Ken Wilber
Das Wahre, Schöne, Gute Geist und Kultur im 3. Jahrtausend
Aus dem Amerikanischen von Clemens Willhelm
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Ken Wilber
Das Wahre, Schöne, Gute Geist und Kultur im 3. Jahrtausend
Aus dem Amerikanischen von Clemens Willhelm
Wolfgang Krüger Verlag
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel "The Eye of Spirit. An Integral Vision for a World Gone Slightly Mad" im Verlag Shambhala, Boston © Ken Wilber 1997 Deutsche Ausgabe: © 1999 Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main Lektorat: Stephan Schumacher Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1999 ISBN 3-8105-2330-5
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Inhalt Vorwort: Eine integrale Sicht von Geist und Kultur................................. 1 An den Leser: Über Gott und Politik...................................................... 7 Einleitung: Ein integrales Verständnis des Wahren, Schönen, Guten ..... 14 Das Gespenst in der Maschine...................................................... 15 Inneres und Äußeres ................................................................... 17 Würdigung beider Wahrheiten: Der integrale Ansatz...................... 21 Die vier Antlitze der Wahrheit....................................................... 24 Wahrheit............................................................................... 25 Wahrhaftigkeit ...................................................................... 25 Funktionelles Passen.............................................................. 28 Gerechtigkeit......................................................................... 28 Die Gültigkeit integraler Erkenntnis............................................... 30 Ich, Wir und Es ........................................................................... 31 Flachland .................................................................................... 33 Das Elend der Verleugnung.......................................................... 35 Szientismus........................................................................... 36 Kultureller Konstruktivismus ................................................... 36 Der Reduktionismus der Systemtheorie................................... 37 Kulturelle Relativität .............................................................. 39 Nur Ästhetik .......................................................................... 40 Schlussfolgerung ................................................................... 41 Das Spektrum des Bewusstseins................................................... 41 Die großen Weisheitstraditionen................................................... 43 Schlussfolgerung ......................................................................... 47 Kapitel 1 Das Spektrum des Bewusstseins........................................... 48 Kapitel 2 Im Licht unserer Zeit ........................................................... 67 Kapitel 3 Auge in Auge ...................................................................... 88 Wo ist Gott?................................................................................ 89 Die Augen der Erkenntnis ............................................................ 92 Das Problem des Beweises........................................................... 92 Die spirituelle Injunktion annehmen ............................................. 95 Das Auge der Kontemplation........................................................ 96 Spirituelle Schulung und transzendente Daten............................... 98 Schlussfolgerung ....................................................................... 100 Kapitel 4 Eine integrale Theorie der Kunst (1) ................................... 104 Einleitung ................................................................................. 104 Kontexte in Kontexten ohne Ende............................................... 107 Bedeutung ist kontextabhängig .................................................. 110 Was ist Kunst? .......................................................................... 111
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Kunst ist im Schöpfer .................................................................112 Kunst ist in der verborgenen Absicht ...........................................114 Kunst ist im Kunstwerk...............................................................115 Kunst ist im Betrachter...............................................................117 Wo also genau ist Kunst? ...........................................................119 Kapitel 5 Eine integrale Theorie der Kunst (2)....................................122 Das Urholon der Kunst ...............................................................122 Unbewusste Absichten ...............................................................124 Das Spektrum des Bewusstseins .................................................125 Das Kunstwerk-Holon.................................................................127 Ein Paar abgetragener Schuhe....................................................129 Das Betrachter-Holon .................................................................134 Das Wunder, ich zu sein.............................................................136 Schlussfolgerung........................................................................140 Kunstbetrachtung ......................................................................141 Kapitel 6 Der wiedergewonnene Gott ................................................146 Kurze Zusammenfassung meines Bewusstseinsmodells ................146 Grundstrukturen und die Große Kette....................................147 Übergangsstrukturen............................................................148 Das Selbst und seine Drehpunkte..........................................149 Wilbers Modell ist streng linear und übersieht damit all die amorphen und nichtlinearen Aspekte des Lebens. ............151 Wilber schenkt den Konflikten auf den präegoischen Stufen zuwenig Aufmerksamkeit................................................153 Wilbers Modell leugnet das Selbst vollständig. .......................155 Das romantische Modell .............................................................157 Ursprüngliche Einbettung und der dynamische Urgrund ...............162 Kapitel 7 Wiedergeboren ..................................................................171 Die monologische Wissenschaft ..................................................171 Monologisches Bewusstsein ........................................................172 Perinatale Reduktion ..................................................................175 Drehpunkt 0 und Drehpunkt 6 ....................................................181 Frontale und psychische Entwicklungslinien .................................184 Kapitel 8 Integraler Feminismus........................................................191 Eine feministische Perspektive ....................................................191 Carol Gilligan .......................................................................191 Das durchlässige Selbst ........................................................194 Integraler Feminismus: Alle Ebenen und alle Quadranten .............195 Oben rechts (verhaltensmäßig) .............................................195 Unten links (kulturell)...........................................................196 Oben rechts (sozial) .............................................................198 Oben links (intentional) ........................................................200
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Weibliche Spiritualität ................................................................ 202 Männliche und weibliche moralische Tiefe ................................... 204 Kapitel 9 Wie gerade ist der spirituelle Weg?..................................... 207 David Bohm, Jenny Wade und das holonome Paradigma ............. 207 Die implizite Ordnung .......................................................... 212 Ebenen und Linien............................................................... 215 Gibt es Stufen der spirituellen Entwicklung? ................................ 218 Ströme und Wellen .............................................................. 219 Eine spirituelle Linie? ........................................................... 222 Spirituelle Ebene und spirituelle Linie.................................... 224 Spirituelle Stufen ................................................................. 226 Mehr Tiefe, weniger Spanne................................................. 227 Weisheit für alle?................................................................. 229 Das arme Selbst .................................................................. 230 Ist diese Reise wirklich notwendig?....................................... 231 Kapitel 10 Die Wirkungen der Meditation .......................................... 234 Vedische Psychotherapie und transzendentale Meditation ............ 234 Zustände, Stufen und Strukturen................................................ 235 Die Form der Entwicklung .......................................................... 238 Das eingebettete Selbst ....................................................... 241 Das Selbst-System............................................................... 244 Meditation und Entwicklung ....................................................... 245 Die Wirkung der Meditation auf das psychologische Unbewusste .................................................................. 245 Die Wirkungen der Meditation auf die menschliche Entwicklung .................................................................. 246 Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Entwicklungslinien ......................................................... 247 Die Wirkungen der Meditation auf eine bestimmte Entwicklungslinie ........................................................... 248 Schlussfolgerungen ................................................................... 250 Psychotherapie und Meditation: Eine integrale Therapie .............. 251 Psychologie und Spiritualität ...................................................... 254 Zusammenfassung .............................................................. 256 Zur Physiologie der Meditation ................................................... 257 Die Zukunft des Körpers ............................................................ 257 Kapitel 11 Auf dem Weg zum Omega-Punkt? .................................... 261 Wo ist das Heilige wirklich? ........................................................ 261 Wegweiser................................................................................ 263 Der idealistische Traum ............................................................. 268 Eine integrale Theorie des Bewusstseins ..................................... 270 Radikale Ökologie...................................................................... 274
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Den spirituellen Baum schütteln..................................................276 Der Punkt Omega ......................................................................278 Kapitel 12 Immer schon ...................................................................281 Die große Suche ........................................................................281 Dem Kósmos begegnen..............................................................283 Allgegenwärtiges Gewahren .......................................................286 Das Auge des GEISTES ..............................................................295 Und es wird alles ungeschehen gemacht .....................................298 Anmerkungen..................................................................................302 Einleitung ..................................................................................302 1. Das Spektrum des Bewusstseins .............................................305 3. Auge in Auge .........................................................................308 4. Eine integrale Theorie der Kunst (1)........................................309 5. Eine integrale Theorie der Kunst (2)........................................309 6: Der wiedergewonnene Gott ....................................................319 7. Wiedergeboren ......................................................................327 8. Integraler Feminismus............................................................334 9. Wie gerade ist der spirituelle Weg? .........................................344 10: Die Wirkungen der Meditation...............................................358 11: Auf dem Weg zum Omega-Punkt?.........................................367 12: Immer schon .......................................................................403 Literaturverzeichnis..........................................................................405 Colophon.........................................................................................418
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Vorwort: Eine integrale Sicht von Geist und Kultur Tony Schwartz, ehemaliger Reporter der New York Times und Verfasser des Buches Was wirklich zählt Auf der Suche nach Weisheit und Lebenssinn heute (München 1995), hat Ken Wilber den "umfassendsten philosophischen Denker unserer Zeit" genannt Ich teile diese Meinung, und ich war dieser Meinung schon vor zwanzig Jahren, als ich die Zeitschrift ReVision Journal gründete, um ein Forum für die integrale Sichtweise zu schaffen, die Ken damals bereits propagierte. Ich hatte gerade sein erstes Buch gelesen, Das Spektrum des Bewusstseins, das er als 23jähriger schrieb. Der Wunderknabe lebte in Lincoln, Nebraska, wo er Teller wusch, meditierte und jedes Jahr ein Buch schrieb. Die Zeitschrift Main Currents in Modern Thought, in der sein erster Aufsatz erschien, stand kurz vor dem Aus, und ich wollte den integrativen Ansatz und Geist, für den diese Zeitschrift stand, am Leben erhalten. Dies und mein Wunsch, dabei mit Ken zusammenzuarbeiten, veranlassten mich, ihn zum Einstieg ins Verlagsgeschäft zu überreden. Wir waren damals beide 27, und innerhalb von zwei Jahren "stand" die Zeitschrift ReVision, deren Hauptthema die integrale Sichtweise war, der wir beide anhingen und die Ken schon so beeindruckend formulierte. Aber eben weil dieser Ansatz so umfassend war, provozierte er teilweise sehr heftige Reaktionen. Nehmen wir zum Beispiel sein großes Werk Eros, Kosmos, Logos. Zweifellos hat dieses Buch viele Anhänger. Michael Murphy zählt es mit Aurobindos Göttlichem Leben, Heideggers Sein und Zeit und Whiteheads Prozess und Realität zu den vier größten Büchern dieses Jahrhunderts. Für Larry Dossey ist es "eines der bedeutendsten je veröffentlichten Bücher", und Roger Walsh stellt die Weite von Wilbers Sichtweise neben diejenige Hegels und Aurobindos. Der Scharfsinnigste von ihnen allen erinnert an Alasdair MacIntyres bekanntes Diktum, dass man nur die Wahl zwischen Aristoteles und Nietzsche habe, und sagt, dass die heutige Welt vielmehr unter dreien wählen könne: Aristoteles, Nietzsche und Wilber. Aber die Gegner des Buchs, von denen auf den folgenden Seiten (auch) zu lesen sein wird, treten nicht weniger zahlreich, lautstark und entschieden auf. Die Feministinnen behaupten X, die Jungianer meinen Y, und die Dekonstruktivisten, die es nie fassen können, wenn man sie selbst kontextualisiert, sagen Z, ganz zu schweigen von der allgemeinen Empörung
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der Tiefenökologen, der mythopoetischen Bewegung, der Empiriker, der Behavioristen, der Gnostiker, der Neuheiden, der Prämodernisten, der Astrologen – um nur einige wenige zu nennen. Die meisten Kritiker nehmen Anstoß an Wilbers Angriffen auf ihr eigenes Fachgebiet, während sie seinen Attacken auf andere Fachgebiete Brillanz bescheinigen oder sie zumindest stillschweigend akzeptieren. Niemand hat jedoch bisher eine überzeugende Kritik von Wilbers Gesamtansatz vorgelegt. Der kollektive Aufschrei ist recht beeindruckend – aber die Kritik an Wilbers Ansatz ist doch eher dürftig. Fassen wir doch einmal ins Auge, worum es bei dieser Diskussion wirklich geht. Es ist ja nicht zu übersehen, dass Wilbers Ansatz, wenn er denn im großen und ganzen richtig ist, schlicht nichts anderes leistet als eine schlüssige Integration praktisch aller menschlichen Wissensgebiete. Dabei ist Wilbers Ansatz das Gegenteil von Eklektik. Er hat eine stimmige Vision vorgelegt, welche die Geltungsansprüche der unterschiedlichsten Fachgebiete zu einem nahtlosen Ganzen zusammenführt: Physik und Biologie, Ökowissenschaften, Chaostheorie und Systemwissenschaft, Medizin, Neurophysiologie und Biochemie, bildende Kunst, Dichtkunst und Ästhetik, Entwicklungspsychologie und ein weites Spektrum psychotherapeutischer Richtungen von Freud über Jung bis Piaget, die Theoretiker der Großen Kette von Platon und Plotin im Westen bis Shankara und Nagarjuna im Osten, die Modernisten von Descartes und Locke bis Kant, die Idealisten von Schelling bis Hegel, die Postmodernisten von Foucault und Derrida bis Taylor und Habermas, die weitere hermeneutische Tradition von Dilthey über Heidegger bis Gadamer, die Gesellschaftstheoretiker von Comte und Marx bis Parsons und Luhmann, und die kontemplativen und mystischen Schulen der großen östlichen und westlichen meditativen Traditionen in den großen Weltreligionen. Und dies ist nur eine Auswahl. Wer wollte sich also darüber wundern, dass diejenigen, die sich auf ein bestimmtes Fachgebiet spezialisiert haben, es nicht hinnehmen wollen, wenn dieses Gebiet nicht als der Angelpunkt des Kósmos* dargestellt wird? * Da der Begriff "Kosmos" heute zum Synonym von "Universum" geworden ist und damit nur der physische Weltraum gemeint ist, benutzt Wilber "Kósmos" im alten pythagoreischen Sinn für die Gesamtheit aller Seinsbereiche "von der Materie bis zur Mathematik und zum Theos". (Anm. d. Red.) Mit anderen Worten, für die Kritiker steht einiges auf dem Spiel, und man wird es mir an dieser Stelle nicht als Parteinahme auslegen, wenn ich sage, dass diejenigen, die sich ihr Lieblingsthema in Wilbers Ansatz herauspicken, bloß einen bestimmten Zweig am Ast seiner Darstellung attackieren. Wenn man aber statt dessen den ganzen Baum betrachtet, und wenn Wilbers
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Ansatz grundsätzlich richtig ist, dann beinhaltet er mehr Wahrheit als jedes andere System in der Geschichte. Wie kommt das? Worin besteht letztlich Wilbers Methode? Sie besteht darin, dass er bei der Betrachtung eines jeden Fachgebiets einfach auf eine Ebene der Abstraktion zurückgeht, auf der eine Gemeinsamkeit zwischen den widerstreitenden Ansätzen sicht bar wird. Nehmen wir zum Beispiel die großen religiösen Traditionen der Welt: Stimmen sie darin überein, dass Jesus Gott ist? Nein. Also müssen wir dies über Bord werfen. Stimmen sie alle darin überein, dass es einen Gott gibt? Dies hängt davon ab, was man unter "Gott" versteht. Bejahen sie alle einen Gott, wenn man mit "Gott" einen Geist meint, der in vielerlei Hinsicht nicht beschreibbar ist, von der buddhistischen Leerheit bis zum jüdischen Geheimnis des Göttlichen? Ja, dies ist eine taugliche Verallgemeinerung, was Wilber eine "OrientierungsVerallgemeinerung" oder eine "profunde Schlussfolgerung" nennt. In derselben Weise setzt sich Wilber mit allen anderen menschlichen Wissensgebieten auseinander, von der bildenden Kunst bis zur Dichtkunst, vom Empirismus bis zur Hermeneutik, von der Psychoanalyse bis zur Meditation, von der Evolutionstheorie bis zum Idealismus. In allen Fällen extrahiert er eine Reihe profunder und verlässlicher, um nicht zu sagen unwiderleglicher Orientierungs-Verallgemeinerungen. Er hält sich nicht mit der Frage auf – und dies sollten auch seine Leser nicht tun –, ob andere Fachgebiete die Schlussfolgerungen eines bestimmten Fachgebietes akzeptieren oder nicht; man sollte sich zum Beispiel nicht daran stören, wenn die Schlussfolgerungen des Empirikers nicht mit Schlussfolgerungen des Gläubigen übereinstimmen. Man trägt einfach die OrientierungsVerallgemeinerungen zusammen, als enthielte jedes Gebiet außerordentlich wichtige Wahrheiten. Dies ist der erste Schritt in Wilbers integrierendem Verfahren, eine Art Phänomenologie allen menschlichen Wissens auf der Ebene von Orientierungs-Verallgemeinerungen. Mit anderen Worten, man nimmt alle Wahrheiten zusammen, die jedes Fachgebiet der Menschheit anbieten zu können glaubt. Man nimmt für einen Augenblick einfach an, dass sie wirklich wahr sind. Dann fügt Wilber diese Wahrheiten zu Ketten oder Netzen miteinander verknüpfter Schlussfolgerungen zusammen. Dabei wendet sich Wilber scharf von jeder bloßen Eklektik ab und versucht eine Synopsis. Dieser zweite Schritt in Wilbers Verfahren besteht darin, dass er alle Wahrheiten oder Orientierungs-Verallgemeinerungen, die er im ersten Schritt gewonnen hat, zusammennimmt und fragt: In welchem kohärenten System ließe sich die größtmögliche Zahl dieser Wahrheiten zusammenfassen? Das in Eros, Kosmos, Logos vorgelegte und auf den folgenden Seiten klar und einfach zusammengefasste System ist Wilber zufolge dasjenige, das die größtmögliche Zahl von Orientierungsverallgemeinerungen aus der
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größtmöglichen Zahl menschlicher Forschungsgebiete miteinander verbindet. Wenn also Wilbers Vision gültig ist, dann enthält und berücksichtigt, das heißt integriert sie mehr Wahrheit als jedes andere System in der Geschichte. Der Grundgedanke ist ganz einfach. Es geht nicht darum, welcher Theoretiker recht hat und welcher unrecht. Wilbers Gedanke ist vielmehr, dass jeder im Grunde recht hat, und er möchte herausfinden, wie so etwas möglich ist. "Ich glaube nicht", so Wilber, "dass irgendein Mensch sich zu einhundert Prozent irren kann. Statt also zu fragen, welcher Ansatz richtig und welcher falsch ist, nehmen wir vielmehr an, dass jeder Ansatz wahr ist, aber nicht vollständig, und versuchen dann herauszufinden, wie viele Teilwahrheiten zusammenpassen und wie man sie integrieren kann, statt uns für eine von ihnen zu entscheiden und die anderen zu verwerfen." Der dritte Schritt in Wilbers Ansatz ist schließlich die Entwicklung eines neuen Typs einer kritischen Theorie. Sobald er sein Gesamtschema der größten Zahl von Orientierungs-Verallgemeinerungen fertiggestellt hat, kritisiert er damit die Begrenztheit der engeren Ansätze, ohne die grundlegenden Wahrheiten dieser Ansätze zu verwerfen. Er kritisiert also nicht ihre Wahrheiten, sondern nur ihre Unvollständigkeit. Diese seine integrale Sichtweise liefert letztlich die Erklärung für die polaren Reaktionen auf sein Werk, das heißt für die Auffassung einerseits, dass es zum Bedeutendsten zählt, was je geschrieben wurde, und die wütenden Angriffe des Chors der Entrüsteten andererseits. Die heftigste Kritik kommt fast ausnahmslos aus den Reihen der Theoretiker, die ihr eigenes Fachgebiet für das einzig wahre Fachgebiet und ihre eigene Methode für die einzig gültige Methode halten. An Wilber wurde bisher nie – ernstzunehmende – Kritik deshalb geübt, weil er eines der Wissensgebiete, die er betrachtet, falsch verstanden oder falsch dargestellt hätte, sondern deshalb, weil er Gebiete berücksichtigt, die der Kritiker jeweils nicht für wichtig hält, oder einfach deshalb, weil sie sich von ihm nicht die Butter vom Brot nehmen lassen wollen. Die Freudianer sagen nie, dass Wilber Freud nicht verstanden hätte, aber sie finden, dass er die Mystik weglassen sollte. Die Strukturalisten und Poststrukturalisten sagen nicht, dass er ihr Fachgebiet nicht verstanden hätte, aber sie meinen, dass er all diese schrecklichen anderen Disziplinen weglassen sollte. Den Angriffen liegt immer dieselbe Haltung zugrunde: Wie können Sie es wagen zu sagen, mein Fachgebiet sei nicht das einzig wahre! Jedenfalls steht, wie gesagt, viel auf dem Spiel. Ich habe Ken Wilber einmal gefragt, wie er selbst seine Arbeit sieht, und er antwortete mir: "Sie ist vielleicht eine der ersten glaubwürdigen weltumspannenden Philosophien, eine wirkliche Zusammenfassung von Ost und West, Nord und Süd." Ganz in diesem Sinne äußerte sich vor kurzem der bekannte Religionswissenschaftler Huston Smith: "Niemand, auch nicht Jung, hat so wie Wilber die westliche
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Psychologie für die überdauernden Einsichten der großen Weisheitstraditionen der Welt sensibilisiert. Langsam, aber sicher, Buch um Buch, legt Wilber die Grundlagen einer echten west-östlichen Psychologie." Zugleich aber sagt Wilber auch: "Man sollte nicht zuviel Aufhebens davon machen. Es sind ja nur Orientierungs-Verallgemeinerungen. Die Details kann jeder so ergänzen, wie es ihm gefällt." Anders ausgedrückt: Wilber will uns nicht in eine begriffliche Zwangsjacke stecken. Im Gegenteil: "Ich hoffe zu zeigen, dass es im Kosmos mehr Raum gibt, als man sich vielleicht vorgestellt hat." Eng wird der Raum lediglich für diejenigen, die ihre Pfründe retten wollen, indem sie den Kosmos auf ein bestimmtes Fachgebiet – selbstredend ihr eigenes – reduzieren und die Wahrheiten anderer Disziplinen ignorieren wollen. "Man kann den verschiedenen Methoden und Disziplinen nur gerecht werden", so Wilber, "indem man zeigt, wie sie zusammenpassen. Nur so kann eine echte Weltphilosophie entstehen." Andernfalls hat man, wie er sagt, "Haufen", keine Ganzheiten, und so kommt gar nichts zu seinem Recht. Aristoteles sagte einmal, dass man den Wert seines Lebens erst beurteilen könne, wenn dieses zu Ende gehe, dass man erst sagen könne, ob man ein tugendhaftes Leben geführt habe, wenn man dieses als Ganzes betrachte. Wir wissen natürlich, wie schwierig es ist, das Ganze zu begreifen, geschweige denn es zu bewerten, vor allem, wenn man berücksichtigt, wie Wilber immer wieder sagt, dass ein Ganzes immer Teil eines größeren Ganzen ist. Und deshalb kennen wir die Leidenschaft, aber auch den Schmerz des Ringens um die Erkenntnis, wie die Teile unseres individuellen Lebens zusammenpassen, was ihr Wesen ist, womit und mit wem die Teile verbunden sind. Eben dabei hilft uns Ken Wilber; er zeigt ein Muster auf, nach dem das ganze Leben, der ganze Kosmos, der ganze GEIST miteinander verbunden sind. Sein Werk ist nicht weniger als ein Führer zu den Geheimnissen des Lebens, des biologischen, des gesellschaftlichen, des kulturellen und des spirituellen Lebens. Er hat für uns eine Landkarte entworfen, eine integrale Sichtweise der modernen und postmodernen Welt, eine Vision, die das Beste alter Weisheit mit dem Besten moderner Erkenntnis verbindet. Sein außerordentliches Werk gibt uns den Mut, unsere eigene Arbeit fortzusetzen, die lebenslange Reise zur Ganzheit, der niemand von uns ausweichen kann, die aber die wenigsten von uns richtig verstehen konnten, bis Wilber seine integrale Vision präsentiert hat.
Jack Crittenden
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An den Leser: Über Gott und Politik In der modernen westlichen Gesellschaft ist das drängendste politische Problem unserer Zeit die Frage, wie man die Tradition des Liberalismus mit einer echten Spiritualität verbinden kann. In der Geschichte gab es bisher keine brauchbaren Ansätze zur Verbindung dieser beider Stränge menschlichen Strebens. Im Gegenteil – der moderne Liberalismus (und überhaupt die ganze europäische Aufklärung) entstanden in weiten Teilen gerade als Gegenbewegung zur traditionellen Religion. Voltaires Schlachtruf "Vergesst die Grausamkeiten nicht!" hallte über den ganzen Kontinent: Vergesst die Grausamkeiten nicht, die Menschen im Namen Gottes zugefügt wurden, und lasst diese Unmenschlichkeiten und diesen Gott ein für allemal hinter euch. Damit blieb Religion weitgehend den Konservativen überlassen. Und deshalb sehen wir bis heute zwei schwerbewaffnete Lager, die einander mit tiefem Misstrauen gegenüberstehen. Das eine Lager ist dasjenige der Liberalen, die für die Rechte und Freiheiten des Individuums gegenüber der Tyrannei des Kollektivs eintreten und daher gegenüber allen religiösen Bewegungen einen tiefen Argwohn hegen, weil diese immer bereit sind, anderen ihre Überzeugungen aufzudrängen und ihnen vorzuschreiben, wo sie ihr Seelenheil zu suchen hätten. Der Liberalismus der Aufklärung ist geschichtlich eine Gegenbewegung zu religiöser Tyrannei, und das tiefe Misstrauen, ja der Hass auf alles Religiöse und Spirituelle, auf alles, was irgendwie mit dem Göttlichen zu tun hat, ist ihm unauslöschlich eingeprägt. Deshalb neigten und neigen Anhänger des Liberalismus dazu, der Erlösung durch Gott eine Erlösung durch die Ökonomie vorzuziehen. Wahre Befreiung und Freiheit ist ihrer Meinung nach nicht in irgendeinem ungreifbaren Jenseits (oder einem anderen Opium für das Volk) zu finden, sondern vielmehr in konkreten Fortschritten auf dieser Erde, womit zunächst einmal die Befriedigung der materiellen und wirtschaftlichen Bedürfnisse gemeint ist. "Progressiv" und "liberal" wurden oft gleichbedeutend gebraucht, weil Fortschritte in den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen – wirtschaftliche, materielle, politische Freiheit – den Kern des Liberalismus ausmachten.
