
nieder und ergriff seine Hand. Sie erzählte ihm von den Elfen und von sich selbst, vom Wald und von ihrer Kindheit inmitten der Bäume, genau wie bei Parzival. Vom toten Bärenjungen in der Falle, das sich die Tatze beinahe durchgebissen hatte, von ihren über alles geliebten Fröschen. Und auch von ihrem Freund, der Tanne, und davon, wie sie das Leben in dem festen, duftenden Körper des Baumes pulsieren gespürt hatte, wenn sie ihn umarmte. Sie erzählte ihm von ihrer Mutter und ihrem Bruder Ronan und ihrem Freund Ogier, der die Kaulquappen getötet und später um Verzeihung gebeten hatte. Von dem Wildschwein, das im Frühjahr ganz außer sich geriet, und von den mit Moos gekrönten Hirschen, die auf einer Lichtung weideten, auf der jedes Blatt mit Tauperlen bestickt war. Von den kraftstrotzenden, beharrlichen Lachsen, die einen Regenbogen zwischen den Schuppen trugen und die Bergbäche hinaufschwammen, welche den Durst ihres Dorfes stillten. Und sie erzählte davon, wie für sie von klein auf die Äste eines Baumes die Arme ihrer Mutter und ihres Vaters gewesen waren, bis Demne sie umarmt und sich durch diese menschliche, zarte Liebkosung etwas in ihr verändert hatte. »Er hat mich geküsst«, sagte sie schlicht. »Das ist alles.« »Ich glaube, er liebt dich. Ich weiß es. Er hat es mir nie gesagt, aber ich weiß es«, erwiderte Cai. »Mir macht es Angst, Demne so zu lieben, wie ich meinen Baum geliebt habe. Mein Baum ist immer da. Er geht nicht fort. Er kann mich um viele Jahre überleben. Wenn der Blitz nicht in ihn einschlägt und der Wald nicht niederbrennt, wird meine Tanne hunderte von Jahren alt. Ich 102
will zwischen ihren Wurzeln begraben werden und so ein Teil von ihr sein. Ein Mensch ist anders, er ist wie die Äste und Blätter, die vom Wind zerzaust werden … Aber ich will nicht von Demne sprechen, dieses Thema beunruhigt mich und deswegen lasse ich nachts die Lampe brennen. Außerdem lebt Demne gern in Corberic und ich … ach, ich weiß nicht.« »Hab keine Angst, Demne zu lieben«, sagte Cai mit einem Lächeln. »Es ist seltsam, dass ein Mädchen, das sich nicht vor einem Leprakranken ekelt und sich zu Fuß durch Brocéliande wagt, Angst hat, einen Mann zu lieben … Aber ich kann dir dazu nichts weiter sagen. Ich kann dir nur meinen Segen geben.« »Sag mir, Cai, erklär mir, wie du den Geruch der Stadt ertragen hast«, bat Luned. Sie hatte bereits zu viel über Demne gesagt. »Wie sollte ich nicht daran gewöhnt sein, wo ich doch dort geboren wurde? Die Verbannung quält mich, weil ich aus Corberic bin und mich in den lärmenden Straßen wohl fühle. Ich habe gern viele Leute um mich gehabt und mir die Arbeitsgeräte meiner Mitmenschen angesehen: die Drehscheibe des Töpfers, den Webstuhl der Frau, die die Wolle webt und sie dann purpurrot färbt. Ich habe immer gern die Rufe derjenigen gehört, die Schläuche voller Wasser aus dem Brunnen verkaufen, und die Fischer mit ihren Körben vom Fluss kommen sehen, in denen die Fische zappelten wie silberne Blättchen. Es hat mir Freude gemacht, Maurer zu sein und Häuser zu bauen und mit meinen Kameraden in die Taverne zu gehen. Es war mir ein Genuss, das schaumige, dicke Bier von Corberic zu trinken und meinen Krug auf den Eichentisch voller Kerben zu knallen, in den ich mit meinem Messer eine Spirale geritzt habe. 103
Aber ich spüre, dass es bald dämmern wird. Verabschiede dich von dem rothaarigen Hund, er will mich bei der Suche nach den roten Blumen begleiten. Irgendetwas wird es im Reich der Elfen auch für ihn geben, sogar ich weiß, dass sie tierlieb sind, und das hier ist ein schöner, guter Hund. Mein Herz ist schon bereit, den Elfen Gefolgschaft zu schwören. Bald wird es Tag. Leb wohl, Schwesterchen.« Sie umarmten sich trotz Cais Widerstand, der das Gesicht wegdrehte, um sie nicht damit zu berühren, und verabschiedeten sich. Luned umarmte auch den Hund, als dieser ihr die Pfoten auf die Schultern legte. Dann lief sie in die Stadt zurück, das Herz schwer vor Kummer. Sie musste wieder über die Mauer klettern, denn das Tor war noch geschlossen. Die Wachposten wurden gerade abgelöst. Auf der anderen Seite suchte sie ihren Umhang, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. Sie fand das Geschenk ihrer Mutter nicht wieder, obwohl sie einen großen Teil der Mauer absuchte; dabei fluchte sie leise vor sich hin und kickte im fahlen Licht des Morgengrauens Kiesel fort. Als Demne die Tür zu Luneds Zimmer öffnete, war es weit nach Mittag. Er hatte angeklopft, zunächst zaghaft, dann besorgt und energisch, jedoch keine Antwort bekommen. Er fragte sich, ob sie krank war, vielleicht Fieber hatte vor lauter Anspannung und Bestürzung. Schließlich machte er die Tür auf und trat ein. Das Mädchen lag auf dem Strohsack und schlief, das Gesicht zur Wand gedreht. Ihr Haar war zerzaust und voller Laubreste und ihre Fersen ganz grün, als ob sie über nasses Gras gelaufen wäre. 104
Demne legte sich unwillkürlich die Hand auf die Brust und machte große Augen. Dann ging er leise hinaus und wartete am Kamin, bis Luned aufwachte.
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Träume und Tränen ALS LUNED aus dem Traum erwachte, in dem sie das gefangene Bärenjunge war, setzte sie sich mit dem Rücken zur Wand auf und brach in Tränen aus. Demne, der draußen ausgeharrt hatte, um mit ihr zu sprechen, klopfte an die Tür: »Luned, kann ich reinkommen? Ich habe darauf gewartet, dass du aufwachst …« Luned murmelte ein Ja. Demne setzte sich neben sie auf den Strohsack, ergriff ihre Hand und wartete, bis sie sich ausgeweint hatte. Dann stand er auf und holte aus dem anderen Raum eine Tasse Lindenblütentee. Das Mädchen stürzte ihn in einem Zug hinunter und verbrannte sich dabei die Zunge. »Was ist los? Hast du schlecht geträumt?« Luned sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Heute Nacht bin ich über die Stadtmauer geklettert und habe Cai im Wald gesucht.« »Das weiß ich, Luned«, sagte Demne und umarmte sie. »Hast du ihn gefunden? Hast du mit ihm gesprochen?«, fügte er hinzu, die Lippen auf ihr Haar gedrückt. »Ja, ich habe ihn gefunden. Ich habe ihm gesagt, er soll den Zugang zur Welt der Elfen suchen und ein Untertan der Feenkönigin werden.« Überrascht rückte Demne von ihr ab und rief: »Bei allen Göttern und bei meiner Mutter! Wieso das denn?« »Weil es ihnen nichts ausmacht, dass er Lepra hat!« Efra, der auf die Schwelle getreten war, ohne dass sie es bemerkt hatten, sagte: »Stimmt. Diese Dinge sind ihnen gleichgültig. Sie werden nie krank und sterben nicht. Bei ihnen wird Cai 106
es besser haben und lebt vielleicht sogar länger. Die Elfen sind große Zauberkünstler.« »Aber er muss für immer bei ihnen bleiben!«, wand Demne ein. »Hier darf er doch sowieso nie wieder herkommen. Sonst wird er gesteinigt oder auf dem Scheiterhaufen verbrannt!«, entgegnete Luned weinerlich. »Sie hat Recht, mein Sohn. Sie hat richtig gehandelt«, sagte Efra sanft. Er drehte sich um und setzte sich an den Tisch, die Augen fest auf die Wand gerichtet. Luned fing wieder an zu weinen. »Demne, lass mich bitte allein. Ich schäme mich, vor dir zu weinen, aber ich würde mich auch schämen, wenn ich das Los meines Freundes nicht betrauern würde. Das hier ist dein Zuhause, aber ich muss jetzt allein sein.« Mit Tränen in den Augen stand Demne auf. »Ganz wie du möchtest, Luned. Aber das hier ist auch dein Zuhause. Deins wie meins wie auch das meines Vaters. Du hast richtig gehandelt. Im Wald lauern mehr Gefahren für jemanden, der den Herrschern von Brocéliande keine Ehre erweist und sich weigert, die Baume und Quellen zu achten, als für jemanden, der sich ihnen anschließen will. Wenn es dir besser geht, ruf uns, damit wir reden und uns gegenseitig trösten können. Einer von uns beiden ist immer da. Dein Rat war gut. Armer Cai.« Es vergingen fünf Tage, bevor Luned aufstehen und mit den beiden Geschichtenerzählern sprechen konnte. In diesen Tagen schlief sie viel und hatte lange, turbulente Träume, die sie erschöpften und ihr die Tränen in die Augen trieben. Sie fiel in sie hinein wie ein Blatt, das in einen Strudel gerät, und tauchte aus ihnen auf wie ein Schwimmer, der eine weite Strecke zurückgelegt hat. 107
Bleich und konfus erhob sie sich manchmal von ihrem Lager und taumelte durch den Raum. Wenn einer der Geschichtenerzähler ihr auf der Suche nach den Symptomen des Fiebers die Hand auf die Stirn legte, war diese jedoch kalt und feucht. Luned glaubte, Grund zur Sorge zu haben wegen der Schwäche, die sie befallen hatte, aber ihre Kraft reichte immerhin für ein Lächeln und ein freundliches Wort. Efra nahm sie am Arm und führte sie zu ihrem Stuhl in der Nähe der Feuerstelle. Sie hielt sich aufrecht, so gut es ging, bis sie, vom Kummer überwältigt, mit tränenüberströmtem Gesicht wieder einnickte – Tränen, die sie erst bemerkte, wenn sie ihr bereits vom Kinn tropften. Dann trug Demne sie zu ihrem Strohsack zurück. Später stand sie nur noch auf, um zur Toilette zu gehen oder Wasser zu trinken und die Mehlsuppe zu essen, die Efra oder Demne für sie kochten. Die beiden hatten immer ein Auge auf sie; der eine saß am Tisch mit einem Pergament vor sich und der andere stand an der Tür oder hockte neben ihr. Wenn Luned die Augen aufschlug, schaute sie die beiden Geschichtenerzähler zwar an und konnte ihre Nähe spüren, doch zugleich war es, als seien sie weit weg. Wenn sie die Hand ausstreckte, um das Meer von Leid zu überbrücken, das sie trennte, fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu. Am fünften Tag stand sie auf und war wieder gesund. Efra und Demne bemühten sich sehr um sie und sie war gerührt von den Leckerbissen und den Blumen. Sie redeten den ganzen Nachmittag und die Geschichtenerzähler ließen zu, dass Luned sich aussprach, dass sie den Arzt für seine Grausamkeit und die Stadt für ihre Gesetze schlecht machte. Sie haderte auch mit dem Schicksal, weil es seine Wut an Cai ausgelassen hatte, und drückte 108
sich grober und unflätiger aus als jeder Soldat. Efra und Demne waren verblüfft und sie schämte sich ein wenig, aber dann kamen die Geschichtenerzähler überein, darin ein Zeichen von Genesung zu sehen. Anders war ihre plötzliche Energie nicht zu erklären, auch wenn sie sie nur darauf verwandte zu fluchen wie ein Bierkutscher. Schließlich wollten die drei ihren Alltag wieder aufnehmen, gestützt auf die Liebe, die das Haus erfüllte. Aber es gelang ihnen nicht. Efra wurde noch schweigsamer als vorher und Demne war immerzu nervös. Er versuchte gelassen zu wirken, aber der Zustand seines Vaters und Luneds beunruhigte ihn. Diese angespannte Ruhe hatte etwas Zerbrechliches, das bei jedem Geräusch und jeder Unannehmlichkeit zum Vorschein kam. Luned wurde ganz einfach trüb wie ein Stück Glas, auf das sich eine Staubschicht legt. Sie hatte Angst, auf die Straße zu gehen, verstand die Texte nicht, die Demne ihr vorlas, und schrieb keine einzige Zeile mehr. Das Wachstäfelchen mit dem Dialog aus Merlins Geschichte, den Cai ihr diktiert hatte, hielt sie verwahrt. Sie wollte ihn nicht löschen. Demne gab ihr ein neues Täfelchen, aber Luned brachte nichts zu Wege. Sie erinnerte sich nicht an die Runen, an keine einzige. An diesem Abend weinte sie sich wieder in den Schlaf. Demne starrte sie bloß erschrocken an. Der Herbst nahte und in Luneds Dorf wurden Lebensmittel haltbar gemacht. Die Holzfäller spannten Schnüre zwischen zwei Pfähle und räucherten über einem Feuer aus Apfelbaumholz Fisch, hauptsächlich Neunaugen und Aale. Der Besitzer des ältesten Schweins brachte es in Begleitung zweier Männer in den Wald, gab ihm mit Schlafmohnsamen gefüllte Äpfel zu fressen und schlach109
tete es. Die Frauen backten große Weizenoblaten ohne Hefe und kochten Marmelade. Im Schlachthaus und den Hinterhöfen von Corberic wurden die Messer gewetzt. Die meisten Besitzer von Tieren hatten kein Geld, um sie über den Winter zu bringen, denn das Futter musste erst aus dem Wald herangeschafft werden. Daher war es in der Stadt Sitte, die Tiere zu töten, wenn sich die Blätter an den Bäumen rot färbten. Luned, die nichts von dieser Sitte wusste, lehnte sich gerade aus dem winzigen Fenster ihres Zimmers, als das Gebrüll losging. Die Schweine schrien fast wie Menschen, während man sie ausbluten ließ, die Lämmer blökten verzweifelt und die Gänse brachen in empörtes Schnattern aus. Alles gleichzeitig. Das war zu viel für Luned. Sie kam aus ihrem Zimmer gerannt, und während Demne sie erschrocken anstarrte und blass wurde, packte sie seinen Arm mit weit aufgerissenen Augen und schrie: »Ich will, dass du mich in mein Dorf zurückbringst! Jetzt sofort!« »Was ist denn los mit dir, Luned? Du bist ja kreidebleich!«, erwiderte der Geschichtenerzähler und fasste sie bei den Schultern. »Bist du taub? Hörst du das Gebrüll nicht?« »Das sind die Schweine und Lämmer im Schlachthaus! Hab keine Angst, Luned, heute ist der schon lange festgesetzte Schlachttag …« »Demne! Du hast mir versprochen, dass du mich zurückbringst, wenn ich dich darum bitte! Ich kann nicht mehr … Siehst du denn nicht, dass meine Seele krank wird?«, schluchzte sie. Ihre Knie knickten ein und sie ging in die Hocke, die 110
Arme noch halb um die Hüfte des Geschichtenerzählers geschlungen. Demnes Augen füllten sich bei diesem Anblick mit Tränen. Sie war ein gefesseltes Hirschkalb, ein Falke in einem Käfig. Er kniete nieder, umarmte sie und begann ebenfalls zu weinen. Sie hatte Recht. Was hatte er bloß angerichtet? Er hätte es wissen müssen von dem Tag an, als Luned beim Anblick der Stadtmauer vom Karren gesprungen war. Und nach der Sache mit Cai … »Das stimmt. Ich habe es dir versprochen. Aber ich wünsche mir so sehr, dass du mich heiratest und wir hier zusammenleben – oder wo immer du willst. Aber du hast Recht, ich habe dir versprochen, dich zurückzubringen, sobald du von hier fort willst.« Luned erwiderte in Tränen aufgelöst: »Ich habe vergessen, wie man schreibt. Ich habe vergessen, wie man lacht. Ich kann dich nicht heiraten, ich bin nur noch ein Gespenst. Bring mich zu meiner Großmutter. Bei ihr in will ich leben, in Stille, ich will sie vor dem Webstuhl sitzen sehen und warten, bis meine Traurigkeit vergeht. Mehr will ich nicht.« Sie hielten sich weiter umarmt und weinten, bis Efra vom Markt zurückkam.
