DAS KRANKE GESUNDHEITSSYSTEM
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DAS KRANKE GESUNDHEITSSYSTEM
KURZ VOR DEM EXITUS Zu teuer, zu bürokratisch, ineffizient - nur noch eine adikale Kur kann unser marodes Gesundheitswesen retten. Eine vierteilige Serie beschreibt die Schwachstellen: Was läuft falsch in Deutschlands Arztpraxen und Krankenhäusern? Wie verschwenderisch sind die Kassen wirklich? Und was macht die Pharmaindustrie so mächtig?
ÄRZTE-LOBBY
Von LORENZ WOLF-DOETTINCHEM, GEORG WEDEMEYER und FRANK WACHE (Fotos)
toten Mann greift man nicht in Einem die Tasche. Man nicht, Ulla Schmidt schon. Die Gesundheitsministerin will das Sterbegeld für gesetzlich Krankenversicherte halbieren. Als letzte Leistung sollen die Kassen nur 525 Euro gewähren. Seit die Bundestagswahl vorbei ist, kennt die dauerlächelnde SPD-Politikerin keine Tabus mehr. Frei nach einem alten Motto aus ihrer Aachener Heimat: .Willst du jemandem die Zähne zeigen, versuche es mal mit Lachen." In einer hektischen Notoperation versucht die Super-Sozialministerin, mehr als drei Milliarden Euro einzusparen. So will sie den Anstieg der Kassenbeiträge auf einen Rekordstand von durchschnittlich 14,5 Prozent verhindern. „Wir brauchen Luft", sagt Schmidt, die Zeit für eine grundlegende Remedur gewinnen will. Die ist auch dringend notwendig. Denn die Verschwendung ist nach wie vor gewaltig, die Ausgaben wachsen ständig, und für die Alterung der Gesellschaft scheint keine Vorsorge getroffen. „Das deutsche Gesundheitssystem steuert auf den Kollaps zu", warnt der Mannheimer Wirtschaftsprofessor Wolfgang Franz. Zunächst aber bittet „Schwester Ulla" (Parteispott) zum Aderlass: Die Ärzte sollen im nächsten Jahr auf einen Zuwachs der Honorare verzichten, die Krankenhäuser eine Nullrunde einlegen, die Krankenkassen ihre Verwaltungskosten einfrieren und die Zahnlabors die Preise um fünf Prozent senken. Rund die Hälfte des Sparbeitrages muss die Pillenbranche leisten, die in den letzten Jahren „enorm verdient hat" (Schmidt). Pharmaindustrie, Großhändler und Apotheken sollen durch niedrigere Preise und höhere Rabatte auf 1,4 Milliarden Euro verzichten. ULLA GEGEN ALLE. Nur der Patient, so verspricht Schmidt, bleibt ungeschoren: „Es wird keine Erhöhungen der Zuzahlungen und keine Einschränkungen bei den medh 'nischen Leistungen geben." Das glauben die 71 Millionen gesetzlich Krankenversicherte schon lange nicht mehr. Eine repräsentative Umfrage unter Kassenmitgliedem ergab bereits im Frühjahr beunruhigende Werte. Zwei Drittel rechnen mit Qualitätsschwund und Leistungskürzungen. „Die Versicherten sind unzufrieden
Die Bluffs der Funktionäre
Im Kampf um ihre Pfründe nehmen es manche Mediziner mit der Wahrheit nicht so genau. Acht Beispiele aus ihrer Trickkiste Kassenhonorare Behauptung: „Seit Jahren sinken die Einkommen der niedergelassenen Ärzte", sagt Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Ein Drittel der Praxen stehe vor der Pleite. Die „Ärzte-Zeitung" barmt gar: „Das Honorar hat oft den Charakter eines Almosens." Tatsache: Die Krankenkassen überwiesen im vergangenen Jahr 22 Milliarden Euro auf die Konten der bundesweit 23 Kassenärztlichen Vereinigungen (KV), 410 Millionen Euro mehr als im Jahr 2000. In den vergangenen zehn Jahren ist der Honorartopf der Ärzte um 43 Prozent gewachsen. Die Zahl der Kassenärzte nahm in derselben Zeit um 27 Prozent zu, so dass für jeden ein kleines Plus blieb. Ein Kostenvergleich des ZI-Instituts der Ärzte für das Jahr 1998 ergab: Jeder der 25000 westdeutschen Allgemeinärzte erzielte im Durchschnitt einen Jahresumsatz vom 190000 Euro. Nach Abzug der Betriebskosten blieb dem Durchschnittsarzt ein Bruttoeinkommen von 83 000 Euro übrig. Der Gewinn von Fachärzten liegt noch höher. Privathonorare Behauptung: Die Gebührenordnung für Privatpatienten stamme von 1977 und sei zuletzt 1982 geändert worden, klagt Professor Klaus Rehm, Direktor der Unfallchirurgie an der UniKlinik Köln, im Klartext: Ärzte behandelten Privatpatienten für das gleiche Honorar wie vor 25 Jahren. Tatsache: Die Gebührenordnung wurde 1988 und 1996 zugunsten der Ärzte geändert, wenn auch geringfügig. Die Ausgaben für ambulante Arztbehandlungen haben sich seit 1983 je Privatversicherten um 162 Prozent erhöht. Zum Vergleich: Für Kassenmitglieder stiegen die Ausgaben nur um 80 Prozent. Arbeitszeit Behauptung: Die durchschnittliche Arbeitszeit, so klagt KBV-Chef Richter-Reichhelm, liege bei 47 bis 65 Stunden die Woche. Tatsache: Krankenversicherte stehen immer häufiger vor verschlossenen Praxistüren. Der Vorsitzende der KV Nordrhein, Leonhard Hansen, gibt intern zu: „In den Kreisstellen der KV werden unsere Mitarbeiterinnen zunehmend mit dem Phänomen konfrontiert, dass Patienten in absehbarer Zeit keine Termine bekommen, mitten am Tag der Anrufbeantworter lauft oder der gewünschte Doktor ohne jeden Hinweis einfach nicht da ist."
Arzneimittelbudgets Behauptung: Ärzte erzählen immer wieder, dass ihr Budget für Arzneimittel aufgebraucht sei, etwa für teure Aids- oder Multiple-Sklerose-Medikamente. Jetzt sei kein Geld mehr da. Wenn sie ihre „Richtgröße" überschritten, müssten sie dafür aus der eigenen Tasche zahlen. Tatsache: Teure Patienten mit Aids oder Multipler Sklerose sind „Praxisbesonderheiten" und gehen nicht zulasten der Arzneiausgaben für die übrigen Kranken. Außerdem hat Gesundheitsministerin Ulla Schmidt die strikte Budgetierung für Medikamente aufgehoben. Die in den Jahren zuvor aufgelaufenen Kollektivregresse wurden nie durchgesetzt. Ärztemangel Behauptung: Wegen niedriger Honorare und hoher Belastung v/olle bald niemand mehr Medizin studieren. In einem „Brandbrief" warnte Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer, das Gesundheitsministerium stehe vor einem „drohenden Versorgungsnotstand". Tatsachen: Der Ansturm der Abiturienten auf das Fach Humanmedizin ist nach wie vor groß. Bei der Zentralstelle zur Vergabe von Studienplätzen meldeten sich zuletzt rund dreimal mehr Bewerber, als es Plätze gibt. Mit 23 651 Bewerbern im Wintersemester 2002/2003 war dies die höchste Zahl seit 17 Jahren. Allerdings wollen inzwischen nur noch 60 Prozent der fertig ausgebildeten Mediziner als Ärzte arbeiten, und diese verteilen sich sehr ungleich auf die verschiedenen Regionen und Einsatzgebiete. Krankenhäuser haben es oft schwer, Nachwuchs zu rekrutieren, und in manchen ostdeutschen Landstrichen herrscht genereller Ärztemangel. Andererseits sind viele Regionen für viele Fachgebiete längst wegen zu hoher Arztdichte gesperrt. Krankenhaus Behauptung: Angestellte Ärzte müssten in Krankenhäusern für „katastrophale Vergütungen" arbeiten, sagt etwa der Starnberger Mediziner Knut H. Sponer. Auch die Bereitschaftsdienste außerhalb der offiziellen Arbeitszeit würden nicht ordentlich bezahlt. Tatsache: Die zeitliche Belastung für Klinikärzte ist groß. Überstunden werden meist nicht vergütet. Lässt man die tatsächliche Stundenzahl außer Acht, sind die Gehälter allerdings nicht niedriger als die anderer Akademiker. Nach Abschluss des Studiums und einer Arzt-im-Prak-tikum-Zeit von anderthalb Jahren verdient ein lediger 28jähriger Krankenhausarzt während seiner Weiterbildungszeit 3150 Euro im Monat.
Röntgenraum der chirurgischen Ambulanz. Es wird zu viel untersucht, behandelt und abgerechnet Ein verheirateter 35-jähriger Facharzt bekommt 4200 Euro. Für sechs Bereitschaftsdienste können noch rund 1500 Euro hinzukommen. Abrechnungsbetrug Behauptung: Falsch abrechnende Ärzte schädigten lediglich ihre Kollegen. Schließlich würden die Krankenkassen nur die festgelegte Honorarsumme an die Kassenärztlichen Vereinigungen überweisen, argumentieren die Funktionäre. Im Übrigen seien es immer nur Einzelfälle. Tatsache: Der Innungskrankenkassen-Vorstand Gernot Kiefer, Chef einer Untersuchungskommission, schätzt, dass bis zu 20 Prozent aller Arztrechnungen fehlerhaft sind - und sei es nur aus Unwissenheit. Laut Kriminalstatistik gab es im Jahr 2000 immerhin mehr als 17000 betrugsverdächtige Fälle. Zuletzt sollen in Hessen 574 Ärzte Privatpatienten mit überhöhten Rechnungen abgezockt haben. Auch die Behauptung, dass Kassenpatienten von betrügerischer Mehrabrechnung nicht betroffen seien, ist falsch: Denn dann steht für die übrigen Leistungen weniger Geld zur Verfügung. Selbstverständnis Behauptung: Laut offizieller Selbstdarstellung versteht sich die Bundesärztekammer „auch als Anwalt der Patienteninteressen". Tatsache: Funktionäre wie der Vorsitzende des Hartmannbundes Hans-Jürgen Thomas prangern immer wieder die „Vbllkasko-Mentalität" der Krankenversicherten an. Dahinter steht die Idee, dass die Kassenbeiträge nur für eine Grundversorgung reichen und die Patienten die Ärzte für zusätzliche Leistungen zusätzlich direkt honorieren sollen. Mit der so genannten Igel-Liste versuchen es die Mediziner bereits. Aber sogar bei notwendigen Impfungen verweigern manche Ärzte die Annahme der Chipkarte. So forderten gerade erst Berliner Ärzte von Patienten Bargeld für Impfungen, weil Verträge mit einzelnen Krankenkassen fehlten. KURT KIESELBACH
und verunsichert", urteilt Hans Jürgen Ahrens, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK). Dazu trägt auch das „Geschrei" (Schmidt) der Lobbyisten bei. Alle gegen Ulla. Bernhard Scheuble, Chef des Verbandes Forschender Arzneimittelhersteller, wettert: Weil moderne Medikamente bald nicht mehr zur Verfugung stünden, seien „vor allem die Patienten die Verlierer der Regierungspläne". Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, kündigt als Folge der Sparoperation „wochenweise" Schließungen von Praxen an: „Diese irrwitzige Politik geht auf die Kosten der Patienten." Und Jürgen Robbers, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, barmt über die Nullrunde: „Das wird auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten ausgetragen." So viel Fürsorge macht misstrauisch. Die Krokodilstränen der Anbieter sind nämlich keineswegs uneigennützig. Verdi-Chef Frank Bsirske, selbst Interessenvertreter der Krankenschwestern, gibt zu: „Es geht um wirklich viel, viel, viel Geld." Genau genommen um 220 Milliarden Euro, die jedes Jahr in Deutschland für Gesundheit ausgegeben werden. Rund vier Millionen Menschen arbeiten in der Boombranche. Um ihren Anteil am Medizinmarkt kämpfen 350 000 Ärzte und Zahnärzte, fast 500000 Sprechstundenhilfen, 50 000 Apotheker und über eine Million Krankenhausbeschäftigte. Für die Politik ein Dilemma: Gesundheit ist, so die Experten der Schweizer Prognos
AG, eine „Gewinnerbranche", die in den nächsten 20 Jahren doppelt so stark wachsen wird wie die anderen Branchen. Gleichzeitig ist die gesetzliche Krankenversicherung ein Kostenblock, der Arbeit immer teurer macht. Arbeitgeber und Arbeitnehmer bringen zurzeit 140 Milliarden Euro jährlich auf. „Das ist genügend Geld", wie Ulla Schmidt findet, die die Beiträge einfrieren will und deshalb die Ausgaben kappen muss. Ähnliches haben schon ihre Vorgänger von Herbert Ehrenberg bis Horst Seehofer versucht. Gewirkt haben die Sparaktionen immer nur für ein, zwei Jahre. Irgendwie typisch: Behandelt wurden nur die Symptome, nicht die Ursachen. 7000 Bestimmungen, 50 Gesetze und am Ende doch höhere Beiträge. „Wir haben immer Kostendämpftingspolitik gemacht, aber an der Qualität nichts geändert", rügt der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach. KAUM ZU GLAUBEN: Das deutsche System ist schlecht und teuer. Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung gibt Deutschland im internationalen Vergleich am zweitmeisten für Gesundheit aus - übertroffen nur von den USA. Bei der Lebenserwartung erreichen die Deutschen aber nur den Durchschnitt der Industrieländer. Für die mittelmäßige Versorgung zahlen sie zu viel. Anders gesagt: Die Gesundheitsindustrie liefert den Versicherten einen Golf zum Preis einer MercedesS-Klasse. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat in seinem Gutachten vom August 2001 die „Über-, Unter- und Fehlversorgung" angeprangert. Beispiel Herzkatheter: In Deutschland wird diese Untersuchung doppelt so oft wie im europäischen Durchschnitt gemacht, aber trotzdem sterben 25 Prozent mehr am Herzinfarkt. Beispiel Brustkrebs: Weil bei den Mammografien zu schlampig gearbeitet wird, gibt es jedes Jahr 100 000 überflüssige Operationen. Beispiel Diabetes: Bei einer konsequenteren Betreuung der Zucker- -»
kranken, wären 20000 Fußamputationen und 30 000 Schlaganfälle vermeidbar. Der Berliner Gesundheitsökonom Rolf Rosenbrock glaubt gar: „Ein Viertel der teuren Krankheitsfälle ließe sich glatt verhüten." Die Ursachen für die deutsche Krankheit sind bestens analysiert. Ganze Regalwände voller Studien belegen, dass zu viel untersucht, behandelt und abgerechnet wird. Die größten Mängel sind: • Es gibt keine Transparenz: Der Patient weiß nicht, was die Behandlung kostet, der Arzt nicht, was er für die Therapie bekommt. Und die Kasse weiß schon überhaupt nichts, weil sie von der Kassenärztlichen Vereini gung nur eine Sammelrechnung bekommt. • Es gibt keinen richtigen Wettbewerb: Zwar wetteifern die Kassen mit ihren Beitragssät zen um Mitglieder, aber um die beste Ver sorgung der Kranken wird nicht konkur riert. Ein fataler Fehler, denn 80 Prozent der Mittel werden für nur 20 Prozent der Versicherten ausgegeben. • Es gibt keine Qualitätsstandards: Ärzte müssen nicht zum TÜV, auch wenn die Facharztausbildung schon 30 Jahre zurückliegt. Patienten sind bei der Krankenhaus-