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An die Stelle der Tyrannei des Kollektivs setzte der Liberalismus einen, wenn man dies so sagen kann, "universellen Individualismus", die Forderung, dass jeder Mensch ohne Ansehen seiner Rasse, seines Geschlechts, seiner Hautfarbe oder seiner Religion unparteiisch, gerecht und gleichberechtigt behandelt werden müsse. Der Mensch ohne die Tyrannei der Gemeinschaft, der seine wirtschaftliche und politische Freiheit genießen kann – dies hat sich der Liberalismus auf seine Fahnen geschrieben. Niemand wird in Frage stellen wollen, dass dieser Liberalismus sehr viel Gutes bewirkt hat. Die Kehrseite war allerdings, dass nur allzu oft religiöse Tyrannei schlicht durch ökonomische Tyrannei ersetzt wurde und der Gott des allmächtigen Geldes an die Stelle des Gottes des Papstes trat. Die Seele konnte jetzt nicht mehr von Gott zerbrochen werden, dafür aber von der Fabrik. Das Wichtigste im Leben war nicht mehr die Beziehung zum Göttlichen, sondern vielmehr die Beziehung zum eigenen Einkommen. Und so konnte es mitten im wirtschaftlichen Überfluss geschehen, dass die Seele langsam verhungerte. Deshalb beziehen im anderen Lager die Konservativen Position, die einer bürgerlichen humanistischen Tradition verpflichtet sind, der zufolge der Mensch in seinem Innersten auf gemeinschaftliche Standards und Werte einschließlich religiöser Werte angewiesen ist. Die republikanische und die religiöse Gesinnung sind in den meisten Formen des Konservatismus eng miteinander verwoben, so dass Konservative auch dann, wenn sie nachdrücklich für die individuellen Rechte und die "Freiheit gegenüber der Regierung" eintreten, dies nur unter dem Vorbehalt tun, dass diese "Freiheiten" im Einklang mit ihren religiösen Grundsätzen stehen müssen. Die Betonung der Werte der Gemeinschaft und der Familie erlaubt es Konservativen, kraftvolle Nationen zu bilden, oft aber zu Lasten derjenigen, die eine andere religiöse Orientierung haben. Hinter dem konservativen Lächeln versteckt sich nicht selten kulturelle Tyrannei, und die Liberalen wenden sich mit Grausen vor den Beteuerungen der Konservativen, dass sie alle Kinder Gottes lieben, denn leider hat man durchaus nichts zu lachen, wenn man nicht Kind ihres Gottes ist. Vereinfachend könnte man also sagen, dass es sowohl im liberalen als auch im konservativen Lager etwas "Gutes" und etwas "Tyrannisches" gibt, und es wäre offensichtlich ideal, wenn man das Gute von beidem bewahren und das jeweilige Tyrannische abschaffen könnte. Das Gute am Liberalismus ist seine Betonung der individuellen Freiheit und die Ablehnung der Herdenmentalität. In seinem Eifer, die individuellen Freiheiten zu schützen, hat jedoch der Liberalismus oft gemeinschaftliche Werte wie etwa Religion und Spiritualität verworfen und eine ausschließliche Hinwendung zu materiellen und wirtschaftlichen Aktivitäten an ihre Stelle gesetzt. Wirtschaftliches Streben ist als solches durchaus nichts Schlechtes,
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aber es trägt zu einer liberalen Atmosphäre bei, in der man sich über alles mögliche Gedanken machen kann, nur nicht über seine Seele. Religiöse Themen sind in liberalen Kreisen immer ein wenig anrüchig. Kant war ganz der Sprecher der liberalen Aufklärung, als er zu der neuen Haltung gegenüber Gott sinngemäss sagte, jeder müsse peinlich berührt sein, der von einem anderen betend auf Knien überrascht werde. (Es ist vermutlich folgende Stelle gemeint: "Die Wahrheit der letzteren Anmerkung wird ein jeder bestätigt finden, wenn er sich einen frommen und gutmeinenden, übrigens aber in Ansehung solcher gereinigten Religionsbegriffe eingeschränkten Menschen denkt, den ein anderer, ich will nicht sagen, im lauten Beten, sondern auch nur in der dieses anzeigenden Gebärdung überraschte." [Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 371.] Anm. d. Übs.) In der Atmosphäre des wirtschaftlichen und politischen Liberalismus ist alles Spirituelle und Religiöse nach wie vor verpönt. Wie ich gleich zu zeigen versuche, liegt dies an unserer mythischen und dürftigen Auffassung vom Geist. Eines ist jedenfalls klar: Der Liberalismus hatte die geschichtliche Aufgabe, Gott zu töten, und man muss ihm bescheinigen, dass ihm dies recht gut gelungen ist, weshalb dort, wo Liberalismus herrscht, auch eine geistfeindliche Tyrannei nicht weit ist. Der Vorzug des Konservatismus ist seine Einsicht, dass man bei aller Bedeutsamkeit des Individuums und seiner individuellen Freiheiten einem schweren Irrtum erliegt, wenn man das Individuum für eine isolierte Insel hält. Das Individuum ist vielmehr zwangsläufig in einen innigen Kontext der Familie, der Gemeinschaft und des Geistes eingebunden, und es hängt sogar seine ganze Existenz von diesen tiefen Zusammenhängen und Verbindungen ab. Auch wenn man daher auf seine Individualität pocht, hängen die tiefsten Werte nicht in einem selbstverliebten Verständnis von Autonomie von der Beziehung zu einem selbst ab, sondern von der Beziehung zur Familie, zu den Freunden, zur Gemeinschaft und zum eigenen Gott. Wenn man diese tiefen Verbindungen leugnet, stört man damit nicht nur das Gefüge der Gemeinschaft und gibt es dem Chaos des Hyperindividualismus preis, sondern man zerreißt damit auch die tiefste aller Verbindungen, nämlich diejenige zwischen einer menschlichen Seele und einem göttlichen Geist. Ja, aber welcher Gott soll denn damit gemeint sein? – antwortet der Liberale hierauf. Denn wie unbestreitbar wahr alle diese konservativen Auffassungen in der Theorie sind, so waren geschichtlich doch dort, wo eine bestimmte Religion mit einem bestimmten Moralkodex tatsächlich praktiziert wurde, die Hexenprozesse niemals weit. Die Betonung der Gemeinschaft und des spirituellen Zusammenhangs und Zusammenhalts führt nur allzu schnell in eine Haltung, die "meine" Gemeinschaft, "meinen" Gott, "mein" Land über alles stellt, und wer meinem Gott nicht anhängt, kommt in die Hölle – wobei
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ich gern etwas Hilfestellung leiste. Die konservative Haltung ist einer mehr oder weniger unverhüllten kulturellen Tyrannei niemals fern. Sollte es nicht möglich sein, diese kulturelle Tyrannei des Konservatismus über Bord zu werfen und zugleich seine Stärke zu erhalten, insbesondere seine Spiritualität? Und könnte es nicht eine Möglichkeit geben, die Stärke des Liberalismus (die individuelle Freiheit) zu wahren und die Tyrannei der Geistfeindlichkeit über Bord zu werfen? Kurz, könnte es nicht einen spirituellen Liberalismus geben? Einen spirituellen Humanismus? Eine Haltung, die die Rechte des einzelnen in einen tieferen spirituellen Zusammenhang stellt, durch den diese Rechte nicht geleugnet, sondern vielmehr begründet werden? Könnte eine neue Auffassung von Gott, vom Geist, sich nicht in den edelsten Zielsetzungen des Liberalismus wiedererkennen? Könnten diese beiden modernen Feinde, Gott und der Liberalismus, in irgendeiner Weise eine gemeinsame Basis finden? Ich glaube, dass es für die moderne und postmoderne Welt keine dringlichere Frage gibt als diese. Eine konservative Spiritualität allein wird die Welt weiterhin spalten und zersplittern, weil man mit dieser Haltung Menschen nur dann zur Einheit bringen kann, wenn man sie zu seinem jeweiligen Gott bekehrt, und ob dieser Gott Jehovah, Allah, Shinto oder Shiva heißt, spielt überhaupt keine Rolle: In ihrem Namen werden Kriege geführt. Vielmehr geht es darum, die Vorzüge der liberalen Aufklärung zu erhalten, sie aber zugleich in den Kontext einer Spiritualität einzubinden, die den sehr konkreten und sehr präzise formulierten Einwendungen der Aufklärung die Spitze abbricht und eine Antwort auf sie gibt. Es wird eine Spiritualität sein, die auf der Aufklärung ruht, statt sie zu bekämpfen. Es wird, mit anderen Worten, ein liberaler Geist sein. Ich meine, dass die auf den folgenden Seiten umrissene spirituelle Orientierung ein Schritt in diese Richtung ist. In gewissem Sinne sind alle meine Bücher (insbesondere Das Atman-Projekt, Halbzeit der Evolution, Die drei Augen der Erkenntnis, Der glaubende Mensch, Eros, Kosmos, Logos und Eine kurze Geschichte des Kosmos) Vorreden zu genau diesem Thema: Der Suche nach einem liberalen Gott, einem liberalen Geist, einem spirituellen Humanismus oder einer humanistischen Spiritualität oder wie auch immer man letztlich den Kern einer solchen Orientierung nennen will. Ob es einen liberalen Gott geben kann, hängt vor allen Dingen von der Antwort auf die Frage ab, wo man den Geist ansiedeln will. Mit diesem Thema werde ich mich ausführlich im letzten Kapitel befassen, und in späteren Büchern soll dieses Thema noch eingehender behandelt werden. Aber das allgemeine Thema "Gott und Politik" entscheidet sich, wie ich glaube, an eben jenen theoretischen Fragen, die wir auf den folgenden Seiten erörtern werden, und diese Diskussion muss geführt werden, bevor man darangehen kann, die eigentlichen politischen Konturen mit einiger
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Überzeugungskraft darzustellen. In diesem Buch soll also (als Teil meiner "Vorreden") das Thema Politik und Spiritualität nicht weiter explizit verfolgt werden, auch wenn es ständig im Hintergrund vorhanden ist. Statt dessen soll in den folgenden Kapiteln zunächst die "spirituelle humanistische" Orientierung auf Themen wie Psychologie, Philosophie, Anthropologie und Kunst angewandt werden. Ich bezeichne diesen Ansatz als integral. Integral bedeutet zusammenfassend, einschließend, umfassend, ausgewogen; es geht darum, diese integrale Orientierung auf die verschiedenen Gebiete menschlichen Erkennens und Strebens anzuwenden, wozu auch die Integration von Wissenschaft und Spiritualität gehört. Dieser integrale Ansatz ist nicht nur für die Politik von Bedeutung: er führt zu tiefgreifenden Veränderungen unserer Auffassung von Psychologie und dem menschlichen Geist, von Anthropologie und der Geschichte der Menschheit, von Literatur und der Bedeutung des Menschen, von Philosophie und dem Streben nach Wahrheit. All dies wird, wie ich glaube, von einem integralen Ansatz nachhaltig verändert, der versucht, das Beste dieser Gebiete in einem beide Seiten bereichernden Dialog zusammenzuführen. Das vorliegende Buch ist eine Einführung in eine solche integrale Sichtweise. Über zwei Drittel des nachfolgenden Materials wurden speziell für dieses Buch geschrieben und erscheinen hier zum ersten Mal. In dieses neue Material habe ich einige frühere Aufsätze eingestreut, die unmittelbar mit den verschiedenen Themen zusammenhängen. Aber auch diese sind überarbeitet, weshalb ich dieses Buch für alle praktischen Zwecke als ein neues Buch betrachte. Dennoch kann man jedes Kapitel als relativ selbständigen Aufsatz betrachten, da sich jedes einem bestimmten Thema – von Psychologie über Philosophie und Anthropologie bis zu bildender Kunst und Literatur – widmet und dieses aus einer integralen Sichtweise untersucht. In der Einleitung wird die Bedeutung des Begriffs "integral" erläutert und die dahinterstehende Philosophie dargestellt (wie es auch Jack Crittenden in seinem Vorwort tut). In gewisser Weise ist die Einleitung der wichtigste und anspruchsvollste Teil. Sollte der Leser sie als "ein bisschen heavy" empfinden, kann er sie einfach kurz überfliegen und sich dann Kapitel 1 zuwenden, das sich in wesentlich einfacheren Begriffen mit der integralen Psychologie befasst. Kapitel 2 ist der integralen Anthropologie und Kapitel 3 der integralen Philosophie gewidmet. Wenn man nach der Lektüre des ganzen Buchs die Einführung noch einmal lesen will, könnte dies dem Gesamtverständnis dienlich sein. In Kapitel 4 und 5 wird eine integrale Kunsttheorie vorgelegt, und dies sind vielleicht meine persönlichen Lieblingskapitel. Es gibt wohl kaum ein verrückteres Gebiet als die Literaturkritik, die überladen ist mit politischen Agenden, welche als "Deutungsmethoden" daherkommen, und vollgestopft mit konstruierter Dekonstruktion, postimperialem Imperialismus,
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antifemininem Feminismus, universellem Anti-Universalismus und was es dergleichen Selbstwidersprüche mehr gibt. Die Kunst- und Literaturtheorie mag als eher begrenztes, exotisches Spezialgebiet erscheinen, und doch glaube ich, dass gerade hier eine jede integrale Theorie die Nagelprobe bestehen muss. In der Zeitschrift ReVision Journal erschien vor kurzem eine dreiteilige Serie, die sich mit meinem Werk im allgemeinen und insbesondere mit Eros, Kosmos, Logos befasste. Kapitel 6, 7, 8 und 9 basieren teilweise auf meiner Antwort auf diese Aufsätze. Diese Kapitel sollten chronologisch gelesen werden, da andernfalls der Sinnzusammenhang nicht deutlich ist. Jedoch ist in ihnen alles Nötige gesagt, so dass man nicht die ursprünglichen Artikel in ReVision zu lesen braucht, um dem Thema folgen zu können. Da ich gebeten wurde, auf bestimmte Themen eine persönliche Antwort zu geben, enthalten diese Kapitel außerdem eine mehr oder weniger historische Zusammenfassung meiner eigenen Arbeit. Ich erörtere einige meiner wichtigsten Bücher und die darin vorgelegten Hauptgedanken, nenne die Daten und Umstände ihrer Entstehung und vergleiche sie mit anderen zum damaligen Zeitpunkt aktuellen Ansätzen. Im Grunde widerstrebt mir eine solche Selbstbespiegelung, aber ich sah in diesem speziellen Fall keine andere Möglichkeit der Darstellung. Ich bezeichne dabei die Hauptphasen meines Werks als Wilber I, Wilber II, Wilber III und Wilber IV, womit ich meinen Ergüssen recht selbsteingenommen die Aura der Bedeutsamkeit verleihe. Wie schon in meinen früheren Büchern empfehle ich dem Leser, die Anmerkungen getrennt zu lesen, da sie sonst den Lesefluss zu sehr stören. Die beiden letzten Kapitel, 11 und 12, sind der Frage gewidmet, wo genau der Geist seinen Sitz hat. Diese Kapitel befassen sich nicht ausdrücklich mit politischen Fragen, doch ist das Thema wiederum eine Vorrede hierzu. Denn daraus, wo wir den Geist ansiedeln, entstehen immer politische Agenden. Suchen wir den Geist im Patriarchat, beim Großen Gott? Suchen wir ihn im Matriarchat, bei der Großen Göttin? Suchen wir ihn in Gaia? In verflossenen romantischen Zeiten? In einer Offenbarung, die einem bestimmten Volk gegeben wurde? Oder suchen wir ihn in einem großen Punkt Omega, auf den wir alle zueilen? Ich werde zu zeigen versuchen, dass alle diese Antworten falsch sind. Mehr noch, alle diese Antworten führen ausnahmslos in eine politische Tyrannei, weil sie alle behaupten, dass der Geist an manchen Orten sei und an anderen nicht – und sobald man eine solche Trennlinie zieht, warten schon die Gaskammern auf diejenigen, die nicht auf unserer Seite des Zauns stehen.
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Einen liberalen, befreiten und befreienden Geist findet man auf keinem dieser Wege. Wo siedeln wir den Geist an: Dies ist die große Frage unserer Zeit. Und dies ist die zentrale Frage für die Suche nach einem liberalen Gott. Auf den folgenden Seiten will ich versuchen, den einen Ort des Geistes deutlich zu machen, der niemandem Leid zufügt, alles umschließt und sich mit größter Klarheit ausspricht, der nichts von seiner Fürsorge ausnimmt noch seine Zuwendung auf wenige Auserwählte beschränkt, der weder sein Antlitz im geschlossenen Zirkel der "wahren Gläubigen" verbirgt noch seine Wohnstätte in einer bestimmten Örtlichkeit nimmt, sondern aus demjenigen blickt, der jetzt diese Zeilen liest – zu offensichtlich, als dass man es übersehen, zu einfach, als dass man es beschreiben, zu selbstverständlich, als dass man es glauben könnte. Im Auge des Geistes werden wir alle einander begegnen, und ich werde Sie dort finden und Sie mich, und das Wunder ist, dass wir einander tatsächlich finden. Dass dies geschieht, ist zweifellos einer der schlichtesten Beweise für Gottes beharrliche Existenz.
K.W. Boulder, Colorado
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Einleitung: Ein integrales Verständnis des Wahren, Schönen, Guten Um das Ganze verstehen zu können, muss man die Teile verstehen. Um die Teile zu verstehen, muss man das Ganze verstehen. Das ist der Zirkel des Verstehens. Man geht vom Teil zum Ganzen und wieder zurück, und in diesem Tanz des Erkennens, in diesem erstaunlichen Zirkel des Verstehens erwacht man zu Bedeutung, Wert und Vision. Dieser Kreislauf des Verstehens geleitet uns, fügt die Stücke zusammen, heilt die Brüche, verbindet die auseinandergerissenen Teile, macht den Weg vor uns hell in einer außerordentlichen Bewegung vom Teil zum Ganzen und wieder zurück, wobei Heilung bei jedem Schritt geschieht und Gnade der köstliche Lohn ist. Dieses Einleitungskapitel ist ein kurzer Überblick über das Ganze, in diesem Fall dieses ganze Buch. Deshalb wird manches davon erst verständlich werden, wenn sich die Teile, das heißt die späteren Kapitel, entfalten. Ab Kapitel 1 werden dann die Teile klar und einfach erläutert; der Zirkel des Verstehens wird, wie ich glaube, in Gang kommen, und die integrale Schau wird deutlich werden. Der Urknall hat aus allen nachdenklichen Menschen Idealisten gemacht. Zuerst war nichts – und dann platzte in weniger als einer Nanosekunde die materielle Welt ins Dasein. Diese ersten materiellen Prozesse gehorchten anscheinend mathematischen Gesetzen, die irgendwie vor dem Urknall existierten, weil sie offenbar von Anfang an wirksam waren. Es scheint, dass der Urknall, was auch immer er sonst noch bewirkte, von den beiden großen philosophischen Haltungen, die dem denkenden Menschen seit jeher zur Verfügung stehen, nämlich Idealismus und Materialismus, dem letzteren den Todesstoß versetzt hat. Dieser idealistische Trend in der modernen Physik geht jedoch mindestens schon auf die Doppelrevolution der Relativitäts- und Quantentheorie zurück. Die Mehrzahl des runden Dutzends von Pionieren der modernen Physik wie Albert Einstein, Werner Heisenberg, Erwin Schrödinger, Louis de Broglie, Max Planck, Wolfgang Pauli und Sir Arthur Eddington waren
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Idealisten oder Transzendentalisten der einen oder anderen Spielart. Und ich meine dies in einem ganz strengen Sinne. Von de Broglies Behauptung, dass "die Mechanik eine Mystik erfordert", bis zu Einsteins spinozistischem Pantheismus, von Schrödingers vedantischem Idealismus bis zu Heisenbergs platonischen Archetypen: Diese Physiker vereinte in ihren bahnbrechenden Anschauungen die Überzeugung, dass die Welt ohne die Hinzunahme des Bewusstseins selbst keinen Sinn hat und nicht befriedigend erklärt werden kann. "Die Welt beginnt immer mehr wie ein großer Gedanke, nicht wie eine große Maschine auszusehen", fasste Sir James Jeans die vorhandenen Befunde zusammen. Und wenn er sagt, dass sich die Welt wohl kaum mehr anders erklären lasse als durch die Annahme, dass sie "im Geiste irgendeines ewigen Geistes" existiert, dann hätte ihm wohl keiner dieser großen Physiker widersprochen.1 Nun wird aber "geistige Gesundheit" seit jeher so definiert, dass man in einer irgendwie grundlegenden Weise "Kontakt" mit der Wirklichkeit hat. Aber wenn wir gerade bei den "realistischsten" Wissenschaften nachfragen, wie es denn um das Wesen dieser grundlegenden Wirklichkeit bestellt sei, jener Wirklichkeit, mit der wir "in Kontakt" sein sollen, und in der wir ohne Umschweife beschieden werden, dass diese Wirklichkeit in Wirklichkeit "im Geiste eines ewigen Geistes" existiert – was dann? Heißt dann geistige Gesundheit, in direktem Kontakt mit dem Geist irgendeines ewigen Geistes zu sein? Und wenn wir den Physikern bezüglich der Natur dieser höchsten Wirklichkeit keinen Glauben schenken, wem dann? Wenn wir geistig gesund bleiben wollen, mit welcher Wirklichkeit sollen wir dann Kontakt haben?
Das Gespenst in der Maschine Eines der großen Probleme bei dieser "spirituellen" Argumentation besteht darin, dass die Schlussfolgerungen zu "mager", zu spekulativ, zu weit hergeholt, ja zu "schauerlich" klingen, sofern man nicht gerade mathematischer Physiker ist, der sich täglich mit diesen Problemen herumschlägt. Ganz zu schweigen davon, dass nur allzu viele östliche und westliche Theologen die klaffenden Schlupflöcher in der wissenschaftlichen Darstellung der Natur dazu genutzt haben, ihre Gottesversion ins Rampenlicht zu rücken. Aus diesem Grund gehen heute die meisten praktischen Naturwissenschaftler, Ärzte, Psychologen und Psychiater ruhig ihrer Arbeit nach, ohne sich von diesen ausgefallenen "idealistischen" Spekulationen ihren Horizont trüben zu lassen. Vom kognitiven Behaviorismus bis zur künstlichen Intelligenz, vom psychologischen Konnektivismus bis zur biologischen
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Psychiatrie halten sich die meisten Forscher einfach nach wie vor an eine materialistische Erklärung von Geist, Psyche und Bewusstsein. Man nimmt also als grundlegende Wirklichkeit die materielle, physische oder sensomotorische Welt an, und der Geist ist dann nichts weiter als die Summe der Repräsentationen oder Abspiegelungen dieser empirischen Welt. Das Gehirn selbst ist angeblich eine biomaterielle InformationsVerarbeitungsanlage, die man mit objektiven und wissenschaftlichen Begriffen erklären kann, und die Informationen, die es verarbeitet, bestehen aus nichts weiter als Repräsentationen der empirischen Welt ("keine Berechnung ohne Repräsentation"). Ein materielles und objektives Gehirn verarbeitet eben eine materielle und objektive Welt, und der subjektive Bereich des Bewusstseins ist im besten Falle ein Epiphänomen, das im Gefolge eines physiologischen Feuerwerks entsteht. Der Geist spukt einfach als Gespenst in der Maschine, und ob diese Maschine ein Computer, ein biomaterieller Prozessor oder ein Servomechanismus ist, spielt überhaupt keine Rolle. Der langgezogene Todesschrei des gespenstischen Geistes hallt durch die endlosen Korridore der heutigen wissenschaftlichen Forschung. Ein typisches Beispiel für einen solchen objektivistischen Ansatz ist Daniel Dennetts in weiten Kreisen geschätztes Consciousness Explained (dt. Philosophie des menschlichen Bewusstseins, Hamburg 1994), das, wie andere weniger wohlmeinend sagen, besser Consciousness Explained Away heißen müsste. In allen diesen Ansätzen huschen objektive Repräsentationen durch konnektivistische Netzwerke, und das einzige, worin sich diese Darstellungen unterscheiden, ist die jeweilige Art des objektiven Netzes, durch das Informationsbits ihre festgelegten Runden drehen, um die Illusion von Bewusstsein zu erzeugen. Alle diese Darstellungen sind, abgesehen von einigen zweifellos wichtigen Beiträgen, letztlich doch Versuche des Bewusstseins, die Existenz von Bewusstsein zu leugnen, womit man doch einen recht erheblichen Aufwand an kausaler Argumentation um etwas treibt, das angeblich nur ein wirkungsloser Dunst, ein gespenstisches Nichts ist. Man kann es drehen und wenden, wie man will, diese empirischen und objektivistischen Darstellungen (analoge und digitale Datenmengen, die durch Informationsnetze huschen, oder Neurotransmitter, die über dendritische Pfade sausen) geben nicht unsere tatsächliche Erfahrung unseres inneren Bewusstseins wieder. Wenn Sie und ich in unser Inneres schauen, finden wir eine andere Welt vor, keine Welt von Bits und Bytes und imaginären digitalen Einheiten, sondern eine Welt von Bildern und Vorstellungen, von Hunger und Schmerz, von Gedanken und Wahrnehmungen, Wünschen und Begierden, Absichten und Abneigungen, Hoffnungen und Ängsten. Und wir erkennen diese inneren Daten unmittelbar und direkt: Sie sind uns einfach gegeben, sie sind einfach da, sie tauchen einfach auf, und wir gewahren sie in dem Umfang, wie wir sie gewahren
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möchten. Diese inneren Daten könnten in der Tat durch umfangreiche Aneinanderreihungen vermittelter Ereignisse bedingt sein, wofür vieles spricht, nur spielt dies im Augenblick der Innenschau überhaupt keine Rolle: Meine inneren Zustände sind dem Bewusstsein schlicht unmittelbar gegeben, sooft ich mich ihnen zuwende. Selbst wenn man versuchen wollte, den Kognitivisten, Funktionalisten und Behavioristen recht zu geben, wenn man sich das Bewusstsein als Informationsbits vorzustellen versucht, die durch neuronale Netze hüpfen, dann kann ich diese Vorstellung selbst nur als innere und direkte Wahrnehmung haben. Ich erfahre diese Vorstellung innerlich und unmittelbar; zu keinem Zeitpunkt erfahre ich tatsächlich etwas, das auch nur entfernt wie ein Informationsbit aussieht, welches über einen konnektivistischen Pfad flitzt. Dies ist einfach eine Vorstellung, und ich bekomme diese Vorstellung wie alle Vorstellungen in einem Akt einer inneren und Bewussten Wahrnehmung. Mit anderen Worten, der objektivistische Ansatz gegenüber Erfahrung und Bewusstsein kann nicht einmal seine eigene Erfahrung und sein eigenes Bewusstsein erklären, kann die Tatsache nicht erklären, dass digitale Bits nicht als digitale Bits, sondern als Hoffnungen und Ängste erfahren werden.
Inneres und Äußeres Meine innere und subjektive Erfahrung ist mir also in einer Weise gegeben, der die objektivistischen und empirischen Begriffe des Funktionalismus oder Kognitivismus oder neuronalen Konnektivismus nicht gerecht werden. Meine subjektive und innere Welt, die viele Namen hat – Bewusstsein, Gewahrsein, Geist, Seele, Vorstellung, Idealismus –, fällt also durchaus nicht mit meiner objektiven und äußeren Beschreibung der Welt zusammen, die ebenfalls viele Namen hat: Gehirn, Natur, Materialismus, materielle, biophysische, empirische Welt. Es gibt ein Innen und ein Außen, Geist und Gehirn, Subjektivität und Objektivität, Idealismus und Materialismus, Innenschau und Positivismus, Hermeneutik und Empirismus usw. Es erstaunt daher nicht, dass sich praktisch vom Beginn des menschlichen Erkenntnisstrebens an die Theoretiker für einen dieser beiden ganz unterschiedlichen und anscheinend miteinander unverträglichen Erkenntniswege entschieden haben, den inneren oder den äußeren. Von der Psychologie bis zur Theologie, von der Philosophie bis zur Metaphysik, von der Anthropologie bis zur Soziologie war das menschliche Erkenntnisstreben praktisch immer in diese beiden Richtungen gespalten.