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Ein Elf namens Erle EFRA schenkte Luned eine Bernsteinkette, die Demnes Mutter gehört hatte. Er sagte nur: »Für dich, Mädchen. Denk immer daran, dass ich dich lieb habe und dass du hier in Corberic ein Zuhause hast. Leg die Kette nie ab. Leb wohl.« Dann ging er aus dem Haus. Alles stand bereit: Das frisch beschlagene Maultier, die geflickte und geölte Plane, der saubere Karren, Demnes Kleidung, Arzneien, Reiseproviant und Luneds kleines Bündel. Sie hatte ihre Kleider und das Wachstäfelchen mit dem Dialog eingepackt, den Cai ihr diktiert hatte. Demne wollte ihr ein Geschenk machen: ein großes, grün lackiertes Tintenfass aus Ton mit einem Pfropfen aus Wachs, bei dem noch die kleinen achteckigen Waben zu erkennen waren, sowie ein glattes Blatt Pergament, das heller war als normales Pergament. Aber Luned nahm das Geschenk nicht an. Sie konnte nicht mehr schreiben. Sie brachen auf. Bald ließen sie die Stadtmauer hinter sich und betraten den gelbroten Wald. Die Buchen- und Eichenblätter auf dem Boden waren ein zahmes Feuer, das unter den Rädern knisterte. Gegen Abend schlugen sie ihr Lager unter den Ästen einer riesigen Ulme auf. Sie waren den ganzen Tag schweigend unterwegs gewesen und hatten nur wenige andere Reisende getroffen. Der Winter stand vor der Tür. Ihre Arme und Schultern waren gerötet von der Herbstsonne und dem Wind. Beide waren von Kopf bis Fuß mit Staub bedeckt. Luned entfachte das Feuer und Demne schnitt Brot und Käse ab. Während er sich mit 112
dem Kochtopf abmühte, kramte Luned die Bernsteinkette aus ihrem Bündel und hielt sie vor die Flammen. In einem der gelben Steine aus geronnenem Licht war ein Insekt gefangen, so wie sie selbst in der Erinnerung an jenen Nachmittag gefangen war, an dem Cai verbannt wurde. Es war, als sei etwas von innen nach außen gekehrt worden, als läge ihr Herz offen auf ihrer Brust anstatt unter den Rippen und sei nun der kalten Luft und der rauen Berührung mit allen möglichen Dingen ausgesetzt. Demne rieb die Näpfe mit einer Hand voll Gras aus und musterte Luned. Sie war abgemagert und wirkte wie eine traurige Fee. Ihr Blick, der früher träge gewesen war, glich nun dem eines matten, kranken Tieres. Demne holte den Sack mit dem Futter für das Maultier und wollte sich gerade um das Tier kümmern, da fragte sie: »Haben wir Wein?« »Nein, wir haben keinen Wein. Aber in dem Krug hier ist Wasser. Und in diesem Schlauch.« »Demne, der Krug hat einen Riss. Er muss irgendwann durch das Ruckeln des Karrens kaputtgegangen sein. Den Schlauch haben wir leer getrunken. Weißt du, wo der Bach ist? Kannst du ihn hören?«, fragte Luned. »Nein, ich höre ihn nicht. Lass den Schlauch, ruh dich aus. Ich fülle ihn gleich auf.« Luned erwiderte: »Das übernehme ich. Ich will mich auch waschen, mein Gesicht brennt und meine Schultern auch. Ich bin gleich zurück.« Ehe Demne etwas entgegnen konnte, war Luned im Wald verschwunden. Sie ging schnell und tat, als höre sie Demnes Rufen nicht. Über dem Boden waberte ein leichter Nebel und ver113
hüllte Steine und Unebenheiten, sodass sie gezwungen war, langsamer zu gehen. Zwischen den Zweigen hingen Spinnweben, die mit Tautropfen besetzt waren und Gespinsten aus Silber glichen. Auf einmal spürte sie eine Spannung in der Luft, als sei diese eine Art schwere, feuchte Leinwand und raube ihr den Atem. Als sie den leeren Schlauch an die Brust drückte, bemerkte sie, dass die Zikaden und der Wind verstummt waren. Sie drehte sich nach dem Schein des Lagerfeuers um, konnte ihn jedoch nirgends entdecken. ›Was ist denn los?‹, fragte sie sich. ›Ich bin im Wald und habe nichts zu befürchten.‹ Voller Angst ging sie schneller, entschlossen, den Bach ausfindig zu machen, den sie in der Ferne zu hören glaubte, jenseits des Rauschens in ihren Ohren, das von ihrem eigenen Blut herrührte. Da sah sie ihn plötzlich. Er stand in einem Ring aus roten Blumen, einem dichten Geflecht aus scharlachroten Blüten und feinen grünen Stängeln, die sich um die Stiele rotbrauner Pilze wanden. Der Mann lächelte sie an. Nein, kein Mann. Ein Elf. Luned begann zu zittern. Aus den Sagen und Liedern wusste sie, dass dieser bleiche Elf, der ihr zulächelte, kein Herz hatte. Dass sein Blut weiß war wie das Harz der Steineichen. Dass er kristallklare Harztropfen weinte. So nahe standen die Elfen den Bäumen. Deshalb schimmerten seine zu einem Lächeln gebogenen Lippen bläulich. Er war groß und schlank wie ein junger Baum. Seine schmale, weiße Hand ruhte auf seiner Brust und seine grünen Augen fixierten das Gesicht des Mädchens. Luned spürte, wie ihr das Blut mit Macht in die Wangen stieg und ihr Herz raste. Das fast weiße Haar des Elfen flatterte sanft und sein schwerer schwarzer Umhang bläh114
te sich in der Brise auf. Dabei wehte gar kein Wind, da waren nur Stille und Nebel. Und er. Er nahm den ganzen Wald ein. Luned zitterte so heftig, dass sie den Schlauch fallen ließ. Ihre Zähne klapperten und sie fühlte sich leicht wie ein Vogel, genau wie beim ersten Anblick der Stadtmauer. Der Elf hatte senkrechte Pupillen wie eine Katze. Wie eine Ziege. Er lachte und das Echo hallte im Wald wider. Luned dachte an die Sagen und Epen und an Cai. Sie war keine Verbannte auf der Suche nach einem Schlupfwinkel, keine Leprakranke auf der Flucht vor den grausamen Gesetzen der Menschen, sondern ein fünfzehnjähriges Mädchen. Ihr fielen die Epen ein, die von der verhängnisvollen Liebe von Männern und Frauen zu den ewigen Herrschern des Waldes handelten. Keiner von ihnen war je zurückgekehrt. Den Menschen und der Welt abhanden kommen. Keiner war je zurückgekehrt. Der Elf kniff die Augen zusammen und rief sie bei ihrem Namen. Luned wich einen Schritt zurück. Der Elf war in den Ring aus roten Pilzen und Blumen gesperrt und hatte mit seinen Stiefeln das Innere des Rings niedergetrampelt. Waldgeister verabscheuten rote Blumen, denn sie glaubten, in ihnen niste das gefürchtete Feuer. Luned wusste, dass er nicht näher kommen konnte. Der Elf streckte die Hand aus, die auf seiner Brust gelegen hatte. Auf seiner Handfläche war Luneds geliebte Tanne zu sehen, eine winzige Fata Morgana, ein grünes Flämmchen. Überrascht trat Luned näher. Es war tatsächlich ihre Tanne, die unverwechselbare Gestalt ihres Baumes – sie erkannte ihr Kinderspielzeug, das sie an seine Äste gehängt hatte (es war ganz verstaubt, da sie die Tanne lange nicht besucht hatte), und das Zöpfchen 115
aus ihrem eigenen Haar wieder, das sie um den Stamm geschlungen hatte. Der Elf blies auf seine Hand und die Tanne verschwand. An ihrer Stelle tauchte das Haus ihrer Eltern auf, klein wie ein Spielzeughäuschen. Luned ging noch einen Schritt auf den Elf zu. Da schloss er die Hand. Grünes Licht sickerte zwischen seinen Fingern hindurch wie geschmolzenes Metall. Der Nebel um seine Knöchel herum löste sich bei der Berührung mit dem grünen Feuer leise zischend auf und nun war der mit Gold bestickte Saum seines Umhangs zu erkennen. »Schau nur«, flüsterte er mit bedeutungsschwerer Stimme. »Schau nur, wie sich der Nebel in der Hitze des Lichts auflöst. Willst du, dass sich auch deine Traurigkeit auflöst? Dass sie im Licht verschwindet? Schau her!« Er öffnete die Hand wieder. Luned sah eine Miniaturausgabe ihrer selbst, die am Ufer des Weihers saß und mit ein paar Fröschen in der Hand spielte. Sie ging noch ein wenig näher, um alles besser zu sehen. Da spürte sie die schmalen, kühlen Finger des Elfen im Nacken. Er lachte (sein Lachen war viel sagend und schön) und schloss die andere Hand wieder, auf der die kleine Luned stand. Luned sah ihn an und der Elf fragte noch einmal: »Willst du wieder glücklich werden?« Seine Finger streichelten sie am Hals. Luned spürte, wie das Leben, das in ihrem Körper schlummerte, zusammenzuckte und mit einem Schlag wach wurde. Die Berührung mit dem Elf war, als werde sie von einem Blitz getroffen, ohne daran zu sterben. Sie spürte, dass sie Gänsehaut hatte, ihr die Haare zu Berge standen und ihre Augen sich mit Tränen füllten. Sie richtete sich auf (er ließ ihren Nacken los und 116
packte ihr Handgelenk) und trat in den Ring aus roten Blumen, den Blick fest auf das wunderschöne Gesicht des Elfen gerichtet. Er schloss sie in die Arme. Sie ließ es geschehen und drückte das Gesicht in sein nach Harz duftendes Haar. Es war mit dicken Büscheln schlaffer, seidenweicher Tannennadeln durchwachsen. Auch in seinen hellen Augenbrauen steckten feine grüne Nadeln und seine Zähne waren nicht weiß wie Elfenbein, sondern eher von der Farbe der Mandeln. Seine Zunge war rötlich und dunkel wie die Wacholderbeere. Der Boden zitterte, als habe die Erde aufgeseufzt. Der Wald veränderte sich zusehends. Luned hatte das Reich der Kobolde, Elfen und Feen betreten. Anstelle von Ahornbäumen und Eichen war sie nun von riesigen Steineichen umringt, deren Wipfel über ihren Köpfen zusammengewachsen waren (dichter und ordentlicher als in jedem anderen Wald der Welt). Am Himmel, der hin und wieder zwischen den Ästen hindurchlugte, blinkten dutzende unbekannter Sterne. »So viele Sterne!«, seufzte Luned. Der Elf lachte erneut, ohne etwas zu erwidern. Luned hatte keine Angst mehr. Sie befand sich im Land der Epen und der großen Gesänge. Hier gab es keine Gesetze, keinen Tod und kein Alter. Hier regierten die Bäume über die anderen Wesen; das Feuer, der Feind des Waldes, existierte nicht, nur das grüne Feuer der Magie. Der Elf streckte einen Arm aus und sogleich erhellte ein Mondstrahl den Weg, der sich vor ihnen auftat. Die Kiesel glichen Klecksen aus Eisen und Stahl und funkelten im Licht. Stunde um Stunde gingen sie dahin. Bei jedem Schritt vergaß Luned etwas aus ihrem Leben: die Stimme ihrer Mutter, die im Morgengrauen ihren Namen rief, damit sie 117
aufwachte; die schwieligen Hände ihres Vaters, die ihr übers Haar streichelten; Demnes Hand, die ihre eigene führte, als sie das Schreiben auf den Wachstäfelchen übte, und Efras geheimnisvolles, freundliches Lächeln. All diese Erinnerungen erloschen. Sie folgte dem Elf die ganze Nacht und bekam weder Hunger noch Durst. Als die Sterne allmählich verblassten, gelangten sie an einen See, dessen gegenüberliegendes Ufer fast nicht zu erkennen war. Er war glatt wie ein riesiges Stahlblech und funkelte im metallischen Morgenlicht. Am Horizont war der gezackte Umriss eines Waldes aus Kiefern zu sehen, die aus der Entfernung winzig wirkten. Der Elf nahm Luned an der Hand. Luned bat: »Zeig mir das Feuer, das grüne Feuer.« Der Elf hielt seine Finger in Höhe von Luneds Lippen. Um seinen Zeigefinger züngelte eine aufrechte, grüne Flamme. Luned hielt ihre Hand darüber und empfand eine angenehme Wärme. Keinen Schmerz, keine Hitze. Die olivgrünen Augen des Elfen sahen sie starr an, kalt wie Schächte. Luned lächelte. »Sag mir deinen Namen. Sag ihn mir«, bat sie. »Niemals. Ich kann dir doch meinen Namen nicht verraten, Kleine. Wenigstens nicht meinen richtigen«, versetzte der Elf mit gespieltem Erstaunen. Dann lächelte er. »Wozu willst du ihn denn wissen?« Luned war verwirrt. »Was? Du kannst mir deinen Namen nicht sagen?«, fragte sie. »Natürlich nicht! Du bist doch ein Mensch, weißt du noch? Ist dir nicht klar, wie verschieden wir sind? Ich soll mich deiner grausamen Magie ausliefern? Nenn mich … Elf. Oder besser Erle. Genau, Erle. Das ist einer 118
meiner vertrauten Götter und mein Ururgroßvater ist auch eine Erle. Er ist immer noch recht dicht belaubt, verstehst du?« »Erle! Ich habe keine Zauberkräfte, mit denen ich dir Schaden zufügen kann!«, versetzte Luned. »Natürlich hast du das«, entgegnete der Elf lächelnd und umarmte sie in einer vage versöhnlichen Geste. Luned schloss die Augen und atmete den süßen, wilden Duft seiner Haut ein. Sie erinnerte sich daran – und dies war keine ihrer eigenen Erinnerungen, konnte es gar nicht sein – , wie der Wald ausgesehen hatte, als die Welt noch jung gewesen war, vor der Geburt des ersten Menschen. Die bläulichen Lippen des Elfen bogen sich zu einem Lächeln. Sein Atem duftete nach Äpfeln. Luned suchte mit ihren Lippen seinen Mund. Da lachte er und rückte von ihr ab. Groß und graziös ging er auf den See zu. Mit einer majestätischen Geste teilte er die dicken Binsen am Ufer und lief auf dem Wasser auf den See hinaus. Seine Stiefel aus grüner Seide hinterließen flüchtige Spuren. Die leichte Brise, die die kleinen Wellen am Ufer kräuselte, blähte seinen Umhang auf. Er wirkte wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Er war ein Wesen aus einer anderen Welt. »Erle!«, rief Luned. »Warte!« Der Elf drehte den Kopf und winkte sie zu sich. »Kommst du?«, fragte er. Luned verspürte blankes Entsetzen. Sie lief über den steinigen Strand und beobachtete dabei, wie der Elf immer kleiner wurde. Mit einem Handstreich fegte sie die Binsen zur Seite und stürzte sich in den See. Sie watete hinein, bis das Wasser ihr an die Brust reichte, und schrie aus Leibeskräften nach dem Elf. 119
Aber in der Welt der Elfen hat das Wasser seinen eigenen Willen: Es wollte Luned für sich behalten. Um sie herum bildete sich ein träger, mächtiger Strudel. Vor lauter Schreien und Rudern bemerkte das Mädchen ihn nicht, bis das Wasser sie in die Arme schloss und über ihr zusammenschlug. Luneds Sandalen versanken im Schlamm auf dem Grund des Sees und die Wolle ihres Kleides wog so schwer wie eine Ritterrüstung. Sie ging in dem eiskalten See unter, obwohl sie mit Leibeskräften ruderte. Eine Erinnerung, eine Art winziges Licht, das sich den Weg durch Luneds Verwirrung bahnte, befreite sie vom Willen des Wassers: Wie waren die Frösche im Weiher ihres Dorfes geschwommen? Als es Luned einfiel, strampelte sie kräftig mit den Beinen. Da ließ die eisige Hand des Wassers sie los und Luned tauchte hustend und keuchend auf. Langsam schwamm sie ans Ufer und schleppte sich an Land. Aus ihren halb aufgelösten Zöpfen flossen Rinnsale ins Gras. Sie konnte gerade noch das Lachen des Elfen hören, der im Nebel verschwand. Da ließ sie sich auf den Boden fallen und drückte ihre taube Wange in das borstige, raue Gras. Tränen rannen ihr über das kalte Gesicht. Die Tränen aus ihrem rechten Auge bildeten eine winzige Pfütze in der kleinen Vertiefung zwischen innerem Augenwinkel und Nasenwurzel. Die Pfütze lief über und ergoss sich über ihre linke Wange. All dies nahm das Mädchen überdeutlich wahr, als vergehe die Zeit langsamer als sonst und als sei ein Schleier zerrissen. Nun wusste sie, was sie vor ein paar Minuten hätte sagen müssen. Falls Erle zurückkam, würde sie ihm erklären können, dass sie zwar ein Mensch war, aber keine Zauberkräfte 120
besaß. Dass sie den Beruf der Geschichtenerzählerin erlernte. Nichts weiter. Luned hörte noch jemanden weinen. Als sie den Kopf hob, entdeckte sie im Wasser ein Wesen, das sie betrachtete. Es sah aus, als sei es aus dem grauen Schlamm am Ufer geformt, denn seine Haut glänzte wie feuchter Ton, bevor der Töpfer ihn ins Feuer legt: glatt, weich und irgendwie wachsartig. Der riesige, von Schluchzern geschüttelte Körper ragte zwischen den Binsen hervor. Der spitz zulaufende Kopf gipfelte in einem Büschel roter, abstehender Haare, zwischen denen eine Hand voll Algen schlaff herabhing. Seegrasflecken überzogen die Haut mit einem unregelmäßigen Muster. Die runde Nase war fast schwarz und darunter hing zu beiden Seiten ein ausgeprägter Schnurrbart herab, ähnlich wie bei einem Wels. Das Wesen hatte dicke, perlmuttfarbene Lippen wie ein Fisch, nach unten hängende Mundwinkel und kleine, spitze Zähne. Aus den trüben Augen mit den geschwollenen Lidern rollten runde Tränen. Ein Ungeheuer! Es wischte sich den unbeschreiblichen Rotz, der ihm aus der Nase tropfte, mit seiner dicken Hand ab, deren kurze Finger in grünschwarzen Nägeln endeten. Dabei starrte es das Mädchen unverwandt an. Als fielen ihm plötzlich seine guten Manieren wieder ein, wusch es sich den schmutzigen Handrücken ab, pflückte eine Seerose in der Nähe und schnauzte sich lautstark damit. Dann fragte es mit nasaler Stimme: »Warum weinst du denn? Du bist doch so schön mit dieser glatten Haut und diesen mandelförmigen Augen. Ich hingegen …«, schluchzte es und musste sich wieder schnauzen. Dabei zitterte das Fleisch an seinen Armen wie getüpfelte Gelatine. »Du kannst ja selbst sehen – und 121
lüg mich nicht an, um mich zu trösten, ich habe nämlich mein Spiegelbild im Wasser gesehen – , dass ich nicht weiß, ob ich weine, weil ich so hässlich bin, oder ob ich so hässlich bin, weil ich so viel weine …« »Wer bist du? Warum weinst du so viel?«, fragte Luned und richtete sich auf. »Ich heiße Tristifer. Auf mir lastet ein Zauber. Ich bin zum Weinen verdammt, selbst wenn ich schlafe. Kannst du dir das vorstellen? Meine Nächte sind endlos, hier im See, im Stehen. Jede Nacht träume ich, dass ich ertrinke. Wenn ich einmal das Glück habe, richtig einzuschlafen – plumps! – , falle ich ins Wasser und die Fische knabbern mir den Schnurrbart an. Alles Essen kommt mir fad vor oder schmeckt versalzen. Ich Ärmster …«, winselte er. Luned erkannte ihn wieder. Efra hatte ihr Tristifers Geschichte erzählt. Er war der Gouverneur der Stadt Caer Wydr, die von den Flussgöttern auf dem Grund des Sees errichtet worden war, und Lanzelot, der Held, hatte ihn in ein afang, ein Wasserungeheuer, verwandelt. Und was für eins! Wenn die Geschichten stimmten, hatte der Ärmste obendrein einen breiten, dicken Biberschwanz, der ihn daran hinderte, sich an Land fortzubewegen, denn er war sehr schwer. Warum Lanzelot Tristifer in ein afang verwandelt hatte, war ein Rätsel. Vielleicht weil der unglückselige Tristifer den Helden Lanzelot in all seiner Pracht und mit seiner funkelnden Ritterrüstung nicht erkannt hatte. Ja, genau. Sie hatte mit Efra darüber gesprochen. Lanzelot hatte sehr empfindlich auf die unabsichtliche Kränkung reagiert. Der Sage nach musste jemand Tristifer zum Lachen bringen, um den Zauber zu lösen und ihm seine wahre Gestalt und seine Macht zurückzugeben.
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Luned stand auf und trat vorsichtig ans Ufer: »Was gibst du mir dafür, wenn ich dich zum Lachen bringe?« »Was du willst, ich verspreche es dir!«, schluchzte das Ungeheuer. Luned begann zu tanzen und stellte alles Mögliche an, um lächerlich zu wirken: Sie bewegte die Arme wie Windmühlenflügel, warf sich zu Boden und wälzte sich herum wie ein Hund, der sich kratzt, streckte die Zunge heraus und sang die komischen, obszönen Balladen, die die jungen Männer von Corberic anstimmten, wenn sie aus der Taverne wankten und Luned mit ihrem schallenden Gelächter aufweckten. Tristifer weinte untröstlich. Luned lüpfte ihren Rock und machte X-Beine. Fehlanzeige. Sie dachte an das Furcht erregende Aussehen des Wildschweins und glaubte, wenn sie es nachmachte – so dünn, wie sie nun mal war – , wäre das Ergebnis absurd. Also ließ sie sich auf alle viere nieder, grunzte Tristifer an, wühlte mit der rechten Hand in der Erde und stürzte auf ihn zu, um planschend zwischen den Binsen stehen zu bleiben. Sie schüttelte sich vor Lachen. Tristifer wurde ein wenig ungeduldig: »Es geht doch darum, dass du mich zum Lachen bringst, oder? Aber die Einzige, die lacht, bist du! Ach, du bist hübsch, wenn du lachst! Aber ich?« »Und wenn ich dich mit einer Gerte kitzle?« »Tu, was du kannst, Mädchen!«, schrie das arme Ungeheuer verzweifelt. Luned holte sich eine Gerte und ging ins Wasser. »Heb den Arm«, befahl sie. Tristifer gehorchte mit gequälter Miene. Luned verspürte eine Welle des Ekels; die feuchte, glitschige Haut 123
des Ungeheuers flößte ihr Widerwillen ein. Es stank nach Fisch und abgestandenem Wasser. Unruhig, aber entschlossen ließ Tristifer alles mit sich machen, während ihm Tränen über die mit Moos gesprenkelten Wangen liefen und schleimiger Rotz von seinem Kinn tropfte. Er hob zuerst den einen Arm und dann den anderen. Dabei kamen Achselhöhlen zum Vorschein, die mit struppigen, stinkenden Flechten überzogen waren. Aus diesem Dickicht lösten sich kleine weiße Fische und gelbe Frösche und hüpften in witzigen Bögen ins Wasser. Allmählich ging Luned die Puste aus. Sie war gerannt, gesprungen, hatte Tristifer gekitzelt, bis ihr die Gerte vor Erschöpfung aus der Hand gefallen war, und sie hatte sich einer letzten Probe unterzogen: Sie hatte sich die unordentlichen Zöpfe auf den Kopf gelegt und zugelassen, dass Tristifer sie in die Wangen kniff, während sie schielte und die Zunge herausstreckte. Alles vergeblich. Bleich und durchnässt stand sie am Ufer und fröstelte, den Blick fest auf Tristifers Gesicht gerichtet, der unaufhörlich nach Luft japste. »Mir fällt nichts mehr ein. Ich würde alles darum geben, dich zum Lachen zu bringen, aber ich kann einfach nicht mehr …«, murmelte sie entmutigt. »Wie heißt du?«, fragte Tristifer. »Luned. Ich gehe bei einem Geschichtenerzähler in die Lehre und Efra, einer meiner Lehrer, hat mir deine Geschichte erzählt. Deshalb weiß ich, wer du bist und dass ich dich zum Lachen bringen muss.« »Weißt du auch, wie meine Geschichte ausgeht?«, fragte das Ungeheuer verblüfft weiter. »Ich weiß, dass derjenige, der dich zum Lachen bringt, den Zauber löst. Ein ziemlich ungerechter Zauber, wie ich finde. Aber wer versteht schon die Helden?« 124
»Und weiter?« »Nichts weiter. Efra kannte drei verschiedene Fassungen und in allen dreien hieß es: ›… Tristifer wird von der Person befreit werden, die ihn zum Lachen bringt. Nur wenn er lacht, kann er seine ursprüngliche Gestalt wiedererlangen^« Tristifer weinte und rang sich die riesigen schwarzblauen Hände voller Warzen. »Sag mir alles, was du über mich weißt, Luned … Sag es mir! Wer sind diejenigen, die meinen Namen und meine Geschichte kennen? Was erzählt man sich in deiner Welt über mich? Weißt du vielleicht, was mit mir geschehen wird?« Bekümmert erwiderte das Mädchen: »Ich habe dir die Wahrheit gesagt, mehr weiß ich nicht …« Der arme Tristifer schlug zitternd die Hände vors Gesicht. »Sag mir, Luned: Kannst du dir vorstellen, wie es ist, verzaubert zu sein? Zu vergessen, wie du warst, als du geschaffen wurdest, und in einem Körper zu stecken, der wie ein enges, fremdes Gefängnis ist?« Luned schwieg. Sie hatte mit so etwas keine Erfahrung, denn sie war gerade mal fünfzehn. Aber sie konnte es sich vorstellen, schließlich war Cai genau das Gleiche zugestoßen. Exakt das Gleiche. Und sie hatte geglaubt, in der Welt der Elfen gäbe es kein solches Leid! Tristifer fuhr fort: »Luned, hab Erbarmen und sag mir: Wird Lanzelot zurückkehren und mir seine stählerne Lanze in die Brust bohren?« Während er die Worte aussprach, sank er langsam ins Wasser. Es war, als zerfließe seine gewaltige Körpermas125
se, bis nur noch Bläschen übrig waren, die knisternd auf der Wasseroberfläche zerplatzten. Luned hatte Angst, allein zu bleiben. »Geh nicht fort! Hab keine Angst! Komm aus dem Wasser! Komm wieder raus, ich bitte dich!«, schrie sie und rannte ans Ufer. »Sag mir, was ich tun soll! Soll ich eine Geschichte erfinden, in der ich die Person bin, die den Zauber löst?« Unter explosionsartigem Getöse tauchte Tristifer wieder auf und packte Luned an den Schultern. Beide plumpsten in den See und zwischen ihnen schwammen die kleinen Fische aus den Achselhöhlen des Ungeheuers. Luned schüttelte einen Frosch ab, der sich an ihre Wange gehängt hatte. Das Wasser war eiskalt. Tristifer bewegte sich auf sie zu und flüsterte ihr ins Ohr (und sein Atem roch nach Schwefel und verdorbenem Fisch): »Tu es! Tu es, dann schenke ich dir einen Talisman, der dich beschützt, ein Amulett, das dich rettet, wenn du in Gefahr bist. Meine Dankbarkeit wird dich umhüllen wie ein Mantel und viele Geschöpfe dieser Welt werden Zuneigung zu dir empfinden, sodass du nicht leiden musst.« Luned starrte ihn mit offenem Mund an und rückte von ihm ab. Gefahren? Was für welche denn? Gab es noch andere Gefahren, außer dass sie möglicherweise nicht in ihre Welt zurückkehren konnte? »Gefahren? Für einen Menschen?« Beinahe hätte Tristifer gelacht. Natürlich lastete Lanzelots Zauber noch auf ihm, aber er zeigte dem Mädchen seine Fischzähne in einem umgekehrten Lächeln – eine Grimasse, die Luned belustigt hätte, wenn sie nicht so traurig gewesen wäre. »Auf jedes Wesen lauern Gefahren, egal ob es hier 126
oder dort lebt, in meiner Welt oder in deiner. Wiegst du dich in Sicherheit, nur weil du ein Menschenmädchen bist? Du bist doch eine Geschichtenerzählerin und kennst die Sagen!« Mühsam kletterte Luned aus dem Wasser und starrte mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn in den bewölkten Himmel. Tristifer hatte Recht. Es war riskant gewesen, dem Elf zu folgen. Wie hatte sie – wenn auch nur vorübergehend – die Gefahren vergessen können? Wie sehr doch das Gedächtnis und die Vorsicht litten, wenn man sich in einen Elfen verliebte! Dennoch wünschte sie sich nach wie vor nichts sehnlicher, als Erle zu finden und Cai wieder zu sehen … Sie schlug die Beine übereinander und erzählte Tristifers Geschichte in wohl überlegten Worten. Vorsichtig fügte sie eine Beschreibung ihrer eigenen Begegnung mit ihm hinzu, verschwieg jedoch aus Scham, welche Umstände sie an den See geführt hatten. Sie formulierte die Verse beim Sprechen und überraschte sich selbst beim Silbenzählen. Sie achtete aufmerksam auf die Betonungen, und zwar mit der gleichen Gebärde wie ihr geliebter Demne: langsam und rhythmisch trommelte sie mit den Fingern der rechten Hand auf den Oberschenkel. Sie sprach über den See und sein eisiges Wasser, über Tristifers Verzweiflung und seine Tränen, über ihrer beider Angst und über das Lachen, das sich nie einstellte, auch wenn es herbeigerufen wurde, um den Zauber zu lösen. Über das nur von den Schluchzern des Ungeheuers unterbrochene Schweigen und über ihre eigene unsichere Stimme. Tristifer nickte fast unmerklich. Dann geschah etwas Eigenartiges. Die Zeiten begegneten sich und griffen ineinander: Was in Luneds Ge127
schichte geschah und was ihnen in der Gegenwart widerfuhr, wurde eins. Luned sagte: »Luned sagte: ›Es kam der Moment, als das, was innerhalb und außerhalb der Erzählung geschah, eins wurde. Luned überlegte, dass Erzählen vielleicht nicht genug war. Wenn sie Tristifer retten und den Talisman bekommen wollte, musste sie sich an die Gesetze der Geschichten halten und ein Opfer bringen. Sie würde ihr Haar opfern, um Lanzelots Zauber zu lösen …‹« In diesem Moment griff Luned mit zitterndem Kinn nach einem ihrer Zöpfe, während sie mit der anderen Hand eine Bewegung machte wie jemand, der einen scharfen Gegenstand schwingt und damit schneidet. Tristifer, der sie reglos und trotz geschwollener Lider mit weit aufgerissenen Augen beobachtete, begriff. Luned fuhr fort: »›So beschlossen es das Mädchen und das Ungeheuer vom See. Dann verschwand Tristifer mit einem Plätschern …‹« Tristifer tauchte gehorsam unter und gab sich Mühe, dabei zu plätschern. ›»… und als er wieder auftauchte, hielt er ein Messer in der Hand, mit dem sie sich das Haar abschneiden konnte …‹« Die Geschichtenerzählerin machte eine Pause und wartete darauf, dass das Ungeheuer wieder auftauchte. Tristifer brauchte nur eine halbe Sekunde, bis er das Gesuchte gefunden hatte. Es war ein Messer mit einer goldenen Klinge und in den Griff eingelegten Perlen aus der Zeit, als er ein Mensch mit Zauberkräften gewesen war und die Stadt im See regiert hatte. Als er mit dem wunderschönen Messer in der Hand auftauchte, erwartete die Geschichtenerzählerin ihn bereits, über das Wasser gebeugt. 128
Luned ergriff das Messer, prüfte die Schneide mit dem Zeigefinger und legte es sich in den Schoß, alles in absoluter Stille. Dann räusperte sie sich und fuhr fort: ›»Ein wunderschönes Messer aus Gold, das scharf war wie eine Rasierklinge. Luned flocht sich das Haar neu‹« – Luned löste ihr Haar und flocht ihre langen nassen Strähnen – ›»und opferte es den Göttern vom See als Pfand für Tristifers Freiheit …‹« Bei diesen Worten schnitt sie sich die Zöpfe dicht am Kopf ab und warf sie mit einem Stöhnen ins Wasser. Die Zöpfe klatschten mit einem klangvollen Plopp! auf die glatte Oberfläche und sanken in den See. Eine Art grüner Blitz erhellte Tristifers erwartungsvolles Gesicht. Der darauf folgende Donner hallte mit so entsetzlichem Getöse wider, dass Luned sich zitternd ins Gras warf, die Augen schloss und sich die Ohren zuhielt. Sie spürte einen kalten Luftzug im Nacken und eine eigenartige Nacktheit zwischen den Schultern. ›Mein Kopf wiegt weniger, viel weniger‹, dachte sie. ›Ich habe ja kein Haar mehr, jetzt sehe ich bestimmt aus wie ein gerupftes Huhn …‹ Erschrocken rang sie nach Luft. Die Luft schimmerte überall grün. Luned brach in Tränen aus. Auf einmal spürte sie Wärme auf ihrem erstarrten Rücken und das köstliche Gewicht einer trockenen, warmen Decke, die jemand über ihr ausbreitete. Dankbar wickelte sie sich darin ein wie in einen Kokon, ohne die Augen zu öffnen. Die Decke war aus einem schweren, dichten Gewebe, das sie wärmte und die Feuchtigkeit ihres Kleides aufsog, die ihr Gänsehaut verursachte. Sie hörte jemanden neben sich im Gras. Eine lange, schmale Hand streichelte ihr über das struppige Haar. Sie 129
spürte, wie die Finger zärtlich in ihren kurzen, abgesäbelten Strähnen wühlten. Aber es war nicht Erles Hand. Diese Hand war größer. Außerdem war sie warm, nicht wie die von Erle, die kalt war wie die Herbstluft. Luned spürte, wie zwischen ihren zusammengepressten Lidern wieder Tränen hervorquollen. Die Hand hörte auf, ihr zärtlich das Haar zu kraulen, und trocknete ihr die Tränen. Als Luned die Augen aufschlug, blickte sie in Tristifers wunderschönes, menschliches Gesicht. Die Macht der Geschichte hatte den Zauber gelöst.