suche auf Mund-zu-Mund-Propaganda angewiesen. In den USA müssen Kliniken Operationsstatistiken veröffentlichen, inklusive Kunstfehler. „Wir wollen den Wettbewerb um die beste Qualität", gibt nun Ulla Schmidt als Devise ihrer nächsten Reformstufe aus. Zudem soll die Prävention eine „eigene Säule" im Gesundheitswesen werden - vom Kindergarten bis ins Seniorenheim. Obendrein will Rot-Grün das Ärztekartell knacken: Die Krankenkassen sollen „Direktverträge" (Schmidt) abschließen dürfen, „ohne dass
die Kassenärztlichen Vereinigungen das verhindern können". Erst dann lohnt es sich für Ärzte, statt viele Patienten husch-husch, wenige Patienten gut zu behandeln. Und die Krankenhauslandschaft wird durch eine neue Abrechnungsmethode verändert: Die Kliniken bekommen künftig keine Tagessätze mehr, die eine lange Liegedauer lukrativ machen, sondern eine Pauschale für jede Operation. Experten erwarten, dass vor allem kleine, wenig spezialisierte Krankenhäuser schließen müssen. Der im internationalen Vergleich noch immer große Bettenberg würde etwas kleiner. DEN DRUCK IM BEITRAGSKESSEL wird die Gesundheitsministerin - wenn überhaupt allenfalls für wenige Jahre verringern können. Spätestens in einem Jahrzehnt wird die Alterung der Gesellschaft zu massiven Finanzproblemen bei den Kassen führen. Schon heute liegt deren Rentneranteil bei 30 Prozent. In den AOK sind es 40 Prozent - in der AOK Berlin gar 50 Prozent. Die Hauptstadtkasse soll ab Januar den Beitragssatz auf den Rekordstand von 15,5 Prozent schrauben, sonst gibt es von Schwesterkassen keine Unterstützungszahlungen mehr. Das ist zwar traurige Spitze, aber noch immer nicht
kostendeckend. Ohne die Hilfe der anderen AOK müssten es 17,8 Prozent sein. Und ohne den Finanzausgleich („Risikostrukturausgleich") unter allen Kassen weit über 20 Prozent. Ältere Menschen verursachen im Schnitt 2,3-mal höhere Ausgaben, als sie Beiträge einzahlen. 182 Euro monatlich buttert die Versichertengemeinschaft für jeden Ruheständler zu. Schon heute summiert sich der Solidarbeitrag der Jüngeren auf mehr als 33 Milliarden Euro - ein Viertel aller Ausgaben. Bis zum Jahr 2040 sagen Wissenschaftler einen Anstieg der Beitragssätze auf 20 bis 30 Prozent voraus. Hintergrund: Neben der steigenden Lebenserwartung muss der medizinische Fortschritt finanziert werden. „Die moderne Medizin heilt nicht", sagt der Berliner Medizin-Dekan Martin Paul, „sondern führt dazu, dass die Patienten mit ihrer Krankheit länger leben können." Ohne grundlegende Reformen, so prophezeit der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen, werde das System „binnen zweier Generationen" zusammenbrechen. Das will Kanzler Gerhard Schröder nun mit einer neuen Reformkommission ä la Hartz verhindern. Chefsoll der umtriebige Darmstädter Wirtschaftsweise Bert Rürup werden. Die Expertentruppe soll vor allem auf Drängen der Grünen „die Nachhaltigkeit der SoziaLsysteme" unter die Lupe nehmen. Wenn die Kommission ihren Auftrag ernst nimmt, muss sie sich an all die Fragen herantrauen, die SPD und Grüne im Koalitionsvertrag noch ausgeklammert haben: • Die Umverteilung in der Krankenversi cherung ist zu einem ziemlichen Kuddel muddel geworden: Eigentlich sollen die Ge sunden für die Kranken und die Besserver dienenden für die Geringverdiener zahlen. In der Praxis subventionieren aber die ar men Gesunden die reichen Kranken. Mehr noch: Privatversicherte beteiligen sich über haupt nicht am Solidarausgleich. Und von der kostenlosen Mitversicherung von Ehe partnern und Kindern profitieren ausge rechnet die höheren Einkommen am meis ten: Von den Pflichtversicherten sind nur die knappe Hälfte mitversicherte Familienange hörige, von den freiwillig Versicherten aber drei Viertel. • Der Lohn taugt immer weniger als Grund lage für den Beitrag. Wenn die Arbeitskosten bezahlbar bleiben sollen, muss der Arbeit geberbeitrag, der heute noch die Hälfte ausmacht, eingefroren werden. Auch eine Wertschöpfungsabgabe ist im Gespräch, um lohnintensive Betriebe zu entlasten. Oder -»
DIE REGELN DES SYSTEMS
Was Patienten wissen sollten
Jetzt wird der Wechsel zu den Privatkassen erschwert. Die wichtigsten Änderungen und Begriffe im Überblick Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) Zurzeit gibt es in Deutschland 355 Krankenkassen, in denen nach den Regeln der 314 Paragrafen des Sozialgesetzbuchs V insgesamt 70,8 Millionen Menschen versichert sind. Nur 50 Prozent der Versicherten sind Pflicht-
Patient während einer Magenoperation. Ein Viertel der teuren Krankheitsfälle ließe sich verhüten
oder freiwillige Mitglieder, die derzeit im Schnitt rund 14 Prozent ihres Arbeitseinkommens an Beitrag zahlen. 22 Prozent sind Rentner mit ermäßigten Beiträgen. 28 Prozent sind als Familienangehörige beitragsfrei mitversichert. Versicherungspflicht und Beitragshöhe Wer als abhängig Beschäftigter weniger als 3375 Euro brutto im Monat verdient, ist automatisch Pflichtmitglied der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Verdienstgrenze wird jährlich neu festgelegt und steigt 2003 vermutlich auf 3450 Euro. Bis zu diesem Betrag werden die Beiträge prozentual vom Verdienst erhoben. Selbstständige oder Besserverdiener können freiwillig Mitglieder werden oder können sich privat versichern. Ab 2003 soll es voraussichtlich erst ab 3825 Euro Monatsverdienst möglich sein, zur Privatversicherung (PKV) zu wechseln. Kassenärztliche Vereinigung (KV) Zur gesetzlich vorgeschriebenen „Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung" sind die rund 116000 niedergelassenen Ärzte Pflichtmitglieder in 23 regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen. Mit den KVen schließen die Kassen Verträge über das in der Region zu zahlende jährliche Gesamthonorar (Budget). Bundesweit waren das 2001 rund 43 Milliarden Mark. Wie viel Geld der einzelne Arzt bekommt, regeln die KVen nach einem Punktesystem selbst. Die Kassen wissen im Regelfall nicht, welcher Arzt welche Leistungen für welchen Versicherten abrechnet. Wechsel der Versicherung Jedes Pflichtmitglied hat bisher das Recht, nach 18 Monaten Mitgliedschaft mit zweimonatiger Kündigungsfrist seine gesetzliche Kasse zu wechseln. Nach Beitragserhöhung ist sofortiger Wechsel mit Kündigungsfrist möglich. Freiwillige Mitglieder und solche, die wegen hohen Verdienstes zu einer privaten Krankenversicherung wechseln können, sind nicht an die 18-MonatsFrist gebunden. Eine Rückkehr von der Privatkasse zur gesetzlichen Ist nur unter strengen Bedingungen möglich und nach dem 55. Lebensjahr prinzipiell ausgeschlossen. Diese Regelungen gelten auch für die Versicherten bei Ersatz- oder Betriebskrankenkassen. Risikostrukturausgleich Die Kassen sind verpflichtet, untereinander Kosten auszugleichen, die sich aus der unterschiedlichen Risikostruktur ihrer Patienten (Alter, Verdienst Familienangehörige) ergeben.
andere Einkünfte aus Vermögen und Vermietung müssen herangezogen werden. Dies hätte zudem den Charme, dass Rentner mit üppigen Nebeneinkünften künftig höhere Kassenbeiträge zahlen müssten. Heute zählt für den Kassenbeitrag nur die Rente. • Der Leistungskatalog muss überprüft wer den. Wohltaten wie das Mutterschaftsgeld, Haushaltshilfen oder das - künftig gekürz te - Sterbegeld gehören eigentlich nicht zu den Aufgaben der Krankenkassen, son dern in den allgemeinen Staatshaushalt. Die Finanzierung von Vorsorgekuren ist ein deutsches Unikat. In Ländern wie der Schweiz wurde die gesamte Zahnbehand lung ausgegliedert. Auch das Krankengeld ließe sich einfach in einer privaten Ver sicherung organisieren. Die Alternative zu Leistungskürzungen sind höhere Eigen beteiligungen. Private Versicherungsunternehmen wie die Allianz-Tochter Vereinte wittern bereits das große Geschäft. Sie hat sich von mehreren Wirtschaftsprofessoren Vorschläge für einen radikalen Systemwechsel ausarbeiten lassen, um „mehr private Reserven zu mobilisieren". Eine einheitliche „entschlackte" Grundabsicherung würde für jeden über 21 Jahre monatlich 200 Euro Prämie kosten, dazu eine obligatorische Selbstbeteiligung von 100 Euro im Jahr. Zahnbehandlung, Hörgeräte, Brillen und die Behandlung von Sporrunfällen würden ersatzlos gestrichen. Erst wer mehr als 15 Prozent seines Einkommens für Gesundheit aufwenden muss immerhin das Doppelte von heute -, würde zusätzliche Staatshilfe bekommen. So unterschiedlich die Ratschläge der Experten, die Wünsche der Lobbyisten und Entscheidungen der Politiker auch ausfallen - eines haben Professoren, Ärzte und Minis ter gemeinsam: Sie sind in der Regel nicht selbst Mitglied in AOK, Barmer und Co. Entweder verdienen sie zu viel, oder sie sind Beamte. Über die Zukunft der gesetzlichen Krankenversicherung entscheiden Privatpatienten. Für die Kassenmitglieder nicht unbedingt eine beruhigende Vorstellung. Mehr Infos bei stern.de Zahlen Sie zu viel? Vergleich der gesetzlichen Krankenkassen. www.stern.de/Krankenversicherung
Lesen Sie auf der nächsten Seite Teil l der Serie: Die Ärzte - wie eine Praxis hinter den Kulissen funktioniert
TEIL 1: DIE ÄRZTE
KEIN CENT DARF ÜBRIG BLEIBEN Ist Ihr Arzt ein guter Unternehmer? Dann weiß er, was er tun muss, um möglichst viel an Ihnen zu verdienen. Wie gut das Ihrer Gesundheit tut, ist allerdings eine andere Frage. Hier erfahren Sie, wie die Firma „Arztpraxis“ funktioniert - ein Lehrstück aus der Planwirtschaft
Von WALTER WÜLLENWEBER und MARCUS VOGEL (Fotos)
er Klempner repariert meine Wasserleitung, um damit Geld zu ver-dienen. Der Kfz-Mechaniker repa-riert mein Auto, um damit Geld zu verdie nen. Der Glaser repariert meine Fenster-Scheiben, um damit Geld zu verdienen. Und der Arzt repariert mein gebrochenes Bein oder meine verfettete Leber, weil er ein guter Mensch ist. So hätten wir es ger-ne, wenn wir krank und hilflos im Wartezimmer sitzen. Doch Ärzte sind auch Unternehmer. Ihre Firma nennen sie Praxis, ihre Kunden Patienten. Die typische Ärztehäuser, mit Apotheke im Erdge schoss, mit Massage und Krankengymnastik im Hinterhaus, sind kleine Gewer begebiete. Wie das Geschäft des Klempners oder Schlossers funktioniert, wissen deren Kunden. Aber kaum ein Patien versteht auch nur ansatzweise das kleine Einmaleins der Medizinbranche. Was macht einen Arzt zu einem erfolg reichen Unternehmer? Ein volles Warte zimmer? Dann müsste Jörg Inzelmann eil reicher Mann sein. Seit drei Jahren führ der 43-Jährige eine Hausarztpraxis in Hamburger Stadtteil Uhlenhorst. An einem ganz normalen Herbstvormittag is das Wartezimmer so voll, dass ein Teil der Patienten im Gang steht, vor dem Tresen von Christiane Hoffmann. Das rechte Ohr der Sprechstundenhilfe glüht, denn pausenlos muss sie Patienten am Telefon au: einen anderen Termin vertrösten. All« paar Minuten saust Jörg Inzelmann heran, wirft Christiane Hoffmann ein paar Formulare und noch mehr knappe Anweisungen hin und verschwindet mit dem nächsten Patienten in seinem Sprechzimmer. UNTERNEHMER INZELMANN müsste jubeln. Der Laden ist voller Kundschaft, darunter Rentner und Langzeitkranke. Viel Arbeit. Aber wenig Geld. Denn Inzelmann ist ein Hausarzt, und deren Leistung wird von den Krankenkassen pauschal bezahlt. „Im Prinzip bekomme ich 50 Euro für einen Krankenschein, egal wie oft ein Patient im Quartal zu mir kommt. Oder ich zu ihm", sagt Inzelmann. Der entscheidende Augenblick für seine Firma ist also die Sekunde, in der Frau Hoffmann die Chipkarte der Krankenversicherung in das Lesegrät hinter dem Tresen steckt. In diesem Moment bekommt Inzelmann alles, was er an einem Kunden verdienen kann. -»
Mehr kriegt er nicht. Auch nicht, wenn der Patient ein zweites, drittes oder siebtes Mal zur Sprechstunde kommt. Das ist ungefähr so, als bekäme die Autowerkstatt einen Einheitspreis, egal ob sie den Luftdruck in den Reifen misst oder das Auto nach einem Unfall abschleppt und wieder zusammenschweißt. Bei diesem System würde die Werkstatt nur noch den Ölstand messen. Der Hausarzt misst den Blutdruck. Ergebnis: „Die durchschnittliche Beratungszeit beim Hausarzt beträgt in Deutschland nur ganze sechs Minuten. Das ist der niedrigste Wert in Europa", sagt Karl Lauterbach, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Köln und Berater der Bundesregierung. Alte und erst recht chronisch Kranke sind für den Hausarzt unwirtschaftliche Patienten. Die Hausarztfir-ma braucht keine Schwerkranken, sondern Kunden, die im Prinzip gesund sind, mit einem aktuellen Zipperlein, das man unproblematisch behandeln kann. Zur Sicherheit kontrolliert der Doktor dann noch, ob die Therapie geholfen hat. Natürlich erst im nächsten Quartal. Denn dann gibt's wieder 50 Euro. IN DER PARALLELSTRASSE führt Inzelmanns ehemaliger Studienkollege Ronald Wesche eine Praxis. Auch Wesche hat sich vor drei Jahren selbstständig gemacht. Aber nicht als Hausarzt. An seinem Türschild steht „Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, Naturheilverfahren". Dahinter verbirgt sich so etwas Ähnliches wie ein Orthopäde. Als Facharzt bekommt Wesche von der Krankenkasse keine Pauschale, sondern kann jede Behandlung einzeln abrechnen. Für jeden Handschlag gibt es Punkte, für jeden Punkt bekommt er von der Krankenkasse Geld. Dann kann sich also wenigstens die Facharztfirma Wesche freuen, wenn ein Schwerkranker ins Wartezimmer kommt. Viel Arbeit, viel Geld. Von wegen. Damit Wesche nicht des Verdienstes wegen übertrieben behandelt, alles macht, was Punkte gibt, und somit unnötige Kosten verursacht, sind auch seine Einnahmen reglementiert. Wesche darf pro Patient nicht mehr Kosten für Behandlung und für Arzneimittel verursachen als der Durchschnitt seiner Kollegen. Nur: Wie hoch ist der Durchschnitt, wann liegt er drüber?