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(Wie wir bald sehen werden, besteht eine der Hauptaufgaben eines integralen Ansatzes gerade darin, diese beiden grundsätzlichen Wege zu akzeptieren und zusammenzuführen, sie zu integrieren und zu zeigen, wie sie für ein Verständnis des menschlichen Bewusstseins und Verhaltens gleichermaßen bedeutsam und wichtig sein können.) Auf der einen Seite gibt es also diejenigen Ansätze, die von objektiven, empirischen und oft auch quantifizierbaren Beobachtungsdaten ausgehen. Diese Richtungen – nennen wir sie die "äußeren", "naturalistischen" oder "empirisch-analytischen" Richtungen – betrachten die physische oder empirische Welt als das Grundlegende, und für sie müssen alle Theorien streng in empirischen Beobachtungsdaten verankert sein. In der Psychologie ist dies der klassische Behaviorismus, dessen jüngstes Kind der kognitive Behaviorismus ist (kognitiven Strukturen wird nur insoweit ein Wirklichkeitsgehalt zugebilligt, als sie sich in beobachtbarem Verhalten manifestieren). In der Soziologie sind dies der klassische Positivismus (z. B. in der vom Begründer der Soziologie, Auguste Comte, vertretenen Form), aber auch die außerordentlich einflussreichen Strömungen des strukturellen Funktionalismus und der Systemtheorie (von Talcott Parsons über Niklas Luhmann bis Jeffrey Alexander), in denen kulturelle Hervorbringungen nur insoweit signifikant sind, als sie Aspekte eines objektiven gesellschaftlichen Aktionssystems sind. Selbst in der Theologie und der Metaphysik geht dieser naturalistische Ansatz von bestimmten empirischen und materiellen Daten aus und versucht, die Existenz des Geistes von empirischen Befunden herzuleiten (wie z. B. das teleologische Argument). Diesen naturalistischen und empirischen Ansätzen stehen andere gegenüber, die von der Unmittelbarkeit des Bewusstseins selbst ausgehen; nennen wir sie die "inneren" oder die "introspektiven und interpretativen" Ansätze. Diese leugnen nicht die Bedeutung empirischer und objektiver Daten, aber sie verweisen wie William James darauf, dass "Datum" definiert ist als "unmittelbare Erfahrung", und die einzige wirklich unmittelbare Erfahrung, die wir alle haben, ist unsere eigene unmittelbare und innere Erfahrung. Mit anderen Worten, das Ur-Datum ist dasjenige des Bewusstseins, der Intentionalität, des unmittelbaren gelebten Gewahrseins, und alles andere, von der Existenz von Elektronen bis zur Existenz neuronaler Pfade, sind Ableitungen aus dem unmittelbaren erlebten Gewahrsein. Diese sekundären Ableitungen können sehr wahr und sehr wichtig sein, aber sie sind und bleiben sekundär und Ableitungen von der primären Tatsache der unmittelbaren Erfahrung. Während also in der Psychologie der objektivistische Ansatz verschiedene Varianten eines Behaviorismus hervorbringt, führt der subjektivistische Ansatz zu den verschiedenen Schulen der Tiefenpsychologie wie zum Beispiel Psychoanalyse, jungianischer, Gestalt-, phänomenologisch-existentieller und
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humanistischer Psychologie, ganz zu schweigen von der Vielzahl kontemplativer und meditativer östlicher und westlicher Psychologien. Alle diese Traditionen gehen von unmittelbar wahrgenommenen inneren Zuständen und direkten Erfahrungswirklichkeiten aus und bauen ihre Theorien auf diesen unmittelbaren "Daten" auf. Diese Schulen interessieren sich daher weniger für Verhalten als für die Deutung und Bedeutung psychologischer Symbole, Symptome und Zeichen. Der Titel von Freuds erstem großen Buch ist programmatisch: Die Traumdeutung. Träume sind eine innere und symbolische Hervorbringung, und alle Symbole müssen gedeutet werden. Was ist die Bedeutung von Hamlet? Von Krieg und Frieden? Unserer Träume, unseres Lebens? Die introspektiven und interpretativen Schulen der Psychologie sind Versuche, dem Menschen zu helfen, sein Inneres genauer und authentischer zu interpretieren und dadurch Sinn und Erklärung für sein Handeln, seine Symptome, sein Leiden, seine Träume, sein Leben zu finden. In der Soziologie tritt der subjektivistische Ansatz in den überaus einflussreichen Schulen der Hermeneutik und der interpretativen Soziologie zutage (Hermeneutik ist die Kunst und Wissenschaft der Interpretation). Wiederum im Gegensatz zu den objektivistischen Ansätzen, denen es darum geht, empirisches Verhalten zu erklären, möchten die interpretativen Ansätze in der Soziologie symbolische Hervorbringungen verstehen. Nicht "Wie funktioniert es", sondern "Was bedeutet es?" Nehmen wir zum Beispiel den Regentanz der Hopi. Der typische objektive funktionalistische Ansatz versucht, die Existenz des Tanzes als notwendigen Aspekt der Integration des sozialen Aktionssystems zu erklären. Mit anderen Worten, der Tanz hat eine verhaltensmäßige Funktion im Gesellschaftssystem als Ganzem, und diese Funktion, von der die Eingeborenen im allgemeinen nichts wissen, soll in der autopoietischen Selbsterhaltung des gesellschaftlichen Aktionssystems liegen (z. B. Parsons). Der hermeneutische Ansatz in der Soziologie versucht dagegen, sich in die Sichtweise der Eingeborenen zu versetzen und den Tanz gewissermaßen von innen, in einer sympathetischen Haltung des gegenseitigen Verständnisses zu begreifen. Der interpretierende Soziologe stellt (als "teilnehmender Beobachter") fest, dass mit dem Tanz sowohl die Natur geehrt als auch in einer sympathetischen Weise beeinflusst werden soll. Er kommt daher zu dem Schluss, dass der Tanz phänomenologisch der Versuch einer Verbindung mit einem Reich ist, das man als heilig erfährt. (Zu den neueren Vertretern einer hermeneutischen Soziologie und Anthropologie zählen so einflussreiche Theoretiker wie Charles Taylor, Clifford Geertz und Mary Douglas; ihre Arbeit ist befruchtet von Heideggers hermeneutischer Ontologie und Hans-Georg Gadamers hermeneutischer Philosophie, und zu
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ihren geistigen Vätern zählen weiterhin Pioniere wie Wilhelm Dilthey und Friedrich Schleiermacher.) Auch in der Theologie und der Metaphysik stehen der äußere und der innere Ansatz in scharfem Gegensatz. Die objektivistische Haltung geht von gewissen empirischen materiellen Tatsachen aus und versucht, aus ihnen die Existenz transzendenter Wirklichkeiten herzuleiten. Thomas von Aquin zum Beispiel verfolgt bei seinen verschiedenen Gottesbeweisen diesen Weg. Er geht von bestimmten Naturtatsachen aus und versucht zu zeigen, dass diese nach einem Urheber verlangen. Auch heute noch zwingt für viele Physiker und Mathematiker dieses sogenannte teleologische Argument zu dem Schluss, dass es einen Weltbaumeister geben müsse. Hierzu gehört auch das neuerdings sehr beliebte anthropische Prinzip, dem zufolge die Welt von Anfang an einen verborgenen Plan gehabt haben muss, da die Existenz des Menschen extrem unwahrscheinlich ist. Der subjektive und introspektive Ansatz wiederum versucht nicht, die Existenz des Geistes deduktiv aus empirischen oder natürlichen Ereignissen zu beweisen, sondern richtet das Licht des Bewusstseins direkt auf den inneren Bereich selbst – den einzigen Bereich direkter Daten – und sucht den Geist in demjenigen, was diese Daten enthüllen. Meditation und Kontemplation sind das Paradigma, das Musterbeispiel, die konkrete Praxis, auf der alle theoretischen Erwägungen ruhen müssen. Der Gott im Inneren, nicht der äußere Gott ist das Ziel. (Im Westen ist dies der Weg, den vor allen Dingen Plotin und Augustinus vorgezeichnet haben, weshalb die großen Antagonisten in der westlichen Theologie Augustinus und Thomas von Aquin sind.) In der Philosophie selbst ist dies natürlich die tiefe Kluft zwischen dem angelsächsischen und dem kontinentaleuropäischen Ansatz der Moderne, ein Unterschied, den beide Lager nicht unter den Teppich kehren (sondern durch die lustvolle Kritik aneinander noch herausstreichen). Der typisch angelsächsische (britische und amerikanische) Ansatz ist empirischanalytisch; seine Väter sind John Locke und David Hume, doch wurde er berühmt durch das Cambridge-Triumvirat G. E. Moore, Bertrand Russell und der frühe Ludwig Wittgenstein. "Wir machen uns Bilder der (empirischen) Tatsachen", sagt Wittgenstein in seinem Tractatus, und das Ziel einer jeden echten Philosophie ist für ihn die Analyse und Klärung dieser empirischen Bilder der empirischen Welt. Ohne empirische Bilder gibt es für ihn keine echte Philosophie. Dies wiederum erschien den großen kontinentaleuropäischen Philosophen immer als unglaublich naiv, seicht und sogar primitiv. Mit Immanuel Kant beginnend, wurde nach ihm in unterschiedlicher Weise und in verschiedenen Ausgestaltungen von Schelling, Hegel, Nietzsche, Schopenhauer, Heidegger, Derrida und Foucault etwas ganz anderes verkündet: Die sogenannte
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"empirische" Welt ist in einer sehr bedeutsamen Weise nicht einfach Wahrnehmung, sondern Deutung. Mit anderen Worten, die angeblich einfache "empirische" und "objektive" Welt ist nicht einfach "da draußen" vorhanden, wo man sie nur anzuschauen brauchte. Vielmehr ist die "objektive" Welt in subjektive und intersubjektive Zusammenhänge und Hintergründe eingebettet, die in vielerlei Weise festlegen, was in dieser "empirischen" Welt gesehen wird und gesehen werden kann. Wahre Philosophie besteht also, wie diese Philosophen in ihrer je unterschiedlichen Weise sagen, nicht einfach darin, dass man sich Bilder von der objektiven Welt macht, sondern vielmehr in einer Erforschung der Strukturen im Subjekt, die es überhaupt erst ermöglichen, sich Bilder zu machen. Dies ist ganz einfach deshalb nötig, weil die "Handschrift" des Kartographen auf allen seinen Landkarten deutlich zu sehen ist. Der Schlüssel zur Welt sind also nicht einfach die objektiven Karten, sondern der subjektive Kartograph. Die Tatsache, dass diese beiden Ansätze, der äußere und der innere, der objektivistische und der subjektivistische, sich auf allen menschlichen Wissensgebieten nachdrücklich und beharrlich behauptet haben, sollte uns etwas sagen: dass nämlich beide Ansätze zutiefst signifikant sind. Beide sind für uns von unschätzbarer Wichtigkeit. Die integrale Sichtweise sieht ihre vornehmste Aufgabe darin, diese beiden tiefen Ansätze des menschlichen Erkenntnisstrebens zu würdigen und zu integrieren.
Würdigung beider Wahrheiten: Der integrale Ansatz Wenn man nun die Beispiele genauer betrachtet, die ich für die verschiedenen Formen von Erkenntnisansätzen gegeben habe, stellt man fest, dass sie nicht in zwei, sondern vielmehr in vier große Kategorien zerfallen, weil der innere und der äußere Ansatz aus einem individuellen und einem kollektiven Teil bestehen. Mit anderen Worten, man kann sich jeder Erscheinung aus einer "inneren" und einer "äußeren" Sichtweise nähern, aber auch als Individuum und als Angehöriger eines Kollektivs. Innerhalb dieser vier Lager gibt es große und sehr einflussreiche Schulen. Die nachfolgende Tabelle 1 enthält die Namen einiger bekannter Theoretiker jedes dieser vier Lager. Oben Links (OL) ist "innen" und "individuell" (z. B. Freud). Oben Rechts (OR) ist "außen" und "individuell" (z. B. Behaviorismus). Unten Links (UL) ist "innen" und "kollektiv" (z. B. die kulturellen Werte und Weltsichten einer Gruppe, wie sie die interpretative Soziologie untersucht). Unten Rechts (UR) schließlich ist
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INDIVIDUELL
"außen" und "kollektiv" (z. B. das objektive gesellschaftliche Aktionssystem, wie es die Systemtheorie erkundet). Nehmen wir einmal als Fallbeispiel für alle diese vier Bereiche (oder Quadranten, wie ich sie im folgenden nennen werde) einen einfachen Gedanken, zum Beispiel die Absicht, zum Bäcker zu gehen. Wenn ich diesen Gedanken habe, ist die eigentliche Erfahrung der Gedanke selbst, der innere Gedanke und seine Bedeutung, die Symbole, Bilder, die Idee, zum Bäcker zu gehen. Dies ist Oben Links, das Innere des Individuums. INNEN • interpretativ • hermeneutisch • Bewusstsein
AUSSEN • monologisch • empirisch, positivistisch • Form
Sigmund Freud C. G. Jung Jean Plaget Aurobindo Plotin Gautama Buddha
B. F. Skinner John Watson John Locke Empirismus Behaviorismus Physik, Biologie Neurologic usw.
KOLLEKTIV
Intentional Kulturell Thomas Kuhn Wilhelm Dilthey Jean Gebser Max Weber Hans-Georg Gadamer
Verhaltensmäßig Sozial Systemtheorie Talcott Parsons Auguste Comte Karl Marx Gerhard Lenski
Diagramm 1 Während ich diesen Gedanken habe, treten natürlich entsprechende Veränderungen in meinem Gehirn auf: Ein Anstieg des Dopaminspiegels, Acetylcholin überspringt die Synapsen, die Betawellen nehmen zu usw. Dies sind empirisch beobachtbare Vorgänge in meinem Gehirn. Und dies ist Oben Rechts. Aber obwohl nun mein Gehirn "in" meinem Organismus ist, ist es doch nicht Teil meines eigentlichen inneren Gewahrseins. Ich kann mein Gehirn nicht einmal sehen, es sei denn, ich lasse mir den Schädel öffnen und einen
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Spiegel geben. Mein Gehirn ist ein objektives, physisches, biomaterielles Organ, das in einer objektiven und empirischen Weise (Oben Rechts) erkannt werden kann. Meinen Geist, mein Bewusstsein aber erkenne ich auf eine unmittelbare, direkte und innere Weise (Oben Links). Wenn ich den Gedanken erlebe, dass ich zum Bäcker gehen will, sage ich nicht: "Hey, was für ein Dopamin-Tag!", sondern ich erfahre den Gedanken auf seine eigene Art, in seinen eigenen Umrissen. Das Gehirn kann objektiv gesehen werden, während der Geist subjektiv erfahren wird. Vielleicht stellt man sogar eines Tages fest, dass beides zwei verschiedene Aspekte derselben Sache sind, dass sie parallel, dualistisch, interaktiv oder was auch immer sind, aber im Augenblick ist das Entscheidende, dass sich das eine nicht ohne Rest auf das andere reduzieren lässt, weil, was auch immer man im übrigen aussagen kann, sie doch phänomenologisch etwas völlig Verschiedenes sind. Um noch einmal auf das innere Denken selbst (OL) zurückzukommen: Man beachte, dass es nur in bezug auf den eigenen kulturellen Hintergrund einen Sinn ergibt. Wenn ich eine andere Sprache sprechen würde, würde sich der Gedanke aus anderen Symbolen zusammensetzen und hätte ganz andere Bedeutungen. Wenn ich vor einer Million Jahren in einer Stammesgesellschaft leben würde, könnte ich niemals den Gedanken haben, zum Bäcker gehen zu wollen. Ich würde vielleicht denken: "Es ist Zeit, einen Bären zu erlegen." Das Entscheidende ist, dass meine Gedanken selbst in einem kulturellen Hintergrund entstehen, der meinem individuellen Denken Struktur, Bedeutung und Kontext gibt, und ich könnte nicht einmal mit mir selbst reden, wenn ich nicht in einer Gemeinschaft von Menschen stünde, die ebenfalls mit mir reden. Die kulturelle Gemeinschaft dient also als intrinsischer Hintergrund und Kontext für alle individuellen Gedanken, die ich haben kann. Meine Gedanken tauchen nicht aus dem Nichts in meinem Kopf auf, sondern aus einem kulturellen Hintergrund, und wie weit ich mich auch von diesem Hintergrund entfernen mag, kann ich ihn doch niemals ganz hinter mir lassen, ja, ich hätte ohne ihn überhaupt niemals Gedanken entwickelt. Die Fälle von "Wolfskindern" zeigen, dass das menschliche Gehirn ohne Kultur von selbst keine sprachlichen Gedanken hervorbringt. Kurz gesagt, individuelle Gedanken existieren nur vor einem weitläufigen Hintergrund kultureller Praktiken, Sprachen und Bedeutungen, ohne die man praktisch keine individuellen Gedanken bilden könnte. Dies ist der untere linke Quadrant, das Innere des Kollektivs, der intersubjektive Raum des gemeinsamen kulturellen Kontexts. Meine Kultur selbst ist aber nicht einfach körperlos, schwebt nicht in einem idealistischen leeren Raum. Sie hat materielle Komponenten, wie auch meine eigenen individuellen Gedanken materielle Korrelate im Gehirn haben. Alle kulturellen Ereignisse haben soziale Entsprechungen. Zu diesen
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konkreten sozialen Komponenten zählen Technikformen, Produktionskräfte (gartenbauliche, ackerbauliche, industrielle usw.), konkrete Institutionen, schriftlich festgelegte Codes und Muster, geopolitische Orte usw. Dies ist der untere rechte Quadrant, das soziale Aktionssystem. Diese konkreten materiellen Komponenten, das bestehende Gesellschaftssystem, sind entscheidend für die kulturelle Weltsicht, in deren Rahmen meine eigenen Gedanken auftauchen. Mein angeblich "individueller Gedanke" ist also in Wirklichkeit ein Phänomen, dem (mindestens) diese vier Aspekte eigentümlich sind, der intentionale, der verhaltensmäßige, der kulturelle und der soziale. Schreiten wir den holistischen Kreis ab: Das Gesellschaftssystem hat einen starken Einfluss auf die kulturelle Weltsicht, die die Bandbreite möglicher individueller Gedanken begrenzt, die sich wiederum in physiologischen Reaktionen im Gehirn niederschlagen. Diesen Kreis kann man in jeder Richtung abschreiten. Die Quadranten sind alle miteinander verwoben und determinieren einander. Sie sind die Ursache aller anderen Quadranten in konzentrischen Kreisen von Kontexten in Kontexten ohne Ende. Ich möchte dies nicht in langatmigen Ausführungen begründen, sondern einfach auf die schlichte Tatsache verweisen, dass das durchgängige Vorhandensein dieser vier großen Lager im Erkenntnisstreben Beweis genug dafür ist, dass sich keines vollständig auf das andere reduzieren lässt. Jeder Ansatz liefert gewissermaßen eine "Ecke" des Kosmos. Jeder von ihnen sagt etwas sehr Wichtiges über verschiedene Aspekte der bekannten Welt aus. Und keiner von ihnen kann ohne schwere und gewaltsame Brüche, Verzerrungen und Entwertungen auf einen anderen reduziert werden. Meiner Ansicht nach gibt es diese vier großen Bereiche menschlicher Erkenntnis einfach deshalb, weil diese vier Aspekte des menschlichen Seins sehr konkret, sehr beständig, sehr tief sind. Eines der Ziele des integralen Ansatzes (und der, wie man es nennen könnte, "integralen Studien") besteht darin, diese vier außerordentlichen Bereiche, den intentionalen, den Verhaltensmäßigen, den kulturellen und den sozialen, gelten zu lassen und zu integrieren.2 Gehen wir weiter der Frage nach, wie der integrale Ansatz alle Ebenen und alle Quadranten einbeziehen kann.
Die vier Antlitze der Wahrheit Jedem dieser "vier Quadranten" ist eine bestimmte Art von Wahrheit oder ein, mit Habermas' Ausdruck, "Geltungsanspruch" zu eigen, das heißt, eine andere Art und Weise, Daten und Evidenz zu sammeln und zu sichten. Eine
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kurze Übersicht hierzu zeigt Abbildung 2. Wenn ich sage, dass keiner dieser Quadranten auf die übrigen reduziert werden kann, dann bedeutet dies auch, dass keine ihrer jeweiligen Wahrheiten verworfen oder verkürzt werden kann. Nachfolgend einige kurze Beispiele für die verschiedenen Geltungsansprüche oder "Arten von Wahrheit", wobei ich die vier Quadranten von Abbildung 1 und 2 durchgehe. Wahrheit Die Form von Wahrheit, die man im oberen rechten Quadranten findet, wird als repräsentationale, propositionale oder Wahrheit der Adäquation bezeichnet. Eine Aussage ist prepositional wahr, wenn sie mit einer objektiven Tatsache übereinstimmt. "Draußen regnet es" ist eine wahre Aussage, wenn dies zum gegebenen Zeitpunkt den Fakten entspricht. Propositionen sind mit einfachen empirischen, objektiven Beobachtungsdaten verknüpft, und wenn diese Propositionen zutreffen, werden sie als wahr bezeichnet. Mit anderen Worten, wenn die Landkarte mit dem Gelände übereinstimmt, nennt man sie eine wahre Repräsentation oder Adäquation ("Wir machen uns Bilder von Tatsachen"). Die meisten Menschen sind mit dieser Art von Wahrheit recht gut vertraut. Sie ist die Grundlage eines großen Teils der empirischen Wissenschaften, aber auch unseres ganz alltäglichen Lebens. Propositionale Wahrheit ist so allgemein, dass man sie auch mit Wahrheit schlechthin gleichsetzt. Wahrhaftigkeit Im oberen linken Quadranten dagegen lautet die Frage nicht, ob es draußen regnet. Sie lautet vielmehr: Wenn ich Ihnen sage, dass es draußen regnet, sage ich dann die Wahrheit oder lüge ich? Sie lautet nicht, ob die Landkarte mit dem Gelände übereinstimmt, sondern vielmehr, ob man dem Kartographen trauen kann. Wir haben es hier ja weniger mit äußerlichem und beobachtbarem Verhalten zu tun als vielmehr mit inneren Zuständen, und dieses Innere eines anderen Menschen ist mir nur durch Gespräch und Interpretation zugänglich. Wenn ich nicht nur etwas über Ihr Verhalten in Erfahrung bringen möchte, sondern darüber, was Sie empfinden oder denken, dann muss ich mit Ihnen reden und interpretieren, was Sie sagen. Aber wenn Sie mir von Ihrem inneren Zustand berichten, können Sie auch lügen. Ja, man kann sich sogar selbst belügen. Mit der Tatsache, dass man sich selbst belügen kann, betreten wir das weite Reich der Tiefenpsychologie. Der Geltungsanspruch liegt hier weniger darin, ob meine Aussagen mit äußeren Tatsachen übereinstimmen, sondern
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INDIVIDUELL
darin, ob ich etwas Wahres über meinen eigenen inneren Zustand aussagen kann. Praktisch allen Schulen der Tiefenpsychologie zufolge ist Neurose im weitesten Sinne ein Zustand, in dem man den Kontakt zu seinen eigenen wahren Gefühlen, zu seinen tatsächlichen Wünschen oder zu seinem authentischen inneren Zustand verloren hat. An irgendeinem Punkt der Entwicklung begann der Betreffende, wie die meisten dieser Schulen sagen, sich bezüglich seines eigenen inneren Status zu belügen, indem er diesen leugnete und verdrängte, verzerrte und unterdrückte – er begann, seine subjektive Verfassung falsch zu interpretieren. Diese Fehlinterpretationen, diese Verheimlichungen, diese Fiktionen beginnen das Bewusstsein in der symbolischen Form schmerzhafter Symptome zu verdunkeln, die verräterische Spuren der Lüge sind. INNEN linksseitige Wege
AUSSEN rechtsseitige Wege
SUBJEKTIV
OBJEKTIV
Wahrhaftigkeit
Wahrheit
Aufrichtigkeit Integrität Vertrauenswürdigkeit
Entsprechung Repräsentation Proposition
KOLLEKTIV
Ich Wir
Es Es
Gerechtigkeit
funktionelles Passen
kulturelles Passen gegenseitiges Verständnis Richtigkeit INTERSUBJEKTIV
Gewebe der Systemtheorie Strukturell/Funktionalismus Gitter sozialer Systeme INTEROBJEKTIV
Diagramm 2 Für diese Schulen ist Therapie der vordringlichste Versuch, wieder mit den eigenen inneren Zuständen, seinen Symptomen, Symbolen, Träumen und Begierden in Kontakt zu kommen, um diese genauer und wahrhaftiger zu deuten. Eine genauere und wahrhaftigere Deutung der Leiden des Betreffenden hilft diesem, seine bislang rätselhaften Symptome zu verstehen, ihre Bedeutung zu erkennen. So wird der Betreffende sich selbst weniger
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rätselhaft, er wird "durchschaubarer" und offener, und seine Schutzmauern fallen. Den tiefenpsychologischen Schulen zufolge entstanden also die schmerzhaften Symptome durch eine Fehlinterpretation, eine Verheimlichung, ein dynamisches und intensives Verbergen, eine Lüge bezüglich des eigenen inneren Zustands. Eine wahrhaftigere, getreuere und angemessenere Interpretation öffnet die Tiefen eines Menschen in einer sinnvolleren und transparenteren Weise, wodurch die Symptome abklingen. Nicht so sehr objektive Wahrheit als subjektive Wahrhaftigkeit ist der Geltungsanspruch des oberen linken Quadranten. (Eine integrale Therapie, die alle Ebenen und alle Quadranten einschließt, würde natürlich die verhaltensmäßigen und pharmakologischen Therapien des oberen rechten Quadranten keinesfalls vernachlässigen. Wir erörtern hier einfach nacheinander die Quadranten mit ihren typischen Geltungsansprüchen und Wahrheitsformen). Man beachte auch, dass zum Beispiel die Phänomenologie meditativer Zustände sich ganz auf den Geltungsanspruch der subjektiven Wahrhaftigkeit stützt, was ein völlig anderer Ansatz ist als die objektive Physiologie meditativer Zustände. Wenn man sich also für die neurophysiologischen Veränderungen interessiert, die im Meditationszustand auftreten, kann man einen Meditierenden an ein EEG-Gerät anschließen und seine Gehirnzustände aufzeichnen, gleichgültig, wie er selbst diese beschreibt. Man bedient sich einfach einer empirischen und objektiven Wahrheit, um dessen Gehirnphysiologie zu kartographieren; hierzu braucht man nicht einmal mit ihm zu reden. Die Maschine zeichnet genau auf, was an elektrischen Prozessen in seinem Gehirn abläuft. Wenn jemand jedoch wissen will, was tatsächlich in seinem Bewusstsein, in seinem Geist vorgeht, dann muss man ihn fragen und mit ihm reden, das heißt einen dialogischen und intersubjektiven Ansatz, keinen monologischen und bloß empirischen wählen. Was erfährt er, wenn die Nadel des Elektroenzephalographen ausschlägt? Sieht er ein strahlendes inneres Licht, das von einer mitleidsvollen Tiefe und Wärme erfüllt ist? Oder heckt er einen Plan aus, wie er die Spirituosenhandlung um die Ecke ausrauben kann? Der Elektroenzephalograph kann und wird dies nicht verraten. Für die Suche nach dieser Art von innerer Wahrheit heißt der Geltungsanspruch Wahrhaftigkeit, Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit (OL). Wenn ich in meinen Aussagen unaufrichtig bin, bekommen Sie keineswegs eine genaue Phänomenologie meiner inneren Zustände, sondern nur eine Kette von Täuschungen und Verheimlichungen. Wenn ich mich schon die ganze Zeit selbst belüge, werde ich darüber hinaus aufrichtig glauben, die Wahrheit
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zu sagen, und nichts im Kurvenbild des Elektroenzephalographen wird den geringsten Hinweis darauf geben. Soviel zu empirischen Tests. Die Physiologie der Meditation stützt sich also auf objektive Daten, deren Meßlatte die propositionale Wahrheit ist, während sich die Phänomenologie der Meditation auf subjektive Daten stützt, deren Meßlatte die Wahrhaftigkeit ist. Wir haben hier ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie der obere rechte und der obere linke Quadrant sich mit ihren je unterschiedlichen, aber gleichermaßen wichtigen Geltungsansprüchen dem Bewusstsein zu nähern versuchen. Funktionelles Passen Die beiden unteren Quadranten, der innerlich-kollektive und der äußerlich-kollektive, gehen über das Individuelle hinaus und befassen sich mit dem Kollektiven oder Gemeinschaftlichen. Wie wir bei dem Beispiel des Regentanzes der Hopi gesehen haben, nähert sich der untere rechte Quadrant dem Gemeinschaftlichen aus einer äußerlichen und objektiven Haltung und versucht, den Status der einzelnen Mitglieder unter dem Gesichtspunkt ihres funktionellen Passens gegenüber dem objektiven Ganzen zu erklären. Dieser Ansatz versucht also mit seinem Geltungsanspruch jedes Individuum in ein objektives Netz einzuordnen, das in vielerlei Hinsicht die Funktion eines jeden Teils festlegt. Die Wahrheit liegt für diese Ansätze des unteren rechten Quadranten in der objektiven Vernetzung individueller Teile, so dass das objektive, empirische Ganze, das "Gesamtsystem", die primäre Wirklichkeit ist. Das aus einer empirischen Haltung betrachtete objektive Verhalten des ganzen gesellschaftlichen Aktionssystems bildet die Meßlatte, nach der Wahrheiten in diesem Bereich beurteilt werden. Der Geltungsanspruch dieses Quadranten ist, mit anderen Worten, funktionelles Passen, so dass jede Proposition in das Gewebe des Gesamtsystems eingebunden sein muss. Wir kennen dies als die übliche Systemtheorie in ihren vielen Verkleidungen. Theorien über Gaia (und meist zugleich auch die Göttin), über globale Netze und Systeme, über "neue Paradigmen", die "holistische Netzwerke" propagieren, über dynamische Prozesse, die in das große empirische Gewebe des Lebens eingewoben sind – all dies sind Ansätze des unteren rechten Quadranten, des Quadranten der beobachtbaren und empirischen Prozesse, die in funktionellem Passen nahtlos ineinander verwoben sind. Gerechtigkeit Wenn der untere rechte Quadrant zu erklären versucht, wie Objekte in einem funktionellen Ganzen oder Geflecht empirischer Prozesse
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zusammenpassen, so versucht der untere linke Quadrant zu verstehen, wie Subjekte in einem Akt gegenseitigen Verständnisses zusammenpassen. Anders ausgedrückt: Wenn ich mit jemandem zusammenziehe, nehmen wir nicht nur denselben empirischen und physischen Raum ein, sondern auch denselben intersubjektiven Raum gegenseitiger Wahrnehmung und Anerkennung. Wir müssen nicht nur unsere Körper in denselben objektiven Raum einpassen, sondern auch unser subjektives Sein in denselben kulturellen, ethischen und moralischen Raum. Wir müssen Mittel und Wege finden, die beiderseitigen Rechte und diejenigen der Gemeinschaft anzuerkennen und zu achten, und diese Rechte sind nicht im objektiven Stoff festgeschrieben, noch sind sie einfach eine Frage meiner eigenen individuellen Aufrichtigkeit, noch eine solche des funktionellen Zusammenpassens empirischer Ereignisse, sondern vielmehr eine Frage des Zusammenfügens unserer Seelen in einem intersubjektiven Raum, das es uns erlaubt, einander anzuerkennen und zu achten. Es kommt nicht darauf an, unbedingt immer einer Meinung zu sein, aber darauf, einander anzuerkennen – und wenn dies nicht geschieht, herrscht schlicht Krieg. Was wir also brauchen, ist nicht nur Wahrheit, nicht nur Wahrhaftigkeit und nicht nur funktionales Passen, sondern auch Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Güte und Fairness. Dieser intersubjektive Raum (unser gemeinsamer Hintergrund und unsere gemeinsamen Weltsichten) ist ein wesentliches Element unseres Menschseins, ohne das es unsere individuellen subjektiven Identitäten nicht gäbe und ohne das wir keine objektiven Wirklichkeiten wahrnehmen könnten. Weiterhin entwickelt und entfaltet sich dieser intersubjektive Strang nicht anders als die übrigen Quadranten. (Eine umfassende Theorie des menschlichen Bewusstseins und Verhaltens wird alle diese Quadranten und ihre Entwicklung sehr sorgfältig berücksichtigen müssen. Dies ist, wie ich noch ausführen werde, ein entscheidender Aspekt der integralen Studien.) Man beachte, dass die beiden kollektiven Ansätze gleichermaßen holistisch sind; dagegen betrachten die Gesellschaftswissenschaften das Ganze eher in einer objektiven oder empirischen Haltung von außen, während die kulturelle Hermeneutik sich dem Ganzen von innen aus einem empathischen Verstehenwollen nähert. Der Geltungsanspruch der ersteren ist funktionelles Passen oder Systemvernetzung, ein interobjektives Zusammenpassen eines jeden objektiven Prozesses mit jedem anderen Prozess. Der Geltungsanspruch der letzteren ist kulturelles Passen oder gegenseitige Anerkennung, die intersubjektive Vernetzung, die nicht zu einer objektiven Verknüpfung von Systemen führt, sondern zum gegenseitigen Verständnis von Menschen. Mit anderen Worten, das eine ist äußerer, das andere innerer Holismus.