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Tristifers Freundschaft DER MANN, der lächelnd vor ihr hockte – die Hände auf den Oberschenkeln – und sie ansah, hatte nichts, aber auch gar nichts mit dem Ungeheuer vom See gemeinsam. Er hatte kurzes, meliertes Haar, buschige, noch schwarze Augenbrauen über grauen, kleinen Augen. Seine extrem lange Adlernase krümmte sich fast bis zu den schmalen und natürlich bläulichen Lippen hinab. Ein gestutzter weißer Bart bedeckte sein Kinn. Er trug ein feines Hemd aus flämischem Tuch, hell wie Schaum. Sein Anzug war aus schwarzem Samt und auf seiner Jacke glänzte eine lange Reihe feiner, silberner Knöpfe. Die weißen Manschetten seines Hemdes schauten wie Blütenblätter unter den Jackenärmeln hervor. In diesem Moment lächelte er und Luned staunte, denn diese kleinen, weißen Zähne hatten bis vor ein paar Minuten noch ganz anders ausgesehen. Ein Ohrring mit einer tropfenförmigen Perle schmückte sein rechtes Ohrläppchen. Sein Umhang war ebenfalls schwarz und mit kleinen weißen Fischen und gelben Fröschen aus goldenen und silbernen Fäden bestickt. »Es hat geklappt. Du bist eine große Geschichtenerzählerin, Luned«, sagte er, stand auf und streckte ihr die Hand hin. Luned ergriff sie, richtete sich ebenfalls auf und hüllte sich fester in die gelbe Decke, die – nun bemerkte sie es – eine Art Mantel voller Bäume und Tiere war. Sie schlüpfte in die Ärmel und stampfte ein paar Mal mit den Füßen auf, damit ihr warm wurde. Nicht einmal das reichste Mädchen von Corberic besaß solch einen Mantel. Luned strich mit den Händen über die Stickereien und sah den Herrn vom See an. Tristifer lächelte. Sie entgegnete: 131
»Ich bin noch keine richtige Geschichtenerzählerin, Herr. Das war das erste Mal, dass ich beim Erzählen etwas dazuerfunden habe, ich gehe noch in die Lehre.« Ihre Unterlippe zitterte vor Kälte und weil sie geweint hatte. Tristifer griff nach der Kapuze des Mantels und zog sie Luned über den Kopf. »Dann musst du große Lehrer gehabt haben.« »Ach, Herr, die besten …«, erwiderte Luned bedrückt und dachte an Efra und Demne. Wenn Demne dies hätte hören können, hätte er sich bestimmt gefreut. »Sag mir, Luned, was machst du in dieser Welt, die nicht deine ist? Das hast du in deiner Geschichte gar nicht erzählt.« »Ich habe im Wald einen Elf gesehen, einen Ring aus roten Blumen betreten und bin mit ihm bis zum See gegangen. Er hat ihn überquert, aber ich konnte ihm nicht folgen, obwohl ich schwimmen kann.« »Natürlich konntest du das nicht! Du hättest das Wasser und mich um Erlaubnis bitten müssen, du hättest fragen und Bündnisse eingehen müssen. Aber hör zu, Kleine, die Elfen sind eine ungezogene, launische Gattung, das weißt du doch sicher. Warum bist du dem Elf überhaupt gefolgt?« »Weil ich glaube, dass ich ihn liebe«, erwiderte Luned mit gesenktem Kopf. »Ah … und ich glaube, er hat dich verhext. Vergiss die ganze Sache und kehr in deine Welt zurück. Hier erwarten dich zwar hunderte von Lebensjahren. Aber Liebe gibt es in diesem alten Wald, in dem wir alle ewig leben, nicht. Kehr um, Kleine.« »Ich habe hier einen Freund. Er heißt Cai und war Maurer. Kennst du ihn?« »Nein. Aber wenn du wissen willst, ob und wie er lebt, wirst du es gleich erfahren.« 132
Tristifer hob den Blick zum Himmel und riss die Augen weit auf. Seine Lippen, bläulich wie die Erles, öffneten sich leicht und aus seinem Mund gellte ein spitzer, durchdringender Schrei. Luned sah ihn an: Der Herr vom See formte mit seiner rechten Hand einen Schalltrichter und stieß noch einen Schrei aus. Da löste sich ein Vogel aus dem dichten Wald jenseits des Sees. Anfangs war er nur ein kleiner schwarzer Fleck, der sich in den grauen Himmel aufschwang, aber bald war zu erkennen, dass es ein riesiger Rabe war, denn er flog sehr schnell. In großen Kreisen, die immer kleiner wurden, schwebte er herab und ließ sich schließlich auf Tristifers Unterarm nieder. Tristifer wandte sich in einer Luned fremden Sprache an den Raben. Der tiefschwarze Vogel versenkte seinen elfenbeinfarbenen Schnabel in seiner aufgeplusterten Brust und starrte das Mädchen mit einem harten, runden Auge an. Seine schwarzbraunen Federn funkelten bläulich. Er machte den Schnabel auf, der spitz war wie ein Messer, und krächzte. Tristifer nickte. Dann breitete der Rabe die Flügel aus und flog langsamer davon, als er gekommen war. »Deinem Freund Cai geht es gut. Fata Titania, die Feenkönigin, hat seine Lepra geheilt. Seine Maurerkenntnisse werden am Hof sehr geschätzt, denn vom Bauen verstehen wir nichts. Alle Gebäude, die du siehst, wurden von Menschen wie dir errichtet. Cai ist in Sicherheit, er ist bereits ein Untertan der Feen. Und er ist in niemanden verliebt.« »Hilf mir, den See zu überqueren, ich habe dir auch geholfen!«, rief Luned aus, verärgert, weil Tristifer nicht gerührt war von ihrer Liebe zu Erle. In einer herausfordernden, kindischen Geste streckte sie das Kinn vor. 133
»Natürlich werde ich dir helfen, ich stehe schließlich in deiner Schuld«, entgegnete Tristifer stirnrunzelnd. »Du bist verhext und nur deswegen sehe ich dir ein derartiges Benehmen nach. Auch das Wasser dieser Welt steht in deiner Schuld, denn ich bin Gouverneur und König aller Seen und Flüsse«, fuhr er fort. »Nicht einmal die Elfen, die sich wie Kinder aufführen, vergessen ihre Schulden. Du hättest mich nicht daran zu erinnern brauchen. Außerdem werde ich dir den Talisman geben, den ich dir versprochen habe. Komm.« Etwas beschämt trottete Luned hinter ihm her. Als Tristifer sah, dass seine Worte ihre Wirkung nicht verfehlt hatten, lächelte er sie an und reichte ihr die Hand. Luned ergriff sie und drückte ihre Wange an seine Brust. Sie gingen zum Seeufer. Genau wie Erle trat Tristifer mit dem Fuß, der in einem Stiefel aus grüner Seide steckte, aufs Wasser, ohne unterzugehen. Luned sah mit offenem Mund zu. Tristifer zog sie am Arm. »Komm, es wird dir nichts geschehen. Komm.« Er lächelte sie so warmherzig an, dass Luned ihm vertraute und mit ihren groben Schnürsandalen das Wasser betrat. Sie ging tatsächlich nicht unter. Die Wasseroberfläche fühlte sich elastisch und nachgiebig, aber fest an. Luned machte einen Satz. Das Wasser schien sich unter ihrem Gewicht anzuspannen und benetzte gerade mal ihre Fersen. Sie stieß einen Schrei der Verwunderung aus, drehte sich nach dem Herrn vom See um und packte ihn am Handgelenk. Dann, noch unsicher, bückte sie sich und steckte den Zeigefinger ins Wasser. Es war, als bohre man ein Loch in einen samtweichen, dünnen Stoff. Luned betrachtete ihren Finger und stellte fest, dass er nass war und im fahlen Sonnenlicht glänzte. Mit der hohlen 134
Hand zerriss sie das feine Gewebe erneut und schöpfte ein wenig Wasser, um es genüsslich zu trinken. Sie schloss die Augen. Tristifer streichelte ihr über die Wange. Sie schlug die Augen wieder auf und betrachtete seine graue Iris mit den blauen Flecken und die kurzen, geschwungenen Wimpern. Als sie blinzelte, trafen sich ihre Blicke. Tristifer lächelte und strich sich mit zufriedener Geste über den Schnurrbart. »Weißt du, ich habe mich auch nach meiner Kleidung gesehnt. Und mir diesen Wels-Schnurrbart zu zwirbeln, war sehr schmerzhaft. Diese Nase, diese Tränen und der ganze Rotz … und all das ohne Taschentuch!« Das Mädchen lachte schallend, während der Herr vom See sie liebevoll ansah. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich du mich gemacht hast, Mädchen. Danke.« Luned ergriff Tristifers Hände. Der Herr vom See umarmte sie, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und legte ihr ein Säckchen mit einem langen Riemen in die Hand. »Für dich, Luned. Das Amulett, das ich dir versprochen habe. Es wird nicht tun, was du willst, denn es hat einen eigenen Willen und lässt sich nicht beherrschen, aber seine Kräfte sind gut. Es ist ein sehr alter Gegenstand. Pass gut auf dich auf.« Luned nahm den Inhalt des Säckchens in Augenschein. Es war eine kleine Kugel, die glänzte wie ein Tropfen Quecksilber. Glücklich ließ sie sie in das Säckchen zurückgleiten und hängte es sich um den Hals. Sie konnte es kaum erwarten, Erle zu finden, und bedankte sich beim Herrn vom See. »Leb wohl, Tristifer, und vergiss mich nicht.« »Niemals. Leb wohl, Mädchen.« 135
Luned lief über den See. Sie machte riesige Schritte, die leicht nachfederten, sodass sie mit einer Geschwindigkeit hüpfte und rannte, die für einen Menschen normalerweise unerreichbar war. Die Kapuze ihres Mantels fiel auf ihre Schultern und der schwere Stoff blähte sich bei jedem Sprung wie ein Segel auf. Sie drehte sich nach Tristifer um, der mit jedem ihrer Schritte kleiner wurde. Er reckte einen Arm in die Höhe, aber schließlich verschwand er aus ihrem Blickfeld. Luned lief weiter. ›Bestimmt geraten Pferde und Hirsche auch in solch einen Glücksrausch‹, sagte sie sich. Das Wasser trieb sie an, immer weiter und höher zu springen. Im Fallen zog Luned jedes Mal die Beine an, um nicht auf dem Bauch zu landen. Sie breitete die Arme aus. Der Wald schien wie ein hohes grünes Gebirge auf sie zuzukommen.
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Die Gastfreundschaft der Steineiche DER SEE wurde von einem breiten Gürtel aus Binsen und Schilf gesäumt. Als Luned ganz außer Atem auf das Ufer zusteuerte, flatterte ein Schwarm dunkler Vögel schrill kreischend auf. Luned landete mit einem Fuß auf einem Stein, der kaum aus dem Wasser herausragte, und verspürte einen stechenden Schmerz. Sie stieß einen Schrei aus, bevor sie bäuchlings aufs Wasser klatschte. Unter ihrem Körper schwammen etliche Fische wie Gespenster in der durchscheinenden Dunkelheit. Ihre Schuppen schimmerten. Luned verspürte den Wunsch, auf den winzigen Wellen des Sees liegen zu bleiben, sich einlullen zu lassen und dort zu schlafen, auf diesem großen Bett aus glattem Wasser, über den Fischen, gehalten von der zarten, magischen Spannung des Wassers. Aber nein. Sie musste den Elf finden. Außerdem würde ihr bestimmt kalt werden, wenn sie auf dem eisigen See schlief, selbst wenn sie nicht nass wurde. Vorsichtig humpelte sie ans Ufer. Sie bahnte sich einen Weg durch die Pflanzen und hatte nun wieder festen Boden unter den Füßen. Wie schwer und unbeholfen ihr Schritt ihr auf dem Waldboden vorkam, verglichen mit ihren Hirschsprüngen auf dem kühlen, weichen Wasser! Sie ging langsam weiter. Dann setzte sie sich auf einen Stein, zog den Schuh aus und massierte den verletzten Fuß. Beide Füße waren geschwollen und sie hatte einen schwärzlichen Fleck an der Stelle, wo sie auf der Spitze des Steins gelandet war. Sie wiegte den schmerzenden Fuß in den Händen und schaute sich um. Es war nur das gedämpfte Plätschern der Wellen zu hören, die die Binsen sanft hin und her wiegten. Als ihr Atem sich wieder 137
beruhigt hatte, betrachtete sie den Wald, der vor ihr lag. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog sie die Sandale wieder an. Sie entdeckte einen Trampelpfad, der in den Wald führte. Kaum hatte Luned ihn betreten, wurde es auf einmal dunkel, als sei die Dämmerung hereingebrochen. Doch es war das grünliche, zarte Halbdunkel des Waldes, eines Waldes, der noch dichter und älter war als Brocéliande. Hier maß der Stamm jedes Baumes mehrere Ellen im Durchmesser und die Baumkronen verloren sich im Himmel. Luned lächelte, als sie nach oben blickte und feststellte, dass diese Bäume größer waren als alles, was sie jemals gesehen hatte. Ein plötzliches Gefühl des Triumphes machte sich in ihr breit, als sie die verwahrlosten Ruinen der römischen Stadt, auf der Corberic errichtet worden war, mit diesem Wald verglich. Bestimmt konnte es nicht einmal das höchste Haus von Corberic mit der Krone eines dieser Riesen aufnehmen. »Diese Häuser sind doch bloß ein Haufen Steine …«, murmelte sie verächtlich. »Ihr hingegen seid lebendig. Lebendig, lebendig …« Sie streckte die Hand nach dieser grünen Mauer aus, die in den Himmel ragte. Um den Stamm der jüngsten dieser Kiefern zu umfassen, waren mehr als zwanzig Personen nötig. Hier wuchsen keine Blumen und kein Gras; der Wanderer versank bis zu den Knöcheln in schuppigen Nadeln, trockenem Laub, Tannenzapfen und großen, glatten Eicheln in rauen Kelchen. Luned musste ihren Mantel schürzen und arbeitete sich langsam vorwärts, watete durch einen dichten, zähen Strom aus dürrem Laub. Der Fuß tat ihr weh, aber hingerissen von ihrer neuen Umgebung ignorierte sie den Schmerz. 138
Sie entdeckte Kiefern, Tannen, Steineichen, Eichen und Birken. Die Stämme der alten Bäume waren mit Efeu überwuchert und von den Ästen hingen dicke Spinnweben wie undurchdringliche Vorhänge. Bei einigen Kiefern schien die runzelige Rinde dort, wo das Harz goldene Rinnsale hinterlassen hatte, mit Gold gemasert zu sein. Luned hatte keine Angst vor diesem uralten Wald: Sie liebte die Bäume und spürte, dass die Riesen um sie herum sie kannten. Sie wusste, dass sie auf heiligem Boden stand, denn noch nie hatte sie so einen feierlichen, von stummer Freude erfüllten inneren Frieden erlebt. Sie lächelte und murmelte: »Seid gegrüßt.« ›Ich glaube, sie können hellsehen‹, dachte sie und starrte mit zugekniffenen Augen zu den Kronen hinauf. Es kam ihr so vor, als bewegten sich die untersten Zweige im Wind und krümmten sich langsam über ihrem Kopf zusammen, um sie zu berühren – eine ohne weiteres nachvollziehbare Halluzination. Der durchdringende Geruch nach Harz und modrigen Blättern war wie ein Dunst, der alles durchdrang. Luned legte beide Hände auf den Stamm einer Steineiche, schloss die Augen und verharrte eine Zeit lang so, dem Blut nachspürend, das unter ihrer Haut leicht gegen die fast versteinerte Rinde pochte. Sie hob die Hand, um einen schmalen Zweig über ihrem Kopf zu berühren, und zuckte zusammen, denn er fühlte sich warm an. Aber nicht so, als habe das Holz sich in den Sonnenstrahlen erwärmt – in dieser Welt schien die Sonne nicht aus Feuer zu sein, sondern nur ein winziges Rund aus flauschigem Licht – , sondern als sei der Baum warm, so wie das Fleisch von Menschen und Tieren. 139
Luned öffnete die Hand und wölbte sie sanft um den Zweig. Da hörte sie ein Knistern: Die länglichen Blätter mit gelappten Rändern, die an dem Zweig wuchsen, legten sich sanft auf ihre Finger. Dutzende weicher, warmer Blätter krümmten sich, ohne zu zerknicken, und bedeckten ihren Handrücken. Erschrocken hielt Luned sich an dem Zweig fest. Als Antwort fingen die zarten Blätter an der Spitze des Zweigs an zu zittern. Diese Geste sollte beruhigend wirken. Luned keuchte. Ein winziges Blatt rollte sich zusammen und liebkoste sie. Die Berührung mit den Blättern, dem Holz, mit einem pflanzlichen Körper war Luned vertraut, doch durch die Bewegung, durch diesen tierischen oder menschlichen Funken war alles verwandelt. Dieser Baum war auf andere Weise lebendig als die Bäume, die sie kannte. Dieser Wald war das Herz der Welt. Mit einem Stöhnen zog Luned an dem Zweig und legte ihn sich auf die Brust. Die Blätter umschlossen nach wie vor ihre Hand. Keuchend lehnte Luned sich an den Stamm. Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete sie ihre Hand unter den Blättern mit den welligen Rändern, die wie flache Finger mit abgerundeten Enden waren. ›Die Steineichen haben mir schon immer gefallen. Ihre Blätter erinnern mich an Flammen, an züngelndes Feuer. Grünes Feuer, würde Erle sagen‹, dachte sie. Die Blätter zitterten auf ihrer Haut und Luned drückte sie vorsichtig an ihre Brust, wobei sie auf dem Handballen die Stickereien auf ihrem gelben Mantel spürte. Sie stöhnte leise. Dann ließ sie ihre Finger zwischen die Blätter gleiten, sodass ihre Hand sich mit einem grünen Netz überzog. Die Rippen der Blätter sahen aus wie braune Adern und glichen den bläulichen Adern auf ihren Hän140