Hausarzt Jörg Inzelmann beim EKG
„Ich bekomme Immer 50 Euro, egal was Ich mache" Wesche zuckt mit den Schultern. „Ich muss mich ständig an Grenzen halten, die ich gar nicht kenne, weil sie erst im Nachhinein festgelegt werden." Der Facharzt darf also nicht mehr pro Patient verdienen als seine Konkurrenten, und die Anzahl seiner Patienten darf er auch nicht spürbar steigern. Ökonomisch ausgedrückt: Die Firma Wesche darf nicht wachsen. „Innerhalb des Kassensystems habe ich nur sehr begrenzt Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg meiner Praxis" sagt Wesche. „Eigentlich bin ich ein Unternehmer in der Planwirtschaft." Wegen dieser Beschränkungen ist auch für die Facharztfirma der gesunde Patient der beste Patient. Um bei den Behandlungskosten die Grenzen nicht zu überschreiten, braucht Wesche viele Patienten, die er nur ganz wenig behandelt. Sie senken die Durchschnittskosten pro Krankenschein: „Scheinverdünner", nennt man sie. „Um einen chronisch Kranken behandeln zu können, brauche ich einige nur wenig Kranke, sonst kann ich mir, wegen der Budgets, dessen Behandlung nicht leisten", sagt Wesche. In der Planwirtschaft des real existierenden Gesundheitswesens, verdienen also Fachärzte und Hausärzte dann besonders gut, wenn sie möglichst viele eigentlich Gesunde in ihre Praxen locken. Und das alles, um zu sparen. Und was ist mit den richtig Kranken, mit Patienten wie Martina Link? Mit „Höllenschmerzen" sitzt sie in Wesches Wartezimmer. Sie ist 37 Jahre alt und leidet schon seit 20 Jahren unter schlimmsten Rückenschmerzen. Erst in diesem Frühjahr fand ein anderer Arzt die Ursache: eine komplizierte Fehlstellung im Kreuzbein. „Seitdem kann ich endlich
richtig behandelt werden", sagt Martina Link. Nur von wem? „Für meinen Hauptarzt bin ich viel zu teuer. Der kann mich nicht allein behandeln", sagt Link. Als chronisch Kranke verbraucht sie gemessen am Durchschnitt -das Vielfache an Arzneimitteln und Therapiekosten. Kein Arzt vermag genügend „Scheinverdünner" aufzutreiben, um sie noch wirtschaftlich behandeln zu können. Also behandelt ihr Orthopäde nur den unteren Teil ihres Rückens, die Lendenwirbelsäule. 20 Jahre Schmerzen haben längst auch Schäden im oberen Teil der Wirbelsäule verursacht. Die behandelt Ronald Wesche. Und dann sind da noch die Folgeprobleme im rechten Fuß. Um die kümmert sich ein dritter Arzt. Drei Ärzte für einen Wirbelsäulenschaden, das ist medizinischer und wirtschaftlicher Irrsinn. Drei Praxen produzieren mehr Kosten als eine, insbesondere im deutschen Gesundheitswesen. Denn am meisten Punkte bekommt der Facharzt stets für den Beginn einer Behandlung. Im Fall von Martina Link ist das Sparen eine teure Angelegenheit. Das Gesundheitssystem lockt also die Gesunden in die Praxen und vernachlässigt die richtig Kranken. Die Methode, mit der Kosten reduziert werden sollen, produziert am Ende immer neue Kosten. Aber ist das nicht immer so in der Planwirtschaft? Was in der DDR die staatliche Planungskommission war, ist für die niedergelassenen Ärzte die kassenärztliche Vereinigung. Ihre Funktionäre bestimmen, welcher Mediziner sich wo niederlassen darf, welche Behandlung wie viele Punkte wert ist, wie viel Geld ein Punkt bringt und letztendlich auch, wie viele Patienten zu wie vielen Punkten ein Arzt abrechnen kann. Für den Arzt gibt es da keinen Anreiz, sich ökonomisch vernünftig zu verhalten. In der Planwirtschaft gibt es nur ein Ziel: Planerfüllung. Raushauen, was erlaubt ist. Alle Budgets ausschöpfen. Kein Cent darf übrigbleiben. AUCH DER KASSENPATIENT hat nichts davon, sparsam zu sein. Zahlen muss er sowieso - jeden Monat, direkt vom Gehalt. Also ist den meisten das Beste gerade gut genug. „Manchmal wollen Patienten unbedingt eine teure Kernspintomographie verordnet bekommen, weil der Nachbar das auch hatte", berichtet Ronald We- -*
sehe. Eine solche Aufnahme kostet rund 400 Euro und ist nur sehr selten notwendig. Würde Wesche den Patienten nun zum Radiologen überweisen, hätte er den Kunden befriedigt und die Allgemeinheit geschädigt. „Aber wenn ich Patienten eine geforderte Leistung verweigere, dann gehen manche einfach zur Konkurrenz." Irgendjemand verschreibt es schon. Auf diese Weise wird die Anschaffung von medizinischen Geräten rentabel. Folge: „Es wird erheblich überdiagnostiziert, damit die teuren Geräte der Ärzte ausgelastet sind", sagt der Gesundheitsökonom Lauterbach. „Wir haben gerade in einer Studie an unserem Institut nachgewiesen, dass jede dritte Röntgenaufnahme in Deutschland überflüssig ist." DIE POLITIK REAGIERT auf die Kostensteigerungen nicht mit einer Reform, die kostenbewusste Ärzte und Patienten belohnt. Stattdessen will Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Einkommen aller Ärzte schlicht auf dem heutigen Niveau einfrieren - das der Sparsamen und das der Verschwender gleichermaßen. Vielen Praxen drohe dann der Konkurs, behaupten Ärztelobbyisten. Schon vor der Bundestagswahl verkündete der oberste Arzt der Republik, der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe: „Jede dritte Arztpraxis steht heute vor der Pleite." Seit Jahren jammern Ärztefunktionäre über Praxispleiten. Woher das Wissen stammt, ist unklar, denn Zahlen dazu hat die kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), die Vertretung aller niedergelassenen Ärzte, nicht. Angeblich. Nur diese: 1999 wurden etwa 1000 Praxen von Ärzten abgemeldet, die noch nicht das Rentenalter erreicht hatten. 1000 von 93 000,
Die Facharztpraxis Wesche schleust täglich rund 100 Patienten durch
„Der Betrieb einer Praxis ist risikolos" also 1,1 Prozent. Wie viele davon wirklich aufgeben mussten und wie viele reich geheiratet haben, ausgewandert oder Pleite gegangen sind, weil sich die Inhaber an der Börse verzockt haben, all das will die KBV nicht wissen. „Entgegen aller Klagen der Ärztevertreter gehen in Deutschland praktisch keine Arztpraxen Pleite", sagt Gesundheitsökonom Karl Lauterbach. „Der Betrieb einer Praxis ist risikolos." Bei den Ausgaben in ihrem Unternehmen sind Ärzte traditionell knausrig: Arzthelferin ist einer der am schlechtesten bezahlten Berufe überhaupt. Ihr Monatsgehalt liegt meist unter 2000 Euro brutto. Größere Anschaffungen finanziert der geschäftstüchtige Arzt über die „Deutsche Apotheker- und Ärztebank", zu Konditionen, von denen kein Schreiner träumen kann. Und oft muss der Doktor auch nur wenig Miete für seine Praxis zahlen. Dafür sorgen die Apotheken. Für die sind viele Ärzte in der Nähe überlebenswichtig. Am besten alle im selben Haus. Das überlassen die Apotheker nicht dem Zufall. Oft bauen sie die Ärztehäuser mit dem so genannte Apotheken-Bauherrenmodell selbst. Dann locken sie die Praxen mit niedrigen Mieten, nicht selten ein Euro für die ganze Praxis. So profitieren beide: Der Arzt hat eine billige Praxis. Der Apotheker kriegt die Rezepte und setzt den Verlust bei der Miete von den Steuern ab. Den vergleichsweise niedrigen Ausgaben der Arztfirma stehen ordentliche Einnahmen gegenüber. Wie hoch die sind, das versuchen Ärztefunktionäre seit Jahren hinter einem Gebirge von Halbwahrheiten zu verstecken. Tatsache ist: Allein von den Honoraren der Gesetzlichen Krankenkassen bleiben einem westdeutschen Arzt, nach Abzug aller Kosten
für Praxis und Personal, im Durchschnitt knapp 100000 Euro brutto im Jahr. Mit der Hilfe des Steuerberaters dürften davon also etwa 5000 Euro netto im Monat übrig bleiben. Dazu kommen die Einnahmen von seinen Privatpatienten. Die machen nicht selten ein Plus von 30 Prozent aus. Und die Branche boomt. Zwischen 1991 und 2001 nahm die Zahl der niedergelassenen Ärzte um ein gutes Viertel zu. Die Ausgaben der Krankenkassen für Arzthonorare stiegen noch viel stärker, um 43 Prozent. Die Torte ist gewaltig angewachsen, so sehr, dass für jeden ein größeres Stück übrig bleibt. Und das, obwohl mehr Esser am Tisch sitzen. Welcher andere Wirtschaftszweig kann auf ein so fettes Jahrzehnt zurückblicken ? Und dennoch klagen Ärztefunktionäre bei jeder Gelegenheit. Warum? Weil die Ärzte in der Planwirtschaft eine Steigerung des Einkommens nicht durch Steigerungen ihrer Leistung erreichen können, sondern nur durch eine Steigerung des Drucks auf das Politbüro. Bislang hat das immer geklappt. Über Generationen war ein EinserAbitur die Lizenz zum Reichwerden. Die Besten jedes Jahrgangs wurden Ärzte. Statt zu forschen oder richtige Unternehmen zu führen, werden sie heute in einer leistungsfeindlichen Bürokratie verheizt. Die schickt jedem Arzt zu Beginn eines Quartals ein etwa zwei Zentimeter dickes Päckchen - neue Regeln, Gesetzesänderungen, Verordnungen. Kein Arzt kann alle Gesetze kennen, an die er sich halten muss. WER DES GELDES WEGEN Medizin studierte, der versucht natürlich alles, um seinen Gewinn zu steigern - wie jeder andere Unternehmer auch. Für den Arzt heißt das: weniger Kassenpatienten, mehr Privatpatienten. Für deren Behandlung sind die Preise höher, und vor allem: Es gibt keine Budgets. Viele Praxen haben inzwischen eigene Telefonnummern für Privatpatienten. Da läuft kein Band, und die Sprechstundenhilfe weiß schon beim Klingeln, dass noch Termine frei sind. Ronald Wesche hat einen anderen Ausweg gefunden: Akupunktur. Derzeit läuft ein Pilotprojekt zur Erprobung dieser Methode. In dieser Versuchsphase ist die Verschreibung von Akupunktur großzügig begrenzt. Ronald Wesche macht in- -»
ERSTE HILFE
Nicht rezeptpflichtig Wie Ärzte und Patienten sparen könnten, ohne die Qualität der Behandlungen zu mindern. Vier Vorschläge Erster Schritt: Mehr Integration Zusammenschlüsse von Ärzten verschiedener Fachrichtungen in Gemeinschaftspraxen müssen mit neuen, von den Kassenärztlichen Vereinigungen unabhängigen Verträgen gefördert werden. Das Beispiel Schweiz zeigt: In solchen integrierten so genannten HMO-Zentren werden bis zu 35 Prozent Kosten gespart. Der me-
Warten, bis der Arzt kommt. Das Gespräch mit dem Doktor dauert durchschnittlich sechs Minuten
zwischen etwa ein Drittel seiner Einnahmen mit den kleinen Nadeln. Außerdem arbeitet er als ärztlicher Leiter in einem ambulanten Reha-Zentrum im selben Haus. Für den ambitionierten Arzt sind das Auswege, um anspruchsvolle Medizin an richtig Kranken zu praktizieren und damit Geld zu verdienen. Sein Studienkollege, der Hausarzt Jörg Inzelmann, hat solche Möglichkeiten nicht. Darum liegt er nach drei Jahren mit eigener Praxis noch unter dem Durchschnitt von 5000 Euro netto im Monat. „Wenn ich das verdienen würde, wäre ich voll zufrieden", sagt Inzelmann. Für ein paar Euro extra bietet auch er seinen Kunden „Son-
dizinische Standard und die Patientenzufriedenheit sind hoch. Wer sich als Versicherter dort fest einschreibt, also auf die freie Arztwahl verzichtet, bekommt bis zu 20 Prozent Beitragsrabatt. Zweiter Schritt: Mehr Qualität Die Niederländer machen es vor: Dort wurden für die meisten Krankheiten qualitative Behandlungsrichtlinien entwickelt. Ärzte müssen 40 Weiterbildungsstunden pro Jahr nachweisen, wenn sie ihre Zulassung behalten wollen (Stichwort Ärzte-TÜV). Das hilft, teure Fehl- und Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Dritter Schritt: Mehr Geld für gute Leistung Zurzeit lohnt es sich finanziell nicht, ein guter Arzt zu sein. Wer mit geringeren Kosten heilt, verdient nicht mehr. Neue Vergütungssysteme, zum Beispiel zusammengefasste Pauschalen je Patient für ärztliche Leistung, Medikamente und Heil- und Hilfsmittel (Stichwort: Kombi-Budget), wären besser - belohnt würde, wer seine Mittel gut und sinnvoll einteilt. Vierter Schritt: Weg mit undurchsichtigen Abrechnungsposten Wer weiß schon, dass jeder niedergelassene Arzt jedes Quartal „Sprechstundenbedarf" in Höhe von durchschnittlich 2200 Euro direkt bei den Kassen geltend macht? Die Püderchen, Salben, Tampons, Tupfer und Binden summieren sich bundesweit auf eine runde Milliarde Euro jährlich. Neben diesem „Kleinkram" können zusätzlich einzelfallbezogene „Sachkosten" berechnet werden, deren Definition so gummiartig ist, dass darüber keine einheitlichen statistischen Daten vorliegen. Kontrolle ist kaum möglich. Einsparpotenzial: 50 Prozent.