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(Es ist leicht zu zeigen, dass die meisten Theoretiker, die sich "holistisch" nennen, in Wirklichkeit bloß äußere Holisten sind, eine Einseitigkeit, der wir nicht das Wort zu reden brauchen. Bisher hat noch niemand einen "Holismus"
vorgelegt, der tatsächlich alle vier Quadranten auf allen ihren Ebenen umfassen würde, und es wird deutlich werden, dass dies eines der zentralen Anliegen des integralen Ansatzes ist.)
Die Gültigkeit integraler Erkenntnis Das Entscheidende ist nun, dass alle diese vier Geltungsansprüche ihre jeweils eigene Form von Evidenz und Daten besitzen, weshalb bestimmte Behauptungen innerhalb eines jeden Anspruchs beurteilt, das heißt bestätigt oder verworfen, bekräftigt oder zurückgewiesen werden können. Damit ist jeder dieser Ansprüche offen für das allentscheidende Falsifikationskriterium jeder echten Erkenntnis. Jeder weiß, wie die Falsifikation in den empirischen Wissenschaften funktioniert: Landkarten, Modelle und Bilder, die nicht mit den empirischen Befunden vereinbar sind, können durch Beibringung weiterer Fakten schließlich für ungültig erklärt werden. Derselbe Falsifikationsgrundsatz ist aber auf alle echten Geltungsansprüche anwendbar, weshalb in allen vier Quadranten überhaupt erst Lernen möglich ist: Irrtümer werden durch weitere Evidenz in diesen Quadranten beseitigt. So ist zum Beispiel Hamlet nur der Interpretation, nicht der Empirie zugänglich, und trotzdem ist die Aussage "im Hamlet geht es um die Freuden des Krieges" eine falsche Aussage – sie ist eine schlechte Interpretation, sie ist falsch, und sie kann von einer Gemeinschaft von Menschen zurückgewiesen werden, die 1. die Injunktion oder das Experiment durchführen (das heißt das Stück namens Hamlet lesen); 2. die interpretativen Daten oder Wahrnehmungen sammeln (die Bedeutung des Stücks im Lichte der gesamten verfügbaren Evidenz prüfen) und 3. diese Daten mit denjenigen anderer vergleichen, die dasselbe Experiment durchgeführt haben (Rechtfertigung oder Zurückweisung durch die Gemeinschaft Kompetenter). Diese drei Stränge allen echten Wissenserwerbs (Injunktion, Daten, Bestätigung) sind in allen Geltungsansprüchen vorhanden, die selbst wiederum in den ganz realen Daseinsbereichen des Menschen verankert sind, dem intentionalen, dem verhaltensmäßigen, dem kulturellen und dem sozialen. Mit anderen Worten, diese sehr realen Bereiche bilden das
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Fundament unseres Strebens nach Wahrhaftigkeit, Wahrheit, Gerechtigkeit und funktionellem Passen, wobei sich der Fortschritt auf diesen Gebieten jeweils mittels der Prüfsteine Injunktion, Daten und Bestätigung vollzieht. (Wir werden uns diesem Thema noch in Kapitel 3 zuwenden.) Die epistemologischen Behauptungen der integralen Studien sind daher wie jede andere gültige Erkenntnisbehauptung ganz auf Experiment, Datensammlung und Rechtfertigung durch die Gemeinschaft Kompetenter gegründet. Zum Glück lässt sich all dies sehr gut vereinfachen.
Ich, Wir und Es Diese vier gleich wichtigen Geltungsansprüche oder "Wahrheitstypen" sind in Abbildung 2 dargestellt. Neben das Achsenkreuz habe ich in die Ecken der vier Quadranten die Wörter "Ich", "Wir" und "Es" geschrieben. Dies hat seinen Grund darin, dass jeder dieser vier Quadranten in einer anderen Sprache beschrieben wird. Sie besitzen eine jeweils unterschiedliche, aber völlig gültige Phänomenologie, weshalb sie in einer eigenen Sprache beschrieben werden müssen. So werden die Ereignisse und Daten des oberen linken Quadranten in einer "Ich-Sprache" beschrieben, die Ereignisse und Daten des unteren linken Quadranten in einer "Wir-Sprache". Die beiden rechten Quadranten sind empirisch und äußerlich, weshalb sie in einer "Es-Sprache" beschrieben werden können. Damit lassen sich die vier Quadranten auf drei einfache Bereiche zurückführen : Ich, Wir und Es, die ich die Großen Drei nenne. Aber weil sich keiner der Quadranten auf einen anderen reduzieren lässt, können auch diese Sprachen nicht auf eine der anderen reduziert werden. Jeder Quadrant ist außerordentlich wichtig und bildet einen wesentlichen Bestandteil des Weltganzen. Und ganz gewiss sind sie wesentlicher Bestandteil eines umfassenden Verständnisses der Psychologie und Soziologie des Menschen. Nachfolgend einige wenige der wichtigsten Elemente dieser drei Hauptgebiete des Ich, Wir und Es: Ich (OL): Bewusstsein, Subjektivität, Selbst und Selbstausdruck (u. a. Kunst und Ästhetik), Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit. Wir (UL): Ethik und Moral, Weltsichten, gemeinsamer Kontext, Kultur, intersubjektive Bedeutung, gegenseitiges Verständnis, Angemessenheit, Gerechtigkeit.
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Es (OR und UR): Wissenschaft und Technik, objektive Natur, empirische Formen (u. a. Gehirn und Gesellschaftssysteme), propositionale Wahrheit (Singular und funktionelles Passen). Die empirische Wissenschaft befasst sich mit Objekten, mit einem "Es", mit empirischen Mustern. Moral und Ethik zielen auf das "Wir" und unsere intersubjektive Welt des gegenseitigen Verständnisses und der Gerechtigkeit. Kunst und Ästhetik betreffen das Schöne im Auge des Betrachters, das "Ich". Dies ist natürlich im Prinzip Platons Gutes (Ethik, das "Wir"), Wahres (im Sinne einer propositionalen Wahrheit, objektiver Wahrheit oder eines "Es") und Schönes (die ästhetische Dimension, die von jedem "Ich" wahrgenommen wird). Die Großen Drei sind auch Sir Karl Poppers recht berühmte drei Welten, die objektive (Es), die subjektive (Ich) und die kulturelle (Wir). Viele Menschen, mich eingeschlossen, betrachten Jürgen Habermas als den größten lebenden Philosophen, und die Großen Drei sind auch Habermas' drei Geltungsansprüche: Objektive Wahrheit, subjektive Aufrichtigkeit und intersubjektive Gerechtigkeit. Von großer historischer Bedeutung sind natürlich die Großen Drei in Kants außerordentlich einflussreicher Trilogie, der Kritik der reinen Vernunft (objektive Wissenschaft), Kritik der praktischen Vernunft (Moral) und Kritik der Urteilskraft (ästhetisches Urteil und Kunst). Auch auf der Ebene der spirituellen Entwicklung finden wir diese drei Bereiche, etwa – um nur ein Beispiel zu geben – in den "Drei Kostbarkeiten" des Buddhismus: Buddha, Dharma, Sangha. Der Buddha ist der erleuchtete Geist in allen fühlenden Wesen, das Ich, das Nicht-Ich ist, das ursprüngliche Gewahrsein, das in jedem Inneren aufleuchtet. Der Buddha ist das "Ich" oder das "Auge" des Geistes. Sangha ist die Gemeinschaft der spirituell Übenden, das "Wir" des Geistes. Dharma ist die spirituelle Wahrheit, die erkannt wird, das "Es", die "Esheit" oder "Soheit" einer jeden Erscheinung. Man könnte Dutzende weiterer Beispiele geben, doch dürften damit die Großen Drei ausreichend skizziert sein. Diese Darstellung ist nun für die integralen Studien von größter Wichtigkeit, weil jede umfassende Theorie des menschlichen Bewusstseins und Verhaltens alle vier Quadranten oder einfach diese drei großen Bereiche berücksichtigen und integrieren muss, die sich jeweils durch einen anderen Geltungsanspruch und eine ganz andere Sprache auszeichnen. Auch dies ist wiederum ein Beispiel für die pluralistische, multimodale und multidimensionale Haltung, die das prägende Merkmal des integralen Ansatzes ist: Berücksichtigung aller Ebenen und aller Quadranten.
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Flachland Wie überlebensfähig die "linksseitigen" Ansätze der Introspektion, der Interpretation und des Bewusstseins (die dem "Ich"- und dem "Wir"-Bereich zugewandt sind) sich auch erwiesen haben, haben wir es doch im Westen seit etwa dreihundert Jahren mit einem massiven und aggressiven Versuch der modernen Wissenschaft und der einseitig rechtsseitigen Ansätze zu tun, den ganzen Kosmos auf ein Bündel von "Es-heiten" zu reduzieren. Der Ichund der Wir-Bereich wurden dabei von den Es-Bereichen, vom wissenschaftlichen Materialismus, vom Positivismus, Behaviorismus, Empirismus und den objektivistisch-äußerlichen Ansätzen fast vollständig usurpiert. Dieser rechtsseitige Imperialismus, der der westlichen Moderne seinen Stempel aufgedrückt hat, wird allgemein als Szientismus bezeichnet, bei dem es sich, wie ich ihn definieren würde, um den Glauben handelt, die ganze Welt ließe sich in einer Es-Sprache erklären. Er besteht in der Annahme, dass sich alle subjektiven und intersubjektiven Räume ohne Rest auf das Verhalten objektiver Prozesse reduzieren lassen, dass sich menschliches und nichtmenschliches Inneres vollständig als holistisches System dynamisch miteinander verflochtener Es-heiten darstellen lassen. Über den plumpen Reduktionismus wissen wir schon Bescheid: Dies ist die Reduzierung aller komplexen Entitäten auf materielle Atome, was man mit Fug als plump bezeichnen kann. Viel verbreiteter, heimtückischer und gefährlicher ist dagegen der subtile Reduktionismus. Dieser fuhrt einfach jedes Ereignis der linken Seite auf seinen entsprechenden Aspekt der rechten Seite zurück. Er reduziert alle Ich- und alle Wir-heiten auf ihre entsprechenden empirischen Korrelate, also auf Es-heiten. Der Geist wird auf das Gehirn reduziert, praxis auf techne, Inneres auf Bits digitaler Es-heiten, Tiefe auf endlose Oberflächen eines flachen und verblassten Systems, qualitative Ebenen auf quantitative Ebenen, dialogische Interpretation auf den monologischen Blick – kurz, die ganze mehrdimensionale Welt wird brutal auf ein Flachland zusammengedrückt. Aber ebendeshalb, weil der Mensch über die vier verschiedenen Aspekte verfügt, den intentionalen, den verhaltensmäßigen, den kulturellen und den sozialen, kann diese naturwissenschaftliche Vorgehensweise so attraktiv erscheinen, denn jedes innere Ereignis besitzt in der Tat eine äußere Erscheinung. (Selbst wenn man eine außerkörperliche Erfahrung hat, bewirkt dies Veränderungen im empirischen Gehirn!) Daher hat es zunächst durchaus etwas für sich, das Erkenntnisstreben dadurch vereinfachen zu wollen, dass man nur empirische Daten und objektive Es-heiten zulässt.
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Aber wenn man schließlich alle Ich-heiten und Wir-heiten auf bloße Esheiten reduziert hat, wenn man schließlich alles Innere in Äußeres verwandelt hat, wenn man alle Tiefen zu glattpolierten Oberflächen gemacht hat, dann hat man einen ganzen Kosmos restlos ausgeweidet. Man hat allen Wert, Bedeutung, Bewusstsein, Tiefe und Diskurs aus der Welt verbannt und die verdorrten und blutleeren Überreste auf dem Seziertisch des monologischen Blicks ausgebreitet. Das Bewusstsein wird so in der Tat zum Gespenst in der Maschine, denn es hat soeben Selbstmord begangen. Womit wir bei Whiteheads berühmter Beschreibung der modernen naturwissenschaftlichen Weltsicht (des subtilen Reduktionismus) angelangt wären: "Eine fade Sache, ohne Klang, ohne Duft, ohne Farbe, nur noch das endlose, sinnlose Hasten von Material." Und er fügte hinzu: "Das hat die moderne Philosophie ruiniert." Es nützt auch nichts, dass dieser subtile Reduktionismus oft in holistischem Gewand daherkommt, weil sein Holismus immer nur die Außenseite betrifft: holistische und dynamisch miteinander verwobene Esheiten! Wenn man ein Buch über die holistische Systemtheorie oder das neue holistische wissenschaftliche Paradigma aufschlägt, findet man eine endlose Erörterung der Chaostheorie, kybernetischer Feedback-Mechanismen, dissipativer Strukturen, der Komplexitätstheorie, globaler Netze, von Systeminteraktionen – und all dies ist in der Sprache von Es-Prozessen beschrieben. Man findet nichts Substantielles über Ästhetik, Dichtkunst, Schönheit, Güte, ethische Dispositionen, intersubjektive Entwicklung, innere Erleuchtung, transzendente Intuition, ethische Antriebe, gegenseitiges Verständnis, Gerechtigkeit oder meditative Phänomenologie – und so etwas nennt sich "Holismus". Man findet, mit anderen Worten, nichts als eine monochrome Welt miteinander verwobener Es-heiten ohne Anerkennung der ebenso wichtigen und ebenso holistischen Bereiche des Ich und Wir, der subjektiven und intersubjektiven Räume, die doch überhaupt erst eine Wahrnehmung objektiver Systeme ermöglichen. Die Systemtheorie bekämpft daher in großartiger Weise den plumpen Reduktionismus, aber dafür ist sie selbst die herausragende Vertreterin des subtilen Reduktionismus, jenes "Es-ismus", der die Moderne so nachhaltig geprägt hat. "Das hat die moderne Philosophie ruiniert": Aber nicht nur diese, sondern auch die moderne Psychologie, Psychiatrie und Kognitionswissenschaft, weil sie nach wie vor alle Ich-heiten und alle Wirheiten auf Info-Esheiten reduzieren, die durch neuronale Es-Pfade huschen, auf denen sie durch Es-Neurotransmitter ihren Es-Zielen entgegenbefördert werden. Gegenwart, Existenz und Bewusstsein des Menschen sind nicht mehr nötig. Dass dies oft holistische und systemorientierte Ansätze sind, nützt da
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auch nichts mehr: Dies ist einfach subtiler Reduktionismus der schlimmsten Art, ein Flachland-Gewebe von Es-heiten. Dabei ist die Existenz dieser objektivistischen, empirischen, systemischen Es-Ansätze an sich nicht das Problem. Sie sagen Zutreffendes und Wichtiges über das Äußere verschiedener Phänomene aus, und insoweit sind sie unverzichtbar. Diesbezüglich bejahe ich sie voll und ganz. Das Problem liegt darin, dass diese Ansätze das Monopol auf die Wahrheit an sich reißen wollen und behaupten, der empirische Es-Bereich sei der einzige bedeutsame. Diesem aggressiven Imperialismus und dieser Usurpierung des Ich- und des Wir-Bereichs durch die monologischen Es-Ansätze muss man entgegentreten, wo immer man ihnen begegnet, und zwar im Namen anderer und ebenso ehrbarer Wahrheiten. Vergessen wir nicht: Das einzige, was der Urknall uns gelehrt hat, ist, dass eine Welt von Es-heiten das Universum in keiner Weise erklären kann. Auf irgendeine unauslöschliche Weise sind das Ich und das Wir ebenfalls dem Stoff des Kosmos eingewoben. Und in einer solchen Behauptung liegt durchaus nichts "Weithergeholtes" oder "Schauerliches". Jean's "im Geist eines ewigen GEISTES" mahnt uns lediglich, dass eine Welt bloßer Es-heiten überhaupt keine Welt mehr ist. Bewusstsein und Form, Subjektives und Objektives, Inneres und Äußeres, Purusha und Prakriti, Dharmakaya und Rupakaya sind Kette und Schuss eines wunderbaren Universums, das völlig sinnlos wird, wenn eines von beiden verworfen wird.
Das Elend der Verleugnung Man kann sich also der Einsicht nicht mehr verschließen, dass jedes Denksystem von der Philosophie über die Soziologie und die Psychologie bis zur Religion, das versucht, einen der vier Geltungsansprüche zu ignorieren oder zu leugnen, es mit dem Problem zu tun bekommt, dass diese ignorierten Wahrheiten innerhalb des Systems als schwerer innerer Widerspruch wieder auftauchen. Mit anderen Worten, wenn man die Realität einer dieser Wahrheiten bestreitet, dann kommt der geleugnete Quadrant durch die Hintertür wieder in das System herein (man schmuggelt ihn selbst in seine Philosophie hinein) und wird dieses System von innen her aufzehren, bis er schließlich als eklatanter Widerspruch zur Oberfläche durchbricht. Lassen Sie mich im folgenden die Quadranten durchgehen und einige kurze Beispiele dafür anführen, was mit Erkenntnistheorien geschieht, die einen der Quadranten leugnen. Dies ist sehr wichtig, weil, wie ich glaube, nicht nur orthodoxe, sondern auch "postmoderne" Ansätze und solche des
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"Neuen Paradigmas" oft von solchen einseitigen Modetorheiten infiziert sind, die ein integraler Ansatz im Interesse einer umfassenderen Vorgehensweise kritisieren muss. Szientismus Wie wir gesehen haben, sprechen Empiriker (und Positivisten und Szientisten im allgemeinen) praktisch allen linksseitigen Dimensionen jegliche konstitutive Wirklichkeit ab; nur das Rechtsseitige ist für sie wirklich. Alle linksseitigen Sachverhalte seien höchstens Abspiegelungen oder Repräsentationen der sensomotorischen Welt, der Welt des einfachen Orts, der Welt der Es-heiten, die von den menschlichen Sinnen oder ihren Verlängerungen erfasst wird. Aber "empirische objektive Erkenntnis" findet nur im Raum einer intersubjektiven Struktur statt, die die Differenzierung von Subjekt und Objekt überhaupt erst erlaubt. Nach Thomas Kuhns berühmter Formulierung sind wissenschaftliche Fakten in kulturelle Praktiken oder Paradigmen eingebettet. Damit wird nicht die objektive Komponente der Erkenntnis bestritten, wohl aber, dass Erkenntnis bloß objektiv oder unbefleckt empirisch sei. Mit anderen Worten, um behaupten zu können, dass alle Wahrheit "streng empirisch" ist, müssen die Empiriker in intersubjektiven Strukturen stehen, über die ihre eigenen Theorien aber nichts auszusagen vermögen. Die linguistische Aussage, dass alle gültige Erkenntnis empirisch sei, ist selbst nicht empirisch, und wenn die Empiriker so ihre eigene Position bekräftigen, laden sie sich einen Widerspruch auf: Der geleugnete intersubjektive Quadrant schlägt mit einem Überraschungsangriff zurück. (Diese intersubjektive Komponente der empirischen Erkenntnis bildet den Ansatzpunkt für viele einflussreiche Kritiken, nicht nur Thomas Kuhns Angriff auf den einfachen Empirismus, sondern auch Piagets kognitiv-strukturelle Revolution und Noam Chomskys vernichtende Kritik am Skinnerschen Behaviorismus in der Linguistik, um nur einige zu nennen.) Kultureller Konstruktivismus In neuerer Zeit haben wir es mit dem umgekehrten Versuch zu tun, der Leugnung jeglicher Form objektiver Wahrheit und ihrer Auflösung in einem kulturellen Konstruktivismus (dieser Ansatz heißt auch "sozialer Konstruktivismus", doch im technischen Sinne handelt es sich immer um einen kulturellen Konstruktivismus). Die extremen Versionen des Konstruktivismus beinhalten einen aggressiven Versuch, alle Quadranten auf den unteren linken Quadranten zu reduzieren (d.h. alle Erkenntnisbehauptungen zu intersubjektiven Konstruktionen zu machen). Dieser Versuch scheitert prompt und spektakulär. Nicht einmal Derrida und Foucault vertreten diesen extremen Konstruktivismus (auch wenn ihre
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amerikanischen Anhänger dies immer behaupten). Derrida räumt heute die Existenz transzendentaler Signifikate ein; ohne sie wäre es ihm zufolge unmöglich, von einer Sprache in eine andere zu übersetzen. Auch Foucaults Archäologie ist eine Aufeinanderfolge universeller Konstanten im menschlichen Erkennen, innerhalb dessen kulturspezifische Variationen konstruiert werden. Die extremen Konstruktivisten behaupten jedoch, dass es so etwas wie objektive Wahrheit nicht gäbe, weil unsere Vorstellungen einfach gemäss den jeweiligen Interessen konstruiert werden, meist Macht, aber auch verschiedene "Ismen" und Ideologien (Sexismus, Rassismus, Speziesismus, Kolonialismus usw.). Aber nun nehmen die Konstruktivisten für sich selbst in Anspruch, dass ihre Auffassung wahr sei. Dies könnten sie aber nur tun, wenn sie eine Theorie der Wahrheit verträten, die selbst nicht durch Macht oder Ideologie verzerrt ist. Mit anderen Worten, sie müssten die rechtsseitigen Aspekte des Daseins akzeptieren und anerkennen, durch die die Behauptungen einer adäquaten Wahrheit erst eine Grundlage bekämen, denn dies ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt aller Erkenntnis.3 Statt dessen behaupten sie einfach, es sei objektiv wahr, dass es keine objektive Wahrheit gibt. Natürlich sind Aspekte der Erkenntnis intersubjektiv konstruiert, aber diese Konstruktionen vollziehen sich in Netzen subjektiver, objektiver und interobjektiver Wirklichkeiten, die die Konstruktion einschränken. So werden wir zum Beispiel niemals eine gemeinsame kulturelle Weltsicht finden, in der Äpfel nach oben fallen oder in der Männer gebären – soviel zum willkürlichen Konstruktivismus. Deshalb ist auch John Searles letztes Buch ein scharfer Angriff auf den strengen Konstruktivismus. Er nennt es The Construction of Social Reality (im Gegensatz zur "gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit"), wobei er sagt, dass gesellschaftliche Wirklichkeit zum Teil an einer gegebenen sensomotorischen Welt konstruiert wird, die adäquat wiedergegeben wird, so dass diese Wirklichkeit selbst nicht gesellschaftlich konstruiert ist. Er sagt, dass wir auch zu den konstruierten Aspekten der Wirklichkeit nur vordringen können, wenn wir eine Übereinstimmung in der Vergleichbarkeit haben; beide sind unabdingbar. Der Reduktionismus der Systemtheorie Während die kulturellen Konstruktivisten versuchen, alle Wirklichkeit auf den unteren linken Quadranten zu reduzieren, versucht die Systemtheorie, sie auf den unteren rechten zu reduzieren. Dieser soziale Reduktionismus versucht, alle Wahrheit auf funktionelles Passen zurückzuführen, auf das dynamische Wechselspiel holistischer Es-heiten. Alle Ich- und Wir-heiten sind im dynamischen Gewebe miteinander verflochtener Es-heiten aufgelöst.
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Natürlich ist dieses dynamische Gewebe sehr wirklich – es ist der untere rechte Quadrant des Kosmos, aber dies ist nur eine Teilwahrheit, die, wenn sie verabsolutiert wird, die ganze linke Hälfte des Kosmos mit sich in den Abgrund reißt. Funktionelles Passen reduziert alle Wirklichkeit letztlich auf Begriffe des unteren rechten Quadranten (das Gesellschaftssystem), weshalb alle anderen Geltungsansprüche (von der propositionalen Wahrheit über kulturelle Bedeutung bis zur persönlichen Integrität) letztlich nur danach beurteilt werden, wie gut sie der holistischen Funktion des Gesellschaftssystems dienen. Alle qualitativen Unterscheidungen werden daher auf Begriffe der Zweckmäßigkeit und Effizienz reduziert; nichts ist "wahr", weil nur die reine Nützlichkeit in die Gleichung eingeht ("Wahrheit" ist dabei zum Beispiel alles, was der Autopoiese des sich selbst organisierenden Gesellschaftssystems nützlich ist; solche Theorien lösen freilich ihren eigenen Wahrheitswert im funktionellen Passen desjenigen auf, was sie beschreiben.) Trotzdem behaupten natürlich die Anhänger der Systemtheorie unter den Gesellschaftstheoretikern, Ökoholisten, Ökofeministinnen und Tiefenökologen, dass ihr Ansatz den Alternativen moralisch überlegen sei. Aber diesen moralischen Wert kann man in den Begriffen ihrer eigenen Systemtheorie nicht konstatieren, geschweige denn erklären, weil eben dieser Theorie zufolge alle existierenden Dinge und Ereignisse gleichermaßen Stränge im Gesamtgewebe des Lebens sind, weshalb es einfach nicht möglich ist zu sagen, dass irgend etwas davon richtig oder falsch sei. Alles, was geschieht, ist ein Ereignis im Gesamtsystem, und man kann und darf dieses Gesamtsystem nicht in Frage stellen, weil wir alle gleichermaßen Stränge in diesem Gewebe sind. Was uns als böse erscheint, ist einfach etwas, was das Gesamtsystem tut, weshalb sich auch alle ethischen Antriebe im FlachlandGewebe dynamisch miteinander verwobener Es-heiten auflösen. Natürlich versuchen viele Systemtheoretiker sogleich, ethische und normative Behauptungen durch die Hintertür wieder in ihre Theorie einzuführen, indem sie letztlich sagen: Gut ist, was dem System nützt, und schlecht, was ihm schadet. Aber eine solche Behauptung überhaupt nur auszusprechen bedeutet, aus dem System herauszutreten, um etwas über es auszusagen, und dies ist der Systemtheorie zufolge unmöglich. Insoweit also Systemtheoretiker beanspruchen, eine moralische oder normative Richtung anzugeben, haben sie aufgehört, Systemtheoretiker zu sein. Sie sind damit von einer beschreibenden Es-Sprache zu einer normativen Ich- und WirSprache übergegangen, und dies sind Begriffe, die die Systemtheorie nicht begreift und nicht begreifen kann. So machen sich der geächtete Ich- und Wir-Bereich doch wieder als formale Widersprüche in Flachland und im äußerlichen Holismus der Systemtheorie geltend.
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Selbstverständlich kommt der Systemtheorie ein wichtiger Platz zu, aber sie ist heute wegen ihres ausufernden subtilen Reduktionismus einer der großen modernen Feinde des Ich und des Wir, der individuellen Lebenswelt und unseres kulturellen Reichtums, was Habermas die "Kolonialisierung der Lebenswelt durch die Imperative von Funktionssystemen, die ihre Kosten externalisieren", einen "erblindeten Zwang zur Systemerhaltung und Systemsteigerung" nennt. Ihr Ansatz entspringt selbstverständlich durch und durch noblen Absichten, denen wir unsere Anerkennung gewiss nicht versagen können, aber irgendwo unterwegs zur globalen Vermählung sind sie vom Weg abgekommen und weit in das Flachland des subtilen Reduktionismus hinausgeraten, der genau jene Zersplitterung betreibt, die sie überwinden wollten.4 Wir wollen also die Systemtheorie und ihre Wahrheiten respektieren, aber wir müssen sie in den Kontext anderer und nicht weniger achtbarer Wahrheiten stellen. Kulturelle Relativität Jene Theoretiker, die sich ausschließlich auf den unteren linken oder kulturellen Quadranten konzentrieren, hängen einer von vielen Spielarten eines extremen Relativismus an, der durch die Leugnung anderer Quadranten ebenfalls in einen inneren Widerspruch gerät. Kulturelle Relativisten, extreme Pluralisten und Multikulturalisten sind alle Opfer desselben Widerspruchs: Sie behaupten, dass alle Wahrheiten relativ sind, dass es keine universellen Wahrheiten gibt und geben kann. Diese Auffassung nimmt nämlich für sich selbst universelle Gültigkeit in Anspruch. Sie stellt eine Reihe strenger Behauptungen auf, die für alle Kulturen gültig sein sollen (die Relativität der Wahrheit, die Kontextualität von Behauptungen, die gesellschaftliche Relativität aller Kategorien, die Historizität der Wahrheit usw.). Diese Auffassung behauptet also, dass es keinerlei universelle Wahrheiten gibt – ihre eigene ausgenommen. Diese soll in einer Welt, in der angeblich nichts universell oder höherrangig ist, universell und höherrangig sein. Dies ist ein weiterer Versuch, alle objektive Wahrheit auf eine intersubjektive Vereinbarung zu reduzieren, und ihn ereilt dasselbe Schicksal: Er kann seine eigene Haltung nicht bekräftigen, ohne sich selbst zu widersprechen. Er behauptet, dass sich über alle Kulturen etwas objektiv Wahres aussagen lässt, und dies ist richtig – aber nur dann, wenn man irgendeine Form objektiver Wahrheit anerkennt. Andernfalls kommt der geleugnete Quadrant wiederum durch die Hintertür in das System herein und legt es von innen heraus in Trümmer, was das Schicksal aller dieser selbstwidersprüchlichen Ansätze ist.