den. Die Blätter waren die Finger des Baumes, der Zweig war seine Hand und sie selbst war seine Tochter. Alles war ihr fremd, aber ihre Angst verschwand. Unzählige Male hatte sie dies geträumt und herbeigesehnt: dass ihr Baum sich auf sie zubewegte, sie umarmte und sie wirklich – und nicht nur in ihrer Vorstellung – das Pochen des Harzes hören konnte, das durch den Stamm floss, um die Blätter zu nähren. Sie meinte das Kernholz dieser Steineiche zu spüren, ein bewegliches Skelett ähnlich ihrem eigenen, das von einem großen, muskulösen Herz aus Holz belebt wurde, das von den Wurzeln bis zur Krone reichte. Der Zweig war wie das Handgelenk eines Arms und Luned nahm das schwache Trommeln seines Pulses wahr. ›Diese Bäume sind das, was die Götter meines Dorfes repräsentiert haben‹, sagte sie sich, ›diese Bäume sind die Götter, die ich seit meiner Kindheit verehrt habe.‹ Sie drückte den Zweig noch fester und spürte die Liebe der Steineiche. Etwas sagte ihr, dass im Wald der Kobolde und Feen dies die einzig mögliche Form der Liebe war; die alte, geschwisterliche Liebe aller Geschöpfe der Schöpfung zueinander, bevor der Tod auf den Plan getreten war. Die Steineiche, die ihr die Hand hielt, existierte seit zweitausend Jahren; zweitausend Jahre, in denen sie nie Bekanntschaft mit der Furcht gemacht hatte, in denen sie wie mit geschlossenen Augen die Tiere gespürt hatte, die in ihrer Krone lebten; zweitausend Jahre, in denen sie im grünlichen Licht dieser winzigen Sonne gewachsen war und das köstliche Wasser dieser Erde getrunken hatte. All dies erfuhr Luned, weil die Steineiche es so wollte. Sie verbeugte sich; der Zweig hielt ihr nach wie vor lie141
bevoll die Hand. So stand Luned lange Zeit an ihren Stamm gelehnt. Es war, als hielte Demne oder ihr Vater ihre Hand – oder beide gleichzeitig. Die Abenddämmerung brach herein oder zumindest glaubte Luned das, denn das spärliche Licht erlosch. Erschöpft und todmüde ließ sie den Zweig los und bettete sich zwischen die riesigen Wurzeln, die aus der lockeren Matratze aus Laub hervorragten und dicker waren als jeder Ast. Sie stützte den Kopf auf eine dieser ehrwürdigen, zahmen Schlangen, das außerordentliche, uralte Leben der Steineiche, und stammelte: »Hab mich lieb, hab mich lieb …« Genau dasselbe hatte sie zu ihrer Tanne gesagt. Da hoben sich die holzigen Wurzeln knarrend und knisternd aus der Erde. Die dicke Schicht Blätter und der Humus aus runden Krumen wurden aufgeworfen wie eine Welle. Die mächtigen Wurzeln bogen und drehten sich knirschend und formten einen Unterschlupf, der einer Hütte ähnelte. Darin kringelte sich eine Wurzel über dem Boden und bildete eine mit Moos und dürrem Laub bedeckte Kuhle, die als Bett dienen konnte. Erschrocken über das Beben der Erde unter ihren Füßen war Luned aufgesprungen, aber als sie die Höhle aus Wurzeln sah, machte sie einen Schritt darauf zu. Sie kroch in den Schlupfwinkel, den der Baum ihr darbot, und streckte sich auf dem Wurzelgeflecht aus. Die alte Steineiche schmiegte sich an ihren Körper und nahm sie in die Arme. Der große Baum schien zu ächzen und zu singen. Dann glitten die Zweige zur Seite und Luned sah einen einzigen Stern über sich. Sie zog sich die Kapuze ihres Mantels über den Kopf, verschränkte die Finger mit den Wurzeln, legte den Kopf auf eine Ausbuchtung am Stamm und ließ die Lippen auf der Rinde ruhen. Das 142
Laub liebkoste ihre Wangen und Stirn und säuselte in ihren Ohren. Luned schlief die ganze Nacht und träumte, sie sei eine Brombeerhecke und Kinder pflückten ihre süßesten Früchte. Zur selben Zeit lief Fata Titania, die allein in ihrem Reich unterwegs war, ein Schauer über den Rücken und ein dunkles Verlangen überzog ihre Arme mit einer Gänsehaut. Sie saß auf einem Hirsch – so groß wie ein Streitross und mit einem weit verzweigten Geweih gekrönt – und ritt auf ihren Turm zu. Der Hirsch sprang zwischen Nebelschwaden hindurch und über den feinen Dunst auf dem Unterholz hinweg. Die Ärmel von Fata Titanias Mantel waren seidenweich und schwer. Die scharfen Hufe des Hirschs zermalmten bei jedem Schritt die Blumen. Die eiskalte Luft roch nach Lavendel. Die Fata stoppte den Hirsch mit einem leichten Schlag auf den Hals. Sie stieg ab, kniete nieder und steckte die Finger in die feuchte Erde. Sie legte sich die Spitze des mit Erde bedeckten Zeigefingers auf die Zunge und schloss die Augen. Ihre langen schwarzen Augenbrauen schnellten über den zusammengepressten Lidern nach oben. Der Hirsch neigte den Kopf mit dem Geweih und schmiegte seine seidige Schnauze an Fatas weißen Hals. Diese lächelte und murmelte einen Namen: Luned. Inzwischen war in Brocéliande kaum Zeit vergangen. Im Reich der Feen war Luned erschöpft, weil sie eine ganze Nacht gelaufen war und einen Zauber gelöst hatte. In Brocéliande landete der leere Schlauch, den sie hatte fallen lassen, als sie von Erle verhext worden war, gerade erst auf dem Boden. Genau in dem Moment, als Luned die Augen schloss und die Lippen an den Stamm der Steineiche presste, beugte Demne sich über den Sack mit der Gerste. Ein Schauder zwang ihn, sich aufzurichten. 143
»Luned?«, fragte er, als spreche er mit sich selbst. Verwirrt und ängstlich schaute er sich um. Im Reich der Feen schnellte Fata Titania herum, als habe man sie gerufen, und sagte noch einmal feierlich: »Luned.« Ihr Reittier sprang über einen umgefallenen Stamm und Fatas Haar wehte im Wind wie eine schwarze Standarte. Am nächsten Morgen erwachte Luned hungrig. Noch im Halbschlaf streichelte sie den Stamm und folgte mit den Fingern der warmen, kunstvollen Struktur der Rinde. Mit der flachen Hand schlug sie in einer stummen Bitte leicht auf den Stamm der Steineiche, wie ein Tierjunges, das die Mutter anstupst, damit sie aufwacht. Die Steineiche hörte und begriff. Von ganz oben rann an ihrem Stamm ein dicker, runder Tropfen helles Harz herab, der aus dem Dunkel des Blattwerks kam, sanft schimmerte und eine leuchtende Spur hinterließ. Er fiel herab wie ein liebevoller, sanfter Regen, eine Frucht, ein Geschenk. Das grüne Feuer. Verblüfft betrachtete Luned die zähe Masse, die aus der Krone auf sie zurollte und ihre hohlen Hände bald mit olivgrünem Honig füllte. Luned tauchte die Zungenspitze in die klebrige Masse und lächelte. Sie schmatzte, lehnte die Stirn an den Stamm und murmelte: »Danke, danke.« Beglückt von der neuerlichen Großzügigkeit der Steineiche aß sie weiter. Ihr Hunger wurde gestillt, denn aus der Krone rann so lange Honig, bis sie satt war. Er erinnerte ein wenig an warme, zuckersüße, mit Thymian gewürzte Milch und stillte auch ihren Durst. Zum Schluss leckte Luned genüsslich ihre Finger ab. Beim Essen hatte sie hin und wieder einen Blick zur Krone hinaufgeworfen und Worte des Dankes gemurmelt. 144
Das grüne Feuer besiegte die Melancholie, genau wie Erle versprochen hatte. Satt und gestärkt küsste Luned den Stamm der Steineiche und schlang zum Abschied die Arme um ihn. Dann schlüpfte sie in den Mantel, den Tristifer ihr geschenkt hatte, und richtete sich auf. Nach wie vor wünschte sie sich nichts sehnlicher, als den Elf zu finden, und so machte sie sich wieder auf den Weg. Wäre sie noch ein wenig länger geblieben, hätte sie verstanden, dass die Blätter der Steineiche ihr zuraunten, sie solle in ihre Welt zurückkehren; Erle (den die Steineiche kannte, denn er hatte jahrhundertelang zwischen ihren Zweigen gespielt) sei ein ungezogenes, kindisches Geschöpf, das noch nicht gelernt habe, jemanden zu lieben.
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Ein Kröterich, der Geschichte schreibt VOM HONIG GESTÄRKT, setzte Luned ihren Weg fort. Es war mühsam, denn sie sank oft bis zu den Knien in der dicken Schicht aus Kiefernnadeln und Blättern ein. Beherzt und frohgemut arbeitete sie sich voran, zehrte sie doch noch von der Freude, die die Steineiche ihr bereitet hatte. Dabei war sie völlig orientierungslos. ›Es würde mir gar nichts nützen zu wissen, in welcher Richtung Westen ist‹, überlegte sie, eine Hand auf dem Säckchen, das Tristifer ihr geschenkt hatte, mit der anderen ihren Mantel zusammenraffend. Sie ging vornübergebeugt, gebremst durch das Laub und die weiche Erde, die ihre Knöchel und Waden umfingen. ›Ich muss warten, bis der Talisman sich rührt, oder eine Spur von Erle finden‹, sagte sie sich. Obwohl es Vormittag war, herrschte im Wald das gleiche grüne Halbdunkel, das sie auch am Vortag empfangen hatte. Luned kniff die Augen zusammen und spitzte die Ohren in der Hoffnung, irgendein Zeichen zu sehen oder zu hören, das sie zu ihrem Elf führen würde. Da entdeckte sie in der Ferne eine kleine Lichtung. Ein bläulicher Widerschein hob die Umrisse der gewaltigen Stämme hervor, die an dieser Stelle ein wenig weiter auseinander standen. Sie beschleunigte ihren Schritt und bemerkte, wie der Teppich aus Laub dünner wurde und sie besser vorankam. Einige Meter von dem bläulichen Schimmer entfernt blieb Luned stehen: Er ging von einem Rosenstrauch aus, dessen Triebe unter dem Gewicht hunderter Glühwürmchen erzitterten, die weiß und blau funkelten wie Sterne. Die roten Rosen leuchteten ebenfalls und dufteten so intensiv, als befände sich in jeder einzelnen ein Flämm146
chen, das die Blütenblätter erwärmte und so ihren Duft verstärkte. Sogar die Dornen glänzten, jede einzelne der scharfen Spitzen leuchtete. Der ganze Rosenstrauch flackerte wie ein bläuliches Sternbild. Sein Duft stieg Luned in die Nase und sie sog ihn begierig ein. Die Luft war warm. Unter dem Rosenstrauch hockte ein Kröterich von der Größe eines Fasses. Sein weißer Bauch blähte sich in regelmäßigen Abständen auf und schwoll wieder ab, als hänge er an einem Blasebalg. Seine gelbliche Schallblase bebte. Seine Augen saßen ganz oben auf dem Kopf und sahen aus wie harte, runde Kugeln aus Jade. Unter den fast geschlossenen Lidern blitzte nur ein farbiger mandelförmiger Ausschnitt hervor. Dieser Kröterich hatte eine schwarzgrüne, ölige Haut, die mit hühnereigroßen Warzen übersät und so feucht war, dass sich darin die leuchtenden Insekten und Blumen spiegelten. »Ein scheußlicher Geruch, hab ich Recht?«, fragte er Luned mit rauer Stimme, in die sich klangvolle Rülpser mischten. »Dieser Gestank nach Rosen stört mich wahnsinnig, aber die Glühwürmchen sind verrückt danach. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Luned lachte. Dieser Kröterich war zwar nicht wie ihre geliebten Frösche, aber er war sympathisch. »Hör mal, Mädchen, ein schönes Lachen hast du. Ich bin witzig, stimmt’s? Das wurde mir schon mehrfach bestätigt. Sag mir, was dich hierher führt, ich bin am Arbeiten und wie immer habe ich viel zu tun und wenig Zeit«, sagte er und rülpste erneut. Mit winzigen Hüpfern, bei denen sein Bauch bebte, bewegte er sich auf einen Ort in der Nähe des Rosenstrauchs zu. Dort befanden sich ein riesiges aufgeschla147
genes Buch und ein Tintenfass aus grünem Glas in der Form eines Brunnens, aus dem ein smaragdgrüner Tintenstrahl sprudelte. Der Kröterich beugte sich darüber. Luned, die nach wie vor von Büchern fasziniert war, tat es ihm nach. Doch aus dem Maul des Kröterichs drang ein Geruch nach Verwesung und mischte sich mit dem Duft der Rosen, sodass sie mit der Hand vor der Nase zurückprallte, noch bevor sie einen Blick auf das Pergament geworfen hatte. Erschrocken machte der Kröterich einen Satz und ließ einen langen Wind fahren. Angewidert hielt sich Luned die Nase zu und hätte beinahe losgeprustet. »Hör mal! Weg da! Du bist zwar hübsch, aber auch unvorsichtig! Siehst du denn nicht, dass ich mitten in der Arbeit stecke?«, rief der Kröterich. Seine Zunge entrollte sich wie eine weiche Peitsche, fing einen riesigen Käfer und beförderte ihn in sein Maul. Er kaute geräuschvoll; dabei klappten seine Lider ganz auf und legten seine kugelrunden Augen frei. »Entschuldige«, sagte Luned. »Hast du hier keinen Elf vorbeikommen sehen?« »Einen Elf? Von denen gibt es doch hunderte! Als Geschichtsschreiber befasse ich mich mit wichtigen Dingen und führe nicht Buch über die Elfen! Du bist zwar hübsch, aber auch dumm!« »Er heißt Erle und sein Haar ist fast weiß.« »Vielleicht, kann sein. Wer weiß das schon?« Der Kröterich tauchte sein linkes Bein in das brunnenförmige Tintenfass. Dann führte er es zu dem Buch und hinterließ mehrere Fußabdrücke auf dem Pergament. Luned konnte sich kaum das Lachen verkneifen. »Ist das deine Schrift? Du schmierst manchmal ein wenig, findest du nicht?« 148
»Ja, du hast es also bemerkt, hm? Ich weiß nicht, wie ich das abstellen soll. Wenn ich jemanden kennen würde, der schreiben kann, würde ich ihm einen Tauschhandel vorschlagen.« »Ich kann schreiben!« »Beweis es mir!«, erwiderte der Kröterich. Luned tauchte den Zeigefinger in die Tinte und schrieb in schlanken, tadellosen Runen ihren Namen in das Buch. Sie hatte ganz vergessen, dass sie geglaubt hatte, sie habe das Schreiben verlernt. Der Kröterich kniff die Lider zusammen und zwischen den beiden Schlitzen funkelte es im Halbdunkel wie Jade. »Du willst also herausfinden, wo Erle steckt?«, fragte er rülpsend. »Überlass mir dein Wissen, dann schenke ich dir diesen Teil meiner Weisheit. Einverstanden?« Aufgeregt klatschte Luned in die Hände und rief aus: »Natürlich bin ich einverstanden!« Der Kröterich machte drei kleine Hüpfer auf Luned zu. Er kniff erneut die Augen zusammen und sagte: »Gib mir einen Kuss.« »Was?« »Kennst du die Regeln etwa nicht? Außerdem besteht die Möglichkeit, dass ich mich in einen Prinzen verwandle … auch wenn mich das nicht interessiert. Ich gehöre dem Froschlurchadel an und das genügt mir. Aber du musst mich unbedingt küssen. So geht dein Wissen auf mich über. Komm, fass dir ein Herz.« »Soll ich dir das Schreiben nicht lieber so beibringen, wie ich es bei meinem Lehrer gelernt habe? Indem du das Malen der Runen übst und ihre Namen lernst?«, fragte Luned und kämpfte gegen die Übelkeit. »Dazu ist keine Zeit!«, rülpste der Kröterich. »Außer149
dem will ich, dass du mir einen Kuss gibst. Los, mach schon. Da ich Geschichtsschreiber bin, überlasse ich dir nicht nur eins meiner Glühwürmchen, damit es dich zu Erle führt, sondern werde dir auch deine Vergangenheit zeigen, wie du sie noch nie gesehen hast.« »Meine Vergangenheit? Wozu denn? Ich habe ein gutes Gedächtnis … Zeig mir lieber meine Zukunft. Dann küsse ich dich«, versetzte Luned und kam sich gleichzeitig stoisch und dumm vor. Ihr Magen rebellierte. »Die Zukunft? Die ist variabel. Du hast viele Möglichkeiten, je nach deinem Mut … Unmöglich. Außerdem tendieren die Menschen hier zu Lande dazu, keine Zukunft zu haben. Das Glühwürmchen hingegen ist unfehlbar. Es wird dich führen, wohin du willst. Küss mich!« Luned machte einen Schritt auf den Kröterich zu und beugte sich über den spitz zulaufenden Kopf und das riesige Maul. Der Kröterich schloss die Augen, hob die klebrigen Händchen mit den Schwimmhäuten und nahm Luneds Wangen in die Zange. Luned betrachtete den Kröterich, aber beim Anblick seiner eigenartigen Haut schloss sie lieber ebenfalls die Augen. Ihre Lippen und die des Kröterichs berührten sich kurz. Luned hielt die Luft an und prallte zurück. Der Kröterich schien zu lächeln, umringt von Lichtern, größer als vorher. Er blähte sich auf und schnaubte und sein milchiger Bauch sah aus wie der Vollmond. Luned hatte auf einmal einen bitteren Geschmack im Mund, als sei Gift durch ihre zusammengepressten Lippen gedrungen. Sie spürte den Speichel des Kröterichs auf ihren Lippen und eine warme Flüssigkeit, die an ihrem Kinn hinabrann. Dann begannen die Visionen.