derleistungen" an: Ernährungsberatung, Rauchentwöhnung, Sportmedizin. Das müssen Kassenpatienten selbst bezahlen. Damit das Nebengeschäft läuft, gleicht Imelmanns Wartezimmer beinahe einem Werbestand. Auf einem Regal stapeln sich Broschüren, an den Wänden kleben Plakate, in der Ecke flimmert ein Computerbildschirm. Nonstop läuft dort das Programm der Firma „Eusana": Im Angebot sind Anti-Aging-Beratungen und Nahrungsergänzungsmittel aus der Dose. Inzelmann ist so etwas wie der Vertreter von Eusana. Er hat sogar Gebietsschutz - kein anderer „Eusana-Arzt" darf sich in seinem Stadtteil niederlassen. Rund zehn Prozent
seines Umsatzes macht Inzelmann mit Sonderleistungen. Vor dem Tresen der Sprechstundenhilfe Christiane Hoffmann warten wieder zwei Menschen. Eigentlich sehen sie frisch und gesund aus. Beide tragen einen schwarzen Lederkoffer - Pharmavertreter. Sie sollen Ärzte von der Qualität ihrer Arzneimittel überzeugen. Natürlich nur mit Argumenten. In vielen Praxen werden die „Referenten" an allen Patienten vorbei sofort vorgelassen. Nicht so bei Jörg Inzelmann. Der empfängt immer nur einen Vertreter am Tag, meist am Ende der Sprechstunde. DIE PHARMA-LEUTE eröffnen dem Arzt neue Einnahmequellen. Eine davon haben sie „Anwendungsbeobachtungen" getauft. Der Arzt verschreibt Patienten ihr Präparat, beobachtet, wie es wirkt, und füllt anschließend einen Fragebogen aus. Obwohl das Medikament längst ausgetestet ist. Sonst wäre es nicht zugelassen. „Die Anwendungsbeobachtungen der Pharmaindustrie bringen absolut keinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn", sagt Karl Lauterbach. Der Pharmakologe und Mitherausgeber der Fachzeitschrift „ArzneiTelegramm" Peter Schönhöfer, hat herausgefunden, dass die Pharmaindustrie allein für die „nutz- und wertlosen" Anwendungsbeobachtungen rund 750 Millionen Euro im Jahr zahlt. An die Ärzte. Da nicht alle Ärzte bei solchen Praktiken mitmachen und manche Fachärzte wie Orthopäden oder Augenmediziner wenig Medikamente verschreiben, bleibt für den Rest mehr übrig. Schätzungsweise 10000 Euro pro Jahr und Arzt, der mitmacht. Am Ende holt sich die Pharmaindustrie das Geld über höhere Arzneimittelpreise wieder zurück. Von den Patienten. Genauso wie die 1,2 Milliarden Euro für Ärztekongresse. So viel, schätzt Schönhöfer, sind den Arzneimittelherstellern die „Fortbildung" der Mediziner wert. Am besten lernt es sich freilich an den schönen Orten des Globus und wenn der Partner mit dabei ist. Monaco zum Beispiel. Da war auch Jörg Inzelmann schon. Und Freitagnachmittag bleibt die Praxis geschlossen, fn Einladung zum Kongress in Berlin. Btfl
Lesen Sie Im nächsten sterrr. Der Krankenhaus-Report -wie Patienten und Ärzte unter dem System leiden
DAS GESUNDHEITSWESEN -TEIL 2: DIE KLINIKEN In den folgenden Beiträgen beschreibt der stein die Situation in den deutschen Hospitälern aus dem Blickwinkel von Ärzten, Ökonomen und einem prominenten Patienten: Zufrieden ist keiner - doch was dem einen als Lösung erscheint, schafft für die anderen neue Probleme
DAS
KRANKE HAUS Überarbeitete Doktoren und vernachlässigte Patienten sind die Leidtragenden des planlosen Kostenmanagements an unseren Kliniken. Zeit ist Geld - in Zukunft werden die Mediziner Kranke noch schneller abfertigen müssen
Von ANIKA GEISLER, HORST GÜNTHEROTH und FRANK WACHE (Fotos)
ich trage einen weißen Kittel, haOkay, be ein Stethoskop um den Hals, und die Patienten nennen mich „Herr Doktor". Doch der Traum, Menschen in Not beizustehen, ist spätestens seit Ende meines Studiums und dem Beginn meiner Arbeit im Krankenhaus geplatzt. Ich bin kein Helfergeworden, der Menschen Trost spendet und für sie da ist- ich bin ein Patientenverwalter. Johannes Timm*, seit zwei Jahren Assistenzarzt auf einer internistischen Station, ist einer aus dem Heer von 140 000 Medizinern, die an den 2250 deutschen Krankenhäusern Dienst tun. Dienst am
Menschen, mit höchster Verantwortung. Hinter Klinikmauern werden wir geboren; dort wird uns der Blinddarm rausoperiert, da suchen wir Hilfe nach Herzinfarkt oder Verkehrsunfall, da werden unsere Infektionen und Krebsgeschwulste behandelt. Und für viele ist das Krankenhaus die letzte Station ihres Erdenlebens. Über 53 Milliarden Euro verschlingen die Stätten des Heuens und Linderns jährlieh, den Löwenanteil der Gesamtausgaben der Krankenkassen und rund zehn Milliarden Euro mehr als noch vor zehn Jahren. Der Finanzbedarf schwillt weiter an: Ein
•Name geändert. Die Person ist nicht identisch mit dem
abgebüdeten Arzt.
Unaufhaltsames Wachstum tlOtZ allgemej-
ner wirtschaftlicher Flaute - dafür sor- -»
„Keine zehn Minuten für einen Patienten gen die steigende Zahl alter, gebrechlicher Menschen, immer aufwendigere Methoden in der Medizin und verbreitetes Anspruchsdenken der Patienten, für die das Beste gerade gut genug ist. Doch trotz des MegaUmsatzes sind die Metallbetten-Burgen alles andere als Orte des Luxus. Nicht für die Kranken und nicht für die Männer und Frauen in Weiß. Seit Arbeitsbeginn vor einer Stunde Stress und Hektik. 20 Patienten auf der Station muss ich allein betreuen: Blut abnehmen, Infusionsnadeln legen, Tröpfe anhängen, im Ultraschallraum Lungenwasser punktieren, Röntgenaufnahmen und Computertomographien organisieren. Dauernd stört das Telefon. Dann Visite: drei Stunden lang höchste Konzentration, vor den Zimmertüren studiere ich schnell die Akten. Hände drücken, Fragen beantworten, Ängste mildern - im Durchschnitt habe ich nicht mal zehn Minuten für einen Patienten. Schwerste Fälle sind darunter: Leberzirrhose, Lungenkrebs, Schlaganfall, Herzinfarkt. Bei dem netten Herrn mit Schnurrbart weiß ich noch immer nicht, wo der Tumor sitzt, der schon Lebermetastasen gestreut hat. Warte jetzt schon drei Tage auf einen ConiputertomogrammTermin für ihn. Er wird langsam sauer. Zu Recht. Winde mich erneut mit Ausreden heraus, weil ich es auch nicht ändern kann Privatpatienten und Notfälle gehen vor. Schaffe es wieder nicht, Mittag zu essen. Röntgenbesprechung, Laborbefunde durchsehen, Blutkonserven bestellen, drei NeuTeamwork: Im Medikamentenzimmer
Untersuchung: Mit dem Stethoskop prüft der Mediziner Herz und Lungen
aufnahmen untersuchen, rufe Hausärzte an. Vor dem Stationszimmer wartet die Ehefrau von dem Netten mit den Lebermetastasen, will endlich wissen, was mit ihrem Mann ist. Andere Angehörige wimmle ich gereizt auf dem Flur mit Phrasen ab und vertröste sie auf morgen. Hasse mich selbst dafür und habe ein schlechtes Gewissen. Ertrinke im Papierwust, Anträge für Sozialund Pflegedienste ausfüllen. Nach elf Stunden mache ich Feierabend. Entlassungsbriefe werde ich zu Hause diktieren, die Krankenakten dafür nehme ich mit. Das ist verboten. Die Patientenunterlagen müssen in der Klinik bleiben. Die tragenden Säulen des Systems Krankenhaus, die jungen Ärzte, schwanken. Chronische Arbeitsüberlastung; zu wenig Personal, denn den Kliniken fehlt das Geld für mehr Stellen. Folge der Mise-
re: Fließbandabfertigung der Patienten. Laut Untersuchung der Krankenhausärzte-Gewerkschaft Marburger Bund hat die Belastung der Mediziner enorm zugenommen: Die Schar der Doktoren muss 16,5 Millionen Fälle jährlich betreuen, 19 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor. Tendenz zunehmend. Die Zahl zusätzlicher Arztstellen hält damit nicht Schritt. Also ist Mehrarbeit für Doktoren so normal wie der Desinfektionsmittel-Geruch auf dem Linoleumboden. Unbezahlte, versteht sich. Bis zu 30 Überstunden pro Woche kommen schnell zusammen. Meist werden sie gar nicht erst aufgeschrieben - aus Angst vor dem Verlust des Jobs in der streng hierarchischen WeißkittelStändegesellschaft, in der bei Visiten nach „Dienstgrad" ins Patientenzimmer getreten wird und der Chef seine Untergebenen schon mal vor dem Kranken zusammenstaucht. Es müsse wohl am Arbeitstempo liegen, so poltert manch ein Klinik-Boss, wenn die Aufgaben nicht in der normalen Dienstzeit bewältigt würden, die anderen Kollegen reichten schließlich auch keine Überstunden ein. Der kaum zu ertragende Leistungsdruck ist neben dem relativ geringen Lohn (zum Beispiel Arzt im Praktikum: 1135 Euro brutto im Monat; 36-jähriger Assistenzarzt: 3500 Euro brutto im Monat plus Nachtdienstzulagen) der Hauptgrund dafür, dass immer weniger Medizinstudenten den Beruf ergreifen, der immer einige Jahre Pflichtstationen in Kliniken bedeutet. Nur 60 Prozent von ihnen wollen heute noch als Arzt arbeiten. Der Rest bricht die Ausbildung ab oder sucht sich nach dem Examen andere Jobs. Einige Verwaltungschefs jammern bereits, dass ihre ohnehin spärlichen Stellenangebote verschmäht werden: Vor allem Kliniken auf dem Land und im Osten haben Probleme, Vakanzen zu besetzen. Besonders abschreckend für den medizinischen Nachwuchs - und riskant für den Patienten - sind die elenden Nachtdienste. Nach einem normalen Arbeitstag, der um acht Uhr in der Früh begonnen hat, bin ich von 19 Uhr bis zum nächsten Morgen der -»
Der Kranke Störfaktor statt Sorgenkind einzige Internist im Haus. Allein für 260 Patienten und die Notaufnahme zuständig. Hoffe immer, dass nicht zwei auf einmal einen Herzkasper kriegen. Der Pieper geht dauernd, ich hetze die Treppen hoch und runter, von Station zu Station. Fahrstuhl nehmen ist nicht erlaubt, der könnte stecken bleiben und dann wäre ich „kaltgestellt". Krankeabhorchen, Schmerzund Schlafmittel verordnen, Blutkonserven anhängen, der verwirrten 88-Jährigen erklären, dass sie jetzt mitten in der Nacht nicht frische Mettwurst kaufen kann. Zwischendurch meldet sich immer wieder die Notaufnahme: junge Frau mit stechenden Bauchschmerzen, randalierender Besoffener, eine Gallenkolik, eine Verstopfung und wieder mal unser Stammgast mit dem Herzrasen. Stundenlang müssen die warten, bis sie drankommen. Inzwischen ist es zwei Uhr nachts, bin total fertig, zittrige Hände, schon ein paar Mal mit der Nadel daneben gestochen. Jetzt wird jeder Patient zum Feind. Habe seit morgens nichts gegessen. Getrunken zuletzt mittags. Aber: Wer nicht trinkt, muss wenigstens nicht aufs Klo. Ob auf dem Patienten-Wagen noch Essensreste sind? Finde eine Scheibe Brot, einen Joghurt und zwei Radieschen. Verspeisen von Patientenessen ist ein Kündigungsgrund. Lege mich mit voller Montur aufs Bett im Dienstzimmer. Um 4 Uhr 55 Pieper: Der Mann mit dem Bauchspeicheldrüsen-Tumor ist gestorben. Bewege mich in Zeitlupe hin, um den Totenschein auszufüllen und die Angehörigen anzurufen. Heule selber fast. Wie in Trance funktioniere ich weiter, als hätte ich ein Promille im Blut. Um zwölf Uhr mittags, nach der Visite, komme ich
Schreibkram: Für die Untersuchung des
nikbetrieb nur durch mehr ärztliches Personal realisieren. Wo allerdings das Geld dafür herkommen soll - gerade angesichts der von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt verordneten Nullrunde bei den Kassenbeiträgen -, ist für die Verwaltungschefs der Häuser ein unlösbares Rätsel. Geld bringen die Privatpatienten, sagt mein Chef. Und die anderen nur dann, wenn sie möglichst schnell durchgeschleust werden. Ich finde es schrecklich, Menschen nach solchen wirtschaftlichen Gesichtspunkten abfertigen zu müssen. Täglkh rufen die Krankenkassen an, erkundigen sich nach jedem einzelnen Patienten und machen Druck, ihn möglichst bald zu entlassen. Wenn wir einen länger dabehalten, als die für nötig halten, gibt's Ärger. Und oftmals kriegen wir dann nicht die volle Liegezeit bezahlt. Der Aderlass: Mit einer Kanüle zapft der Arzt neuste Hit heißt DRG, „diagno-sis related Blut aus dem Arm eines Kranken groups". endlich raus, 28 Stunden in der Klinik und Das bedeutet: Jede Diagnose und davon drei Stunden Schlaf. Und morgen um Therapie muss ich bei Aufnahme und acht Uhr muss ich wieder antanzen. Entlassung des Patienten in einem kompliDas Krankenhaus - ein krankes Haus. zierten Verschlüsselungsprogramm mit Immer im Hochbetrieb, immer kurz vor Ziffern festhalten. Ich übe für die Zukunft. dem Infarkt. Und der Patient mehr Stör- Auf dieser Grundlage werden demnächst faktor als Sorgenkind. Wenigstens für die Krankenkassen an die Klinik zahlen. Ein das auslaugende Nachtdienst-Marathon durchschnittlicher Blinddarm wird dann ist Abhilfe in Sicht - doch das bringt 5,6 Tage liegen dürfen, alles, was länger neue Probleme: 15000 weitere Ärzte, so braucht, wird erst mal nicht erstattet. DRG schätzt Frank Ulrich Montgomery, Chef ist für mich ein Mehraufwand von bis zu des Marburger Bundes, werden in den einer Stunde täglich, je nachdem, wie der nächsten Jahren von den Kliniken Computer gerade mitmacht. Wir lernen, eingestellt werden müssen. Der wie man am besten verschlüsselt, damit das Hintergrund: Der Europäische Krankenhaus mehr Geld bekommt Wer daGerichtshof hat entschieden, dass der nn gut ist, macht sich bezahlt. Sogar unsere nächtliche Bereitschaftsdienst nicht Arbeitsbesprechungen, in denen es eigentlich mehr wie bisher als Ruhezeit, sondern um die Kranken gehen sollte, handeln daals Arbeitszeit zählt. Folglich muss von. Bürokratenkram, der mir kostbare Zeit demnächst das deutsche Recht geändert für Patienten raubt. Dafür müsste unbewerden, das den derzeitigen Zustand er- dingt extra Fachpersonal her. möglicht. Weil Nonstop-Dienste dann Noch ist das DRG-Modell in der Erproverboten sein werden, lässt sich der Kli- bung; nächstes Jahr sollen die deutschen Kliniken beginnen, auf das aus Australien stammende Modell umzustellen. Ziele sind eine möglichst kurze Verweildauer im Krankenhaus und geringere Kosten für die Kasse. So wird das Bett schnell frei für den nächsten Patienten. Grundsätzlich eine gute Idee: Warum soll ein Kranker - wie früher gang und gäbe - freitags einbestellt, aber erst dienstags operiert werden? Indes haben die Krankenhäuser in den ver- -»
ERSTE HILFE
Therapien für die Klinik Teure Traditionen und gestrige Privilegien müssen aufgegeben werden, wenn es im Hospital wirtschaftlicher zugehen soll. Sechs Vorschläge zur Reform Erster Schritt Fallpauschalen Der wichtigste Vorstoß zu mehr Effizienz ist bereits geplant: Vom nächsten Jahr an sollen Krankenhauser ihre Leistungen freiwillig nicht mehr über die Liegedauer und den Tagessatz, sondern durch eine pauschale Durchschnittssumme pro Fall abrechnen. Ab 2004
kationsrate ist. Patientenbeiräte sollten über den humanen Umgang mit den Fallpauschalen wachen. Dritter Schritt Mehr Ambulanz Um ihre Pfründe zu sichern, haben die niedergelassenen Ärzte dafür gesorgt, dass die Krankenhäuser kaum ambulant tätig sein dürfen. Diese Beschränkung muss fallen. Das ist medizinisch sinnvoll und hilft, Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Vierter Schritt Bessere Planung und mehr Wettbewerb Krankenhausplanung ist Ländersache. Zentrale Richtgröße ist die Bettenzahl je Einwohner. Das ist veraltet. Es muss spezifischer nach Behandlungs- und Operationsbedarf berechnet werden. Zudem gilt derzeit: Was die Länder zu viel geplant haben, kommt die Kassen teuer zu stehen. Sinnvoller wären zum Beispiel Ausschreibungen, wer welche Operation am günstigsten anbieten kann. Nicht jede Kasse muss dann mit jeder Abteilung eines Krankenhauses zusammenarbeiten. Das fördert sinnvolle Spezialisierung und damit die medizinische Erfahrung und Qualität.