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Gewisse Aspekte der Kultur sind zweifellos konstruiert, und manche sind relativ und historisch bedingt. Aber es gibt Merkmale der menschlichen Körper-Seele, die in allen Kulturen gleich sind. So hat der Körper des Menschen überall 208 Knochen, ein Herz und zwei Nieren. Und der menschliche Geist hat überall die Fähigkeit, Bilder, Symbole, Begriffe und Regeln hervorzubringen. Die einfache Schlussfolgerung hieraus lautet, dass Körper und Geist des Menschen in allen Kulturen gewisse gemeinsame Tiefenstrukturen besitzen, die dort, wo sie auftreten, überall sehr ähnlich sind, während die Oberflächenstrukturen, die tatsächlichen Manifestationen dieser gemeinsamen Merkmale, in der Tat relativ, kulturspezifisch und historisch bedingt sind. Der Körper des Menschen hat vielleicht überall, wo er vorkommt, 208 Knochen, aber nicht alle Kulturen setzen diese Knochen zum Baseballspielen ein. Der integrale Ansatz erkennt den Reichtum der kulturellen Vielfalt in Oberflächenstrukturen an und berücksichtigt ihn, hält aber auch an den gemeinsamen Tiefenstrukturen aller Menschen fest: Weder monolithischer Universalismus noch zusammenhangloser Pluralismus ist sein Credo, sondern vielmehr ein wahrhaft universeller Pluralismus der Gemeinsamkeit in der Unterschiedlichkeit. Nur Ästhetik In jüngster Zeit ist ein wahrer Hagel rein ästhetischer Theorien der Wahrheit über uns hereingebrochen: Was man gerade schön findet, das ist der letzte Prüfstein der Wahrheit. Alle objektiven, interobjektiven und intersubjektiven Wahrheiten werden munter auf subjektive Neigungen reduziert (alle Quadranten auf den oberen linken). Der persönliche Geschmack allein ist der Richter der Wirklichkeit. Ich tue, was mir gefällt, und du tust, was dir gefällt. Und immer wird Nietzsche (fälschlich) der Vorwurf gemacht, diese Haltung verkündet zu haben. Selbstverständlich muss das ästhetische Urteil (oben links) in Wahrheit und Gerechtigkeit integriert werden, aber eine bloß ästhetische Erkenntnistheorie ist schlicht sprachlos. Sie lässt nicht nur intersubjektive Güte und Gerechtigkeit außer acht, sondern lässt auch keine objektiven Maßstäbe jeglicher Wahrheit gelten. Solange diese ästhetische Theorie schweigt und ihre eigenen Auffassungen niemals äußert, ist dies in Ordnung. Sobald sie aber zu erklären versucht, warum nur Ästhetik allein das gültige Kriterium sein kann, schmuggelt sie die anderen Quadranten herein und widerspricht sich selbst. Sie behauptet zumindest implizit, das, was sie tut, sei nicht nur wahr, sondern auch noch besser als andere Auffassungen, womit durch das Hintertürchen objektive und intersubjektive Urteile hereinkommen, die das schöne Theoriegebäude mit dem Sprengstoff des performativen Widerspruchs in Trümmer legen.
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Schlussfolgerung So finden wir also in allen vier Quadranten dieselben Probleme wieder. Der Kern der Sache ist, dass jeder Mensch einen subjektiven Aspekt (Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit), einen objektiven Aspekt (Wahrheit, Entsprechung), einen intersubjektiven Aspekt (kulturell konstruierte Bedeutung, Gerechtigkeit, Angemessenheit) und einen interobjektiven Aspekt (Systeme und funktionelles Passen) besitzt und dass unsere unterschiedlichen Erkenntnisansprüche in diesen sehr realen Bereichen gründen. Sobald man versucht, einen dieser Bereiche zu leugnen, führt man ihn unversehens früher oder später doch wieder in seine Philosophie ein: Die Empiriker interpretieren, wenn sie die Bedeutung in der Interpretation leugnen; die extremen Konstruktivsten und Relativisten pochen auf eine universelle Wahrheit, wenn sie die Existenz einer solchen grundsätzlich leugnen; die extremen Ästhetiker wollen mit Schönheit allein moralisches Gutsein behaupten – und so weiter und so fort. Wenn man also einen dieser Bereiche leugnet, tappt man gewissermaßen in seine eigene Falle und gerät in einen schweren inneren Widerspruch. Die integrale Sichtweise versucht dagegen, das Moment der Wahrheit in jedem dieser Ansätze – vom Empirismus über den Konstruktivismus und Relativismus bis zum Ästhetismus – anzunehmen, und indem sie die Bürde des Anspruchs von ihr nimmt, die einzig mögliche Wahrheit zu sein, befreit sie sie auch von ihren Widersprüchen und führt sie sozusagen in einer echten Regenbogenkoalition zusammen.
Das Spektrum des Bewusstseins Die integrale Betrachtungsweise sieht ihre Aufgabe grundsätzlich in einer alle Ebenen und alle Quadranten umfassenden Deutung des menschlichen Bewusstseins und Verhaltens. Gehen wir dennoch einmal näher auf den oberen linken Quadranten ein, das Innere des Individuums, den Ort des Bewusstseins selbst. Biologen und Medizinwissenschaftler arbeiten heute intensiv am menschlichen Genomprojekt, dessen Ziel es ist, alle Gene der vollständigen Sequenz der menschlichen DNA zu kartographieren. Dieses spektakuläre Projekt verspricht, alle unsere Auffassungen von Wachstum, Entwicklung, Erkrankung und medizinischer Behandlung des Menschen zu revolutionieren, und sein Abschluss wird zweifellos einen Markstein der menschlichen Erkenntnis bilden. Weniger bekannt, aber vielleicht wichtiger ist das, wie man es nennen könnte, menschliche Bewusstseinsprojekt, das heute intensiv betriebene
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Vorhaben, das ganze Spektrum der verschiedenen Bewusstseinszustände des Menschen (einschließlich von Bereichen des menschlichen Un-Bewussten) zu kartographieren. Dieses menschliche Bewusstseinsprojekt, an dem Hunderte von Forschern auf der ganzen Welt beteiligt sind, umfasst eine Reihe multidisziplinärer, multikultureller und multimodaler Ansätze, die insgesamt eine umfassende Darstellung aller möglichen Bewusstseinszustände verspricht, gewissermaßen eine vollständige Sequenz der "Bewusstseinsgene". Diese verschiedenen Versuche konvergieren heute zunehmend auf eine "Hauptmatrix" der verschiedenen Stufen, Strukturen und Zustände des Bewusstseins, die dem Menschen zur Verfügung stehen. Durch Vergleich und Gegenüberstellung verschiedener multikultureller Ansätze vom ZenBuddhismus bis zur westlichen Psychoanalyse, vom Vedanta bis zur existentiellen Phänomenologie, vom sibirischen Schamanismus bis zu veränderten Bewusstseinszuständen arbeiten diese Ansätze ein immer deutlicheres Bild heraus, ein Spektrum des Bewusstseins, wobei der eine Ansatz jeweils Lücken füllen kann, die ein anderer offen lässt. Wiewohl vieles im Detail noch genauer erforscht werden muss, ist die allgemeine Evidenz für die Existenz eines solchen Bewusstseinsspektrums mittlerweile so signifikant, dass dieses heute nicht mehr ernsthaft angezweifelt werden kann. Wir werden uns mit diesem Spektrum in Kapitel 1 noch ausführlicher befassen. Im Augenblick wollen wir einfach festhalten, dass dieses Spektrum von instinktiven über ichhafte zu spirituellen Modi zu reichen scheint, von vorpersonalen über personale zu transpersonalen Erfahrungen, von un-bewussten über selbst-bewusste bis zu über-bewussten Zuständen, vom Körper über die Seele bis zum GEIST. Das Fachgebiet, das dieses außerordentliche Spektrum des Bewusstseins vielleicht am sorgfältigsten und genauesten erkundet hat, ist die sogenannte transpersonale Psychologie. Sie wird manchmal auch "die vierte Kraft" genannt, wobei die ersten drei die behavioristische, die psychoanalytische und die humanistische Schule sind. Das Wort "transpersonal" bedeutet einfach "über das Personale hinausgehend". Damit ist gemeint, dass die transpersonale Orientierung alle Facetten der personalen Psychologie und Psychiatrie einschließt, aber jene tieferen oder höheren Aspekte der menschlichen Erfahrung hinzufügt, die über das Gewöhnliche und Durchschnittliche hinausgehen – Erfahrungen, die eben "transpersonal" oder "mehr als personal" sind. Die transpersonale Psychologie und Psychiatrie nehmen also das ganze Spektrum des Bewusstseins als Ausgangspunkt, um so den ganzen Bereich menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten genauer und vollständiger darzustellen. Der integrale Ansatz anerkennt dieses umfassende Spektrum des Bewusstseins als die beste verfügbare Landkarte des oberen linken
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Quadranten im allgemeinen, eine Landkarte, die das direkte Ergebnis dieses außergewöhnlichen menschlichen Bewusstseinsprojekts ist. Aber der integrale Ansatz erschöpft sich nicht hierin. Das Wesentliche ist vielmehr, dass dramatische Veränderungen eintreten müssen, wenn man das ganze Spektrum des Bewusstseins anerkennt und berücksichtigt, und zwar in allen Fachgebieten, denen er sich zuwendet, von der Anthropologie bis zur Ökologie, von der Philosophie bis zur Kunst, von der Ethik bis zur Soziologie, von der Psychologie bis zur Politik. Deshalb sagen wir, dass die integralen Studien grundsätzlich einer sich über alle Ebenen und alle Quadranten erstreckenden Sichtweise des menschlichen Bewusstseins und Verhaltens verpflichtet sind (also nicht einfach nur den Quadranten, sondern auch den verschiedenen Ebenen und Dimensionen eines jeden dieser Quadranten), das heißt dem ganzen Spektrum von Ebenen in den intentionalen, verhaltensmäßigen, kulturellen und sozialen Aspekten des Menschen. In den folgenden Kapiteln werden wir uns ausführlicher mit Beispielen für die einzelnen Disziplinen der integralen Studien befassen, nämlich mit integraler Psychologie (Kapitel 1, 9 und 10), integraler Anthropologie (Kapitel 2), integraler Philosophie (Kapitel 3), integraler Kunst- und Literaturtheorie (Kapitel 4 und 5), integralem Feminismus (Kapitel 8) und integraler Spiritualität (Kapitel 9, 10 und 11). Dies sind die Teile, die wir zu einer integralen, vollständigen Sichtweise verweben wollen, um – zumindest für unser aktuelles Vorhaben – diesen außerordentlichen Kreis des Verstehens zu vollenden.
Die großen Weisheitstraditionen Der Mensch hat, wie die christlichen Mystiker oft betonen, (mindestens) drei Augen der Erkenntnis: Das Auge des Fleisches, das physische Ereignisse wahrnimmt, das Auge des Geistes, das Bilder, Begierden, Begriffe und Ideen wahrnimmt, und das Auge der Kontemplation, das spirituelle Erfahrungen und Zustände wahrnimmt. Dies ist natürlich nichts anderes als eine vereinfachte Version des Spektrums des Bewusstseins, das sich vom Körper über die Seele zum GEIST erstreckt. Der obere linke Quadrant wurde historisch als die Große Kette des Seins erkundet, eine Konzeption, die Arthur Lovejoy zufolge "die vorherrschende offizielle Philosophie des größeren Teils der zivilisierten Menschheit während des größten Teils ihrer Geschichte" war. Huston Smith hat in seinem bemerkenswerten Buch Forgotten Truth gezeigt, dass alle großen Weisheitstraditionen der Welt vom Daoismus bis zum Vedanta, vom Zen bis
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zum Sufismus, vom Neuplatonismus bis zum Konfuzianismus auf der Großen Kette beruhen, das heißt auf einer Version des Gesamtspektrums des Bewusstseins mit seinen Seins- und Erkenntnisebenen. Einige postmoderne Kritiker haben eingewandt, dass der Begriff der Großen Kette hierarchisch und damit repressiv sei: ihre Grundlage sei eine garstige "Rangordnung" statt einer mitleidsvollen "Verknüpfung". Aber dieser Einwand scheint mir nicht sonderlich durchdacht zu sein. Zum einen fällen die ach so antihierarchischen Kritiker selbst ein hierarchisches Urteil, wenn sie behaupten, dass ihre Auffassung besser sei als die Alternativen. Sie haben selbst eine äußerst starre Hierarchie, auch wenn sie versteckt und unausgesprochen (und völlig widersprüchlich) ist. Zum anderen war die Große Kette in Wirklichkeit eine, wie Arthur Koestler es nannte, Holarchie, eine Aufeinanderfolge konzentrischer Kreise oder Verschachtelungen, wobei jede höhere Ebene die niedrigere transzendierte, aber zugleich einschloss. Natürlich ist dies eine Rangordnung, aber eine solche zunehmender Einschließung und Umfassendheit, wobei jede höhere Ebene mehr und mehr von der Welt und ihren Bewohnern einschließt, bis hin zu den oberen, spirituellen Regionen des Spektrums des Bewusstseins, die absolut allumfassend und all-einschließend sind. Wir haben es also, wie schon gesagt, mit einer Art radikalem universellen Pluralismus zu tun. Selbstverständlich können alle Hierarchien (einschließlich der feministischen Hierarchie, die "Verbindung" höher einstuft als "Rangordnung") grob missbraucht werden, indem bestimmte Werte unterdrückt oder an den Rand gedrängt werden. Dies macht aber nicht Hierarchien als solche generell verwerflich, sondern nur pathologische oder Herrschafts-Hierarchien. Riane Eisler hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass ein großer Unterschied besteht zwischen Verwirklichungs- und Herrschafts-Hierarchien, und die Große Kette war von Anfang an eine ausgesprochene Verwirklichungs-Holarchie, auch wenn sie gelegentlich missbraucht wurde. (In Kapitel 1 werden wir uns der Großen Kette nochmals zuwenden und ihre Bedeutung ausführlicher untersuchen.) Andererseits, und abgesehen von solchen Missbräuchen, haben die großen Weisheitstraditionen in der Tat selbst dort, wo sie zur höchsten Vollendung gelangten, gewisse entscheidende Dinge vernachlässigt, die jene frühen Erforscher des Spektrums des Bewusstseins nicht erkannten oder vielleicht auch nicht erkennen konnten. Vor allem zwei eklatante Mängel der Weisheitstraditionen müssen hier angesprochen werden, weil die integralen Studien, wenn sie wirklich integral sein wollen, über diese schwerwiegenden Unzulänglichkeiten nicht hinwegsehen können. Das erste betrifft die Erkenntnis, dass die frühesten Entwicklungsphasen des Menschen eine entscheidende Rolle für das spätere Wachstum spielen
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können, eine Erkenntnis, wie sie etwa Freud in seinem bahnbrechenden Werk formuliert hat. Die unvergleichliche Stärke der großen kontemplativen Traditionen lag in der Darstellung der menschlichen Weiterentwicklung von den mentalen und ichhaften Modi zu den transmentalen und spirituellen Modi; aber sie wussten nichts über die Stufen zu sagen, die überhaupt erst zum Mentalen und Ichhaften hinführen. In Jack Englers denkwürdiger Formulierung: "Man muss erst jemand sein, bevor man niemand sein kann." Das heißt: Man muss zuerst ein starkes und sicheres Ich entwickeln, bevor man es transzendieren kann – und die großen Traditionen verstanden sich hervorragend auf letzteres, während sie bei ersterem kläglich versagten. Ein wirklich das ganze Spektrum umfassender Ansatz in der Psychiatrie und Psychologie muss aber unbedingt beides einschließen: das Fortschreiten vom Instinkt zum Ich und das Fortschreiten vom Ich zum GEIST. Und weil sich das Spektrum des Bewusstseins entwickelt, können moderne Forscher überhaupt erst das ganze Arsenal von Techniken der Entwicklungsforschung einsetzen, um die verschiedenen Entwicklungslinien des Bewusstseins selbst aufzuklären. Wir können also heute beginnen, die Entfaltung von Entwicklungslinien wie derjenigen der Kognition, der Affekte, der moralischen Empfindung, der Objektbeziehungen, der Selbstidentität, der Modi von Raum und Zeit, der Motivationen und Bedürfnisse und so weiter nachzuzeichnen, und zwar nicht nur von vor-ichhaften zu ichhaften Modi, sondern auch von ichhaften zu trans-ichhaften Modi. Damit haben die integralen Studien die historische Chance, das erste über das ganze Spektrum sich erstreckende Modell des menschlichen Wachstums und der menschlichen Entwicklung zu entwerfen. Das nämliche gilt für die integrale Psychotherapie. Weil sich das Spektrum des Bewusstseins entwickelt, sind auf jeder Stufe dieser Entwicklung Fehlentwicklungen möglich. Wie bei jeder lebenden Identität sind an jeder Stelle des Wachstums Pathologien möglich. Das Spektrum des Bewusstseins ist damit auch ein Spektrum verschiedener Arten möglicher Pathologien, psychotischer, neurotischer, kognitiver, existentieller, spiritueller. Ein über das ganze Spektrum gehender Ansatz in der Psychologie und Psychiatrie ist auf Behandlungsformen ausgerichtet, die sich über die ganze Bandbreite mit diesen verschiedenen Formen von Pathologien auseinandersetzen (wir werden uns diesem Thema noch in Kapitel 6 und 7 zuwenden). Die zweite große Schwäche der großen Traditionen liegt darin, dass sie nicht klar erkannten, dass die verschiedenen Ebenen eines inneren Bewusstseins Korrelate in den übrigen Quadranten haben. Mit anderen Worten, es genügt nicht zu sagen – wie es die großen Traditionen tun –, dass der Mensch verschiedene Ebenen hat (zum Beispiel Körper, Geist, Seele und GEIST), sondern jede dieser Ebenen hat auch vier Aspekte, einen
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intentionalen, einen verhaltensmäßigen, einen kulturellen und einen sozialen. Dieses mehrdimensionale Raster erweitert das Studium des Menschen in einer dramatischen und nie da gewesenen Weise. Dies eben ist der Kern der integralen Studien. So können wir zum Beispiel heute damit beginnen, eine Korrelation zwischen Zuständen meditativen Gewahrseins und Gehirnwellenmustern herzustellen (ohne zu versuchen, das eine auf das andere zu reduzieren!). Wir können physiologische Änderungen beobachten, die bei spirituellen Erfahrungen auftreten. Wir können den Spiegel der Neurotransmitter bei psychotherapeutischen Interventionen beobachten. Wir können die Wirkungen von psychoaktiven Mitteln auf die Blutverteilung im Gehirn verfolgen. Wir können den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Produktionsweisen und Veränderungen in der kulturellen Weltsicht aufzeigen. Wir können die historische Entwicklung kultureller Weltsichten nachvollziehen und den Status von Männern und Frauen in jedem Zeitraum festhalten. Wir können die Ich-Modi ermitteln, die mit verschiedenen Arten einer technischwirtschaftlichen Infrastruktur korrelieren. Und so können wir durch alle Quadranten fortfahren: Nicht einfach auf allen Ebenen, sondern auf allen Ebenen und in allen Quadranten. Die heutigen integralen Studien können also ein schweres Manko der großen Traditionen beseitigen: Sie können das Spektrum des Bewusstseins nicht nur in seinen intentionalen, sondern auch in seinen verhaltensmäßigen, sozialen und kulturellen Manifestationen darstellen, womit wiederum die Bedeutung eines mehrdimensionalen Ansatzes für eine wirklich umfassende Darstellung des menschlichen Bewusstseins und Verhaltens unterstrichen wird. Und schließlich versetzen uns diese umfassenderen und fortgeschritteneren Werkzeuge der Verhaltens-, Entwicklungs- und Kulturanalyse auch in die Lage, jene Bereiche präziser zu benennen, in denen die großen Traditionen allzu sehr in die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten ihrer Zeit verstrickt waren, vom Sexismus über den Speziesismus und den Militarismus bis zum Egozentrismus. Kurz, die integralen Studien unserer Zeit haben die Verbindung zu den großen Weisheitstraditionen der Welt wiederhergestellt und viele ihrer wesentlichen und bahnbrechenden Erkenntnisse wiederaufgegriffen, während sie zugleich neue Verfahren und Techniken hinzufügten, die bisher nicht vorhanden waren. Dies ist Multikulturalismus im besten und tiefsten Sinne, der kulturelle Unterschiede bewahrt, aber in einen wahrhaft universellen Kontext stellt.
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Schlussfolgerung Der integrale Ansatz ist einer alle Ebenen und alle Quadranten umfassenden Vorgehensweise verpflichtet, die das ganze Spektrum des Bewusstseins nicht nur im Ich-Bereich, sondern auch im Wir- und Es-Bereich abdeckt und dadurch Kunst mit Moral und Wissenschaft, Selbst mit Ethik und Umwelt, Bewusstsein mit Kultur und Natur, Buddha mit Sangha und Dharma und das Wahre mit dem Schönen und dem Guten integriert. In den folgenden Kapiteln werden wir uns mit ganz konkreten Beispielen für alle diese vielfältigen Facetten des Kosmos beschäftigen und dabei versuchen, diese zu einem farbenfrohen Tuch zu verweben. Und wer weiß – vielleicht gelangen wir, Sie und ich, in den oberen Regionen des Spektrums des Bewusstseins zu einer unmittelbaren Intuition des Geistes eines ewigen GEISTES, der in jedem Ich und jedem Wir und jedem Es leuchtet, eines GEISTES, der im Regen singt und im Wind tanzt, eines GEISTES, von dem zu sprechen immer aufrichtigste Verehrung ist, eines GEISTES, der mit unserer Zunge spricht und aus unseren Augen blickt, der mit diesen Händen berührt und mit dieser Stimme ruft, der uns seit jeher liebevoll ins Ohr flüstert: Vergiss niemals das Wahre, Vergiss niemals das Schöne, und Vergiss niemals das Gute. Die integrale Vision ist der moderne und postmoderne Versuch, ebendieses Versprechen einzulösen.