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Ein kleines Mädchen, ein Mann und ein Elf SIE WAR wieder in dem Wald, der ihr Dorf umgab, auf einer Lichtung, die von der fahlen Frühjahrssonne beschienen wurde. Jedes Blatt mit seinen feinen Rippen, jede gewundene Linie auf der Baumrinde und jeder Grashalm zeichneten sich in der kristallklaren Mittagsluft deutlich ab. Es wehte ein leichter Wind. Luned konnte sich ganz genau an diesen Ort erinnern: Sie befand sich in der Nähe ihrer Tanne. Das dürre Laub knisterte unter schnellen Schritten und Luned versteckte sich rasch im Gestrüpp. Von dort aus sah sie ein etwa zehnjähriges Mädchen auftauchen. In dem breiten Gesicht funkelten mandelförmige Augen unter schweren Lidern. Das Mädchen hatte den Saum ihres Kleides unter das grobe Stoffband um ihre Taille gesteckt, sodass ihre schmalen Oberschenkel zu sehen waren. Keuchend sah sie sich um. Als ihr Blick an den Büschen hängen blieb, verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln und sie schnalzte mit den Fingern, als rufe sie einen Hund. Luned lief es kalt über den Rücken und die Härchen in ihrem Nacken und auf ihren Wangen stellten sich auf. Dieses Mädchen war sie selbst. Das Mädchen kam auf das Gestrüpp zu. »Wer bist du? Warum versteckst du dich?« Luned hörte ihre eigene Stimme, nur schriller und höher, und ballte ihre Fäuste, bis ihre Fingernägel sich ins Fleisch gruben. Sie betrachtete die kleine Gestalt leidenschaftlich, versunken in den Anblick ihrer selbst, ihrer eigenen Kindheit. Ja, das war sie; ja, diese Narbe gehörte ihr; ja, sie hatte dieses Muttermal auf der Innenseite des linken Ellbogens, den gleichen Haaransatz, den Wirbel 151
auf einer Seite der Stirn. Allerdings war ihr neu, dass sie so große, unbeholfene Schritte machte und dass ihre Oberschenkel und Kniekehlen so dünn und ihre Knie so knochig waren. Woher hätte sie das auch wissen sollen? Das Mädchen kam noch einen Schritt näher. Ihr kleines Gesicht war verletzlich und freimütig und winzige Schweißperlen bedeckten ihre Oberlippe. Sie hatte eine lange Schramme an der Schulter. Der Zeigefinger ihrer linken Hand war noch unversehrt. In naher Zukunft würde das Mädchen sich mit dem schlauen Wildschwein messen. »Hast du Angst? Hast du den Frischling gesehen? Oder den Hund?«, fragte sie. Luned richtete sich auf und mit Tränen in den Augen streckte sie dem Mädchen die Hand entgegen. Diese ergriff sie ohne Zögern. Luned schloss sie in die Arme und die Kleine ließ es willig geschehen. Als Luned das Gesicht in ihr Haar drückte – es roch nach Weizen und ihre Kopfhaut war ein wenig feucht – , erkannte sie ihren eigenen Geruch wieder. Das Mädchen kuschelte sich in ihre Arme, hob den Kopf und sah sie neugierig an. Luned küsste sie sanft auf die Stirn. Sie verspürte tiefen Frieden und das Echo der Liebkosung in ihrem eigenen Gesicht. Sie drückte das Mädchen an sich und jede Sekunde bescherte ihr noch größeres Glück. Sie konnte sich nicht satt sehen; sie fand es faszinierend, sich in diesem Spiegel aus Fleisch und Blut zu betrachten – sie, die sich mit vierzehn Jahren in Demnes Haus zum ersten Mal in einem Spiegel gesehen hatte – , der ihr darüber hinaus noch einen Blick auf ihre Vergangenheit ermöglichte: Sie betrachtete die durchsichtige Haut ihrer Schläfen, hinter der blaue Äderchen zu sehen waren, ihre großen Zähne und sogar die winzigen Bällchen Augenbutter; die violet152
ten Ringe um ihre Augen, dieses lebendige, unvollkommene Fleisch, das ihr eigenes war. Doch bald erlosch das Lächeln des Mädchens, sie verkrampfte sich immer mehr und warf ihr verunsicherte Blicke zu. Luned wiegte sie in ihrem Schoß und streichelte ihr Gesicht. Das Mädchen grinste misstrauisch und schien am liebsten aufspringen zu wollen. Angst hatte sie offenbar keine, aber Luned wusste (besser als jeder andere), dass die Situation sie befremdete und ihr allmählich unangenehm wurde. »Sag mal«, fragte sie das Mädchen, »hast du keine Angst vor dem Frischling?« »Nein. Vor meiner Mama habe ich mehr Angst«, erwiderte sie und lachte. »Wer bist du? Lass mich los …«, bat sie. Luned ließ sie los. Das Mädchen streckte sich und ließ sich auf den Boden gleiten. Dort legte sie sich auf die Seite, eine Hand unter dem Gesicht, und riss die Augen weit auf. Dann rollte sie sich auf den Rücken und deckte sich das Gesicht mit dem Unterarm zu. Luned erriet, dass das Mädchen sich auf die Flucht vorbereitete und sie sie nicht würde einholen können. Sie versuchte sie mit Worten zurückzuhalten: »Deine Mama hat dich sehr lieb. Wirklich. Und weißt du, vor der Fledermaus brauchst du keine Angst zu haben.« Das Mädchen richtete sich auf und sah sie überrascht an, was komisch wirkte. »Woher weißt du das?« Anstatt einer Antwort umarmte Luned sie und küsste sie noch einmal auf die Stirn. »Wer bist du?«, fragte das Mädchen erneut. »Komm, sag schon …«, drängte sie. 153
»Wenn du Angst hast, denk an mich. Ich bin immer bei dir. Und du bist bei mir. Du bist immer bei mir.« Luned schloss die Augen und bat das Mädchen, es ihr gleichzutun. Sie bebte vor Freude. Sie wollte für das Mädchen sein, was die Steineiche für sie selbst gewesen war. Sie wiegte sie in den Schlaf und flüsterte ihr zu, dass es gut sei, den ganzen Tag durch den Wald zu laufen. Dass ihre Tanne ihr bester Freund sei und es auf der ganzen Welt keinen schöneren Baum gebe. Dass sie vor der Fledermaus keine Angst zu haben brauche, dagegen mehr auf ihr Herz und ihre Mutter hören solle. Sie sagte ihr all das, was sie selbst in diesem Alter gerne gehört hätte. Das Mädchen kuschelte sich in ihren Schoß und schlang ihr die dünnen Ärmchen um den Hals. Luned sang ihr leise die schönsten Lieder ins Ohr, die sie kannte. Als das Mädchen tief und gleichmäßig atmete, schlief Luned ebenfalls ein, die kleine verschwitzte Hand in ihrer und das Gesicht in das wirre Haar des Mädchens gedrückt, das den vertrautesten Duft der Welt verströmte. Als Luned aufwachte, war das Mädchen nicht mehr da, genauso wenig wie die Bäume und der Wald. Sie befand sich nun in einem Haus – bei Efra und Demne. Da war Demne, über ein Pergament gebeugt, die Feder in der Hand. Aber er schrieb nicht. Er las leise. Luned betrachtete ihn genauso begierig wie zuvor das Mädchen: seine weißen Hände, die den Griffel führten, als schreibe er, das gütige Gesicht, die Denkfalte zwischen den Augenbrauen und die Lippen, die sich bewegten. Luned erkannte das weiße Täfelchen voller grüner Runen wieder: Er las den Beowulf. Das kam nicht sehr häufig vor. Es war ihr Lieblingsgedicht, nicht Demnes. 154
Mit lautlosen Schritten trat sie näher. Sie beugte sich über ihn, aber ihr Körper warf keinen Schatten. Demne sah sie nicht. Auf einmal stand der Geschichtenerzähler auf. Er steuerte auf das andere Zimmer zu – ihr Zimmer, wie Luned sich erinnerte – und blieb auf der Schwelle stehen. Unsichtbar und geräuschlos folgte Luned ihm und küsste ihn, wie sie es sich so oft gewünscht hatte. Sie stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Lippen zu küssen, auf den Hals, auf das Kinn mit dem kurzen, struppigen Bart. Er spürte es nicht, sie jedoch sehr wohl. Sie spürte seinen warmen Atem und roch den Rauch in seinen Kleidern. Sie lachte und war zugleich beschämt, denn Demne ließ traurig die Lider sinken. Sie drehte sich um, weil sie einen Blick in das Zimmer werfen wollte, und entdeckte erneut sich selbst. Doch anstelle ihrer Kindheit sah sie nun das Leben, das sie bis vor wenigen Tagen geführt hatte, ihre jüngste Vergangenheit, die fast noch zu ihrer Gegenwart gehörte. Sie sah sich selbst, zusammengekauert, die geballten Fäuste auf der Brust, den halb offenen Mund (der dünne Speichelfaden, der die Decke nass machte, trieb ihr die Schamröte ins Gesicht) und die zusammengepressten Lider. Die Lampe warf ein sanftes Licht auf ihr hartes, angespanntes Gesicht. Es war ein Schluchzen zu hören. Demne weinte, die Hand auf den Augen. Efra ging auf seinen Sohn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sie ist hier nicht glücklich. Schau sie dir an, sogar im Schlaf ist sie verängstigt. Sieh nur, wie schmal sie geworden ist«, sagte Demne leise. Efra fragte: 155
»Was hast du vor?« »Sobald sie mich darum bittet, bringe ich sie in ihr Dorf zurück. Wenn sie mich haben will, nehme ich sie zur Frau. Aber jetzt kann ich unmöglich mit ihr reden. Schau sie dir an! Ich trage die Verantwortung für das, was geschieht. Ich bin schuld, dass sie krank ist.« Luned wollte ihn trösten. Sie umarmte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Es ist nicht deine Schuld, das ist nicht wahr. Du hast mir das Schreiben beigebracht, du bist immer gut zu mir gewesen. Ich liebe dich.« Sie legte ihm die Hand aufs Herz und küsste ihn auf den Mund, spürte seine warmen, salzigen Lippen. Demne seufzte. Das Mädchen bettete den Kopf an seine Brust und schloss die Augen. Luned war leicht schwindlig und sie sah alles verschwommen. Nun lehnte sie an einem Baumstamm, nicht an Demnes Brust. Vor ihr, im Wald, saß Erle auf einem dicken Baumstumpf, das Kinn in die Hand gestützt. Auf seinem Zeigefinger saß eine Nachtigall. Der Elf betrachtete den Vogel konzentriert. Die Nachtigall sang leise. Erle machte den Mund auf und über seine bläulichen Lippen kam ein Trillern, das dem des Vogels glich. Die Nachtigall beugte sich zu dem Elf und streckte ihm den Schnabel entgegen. Der Elf drückte sanft einen Kuss darauf und streichelte das Köpfchen. Die Nachtigall flatterte hoch und ließ sich auf seiner Schulter nieder. Der Elf lachte und erhob sich. Er reckte und streckte sich, sodass sein Umhang wie ein schwarzer Wasserfall um ihn herumschwang und sein Haar über seine Schultern fiel. Luned freute sich, als sie ihn singen hörte. Der Elf schnalzte 156
mit der Zunge und die Nachtigall flog in die Krone eines nahen Baumes. Luned ging mit ausgestreckten Armen auf Erle zu. Sie wollte ihn berühren, so wie sie Demne berührt hatte. Vielleicht konnte der Elf, der ja aus dieser magischen Welt stammte, sie sehen. Vielleicht konnte sie nun bei ihm bleiben. Aber Erle verstummte und schaute sich erschrocken um. Er sah sie nicht. Sie war immer noch unsichtbar. Luned stolperte und fiel aufs Knie. Sie richtete sich auf und klopfte sich das Laub von ihrem Mantel. Als sie den Kopf hob, war der Elf nicht mehr da. »Erle!«, rief sie, ohne ihre Stimme zu hören. Sie hörte überhaupt nichts. »Erle?«, wiederholte sie. Es war wie in einem Albtraum: Sie sagte etwas, aber aus ihrem Mund kam kein Ton. »Kröterich … kleiner Kröterich … wo bist du?«, fragte sie. Im Wald herrschte Stille. Sie machte ein paar Schritte. Stille. Nicht einmal das dürre Laub unter ihren Sandalen knisterte. Die Dämmerung brach herein. Die Sterne, die zwischen den Blättern der Bäume auftauchten, schimmerten rötlich. Bald würde der Mond aufgehen, da war sie sich sicher. Sie würde einen dickbäuchigen, blutroten Mond sehen, einen bedrohlichen Mond. Da bekam sie Angst und hielt sich erschrocken die Augen zu. »Es reicht … es reicht«, flüsterte sie. Sie wollte nichts mehr sehen. Sie wollte als körperliches, sichtbares Wesen in die Gegenwart zurückkehren, vielleicht in den Steineichenwald. Als sie die Hände vom Gesicht nahm, sah sie den Rosenstrauch voller Glühwürmchen und leuchtender Blüten. Der Kröterich quakte heiser vor sich hin, während er über 157
sein Buch gebeugt schrieb. Mit seinem kleinen, in grüne Tinte getauchten Finger malte er nun sorgfältig Runen. »Wo ist Erle?« Der Kröterich schrieb gerade das Wort Kröterich in sein Buch und schüttelte den schweren Kopf. Erstaunt betrachtete er seine Hand mit den Schwimmhäuten und rülpste. Dann schloss er die Augen und deutete in Richtung Rosenstrauch. Ein riesengroßes Glühwürmchen, ein lebendes Lämpchen, ließ sich auf Luneds Handrücken nieder. »Sag ihm, was du suchst, dann hilft es dir, es zu finden, ob nun in deiner Welt oder in unserer. Und jetzt lass mich arbeiten, ja?« Er beugte sich über sein Buch und schrieb Kröterich Kröterich Kröterich Kröterich Kröterich, ohne Luned weiter zu beachten. Das Glühwürmchen sirrte vor ihr in der Luft. Der Kröterich fing einen Käfer. »Verschwinde endlich, Mädchen! Ich will eine Geschichte schreiben und wir Chronisten werden nicht gern unterbrochen, weißt du? Du kannst dir also vorstellen, dass ich dich gern los wäre, damit ich mich inspirieren lassen kann. Wenn ich nur die Glühwürmchen von diesem stinkenden Rosenstrauch vertreiben könnte, wäre alles perfekt. Nun ja. Es ist sinnlos.« Luned streckte das Kinn vor und sagte zu dem Glühwürmchen: »Bring mich zu Erle.« Das Glühwürmchen sauste auf einen Weg zu, der zwischen den Bäumen hindurchführte.
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Noch einmal Cai LUNED, die Erles Gesicht vor Augen hatte, als sei es mit glühenden Eisen in ihre Stirn gebrannt, folgte unbeirrt dem steten Licht des Glühwürmchens. Auch abgesehen von all dem, was sie dazugelernt hatte, seit sie den Ring aus roten Blumen betreten hatte, wusste sie genug, um zu begreifen, dass das Glühwürmchen kein gewöhnliches Tier war. Offenbar hatten in dieser Welt alle Wesen besondere Fähigkeiten: der Rabe, die Fische und die Frösche, der Kröterich und die riesigen, liebevollen Bäume, die sie beschützten, wie nur Demne sie bisher beschützt hatte. Doch während sie die Fähigkeiten der anderen Geschöpfe erkannt hatte, kam ihr das Glühwürmchen so geheimnisvoll und elementar vor wie eine Feuerzunge. Luned fror und war müde. Was hätte sie um ein wenig mehr Honig von der Steineiche gegeben! Denn seit Stunden wurde sie von Hunger und Durst gequält. Aber die Erinnerung an Erles Umarmung, sein nach Kiefer duftendes Haar und seine grünen Augen trieben sie vorwärts. So ging sie immer weiter, obwohl ihre Sandalen inzwischen längst zerrissen waren und sie manchmal vor Erschöpfung stolperte. Auf einmal bekam sie einen Schreck und zugleich überfiel sie eine wilde, unbekannte Freude, denn hinter dem kleinen, beherzten Licht des Glühwürmchens tauchte der grüne Schein des elfischen Feuers auf: keine Zauberei von Erles Hand und auch kein Honig aus der Steineiche, sondern Kienspäne und Fackeln, die zwar nicht rauchten, aber Funken sprühten und Licht gaben. Und sie hörte neben sich schnelle Schritte zwischen den Bäumen sowie 159
Getuschel und ersticktes Lachen. Sie blieb stehen und rief, wie Demne es ein knappes Jahr zuvor getan hatte: »Elf oder Mensch, zeig dich, damit ich dich sehen kann!« Zuerst hörte sie ein Keuchen und das Knistern von Laub, dann tauchte zwischen den Bäumen ein rothaariger Hund auf, der aussah wie ein riesiger Fuchs und ein nobler Bewohner des Waldes. Die blonde Behaarung an seinen Pfoten glänzte, als trage er Schuhe aus Gold. Hinter ihm trat Cai mit einem breiten Lächeln aus dem Wald. Er trug seinen alten braunen Kittel und seine üblichen grauen Strumpfhosen, aber nun steckte in seinem linken Ohrläppchen ein Ring mit einem Rubin und der Leprafleck auf seiner Wange sah aus wie aufgemalt. Er erinnerte an eine silberne Träne. Der Hund stellte sich auf die Hinterbeine; nun, da er in der Welt der Feen lebte, war er vielleicht weiser geworden und streckte Luned seine schwarze, feuchte Schnauze entgegen. Er musterte das Mädchen ausgiebig. Luned spürte auf Lippen und Wangen den heißen Atem des Hundes, den charakteristischen Geruch seiner Schnauze und begriff, dass er sich an sie erinnerte und wusste, weshalb sie sich wieder trafen. Über seine breite Brust lief ein Schauer und aus seiner halb offenen Schnauze drang ohrenbetäubendes Jaulen. Luned betrachtete seine schwarzen, gewellten Lefzen und seine rosige Zunge, die zwischen den Reißzähnen heraushing. Die Ohren des Hundes spitzten sich. Es war, als sähe Luned ihn zum ersten Mal. Im samtweichen Gold seiner Augen (darüber lange wimpernähnliche Haare, die sich bewegten, während er sie betrachtete) entdeckte sie eine Intelligenz und eine Güte, die tiefer gingen als das, was sie bei den meisten Menschen gesehen hatte. Sie konnte seinem Blick nicht standhalten. Schamrot und verlegen drückte sie das 160
Gesicht in das struppige, duftende Fell am Hals des Tieres und lachte, während sie seine schwieligen, festen Pfoten auf ihren Schultern spürte. »Hier können wir ihn besser wertschätzen. Und er hat in dieser Welt nichts zu befürchten. Das gilt hier für alle Tiere«, erklärte Cai. Luned ließ den Hund los und ging auf ihren Freund zu, um ihn zu begrüßen. Sie umarmten sich und Cai streichelte ihr über die kurzen Stoppeln. »Wie ich sehe, ist das, was man sich erzählt und was bereits besungen wird, wahr. Dass du dein Haar geopfert hast, um dem Herrn vom See seine menschliche Gestalt zurückzugeben. Du sieht aus wie ein kleines Mädchen oder vielmehr wie ein kleiner Junge.« »Wie ein gerupftes Huhn …«, sagte Luned lächelnd. »Wie ein Vögelchen«, fuhr Cai fort. »Komm, Luned, ich will mit dir reden. Ich will mich bei dir bedanken für die Liebe, die du mir im schlimmsten Moment meines Lebens entgegengebracht hast. Ich will dir erzählen, dass Fata Titania mich geheilt hat. Und dass das hier kein Ort für dich ist«, fügte er hinzu, während er mit ihr auf einen umgestürzten Baumstamm zuging. »Wie bitte? Er ist gut für dich, aber nicht für mich?« »Ganz genau«, antwortete Cai. »Und ich will wissen, ob du etwas zu dir genommen hast, das Elfen zubereitet haben.« »Nein. Ich habe nur vom Harz einer Steineiche gegessen und der Baum war so gut zu mir wie noch nie einer zuvor. Warum?« »Wenn du einmal vom Salz der Fata gekostet hast, kannst du nie wieder in deine Welt zurückkehren«, sagte Cai und half ihr, sich auf den Stamm der Steineiche zu setzen. Er kniete vor ihr nieder, zog ihr die Sandalen aus 161
und stöhnte auf, als er Luneds Füße voller Blasen und Schrammen sah. Mit gerunzelter Stirn streichelte er ihr behutsam über die schwarzblaue, schmutzige Ferse. »Ich möchte, dass du ein paar Freunde von mir kennen lernst«, sagte Cai. Sanft pfiff er dreimal. Daraufhin waren Schritte, Gelächter und Stimmengewirr zu hören und zwischen den Bäumen tauchten vier oder fünf Kinder und ein Dutzend Erwachsene mit brennenden Kienspänen in der Hand auf. Sie legten die Kienspäne, an denen das grüne Feuer brannte, auf den Boden, ohne dass ein einziges dürres Laubblatt Feuer fing. Die Flammen tanzten in die Höhe, lange, Funken sprühende Zungen, an denen man sich jedoch nicht verbrannte und die das Holz unversehrt ließen. Die lodernden Spitzen der Kienspäne ruhten auf dem Bett aus dürrem Laub und erhellten jedes Blatt, ohne es zu verschlingen. Es war tatsächlich ein kaltes Feuer, genau wie Demne gesagt hatte. Einer der Erwachsenen war ein alter Mann, der eine seltsame silberne Maske trug: Sie bedeckte nur seine Nase und war mit Lederriemen und Schließen um seinen Hinterkopf gespannt. Die anderen trugen wunderschöne kaffeebraune Handschuhe mit Ringen aus Silber und Gold an jedem Finger und aufgestickten grün glänzenden Fingernägeln, als hätte man die Schuppen einer Sirene auf die Handschuhspitzen genäht. Die Kinder waren in extravagante Pracht gekleidet: kurze Umhänge aus schwarzviolettem Samt, Wämser und friesische Überwürfe, Spitzen aus Flandern, Strümpfe aus Wolle und Schuhe mit riesigen aufgestickten Zierschleifen. Im Haar der Frauen glänzten aus Gold- und Silberfäden gewebte Netze, und eine lange Kette, an der Saphire wie Tränen aufgereiht waren, umgürtete die Taille einer bleichen, 162
stummen Alten, deren eine Gesichtshälfte unter einer Maske aus schwarzem Leder verborgen war. Nicht ohne Stolz sagte Cai: »Das hier ist Luned, die Geschichtenerzählerin. Sie ist meine Freundin seit meiner Zeit als Maurer in Corberic. Ich hätte gern, dass ihr mit ihr redet und ihr erklärt, was ich ihr selbst nicht sagen kann, weil ich ihr und auch Fata Titania so dankbar bin.« Ein etwa zehn Jahre alter Junge mit dunklem Teint, gelocktem Haar und überaus sanften Augen mit dunklen Ringen hielt ihr seine Hand hin und fragte mit schriller Stimme: »Was glaubst du, wie alt ich bin, Geschichtenerzählerin?« »Zehn Jahre?« Der Junge packte Luneds Hand mit seinen eiskalten, langen Fingern und drückte so fest zu, dass Luned aufstöhnte. »Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich mich im Wald verirrt und bin ins Reich der Feen geraten. Nach menschlicher Zeitrechnung bin ich zweiundfünfzig Jahre alt. Mein Herz ist zwar das eines erwachsenen Mannes, aber mein Körper ist der eines Kindes, das nur ganz langsam älter wird. Ich habe Angst, in meine Welt zurückzukehren und dort niemanden mehr vorzufinden. Die ersten Jahre – zehn oder zwanzig nach menschlicher Zeitrechnung, ich weiß es nicht genau – habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, weil ich hier glücklich war. Doch jetzt drängt sich mir manchmal die Frage auf: Was wäre, wenn ich das Essen, das Fata Titania mir angeboten hat, nicht angenommen hätte?« Luned schüttelte die kalte Hand des Jungen ab und drehte sich mit weit aufgerissenen Augen nach Cai um. 163
»Warum tust du mir das an? Bist du hier nicht glücklich?« Nun trat der alte Mann mit der silbernen Maske näher und sagte mit hohler Stimme: »Für uns Kranke ist das hier die beste aller Welten. Die Lepra hat mir die Nase und beide Hände geraubt und ich konnte nicht mehr essen, weil ich nicht einmal mehr einen Napf mit Milch halten konnte. Als ich mein Gesicht im Wasser gesehen habe, wurde ich so traurig, dass ich die schrecklichsten Depressionen bekam. Da bin ich eines Nachmittags mit einem Weinkrampf wie ein Betrunkener herumgetorkelt und aus Versehen in einen Ring aus roten Pilzen geraten – und somit ins Reich der Feen. Jetzt habe ich diese Nase«, er deutete auf die Maske, »und diese gezauberten Hände.« Er hob seine Hände und nun sah Luned, dass sie aus Holz waren. Er konnte die Finger bewegen und abknicken und seine perlmuttartigen Fingernägel schimmerten grünlich. Es waren ovale, flache Jadetropfen. Am Zeigefinger trug er einen großen Ring mit einem Amethysten und um sein Handgelenk und seinen Daumen wand sich eine goldene Schlange mit Augen aus Lapislazuli. Solchen Schmuck hatte Luned noch nie gesehen. »Ich bin ein ergebener, dankbarer Untertan, aber manchmal würde ich gern die Wärme der Sonne in meinem Gesicht spüren«, fügte der Mann hinzu und senkte den Kopf. »In der anderen Welt wärst du bereits tot, weißt du das?«, rief Luned aus. »Was soll am Tod schlimm sein? Schlimm ist die Lepra und schlimm ist die Grausamkeit der anderen Menschen, die uns ablehnen. Aber nicht der Tod. Du hast ja keine Ahnung, Mädchen«, versetzte der Unbekannte. 164
»Du bist undankbar! Dann wärst du also lieber in der Welt, in der du dich von allen anderen fern halten müsstest?«, fragte Luned. »Ich hatte keine andere Wahl. Sieh dir an, was die Welt mir zugedacht hatte!«, entgegnete der alte Mann und öffnete die Schließen um sein linkes Handgelenk. Kurz darauf hielt er die Holzhand in der anderen und zeigte Luned einen bleichen Stummel, an dem gerade noch die aufgedunsenen, weißlichen Ansätze der Fingerwurzeln zu sehen waren. Er bewegte sie und zeigte Luned so mit einem bitteren Lächeln, was von seiner Hand übrig war. Luned schlug sich die Hand auf den Mund und sah Cai mit Tränen in den Augen an. »Mir blieb nichts anderes übrig. So wirkt sich die Lepra aus. Auch im Gesicht, weißt du?«, fügte der Mann hinzu und schnallte sich die mechanische Hand wieder an. Nun kam ein anderer Leprakranker mit Maske auf Luned zu. Er beugte sich nach vorn, vielleicht weil er die Bänder lösen wollte, mit der seine Maske befestigt war. Mit einem Aufschrei hielt sie ihn davon ab und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich will es nicht sehen!«, rief sie aus. »Ich habe schon verstanden …« Keuchend hielt sie Ausschau nach ihrem Glühwürmchen. Es saß hinter ihr auf einem Baumstamm. Sie riss Cai die Sandalen aus der Hand und während sie sie schnürte, spürte sie eine Welle des Zorns in sich aufsteigen. Zum ersten Mal, seit sie den Elf gesehen hatte, war sie verunsichert. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, ihm zu folgen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Cai in die Welt der Elfen zu schicken … Nein, es war kein Fehler gewesen. Diese Menschen waren undankbar. Sie 165
sollten sich lieber glücklich schätzen, dass die Lepra bezwungen worden war. Wodurch auch immer. Und hier, wo die Bäume regierten wie in der anderen Welt die Könige, hier, wo Erle lebte, hier gab es keine Krankheiten. Sie waren undankbar! Mit einem Satz sprang Luned auf und rief: »Glühwürmchen! Ich habe dem Kröterich mein Wissen überlassen, damit du mich zu Erle bringst! Also, auf geht’s!« Zu Cai, der sie mit offenem Mund anstarrte, sagte sie: »Ich werde nicht von hier fortgehen! Wir werden uns wieder sehen und so lange reden, wie du willst! Denk daran, dass ich dir immer geholfen habe, und wirf mir jetzt keine Knüppel zwischen die Beine!« Cais Freunde machten mit besorgter Miene oder so etwas wie Angst einen Schritt auf Luned zu. Auf ein Zeichen von Cai hin blieben sie stehen. Er bewegte die Lippen und sagte lautlos: »Geh nicht, Luned.« Luned las die Worte von seinen Lippen ab und rief verwirrt: »Lass mich! Lass mich zu ihm!« Sie lief dem Glühwürmchen nach, das rasch davonflog.