Fünfter Schritt Chefarztsystem auflösen In Deutschland gilt meistens: einmal Chefarzt, immer Chefarzt. Für manchen ist das eine lebenslange Lizenz zum Geldscheffeln und Mitarbeiterschinden. In den USA gilt das verpflichtend für alle Krankenhäuser, werden die Götter in Weiß nur für eine begrenzte Zert ab 2007 sind die Sätze jeweils innerhalb eines bestimmt. Bundeslandes einheitlich. Nachteil: Kliniken Sechster Schritt Humane Arbeitszeiten Neue könnten versuchen, sich schwerer und daher Arbeitszeitmodelle, wie sie einige Kliniken schon teurer Fälle zu entledigen. Zweiter Schritt Mehr praktizieren, müssen für alle ausgewertet und umgesetzt werden. So werden die auslaugenden Transparenz und Patien-tenrechte Die Krankenhäuser sollten künftig Qualitäts- Doppelschichten der Ärzte vermieden. GEORG WEDEMEVER berichte veröffentlichen, damit Patienten sehen können, wie oft dort welche Fälle operiert werden und wie hoch die Kompli-
gangenen Jahren die Verweildauer bereits erheblich verkürzt: Während ein Patient 1990 noch durchschnittlich 15,3 Tage ein Hospital-Bett belegte, waren es 2000 nur noch 10,1 - also 34 Prozent Zeitersparnis. Doch viele Schicksale lassen sich eben nicht in dieses System pressen. Was beispielweise soll ein Doktor mit der alten Dame machen, die an der Supermarktkasse ohnmächtig wurde ? Und für deren Untersuchung und Behandlung DRG 3,7 Tage zulassen wird? Der verantwortungsvolle Arzt steht vor dem Dilemma, entweder mit langwierigen gründlichen Untersuchungen die Ursache abzuklären und damit defizitär zu arbeiten; oder aber die Frau, der nach wie vor schwindlig ist, mit schlechtem Gewissen schnell heim zu schicken und sich den Rüffel vom Chef zu ersparen. Die Folge: Das ohnehin schon scharf kalkulierende Krankenhaus mutiert vollends zum Wirtschaftsunternehmen - der Arzt zum Aushilfs-Betriebswirt. Vorbei die Zeiten des hippokratischen Eids, in dem die Zunft gelobt, alles ausschließlich „zum Nutzen der Kranken" zu tun. Vorbei die Zeiten, als ein wesentlicher Teil der Therapie noch intensive menschliche Zuwendung war. Jetzt geht es um kaum mehr als Kosten, Erlöse und Bilanzen, menschliches Leid gerinnt zu Ziffernfolgen. Und die Hospitäler werden sich - damit die Kasse stimmt - um Patienten reißen, die sie schnell und komplikationslos wieder entlassen können, also um die jungen „Gesun den". Alte Morbide haben schlechte Karten. In Zukunft, so befürchten Kritiker, könnte sich gar die Frage stellen, ob sich bei einem kranken Menschen die „Reparatur" überhaupt noch lohnt - wie bei einem Auto. Bis jetzt haben meine Kollegen und ich mit der Überzeugung geschuftet, dass wir es fürs Gemeinwohl tun. Und in diesem Bewusstsein bei aller Mehrarbeit oft ein Auge zugedrückt, fetzt werden wir mit Brachialgewalt darauf getrimmt, effizient bis zum Geht-nicht-mehr zu arbeiten, wie ein Konzern mit Profitgier. Da sehe ich aber auch nicht mehr ein, dass ich meine Überstunden dem System schenke. Mahr Infos bei stern.de www.stern.de/krankenversicherung Großes Extra zum Thema Gesundheitssystem
Lesen Sie auf Seite 118 das Interview mit Ex-Gesundheitsminister Horst Seehofer: „Als Patient sieht man die Dinge anders"
GESUNDHEITSWESEN -TEIL3: KRANKENKASSEN UND KASSENÄRZTLICHE VEREINIGUNGEN
„WER DIE DATEN HAT, HAT DIE MACHT"
Nach eigenen Regeln verteilen die Selbstverwaltungen der Ärzte die Milliarden, die ihnen die Krankenversicherungen jedes Quartal überweisen. Die Kassen wissen kaum, wofür sie das Geld ausgeben - und am wenigsten wissen die Patienten, was ihre Behandlung kostet. Das System verfuhrt zu Missbrauch und Schlendrian
Von BRIGITTE ZANDER und HARDY MÜLLER (Fotos)
F
rüher fragte sich Mike Schultheis, 29,
geben seit dem Frühjahr ihren Patienten eimanchmal ärgerlich, wo denn die 77 ne Honorarabrechnung mit. Mike Schult Euro bleiben, die ihm Monat für heis findet das gut. „Beim Autoschlosser Monat als AOK-Beitrag von seinem Lohn kriege ich ja auch eine ordentliche Rech abgezogen werden. Heute weiß der Baunung, wenn der meinen Wagen repariert." arbeiter aus Rheinland-Pfalz Bescheid: Für Auch Walter Bockemühl, Vorstands seine sechs Besuche im vergangenen OkVorsitzender der AOK in Rheinland-Pfalz, tober wegen Grippe, vereiterter Mandeln bei der Bauarbeiter Schultheis versichert . und Magenschmerzen verlangt sein Hausist, wüsste gern, was die Behandlung arzt 59,66 Euro Honorar. der einzelnen Patienten kostet. Doch der Üblicherweise erfahren die 71 Millionen AOK-Chef hat „keine Ahnung", wofür gesetzlich Krankenversicherten in Deutschgenau die 2,7 Milliarden Euro ausgegeben land nie, was sie kosten. Schultheis verwerden, die er in Form von „Kopfpauschadankt die Aufklärung einem Modellverlen" quartalsweise für seine 850 000 Versisuch: 100 Kassenärzte in Rheinland-Pfalz cherten an Ärzte und Apotheker über- -»
weist. Die Abrechnungsstellen der Mediziner - vier Kassenärztliche Vereinigungen (KV) und drei Zahnärztliche Vereinigungen - schicken lediglich pauschalierte Quartalsabrechnungen. Und das erst Monate nach den erfolgten Behandlungen. Nur die Kliniken schreiben für jeden stationär behandelten AOK-Patienten eine genaue Einzelrechnung. DIE ZWEI KOLOSSE im Gesundheitssystem, die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen, agieren nebeneinander, nicht miteinander. Das sorgt bei Koloss Nr. eins für Ärger. AOK-Chef Bockemühl klagt: „Ich kann nicht in meinem Computer nachsehen, was mit unserem Mitglied passiert ist: Wer und wie Walter Bockemühl, Chef der AOK in Rheinviele Ärzte wie oft an ihm herumkuriert haben, was sie gemacht land-Pfalz, verfügt über viel Geld und wenig und was ihm verschrieben haben." Die Einfluss: „Unsere Spielwiese ist klein" gesammelten Beiträge der Mitglieder verschwinden bei Koloss Nr. zwei wie in einem schwarzen Loch. gung Koblenz. Sie stammt vom vierten Auch Bockemühls 3300 Mitarbeiter Quartal 2001 und gilt als Sammelbeleg für sind nicht informiert. Beispielsweise Oliver 40,9 Millionen Euro, die von der AOK für Koch, einer der vielen AOK-Sozialversiche- diese Zeit an die Kassenärztliche Vereinirungs-Fachangestellten, „Sofas" genannt. gung Koblenz überwiesen wurden. Genau „Von jeder KV bekommen wir nur ein 114,30 Euro für jedes der 357 778 ,Formblatt 3'", sagt er und zeigt ein paar Mitglieder. Koch sitzt im AOKDIN-A4-Seiten: Das ist die aktuelle Ab- Hauptquartier im verträumten rechnung der Kassenärztlichen Vereini- Eisenberg bei Mainz und bereitet den Zahlenwust im „Formblatt 3" statistisch auf. „Damit man sich ein grobes Bild Der „Einheitliche machen kann." Beispielsweise Bewertungsmaßstab", die Honorarbibel der Kassenärzte. Für jede medizinische Leistung gibt es Punkte, für Punkte gibt es Geld
Übers Budget wird gar nicht erst verhandelt
vom Code A999000 im Passus „Abrechnungsfälle". Daraus geht hervor, dass AOKVersicherte im vierten Quartal 2001 990897-mal einen Arzt oder einen Psychotherapeuten aufgesucht haben. Koch erfährt auch noch, wie viele seiner Mitglieder zur Krebsvorsorge, zur Gesundheitsberatung oder zum Impfen gegangen sind, wie oft sie geröntgt, ambulant operiert und zu Hause besucht wurden. Und was das alles unterm Strich kostet. Mehr aber nicht. Bei der Kassenärztlichen Vereinigung in Koblenz gibt es die Daten, die Koch so gern hätte. Was genau hat jeder Arzt an jedem einzelnen AOK-Patienten getan und dafür in Rechnung gestellt? Doch das Gesetz verbietet den Datenaustausch. Koloss II darf Koloss I die Abrechnungen nur fallbezogen, nicht mit dem Namen des Behandelten liefern. Nur wenn sich Patienten über eine Fehlbehandlung beschweren - das passiert 500-mal im lahr -, kann die Kasse schriftlich Detailauskünfte verlangen. Alle Versuche, die Informationsblockade zwischen den Kolossen zu beseitigen, scheiterten bisher am Aufschrei der Weißkittel, die um ihre Therapiehoheit fürchten. Zuletzt erlebte das Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bei der umstrittenen Einführung einer verbesserten Betreuung chronisch Kranker mit Qualitätskontrolle. Dafür hätten die behandelnden Ärzte ihre Behandlungs- und Patientendaten der Kasse offenlegen müssen. Das wollte keiner. Was mit der Gefahr des „gläsernen Patienten" begründet wurde. Aber die Patienten wurden gar nicht gefragt. Die beiden Machtblöcke haben sich wenig zu sagen. Trotzdem empfängt AOK-Chef Bockemühl „acht- bis neunmal im lahr" die Vorstände der Ärztevertre tungen in seiner Direktion zu gepflegten Verhandlungen „in festgefahrenen Bah nen". Dann gibt es Kaffee, Saft, einen idyllischen Ausblick auf den Pfälzer Wald - und wenig zu entscheiden. Mal eine Impfaktion, mal eine neue Präventivmaß nahme oder die Zulassung eines neuen Kassenarztes. „Das könnte auch telefo nisch gehen", meint Bockemühl. -»
Über den eigentlichen Knackpunkt, die Höhe des Budgets, reden die Herren nicht miteinander. Warum auch? Das Bundesgesundheitsministerium legt jedes Jahr für ganz Deutschland nach der Einkommensentwicklung fest, wie viel Geld im Topf ist. 2001 waren es 138,8 Milliarden Euro, fast vier Prozent mehr als im Jahr zuvor. Und rund 90 Prozent der Kassenleistungen sind ohnehin gesetzlich vorgegeben. „UNSERE SPIELWIESE ist
klein", klagt Bockemühl. Er würde gern neue Strukturen einziehen. Statt das Geld „nach dem Gießkannenprinzip" zu verteilen, möchte er direkte Verträge mit qualifizierten Ärzten und Kliniken schließen. Engagierte Doktoren könnte er dann mit einem Bonus belohnen und auf die Hitliste empfehlenswerter Ärzte setzen. Das darf Bockemühl nicht, weil es unter das Werbeverbot fällt. Er darf seine Versicherten nicht mal vor den intern bekannten schwarzen Schafen der Zunft warnen, auch nicht auf Anfrage. Obwohl die Kassen so wenig für ihre Mitglieder tun können, verschlingen sie Milliarden. Bockemühls AOK gibt für Personal, Miete und Marketing pro Jahr 137 Millionen Euro aus. Das sind 5,23 Prozent der Gesamtausgaben, umgerechnet 160 Euro pro Mitglied. Bundesweit summierten sich im vergangenen Jahr die Verwal-
Die Verwaltung verschlingt 7,6 Milliarden Euro
Michael Kann, Landarzt im Westerwald und neuer Chef der KV Koblenz, will das ramponierte Image seiner Zunft reparieren
tungsausgaben der 355 Kassen auf 7,6 Milliarden Euro, das ist so viel wie ein Drittel des Arzneimittelbudgets. Oder anders gerechnet: 50 Prozent mehr als 1989. Ulla Schmidt will den Krankenkassen nun mehr Macht geben. Walter Bockemühl findet das richtig. Doch abschaffen soll sie die Kassenärztlichen Vereinigungen nicht. „Wir brauchen deren Abrechnungsapparat." Bockemühl würde die Honorare nur ungern selbst unter den Ärzten verteilen. „Das bringt nur Ärger."