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Kapitel 1 Das Spektrum des Bewusstseins Integrale Psychologie und die Philosophia perennis Wie in der Einleitung ausgeführt, ist die allgemeine Evidenz für die Existenz eines Bewusstseinsspektrums mittlerweile so signifikant, dass dieses heute nicht mehr ernsthaft angezweifelt werden kann. Darüber hinaus ist heute deutlich geworden, wie verblüffend gut dieses allgemeine Spektrum mit dem Kern der großen Weisheitstraditionen der Welt übereinstimmt. Die "Hauptmatrix", die diese modernen Forschungen erarbeiten, vermag daher eine Verbindung zum Kern der Weisheitstraditionen der Welt herzustellen und schafft zugleich die Möglichkeit, deren Einsichten dort, wo es notwendig ist, zu aktualisieren und zu modernisieren. Das Ziel des "integralen Ansatzes" ist daher die sinnvolle Verbindung von alter Weisheit mit modernem Wissen. Beginnen wir mit den grundlegenden Dingen, mit denjenigen Elementen der großen Traditionen, denen der Sturm der Zeiten nichts anhaben konnte und die heute in vielen modernen Wissenschaftsdisziplinen wieder eine glanzvolle Bestätigung finden. Sie alle sind in dieses außerordentliche Spektrum des Bewusstseins eingebettet. Welches ist nun die Weltsicht, die, wie Arthur Lovejoy sagt, "die vorherrschende offizielle Philosophie des größeren Teils der zivilisierten Menschheit während des größten Teils ihrer Geschichte" war, jene Weltanschauung, "um die es der Mehrzahl der subtileren spekulativen Geister und der großen religiösen Lehrer in Ost und West zu tun war, jedem auf seine Weise"? Welches ist die Weltsicht, die Alan Watts zu der nüchternen Aussage veranlasste, dass "wir uns der Absurdität unserer Haltung kaum Bewusst sind und uns die schlichte Tatsache befremdlich klingt, dass es einmal einen geschlossenen universellen philosophischen Konsens gab und noch gibt. Ihm hingen und hängen [Menschen] an, die von denselben Erkenntnissen berichten und dieselbe grundlegende Lehre verkünden, ob sie heute oder vor 6000 Jahren lebten, ob in Neumexiko, im Fernen Westen oder in Japan im Fernen Osten." Was hat dies mit den integralen Studien zu tun? Diese Weltsicht, die als Philosophia perennis, "ewige Philosophie", bezeichnet wird, weil sie in denselben Grundzügen in den verschiedensten Kulturen und in allen Zeitaltern auftritt, bildet nicht nur den Kern der großen
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Weisheitstraditionen der Welt, vom Christentum über den Buddhismus zum Daoismus, sondern auch der Lehren vieler der größten Philosophen, Wissenschaftler und Psychologen in Ost und West, Nord und Süd. Diese Philosophia perennis (mit der ich mich gleich noch ausführlicher befassen werde) ist so überwältigend universell, dass sie entweder der größte Denkfehler ist, den sich die Menschheit in ihrer Geschichte je leistete, ein dermaßen weitverbreiteter Irrtum, dass man darüber tatsächlich an seinem Verstand (verzweifeln müsste – oder sie ist die getreueste Wiedergabe einer Wirklichkeit, die noch zutage treten wird. Den Kern der Philosophia perennis bildet der Begriff der Großen Kette des Seins. Dahinter steht eine im Grunde recht einfache Vorstellung: Die Wirklichkeit ist nicht eindimensional, kein Flachland einförmiger Substanz, die sich monoton vor dem Auge ausdehnt, sondern sie ist vielmehr aus mehreren unterschiedlichen, aber kontinuierlichen Dimensionen zusammengesetzt. Die manifeste Wirklichkeit besteht aus verschiedenen Abstufungen oder Ebenen, die von der untersten, dichtesten und am wenigsten Bewussten bis zur höchsten, subtilsten und Bewusstesten reichen. Am einen Ende dieses Kontinuums des Seins oder Spektrums des Bewusstseins steht dasjenige, was wir im Westen "Materie", das Unfühlende und das Nichtbewusste nennen würden, am anderen Ende der "GEIST", die "Gottheit" oder das "Überbewusste" (das auch als der alles durchziehende Grund der ganzen Abfolge bezeichnet wird, wie wir noch sehen werden). Dazwischen eingefügt sind die übrigen Dimensionen des Seins gemäss ihren unterschiedlichen Graden von Wirklichkeit (Platon), Aktualität (Aristoteles), Einschließlichkeit (Hegel), Bewusstsein (Aurobindo), Klarheit (Leibniz), Umfassendheit (Plotin) oder Bewusstheit (Garab Dorje). Oft wird die Große Kette mit nur drei Hauptebenen dargestellt: Stoff, Seele und GEIST. Andere Versionen nennen fünf Ebenen, und wieder andere geben noch ausführlichere Aufgliederungen der Großen Kette; einige der yogischen Systeme umfassen buchstäblich Dutzende verschiedener, aber ineinander übergehender Dimensionen. Für unsere Zwecke soll im Augenblick die einfache Hierarchie von Stoff, Körper, Geist, Seele und GEIST genügen. Die zentrale Behauptung der Philosophia perennis lautet, dass der Mensch wachsen und sich über die ganze Hierarchie bis hin zum GEIST entwickeln kann, wo er die "höchste Identität" mit der Gottheit verwirklicht, dem ens perfectissimum, dem alles Wachstum und alle Evolution zustrebt. Bevor wir uns jedoch damit befassen, sticht uns zunächst ins Auge, dass die Große Kette eine "Hierarchie" ist – ein Wort, das heute "keine gute Presse" mehr hat. Der von dem großen christlichen Mystiker (Pseudo)Dionysios Areopagita eingeführte Begriff bedeutete ursprünglich "sein Leben spirituellen Prinzipien unterordnen" (hieros heißt "heilig", und -arche "Herrschaft"). Bald aber wurde er in einem politischen / militärischen Sinne
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gebraucht, wobei aus "vom Geist beherrscht" "von der katholischen Kirche beherrscht" wurde – ein spirituelles Prinzip verwandelte sich in Despotie. Im Sinne der Philosophia perennis – aber auch der modernen Psychologie, der Evolutionstheorie und der Systemtheorie – ist eine Hierarchie einfach eine Gliederung von Sachverhalten nach ihrer holistischen Kapazität. In jeder Entwicklungssequenz ist etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Ganzes ist, auf der nächsten Stufe nur noch Teil eines größeren Ganzen. Ein Buchstabe ist Teil eines ganzen Wortes, das Teil eines ganzen Satzes ist, der Teil eines ganzen Absatzes ist usw. Arthur Koestler prägte für etwas, das in einem Zusammenhang ein Ganzes und in einem anderen zugleich ein Teil ist, den Begriff "Holon". In dem Ausdruck "der Tau auf den Blüten" beispielsweise ist das Wort "Tau" im Hinblick auf die einzelnen Buchstaben ein Ganzes, aber ein Teil, wenn wir den Ausdruck insgesamt betrachten. Und das Ganze oder der Kontext kann die Bedeutung oder Funktion eines Teils bestimmen – in dem Wort "Morgentau" bedeutet Tau etwas anderes als in "Schiffstau". Das Ganze ist mit anderen Worten mehr als die Summe seiner Teile und kann in vielen Fällen die Funktion seiner Teile beeinflussen und bestimmen. Hierarchie ist demnach einfach eine Rangordnung immer umfassender werdender Holons und stellt eine Zunahme an Ganzheit und Integrationskraft dar. Deshalb ist Hierarchie von so entscheidender Bedeutung für die Systemtheorie, die Theorie der Ganzheitlichkeit oder des Holismus. Und sie ist auf alle Fälle ein zentraler Begriff der Philosophia perennis. Jedes umfassendere Glied in der Großen Kette des Seins steht für einen Zuwachs an Einheit und umfassenderer Identität, wenn man etwa von der isolierten Identität des Körpers über die gesellschaftliche und gemeinschaftliche Identität des Geistes zur höchsten Identität des GEISTES fortschreitet, einer Identität mit buchstäblich jeglicher Manifestation. Deshalb wird die große Hierarchie des Seins oft als Aufeinanderfolge konzentrischer Kreise oder Kugeln oder als Schachtelung dargestellt. Wie wir noch sehen werden, ist die Große Kette letztlich die große Verschachtelung des Seins. Schließlich ist Hierarchie auch asymmetrisch, weil der Prozess nicht umkehrbar ist. So gibt es zum Beispiel erst Buchstaben, dann Wörter, dann Sätze, dann Absätze, aber nicht umgekehrt. Dieses nicht umgekehrt stellt eine unvermeidliche Hierarchie oder Rangordnung, eine asymmetrische Aufeinanderfolge zunehmender Ganzheitlichkeit dar. Alle bekannten Entwicklungs- und Evolutionsabläufe vollziehen sich hierarchisch oder nach einer Stufenfolge zunehmender Ganzheitlichkeit, beispielsweise von Molekülen über Zellen, Organe, Organsysteme und Organismen bis zu Gesellschaften von Organismen. Bei der kognitiven Entwicklung sehen wir, wie das Bewusstsein von einfachen Bildern ausgeht, die jeweils ein Ding oder Ereignis repräsentieren, sich dann auf Symbole und
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Begriffe als Stellvertreter ganzer Gruppen oder Klassen von Dingen und Ereignissen ausdehnt und schließlich zu Regeln kommt, die etliche Klassen und Gruppen zu Netzwerken ordnen und integrieren. Bei der moralischen Entwicklung begegnet uns ein Denken, das vom einzelnen Subjekt auf eine Gruppe oder einen Stamm verbundener Subjekte übergeht und Schließlich jenseits aller einzelnen Elemente, zu einem ganzen Netzwerk von Gruppierungen gelangt. Und so weiter. Und weil, beispielsweise, zuerst Moleküle da sind und dann Zellen und dann Organe und so weiter, bilden hierarchische Netzwerke sich notwendigerweise in Stadien oder Stufen und nicht auf einen Schlag. Alles Wachstum hat Stadien, und Stadien müssen im logischen wie im chronologischen Sinne eine Stufenfolge haben. Die holistischeren Stadien bilden sich später, weil sie das Auftauchen der Teile abwarten müssen, die sie dann integrieren und vereinigen werden – wie auch ein ganzer Satz erst entstehen kann, wenn ganze Wörter vorhanden sind. Manche Hierarchien beinhalten auch eine Art Regelmechanismus. Roger Sperry weist darauf hin, dass niedrigere (weniger ganzheitliche) Ebenen die höheren (ganzheitlicheren) durch "Aufwärts-Kausalität" beeinflussen können. Genauso wichtig ist aber, dass von den höheren Ebenen sehr starke Steuerungs- und Kontrolleinflüsse auf tiefere ausgehen können – das ist "Abwärts-Kausalität". Ein Beispiel für Abwärts-Kausalität: Wenn Ihre entsprechende Absicht zu einer Armbewegung führt, bewegen sich alle Atome, Moleküle und Zellen Ihres Arms mit. Wenn sich im Verlauf irgendeiner Entwicklungs- oder Wachstumssequenz ein umfassenderes Stadium oder Holon herausbildet, schließt es die Fähigkeiten und Muster und Funktionen der vorausgehenden Stadien oder Holons ein und fügt dann seine ganz eigenen und umfassenderen Fähigkeiten hinzu. In diesem und nur in diesem Sinn kann das neue Holon als "höher" oder "tiefer" bezeichnet werden. Jede Stufe besitzt demnach all das, was die vorige Stufe ausmachte, aber noch etwas darüber hinaus (zum Beispiel mehr Integrationskraft), und dieses "darüber hinaus" bedeutet einen Wertzuwachs gegenüber der vorausgehenden Stufe. Diese ganz entscheidende Definition einer höheren Stufe wurde im Westen mehrmals durch Aristoteles und im Osten durch Liezi und Shankara eingeführt und ist seither ein Kernsatz der Philosophia perennis. Ein kurzes Beispiel: Bei der kognitiven und moralischen Entwicklung von Jungen und Mädchen ist das Stadium des präoperationalen oder präkonventionellen Denkens weitgehend durch den eigenen Blickwinkel des Individuums bestimmt ("Narzissmus"). Auf der folgenden, der operationalen oder konventionellen Stufe bleibt zwar der eigene Blickwinkel bestehen, doch kommt jetzt die Fähigkeit hinzu, auch die Perspektive anderer nachzuvollziehen. Nichts ging verloren, vielmehr kam etwas hinzu. In dem
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Sinne kann diese neue Stufe mit Recht höher oder tiefer genannt werden, nämlich wertvoller und nützlicher für eine breitere Palette von Interaktionen. Konventionelles Denken ist wertvoller als präkonventionelles, weil es ausgewogene moralische Reaktionen ermöglicht (und postkonventionelles Denken bringt abermals einen Wertzuwachs mit sich). Wie seit Hegel alle Entwicklungsdenker sagen, ist jedes Stadium in sich selbst angemessen und wertvoll, aber jedes tiefere oder höhere Stadium ist noch angemessener und in diesem Sinne wertvoller (und das heißt immer ganzheitlicher oder weniger eingeschränkt in den Reaktionsmöglichkeiten). Überlegungen dieser Art führten Koestler – nachdem er erkannt hatte, dass alle Hierarchien sich aus Holons zusammensetzen – zu dem Gedanken, dass man statt "Hierarchie" lieber "Holarchie" sagen sollte. Er hat völlig recht, und ich werde die beiden Begriffe in diesem Buch als austauschbar verwenden. Unter normaler oder natürlicher Holarchie verstehen wir eine gestufte oder in Stadien verlaufende Entfaltung größerer Netzwerke von zunehmender Ganzheit, wobei die größeren oder umfassenderen Ganzheiten die darunter liegenden beeinflussen können. Das ist natürlich und gut und kann nicht anders sein, aber man erkennt hier schon, wo auch Holarchien pathologisch werden können. Wenn die höheren Ebenen Einfluss auf die unteren ausüben, können sie auch allzu dominant werden und die tieferen Ebenen unterdrücken oder gar ausgrenzen. Dies erzeugt einen ganzen Rattenschwanz pathologischer Schwierigkeiten, beim einzelnen ebenso wie in der Gesellschaft. Denn eben weil die Welt holarchisch aufgebaut ist, aus Feldern in Feldern in Feldern, können die Dinge so ganz und gar schief laufen und kann eine pathologische Störung auf irgendeinem Gebiet das gesamte System erfassen. Und die Kur für solche pathologischen Störungen ist in jedem System grundsätzlich dieselbe: Die pathologischen Holons ausschalten, damit die gesamte Holarchie zu einem harmonischen Zustand zurückkehren kann. Die Kur kann nicht darin bestehen, die Holarchie selbst abzuschaffen, denn selbst wenn das möglich wäre, hätte man anschließend nur ein uniformes, eindimensionales Flachland ohne jegliche Wertunterschiede (weshalb auch die grundsätzlichen Hierarchiegegner ganz schnell eine eigene Werteskala – die sich dann prompt als Privathierarchie entpuppt – an ihre Stelle setzen wollen). Nein, alles Kranke wird dadurch geheilt, dass man all die Holons ausschaltet, die sich durch Missbrauch ihrer Fähigkeit, Abwärts- oder Aufwärts-Kausalität in Gang zu setzen, eine Position erschlichen haben, die ihnen nicht zusteht. Ebendieses Heilverfahren sehen wir in der Psychoanalyse (Schatten-Holons widersetzen sich der Integration), in demokratischen Revolutionen (monarchische oder faschistische Holons knebeln das
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Gemeinwesen), in der Medizin (Krebs-Holons machen sich in einem gesunden System breit), in der kritischen Gesellschaftstheorie (ideologische Holons entstellen die offene Kommunikation), in radikalfeministischer Kritik (patriarchalische Holons beherrschen die öffentliche Sphäre) und so weiter. Es geht nicht darum, die Holarchie selbst abzuschaffen, sondern den überheblichen Holons Einhalt zu gebieten und sie wieder einzugliedern. Wie schon gesagt, sind die großen Weisheitstraditionen der Welt im Grunde Variationen der Philosophia perennis, der großen Holarchie des Seins. In seinem großartigen Buch Forgotten Truth benutzt Huston Smith einen Ausdruck, der nach seiner Auffassung auf alle großen Religionen der Welt zutrifft: "Hierarchie des Seins und Erkennens". Chögyam Trungpa Rinpoche schreibt in seinem Buch vom meditativen Leben, der Kerngedanke aller Philosophien des Ostens, von Indien über Tibet bis China, der allen Systemen von Shintoismus bis Daoismus zugrunde liegt, sei der "einer Hierarchie von Erde, Mensch und Himmel", und das entspricht, wie er sagt, "Körper, Seele, Geist". Ananda K. Coomaraswamy sagt in seinem Hinduism and Buddhism, dass alle großen Weltreligionen "auf ihre je eigene Weise eine Hierarchie von Typen oder Ebenen des Bewusstseins repräsentieren, die vom Animalischen bis zum Göttlichen reicht; ein und dasselbe Individuum kann zu verschiedenen Gelegenheiten mal dieser, mal jener Stufe zuzuordnen sein". Dies führt uns zum berüchtigtsten Paradoxon der Philosophia perennis. Wie wir gesehen haben, lehren die Weisheitstraditionen, dass die Wirklichkeit sich in Ebenen oder Dimensionen manifestiert, wobei jede höhere Dimension umfassender und daher der absoluten Gesamtheit der Gottheit oder des GEISTES "näher" ist. In diesem Sinne ist der GEIST der Gipfelpunkt des Seins, die oberste Sprosse auf der Leiter der Evolution. Zugleich gilt aber auch, dass der GEIST das Holz ist, aus dem die ganze Leiter und alle ihre Sprossen gemacht sind. Der GEIST ist die Soheit, die Seinsheit, die Essenz von allem Seienden. Der erste Aspekt, derjenige der obersten Sprosse, steht für die transzendentale Natur des GEISTES, die über alles "Weltliche", Geschöpfliche und Endliche hinausgeht. Selbst wenn man die ganze Erde oder auch das Universum zerstören würde, würde der GEIST bleiben. Der zweite Aspekt, der in die Analogie des Leiterholzes gekleidet ist, steht für die immanente Natur des GEISTES: der GEIST ist unparteiisch gleichermaßen und vollständig in allen manifesten Dingen und Ereignissen vorhanden, in der Natur, in der Kultur, im Himmel und auf der Erde. Aus diesem Blickwinkel ist keine Erscheinung dem GEIST näher als irgendeine andere, denn alles ist gleichermaßen "aus GEIST gemacht". Der GEIST ist also sowohl das höchste Ziel aller Entwicklung und Evolution als auch der Grund der ganzen Abfolge, am Anfang so gegenwärtig wie am Ende. Der GEIST ist vor dieser Welt, aber nicht jenseits von ihr.
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Dass diese beiden paradoxen Aspekte des GEISTES oft nicht berücksichtigt wurden, hat historisch zu einigen erheblich verzerrten (und politisch gefährlichen) Auffassungen vom GEIST geführt. Traditionell haben die patriarchalen Religionen die transzendente Natur des GEISTES eher überbetont und damit die Erde, die Natur, den Körper und die Frauen zu einem minderwertigen Status verdammt. Davor haben die matriarchalen Religionen die immanente Natur des GEISTES in den Vordergrund gerückt, und die daraus entstehende pantheistische Weltsicht setzte die endliche und geschaffene Erde mit dem unendlichen und ungeschaffenen GEIST gleich. Es ist jedem erlaubt, sich mit einer endlichen und begrenzten Erde zu identifizieren, aber es ist nicht erlaubt, sie unendlich und unbegrenzt zu nennen. Beide einseitigen Auffassungen vom GEIST, die matriarchale wie die patriarchale Religion, haben in der Geschichte unsägliches Leid verursacht, von den grausamen und massenhaften Menschenopfern für die Fruchtbarkeit der Erdgöttin bis zu den verheerenden Kriegen im Namen des Vatergottes. In der Mitte zwischen diesen extremen Verzerrungen hat die Philosophia perennis, der esoterische oder innere Kern der Weisheitsreligionen, diese Dualitäten – Himmel und Erde, männlich und weiblich, unendlich und endlich, weitabgewandt und weltzugewandt – stets vermieden und sich statt dessen um ihre Vereinigung oder Integration (Stichwort Nichtdualität) bemüht. Sichtbar wird dieses Streben nach der Vereinigung von Himmel und Erde, von männlich und weiblich, von unendlich und endlich, von aufsteigend und absteigend, von Weisheit und Mitleid in den "tantrischen" Lehren der verschiedenen Weisheitstraditionen vom Neuplatonismus im Westen bis zum Vajrayana im Osten. Dieser nonduale Kern der Weisheitstraditionen macht das Wesen der "Ewigen Philosophie" aus. Das Entscheidende ist also, dass wir, wenn wir uns den GEIST in geistigen (mentalen) Kategorien vorstellen wollen (was zwangsläufig zu gewissen Schwierigkeiten führt), uns zumindest dieses Paradoxons der Transzendenz und Immanenz Bewusst bleiben sollten. "Paradox" erscheint die Nichtdualität bloß unserem Denken; der GEIST selbst ist nicht paradox, er ist, genauer gesagt, überhaupt nicht charakterisierbar. Dies gilt in zweifacher Weise für die Hierarchie (Holarchie). Wir haben gezeigt, dass der transzendentale GEIST sich in Stufen oder Ebenen manifestiert, der großen Holarchie des Seins. Damit sage ich aber nicht, dass der GEIST oder die Wirklichkeit selbst hierarchisch sei. Der absolute GEIST oder die absolute Wirklichkeit ist nicht hierarchisch. Er ist in mentalen Begriffen, Begriffen der unteren Holons, nicht qualifizierbar; er ist Shunyata, Nirguna, apophatisch – unqualifizierbar, ohne eine Spur spezifischer und beschränkender Merkmale. Aber er manifestiert sich in Stufen, Schichten, Dimensionen, Hüllen, Ebenen oder Phasen, wie auch immer man es nennen
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mag, und dies ist Holarchie. Im Vedanta sind dies die Koshas, die den Atman umgebenden Hüllen; im Buddhismus sind es die sechs Vijnanas, die sechs Arten von Bewusstsein, deren jede eine verkürzte Version der jeweils höheren ist; in der Kabbala sind es die Sephirot, und so weiter. Worauf es hierbei ankommt, ist, dass dies Ebenen der manifesten Welt, der Maya sind. Soweit man Maya nicht als das Spiel des Göttlichen erkennt, ist sie nichts als Täuschung. Hierarchie ist Täuschung. Es gibt nur Ebenen der Täuschung, nicht Ebenen der Wirklichkeit. Den Traditionen zufolge können wir aber eben (und nur) dadurch, dass wir die hierarchische Natur des Samsara begreifen, diesen überwinden; dies ist die Leiter, die wir erst wegwerfen dürfen, nachdem sie ihren großartigen Zweck erfüllt hat. Betrachten wir also einige der Ebenen oder Sphären der Holarchie, der großen Verschachtelung des Seins, wie sie in den drei größten Weisheitstraditionen erscheint, der jüdischen / christlichen / muslimischen Tradition, im Buddhismus und im Hinduismus, wiewohl sich jede andere reife Tradition hierfür ebenso eignen würde. (Ich möchte hier noch einmal daran erinnern, dass dies die Ebenen im oberen linken Quadranten sind, die Ebenen im Spektrum des Bewusstseins selbst. In den späteren Kapiteln wollen wir betrachten, wie sich dieses Spektrum in den anderen Quadranten darstellt; im Augenblick aber wollen wir uns auf das Spektrum des Bewusstseins beschränken, wie es im individuellen Menschen erscheint, also im oberen linken Quadranten.) Zunächst die christlichen Begriffe, mit denen wir am einfachsten zurechtkommen, weil die meisten von uns mit ihnen aufgewachsen sind: Stoff, Körper, Geist, Seele und GEIST. Stoff ist die physische Welt, wie sie in unserer eigenen Körperlichkeit erscheint (zum Beispiel in denjenigen Aspekten unseres Daseins, für die die Gesetze der Physik gelten), und – welche Bedeutung auch immer man dem Wort "Stoff" oder "Materie" sonst noch beilegen mag – es ist hier damit die Dimension mit dem geringsten Maß an Bewusstsein gemeint (manche würden sagen "ohne Bewusstsein" – ich überlasse es dem Leser). Körper bedeutet hier den Empfindungskörper, den "animalischen" Körper mit seinem Geschlechtstrieb, seinem Hunger, seiner Lebenskraft usw. (also diejenigen Aspekte des Daseins, mit denen sich die Biologie beschäftigt). Geist (mind) ist das rationale, denkende, sprachliche und phantasiebegabte Geistige, mit dem sich die Psychologie befasst. Seele ist das höhere oder feinstoffliche Geistige, der archetypische, der intuitive Geist, und die Essenz der Unzerstörbarkeit unseres eigenen Wesens, mit dem sich die Theologie befasst. GEIST (spirit) ist das transzendente Höchste unseres Wesens, unsere Gottheit, mit der sich die kontemplative Mystik befasst. Dem Vedanta zufolge ist das Individuum aus fünf "Hüllen", Ebenen oder Sphären des Seins zusammengesetzt, den Koshas, wofür auch der Vergleich
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mit einer Zwiebel herangezogen wird, so dass man mit jeder Schicht, die man wegnimmt, immer näher zum Wesen gelangt. Die unterste (das heißt äußerste) Schicht ist Annamaya-Kosha, die "Nahrungshülle". Dies ist die physische Sphäre. Das nächste ist Pranamaya-Kosha, die Prana-Hülle. Prana bedeutet Lebenskraft, Bioenergie, Elan vital, Libido, emotionelle/sexuelle Energie im allgemeinen, die Sphäre des Empfindungskörpers (wie wir den Ausdruck benutzen). Dann folgt Manomaya-Kosha, die Hülle des Manas oder Denkens, der rationale, abstrakte, linguistische Bereich. Jenseits davon liegt Vijnanamaya-Kosha, die Hülle der Intuition, des höheren Denkens. Das höchste ist Anandamaya-Kosha, die Hülle der spirituellen und transzendenten Wonne. Weiterhin – und dies ist wichtig – unterteilt der Vedanta diese fünf Hüllen in drei Hauptreiche: Das Grobstoffliche, das Feinstoffliche und das Kausale. Das grobstoffliche Reich ist der untersten Ebene der Holarchie untergeordnet, dem physischen Körper (Annamaya-Kosha). Das feinstoffliche Reich umfasst die drei Zwischenebenen, den emotionellen/sexuellen Körper (PranamayaKosha), den Geist (Manomaya-Kosha) und das höhere oder feinstoffliche Geistige (Vijnanamaya-Kosha). Das Kausale schließlich ist der höchsten Ebene zugeordnet, Anandamaya-Kosha, dem archetypischen GEIST, der manchmal auch als weitgehend nichtmanifest oder formlos bezeichnet wird. Weiterhin setzt der Vedanta diese drei großen Reiche des Seins in Beziehung zu den drei wichtigsten Bewusstseinszuständen: Wachen, Träumen und traumloser Tiefschlaf. Jenseits dieser drei Zustände liegt der absolute GEIST, der auch als Turiya bezeichnet wird, "das Vierte", weil er jenseits der drei Zustände der Manifestation liegt (und diese einschließt); er geht über das Grobstoffliche, Feinstoffliche und Kausale hinaus (und integriert es daher).1 Man kann also sagen, dass die Vedanta-Auffassung von den fünf Hüllen der jüdischen/christlichen/muslimischen Auffassung von Stoff, Körper, Geist, Seele und GEIST sehr ähnlich ist, sofern man unter "Seele" nicht nur ein höheres Selbst oder eine höhere Identität, sondern ein höheres oder subtileres Denken und Erkennen versteht. "Seele" hat in allen höheren mystischen Traditionen immer auch die Bedeutung eines "Knotens" oder einer "Zusammenziehung" (was die Hinduisten und Buddhisten Ahamkara nennen), die aufgelöst werden muss, bevor die Seele sich transzendieren, sich selbst sterben und so zu einer höchsten Einheit und Identität mit dem absoluten GEIST gelangen kann (gemäss dem Christuswort: "Der kann kein wahrer Jünger sein, der nicht seine Seele Hasst"). Die "Seele" ist also sowohl die höchste Ebene individuellen Wachstums, die wir erreichen können, als auch die endgültige Grenze, der letzte "Knoten" vor der Erlangung der Erleuchtung oder höchsten Identität, und zwar einfach deshalb, weil sie als die transzendente "Zuschauerin" ein Gegenüber zu allem bildet, was sie gewahrt. Wenn wir aber diese Zuschauerposition überwinden,
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dann löst sich die Seele oder Zuschauerin selbst auf, und dann gibt es nur noch das Spiel des nondualen Gewahrens, eines Gewahrens, das nicht Objekte betrachtet, sondern vollständig eins mit allen Objekten ist (im Zen heißt es, dies sei "wie wenn man den Himmel kosten würde"). Die Kluft zwischen Subjekt und Objekt verschwindet, die Seele wird transzendiert oder aufgelöst, und es entsteht ein reines spirituelles oder nichtduales Gewahren, das sehr einfach, sehr offensichtlich, sehr klar ist. Man erkennt, dass das eigene innerste Wesen weit und offen, leer und klar ist, und alles, was irgendwo entsteht, entsteht spontan in einem selbst als innewohnender GEIST. Das psychologische Kernmodell des Mahayana-Buddhismus sind die acht Vijnanas, die acht Ebenen des Bewusstseins. Die ersten fünf sind die fünf Sinne. Das nächste ist Manovijnana, das Bewusstsein auf der Ebene der sinnlichen Erfahrung. Es folgt Manas, was sowohl höherer Geist als auch das Zentrum der Täuschung eines getrennten Ich bedeutet. Manas ist der Betrachter von Alaya-Vijnana, der nächsthöheren Ebene, derjenigen des überindividuellen Bewusstseins, und hält es für ein getrenntes Ich oder eine substantielle Seele, wie wir sie definiert haben. Jenseits dieser acht Ebenen liegt als ihr Ursprung und Urgrund reines Alaya oder reiner leerer GEIST. Ich möchte keineswegs die sehr konkreten Unterschiede zwischen diesen Traditionen bestreiten. Ich will lediglich daraufhinweisen, dass sie gewisse tiefe strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, was nachdrücklich für die Allgemeingültigkeit vieler ihrer Erkenntnisse spricht. Wir können also mit einem erfreulichen Befund schließen: Nachdem die Große Kette des Seins, die große Holarchie des Seins im 19. Jahrhundert durch verschiedene reduktionistische Strömungen – vom wissenschaftlichen Materialismus über den Behaviorismus bis zum Positivismus – obsolet geworden zu sein schien, erlebt sie heute eine erstaunliche Wiederkehr. Diese vorübergehende Desavouierung, dieser Versuch, die Holarchie des Seins auf ihre niedrigste Ebene zu reduzieren, diejenige des Stoffs, war für die Psychologie besonders bitter, die zuerst ihren GEIST, dann ihre Seele und schließlich ihren Verstand verlor und auf die Untersuchung rein empirischen Verhaltens oder physischer Triebe verkürzt wurde, eine Einengung, die zu jeder anderen Zeit und an jedem anderen Ort als genaue Definition des Wahnsinns gegolten hätte. Heute ist jedoch die evolutionäre Holarchie, die holistische Betrachtung der Entwicklung und Selbstorganisation von Feldern in Feldern in Feldern in vielen wissenschaftlichen und Verhaltensdisziplinen wieder ein beherrschendes Thema (wie wir noch sehen werden), auch wenn sich dies unter einer Vielzahl von Namen verbirgt (so firmiert zum Beispiel Aristoteles' Entelechie heute als "morphogenetische Felder" und "selbstorganisierende Systeme"). Damit soll keineswegs gesagt werden, dass die modernen