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Fata Titanias Turm LUNED LIEF WEITER, immer weiter und versuchte nicht mehr an ihre Füße zu denken, die nun sogar noch mehr schmerzten als ihre Hände. Den funkelnden Körper des Glühwürmchens, das wie ein winziger Leuchtturm für sie war, ließ sie nicht aus den Augen. Der Pfad führte bergab, wurde breiter und mündete in ein großes sandiges Terrain. Das Mondlicht – in diesem Wald waren die Tage nicht sehr lang – brach sich auf einer ausgedehnten Wasseroberfläche. Die war größer als Tristifers See und auch größer als alles, was Luned bisher gesehen hatte. Sie glaubte am Meer angelangt zu sein und lief ans Ufer, um das salzige Wasser zu kosten. Aber dies war nicht das Meer, das Wasser war nicht salzig. Es schmeckte nach Kupfer und bitterem Salbei. In der Ferne war eine Insel zu sehen. Und auf der Insel ein großer Berg, höher als mehrere übereinander gestellte Stadtmauern. Nein, das war kein Berg, sondern ein Turm. Luned, die bereits beim Anblick von Corberic gezittert hatte, spürte, wie eine schwarze Welle des Entsetzens ihr Herz erfüllte und die Angst sich ihr in den Nacken krallte, als sie diesen Turm entdeckte. Sie kam sich sehr klein vor bei seinem Anblick. Der Fuß des Turms erstreckte sich bis zum Ufer der Insel. Wie auf Kommando flammten plötzlich aber dutzende von grünen Lichtern auf, Fackeln, Kienspäne und grüne Lampen, die das monströse Bauwerk von oben bis unten erhellten. Die Furcht erregenden Wasserspeier, die Fest- und Tanzszenen von Elfen und Feen und die in den schwarzen Stein gehauenen Reliefs mit Hirschen, Steineichen, Blättern und Früchten zitterten im Schein der Fackeln. 167
Die Lichter spiegelten sich auch im dunklen Wasser wider. Es gab eine Mole und am Fuß des Turms schaukelten mehrere Schiffe sanft auf dem bitteren Wasser mit dem Salbeigeschmack. Das Glühwürmchen schwirrte um Luneds Kopf herum. Da entdeckte Luned ein Wesen, das aussah wie eine scheußliche Kreuzung zwischen einem Fisch und einem Insekt. Ein Bein schien abgerissen zu sein, denn es stützte sich auf eine Holzkrücke. (Luned, die nach ihrer Abreise aus Corberic solche Anblicke für immer hinter sich gelassen zu haben glaubte, stellte fest, dass sie eine ähnliche Krücke bereits bei dem Jungen mit den Vogelbeinen gesehen hatte, der in der Nähe des Marktes gebettelt hatte.) Das Tier schleppte sich an ihr vorbei und stürzte sich ins Wasser. Dann sah sie eine Echse mit stacheligen Schuppen auf dem Rücken, runden gelben Augen, weißer Schallblase sowie einer Kapuze aus brauner Wolle. Sie war riesig, etwa so groß wie ein im Sand ausgestreckter Mensch, und stieß gellende Pfiffe aus. Neben ihr wankte ein großer Korb aus geflochtenen Binsen, aus dem lediglich unten zwei riesige Füße mit Schwimmhäuten herausragten, auf das Wasser zu. Die Echse folgte dem Fisch-Insekt und stürzte sich ebenfalls in den See, gefolgt von dem Wesen, das sich unter dem Korb versteckte und dessen Füße ein Geräusch wie Saugnäpfe machten, wenn sie sich vom Sand lösten. Hoch oben begannen nun Glocken zu läuten und gleichzeitig mit ihrem fröhlichen, melodiösen Geläute setzte ein lautes, glückliches Stimmengewirr ein. Selbst an dem fernen Strand war die Musik von Harfen, Zithern, Lauten und Schellen zu hören, die nicht recht zum klobigen, Furcht einflößenden Erscheinungsbild des Turms passte. 168
Das Glühwürmchen hatte sich auf Luneds linkem Handrücken niedergelassen und schien zu warten. Das Mädchen sah, wie sich ein kleines Schiff von der Mole löste und auf sie zusteuerte. Ohne Segel und ohne das Klatschen von Ruderschlägen näherte es sich dem Seeufer. Als es nur noch wenige Meter von ihr entfernt war, bemerkte Luned, dass die Galionsfigur am Bug eine menschliche Gestalt war, die anstelle von Armen Flügel hatte. Sie bewegte die Flügel ganz langsam und brachte so das Schiff auf den winzigen Wellen des Sees voran. Als das Schiff das Ufer erreichte, überbrückten unsichtbare Hände den Hohlraum zwischen Schiffsrumpf und Strand mit einer Holzplanke. An Deck tauchte die schmale Gestalt eines Mannes auf. Luned zitterte vor Angst. Die in einen Umhang mit Kapuze gehüllte Gestalt schritt langsam über die Planke und kam auf sie zu. Luned flehte die Götter ihres Dorfes an, sie zu beschützen. Eine schmale Hand voller Altersflecken und Falten packte sie am Handgelenk und das Glühwürmchen flog auf, blieb jedoch in ihrer Nähe. Der Mann streifte die Kapuze ab, sodass sein blutleeres Gesicht zum Vorschein kam. Er war steinalt und sein spärliches weißes Haar war oben auf dem Schädel zusammengebunden. Sein ellenlanger Bart war nach altem cobericschen Brauch zu zwei Zöpfen geflochten. Seine tief liegenden Augen verschwanden beinahe in den dunklen Höhlen. Der Mann stand reglos da, aber seine Hand, die an ein welkes Blatt erinnerte, hielt nach wie vor ihr Handgelenk gepackt. Luned bekam noch mehr Angst. Sie warf einen Blick in Richtung Turm, ohne auf das Läuten der Glocken zu achten, und verstand nun ganz genau, weshalb Tristifer und Cai sie aufzuhalten versucht hatten. Luned hatte sich nicht darum gekümmert, dass diese Welt nicht den Ge169
setzen der Menschen unterworfen war. Doch nun, an diesem Strand, vielleicht kurz vor dem Aufbruch in gefährliche Gewässer, wurde ihr etwas klar: Eine Sache war, sich zum Untertan eines anderen Herrschers in einem anderen Königreich zu machen, wie Cai, der das Volk gewechselt und alte Verbindlichkeiten abgestreift hatte, doch es war etwas ganz anderes, seine Seele zu verlieren. Cai hatte noch seinen freien Willen, seine Herzensgüte und seinen Beruf. Luned hingegen wusste bereits nicht mehr, was ihr eigentlich noch blieb. Dennoch fühlte sie sich zum Turm hingezogen. Allein in ihrem von hundert grünen Lichtern erleuchteten Gemach im Turm beugte sich Fata Titania über einen großen Tisch aus Silber. Aufmerksam betrachtete sie die glatte Wasseroberfläche in einer bis zum Rand gefüllten, rot bemalten Tonschale. Die Königin hielt die Luft an und knabberte an ihrer Unterlippe. Mit abwesender Geste strich sie sich eine schwarze, seidige Haarsträhne aus der Stirn, auf das Bild konzentriert, das sie beschworen hatte. Im Wasser zeichnete sich das ernste, leidenschaftliche Gesicht des Menschenmädchens ab. Es sah in Richtung Turm und die Fata spürte, dass der Blick ihr galt. Die Augen der Menschen! Was verlieh ihren Blicken nur diese Tiefe und Lebendigkeit? Die Tatsache, dass sie nur kurz lebten und wussten, dass der Tod sie erwartete, lange bevor sie ihn begreifen konnten? Das Kinn auf die Hände gestützt, versank die Fata in Luneds Anblick. Es war schon öfter vorgekommen, dass ein Mensch sich in einen Elf oder eine Fee verliebt hatte, aber noch nie hatte ein fünfzehnjähriges Mädchen einen jahrhundertealten Zauber gelöst. Das ganze Königreich sprach von ihr und davon, wie die Steineichen sie aufge170
nommen hatten. Genau wie die Natur hatte auch sie selbst sie wieder erkannt. ›Hoffentlich bleibt sie bei uns‹, dachte die Fata. Sie wusste, dass Luned sie aufsuchen würde. Aber sie wusste nicht, ob sie ihre Seele freiwillig hergeben würde. Ihr gequälter Blick verriet sie. Sie war unentschlossen. Und sie, Fata, die Herrscherin, konnte nur tatenlos zusehen. Sie lebte seit tausend Jahren und wusste sehr wohl, worum es ging. Unten begann das Fest. Wie jede Nacht. Die Fata blies in das Wasser der Schale und Luneds Gesicht mit dem kurzen, zerzausten Haar und den trockenen, brennenden Augen verschwand. Mit einem Seufzer der Verärgerung bereitete sich die Königin der Kobolde darauf vor, die Huldigung ihrer Untertanen entgegenzunehmen. Der Alte zog seine Hand zurück und ging wieder zum Schiff. Luned folgte ihm, das Glühwürmchen auf ihrer Schulter. Sie passierte nach ihm die polierte Planke und sah zu, wie er sie anschließend ins Schiff hievte. Dann stieg er eine kleine Treppe hinauf und murmelte der Galionsfigur am Bug etwas ins Ohr. Trotz des Plätscherns des Wassers glaubte Luned zu verstehen, was der Alte gesagt hatte: dass sie, Luned, ein Mensch sei. »Was haben Sie gesagt?«, fragte sie ihn. Ihr Ton war ungewöhnlich ruppig, aber sie war verängstigt und erschöpft. Der Alte wandte sich ohne irgendein Anzeichen von Furcht zu ihr um. »Ich habe ihr gesagt, dass du ein Mensch bist. Wir wurden losgeschickt, um jemanden am Strand abzuholen, 171
aber wir wussten nicht, ob Fee, Kobold oder Elf. Am Hof gibt es nicht viele Menschen. Nur sie und mich.« Der Alte deutete auf die Galionsfigur. »Was? Sie ist ein Mensch?«, fragte Luned ungläubig. »Sie war eine Königin, meine Kleine. Eines Morgens ist sie mit ihrem Gefolge zur Jagd aufgebrochen, hat einen Elf gesehen und sich in ihn verliebt. Sie hat den Ring aus Blumen betreten, eines der Tore zu diesem Königreich. Nach ein paar Jahren hat der Elf festgestellt, dass sie wie alle Menschen altert, wenn auch langsamer. Er war verliebt in ihre Schönheit, also hat er sie in eine Statue verwandelt. Als er sie leid war, hat er aus ihren Armen Flügel gemacht und sie ans Schiff gekettet. Sie wird nie fliehen können. Ich auch nicht. Jetzt bin ich Fata Titanias Fährmann. Als ich jung war, habe ich sie gesehen und mich in sie verliebt. Sie stand in ihrer ganzen Pracht auf einem Stein, mitten in einem Strauch mit roten Johannisbeeren. Obwohl ich bei den Menschen ein Magier war und wusste, dass ich meine Seele verlieren würde, bin ich ihr gefolgt. Ich habe vergessen, wie alt ich bin, aber inzwischen mag ich nicht mehr. Wenn du ihnen deine Seele gibst, nehmen sie dich auf. Sie nehmen überhaupt alles, was du ihnen gibst, aber was sie dann mit dir machen, ist einzig und allein ihre Sache.« Der Alte flüsterte der Galionsfigur einen Befehl ins Ohr und die langen, farbig angemalten Flügel setzten sich in Bewegung. Das Schiff glitt sanft auf dem Wasser dahin. Luned stieg ebenfalls die paar Stufen hinauf und näherte sich der Galionsfigur. Sie beugte sich vor, um sie besser zu sehen. Die Augen der Statue blinzelten und eine Träne rollte über die hölzerne Wange. Aus Fleisch und Blut wäre dieses erhabene Gesicht vielleicht sanft 172
und ausdrucksvoll gewesen, aber so, in Holz gehauen, wirkte es streng. Es hätte von den geschickten Händen ihres Vaters geschnitzt sein können. Ach, ihr Vater und seine schmalen, harten Hände. Luned hatte das Bedürfnis, ihn wieder zu sehen, ihn zu umarmen und auch ihre Mutter und ihren Bruder an sich zu drücken. Luned streckte die Finger nach dem Kopf der Galionsfigur aus und berührte ihr Haar. Es fühlte sich ähnlich wie die Steineichen an, warm wie ein menschlicher Körper. Über der Stirn der Statue schwebten ein paar Locken, für immer im Flug festgehalten und in eine komplizierte, starre Filigranarbeit verwandelt. Die Kette um ihren Hals hatte einmal aus Gold und Rubinen bestanden. Nun hingen dort blinde, rot und gelb angemalte Kugeln aus Holz. Die Falten ihres Umhangs gingen nahtlos in die Rundung des Bugs über. Nur der Glanz ihrer Pupillen und die bebende Haut ihrer Lider ließen sie für einen Augenblick menschlich erscheinen. An ihren Schulterblättern waren riesige Scharniere befestigt, die quietschten, wenn sie die Flügel bewegte. »Kannst du fühlen?«, murmelte Luned. Der Alte schüttelte den Kopf und erwiderte: »Nein, sie kann nicht fühlen. Sie kann nur sehen. Und hören. Ihr Herz lässt sich rühren, ihr Körper nicht.« »Schließ die Augen …«, bat Luned die Frau aus Holz. Diese tat, wie ihr geheißen, und Luned streichelte mit vor Kälte steifen Fingern über die lebendigen, in dem reglosen Gesicht eingeschlossenen Lider. Dabei raunte sie ihr zärtliche Worte ins Ohr. Schließlich konnte Luned die Versuchung nachempfinden, der die Königin erlegen war. Für einen Elf hatte sie ihr Königreich, ihr Leben und ihre Seele aufgegeben. 173
Über das wunderschöne Gesicht der Galionsfigur rollten nach wie vor Tränen. Luned fing sie mit den Fingerkuppen auf. »Du wirst für immer schön sein, du Mutige. Ich werde deine Geschichte in einem Lied verewigen und alle werden weinen, wenn sie es hören. Ich werde von deinen goldenen Locken erzählen, die nie grau sein werden, und wie sehr du dem Schwan gleichst, der über den See gleitet. Und ich werde dich nie vergessen …«, sagte sie heiser. Der aufrechte, schweigsame alte Fährmann sah mit glänzenden Augen zur Silhouette des Turms, während Luned mit der Statue sprach. Das Schiff glitt direkt auf die Mole zu. Mit einer Gewandtheit, die sein Alter Lügen zu strafen schien, warf der Fährmann die Planke auf die Mole. Luned verabschiedete sich von der Galionsfigur und wollte das Schiff verlassen. Sie hatte bereits einen Fuß auf die Planke gesetzt, da spürte sie die Hände des Alten auf ihren Schultern. Als sie sich umdrehte, sagte er leise zu ihr: »Nimm nichts zu dir. Nicht das Geringste. Auch wenn du großen Hunger oder Durst hast. Dann muss die Königin dir morgen deine Freiheit zurückgeben. So lautet das Gesetz.« Luned lächelte und dachte daran, dass sie vor ihrer Begegnung mit Tristifer geglaubt hatte, in dieser Welt gebe es keine Gesetze. Doch auch hier gab es viele Regeln und manche waren den Menschen unverständlich. Dabei waren sie einfach nur anders. »Ich werde nicht vergessen, dass du ein Herz für sie gehabt hast«, fügte der Fährmann hinzu und deutete auf die Galionsfigur. »Du hast meinen Segen«, sagte er zum 174
Schluss und küsste ihre Handflächen. Luned umarmte ihn und sprang rasch auf die Mole. Sie ging schnell davon, die Augen auf den Turm geheftet und voller Angst, ein Ungeheuer wie jene, die sie am anderen Ufer gesehen hatte, könne ihr zu nahe kommen und ihr Schaden zufügen wollen. Um sie herum schwirrten viele Stimmen, in die sich metallisches Brummen und Säuseln aus seltsamen Kehlen mischte. In der lärmenden Menge, die sich auf den Stufen zum Turmeingang tummelte, erkannte Luned verschiedene Wesen: Feen, deren Schönheit so ganz anders war als die der Menschen, so leuchtend und vollkommen, dass man sie auch in der Dunkelheit bewundern konnte, ihre Kleider aus Seide und Spinnweben, ihre samtweichen Wangen, ihre Katzenaugen, in denen die Grausamkeit des Luchses aufblitzte. Da waren außerdem Gnome, die winzigen, in Rot gekleideten alten Menschen glichen, schöne Elfen, die Kronen aus Blättern und Zweigen trugen, kräftige Zwerge mit langem Bart und krummen Beinen sowie ein unbekleidetes, behaartes Wesen, das aufrecht ging wie ein Mensch, aber anstatt eines Mundes eine schmale Wolfsschnauze hatte. Luned ging entschlossen auf den Turm zu, verängstigt (ihre Knie zitterten), aber überzeugt, ihr Schicksal werde sich in dessen hohen Mauern entscheiden und es sei eine Sache zwischen Erle und ihr. Die anderen Gefahren zählten nicht, zumindest nicht in dieser Nacht. Sie musste tausend Mal Anlauf nehmen, bevor sie über die Schwelle trat. Nicht weil von der Menge der Wesen, die sich am Eingang zusammendrängten, eine Bedrohung ausging, sondern weil Entsetzen sie überfallen hatte bei der Vorstellung, sich diesem Labyrinth auszuliefern. Sie keuchte und ihre Stirn und ihr Rücken waren schweißnass. 175
Lange Minuten stand sie reglos da, während die festliche Gesellschaft mit großem Hallo an ihr vorüberströmte. Schließlich streifte sie sich die Kapuze ihres Mantels über und versuchte ihr Gesicht zu verbergen. Schreie, Flüche, schallendes Gelächter, Geheul. Es war wie in Corberic, nur noch viel schlimmer, denn sie hörte auch Knurren und andere Geräusche, die keiner erkennbaren menschlichen oder tierischen Kehle zuzuordnen waren. Allmählich verspürte sie das ihr bereits vertraute Gefühl von Leichtigkeit, das mit der Panik einherging, entschloss sich aber, den Turm trotzdem zu betreten. Das Glühwürmchen, das ahnte, dass seine Herrin nun bereit war, löste sich von ihrer Schulter und sauste vor ihr her. Luned heftete den Blick auf den kleinen, leuchtenden Körper des Tierchens. Sie würde ihn nicht aus den Augen lassen, bis sie Erle fanden. Dann würde sie nur noch Augen für ihn haben. Im letzten Augenblick hielt sie inne und trat einen Schritt zurück. Der Turm war hell erleuchtet. Das grüne Feuer brannte an Kienspänen, Lagerfeuern, Herden und Funken sprühenden Teerfackeln. Irrlichter flackerten dicht über dem Boden zwischen den Beinen der Tänzer und einiger Streithammel. Es ertönte pausenlos Musik. Luned sah die Musiker nicht, hörte jedoch deutlich eine Blockflöte, eine Zimbel und eine Laute heraus und widerstand mit all ihren Kräften der Versuchung, sich auf die Suche nach ihnen zu machen, einfach nur zuzuhören und im Bann dieser fröhlichen Musik alles andere zu vergessen. Eine Schar junger Elfen tanzte hingebungsvoll unter einem Feigenbaum. Auf einmal kam es Luned so vor, als gerieten sie in Streit. Ein Elf mit schwarzen Locken zog ein dickes Seil aus der Tasche und warf es einem zweiten 176
zu, der es mit ausgestreckten Händen auffing. Von mehreren Händepaaren festgehalten, knurrte und protestierte ein grau gekleideter Elf. Der mit den schwarzen Locken zurrte ein Ende des Seils unter dem Adamsapfel des Gefangenen fest, der leichenblass weiterhin Widerstand leistete. Der zweite Elf warf das andere Ende des Seils über den untersten Ast des Feigenbaums und zog kräftig. Andere kamen ihm zu Hilfe, bis der Elf mit dem Hals in der Schlinge mehrere Ellen über dem Boden baumelte. Luned schrie um Hilfe, aber ihre Stimme ging in dem Trubel unter. Bestürzt lief sie auf den Gehenkten zu, dessen Füße krampfhaft zuckten. Doch seine weit aufgerissenen Augen, seine geschwollene Zunge, die auf das Kinn herabhing, und seine nach innen gedrehten Hände brachten sie auf den Gedanken, dass jede Hilfe vielleicht schon zu spät kam. ›Das ist mein Albtraum, der Wolfsbaum‹, dachte sie und stürzte auf die Elfen zu, die teils herumtollten, teils an dem Seil zogen. Doch bevor sie etwas sagen konnte, ließ das Gelächter der Elfen sie innehalten. Der »Gehenkte« fiel zu Boden und rappelte sich flink wie ein Eichhörnchen auf. Sogleich gesellte er sich zu den anderen und tanzte weiter. Sein Gesicht war immer noch blau angelaufen von der Erdrosselungsszene, doch er hüpfte bereits wieder ausgelassen herum, umringt von den anderen, die fröhlich in die Hände klatschten. Wütend drehte Luned sich um, stieg die Treppe hinauf und betrat den Salon. Die Tische bogen sich unter der Last des elfischen Festschmauses: lange Rippchen, von denen heißes, duftendes Öl troff, Brotlaibe wie Wagenräder, mit einer goldenen Kruste überzogene Wildschweine in Safran und Honig, 177
gebratene, mit Federn aus Marzipan verzierte Schwäne sowie etwas, das sie in Corberic schon einmal gesehen hatte, nämlich einen Cockentrice, ein Tier, das auf dem Küchentisch mit Messer und Nähnadel entstanden war: vorne ein Kapaun und hinten ein Spanferkel. Viele aßen bereits. Die Lippen einer Fee glänzten vom Rotwein. Ein Zwerg ließ sich in Fett gestipptes Brot schmecken. Luned spürte, dass der Hunger stärker war als sie. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie versuchte den Blick vom Essen loszureißen, aber vergeblich. Ihr Magen knurrte und sie jammerte leise. Nur einen Bissen. Eine Scheibe Brot. Ein Schluck Bier. Ein wenig Suppe oder Fleisch. ›Nein, ich darf nichts essen‹, sagte sie sich. ›Wenn ich Erle sähe, wenn ich wüsste, wo er ist, dann würde ich etwas essen, bloß um sicherzugehen, dass ich hier bleibe. Um ewig zu leben und ihn zu überreden, mich zu lieben.‹ Sie ging auf den Tisch zu, als werde ihr Körper vom Magen gesteuert. Aber das Glühwürmchen flog weiter. Auf einmal kam hinter einer Säule eine lange, blasse Hand hervor und packte sie am Arm. Erle. Im Schein des grünen Feuers war sein schmales Gesicht noch schöner, als Luned es in Erinnerung hatte. Sie vergaß den Hunger, die Müdigkeit und ihr unterbrochenes Selbstgespräch. Wie zuvor im Wald gab es nur noch ihn. Erle lächelte und kniff seine meergrünen Augen zusammen. Seine Zähne blinkten. Das Haar fiel ihm nach wie vor auf die Schultern. »Sag mal, Luned, ist es wahr, dass du mit dem Herrn vom See befreundet bist?«, fragte er mit ernster, tiefer Stimme. 178