In der KV Koblenz, die mit 180 Mitarbeitern nahe dem Hauptbahnhof sitzt, hat es schon viel Krach ums Geld gegeben. Rund 433 Millionen Euro von rund 200 Krankenkassen sind jährlich unter 2355 Ärzte und Psychotherapeuten zu verteilen. Jede einzelne medizinische Leistung ist im „Einheitlichen Bewertungsmaßstab" (EBM), der kassenärztlichen Honorarbibel, festgelegt - nicht in konkreten Geldbeträgen, sondern in Punkten. Eine Ganzkörperuntersuchung bringt 320 Punkte, eine ausführliche Beratung über zehn Minuten 300, ein Hausbesuch 400 Punkte plus Wegegeld und ein Einsatz nach 20 Uhr 300 Punkte Nachtzuschlag. Am meisten Punkte bringt der erste Arztbesuch eines Patienten im Quartal, danach wird's deutlich weniger. Wie viel ein Punkt wert ist, bestimmt die gewählte Vertreterversammlung. In Koblenz halten die Hausärzte traditionell die Mehrheit. Dort bekommen Allgemeinärzte für jeden Punkt durchschnittlich 5,26 Cent, Fachärzte werden mit 4,09 Cent vergütet. Die Koblenzer stehen mit ihren Punktwerten im Vergleich zu den Kollegen in anderen Kassenärztlichen Vereinigungen noch gut da. In Berlin erhalten zum Beispiel die fachärztlichen Internisten nur 1,77 Cent pro Punkt, die Lungenfachärzte 1,90 Cent. DAS SYSTEM VERLOCKT zum Tricksen: Besonders fleißige Doktoren rechnen bis zu 14 Arthroskopien (Kniegelenkspiegelungen) am Tag ab, obwohl ein Orthopäde mit sieben schon gut ausgelastet ist. Andere melden regelmäßig bis zu 15 Notfälle pro Nacht. Patienten werden sehr ausführlich beraten - zumindest auf dem Papier. Zeitkontrollen der abgerechneten Leistungen ergaben, dass manche Weißkittel regelmäßig 28 Stunden am Tag kurieren. Da das Budget gedeckelt ist, schädigen Punktehamsterer nicht die Krankenkasse, sondern ihre Kollegen. Der Ehrliche ist der Dumme. Trotzdem werden Betrügereien selten publik. Denn der Ruf der Zunft steht auf dem Spiel. Nur keine Staatsanwaltschaft im Haus, heißt das oberste Gebot. -»
ERSTE HILFE
Ein bisschen Markt muss sein Mehr Offenheit und Vertragsfreiheit für die Krankenkassen können Bewegung ins starre Gesundheitssystem bringen. Doch auch die Patienten müssen sich auf weitere Einschnitte gefasst machen. Die Solidargemeinschaft kann nicht mehr alles bezahlen Mehr Transparenz schärft das Kos- Leistungen kontrollieren dürfen. Versicherte, die tenbewusstsein sich nur innerhalb eines solchen Netzes bewegen Bislang wissen die Mitglieder der gesetzlichen und Immer zuerst einen Allgemeinarzt aufsuchen, Krankenversicherung nicht, welche Kosten durch zahlen weniger Beitrag. ihre Behandlung entstehen. Patientenquittungen, in denen die einzelnen Leistungen aufge- Service für die Ärzte, Strafe für die führt sind, können das Kostenbewusstsein stär- Sünder ken und Missbrauch durch die Ärzte erschweren. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sollten zu Allerdings führen bessere Informationen allein Dienstleistungszentren für Ärzte werden: mit nicht unbedingt zu einem verantwortungsvollen Qualitätskontrollen, Zertifizierung, systematiUmgang mit den knappen Mitteln. Obligatori- scher Weiterbildung (nicht nur im Punktesamsche Selbstbeteiligungen, etwa eine Zuzahlung meln) und Sanktionen für die schwarzen Schafe von zehn Euro bei jedem Arztbesuch, würden zu- der Branche. sätzliche Sparanreize schaffen: Nicht mit jedem Schnupfen muss man gleich zum Doktor gehen. Weniger Bürokratie, mehr Wettbewerb Kassen stärken, Qualität und Spar- Der Verwaltungsaufwand der gesetzlichen Kransamkeit belohnen kenversicherungen muss gedrosselt werden. AnDie Krankenkassen müssen Einzelverträge mit gesichts von 355 Einzelkassen sollte geprüft Praxisgruppen und Kliniken schließen und deren werden, wo Fusionen sinnvoll sind. Der Risikostrukturausgleich zwischen „armen" und „reichen" Kassen animiert nicht zum sparsamen Wirtschaften. Krankenkassen brauchen keine Glaspaläste, Designerbüros und weißen Marmorböden. Leistungen überprüfen, die Patienten in die Pflicht nehmen Die Alterung der Gesellschaft stellt auch die gesetzliche Krankenversicherung vor erhebliche Probleme. Arte Patienten verursachen überproportional hohe Kosten, die durch die Versicherungsbeiträge der Rentner nicht gedeckt sind. Um diese Belastungen aufzufangen, muss der teils noch üppige Leistungskatalog der Krankenkassen für alle weiter abgespeckt werden. Andernfalls müssten die Beiträge noch stärker ansteigen. Eine Rundum-sorglos-Versorgung aus dem Gemeinschaftstopf ist nicht mehr zu bezahlen. So ist fraglich, ob etwa Kuren, Abtreibungen ohne medizinische Notwendigkeit, künstliche Befruchtungen, Sterilisationen oder Schlankheits- und Potenzmittel von der Solidargemeinschaft zu tragen sind. Auch Risikosportler oder Raucher müssen befürchten, Die Verwaltungsausgaben der Kassen entsprechen stärker an den Folgen ihres Tuns beteiligt zu einem Drittel des deutschen Arzneibudgets werden.
So waren auch die Gepflogenheiten bei der Kassenärztlichen Vereinigung Koblenz, bis Prüfärzte bei Routinekontrollen Berge von zweifelhaften Rechnungen entdeckten. Diesmal funktionierte das Vertuschungssystem nicht. Im November 2000 durchsuchte eine Hundertschaft Polizisten das Gebäude der Ärzte-Selbstverwaltung, durchforstete Schreibtische und zog mit Kisten voller Disketten und Akten wieder ab. Die Presse buchstabierte danach „KV" wie „Kriminelle Vereinigung". Noch laufen die Ermittlungen gegen 60 Ärzte und führende Funktionäre wegen Betrugs und Vertuschung. Die Prüfärzte wurden von Kollegen als „Nestbeschmutzer" beschimpft und von ihrem Amt entbunden. Bei einem flogen Steine durchs Fenster. Und die KV Koblenz bekam einen neuen Chef- Dr. med. Michael Kann, ein engagierter Mitvierziger, der das ramponierte Image reparieren will. Vormittags kümmert sich der bärtige Landarzt um seine Patienten in einer kleinen Westerwaldgemeinde. Wenn nachmittags ein Praxisvertreter die Stellung hält, organisiert Kann in Koblenz Weiterbildungszirkel, Qualitätskontrollen, Gesundheitsförderung an Grundschulen und eben die Honorarauszahlungen an die Kollegen. Alles für 4500 Euro Aufwandsentschädigung monatlich. Das ist vergleichsweise bescheiden. Andere Provinzfürsten der Kassenärztlichen Vereinigungen kassieren richtig ab: Der Ex-Chef der KV von Sachsen-Anhalt, Klaus Penndorf, bekam neben rund 9000 Euro monatlich noch 800000 Euro Übergangsgeld, das ihm das Landessozialministerium schließlich kürzte. Solche Zuwendungen gehen vom Einkommen der niedergelassenen Ärzte ab, die alle Zwangsmitglieder in einer der 23 KVen sind. Den meisten Bundesländern reicht eine solche Körperschaft des öffentlichen Rechts. Rheinland-Pfalz leistet sich vier. Alle Versuche, die zusammenzulegen, scheiterten. Dann fielen ja drei Vorstandsriegen weg. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat allen Grund, sich um das Image ihrer Zunft zu sorgen. Im Jahr 2000 wurden 17 368 Fälle von Verdacht auf Abrechnungsbetrug bekannt und 2001 noch einmal 4695. In diesem Sommer legte die KBV deshalb verschärfte Prüfverfahren vor. Bei der KV in Koblenz wird seitdem jeder der 2,5 bis drei Millionen Honorarscheine, die von Kassenärzten pro Quartal eingereicht werden, von den Mitarbei-
WELCHE KASSE IST DIE RICHTIGE?
Im Labyrinth des Wettbewerbs Durch die richtige Wahl der Krankenkasse lässtsich viel Geld sparen. Der Wechsel zu einer privaten Versicherung muss allerdings wohlüberlegt sein Gesetzliche Krankenversicherung Seit 1996 können die Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) beliebig zwischen den 355 gesetzlichen Kassen des Systems wechseln. Da deren Leistungen fast identisch sind, lohnt das vor allem wegen teils beträchtlicher Beitragsdifferenzen, allenfalls noch wegen Unterschieden beim Service und der Erreichbarkeit. Günstige Betriebskrankenkassen (BKK) sind oft nur per Internet und Telefon zu erreichen. Die derzeit billigsten bundesweit vertretenen Kassen verlangen 11,9 (siehe Tabelle), die teuersten wie die AOK Bayern, Berlin und Saarland 14,9 Prozent vom Bruttoeinkommen. So lassen sich je nach Verdienst bis zu 1200 Euro pro Jahr sparen. Davon profitiert zur Hälfte der Arbeitgeber, da er den halben Beitragssatz zahlt. Wechseln ist einfach. Man kündigt schriftlich zum Ende des übernächsten Monats - also jetzt im November zum Ende Januar. Nach zwei Wochen muss die Bestätigung der alten Kasse vorliegen. Mit dem Bescheid meldet man sich bei der neuen Kasse an; mitversicherte Familienmitglieder wechseln automatisch mit. Jede gesetzliche Kasse muss einen Neuling ohne Gesundheitsprüfung aufnehmen. Die Bindungsfrist beträgt für Pflichtversicherte 18 Monate. Die Zweimonatsfrist gilt auch für sie wieder, wenn die Kasse die Beiträge erhöht. Damit ist jederzeit zu rechnen. Da werden sparsame Kunden schnell zu Nomaden.