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Versionen der Großen Holarchie und ihrer Selbstorganisationsprinzipien keine neuen Einsichten enthielten; dies ist sehr wohl der Fall, vor allem bezüglich der tatsächlichen evolutionären Entfaltung der Großen Kette selbst. Jede Erkenntnis der Großen Holarchie ist angemessen; jede neuartige Erkenntnis ist angemessener ... Aber die Grundmerkmale sind unverkennbar. Ludwig von Bertalanffy, der Begründer der Allgemeinen Systemtheorie, drückt es so aus: "Die Wirklichkeit stellt sich nach heutiger Auffassung als eine gewaltige hierarchische Ordnung organisierter Entitäten dar, eine Überlagerung vieler Schichten, die von physikalischen und chemischen bis hin zu biologischen und soziologischen Systemen reicht. Diese hierarchische Strukturierung und Kombination zu Systemen von immer höherer Ordnung ist für die Wirklichkeit insgesamt kennzeichnend und von grundlegender Bedeutung vor allem für Biologie, Psychologie und Soziologie." So ist zum Beispiel in der modernen Psychologie die Holarchie das vorherrschende strukturelle und Prozessparadigma, das sich durch alle (oft recht unterschiedlichen) Inhalte der verschiedenen Schulen hindurchzieht. Jede Schule der Entwicklungspsychologie kennt irgendeine Form von Hierarchie oder eine Aufeinanderfolge diskreter, aber kontinuierlicher, irreversibler Stufen des Wachstums und der Entwicklung. Dies gilt für die Freudianer, die Jungianer, die Piagetianer, Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan ebenso wie für die kognitiven Behavioristen. Maslow, der sowohl die humanistische als auch die transpersonale Psychologie vertritt, stellt die "Hierarchie der Bedürfnisse" in den Mittelpunkt seines Systems – und hiermit sind nur einige wenige Namen genannt. Von Rupert Sheldrake und seinen "geschachtelten Hierarchien morphogenetischer Felder" über Sir Karl Poppers "Hierarchie emergenter Eigenschaften" bis zu Birchs und Cobbs "ökologischem Wirklichkeitsmodell" auf der Grundlage "hierarchischer Werte", von Francisco Varelas bahnbrechender Arbeit über autopoietische Systeme ("Die Reichhaltigkeit natürlicher Systeme scheint generell ihren Niederschlag darin zu finden ... dass sie eine Hierarchie von Ebenen entstehen lassen") bis zu den Gehirnforschungen von Roger Sperry, Sir John Eccles und Wilder Penfield ("eine Hierarchie nichtreduzierbarer Emergenzen") bis zu Jürgen Habermas' sozialkritischer Theorie ("eine Hierarchie kommunikativer Kompetenz") – die Große Kette ist wieder da. Der einzige Grund, warum dies nicht jeder sieht, ist, dass sie sich unter einer Vielzahl verschiedener Namen verbirgt. Aber ob man sie nun erkennt oder nicht – sie ist wieder stark im Kommen. Das Großartige an dieser Renaissance ist, dass die moderne Theorie sich heute wieder mit ihren starken Wurzeln in der Philosophia perennis verbinden kann, dass sie wieder Anschluss nicht nur an Platon,
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Aristoteles, Plotin, Maimonides, Spinoza, Hegel und Theresa von Avila im Westen findet, sondern auch an Shankara, Padmasambhava, Zhi-yi, Fazang, Abhinavagupta und Yeshe Tsogyal im Osten. Und all dies ist einfach deshalb möglich, weil so viele Aspekte der Philosophia perennis in der Tat perennierend, das heißt allgemeingültig, sind, wo auch immer sie auftreten, in allen Zeiten und Kulturen, und auf Herz, Seele und Geist des Menschengeschlechts (oder überhaupt aller fühlenden Wesen) verweisen. Etwas Grundlegendes bleibt aber nach der Renaissance der verlorenen Großen Kette des Seins noch zu tun. Eines der durchgängigen Paradigmen des modernen Denkens von der Physik über die Biologie und Psychologie bis zur Soziologie ist die evolutionäre Holarchie (siehe zum Beispiel Laszlo, Jantsch, Habermas, Lenski, Dennett); allerdings erkennen die meisten orthodoxen Schulen der Forschung nur die Existenz von Stoff, Körper und Geist an.2 Den höheren Dimensionen der Seele und des GEISTES wird noch nicht ganz derselbe Status zugebilligt. Man könnte also sagen, dass der moderne Westen heute erst drei Fünftel der Großen Holarchie des Seins anerkannt hat. Die Aufgabe besteht also heute ganz einfach darin, auch die restlichen beiden Fünftel, Seele und GEIST, wiedereinzuführen. Wenn man alle Ebenen und Dimensionen der Großen Kette anerkennt, erkennt man damit auch alle entsprechenden Erkenntnismodi an, das heißt nicht nur das Auge des Fleisches, das die physische und sinnliche Welt enthüllt, oder das Auge des Verstandes, das die Welt der Sprache und der Symbole enthüllt, sondern auch das Auge der Kontemplation, das Seele und GEIST offenbart (wir werden uns diesem wichtigen Thema noch in Kapitel 3 zuwenden). Dies ist also unsere Aufgabe: Tun wir auch den letzten Schritt und führen wir das Auge der Kontemplation wieder ein, das als wissenschaftliches und wiederholbares Verfahren Seele und GEIST offenbart. Diese integrale Sichtweise ist, wie ich behaupten möchte, die endgültige Heimkunft, die Heimführung unserer modernen Seele in die Seele der Menschheit selbst (und dies wäre die wahre Bedeutung von Multikulturalismus), so dass wir, auf den Schultern von Riesen stehend, ihre ewig wiederkehrende Gegenwart transzendieren und zugleich einschließen, was immer auch bedeutet, dass wir uns ihres Werts Bewusst sind. Die Zusammenführung alter Weisheit mit modernen Erkenntnissen ist daher das große Ziel der integralen Sichtweise, ein Leitstern in der postmodernen Ödnis. Die Anerkennung des ganzen Spektrums des Bewusstseins hätte erhebliche Auswirkungen auf den Gang aller hiervon betroffenen modernen Disziplinen, und dies ist natürlich ein wesentlicher Aspekt der integralen Studien. Am stärksten und unmittelbarsten wäre davon natürlich das Gebiet der Psychologie betroffen. Ich habe den Rahmen einer solchen umfassenden Psychologie in mehreren Büchern erkundet (unter anderem Das Spektrum
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des Bewusstseins, Wege zum Selbst, Das Atman-Projekt, Psychologie der Befreiung und Eine kurze Geschichte des Kosmos). In diesen Büchern wird eine Auffassung der menschlichen Entwicklung dargelegt, die das ganze Spektrum des Bewusstseins einzubeziehen versucht, vom Instinkt über das Ich zum GEIST, vom Präpersonalen über das Personale zum Transpersonalen, vom Unbewussten über das Selbstbewusste zum Überbewussten. Wenn mir nichts Animalisches, Menschliches oder Göttliches fremd ist, dann kann auch kein Bewusstseinszustand aus dem Schoß einer wahrhaft integralen Psychologie verbannt werden. Im Vorwort zur Neuausgabe von Das Atman-Projekt versuche ich aufzuzeigen, warum eine solche integrale und einschließende Haltung so wichtig ist. Das Atman-Projekt war, soweit wir wissen, die erste Psychologie, die die Möglichkeit einer Zusammenführung von Ost und West, von konventionellen und kontemplativen, von orthodoxen und mystischen Auffassungen in einem einzigen kohärenten und schlüssigen Rahmen erkundete. Dabei wurde eine Fülle von Ansätzen berücksichtigt, von Freud bis Buddha, von der Gestaltpsychologie bis Shankara, von Piaget bis Yogachara, von Kohlberg bis Krishnamurti. Ich begann mit der Arbeit an Das Atman-Projekt im Jahre 1976 und zeitgleich dazu mit Halbzeit der Evolution; das eine Buch befasst sich mit der Ontogenese, das andere mit der Phylogenese. Diese Arbeit liegt nun fast zwei Jahrzehnte zurück, und ich bin der Meinung, dass der grundlegende Rahmen sich so gut bewährt hat, dass die grundsätzlichen Aussagen mit den nötigen Anpassungen noch lange gültig und fruchtbar bleiben werden. Einige Kritiker haben mir vorgeworfen, ich hätte bloß verschiedene Quellen literarisch verarbeitet und mein Ansatz stütze sich nicht auf klinische oder experimentelle Befunde. Aber das können sie wohl nicht im Ernst behaupten: Gerade diejenigen Theoretiker, auf die ich mich hauptsächlich stützte, haben bahnbrechende klinische und experimentelle Arbeit geleistet, von Jean Piagets methode clinique über Margaret Mahlers umfassend auf Videobändern dokumentierten Beobachtungen bis zu Lawrence Kohlbergs und Carol Gilligans grundlegenden ethischen Untersuchungen, ganz zu schweigen von der umfassenden phänomenologischen Evidenz, die die kontemplativen Traditionen selbst vorlegen. Das Atman-Projekt stützt sich direkt auf die Befunde von über sechzig Forschern unterschiedlichster Denkansätze und indirekt auf Hunderte anderer. (Mit dieser integralen Psychologie werden wir uns in Kapitel 6, 9, 10 und 11 noch ausführlich befassen.) Mit Das Atman-Projekt endete auch mein Liebäugeln mit der Romantik und mein Versuch, Regression zu einer Quelle des Heils zu machen. Meine ursprüngliche Absicht war es gewesen, mit Atman und Halbzeit der Evolution die romantische Sichtweise zu stützen: Der Mensch beginnt in einer
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unbewussten Einheit mit dem Göttlichen, in einem unreflektierten Eingetauchtsein in eine Art Himmel auf Erden, einen paradiesischen Garten Eden, und zwar ontogenetisch wie phylogenetisch: dann verlässt er diese Einheit in einem Prozess der Entfremdung und Dissoziation (das isolierte und trennende Ich), bis er schließlich in einer Bewussten und glorreichen Vereinigung wieder zum Göttlichen zurückkehrt. In dieser Weise würde er also gewissermaßen vom unbewussten Himmel über die Bewusste Hölle zum Bewussten Himmel fortschreiten. Es war bei beiden Büchern mein Vorhaben, diese romantische Auffassung zu bestätigen. Je mehr jedoch die Arbeit an diesen Büchern fortschritt, desto offensichtlicher wurde es, dass die romantische Auffassung ein hoffnungsloses Durcheinander war. Sie verband einige sehr wichtige Wahrheiten mit einigen krassen Irrtümern, und das Ergebnis war ein Alptraum von theoretischem Chaos. Die Aufgabe, dieses monströse Durcheinander zu entwirren, beschäftigte mich fast ein Jahrzehnt lang und bildete eine der turbulentesten theoretischen Phasen meines Lebens. Der Grund, warum ich so viele Aufsätze über Trugschlüsse verfasst habe (wie zum Beispiel die Prä/trans-Verwechslung und den Trugschluss der einen Grenze), liegt einfach darin, dass die Romantiker so viele von ihnen begingen und auch ich als guter Romantiker ihnen mit Inbrunst verfallen war. Eben weil ich diese Täuschungen von innen heraus, aus der Nähe und in einer sehr persönlichen Weise kannte, konnte ich sie besonders nachdrücklich kritisieren. Man bekämpft gerade diejenigen Theorien am heftigsten, denen man am intensivsten zugetan war. Der grundlegende Fehler der romantischen Auffassung ist aber relativ einfach zu verstehen. Nehmen wir zum Beispiel die Kindheit. Die romantische Auffassung besteht, wie gesagt, darin, dass Kinder zunächst im Zustand eines unbewussten Himmels seien. Wenn das Kind noch nicht gegenüber seiner Umgebung (oder der Mutter) differenziert ist, sei das Kind im Grunde eins mit dem dynamischen Urgrund des Seins, wenn auch in einer unbewussten (oder "nicht-selbstbewussten") Weise. Es befände sich also in einem unbewussten Himmel, einem seligen, wunderbaren, mystischen, paradiesischen Zustand, aus dem es aber bald vertrieben wird und zu dem wir uns immer zurücksehnen. Irgendwann in den ersten Lebensjahren, so die romantische Auffassung weiter, differenziert sich das Selbst gegenüber der Umgebung; die Einheit mit dem dynamischen Urgrund geht verloren, Subjekt und Objekt fallen auseinander, und das Selbst kommt von einem unbewussten Himmel in eine Bewusste Hölle, die Ich-Welt der Entfremdung, der Unterdrückung, des Schreckens, der Tragödie. Dann aber, so wird uns beruhigend versichert, könne das Selbst in seiner Entwicklung eine Art Kehrtwende vollziehen, in den früheren kindlichen
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Zustand der Einheit zurückkehren, sich wieder mit dem großen Urgrund des Seins verbinden, nur jetzt ganz Bewusst und selbstverwirklicht, und so in den Bewussten Himmel eintreten. Dies ist also in groben Zügen die romantische Sichtweise: Man beginnt im unbewussten Himmel, einer unbewussten Einheit mit dem Göttlichen; dann verliert man diese unbewusste Einheit und wird dadurch in die Bewusste Hölle gestoßen, aber man kann göttliche Einheit wiedererlangen, nur jetzt in einer höheren und Bewussten Weise. Das Problem bei dieser Sichtweise ist nur, dass der erste Schritt, der Verlust der unbewussten Einheit mit dem Göttlichen, absolut unmöglich ist. Alle Dinge sind eins mit dem Göttlichen Grund – dieser ist schließlich der Urgrund allen Seins! –, und das Einssein mit diesem Urgrund zu verlieren hieße, aufzuhören zu existieren. Betrachten wir uns die Sache genauer. Es gibt nur zwei mögliche Verhältnisse gegenüber dem Göttlichen Grund: Da alles eins mit dem Urgrund ist, ist man sich dieser Einheit entweder Bewusst, oder man ist sich ihrer nicht Bewusst. Man kann den göttlichen Grund gewahren oder nicht –
tertium non datur. Die romantische Auffassung lautet, dass man als Kind in einer
unbewussten Einheit mit dem Urgrund beginnt. Das Bewusstsein der Einheit hat man also schon verloren; darüber hinaus kann man aber nicht auch noch die Einheit selbst verlieren, da man sonst aufhören würde zu existieren. Wenn man also das Bewusstsein seines Einsseins verliert, kann es, ontologisch betrachtet, nicht mehr schlimmer werden. Dies ist bereits das Äußerste an Entfremdung. Man lebt gewissermaßen schon in der Hölle; man ist schon im Samsara gefangen, nur weiß man es nicht – es fehlt das Bewusstsein für die Entdeckung dieser schmerzlichen Tatsache. Der wirkliche Zustand des kindlichen Selbst ist also vielmehr derjenige der unbewussten Hölle. Was dann in der Tat folgt, ist ein Wachwerden für die entfremdete Welt, die einen umgibt und in einem ist. Man schreitet von der unbewussten Hölle zur Bewussten Hölle fort, und dieses Gewahren der Hölle, des Samsara, der scharfen Pein des Daseins, macht das Erwachsenwerden und Erwachsensein zu einem solchen Alptraum von Elend und Entfremdung. Das Kind selbst lebt relativ in Frieden, nicht weil es im Himmel wäre, sondern weil es die Flammen der Hölle nicht gewahrt, die es umlodern. Das Kind ist unbestreitbar dem Samsara verfallen – es weiß es nur nicht, es hat noch nicht genug Bewusstsein, um das zu erkennen. Aber Erleuchtung erlangt man nun keineswegs durch eine Rückkehr in diesen kindlichen Zustand und auch nicht durch eine "reifere Version" dieses Zustandes. Das Kind windet sich ebenso wenig wie mein Hund in Schuldgefühlen, Angst und Agonie, aber die
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Erleuchtung besteht trotzdem nicht in einer Rückkehr zum HundeBewusstsein (und sei es eine "reife Form" eines Hunde-Bewusstseins). Wenn das Bewusstsein und Gewahrsein des kindlichen Selbst wächst, entdeckt es nach und nach den Schmerz des Daseins, die mit dem Samsara verbundene Qual, die Mechanik des Wahnsinns, der die ganze manifeste Welt durchzieht, und es beginnt zu leiden. Es macht Bekanntschaft mit der ersten der Vier Edlen Wahrheiten, wird in die rauhe Welt der Wahrnehmung initiiert, deren einziges Gesetz das Leidenschaffende Feuer der ungestillten und unstillbaren Begierde ist. Es ist nicht so, dass es diese Welt der Begierden im bisherigen "wunderbaren" kindlichen Zustand des Eingetauchtseins nicht gegeben hätte; aber sie übte ihre Herrschaft unmerklich aus, und jetzt wird sich das Selbst in einem langsamen, schmerzlichen, tragischen Prozess dieser Welt Bewusst. Während so das Bewusstsein des Kindes wächst, geht sein Selbst von der unbewussten in die Bewusste Hölle über, und dort bringt es vielleicht sein ganzes Leben zu und jagt den betäubenden Tröstungen nach, die ihm die offenen Wunden seiner geschundenen Gefühle schließen und die brennenden Narben seiner Verzweiflung überdecken sollen. Sein Leben versinkt im Morphiumdunst, und indem es sich der narkotisierenden Wärme seiner Kompensationen hingibt, gelingt es ihm vielleicht sogar, sich zumindest für einen wonnigen Augenblick, in dem ihm alles hinter einem rosaroten Schleier zu versinken scheint, dem Glauben hinzugeben, dass diese dualistische Welt doch im großen und ganzen recht angenehm sei. Dieses Selbst könnte aber auch sein Wachstum und seine Entwicklung in Richtung der wirklich spirituellen Bereiche fortsetzen, die Empfindung eines getrennten Selbst transzendieren und sich in das Göttliche selbst ausfalten. Dann leuchtet die Einheit mit dem Göttlichen, die immer schon da war, auch wenn sie anfänglich unbewusst war, im strahlenden Glanz der Erleuchtung und im Schock des unaussprechlich Gewöhnlichen im Bewusstsein auf: Das Selbst erkennt seine höchste Identität mit dem GEIST selbst, und diese unerhörte Offensichtlichkeit wird vielleicht durch nichts weiter angestoßen als einen kühlen Lufthauch an einem strahlenden Frühlingstag. Dies ist also der tatsächliche Gang der Ontogenese des Menschen: Von der unbewussten Hölle über die Bewusste Hölle zum Bewussten Himmel. Zu keinem Zeitpunkt verliert das Selbst seine Einheit mit dem Urgrund, denn dann würde sofort auch seine Existenz enden. Mit anderen Worten, die romantische Vorstellung ist bezüglich der zweiten und dritten Phase, das heißt der Bewussten Hölle und des Bewussten Himmels, richtig, aber völlig falsch bezüglich des kindlichen Zustands, der nicht unbewusster Himmel, sondern unbewusste Hölle ist. Der kindliche Zustand ist also nicht unbewusst trans-personal, sondern letztlich prä-personal. Er ist nicht trans-rational, sondern prä-rational. Er ist
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nicht trans-verbal, sondern prä-verbal. Er ist nicht trans-egoisch, sondern prä-egoisch.3 Die menschliche Entwicklung – und im weiteren Sinne die ganze Evolution – schreitet vom Unbewussten über das Selbstbewusste zum Überbewussten fort, vom Präpersonalen über das Personale zum Transpersonalen, vom Submentalen über das Mentale zum Supermentalen, vom Präzeitlichen über das Zeitliche zum Transzeitlichen, das nichts anderes ist als das Ewige. Die Romantiker hatten also einfach "prä" mit "trans" verwechselt und dadurch die Prä-Zustände zur Herrlichkeit der Trans-Zustände erhoben (wie die Reduktionisten ihrerseits die Trans-Zustände verwarfen, indem sie sie als Regressionen auf Prä-Zustände bezeichneten). Diese beiden Verwechslungen, die elevationistische und die reduktionistische, sind die beiden Hauptformen der Prä / trans-Verwechslung, die erstmals in den oben genannten Büchern dargestellt und benannt wurde. Der entscheidende Punkt war, dass Entwicklung nicht Regression im Dienste des Ich, sondern Evolution durch Transzendierung des Ich ist. Das war das Ende meiner Begeisterung für die Romantik. Es gibt natürlich einen Abfall von der Gottheit, vom GEIST, vom Urgrund, und dies ist die Wahrheit, der sich die Romantiker nähern wollten und wollen, bis sie in ihre Prä/trans-Verwechslung schlittern. Diesen Abfall nennt man Involution, die Bewegung, durch die alles aus dem Bewusstsein seiner Einheit mit dem Göttlichen herausfällt und die Vorstellung einer getrennten und isolierten, entfremdeten und entfremdenden Monade entsteht. Wenn eine solche Involution geschehen ist und der GEIST unbewusst in die niedrigeren und niedrigsten Formen seiner eigenen Manifestation verstrickt wird, kann Evolution eintreten: Der GEIST entfaltet sich in einem großartigen Spektrum des Bewusstseins, vom Urknall über Materie, Empfindung, Wahrnehmung, Impuls, Bild, Symbol, Begriff, Verstand, die Psyche und das Feinstoffliche bis zum Kausalen, bis er schließlich zu seiner schockierenden Selbsterkenntnis gelangt, seiner Selbstverwirklichung und Selbstauferstehung. In allen diesen Phasen – vom Stoff über den Körper, den Geist und die Seele zum GEIST – wird die Evolution immer Bewusster, immer wirklicher, immer wacher, mit allen Freuden und Ängsten, die mit dieser Dialektik der Erweckung unweigerlich verbunden sind. Auf jeder Stufe dieses Prozesses der Rückkehr des GEISTES zu sich selbst erinnern wir uns, Sie und ich, manchmal unbestimmt, manchmal intensiv, dass wir einst Bewusst eins mit diesem Göttlichen selbst waren. Sie ist da, diese Erinnerungsspur, im Hintergrund unseres Bewusstseins, und sie zieht und drängt uns hin zu der Erkenntnis, zu dem Erwachen, zu der Erinnerung, wer und was wir immer schon waren.
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Wir dürfen vielleicht annehmen, dass letztlich alle Dinge in einem gewissen Grade eine Intuition davon haben, dass ihr Urgrund der GEIST selbst ist. Alle Dinge werden zur Manifestation dieser Erkenntnis gedrängt und gezogen. Und doch sucht alles den GEIST bis zu diesem göttlichen Erwachen in einer Weise, die diese Erkenntnis gerade verhindert, denn sonst wären wir ja jetzt schon verwirklicht. Wir suchen den GEIST in der Welt der Zeit – aber der GEIST ist zeitlos und kann dort nicht gefunden werden. Wir suchen den GEIST in der Welt des Raums, aber der GEIST ist raumlos und kann dort nicht gefunden werden. Wir suchen den GEIST in diesem oder jenem Objekt, das glänzt und gleißt und uns Ruhm und Vermögen verheißt, aber der GEIST ist kein Ding, und wir können ihn nicht in der Welt des Handels und der Händel sehen oder ergreifen. Wir suchen, mit anderen Worten, den GEIST in einer Weise, die seine Verwirklichung verhindert, und zwingen uns selbst, mit Ersatzbefriedigungen vorlieb zu nehmen, die uns im Taumel der elenden Welt der Zeit und des Schreckens von Raum und Tod, von Sünde und Trennung, von Einsamkeit und schalen Tröstungen festbannen. Und dies ist das Atman-Projekt. Wie Sie auf den folgenden Seiten sehen werden, ist die Triebfeder des Geschäfts der ganzen manifesten Welt das Atman-Projekt, ein Projekt, das so lange betrieben wird, bis wir, Sie und ich, zum GEIST erwachen, dessen Surrogate wir in der Welt von Raum und Zeit suchen, in der Welt des Besitzergreifens und der Enttäuschungen. Der Alptraum der Geschichte ist der Alptraum des Atman-Projekts, des fruchtlosen Suchens in der Zeit nach demjenigen, was letztlich zeitlos ist. Es ist eine Suche, die zwangsläufig Ängste und Qualen erzeugt, die Suche eines Selbst, das von Verdrängungen verzehrt, von Schuldgefühlen gelähmt, vom Schüttelfrost einer bösartigen Entfremdung befallen ist. Diese Tortur nimmt erst im strahlenden HERZEN ein Ende, wenn die große Suche selbst zum Erliegen kommt, wenn der Eigenwille in seinem Bemühen nachlässt, den wirklichen oder einen Ersatzgott zu finden; die Bewegung in der Zeit wird vom großen Ungeborenen, vom großen Ungeschaffenen, von der großen Leerheit im Herzen des Kosmos selbst aufgehoben. Versuchen Sie, wenn Sie dieses Buch lesen, daran zu denken: An das große Ereignis, als Sie ausatmeten und diesen ganzen Kosmos schufen, an die große Entleerung, als Sie sich selbst als die ganze Welt ausgossen, einfach um zu sehen, was geschehen würde. Denken Sie an die Formen und Kräfte, die Sie bisher durchmessen haben: Von Galaxien zu Planeten, zu grünen Pflanzen, die sich nach der Sonne strecken, zu Tieren, die Tag und Nacht in ruheloser Suche auf Beutefang sind, über die sich nach dem Licht verzehrenden Urmenschen bis hin zu demjenigen, der jetzt dieses Buch in Händen hält: Denken Sie daran, wer und was Sie waren, was Sie getan
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haben, was Sie gesehen haben, wer Sie in Wirklichkeit in all diesen Verkleidungen, in den Masken des Gottes und der Göttin, in den Masken Ihres eigenen ursprünglichen Antlitzes sind. Lassen Sie die große Suche zur Ruhe kommen, lassen Sie die Selbstbezogenheit in der Unmittelbarkeit des gegenwärtigen Gewahrseins verklingen, lassen Sie den ganzen Kosmos in Ihr Wesen einströmen, weil Sie sein Urgrund sind – und Sie werden sich erinnern, dass das Atman-Projekt niemals stattfand, dass Sie sich niemals bewegt haben, und es ist alles genau so, wie es sein sollte, wenn der Zaunkönig an einem herrlichen Morgen singt und Regentropfen auf das Tempeldach fallen.
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Kapitel 2 Im Licht unserer Zeit Integrale Anthropologie und die Evolution der Kulturen Der integrale Ansatz umfasst das ganze Spektrum des Bewusstseins, wie es sich in all seiner außerordentlichen Vielgestaltigkeit manifestiert. Deshalb erkennt der integrale Ansatz die ganze Holarchie des Seins an, die zuerst von der Philosophia perennis und den großen Weisheitstraditionen im allgemeinen dargelegt wurde. Zugleich aber bewegt sich der Geist weiter. Die Evolution schreitet fort, und nichts in der manifesten Welt bleibt von ihr unberührt. Die großen Traditionen sind ebendies: Traditionen, deren Erkenntnisse sich teils bewährt haben, teils aber auch nicht. Die integralen Studien streiten daher gewissermaßen an zwei Fronten: Derjenigen einer Moderne, die sich nur langsam dazu durchringen kann, das ganze Spektrum des Bewusstseins anzuerkennen, und derjenigen eines Traditionalismus, der sich weigert, substantielle Fortschritte der Moderne wahrzunehmen. Im vorigen Kapitel haben wir die großen Traditionen gegen die Moderne verteidigt und sind für eine Anerkennung des ganzen Spektrums des Bewusstseins eingetreten, der großen Holarchie des Seins. In diesem Kapitel werden wir die Moderne gegen den Traditionalismus verteidigen und argumentieren, dass die Evolution neue Wahrheiten, neue Erkenntnisse, neue Einsichten hervorbringt, weshalb die großen Traditionen der Blutauffrischung durch die Moderne dringend bedürfen. Die integrale Sichtweise stellt den Versuch dar, von beiden Welten, der alten und der modernen, das Beste zu wählen. Hierfür ist allerdings eine kritische Haltung und die Bereitschaft notwendig, zugleich auch, ohne zu zögern, das Schlechteste von beiden zurückzuweisen. Der nachdenklichere Teil der Menschheit sah zu allen Zeiten in der Philosophia perennis einen harmonisierenden und stabilisierenden Einfluss, eine Konstante in einer Welt des Wandels. Deshalb tun wir in unserer schnellebigen Zeit der ungewissen Veränderungen erst recht gut daran, den Blick auf alte Weisheit zu richten, um dort nach einem sicheren Boden und Führung Ausschau zu halten, weil diese immer den Anspruch hatte, zeitlose und ewige Wahrheiten jenseits des Aufruhrs und der Wirren von Raum und Zeit zu verkünden. "Ich bin als die Zeit gekommen, als die Verwüsterin der
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Völker, gerüstet für die Stunde, die ihnen den Untergang bereiten wird." Die Philosophia perennis ist als das Gegenmittel gekommen, als Balsam für die ermattete Seele, gerüstet für die Stunde ihrer großen Erlösung. Aber natürlich war es nie ganz einfach, "alte" Weisheit in "moderne" Zeiten zu integrieren – schon die Begriffe "alt" und "modern" scheinen miteinander unverträglich zu sein. Ich möchte daher zu klären versuchen, was genau mit den Begriffen "alt" oder "ewig" gemeint sein soll, und wie diese "alten" Lehren sich mit der "modernen" oder "fortschrittlichen" Gesellschaft in Einklang bringen ließen. Wenn wir zunächst einmal die "alte Weisheit" als Philosophia perennis bezeichnen, dann kann damit nur eines gemeint sein, nämlich diejenigen Wahrheiten – oder vielmehr diejenige Wahrheit –, die radikal zeitlos oder ewig, einig und ganz, einzig und allumfassend ist. Diese im weitesten Sinne als die höchste Wirklichkeit oder der GEIST selbst verstandene Wahrheit ist der Kern der Philosophia perennis. Mit anderen Worten: Das Wesen der "ewigen Philosophie" machen nicht Lehren, Überzeugungen, Doktrinen oder Ideen aus, da diese alle der Welt der Form, des Raums und der Zeit und des unaufhörlichen Wandels angehören. Die Wahrheit selbst ist jedoch formlos, raumlos, zeitlos; sie umfasst allen Raum und alle Zeit, ist aber nicht auf diese beschränkt. Dieses Eine, die absolute Wahrheit, ist nur als aller Raum und alle Zeit in der Welt von Raum und Zeit und kann daher niemals formal oder als Doktrin dargestellt werden. Wir können niemals eine Aussage über das Ganze der Wirklichkeit machen, weil jede denkbare Aussage selbst nur Teil dieser Wirklichkeit ist. Deshalb lässt sich die Philosophia perennis als unmittelbare Erkenntnis-einung mit dieser Wirklichkeit selbst niemals in einem Gebäude von Lehren oder Ideen zusammenfassen, denn diese sind immer bruchstückhaft, begrenzt und endlich. Die absolute Wahrheit kann (im kontemplativen Gewahrsein) aufgezeigt, aber niemals (in diskursiver Rede) erschöpfend ausgesprochen werden. Es besteht, anders gesagt, ein entscheidender Unterschied zwischen absoluter Wahrheit und Formen von Wahrheit. Absolute Wahrheit ist formlos, zeitlos, raumlos, wandellos; ihre verschiedenen Formen aber, die vielfältigen Ideen, Symbole, Bilder und Gedanken, mit denen wir sie darzustellen versuchen, ändern und entwickeln sich unaufhörlich. Absolute Wahrheit ist zeitlos, aber ihre verschiedenen Formen existieren in der Welt der Zeit und sind den Gesetzen der Zeit unterworfen. Absolute Wahrheit ist raumlos, aber ihre verschiedenen Formen sind raumhaft, endlich und kontingent. Absolute Wahrheit ist kein Zustand unter anderen Zuständen, sondern der Zustand schlechthin aller Zustände, die Verfassung aller Verfassungen, die Soheit oder Seinsheit aller Erscheinungen und aller Formen, weshalb sie selbst keine bestimmte Erscheinung oder Form ist.