Luned war verblüfft. Als sie endlich begriff, worauf er anspielte, lächelte Erle nicht mehr und musterte sie aufmerksam. Ein harter Zug ließ seine Lippen schmal werden. Finster dreinblickend wartete er auf ihre Antwort. »Ja, wir sind befreundet«, erwiderte sie. »Erle, ich bin gekommen, um dir zu sagen …« Der Elf hob die Hand und unterbrach sie: »Er hat mir nie erlaubt, seine Pferde zu reiten. Seine Pferde sind sehr schön. Hat er sie dir nicht gezeigt?«, fragte er heiser. »Nein! Weißt du, wie schwierig es war, dich zu finden? Ich will bei dir bleiben!«, rief Luned aus. Zitternd schlang sie ihm die Arme um den Hals. Der Elf lachte und drückte sie ohne Zärtlichkeit an sich. Dann packte er sie an den Handgelenken und grub ihr seine eisigen Fingernägel ins Fleisch. »Du hättest mir erzählen sollen, dass du den Zauber lösen würdest. Dann hätte er mir ein Pferd schenken müssen. Dummes Ding!«, zischte er ihr ins Ohr. Luned verspürte eine entsetzliche Kälte, die ihre Haut gefrieren ließ. Ihre Handgelenke schmerzten. Zornig verzog Erle das Gesicht und fletschte die Zähne. »So sind die Menschen. Dumm. Das hatte ich schon gehört.« Schluchzend riss Luned sich los und stürzte zu Boden. Der Elf begann leise zu lachen. Dann wandte er sich von ihr ab und ging zwischen den Tanzenden umher. Luned versuchte sich aufzurappeln, stürzte jedoch erneut auf die Knie. »Erle, ich habe das ganze Königreich nach dir abgesucht … Hör mir zu.« Ihre Stimme ging in dem Lärm unter. 179
Ein großer, korpulenter Mann mit dunklen, schulterlangen Locken und purpurrotem Samtanzug kam auf sie zu. Luned sah sein dunkles Gesicht, den gestutzten, glänzenden Bart, den feinen Schnurrbart, die breite und ein wenig platte Nase, die hohen Wangenknochen und die weit auseinander stehenden, glühenden Augen, die tief in den ausgeprägten Höhlen lagen. Er hatte etwas von einem Löwen; mehr von einem Löwen als von einem Menschen. Ein mit Opalen besetzter Goldreif schmückte das Gelenk der Hand, die er ihr in einer beflissenen Geste entgegenstreckte. Luned ergriff sie. Die in einem Wildlederhandschuh steckenden Finger waren warm. Der Unbekannte machte eine tiefe Verbeugung und sagte heiser: »Hier haben wir die Retterin des Herrn vom See. Willkommen zum Fest. Ich habe dich erwartet und schon gesucht. Möchtest du tanzen?« Luned zögerte. Tanzen? Sie sah, wie Erle zwischen den Tanzenden verschwand, während ihr Gegenüber nun plötzlich in einer fremden Sprache auf sie einredete, unverständlich und sanft wie ein tiefes Schnurren. Von der Musik betäubt, merkte sie überrascht, wie der Unbekannte ihr eine Hand um die Taille legte und mit der anderen ihr Kinn hob, um ihr in die Augen zu sehen. Sie erschrak. Er drückte sie an seine Brust, als kenne er sie schon lange, streichelte ihr übers Haar und versengte ihr mit seinem heißen Atem den Hals. Ein dumpfes Knurren brachte seine Brust zum Beben. Luned versuchte ihn wegzustoßen und bot ihre ganze Kraft auf, aber der Unbekannte war korpulent. Seine Augen waren von demselben Bernsteingold wie sein Armreif und schimmerten genauso rot wie die darin eingearbeiteten Opale. Luned bemerkte, dass sein ganzer Körper mit ei180
ner feinen, schwarzen Behaarung überzogen war, die an das Fell eines Katzentiers erinnerte, und dass sein Haar und sein Bart wie Rosshaar waren, rauer und dicker als Menschenhaar. Seine Nasenspitze war ein zartes Dreieck mit runzliger Haut. Seine Lippen unter dem Schnurrbart waren nicht blau, sondern violett. Der Mann wiegte sie im Rhythmus der wunderschönen Musik. ›Bestimmt hat er Klauen und einen langen Schwanz, der in seiner Strumpfhose versteckt ist. Er ist wie Erle, kein Mensch, sondern Mensch und zugleich Tier.‹ »Was willst du?«, fragte Luned mit bebender Stimme. Der Atem des Mannes war überraschend angenehm. Er roch nach Milch. »Dass du meine Königin wirst und mir die Lieder beibringst. Dafür lehre ich dich die Sprache der Zibetkatze, der Wildkatze und des Löwen«, schnurrte er. »Ich will dich beschützen, damit du Erle vergisst. Er weiß nicht, wer du bist, und erahnt nicht einmal die Bedeutung dessen, was du getan hast. Nimm mich mit in deine Welt, zu den Menschen. Hör mal, stimmt es, dass es dort jede Menge Jungfrauen mit reiner Seele gibt? Dass dort alle warmes Blut haben? Rotes Blut?« Er kam mit seiner samtigen, seidenweichen Wange näher und rieb sich zärtlich wie eine Katze an ihr. »Nimm mich mit in deine Welt voll träge schlafender Frauen. Schau dir deine klauenlosen Hände an! Nimm mich mit, zeig mir die Frauen und Männer mit rotem Blut!« Luned schämte sich. Dass Erle sie verachtete, hatte sich offenbar bereits herumgesprochen. Ihr Stolz brachte sie dazu, den Löwenmann dankbar anzusehen. Aber sie musste an den Fährmann und an die in eine Galionsfigur verwandelte Königin denken. Und sie fragte sich, wozu 181
der Löwenmann ihre Welt kennen lernen wollte. Da bekam sie Angst. Es gab grausame Götter, das wusste sie, und vermutlich kamen sie von hier. Sie legte den Kopf zur Seite und fragte mit gespieltem Selbstbewusstsein: »Wozu willst du das denn wissen? Ist dir nicht klar, dass du mich nicht zu einer Antwort zwingen kannst? Dass ich eine Menschentochter bin und nur sehr wenige Gesetze dieser Welt für mich gelten?« Der Mann – in Wirklichkeit hatte kein Mann der Welt so feurig geäderte Augen wie er – lächelte und ließ sie los. Er verbeugte sich tief und miaute spöttisch: »Ich wollte dich durchaus nicht zwingen, Menschentochter.« Er richtete sich wieder auf, sah sie mit in den Nacken gelegtem Kopf an und ging mit katzenhafter Anmut in die Hocke. Mit einem einzigen Satz sprang er auf das Kapitell einer Säule mehrere Ellen über Luneds Kopf und kauerte sich an deren Rand. Sein langer Schwanz mit einem dunklen Haarbüschel am Ende baumelte unter ihm hin und her. Er brüllte leise und zeigte ihr in einem ironischen Lächeln die Zähne. Luned betrachtete ihn, fand ihn schön und Furcht einflößend. Sie verneigte sich vor ihm. Der Löwenmann verschwand. Luned seufzte und setzte die Suche nach ihrem Elf fort. Sie stolperte buchstäblich über eine kleine, schmächtige Person: eine schöne, alte Dame. Diese trug ihr schlohweißes Haar zu einem Zopf geflochten, der wie eine Krone um ihren Kopf gelegt war, und darüber eine Spitzenhaube, die einen Teil ihres Kopfes bedeckte. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, vom langen Hals bis zu den Füßen. Luned musterte sie verblüfft, denn sie glich ihrer Großmutter. 182
»Verzeihen Sie, verzeihen Sie bitte«, sagte Luned und fasste sie am Ellbogen. »Bist du das Mädchen, das im Steineichenwald geschlafen hat?«, fragte die alte Dame mit hochgezogenen Brauen. »Was machst du hier?« »Ich bin auf der Suche nach einem Elf namens Erle«, antwortete Luned, ohne ihren Arm loszulassen. Am liebsten hätte sie sie umarmt. »Wie heißt du?«, fragte die alte Dame und legte ihre schmale Hand, die ganz knochig und mit blauen Adern überzogen war, auf Luneds Hand. Luned beugte sich vor, um die sanfte, brüchige Stimme der alten Dame besser zu hören. Die Untertanen der Fata umringten sie, rempelten sie an und übertönten ihre Stimmen mit schallendem Gelächter und Gesang. »Luned. Und Sie?« »Ich heiße Eri. Und sag mal, hast du hier etwas gegessen?«, fragte die alte Dame weiter und rückte nahe an Luneds Gesicht heran. Sie war erheblich kleiner als das Mädchen und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihr in die Augen zu sehen. »Nein, ich habe hier noch nichts gegessen«, antwortete Luned, erschrocken über das Verhör. Welchen Prüfungen würde diese Erscheinung sie unterziehen, die sie zudem noch an ihre Großmutter erinnerte? Was war, wenn sie sie zwang, etwas Scheußliches zu kosten? »Dann bleib dabei, Kindchen, iss nichts. Ich versichere dir, du wirst es nicht bereuen, wenn du meinem Rat folgst. Geh fort, kehr in deine Welt zurück. Versteck dich, flieh.« Mit verschwörerischer Miene bedeutete sie Luned, dass sie ihr etwas ins Ohr flüstern wolle. Luned beugte sich noch tiefer zu ihr hinunter und die alte Dame flüsterte: 183
»Diese Welt will dich für sich haben, Kindchen, aber hier würde deine Wärme erlöschen. Kehr in deine Welt zurück und vergiss den Elf. Wie gut, dass du nicht auf das eingegangen bist, was der da« – sie deutete in die Richtung, in der der Löwenmann verschwunden war – »von dir wollte, der hat nämlich immer Hunger.« »Hunger?« »Ja. Hunger. Oder hast du je eine Raubkatze kennen gelernt, die nicht aufs Jagen aus gewesen wäre?« Luned spürte die feinen, trockenen Lippen der alten Dame auf ihrer Wange und hörte das Schmatzen eines Kusses. Als sie sich aufrichtete, war Eri nicht mehr da. Luned spürte, wie ihre Einsamkeit und Verwirrung zunahmen. Mit bekümmerter Miene wandte sie sich wieder dem Fest zu. Sie entdeckte ihn von weitem inmitten eines Dutzends ausgelassen tanzender Elfen und Feen: das lange, wehende Haar, das zarte, blutleere Gesicht. Er hatte einen Arm in die Seite gestemmt und den anderen in die Höhe gestreckt. Sie ging auf ihn zu und fasste ihn genau in dem Augenblick am Ellbogen, als die Musik aussetzte und der Tanz zu Ende war. Erle keuchte ein wenig und über seine Schläfe rann ein Tropfen dickes, goldenes Harz. ›Selbst beim Schwitzen erinnert er an einen Baum‹, dachte Luned. Ihr war nach Weinen zu Mute, denn sie begriff, dass Erle sie nicht liebte, sie ihn hingegen bei jeder Begegnung noch mehr begehrte. Sie fasste also den Elf am Ellbogen und fragte: »Erle, hörst du mich? Ich will dir so viel sagen und erzählen … Jetzt, wo ich dich gefunden habe, können wir Tristifer gemeinsam um ein Pferd bitten …« 184
Erle drehte sich zu ihr um. »Du gehst mir auf die Nerven. Außerdem gefällst du mir nicht mit deinen kurzen Stoppeln. Ich mag langes Haar. So wie ihres«, erwiderte er und legte einer Fee, die in diesem Moment vorbeikam, den Arm um die Taille. Die in purpurrote Seide gekleidete Fee lachte kurz und sah Luned dann mit einem unnatürlichen Lächeln an, das auf das hochmütige Gesicht gemalt war. Die beiden wirkten wie Geschwister. Die Fee hatte die gleichen grünen Augen und die gleiche eindrucksvolle Statur wie Erle. Ihr Haar war zu einem dicken weißen Zopf geflochten, der über ihren langen Rücken bis auf die Hüfte reichte. Die Fee warf Luned einen taxierenden Blick zu und umarmte den Elf. Sie verbarg das Gesicht an Erles Hals, aber Luned konnte deutlich sehen, dass sie grinste. Mit der Fee im Arm sah Erle Luned spöttisch an. Luned wollte ihn beleidigen, aber sie war so erbost, dass es ihr die Sprache verschlug. ›Cai hat mich gewarnt‹, erinnerte sie sich. Wütend auf Erle und sich selbst biss sie die Zähne zusammen. Für dieses nichtswürdige, egoistische Wesen hatte sie ihr Haar geopfert – aber das bereute sie nicht, denn sie hatte Tristifer von seinem Zauber erlöst – und ihre Welt und Demne verlassen. Wegen ihm hatte sie sich vor kurzem sogar mit Cai gestritten. Ein Mann mit griesgrämigem Gesicht und eingesunkenen Wangen trat zwischen sie. Erle wich mit einem sarkastischen Lächeln zurück und hielt ihm die Hand zur Begrüßung hin. Der Mann trug eine blassrote Filzmütze, unter der fettige, mit grauen Haaren durchzogene Locken hervorquollen. Sein braunes Wams reichte ihm bis an die Knöchel. Er ging barfuß und seine Fersen waren so 185
schmutzig und voller Hornhaut, dass sie aussahen wie die Klauen eines Wildschweins. Erle zog sich langsam hinter den Mann zurück und winkte Luned mit einer Hand zum Abschied zu. Die andere Hand lag auf der runden Schulter der Fee. Der Unbekannte machte einen Schritt auf Luned zu und kniff die kleinen, entzündeten Augen zusammen, als erkenne er das Mädchen wieder. Unter der Hakennase verzogen sich seine schwarzblauen, mit getrocknetem Speichel verkrusteten Lippen zu einem Lächeln, wobei gelbe, zerfressene Zähne zum Vorschein kamen. »Stimmt es, dass du aus der Welt der Menschen stammst?«, fragte er mit zischender Stimme und besabberte sich dabei mit Speichel, der dicht wie Schaum war. »Ja. Ich muss gehen. Entschuldigen Sie bitte«, erwiderte Luned und wollte gerade ihren Weg fortsetzen (Erle mischte sich bereits unter die Tanzenden), da entdeckte sie das Messer in der Hand des Mannes. Er war eine Rotkappe. Rotkappen färben ihre Mützen mit Menschenblut. Luned war gelähmt vor Schmerz: Ihr Liebster hatte sie verraten, hatte sie in der Gefahr im Stich gelassen. Mit einem Lächeln hatte Erle sie diesem Ungeheuer ans Messer geliefert. Es war, als habe der Elf ihr dieses Messer soeben in den Rücken gestoßen. Plötzlich tauchte das Glühwürmchen in Begleitung eines Schwarms dicker Bienen mit schwarzgelbem Rücken auf, die alle laut summten. Die Insekten schwirrten um den Kopf der Rotkappe herum, woraufhin dieser verärgert mit den Armen ruderte. Die Bienen waren riesig. Sie setzten sich auf das Messer, auf die Finger der Rotkappe, auf seine Wangen. Luned wich einen Schritt zurück. Die Rotkappe fuchtelte mit dem Messer in der einen Hand herum. Eine Biene setzte sich zwischen seine struppigen 186
Augenbrauen. Ihr Unterleib zitterte, dann rammte sie ihm ihren Stachel ins Fleisch. Mit einem Ausruf des Schmerzes zermalmte die Rotkappe sie mit dem Rücken der anderen Hand. Das Messer schlitzte Luneds Mantel auf und blieb an einer Stickerei hängen. Mit einem Aufschrei wich Luned zurück. Ihr Arm brannte. Das Messer fiel mit einem klappernden Geräusch auf den Boden. Die Rotkappe packte Luned am Mantel und zog sie dicht an sein grausames Gesicht mit dem ausgeprägten Unterkiefer heran. Sein aufgebrachter, verzerrter Gesichtsausdruck brachte seine zerfressenen, fleckigen Zähne zum Vorschein. Luned sah eine Spur blutigen Auswurfs auf der Wange des Ungeheuers und die platt gedrückte Biene auf seiner Stirn. Sein nach Verwesung stinkender Atem war unerträglich. Die Bienen stachen weiter erbarmungslos auf ihn ein. Die Rotkappe fluchte. Luned, die sich wie ein gefangenes Tier wand, wurde von Angst und Ekel geschüttelt. Sie spürte, wie ihre Füße den Kontakt mit dem Boden verloren; sie war wie eine Vogelscheuche in der Hand des Ungeheuers. Die Bienen schwirrten ihr um die Ohren und streiften sie, ohne sie jedoch zu stechen oder sich auf ihr niederzulassen. Da zog Luned die Arme aus den Ärmeln des Mantels und glitt heraus. Nun hielt die Rotkappe nur noch das schöne, schwere, aber leere Gewand in der Hand. Luned plumpste auf den Boden und rollte ungeschickt über die Steinplatten. Ihr fielen Tristifers Worte ein: ›Meine Dankbarkeit wird dich umhüllen wie ein Mantel‹, aber sie wusste, dass sie ohne sein Geschenk ungeschützter denn je war. Sie hielt nicht inne, um die Wirkung ihrer Kriegslist zu beobachten, sondern kroch auf allen vieren zwischen 187
den Beinen der Elfen davon. Als sie am Fuß der Treppe das unausgesetzte Leuchten des Glühwürmchens entdeckte, rappelte sie sich hoch und rannte ihm nach. Das Glühwürmchen hielt auf einem Treppenabsatz vor einer riesigen Tür inne. Unten war das Fest in vollem Gange und inmitten einer Schar singender Elfen fuchtelte eine verwachsene Gestalt mit einer rötlichen Mütze mit den Armen. Sie wurde von einem Schwarm Bienen verfolgt, der wie ein Tintenfleck um sie herumschwirrte. Die Angst verlieh Luned ungeahnte Kräfte. Sie stemmte sich gegen die riesige Tür und stieß sie schließlich auf. Dahinter lag ein Raum, der von Lampen und kleinen Fackeln erhellt wurde. Hier stand ein Tisch mit einem schlichteren, aber für Luneds Geschmack appetitlicheren Festessen: Auf der weißen Tischdecke glänzten grüne Äpfel, Birnen und Trauben. Wasser und Wein schimmerten wie Diamanten, wie in die hohen Glaskrüge eingearbeitete Opale und Rubine. Luned war erleichtert und dachte mit Schaudern an die Gefahr, der sie mit knapper Not entronnen war. Das Blut aus der Wunde an ihrem Unterarm rann in ihre offene Hand. Sie drückte die andere Hand fest auf den Arm. »Ich bin gerettet … ich bin gerettet …«, sagte sie sich immer wieder leise, von einem eigenartigen Stolz erfüllt. Sie war entkommen. Durstig griff sie nach einem der Wasserkrüge und schenkte sich ein Glas ein. Doch als sie trinken wollte, ließ sich das Glühwürmchen auf ihrem Mund nieder. Luned verscheuchte es und rieb sich mit dem Handrücken über die Lippen. Wütend fauchte sie das Tier an: »Ich muss trinken, ich bin am Verdursten. Lass mich! Das ist bloß Wasser, es ist nicht von Elfenhand zubereitet. Es ist bloß Wasser!« 188
Das Glühwürmchen schwirrte über dem Glas. Luned setzte es an die Lippen, nahm jedoch einen leichten Geruch nach Fäulnis wahr. Im violetten Licht des Glühwürmchens entdeckte sie, dass das Wasser trüb war vor lauter Überresten von Blättern und Insekten. Angewidert stellte Luned das Glas wieder auf den Tisch und griff nach dem Krug mit dem Wein – es machte nichts, wenn er sauer war. Sie führte den Krug an den Mund, aber bevor die Flüssigkeit ihre Lippen benetzte, ließ die Angst sie innehalten. Sie goss ein wenig Wein auf den Tisch und entdeckte glibberige, glänzende Gerinnsel. Das war kein Wein. Eher Blut. Sie rieb sich die Augen und wich einen Schritt zurück. Sie legte sich die Hand auf die Brust und tastete nach dem Säckchen mit dem Talisman, den Tristifer ihr geschenkt hatte. Er bewegte sich unter ihren Fingern wie ein Tropfen Quecksilber, schwer und geschmeidig. Da erwachte der alte, stille Zauber des Amuletts. Vor Luneds Augen entpuppte sich der im grünen Licht verklärte Festschmaus Fata Titanias als das, was er in Wirklichkeit war: Knochen, die mit Fetzen wurmigen Fleisches bedeckt waren, Dreckklumpen, faulige Blätter und auf allem tausende winziger Larven. Eine dünne, dunkle Schlange glitt über die Tischdecke. Luned verspürte den bitteren Geschmack von Galle auf der Zunge und spuckte aus. Sie wich noch einen Schritt zurück. Dann brach sie zusammen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und wimmerte, den Mund voller Speichel. Ein Würgen warf sie nach vorn und ließ sie aufstöhnen. Erbrochenes brannte ihr auf der Zunge. Während sie sich aufzurichten versuchte, spürte sie, wie ihr Körper sich zusammenzog. Von Ekel überwältigt, fiel sie erneut auf die Knie. Alles um sie herum drehte sich und sie löste sich auf. 189
Zwischen den Würgeanfällen rief sie nach Demne und betete zu den Göttern ihres Dorfes, bis sie leer und erschöpft war. Sie weinte. ›Ich darf nicht schreien‹, sagte sie sich. ›Sonst finden sie mich.‹ In den Glaskrügen funkelte das schmutzige Wasser und das ölige Purpurrot des Blutes. Das Amulett fest in der Hand, lehnte Luned sich mit dem Rücken an die Wand. Das Glühwürmchen ließ sich auf ihrem Unterarm nieder. Die Stunden vergingen, das grüne Feuer brannte herunter und Luned hockte noch immer reglos und mit gesenkten Augen da. Mit letzter Kraft ließ sie den Talisman wieder in das Säckchen um ihren Hals gleiten und legte sich mit dem Rücken zum Tisch auf den Boden. Sie rollte sich zusammen wie ein Tier und schloss die Augen. Hin und wieder drang die Musik an ihr Ohr. Dann zitterte sie. Wieder in ihrem Gemach, beugte Fata Titania sich verärgert über ihre Schale. Erle hatte sich kindisch benommen, aber so waren die Waldgeister eben. Und Luned hatte sich nicht auf das Angebot des Löwen eingelassen. Dieser Rebell, dieser Abtrünnige sehnte sich danach, bei den Menschen auf die Jagd zu gehen. Ein Narr. Das Glühwürmchen war dem Mädchen treu. Tristifers Talisman hatte sie gerettet. Seit Luned für Tristifer gedichtet hatte, wusste Fata Titania, dass dieses Mädchen etwas ganz Besonderes war. Ein Grund mehr, hinter ihr her zu sein. Morgen würde sie es selbst versuchen. Dann musste sich zeigen, wer die Stärkere war: ein fünfzehnjähriges Mädchen oder die Königin der Feen.