Private Krankenversicherung Wer im nächsten Jahr mehr als 3825 Euro brutto im Monat verdient, kann in eine private Krankenversicherung (PKV) wechseln. Die Privaten locken vor allem junge, gesunde, männliche Singles mit günstigen Prämien und besseren Leistungen. Beim Marktführer DKV zum Beispiel kostet die Police für einen 30-jährigen Mann monatlich 285 Euro, für eine gleich alte Frau 399. Kleinere Private wie die HUK-Coburg bieten ähnliche Policen für 234 beziehungsweise 317 Euro an. Es gibt Hunderte verschiedener Tarife mit erheblichen Leistungsdifferenzen: Jeder kann sich seinen Tarif maßschneidern lassen. Wie hoch soll die Erstattung bei Zahnersatz sein? Will man Krankentagegeld, im Krankenhaus ein Einzelzimmer, Chefarztbetreuung, weltweiten Versicherungsschutz, Heilpraktikerbehandlung? Tarife mit 300 Euro Selbstbeteiligung im Jahr sind monatlich 30 bis 40 Euro billiger. Und wer ein Jahr lang keine Rechnungen einreicht, bekommt ein bis zwei Monatsbeiträge zurück. Für Alleinverdiener mit Familie ist die GKV oft dennoch die bessere Wahl, weil bei den Privaten jedes Familienmitglied extra versichert werden muss. Ältere Wechsler zahlen sehr hohe Prämien. Vorerkrankungen kosten Risikoaufschläge. Wer bei den Fragen nach seinem Gesundheitszustand mogelt, riskiert eine Kündigung. Der Wechsel zwischen Privaten wird teuer, denn in der PKV bildet man mit seinem Beitrag eine Altersrückstellung, die beim Wechsel nicht mitgenommen werden kann. In der PKV steigen die Prämien im Alter oft erheblich. Manche Billigprämien sind Köderangebote, Hitlisten von Versicherungsmaklern nicht unbedingt objektiv. Als gute Privatversicherer ermittelte die Stiftung Warentest unter anderem die HUK-Coburg, Alte Oldenburger, Arag, Debeka, HallescheNationale, LVM und DBV-Winterthur. Sie sucht auf Anfrage auch gegen Gebühr eine individuell passende Versicherung (Stiftung Warentest, Analysen PKV, 10773 Berlin) Mehr Infas Im Internat www.stlftung-warentest.de Unter „Versicherung + Vorsorge" lässt sich die monatlich aktualisierte Liste aller Beiträge in der GKV kostenpflichtig herunterladen www.stern.de/krankenverslchentng Großes Extra zum Thema Gesundheitswesen
tern der Abteilung Abrechnungsprüfung systematisch kontrolliert. Alle Abrechnungen laufen im Computer durch eine Prüfsoftware, die den Kontrolleuren am Bildschirm Ungereimtheiten mit drei Frage/eichen anzeigt. Das passiert, wenn ein Augenarzt Hühneraugenbehandlungen abrechnet oder wenn bei einem Patienten drei gebrochene Ellbogen geschient wurden. Es erscheinen drei Fragezeichen, wenn auf einem Honorarzettel eine „ausführliche ärztliche Beratung bei nachhaltig lebensverändernder oder lebensbedrohender Erkrankung" abgerechnet und dem Patienten danach ein Schnupfenspray verschrieben wurde. Oder wenn ein Gynäkologe die EBM-Ziffer 100 - „Mutterschaftsvorsorge" für 1850 Punkte - ankreuzt und gleichzeitig noch eine Ultraschalluntersuchung für 400 Punkte, denn die ist Teil der Vorsorge. „Es mussten folgende Korrekturen vorgenommen werden..." heißt es dann im standardisierten Abrechnungsbescheid. Feinere Tricks fallen seltener auf. Wenn sich etwa die Kollegen in Praxisgemeinschaften gegenseitig ihre Patienten zuschieben und jeder noch einmal deren Chipkarten durchzieht, bleibt das oft unentdeckt. Problemfälle landen vor einem Prüfungsgremium, das paritätisch mit Kassen- und KV-Vertretern besetzt ist. Für Bockemühl eher eine Show von Koloss II: „Wir bekommen ja nur die in der KV aufbereiteten Zahlen. Das ist, als wenn der TÜV seine Mängelliste nur der betroffenen Autofirma zeigt, den Käufern aber eine geschönte Bilanz." Das wollen die Ärztefunktionäre freiwillig auch nicht ändern. „Wer die Daten hat, hat die Macht", sagt der stellvertretende KBV-Hauptgeschäftsführer Andreas Köhler. Das System soll bleiben, wie Bismarck es geschaffen hat. Notfalls schickt die KBV dafür ihre Ärzte auf die Straße und animiert zum Arbeitsboykott. Um sich bei den Patienten beliebt zu machen, die zumeist mit dem Kürzel „KV" wenig anfangen können, hängt seit neuestem in vielen Praxen ein Werbe plakat der Kassenärztlichen Vereinigung: ein Damen-Po mit einem rosa Pflaster. Darunter der Slogan „Damit Ihnen nichts fehlt, wenn Ihnen etwas fehlt". Die eroti sche Sympathiewerbung kostet allein &n dieses Jahr 2,1 Millionen Euro. Ctfl
Lesen Sie Im nächsten stern: Wie die Pharmaindustrie Krankenkassen und Patienten schröpft
DAS GESUNDHEITSWESEN - TEIL 4: DIE PHARMAINDUSTRIE
DIE PILLENANDREHER Mit einem Heer von Vertretern und einem Füllhorn voller Aufmerksamkeiten schaffen es die Arzneimittelkonzerne, ihre Medikamente in die Praxen zu bringen - und damit an die Kranken. 50000 Präparate überschwemmen den deutschen Markt, viele davon sind zu teuer oder ganz überflüssig
Von ANIKA GEISLER, HORST GÜNTHEROTH und MARCUS VOGEL (Fotos)
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tellen Sie sich vor, es klingelt an Ihrer Tür. Etwa 170-mal im Jahr. Und jedes Mal ist es ein Staubsaugervertreter. Mal versucht er, Ihnen das Modell „Ecken-King" anzudrehen, mal den neuen „Bodengold" und mal die Innovation „Clean Champion". Würden Sie sich jedes Mal das Gequatsche aufs Neue anhören? Ihren Saugerpark bis zum Gehtnichtmehr aufrüsten? Bestimmt würden Sie ziemlich bald durchdrehen und der Nervensäge die Tür vor der Nase zuschlagen. Wenn Sie Arzt sind, haben Sie das Problern - mit den Pharmareferenten. Mensehen, die immer lächeln und Köfferchen
voller Tabletten und Dragees, Cremes und Salben in Praxis und Klinik präsentieren. Immer unterwegs im Dienste der Arznei konzerne. Etwa 15 000 von ihnen ziehen Tag für Tag durch die Republik und machen allein den rund 120000 niedergelassenen Medizinern ihre Aufwartung - eine regelrechte Landplage. Jährlich 20 Miüionen Stippvisiten spult das Heer der PillenPusher ab - das sind durchschnittlich 170 Besuche pro Doktor, Der aufgeblähte Außendienst rentiert sich: Pharma ist kerngesund. Konjunkturellen Einbrüchen zum Trotz wachsen die Umsätze der profitabelsten Industrie der Welt weiter. Mehr als 21 Milliarden -»
Ein Dschungel aus PseudoInnovationen Euro gaben allein die gesetzlichen Kassen im vergangenen Jahr für Medikamente aus vier Milliarden Euro mehr als noch fünf Jahre zuvor und fast ebenso viel wie der Etat des Bundesverteidigungsministeriums. Erstmals überstiegen damit die Medikamentenkosten die Ausgaben der Krankenkassen für Arzthonorare. DAS SORTIMENT IST RIESIG.
Cholesterinsenker und DiabetesTabletten, Schmerz-und Hochdruckmittel, Herz- und MagenArzneien, Stimmungsauiheller und Einschlafpillen, Hämorrhoiden- und Fußpilzsalben quellen aus den Regalen, jeweils zigfach. Rund eine Milliarde Schachteln, Tuben und Fläschchen gehen Jahr für Jahr über die Tresen der knapp 22000 Apotheken im Land. So gelang es den Apothekern im vergangenen Jahr, gegen den allgemeinen Trend eine Steigerung ihres Einkommens zu erwirtschaften. Pharma ist ein undurchsichtiger, überfrachteter Markt, der ausgemistet werden muss, um mehr Klarheit für den verschreibenden Doktor zu schaffen und die Beitragszahler zu entlasten. „20 Prozent der Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Kassen könnten eingespart werden, ohne dass die medizinische Versorgung leidet", sagt der Heidelberger PharmakologieProfessor Ulrich Schwabe. „Das macht 4,2 Milliarden Euro im Jahr." Doch wie können Einsparungen durchgesetzt werden? Vom Sommer 2003
Die Produktion von Pillen und Kapseln läuft
Rund eine Milliarde Arzneien gehen pro Jahr über die Tresen der 22 000 Apotheken
an soll in Deutschland eine Arzneimittel-Positivliste gelten, so jedenfalls will es Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Allerdings mögen viele Experten kaum daran glauben - seit Ewigkeiten geistert die Idee einer solchen Pillen-Bibel durch Politikerhirne und wurde doch nie Realität -zu heftig war der Widerstand der Lobbys. Die Liste soll die Spreu vom Weizen trennen. Sie ist ein von Spezialisten zusammengestelltes Verzeichnis aller Arzneien, deren Nutzen als wissenschaftlich erwiesen gilt und die künftig einzig noch zulasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden dürfen. Auch homöopathische und anthroposophische Mittel stehen darauf, müssen aber nicht solch strengen Auswahlkriterien genügen.
Immerhin soll mit Hilfe der Positivliste und geänderter Zulassungsverfahren das gigantische Angebot von derzeit 50 000 erstattungsfähigen Präparaten auf rund 20000 reduziert werden. Kränker wird dadurch keiner: In Schweden haben Ärzte und Patienten nur die Wahl aus 3500 Arzneien, in Frankreich aus 7700. Eine Radikalkur gegen die deutsche Pillenflut ist das anvisierte Tabletten-Register allerdings nicht. Auch mit ihm wird es für jede Krankheit alles noch x-fach geben, mit nahezu identischen Wirkungen. Auch dann noch werden beispielsweise Dutzende BetaBlocker und ACE-Hemmer gegen Bluthochdruck sowie ganze Sortimente von Schmerztabletten um die Gunst von Arzt und Patient konkurrieren. Das treibt die Kosten für Vertriebslogistik, Lagerhaltung und Personal in die Höhe, die dann an den Kunden weitergegeben werden. Dringend muss auch der Dschungel der so genannten PseudoInnovationen gelichtet werden. Denn Pharmafirmen bringen regelmäßig teure, angeblich revolutionär wirkende Medikamente heraus, die sich in Wahrheit nur unwesentlich von ihren Vorgängern unterscheiden. Allein im Jahr 2001 wurden in Deutschland 2496 neue Arzneien zugelassen. Oftmals liegt diesen „Neuerungen" kaum Forschungsfortschritt zugrunde. „Fast alle der Wirkstoffe, die jedes Jahr auf den deutschen Markt kommen, sind nur minimale und klinisch irrelevante Veränderungen der alten", sagt Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des Berliner „Arznei-Telegramms", eines pharmakritischen Info-Blattes für Ärzte. „In den letzten fünf Jahren gab es nicht mal ein halbes Dutzend pharmakologische Entwicklungen, die wirklich relevant waren." Doch alle anderen Neuen sind, sofern patentgeschützt und zugelassen, den wenigen echten Innovationen gleichgestellt: Der Hersteller legt den Preis fest, die Kasse muss ihn erstatten. Für Mittel, deren Exklusivrecht abgelaufen ist, zahlt die Kasse dagegen deutlich weniger. -»
Professoren vor dem Karren der Industrie Hinter mancher vermeintlichen Wunderwaffe aus dem Labor verbirgt sich lediglich ein generalüberholtes Alt-Konzept. Wenn nämlich Patente bestimmter Produkte auslaufen, können sie auch von der Konkurrenz hergestellt werden. Der Preis verfällt. Also muss brandheiße Ware her: Nur mit einem neuen Mittel für dieselbe Anwendung lässt sich die Marktbeherrschung verteidigen und sogar ein noch höherer Preis rechtfertigen. Und tatsächlich - der Trend geht zum Teuren: Zwar griffen die Ärzte, wie von Gesundheitsministern und Kassen gewünscht, immer seltener zum Rezeptblock. So ging die Zahl der Verschreibungen seit 1992 um 30 Prozent zurück. Doch in derselben Zeit wurde das Durchschnittsrezept um 78 Prozent teurer. MIT GIGANTISCHEM AUFWAND drücken die Firmen ihre Pillen in die Schubladen von Medizinern und Apothekern. Etwa 30 Prozent ihres Umsatzes, über zehn Milliarden Euro, investiert die Branche in Marketing und Vertrieb, mehr als doppelt so viel wie in Forschung und Entwicklung. Hauptwaffe: die Schar geschulter und spendabler Vertreter, die Hausbesuche machen und die Vorzüge ihres Kofferinhalts preisen; die neben Probepackungen allerlei Kugelschreiber und Notizblöcke mit fettem Produktnamen dalassen und die willigen Opfer zum Lunch ausführen. Besonders gut zum Ködern eignen sich auch luxuriöse Reisen. So lud im Sommer Als Neukreationen aus dem Labor kommen
Kein Besuch ohne Mitbringsel: Der Pharmareferent gibt dem Doktor Probepackungen
2000 eine Pharmafirma Rheuma-Ärzte samt Ehegatten an die Cöte d'Azur, dort wurde der Trupp in feinsten Hotels einquartiert, mit Besichtigungstouren und Galadiners verwöhnt. Der offizielle Anlass: ein europäischer Rheumakongress. Sehr beliebt sind auch Pseudo-Fortbildungen mit Segeltörns oder Einladungen zum Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft. Ein anderer Dreh der Branche heißt „Anwendungsbeobachtungen". Die Firmen bitten Ärzte, einer Reihe von Patienten ihr Medikament zu geben und die Wirkung per Fragebogen zu kontrollieren - gegen Honorar für den Mehraufwand des Doktors, versteht sich. So ließen sich wissenschaftliche Erkenntnisse über die neue Arznei gewinnen, heucheln die Hersteller. Doch in Wahrheit ist das oft nichts anderes als Produkt-Promotion,
bei der der Arzt lernt, den Namen des Medikamentes zu verinnerlichen und der Patient darauf fixiert wird. Die Ergebnisse der wissenschaftlich zweifelhaften Mini-Befragungen tauchen so gut wie nie in Fachpublikationen auf. Obendrein schafft es die Pharmaindustrie immer wieder, Professoren vor ihren Karren zu spannen, die ihre Produkte wissenschaftlich verbrämt in den Himmel heben. „Die Bereitschaft mancher Honoratioren, bei solch einer Korrumpierung der Wissenschaft mitzumachen, ist haarsträubend", sagt Wolfgang Becker-Brüser. „Als Handlanger der Industrie schädigen diese habilitierten Phar-mareferenten den gesamten ärztlichen Berufsstand." Wie aber kontrolliert die Branche, ob ihre „Behandlungsmethoden" bei den Ärzten auch die erwünschte Wirkung zeitigen? Dabei hilft ein raffiniertes System: Die Apotheken erfassen alle Rezepte inklusive Angabe des ausstellenden Arztes und leiten die Daten an ein Apotheken-Rechenzentrum weiter, das eigentlich feststellen soll, wie viel die Krankenkasse für die Verordnungen zu zahlen hat. So weit okay. Dann verkauft ^es jedoch die Angaben - anonymisiert natürlich - an Datenhändler. Aus der Kombination verschiedener, mäßig verschleierter Informationen erzeugen diese Spezialisten eine Auswertung, die sich die Pharmaindustrie viel Geld kosten lässt. Es ermöglicht den Arzneimittelproduzenten, sich quasi online zusammenzureimen, welcher Arzt wann was verordnet. Fertig ist das Instrument zur Kontrolle des MarketingErfolgs. Gegen diese perfekt organisierte Pharma-Connection stemmt sich ein kleine Schar hartnäckiger Kritiker. So informiert beispielsweise das Berliner „Arznei-Telegramm" (Auflage 30 000 Stück) Ärzte monatlich über Sinn und Unsinn von Präparaten und die Machenschaften der Hersteller. Zudem gibt die Redaktion regelmäßig das „Arzneimittelkursbuch"* heraus, in dem Medika- -» "Arzneimittel-Verlags-GmbH Berlin, 2464 Seiten, 109 Euro
ERSTE HILFE
Erster Schritt Positivliste Rund 50000 Arzneimittel werden derzeit in
Wege aus dem Pharma-Sumpf Milliarden könnten gespart werden, wenn der Arzneimittelmarkt gründlich entrümpelt würde. Fünf Schritte in die richtige Richtung Deutschland von der Kasse erstattet. Diese Zahl muss drastisch reduziert werden, durch die so genannte Positivliste - ein von Experten zusammengestelltes Verzeichnis aller Arzneien, deren Nutzen als wissenschaftlich erwiesen gilt. Kommt der Entwurf von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt Mitte
Dritter Schritt Innovationen kritisch hinterfragen Die große Mehrheit der neuen Medikamente, die auf den Markt kommen, sind gar keine echten Neuerungen. Meist handelt es sich um Kreationen der Pharmaindustrie, die sich nur unwesentlich von ihren Vorgängern unterscheiden, aber praktisch ebenso teuer sind („Metoo-Präparate"). Derzeit werden alle neu patentierten Arzneimittel bei der Kassenerstattung gleich behandelt, egal, ob sie große oder marginale Fortschritte in der Therapie bringen. So wird nicht nur der belohnt, der die Medizin voranbringt, sondern auch der Nachahmer. Das muss anders werden. Ärzte und Kranke sollten dieser Marketing-Strategie nicht auf den Leim gehen.
Vierter Schritt Mehrwertsteuer auf Medikamente senken
nächsten Jahres durch, bleiben etwa 20 000 Medikamente übrig, immer noch mehr als genug - in Schweden zum Beispiel haben Ärzte und Patienten nur die Wahl aus 3500 Arzneien. Dadurch geht es ihnen nicht schlechter. Zweiter Schritt Billigere Altemativpräparate Viele Arzneistoffe sind in wesentlich billigerer Form erhältlich als unter ihrem angestammten Produktnamen -teilweise um bis zu 70 Prozent. Diese so genannten Generika sind in der Wirkung ebenso gut. Arzt, Apotheker und Patient müssen häufiger als bisher zu diesen Alternativen greifen.
An jedem Arzneimittel verdient der Staat kräftig mit: 16 Prozent Mehrwertsteuer werden kassiert, mehr als in beinahe allen übrigen Ländern Europas. Im vergangenen Jahr brachte dies dem Fiskus 2,9 Milliarden Euro ein. Das belastet die Krankenkassen und damit die Beitragszahler. Der Steuersatz sollte auf sieben Prozent gesenkt werden, wie etwa bei Büchern und Lebensmitteln.
Fünfter Schritt Bessere Pharma-Bildung für Arzte Schon Medizinstudenten sollten lernen, was sie später erwartet: Der zweifelhafte Charakter der „Vielfalt" auf dem deutschen Arzneimittelmarkt muss ihnen klar erläutert werden. Die Mechanismen des Marketing müssen transparent gemacht werden, um künftige Mediziner gegen Beeinflussungsversuche zu immunisieren. Viele Ärzte sind nicht in der Lage, wissenschaftliche Studienergebnisse unabhängig zu interpretieren.
mente für Mediziner und versierte Laien bewertet werden. Am wirksamsten allerdings wäre wohl, wenn Doktoren schon vor Berufsantritt gegen den „Pharma-Bazillus" immunisiert würden. „Die dringendste Reform des Medizinstudiums wäre es, Studenten gründlich in der Abwehr der Fehlinformationsversuche der Arzneimittelindustrie zu unterrichten", sagt der Bremer Pharmakologie-Professor Peter Schönhöfer. Immerhin gibt es erste MitmachAnsätze in der praktizierenden Medizinerschaft: So schreiben viele Ärzte statt des Medikamentennamens nur noch den Wirkstoff aufs Rezept, beispielsweise Acetylsalicylsäure statt Aspirin - in der Hoffnung, dass der Apotheker dann das billigste Präparat heraussucht. Doch auch der ist keineswegs gegen die Verführungskünste seiner Lieferanten gefeit, die ihm gern verlockende Rabatte für bestimmte Arzneien gewähren und mit anderen Annehmlichkeiten das Leben versüßen. UND FALLS DER MARKT nicht artig wachsen will, lohnt es sich durchaus, ein ganz neues Segment zu eröffnen. So kreiert man neue Krankheiten und gar Epidemien, um sogleich das passende Mittel parat zu haben. Beispiel: Im Zuge eines Werbefeldzugs für ein Potenzmittel wurde in einer Anzeige behauptet: „39 Prozent aller Männer, die einen Arzt aufsuchen, haben Erektionsprobleme." So sollte das Stehproblem zur Volkskrankheit aufgebauscht werden. Verschwiegen wurde jedoch, dass es sich bei der Zahl keinesfalls nur um chronische Hänger handelte, sondern dass auch jede Menge einmalige Abschlaffer mitgezählt wurden. Es lässt sich eben auch noch ein Batzen Geld damit verdienen, gesunden Menschen einzureden, sie seien krank. Mehr Infos bei stern.de www.stern.de/krankenversicherung Großes Extra zum Thema Gesundheitssystem
Auf den folgenden Seiten: Pharma-Manager Stefan Oschmann und Gesundheitsökonom Karl Lauterbach über den Arzneimittelmarkt und die Schwachstellen des Gesundheitswesens
marktung Ihrer Produkte jedoch 3,8 Milliarden, mehr als doppelt so viel. Die Kostensteigerung wird also durch Marketing, nicht durch Forschung verursacht.
Teure
Oschmann (r.) im Gespräch mit den stern-Redakteuren Christoph Koch und Walter Wüllenweber
„ICH NENNE DAS VOODOO-MEDIZIN" Medikamente sparen Kosten im Gesundheitswesen. Das glaubt jedenfalls Stefan Oschmann, Geschäftsführer von MSD, einer Tochter des US-Pharmakonzerns Merck. In Deutschland, sagt er, werde das Geld jedoch für veraltete Arzneimittel verschwendet
Nirgendwo Im deutschen Gesundheitswesen steigen die Kosten so rasant wie bei den Arzneimitteln. Zwischen 1994 und 2001 haben sich die Ausgaben für Medikamente von gut 15 Milliarden Euro auf 21 Milliarden gesteigert. Warum bekommt die Pharmaindustrie so viel mehr Geld? Die älter werdende Bevölkerung braucht mehr und bessere Medikamente. Heute können wir da heilen, wo es vor Jahren keine Hoffnung gegeben hat. Die Kehrseite ist: Die Qualität in unserem Gesundheitswesen hat in den vergangenen 15 Jahren im internationalen Vergleich sehr stark nachgelassen. Würden wir eine Pisa-Studie für das Gesundheitssystem machen, dann kämen wir zu ähnlich katastrophalen Ergebnissen wie bei den Schulen. Selbst im viel geschmähten britischen System erhalten die Patienten eine bessere Versorgung mit modernen Medikamenten. Wir in Deutschland dagegen verschreiben die ältesten Arzneimittel in Europa. Lediglich ein Viertel der verwendeten Medikamente sind neue Produkte.
Alte Präparate sind doch billig. Dann müssten wir doch eigentlich Geld sparen. Aber die Kosten steigen.
Das müsste nicht sein. Generika, also Produktkopien, für deren Originale der Patentschutz abgelaufen ist, sind in Deutschland viel teurer als in anderen Ländern. Außerdem leisten wir uns den Luxus, Geld für veraltete, nicht effiziente Arzneimittel auszugeben, die nach EU-Recht gar nicht mehr zulassungsfähig wären. Ich nenne das Voodoo-Medizin. Wenn wir nur die aus dem Katalog nähmen, könnten wir eine Menge Geld sparen. Wir waren ja beinahe auf dem Stand eines Entwicklungslandes. Darum haben wir in den vergangenen Jahren einen ungeheuren Aufholprozess bei innovativen Produkten begonnen, damit wir im internationalen Vergleich den Anschluss nicht völlig verlieren. In dieser Phase steigen die Ausgaben natürlich im Vergleich zu früher. Dann müssen wir uns auf eine wertere Steigerung der Arzneimittelkosten einstellen? Sie werden verstehen, dass ich daran nichts verkehrt finde. Aber das nützt ja nicht nur der pharmazeutischen Industrie. Bessere Arzneimittel verursachen womöglich mehr Kosten für Arzneimittel, aber sie können die Gesamtkosten im Gesundheitswesen reduzieren, weil sie zu Einsparungen in anderen Bereichen führen. Sie können Krankheiten verhindern und damit auch spätere Behandlungskosten. Und sie können schneller heilen als frühere Methoden. Das spart Arzt- oder Krankenhauskosten. Beides nützt nicht nur dem Patienten, es schont auch die Kassen der Krankenversicherungen. Für die Erforschung neuer Medikamente gibt die Arzneimittelindustrie hierzulande rund 1,8 Milliarden Euro aus. Für die Ver-
Keine andere Industrie gibt anteilig so viel für Forschung aus wie die pharmazeutische Industrie. Aber noch mehr Investieren sie In Werbung. Und das, obwohl der Patient In der Regel gar nicht entscheidet, welches Produkt von seinem Geld gekauft wird. Das machen die Ärzte für ihn. Also Ist fast ihr gesamtes Marketing auf die Ärzte ausgerichtet, mit kleinen Geschenken und großen Reisen zu Kongressen. Sie werden mich für verrückt erklären, aber ich bin dafür, einen Nobelpreis für Pharmareferenten auszuschreiben. Wir in der forschenden Arzneimittelindustrie sind häufig viel weiter in der Erkenntnis, als es der Durchschnittsarzt sein kann. So wie BMW auch mehr über Antriebstechnologie weiß als die meisten Kfz-Mechaniker. Es gibt kaum ein Produkt, das beratungsintensiver ist als Arzneimittel. Die Pharmareferenten bringen den medizinischen Fortschritt aus den Labors über den Arzt an den Patienten. Wir führen gerade einen neuen Cholesterinsenker ein, mit einem ganz neuen Wirkungsmechanismus. Das muss ich dem Arzt erst mal erklären. Warum setzen dann Hersteller von bekannten Produkten, die schon seit Jahren verwendet werden, besonders stark auf Marketing? Das verstehe ich auch nicht. Was das Marketing bei Generika soll, warum GenerikaFirmen überhaupt einen Außendienst unterhalten, ist mir auch unbegreiflich. Wenn der Arzt nicht mit neuen Erkenntnissen, aber mit kleinen Geschenken dazu gebracht werden soll, aus einer Vielzahl nahezu identischer Präparate für den Patienten ein ganz bestimmtes auszusuchen, dann Ist das doch Korruption. Wir müssen die Misstände, die es hier zweifellos gibt, beseitigen und den Arzt mit Wissenschaft und Medizin überzeugen, nicht mit Zuwendungen. Die Frage ist für mich nicht, machen wir Marketing oder nicht, sondern, wie machen wir es. Ich wäre dafür, wenn es für die Arbeit der Pharmarefenten strikte Regeln gäbe. Glauben sie ernsthaft, dass sich so etwas in Deutschland durchsetzen ließe? Ich bin zuversichtlich, dass wir schon in naher Zukunft zu einem verbindlichen Verhaltenskodex kommen werden.
E
s darf nicht sein, dass im deutschen Gesundheitssystem nur vom Geld geredet wird, sodass kurzfristige finanzielle Engpässe von sehr großen dauerhaften Qualitätsdefiziten ablenken. Zwar muss erreicht werden, dass die Beitragssätze der Krankenkassen nicht mehr von der Konjunktur abhängen. Sie müssen für schlechte Zeiten Reserven aufbauen. Wir geben aber bereits jetzt in Deutschland mehr als unsere europäischen Nachbarn für Gesundheit aus und haben eine schlechtere Versorgung. Es sind radikale Reformen notwendig, sonst ist unser solidarisches System in wenigen Jahren diskreditiert und wird privatisiert, was sich leider nicht wenige wünschen. Meine wichtigsten Forderungen lauten deshalb: • Alle im selben Boot: Beamte, Selbstständige und Politiker sollten in die gesetzlichen Krankenkassen mit einbezogen werden. Ein Gesundheitssystem, in dem sich die Meinungsführer der Gesellschaft nicht mitversichern, macht keinen Sinn. Das ist eine Form der Zwei-Klassen-Medizin, die es sonst in Europa nirgendwo gibt. Ohne diese Meinungsftihrer mit im Boot zu ha-
ben, kommen die Versicherten gegen die Lobbygruppen im System nicht an. Herr Seehofer denkt, weil er als Privatpatient gut behandelt wurde, gäbe es keine Probleme in der gesetzlichen Krankenversicherung. • Transparenz: Ein Bundesinstitut muss wie eine Art Stiftung Warentest im Ge sundheitswesen Arzneimittel und die wichtigsten Behandlungsmethoden be werten. Dann kann sich jeder Laie über seine Krankheit zuverlässig informieren. Die häufigsten Abweichungen von der op timalen Versorgung in Deutschland sollten klar benannt werden. • Qualitätswettbewerb: Die Kassenärztli chen Vereinigungen haben verhindert, dass Krankenkassen oder Patienten über die Qualität einzelner Ärzte informiert werden. Außerdem bekommen gute und schlechte Ärzte das gleiche Honorar. Die Krankenkassen müssen Ärzte und Klini ken auf der Grundlage ihrer Qualität emp fehlen können. In überversorgten Gebie ten sollten sich Kassen die besten Ärzte aussuchen können. • Schluss mit Masse statt Klasse: Unser Ge sundheitssystem ist geprägt durch zu viele
„MACHT SCHLUSS MIT MASSE STATT KLASSE" Karl Lauterbach, Professor für Gesundheitsökonomie in Köln und Berater der Bundesregierung, bringt seine Vorschläge zur Generalüberholung des Gesundheitssystems auf den Punkt
Leistungen von niedriger Qualität. Wir haben so viele Röntgenuntersuchungen, dass auf ein Drittel verzichtet werden könnte. Die Hälfte der Aufnahmen ist minderwertig. Mehr Arztbesuche als in Deutschland gibt es in fast keinem anderen Land, aber der einzelne Arztbesuch dauert nur sechs Minuten. Das Honorarsystem muss so geändert werden, dass es nur noch notwendige Behandlungen gibt, die dann mit hoher Qualität erbracht werden können und auch besser bezahlt werden müssen. • Weniger Bürokratie: Qualitätswettbe werb der Krankenkassen wird deren An zahl von derzeit über 400 deutlich reduzie ren. Nur Daten, die für die Abrechnung und die Qualitätskontrolle notwendig sind, sollten gesammelt werden. Kassen ärztliche Vereinigungen sind eine bürokra tische Hürde zwischen Kasse und Arzt, die Transparenz verhindert und Reformen blockiert. • Mehr Spezialisierung: 75 Prozent der Krankenhäuser, die in Deutschland Pros tatakrebs operieren, haben nicht die opti male Erfahrung. Kleine Abteilungen arbei ten an zu komplizierten Krankheiten. Spe zialisten sollten nicht weiter mit leichten Fällen von Privatpatienten ausgelastet wer den, sondern nur die schweren Fälle be handeln. Sie müssten als Krankenhausärz te ihre Patienten nach der Entlassung auch ambulant weiter betreuen dürfen. • Weniger Scheininnovationen: Kosten steigerungen gehen meist auf Arzneimittel und Therapien zurück, die minimal besser und maximal teurer sind. Die Preise der gesetzlichen Kassen müssen marktgerecht sein, das heißt, dass kleine Verbesserungen auch nur wenig mehr kosten dürfen. • Chronisch Kranke stärken: 80 Prozent der Kosten werden durch 20 Prozent der Versicherten verursacht. Diese, meist chro nisch krank, werden in Deutschland relativ teuer und relativ schlecht versorgt. Sie ster ben bei uns früher als im europäischen Durchschnitt. Durch Schulungen und ei nen hohen Therapiestandard in gezielten Programmen kann hier die größte Reser ve an Lebensqualität gehoben werden. Das Angebot solcher Programme ist die wich tigste Aufgabe der Krankenkassen. • Bündnis für Prävention: Gewerkschaf ten, Arbeitgeber, Kommunen, Ärzte und Krankenkassen haben ein gemeinsames Interesse an Prävention. Der Erfolg der Prävention von heute ist der Gesundheits zustand unserer Bevölkerung von morgen.