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Luned und Titania LUNED öffnete die Augen in dem trüben Licht, das durch die schmutzigen Fensterscheiben hereindrang. Die Schulter und die Seite taten ihr weh. Sie streckte die Beine aus und betrachtete ihre mit Schlamm verkrusteten Sandalen und ihre geröteten Knöchel. Dann setzte sie sich auf und sah sich um. Auf dem Tisch lag nur noch eine dicke Staubschicht. Die verfaulten Speisen vom Vorabend waren spurlos verschwunden. Es roch nach Feuchtigkeit. Luned fuhr sich mit dem Handrücken über die Lippen. Klebriger, bitterer Schaum hatte sich wie ein Film über ihren Mund gelegt und trocknete ihn aus. Sie gähnte und rieb sich die Augen. Sie stöhnte leise: Die Wunde brannte. Vorsichtig löste sie das grobe Gewebe ihres Hemdes, das auf dem Blut an ihrem Unterarm klebte. Sie untersuchte die lange Schnittwunde, die im Zickzack vom Ellbogen bis zum Handgelenk lief. Mit der Fingerspitze berührte sie das Säckchen mit dem Talisman. Der feste Tropfen des magischen Metalls war noch da. Ihr Blick fiel auf die Fensterscheiben. ›Glas. Als ob sie reich wären‹, dachte Luned. Sie erinnerte sich, dass sie das Gleiche schon einmal gedacht hatte, aber in Demnes Haus, und zwar beim Anblick der Lampe und ihres beständigen Lichts. Doch es war unsinnig, im Turm der Feenkönigin an Reichtümer zu denken. Der Mantel, Tristifers Geschenk, das sie verloren hatte, war so wertvoll wie ein Buch, vermutete sie. Sogar Cai trug nun Juwelen … Ihr fiel der Opalarmreif ein, der das Handgelenk des Löwenmannes geschmückt hatte. An Kostbarkeiten fehlte es hier wahrlich nicht und alles war prächtiger und ursprünglicher und älter … 191
Luned konnte sich nicht erklären, warum sie die Menschen in ihre Welt zu locken versuchten. Vielleicht waren in diesem uralten Reich, in dem niemand geboren wurde oder starb, die Menschen das einzig Interessante. Es war ihr ein Rätsel. Luned zuckte die Schultern. Ihre Blase meldete sich. Sie war noch ein Mensch, durch und durch. Mit einem spöttischen Lächeln hockte sie sich in eine Ecke und pinkelte ausgiebig. Das Leuchten des Glühwürmchens war kaum noch zu erkennen. Es ruhte auf dem Fensterbrett. ›Wie die Lampe in Demnes Haus‹, sagte Luned sich und seufzte. Fata Titania ritt auf ihrem Hirsch durch den Wald. Sie trug einen Armschutz aus rotem Leder. Auf einen Pfiff von ihr kam eine schwarze Fledermaus herbeigeflogen und füllte die Luft mit spitzen Schreien. Ihr flaches Maul hatte rote Flecken. Sie zog Kreise und spreizte die Flügel, sodass ihr pelziger Bauch zu sehen war. Die Königin reckte ihre Faust über den Kopf. Die Fledermaus hängte sich kopfunter an Fatas Handgelenk. Sie faltete die Flügel zusammen und war nun in diese dunklen Häute gehüllt. Die Königin beugte den Arm und zog sich die Kapuze mit einer Quaste aus roter Seide über den Kopf. Dann hielt sie sich am Geweih ihres Reittieres fest. Der Hirsch stellte sich auf die Hinterbeine. Fata Titania warf den Kopf in den Nacken und ihre weiße Stirn schimmerte in dem trüben Licht. Es wurde Tag. Zeit umzukehren. Cai saß im Wald auf einem Felsen und drückte die Holzhand einer Frau. Diese hatte den Kopf an seine Schulter gebettet. 192
Mit Schaudern dachte er an Luned und betete für sie. Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch den filigranen Baldachin aus Laub. Die Frau warf ihm einen Blick zu und Cai fragte sich, wie alt sie wohl war. Das vollkommene Oval ihres Gesichts mit der langen Adlernase und dem kleinen Mund war alterslos und von der Lepra verschont geblieben. Winzige Fältchen umringten ihre schwarzen, melancholischen Augen. War sie fünfzig Jahre alt? Hundert Jahre? Die Liebe, die er für sie zu empfinden begann, wurde begleitet von einer Furcht, die ihm neu war. Früher oder später würden sie beide alles, absolut alles übereinander wissen und der Überdruss würde sie auseinander treiben. Das Leben würde weitergehen wie ein allzu langer Weg, der durch ein fremdes, ihnen gleichgültiges Land führte. ›Hoffentlich werde ich aus Erfahrung klug‹, dachte er. ›In Fata Titanias Reich leben so wenige Menschen …‹ Er ertappte sich dabei, wie er sich – genau wie alle Elfen – wünschte, viele Sterbliche würden die Ringe aus roten Blumen betreten und das Reich der Feenkönigin mit ihren kurzen, intensiven Leben bevölkern. Es war kalt. Luned befahl dem Glühwürmchen: »Bring mich zu Fata Titania!« Sie kehrten zu der großen Treppe zurück. Das Glühwürmchen flackerte wie ein Stern und schwebte im Dunkeln voraus. Luned erklomm die Stufen, die sehr flach waren und kein Ende nahmen. Sie kamen an zweihundert verschlossenen Türen und fünfzig offenen Räumen vorbei, in denen Fata Titanias Reichtümer zu sehen waren: Truhen aus Edelhölzern, schwere Samtstoffe, Gold, Sil193
ber, auf den Steinböden ausgestreute Perlen, fünfzehn Gobelins, auf denen die Jagd nach dem Einhorn dargestellt war, umgestürzte Tische. Irgendwo entdeckten sie einen wunderschönen Elf mit festen, schwarzen Locken, der auf einem Seidenkissen sanft schnarchte; auf seinem leicht geöffneten bläulichen Mund zeichnete sich ein Lächeln ab. Demne stellte den Sack mit der Gerste auf den Boden. Er betrachtete seine zitternden Hände und schüttelte den Kopf. Er verspürte den fast unwiderstehlichen Impuls, Luned zu folgen. Aber nein. Zum ersten Mal seit dem Tag, an dem sie Corberic verlassen hatten, streifte sie allein durch den Wald. Und der Wald hatte ihr immer gut getan. Ihr zu folgen hieße sich einzumischen. Demne holte drei Hühnereier aus der Satteltasche und legte sie vorsichtig ins Feuer, dort, wo die Asche am feinsten war. Er bedeckte sie mit ein paar Stücken Glut. So mochte Luned sie am liebsten. Zwei für sie, eins für ihn, wenn er sie denn zum Essen überreden konnte. Dann brach er einen Laib Brot und legte die Hälfte auf einen heißen Stein. Er verspürte eine eigenartige Beklemmung. Voller Sehnsucht starrte er in den Wald. Hoffentlich tauchte sie bald wieder auf. Luneds Waden zitterten und waren wie abgestorben. Sie hatte Durst und ihre Füße schmerzten. Aber die Angst trieb sie weiter. Allmählich packte sie der Schwindel, dieser Widersacher, der für sie so widersprüchlich war. Luned konnte nicht nach unten sehen, denn die verhasste Leere rief nach ihr, zog sie an wie ein Magnet. Gut, dass es so finster war und die Stufen sich in der Dunkelheit verloren. Aber sie spürte die Leere unter sich so deutlich, 194
als habe sie sie vor Augen, und sie spürte auch, wie sie mit jedem Schritt wuchs. Je weiter Luned hinaufstieg, desto größer wurde die Macht der Leere. Wie hoch war der Turm? Wie groß war Fata Titanias Reich überhaupt? Wenn sie daran dachte, dass es nur über kleine Ringe aus Blumen zugänglich war … Dabei hatte sie Wälder und Seen und Flüsse gesehen. Und eine winzige, kalte Sonne – war es dieselbe Sonne, die auch in Corberic schien? Oder war es eine andere, vielleicht die Mutter der Sonne in ihrer Welt? Luned ließ sich einfach fallen und massierte sich mit der gesunden Hand die Beine. Sie bewegte die Zehen in den Überresten ihrer Sandalen. Die seltsame Schwerelosigkeit des Hungers betäubte sie. Sie streckte sich der Länge nach auf einer Stufe aus und presste die Füße gegen die Wand. Das Glühwürmchen setzte sich auf ihre Brust. Luned hielt vorsichtig die hohle Hand über das Insekt und schlief ein. Mit einem Schrei erwachte Luned. Sie befürchtete, es seien mehrere Stunden vergangen und werde bereits dunkel. Getrieben von dieser Angst stürmte sie die Treppe hinauf. Das Glühwürmchen flackerte vor ihren Augen wie ein Irrlicht, sein Leuchten war intensiver denn je. Von hoch oben fiel in langen geraden Strahlen Licht auf die Treppe. Das Glühwürmchen war bereits vorausgeflogen. Luned lief noch schneller. Überrascht registrierte sie Grasbüschel auf den Stufen, frisches Gras, das in der Helligkeit wuchs, die durch ein Dachfenster hereindrang. Die Vegetation auf den Stufen nahm zu, bis aus der Treppe ein grüner Hügel voller Gänseblümchen und Lö195
wenzahn geworden war, die im Halbschatten leuchteten. Auf einmal drang Plätschern von Wasser an Luneds Ohr, das helle Murmeln eines fließenden Gewässers. Eine Brise ließ ihren Rock flattern. Luned rannte auf das Licht zu. Ihre Brust weitete sich, ihre Lippen lösten sich voneinander und sie atmete voller Wonne, frei von Wänden. Oben auf dem Turm befand sich ein Garten! Es roch nach Basilikum und Rosmarin, nach Gras, nach weißen Moschusrosen. Luned rief das Glühwürmchen zu sich und hielt ihm den Zeigefinger hin. Es ließ sich darauf nieder und Luned küsste es sanft, voller Liebe und Dankbarkeit. Das Plätschern erfüllte ihr Herz mit Freude. Sie ging ihm nach. Fata Titania thronte ganz allein mitten in der Quelle. Hinter ihrem Rücken und unter ihren Armen erhob sich das Wasser zu schlanken Fontänen. Unter ihr sprudelte die reine Quelle, sodass ihr grüner Rock immer wieder an die Wasseroberfläche getrieben wurde. Ihre nackten, weißen Füße waren im Wasser zu erahnen wie zwei silberne Fische, zwei blinde Eisblöcke. Sie war die schönste aller Feen. Als Krone trug sie eine Girlande aus grauen Schmetterlingen mit Samtflügeln und ihr schwarzes Haar bildete einen glatten, glänzenden Rahmen um ihr bleiches, zartes Gesicht. Ihre dunklen Pupillen funkelten wie Kohle. Das Weiß ihrer Augen hatte einen Stich ins Blaue. Sie lächelte. Am Ringfinger trug sie als Schmuck einen riesigen schwarzen Hirschkäfer. In liebevollem Ton sagte Fata Titania: »Endlich bist du angekommen, Luned. Du hast schwierige Prüfungen bestanden und bist in meinem Reich schon in aller Munde. Man erzählt sich bereits, wie du Tristifer befreit hast und wie dich die ältesten Steinei196
chen wieder erkannt haben. Die Wurzeln dieses Waldes sind das Fundament, auf dem mein Reich ruht. Sie reichen bis zur Mitte der Welt und berühren ihr Herz. Und sie haben dich erkannt. Du hast erreicht, dass der Kröterich dir eins seiner Glühwürmchen überlassen hat, und er hat ein langes Epos über deinen Mut geschrieben. Mein Fährmann spricht in den höchsten Tönen von dir, das weiß ich. Keine Bange, er ist kein Spion. Die brauche ich nicht. Meine Magie genügt mir.« »Ich möchte in meine Welt zurückkehren, Herrin«, sagte Luned. Die schmalen Augenbrauen der Königin hoben sich. Dann verdüsterte sich ihre Miene und auf ihrer Stirn bildete sich eine senkrechte Falte. »Aber Luned, welche Welt ist denn deine? Corberic? Denk daran, wie Cai dort behandelt wurde und wie wir ihn behandelt haben. Soll es dir später ergehen wie den alten Frauen, die auf dem Markt betteln?« »Meine Welt ist die, in der ich geboren wurde«, erwiderte Luned. Fata Titania kniff die Augen zusammen und lächelte. »Wovor hast du Angst? Vor dem Schicksal der Königin, die in eine Galionsfigur verwandelt wurde, oder dem Los meines Fährmannes? Sei unbesorgt. So etwas hätte dir geblüht, wenn du auf deiner albernen Liebe zu Erle bestanden hättest. Aber ich glaube, du hast verstanden. Solche Gefühle sind Schwächen und der Magier wie auch die Königin haben für ihre Schwäche bezahlt. Du hingegen … Ich weiß, dass du heute Nacht aufgehört hast, Erle zu lieben. Außerdem – glaubst du, dass die Menschen, die hier leben, jemals wie du einen Zauber gelöst und Widerstand geleistet haben? Du kennst mein Reich und seine Geschichten gut. Du bist würdig, dich 197
neben mich auf den Thron zu setzen. Du bist jung, aber sterblich. An meiner Seite wird sich der Tod in eine Schimäre verwandeln. Wir werden für immer im Schatten meiner Steineichen zusammenleben. Komm und trink.« Fata Titania griff nach einer schlichten Tontasse, füllte sie an der Quelle und bot sie Luned an. Die feuchte, glänzende Unterlippe der Fee zitterte leicht. Ihr bläulicher Mund war noch schöner als der Erles. Luned verspürte bleierne Müdigkeit. Die Fee lächelte und streckte ihr die Hand entgegen. Ihre Finger, die die Tasse hielten, glichen weißen Blütenblättern; der Ärmel ihres Kleides schwamm auf dem Wasser. »Komm, Mädchen, hab keine Angst. Sei meine Schwester, meine Freundin. Dann wirst du nie alt werden und dein Körper wird nicht verfallen. Und nicht nur dein Körper wird an meiner Seite unvergänglich sein. In deiner Welt war dein Geist wie ein Fisch auf der Harpune, wie ein zerstückelter Hirsch, wie ein Ochse, in dessen Flanke sich ein Luchs verbissen hat. Denk daran, wie die Menschen sich gegenseitig umbringen; denk an den Galgen und all das, bei dessen Anblick du gelitten hast. Bleib bei mir; ich werde dich lieben, als wärst du meine Tochter. Das hier ist der ewige, unzerstörbare Wald, der Cai aufgenommen hat; in diesem Reich wird es nie Städte geben.« Luned dachte an die mit glühenden Eisen markierten Straffälligen. An das Wort ermordet, das Wort Folter. An die Wörter, die sie in der Stadt gelernt hatte. An die Rotkappe. Als könne sie Luneds Gedanken lesen, fuhr die Fee fort: »Keines dieser Wörter wird etwas bedeuten, wenn du 198
dich unter meinen Schutz stellst. Denk an all die Gefahren, die in der Welt auf dich lauern. An die Lanzen, Schwerter und Äxte; an die blitzenden, scharfen Klingen der Waffen. Die Rotkappe ist mein Untertan und seine Pflicht wird sein, dich zu ehren. Und du wirst ewig jung sein. Erle gehört dir, wenn du ihn willst …« Luned betrachtete ihre Hände und dachte an die einsamen Alten in Corberic. Sie hatte zwar viele Narben und ihr linker Zeigefinger war krumm – den hatte ihr der Frischling gebrochen – , aber ihre Haut war straff und faltenfrei. Sie stellte sich vor, wie sie voller Runzeln und Altersflecken aussehen würde, mit geschwollenen und geröteten Gelenken; wie ihr kräftiger fünfzehnjähriger Körper vom Alter gebeugt wäre und wie verzagt sie sich fortbewegen würde, wenn sie nicht mehr gut sehen konnte. Der schleppende Gang der alten Frauen in der Stadt machte ihr Angst. Eine dicke Haarsträhne fiel ihr in die Stirn und sie stellte sie sich lasch und weiß vor. Als sie sich die Strähne aus dem Gesicht strich, bemerkte sie, wie seidenweich und dicht ihr junges Haar war. Dann ließ sie die Hände über ihre Arme gleiten und spürte die festen Muskeln unter ihrer Haut. Wenn sie Fatas Angebot annahm, würden die großzügigen Gaben der Jugend für immer ihr gehören – und die Herrscherin würde sie mehr lieben als ihre Mutter. Luned sank in die Knie, den Blick auf das Wasser gerichtet. Der Durst schnürte ihr die Kehle zu. Sie spürte, wie etwas in ihrer Brust zersprang. Sie dachte an den Tod und bekam Angst. Nicht mehr existieren. Nicht mehr auf der Welt sein. Das uralte Entsetzen, das im Herzen jedes Menschen lauert, hob den Kopf und drohte: ›Eines Tages wirst du die Augen für immer schließen.‹ 199
Ihr lief es eiskalt über den Rücken, als sie an die Klinge des Messers dachte, mit dem die Rotkappe sie verletzt hatte, und sie stellte sich vor, wie sie verblutete. Sie stöhnte. Die Welt war voller Messer, Krankheiten und anderer schrecklicher Dinge. Ihr fielen die fingerlose Hand des Leprakranken, der Galgen und der Pranger mit dem Halseisen auf dem Platz von Corberic ein. Die Zeit und der Tod lauerten überall und mähten alles nieder, beförderten alles ins Nichts. Doch bis hierher reichte ihre Macht nicht, in Fatas Reich regierte die Magie. Luned kniete nieder und streckte voll ungestümer Freude die Hand nach der Tasse aus, die Fata Titania ihr anbot. Die Elfenkönigin beugte sich über sie und streichelte ihr mit der freien Hand übers Haar. Sie flüsterte ihr ins Ohr (und ihr Atem roch nach Blumen und Milch, nach Kiefer und Wasser): »Du wirst mich nicht einmal brauchen, um glücklich zu sein, sondern nur dich selbst, die junge, unvergängliche Luned. Und auch nicht den sterblichen Demne oder den launischen Erle.« Luned nickte und spürte das leichte Gewicht der Feenhand auf dem Kopf. Sie würde nie aufhören zu existieren. Die Fee hatte ihr das Versprechen eines Lebens ohne Altern und Tod gegeben. Und Erles Schönheit würde endlich ihr gehören. Sie würde ihn in die Arme schließen können, wovon sie träumte, seit sie ihn in ihrer Vision auf dem Baumstumpf gesehen hatte, wo er den Gesang der Nachtigall nachgeahmt hatte, das leuchtende Haar auf dem schwarzen Umhang. Sie würde nie um Erle trauern müssen, denn er war ebenfalls unsterblich. Nun würde sie nie mehr Schmerz empfinden. Nie mehr. Durstig und erwartungsvoll öffnete sie die Hand. 200
Da glitt der Talisman, den Tristifer ihr geschenkt hatte, aus dem Säckchen um ihren Hals. Rund und glänzend fiel er neben die Quelle. Auf seiner gewölbten Oberfläche entdeckte Luned nicht nur ihr eigenes Spiegelbild, sondern auch Demnes Haus und erinnerte sich, wie der Geschichtenerzähler ihre Hand geführt und ihr das Schreiben beigebracht hatte. Sie sah Demne nicht, sondern stellte sich nur vor, wie er alt und allein, ohne sie, sterben würde. Sie wusste, dass der Wert, den die Menschen dem beimessen, was sie zu Lebzeiten lieben, der Gewissheit des Todes geschuldet ist. Sie dachte an ihren Vater, an seine schmalen, schwieligen Hände und an die bereits von feinen Fältchen umringten Augen ihrer Mutter. An beider Tod. Ihr fiel das Versprechen ein, das sie ihrer Großmutter gegeben hatte: ihre Hände noch einmal in deren Hände zu legen, die zerbrechlich waren wie dürres Laub. Sie sehnte sich nach ihr. Es war, als wache Luned mit einem Schlag auf. ›Lieber mit Demne sterben als ohne Altern und Liebe in der Welt der Feen leben‹, sagte sie sich. Wut überkam sie. Mühsam richtete sie sich auf. »Lass mich in meine Welt zurück, Fata Titania! Ich habe nichts getrunken und gegessen, seit ich diesen Turm betreten habe! Ich bin dein Gast gewesen und bin dir nichts schuldig! Halte dich an das Gesetz!« Ein grüner Blitz blendete sie wie in dem Moment, als Tristifer freigekommen war. Luned hielt sich die Ohren zu, konnte aber Fata Titanias Schrei trotzdem hören. Als sie die Augen aufschlug, befand sie sich im Wald. Wieder in Brocéliande. Sie spürte, wie ihre Kehle sich in einem freudigen Schluchzen zusammenzog. Sie war in die Welt zurückgekehrt. In Demnes Nähe. 201
Luned spürte den mit Laub bedeckten, lockeren Boden unter ihrem Körper. Als sie den Kopf drehte, bemerkte sie, dass sie sich außerhalb des Rings aus roten Blumen befand. Es lag ein leichter Geruch nach Rauch in der Luft. Der leere Schlauch lag neben ihr. Sie tastete danach und richtete sich halb auf. Da fiel ihr die zickzackförmige Kruste auf ihrem Unterarm ins Auge. Sie hatte Demne viel zu erzählen. Sehr viel. Sie lächelte, als sie hörte, wie Demne nach ihr rief. Sie stellte sich vor, was für ein Gesicht er machen würde, wenn sie ihm erzählte … Und sie malte sich aus, wie sie aufschreiben würde, was geschehen war, Demnes wohlwollender Schatten auf der glatten Oberfläche des Pergaments, seine warme, weiße Hand auf ihrer Schulter. Die Runen, die Tinte. Dann sah sie das Glühwürmchen, das über ihr leuchtete. Sie stand auf und strich sich über das kurze, zerzauste Haar. »Bring mich zu ihm«, sagte sie zu dem Glühwürmchen. Das Glühwürmchen flog zum Schein des Feuers, das in der Ferne im Nebel flackerte. Es brannte rot und warm, als wäre es ein auf die trüben, grauen Nebelschwaden gestickter Rubin. Demnes Stimme kam immer näher. Das Glühwürmchen flog auf ihn zu. Glücklich folgte sie ihm.
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Inhalt Brocéliande Das Mädchen aus dem Wald Im Schatten der Tannen Demne, der Geschichtenerzähler Unterwegs nach Corberic Vor der Stadtmauer Corberic Luned in der Stadt Der Unterricht Demnes Geheimnis Cai, der Maurer Eine ungerechtfertigte Verbannung Eine geheime Unterredung Träume und Tränen Ein Elf namens Erle Tristifers Freundschaft Die Gastfreundschaft der Steineiche Ein Kröterich, der Geschichte schreibt Ein kleines Mädchen, ein Mann und ein Elf Noch einmal Cai Fata Titanias Turm Luned und Titania
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Verónica Murguía, 1960 in Mexikostadt geboren, schreibt Kinderbücher und arbeitet für mehrere Zeitschriften. 1990 erhielt sie den Juan de la Cabada-Preis für Kinder- und Jugendliteratur. Ihr Kinderroman Auliya. Eine magische Reise durch die Wüste (Nagel & Kimche 2000) wurde für den Rattenfänger-Literaturpreis nominiert.
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