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Nun kann man niemals alle Formen der Wahrheit erkennen, seien es psychologische, soziologische, ökonomische, biologische oder sonstige Wahrheiten. Diese Formen stehen in einem unaufhörlichen Prozess des Fortschreitens und der Entwicklung, der Veränderung und der zunehmenden Komplexität. Man kann zwar niemals alle diese Formen der Wahrheit wissen, aber man kann die Wahrheit oder die absolute Wirklichkeit erkennen, von der alle diese Formen nur bruchstückhafte und angenäherte Abspiegelungen sind. Anders gesagt, auch wenn man niemals alle Tatsachen des Daseins wissen kann, kann man doch die Tatsache des Daseins schlechthin erkennen, die die Grundlage und das Fundament aller möglichen und relativen Fakten ist. Wenn man weiß, dass das Meer nass ist, dann weiß man, dass alle Wellen nass sind, auch wenn man niemals alle Wellen kennen kann. Dies ist also eine Bedeutung der Begriffe alte Weisheit oder Philosophia perennis, jener absoluten Wahrheit, die zeitlos, formlos und raumlos ist, uneingeschränkt ganz und vollständig und außerhalb deren es nichts gibt. Einer Wahrheit, die mittels direkter und formloser intuitiver Einung erkannt werden kann, die aber niemals in irgendeiner Form oder Doktrin, einem System, einer Philosophie, einer Behauptung, einem Gedanken oder einer Vorstellung (all dies sind nur bruchstückhafte, zeitliche und begrenzte Abspiegelungen) vollständig oder auch nur angemessen erfasst werden kann. In einem anderen Sinne aber bedeutet alt auch "archaisch" oder "primitiv". In der Tat meinen viele, die in glühenden Worten von "alter Weisheit" sprechen, die Weisheit verflossener Zeitalter. Und diese "Weisheit der Vergangenheit" soll Bedeutung, Stabilität und Erlösung in unsere gegenwärtige Kultur bringen. Aber hier haben wir es schon mit einer Verwechslung vergangener Formen der Wahrheit mit der Wahrheit selbst zu tun. Diese Verwechslung führt dazu, dass "zeitlose Wahrheit" nur noch bedeutet "Was die Alten sagten". Es besteht eine verbreitete Tendenz, das Gestern zu verherrlichen, in der Vergangenheit eine höhere "Weisheit" zu erblicken als in der Gegenwart, das alte Ägypten, China und Indien zu glorifizieren, unsere Vorfahren romantisch zu verehren und unsere Zeitgenossen schlechtzumachen und überhaupt in der Welt der manifesten Dinge nicht eine Evolution wachsender Weisheit, sondern eine Devolution zunehmender Unwissenheit zu erblicken. Hier liegt meiner Meinung nach eine große geistige Verwirrung vor. Es geht mir um folgendes: Wenn man sagt, "unsere heutige Kultur braucht die alte Weisheit", dann muss man genauestens angeben, was man unter "alter Weisheit" verstehen will. Wenn mit "alt" "zeitlos" gemeint ist, dann ist es unstrittig, dass unsere Kultur (wie alle bisherigen Kulturen) eine solche Weisheit dringend braucht. Wenn man aber mit "alt" "frühere Ausprägungen der Wahrheit" meint, dann kann aus der Anwendung einer
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solchen Wahrheit nichts anderes als eine reaktionäre, fortschrittsfeindliche, antiliberale und anti-evolutionäre Haltung entstehen. Wenn heute jemand sagt, dass unsere gegenwärtige Kultur die "Weisheit vergangener Zeiten" brauche, dann meint er damit entweder, dass die früheren Ausprägungen der Wahrheit angemessener waren als die gegenwärtigen oder dass die Menschen früher die Wahrheit klarer intuierten, als wir es heute tun oder überhaupt zu tun vermöchten. Ich glaube, dass die eine Auffassung so falsch ist wie die andere. Dies lässt sich, wie ich meine, mit einem kurzen Blick in die spirituelle und kulturelle Anthropologie leicht zeigen. Wenn man der Auffassung anhängt, dass es in allen ursprünglichen Kulturen auch nur halbwegs angemessene Formen einer Philosophia perennis gegeben habe, dann muss man sich auf eine herbe Enttäuschung gefasst machen. So gibt es praktisch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die altsteinzeitlichen Kulturen über eine reife Version der Philosophia perennis verfügt hätten; selbst die zentrale (und einfachste) Vorstellung, dass es eine einzige Wirklichkeit hinter der Vielfalt der Erscheinungen geben müsse, war, wenn überhaupt, nur bei einer winzigen Minderheit vorhanden. Praktisch alle Gelehrten stimmen darin überein, dass es erst am Übergang von der Altsteinzeit zur mittleren und Jungsteinzeit und zur Bronzezeit eine wahre Explosion spirituellen und kulturellen Wissens gab, das unendlich reicher war als alles, was bisher vorhanden war. Um das 6. Jahrhundert v. Chr. erleben wir dann das Auftreten der Weisen der "Achsenzeit" – Zarathustra, Gautama, Buddha, Platon, Laozi, Konfuzius, Moses, Sokrates –, bei denen wir offensichtlich eine noch tiefere Einsicht in die spirituelle Wahrheit und Wirklichkeit finden. Bei den Romantikern (Liebhabern "alter Weisheit" im Sinne des "Wie die Alten sagten") besteht die Tendenz, einen scharfen Niedergang der spirituellen Entwicklung nach der Achsenzeit anzunehmen, deren vorläufiger Endpunkt unsere heutige dekadente, verweltlichte und verwissenschaftlichte Gesellschaft ist. Aber ich bin der Meinung, dass diese romantische Täuschung wiederum von einer Verwechslung der absoluten Wahrheit mit vergangenen Ausprägungen der Wahrheit herrührt und dass eine genauere Untersuchung der historischen Fakten nichts anderes ergeben kann als eine kontinuierliche Evolution und Vertiefung des spirituellen Verständnisses von der Achsenzeit bis in unsere moderne Zeit. Nehmen wir zum Beispiel die großartige Entwicklung des MahayanaBuddhismus in Indien, die um das zweite und dritte Jahrhundert v. Chr. begann. Wir sehen die außerordentliche Entwicklung des Chan-, Tiantai- und Huayan-Buddhismus in China im 6., 7. und 8. Jahrhundert, den großartigen Vajrayana in Tibet, dessen Anfänge ebenfalls erst um das 8. Jahrhundert liegen, den tantrischen Buddhismus in Indien, der zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert entstand, und den Zen-Buddhismus in Japan, wo erst 1685 der
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große Hakuin geboren wurde. Im Vedanta betritt Shankara erst 800 n. Chr. die Bühne, Ramanuja 1175, Ramakrishna 1836, und Shri Ramana Maharshi, der größte aller vedantischen Weisen, und Shri Aurobindo, der größte aller vedantischen Philosophen, starben erst vor wenigen Jahrzehnten! Ich könnte hierfür noch viele weitere Beispiele angeben, die jedenfalls, wie ich meine, eines unumstößlich belegen: Sowohl die Qualität der spirituellen Einsichten der Menschheit als auch die Form ihrer Präsentation werden in unserer Zeit tiefer und treffender, nicht seichter und unzutreffender. Hierbei möchte ich mich mit einem Punkt besonders befassen, dem Begriff der Evolution. Üblicherweise betrachtet man den Gedanken der Involution und Evolution als eine der Kernlehren der Philosophia perennis, einer der bekannteren Formen radikaler Wahrheit. Nach dieser Lehre entstand die Erscheinungswelt als "Abfall" vom Absoluten (Involution), während jetzt alles durch die Evolution wieder zum Absoluten zurückkehrt. Und diese Lehre von einer stetigen Rückkehr zum Ursprung (Evolution) erscheint Gelehrten wie Joseph Campbell zufolge erst um die Achsenzeit, das heißt vor nicht mehr als zweitausend Jahren. Aber selbst damals herrschte noch eine stark rückwärtsgewandte Einstellung. So durchläuft nach der Lehre von den Yugas die Welt verschiedene Entwicklungsstufen, doch ist dies eine Rückwärtsbewegung: Einst war das Goldene Zeitalter, und seither geht es mit der Welt in einem Devolutions-Prozess abwärts, weshalb wir heute im Kali-Yuga stehen. Diese Vorstellung einer historischen Vertreibung aus dem Garten Eden war während der Achsenzeit überall verbreitet; der Gedanke, dass wir uns heute auf den Geist zu bewegen, war damals noch praktisch ohne Einfluss. Erst in der modernen Zeit – wann genau, ist unmöglich anzugeben – wurde die Auffassung der Geschichte als Devolution (oder Herausfallen aus Gott) allmählich durch den Gedanken einer geschichtlichen Evolution (oder einer Hinentwicklung auf Gott) verdrängt. Explizit ist dieser Gedanke bei Schelling vorhanden (1775-1854); Hegel (1770-1831) stellte diese Lehre mit unerreichter Genialität dar. Herbert Spencer (1820-1903) baute die Evolution zu einem universellen Gesetz aus, und sein Freund Charles Darwin (18091882) wandte sie auf die Biologie an. Als nächstes erscheint sie bei Aurobindo (1872-1950), der sie vielleicht in den genauesten und tiefsten spirituellen Kontext stellte, und bei Pierre Teilhard de Chardin (1881 – 1955), der sie im Westen berühmt machte. Ich meine daher, dass der Gedanke der Evolution als Rückkehr zum Geist zwar zur Philosophia perennis gehört, aber in einer irgendwie ausgereiften Form nicht älter als höchstens einige Jahrhunderte ist. Er ist vielleicht alt im Sinne von "zeitlos", aber nicht alt in dem Sinne, dass er schon vor langer Zeit bestanden hätte.
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Mit diesem neuen Evolutionsbegriff veränderte sich die Perspektive der Philosophia perennis grundlegend: Es gibt nach wie vor jenes Eine, den zeitlosen und absoluten Geist, von dem das ganze Universum nichts weiter als eine Manifestation ist, aber diese Welt der Manifestation entwickelt sich jetzt nicht mehr vom Geist weg, sondern auf den Geist hin. Gott lebt nicht in unserer kollektiven Vergangenheit, sondern in unserer kollektiven Zukunft. Der Garten Eden ist morgen, nicht gestern – das Goldene Zeitalter liegt vor uns, nicht hinter uns. Diese grundlegende Veränderung in der "Stimmung" oder Form der Philosophia perennis, wie sie zum Beispiel bei Aurobindo, Hegel, Adi Da, Schelling, Teilhard de Chardin und Radhakrishnan zu finden ist, um nur einige wenige zu nennen, möchte ich die "neue Philosophia perennis" nennen. Und diese neue Philosophia perennis ist etwas, was unsere heutige Kultur sehr dringend braucht – nicht "alte Weisheit". Den Kern dieser neuen Philosophia perennis bildet also dieselbe absolute und formlose Wahrheit, die die Weisheitskulturen der Vergangenheit erahnten (und die in den verschiedenen Kulturen und Zeiten als Dao, Buddha-Geist, Brahman, Göttin, Kether usw. bezeichnet wurde). Ihre äußere Form, das Gewand, in das sie sich in der relativen und manifesten Welt hüllt, hat sich jedoch in einer natürlichen Weise verändert und entwickelt, um mit der fortschreitenden Evolution der manifesten Welt Schritt zu halten. Davon bleibt natürlich auch der Gedanke der Evolution selbst nicht unberührt. Während daher die "alte Weisheit" – womit hier die äußeren Lehren, Ideen und Symbole gemeint sind, die in der Vergangenheit zur metaphorischen Darstellung innerer und absoluter Wahrheit dienten – überholt, anachronistisch oder schlicht falsch ist (auch wenn sie in früheren Zeiten der jeweiligen Entwicklungsphase und Kultur sehr wohl angemessen war), ist die neue Philosophia perennis unseren heutigen Bedürfnissen und Vorstellungen und den Fortschritten in der Wissenschaft viel besser angepasst. Es gibt ein neues Koan für unser Zeitalter, das nur die neue Philosophia perennis beantworten kann: Hat der Computer Buddha-Natur? Fassen wir also unsere Befunde zusammen. Die "Ewige" oder "ursprüngliche" oder "alte" Weisheit kann zweierlei bedeuten: Zum einen kann dies die absolut zeitlose, raumlose und formlose Wahrheit sein, der Urgrund allen Seins, die ursprüngliche Leerheit, der reine nichtmanifeste Geist, die Verfassung aller Verfassungen, der Zustand aller Zustände, die Natur aller Naturen, das Noumenon, das alle Phaenomena transzendiert, aber ihnen immanent ist und in einem zeitlosen Zustand der kontemplativen Einheit oder Identität mit aller Manifestation erkannt werden kann. Unterhalb dieser Ebene des formlosen, bildlosen, zeitlosen Einungs-Samadhi kleiden wir diese Erkenntnis der formlosen Wahrheit natürlicherweise in die verschiedenen Formen und Wahrheitssymbole, die uns in unserem jeweiligen
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soziokulturellen Milieu zur Verfügung stehen. Aus den jeweiligen äußeren Formen und Symbolen, die von früheren Weisheitskulturen benutzt wurden, entstand die zweite Bedeutung von "alter Weisheit", nämlich im Sinne der Lehren, Worte, Theorien, Metaphern, Symbole und Modelle, mit denen alte oder vergangene Kulturen ihre jeweils eigene Erkenntnis dieser absoluten Wahrheit ausdrückten und darstellten. Während die radikale und formlose Wahrheit, insoweit sie klar erkannt wird, notwendigerweise zu allen Zeiten und an allen Orten eine und dieselbe sein muss, können ihre Ausdrucksformen nur danach beurteilt werden, inwieweit sie dem jeweiligen soziokulturellen Kontext angemessen sind, in dem sie lebendig sind und aus dem ihre Metaphern und Modelle stammen. Wenn wir nun "ALT" (groß geschrieben) für die absolute, zeitlose und formlose Wahrheit und "alt" (klein geschrieben) für die jeweiligen früheren Ausdrucksformen der absoluten Wahrheit verwenden, können wir unsere Hauptaussage kurz wie folgt formulieren: Die moderne Kultur braucht ALTE WAHRHEIT, nicht alte Wahrheit. Hierzu gehört ein Zweites: Die beste und angemessenste Form ALTER WAHRHEIT ist heute die neue Philosophia perennis und nicht eine blinde Ergebenheit gegenüber demjenigen, "Was die Alten sagten". Die moderne Kultur ist mit der alten Kultur weitgehend unverträglich, und ihre erzwungene Zusammenführung könnte höchstens einen kleinen Kreis von Nostalgikern entzücken. Wir sind uns sicher einig, dass die formlose oder ALTE WAHRHEIT in der vollkommenen Einheit und Identität mit der ganzen manifesten Welt besteht – und in unserer heutigen manifesten Welt gibt es nun einmal Computer, globale Politik, den Gedanken der Evolution, Moleküldesign, Mensch-Maschine-Schnittstellen, die rasanten Fortschritte der Medizin usw. Kurz, die Form der ALTEN WEISHEIT kann nicht mehr die alte sein. Die neue Philosophia perennis, die an unsere heutigen Bedürfnisse und Notwendigkeiten angepasst ist, muss heute Gottes Zeugnis gegenüber der aufkommenden neuen Weisheitskultur sein. Wir haben gesagt, dass frühere Formen der Wahrheit den Notwendigkeiten und Bedürfnissen früherer Kulturen entsprangen und dass sie in aller Regel in jenen Zeiten vollkommen angemessen waren. Nun können Teile davon in unserer heutigen Gesellschaft durchaus noch einen begrenzten Nutzen haben (wie wir heute ja auch noch das Rad verwenden), aber sie sind dann per definitionem nur ein Bestandteil unserer heutigen Wahrheitsformen, weil sie einer umfassenderen Struktur eingefügt und angepasst sind (so fügte z.B. Aurobindo die Spiritualität und Evolution ein, und Vivekananda brachte den Dialog zwischen Physik und Spiritualität in Gang). Das Entscheidende ist, dass innerhalb der Evolution der Formen der Wahrheit eindeutig eine Aufeinanderfolge immer angemessenerer und umfassenderer Strukturen zu beobachten ist, mit denen die Wahrheit ausgedrückt und repräsentiert wird. (Der Gedanke, dass jede
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Entwicklungsstufe angemessen ist, aber jede nachfolgende angemessener, wurde zuerst von Hegel ausgesprochen, einem der ersten großen Vertreter der neuen Philosophia perennis.) Die Vergangenheit hatte die großen Religionen. Die Zukunft wird die größeren Religionen haben. Es ist mir klar, dass diese Darstellung unserer üblichen Sichtweise entgegengesetzt ist. Aber was wäre gewesen, wenn ich diese Aussage zum Beispiel vor 500000 Jahren gemacht hätte? Sie wäre offensichtlich richtig gewesen. Hört die Evolution mit uns auf, und gibt sie uns und nicht unseren Nachkommen einen privilegierten Status? Es lässt sich nicht daran rütteln, dass unsere sogenannten großen Religionen von künftigen spirituellen Entwicklungen auf Fußnoten zur Entwicklungsgeschichte des Geistes reduziert und keinen besseren Status mehr haben werden, als wir ihn heute etwa Voodoo und der sympathetischen Zauberei zubilligen. Die größeren und angemesseneren Formen der ALTEN WEISHEIT werden morgen auftreten, und morgen und übermorgen wiederum, wie es in der Vergangenheit immer der Fall war. Dies bedeutet natürlich nicht, dass man heute auf die künftige Evolution warten muss, um Transzendenz zu erlangen. Jedem Menschen steht es heute wie in der Vergangenheit völlig frei, über kontemplativ-meditative Praktiken individuell nach Transzendenz zu streben. Weil die absolute Wahrheit formlos ist, braucht sie weder auf die Ankunft künftiger Formen zu warten noch den Verlust früherer Formen zu beklagen. Wenn man sich nur auf die Zukunft oder nur auf die Vergangenheit verlässt, bleibt man der Verwechslung von Wahrheit mit ihren zeitlichen Formen verhaftet. Die absolute Wahrheit ist immer nur in der zeitlosen Gegenwart ganz und vollständig verfügbar. Es ist einfach so, dass mit der fortschreitenden Entwicklung und Evolution des Bewusstseins als Ganzem, die sich heute weltweit vollzieht, auch ein globales Bewusstsein (das eine jede geistige Enge überwindet) immer einfacher, offensichtlicher, interessanter und dadurch, wie ich glaube, auch wahrscheinlicher wird. Man kann mit Sheldrake spekulieren, dass dies die Wirkung eines morphogenetischen Feldes ist – jedenfalls scheint die evolutionäre Akkumulierung unbestreitbar zu sein. Deshalb beruht die Vorstellung, dass die heutige rationale und säkulare Gesellschaft irgendwie antispirituell sei, weitgehend auf einer falschen Auffassung von der tatsächlichen Natur der Evolution, die den Philosophen der neuen Philosophia perennis zufolge nichts anderes ist als der GEIST-inAktion oder die Stufen der Rückkehr des GEISTES zum GEIST als GEIST. Eine dieser Phasen ist den Philosophen der neuen Philosophia perennis von Aurobindo über Hegel bis Adi Da zufolge eben eine humanistischnaturwissenschaftlich-rationale Phase, die keineswegs antispirituell, sondern vielmehr eine notwendige Zwischenform des GEISTES-in-Aktion ist. Wenn man dies allerdings nicht verstanden hat und einen nostalgischen Vergleich
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der heutigen Form des GEISTES-in-Aktion mit seinen früheren Formen anstellt, muss man freilich zu der düster-romantischen Schlussfolgerung gelangen, dass die moderne Zeit im Vergleich etwa mit Mesopotamien (dessen religiöse Praktiken in Wirklichkeit zum Barbarischsten zählten, was man sich vorstellen kann) spirituell ein sehr trübes Kapitel sei. Es wird also einfach Zeit, dass wir mit unserer wehleidigen Sehnsucht nach dem Gestern, unserer morbiden Fixierung auf Mutter Vergangenheit, unserem erbärmlichen Lechzen nach jeglicher Lehre aufhören, die ihre einzige Autorität aus der Tatsache bezieht, dass sie von einem wirklich ganz alten Weisen stammt, der vor Jahrhunderten oder besser noch Jahrtausenden lebte. Unsere ganze Fixierung auf die Vergangenheit kommt ja nur von unserer Furcht vor dem Tode in der Gegenwart: Weil wir unfähig sind, unserem Ich zu ersterben, klammern wir uns an die Dauer und Festigkeit der Vergangenheit, die ersatzweise als Unsterblichkeitsprojekt herhalten muss. Der Leichnam des Gestern wird zu unserer morbiden Zufluchtsstätte, zu unserer faulen Unsterblichkeit. Akzeptieren wir lieber die Vergangenheit, respektieren wir sie, seien wir dankbar für ihre Erfolge, auf deren Grundlage unser jetziges Bewusstsein ruht – aber lösen wir uns aus ihrer Umklammerung. Was sehen und fühlen wir wirklich, wenn wir uns den alten Weisen zuwenden und über ihre Erkenntnisse staunen, uns in irgendeinen von ihnen verlieben? Was kann dies anderes sein als unser eigenes höchstes Selbst oder unser eigener höchster Geist, da doch der Geist eines und zeitlos ist? Unser Festhalten an der Vergangenheit ist nichts als eine fehlgeleitete Intuition des absoluten Geistes, die von einer Verwirklichung in der Gegenwart zu einer Vergötzung der Vergangenheit degeneriert ist, weil wir nicht fähig sind, jetzt zu einer zeitlosen Transzendenz hinzufinden. Entlassen wir also die alte Weisheit aus unserer tödlichen Umklammerung, damit die ALTE WEISHEIT, die ewig neu ist und sich ewig erneuert, uns den Weg voran in unsere Heimat weisen kann. Spirituelle Evolution, kulturelle Evolution, Evolution als solche: Die wenigsten der alten Weisheitstraditionen akzeptieren in irgendeiner Weise diese liberale und progressive Sichtweise. Aber wie könnte man ihnen dies auch vorwerfen? Wie kann irgend jemand von einer spirituellen Evolution reden wollen, wenn uns das Fanal von Auschwitz, Hiroshima, Wounded Knee, Gulag und Tschernobyl vor Augen steht, wenn die Namen eines Hitler, Mussolini, Stalin, Pol Pot, Amin für alle sichtbar in das Fleisch der Moderne eingebrannt sind? In meinem Halbzeit der Evolution habe ich versucht, mich mit diesen außerordentlich schwierigen Fragen auseinanderzusetzen. Halbzeit der Evolution ist heute mehr oder weniger allgemein anerkannt, doch löste es
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ursprünglich heftige Kontroversen aus, aus Gründen, mit denen ich mich im Vorwort zur Neuausgabe auseinandersetze. Dort nehme ich zu einem der größten Probleme (und Alpträume) der modernen Soziologie und Anthropologie Stellung: Wie kann man vor dem Hintergrund von Auschwitz von einer kulturellen Evolution sprechen? Dies ist die entscheidende Frage, denn wenn wir diese nicht plausibel beantworten können, gibt es auch keine Möglichkeit, alte und moderne Weltsichten miteinander zu versöhnen (weil erstere die Evolution leugnen, letztere sie bejahen). Was wir also brauchen, ist eine völlig neue Betrachtungsweise der Evolution, die es erlaubt, das Auf und Ab der Reise des Geistes in der Zeit umfassend zu würdigen und zu akzeptieren. Aber wenn man die Evolution als GEIST-in-Aktion sehen will, muss man sich mit einigen schwerwiegenden Einwänden auseinandersetzen, denn weder die Traditionalisten noch die liberalen Modernisten haben bisher wirklich Klarheit über die tiefere Bedeutung der Evolution schaffen können. Wenn die Evolution in der übrigen Welt wirksam ist, dann muss sie auch für den Menschen gelten, das heißt, auch die Kultur des Menschen muss sich entwickeln. Es müssen stets fortgeschrittenere Formen der Interaktion emergieren – und dies führt unweigerlich in den Widerspruch von Auschwitz. Mit anderen Worten, die Zukunft der integralen Studien hängt entscheidend davon ab, welche Haltung man der Evolution gegenüber einnimmt: Auf welchen Gebieten ist sie wirksam, und was bedeutet sie wirklich? Und wenn man die Evolution als GEIST-in-Aktion auffasst, welche Antwort hat man dann auf den Gulag? Ich schrieb Halbzeit der Evolution im Jahre 1977, also zu einer Zeit, als es gerade Mode war anzunehmen, die Evolution sei für alle Bereiche des Universums gültig – mit Ausnahme des Menschen. Der Kosmos sollte also zwölf Milliarden Jahre lang in den Wehen gelegen haben, wobei alles dem Prinzip der Evolution unterworfen war, einem außergewöhnlichen und alles umfassenden Entwicklungsgesetz – und als der Kosmos schließlich den Menschen gebar, sollte dieses Gesetz plötzlich nicht mehr gültig sein. Dieser seltsamen Meinung hingen traditionelle religiöse Denker, Retroromantiker und liberale Gesellschaftstheoretiker an, praktisch das ganze Pantheon einflussreicher Autoren und Theoretiker aus dem ganzen Spektrum der Gesellschaftswissenschaften. Die meisten religiösen Traditionalisten räumten ein, dass es beim einzelnen Menschen Entwicklungen gäbe, nicht aber im kollektiven und allgemeinen kulturellen Rahmen der Menschheit. Die Traditionalisten hegten diese intensive Antipathie gegenüber der kulturellen Evolution vor allem deshalb, weil die moderne Geschichte die traditionelle mythische Religion recht gründlich widerlegt hatte, und wenn daher die Evolution tatsächlich die
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Triebfeder der Geschichte sein sollte, dann wäre sie über die Traditionalisten und ihre Überzeugungen recht rücksichtslos hinweggegangen. Und es gibt ja keinen Zweifel daran, dass die liberale Moderne die Religion sehr gründlich zurückgewiesen hat: Sie akzeptiert keine traditionelle mythische Religion in ihren politischen Körperschaften, duldet keine mythisch-religiösen Erklärungen für wissenschaftliche Fakten und Wahrheiten und lehnt spezifisch mythisch-religiöse Aussagen im öffentlichen Diskurs und im öffentlichen Ethos ab. Deshalb betrachten Traditionalisten – was man ihnen nicht verdenken kann – die Moderne als massiv antispirituelle Bewegung, als die furchtbare Bewegung der Säkularisierung und Rationalisierung: Die Moderne ist der große Satan. Und wenn es dies ist, was uns die Evolution beschert, dann bitte etwas weniger davon. Wenn sie nicht gar behaupten: Die Evolution gilt für den Menschen nicht. Die Retroromantiker und Neuheiden hieben in dieselbe Kerbe: Evolution sei in der ganzen Welt wirksam, nur nicht im Menschen, und die ersteren ließen es nicht dabei bewenden und behaupteten sogar, dass die Evolution beim Menschen rückwärts liefe. Für sie trat der Mensch phylogenetisch und ontogenetisch in einer Art ursprünglichem Garten Eden an, einem großen Paradies, einem Urhimmel auf Erden, und von da an ging es bergab. Die gewaltigen Kräfte, die Milliarden von Jahren im Kosmos wirksam waren, die aus Atomen Ameisen und aus Amöben Affen formten, die Galaxien und Quasare zu planetarischen Gebilden zusammenzwangen und auf diesen empfindungsfähige Zellen, wahrnehmungsbegabte Organismen und warmblütige Wesen entstehen ließen, die sehen, fühlen und sogar denken konnten, alle diese Kräfte fanden, nachdem sie den Menschen hervorgebracht hatten, ein schlagartiges Ende – und der einzige Grund hierfür war offenbar, dass dies den Retroromantikern eben so in ihr Weltbild passte. Evolution für den Rest des Kosmos – aber mit dem Menschen geht es bergab. In der Tat ein ebenso sonderbarer wie bösartiger Dualismus. Diese äußerste Feindseligkeit gegenüber der kulturellen Evolution teilten auch die liberalen Gesellschaftstheoretiker, und zwar aus sehr begreiflichen, ja sogar edlen Gründen. Der Sozialdarwinismus in seinen üblichen Ausprägungen war so grobschlächtig und so grausam – ganz abgesehen davon, dass er sich auf äußerst zweifelhafte Aspekte der Darwinschen Theorie stützte –, dass er eigentlich nichts anderes bedeutete als einen massiven Mangel an Mitgefühl für den Mitmenschen. Deshalb beschlossen die Gesellschaftstheoretiker praktisch aller Richtungen gemeinsam, nicht mehr zu versuchen, die gültigen Aspekte der kulturellen Evolution von den grotesken zu trennen, sondern vielmehr das Thema zu meiden oder überhaupt zu leugnen. Die in Halbzeit der Evolution vertretene Auffassung war also damals ziemlich kühn und forderte jedenfalls Widerspruch heraus. Verschiedene
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große Theoretiker von Teilhard de Chardin bis Aurobindo und Hegel hatten den Gedanken bereits geäußert, dass die Evolution als solche letztlich eine Entfaltung des Geistes sei, wobei jede Stufe die vorangegangene transzendiere und einschlösse. Keiner von ihnen hatte jedoch diese philosophische Auffassung mit konkreten anthropologischen Daten zu untermauern versucht, und keiner von ihnen hatte die einzelnen Stufen dieser Evolution anhand umfassender empirischer Befunde beschrieben. Diesbezüglich war Halbzeit der Evolution, wie ich meine, ein wesentlicher Fortschritt. Zur Zeit als ich an Halbzeit der Evolution schrieb, erschienen gerade die Forschungsarbeiten zweier anderer Theoretiker, die auf demselben allgemeinen Gebiet arbeiteten, nämlich von Jean Gebser und Jürgen Habermas, erstmals in englischer Sprache. Von Gebser wusste ich nur, was in einem langen, in Main Currents erschienenen Artikel stand (ansonsten war nichts über ihn in englischer Sprache veröffentlicht), aber dieses wenige zeigte mir unzweifelhaft, dass Gebser im Grunde in der allgemeinen Evolution des menschlichen Bewusstseins dieselben Phasen aufgefunden hatte wie ich. Aus Respekt für die Pionierleistung Gebsers (er hatte hieran schon Jahrzehnte gearbeitet, bevor ich überhaupt geboren wurde) fügte ich seine Terminologie der meinigen an, weshalb die verschiedenen Kulturstufen Namen wie magisch-typhonisch und mental-egoisch bekamen. Mit anderen Worten, dies waren die Evolutionsphasen der kulturellen Weltsichten (die Evolutionsphasen des unteren linken Quadranten), die Gebser in seinen bahnbrechenden Studien bereits als archaisch, mythisch, mental und integral-aperspektivisch bezeichnet hatte. Meine eigenen Forschungen hatten mich zu ähnlichen, fast identischen Stufen geführt, die ich als uroborisch, typhonisch, Mitgliedschaft, egoisch und existentiell bezeichnete. (Als ich Gebsers Begriffe anfügte, entstanden so die magischtyphonische Phase, diejenige der mythischen Mitgliedschaft usw.) In meinem Ansatz gibt es jedoch jenseits der integral-existentiellen Stufe, die bei Gebser die höchste ist, noch höhere (oder tiefere) Stufen einer spirituellen und transpersonalen Entwicklung, von der psychischen über die subtile und die kausale zur nichtdualen, und diese Stufen sind bei Gebser nicht explizit vorhanden. Bis zu diesem Punkt jedoch ist Gebser der unübertroffene Meister und einer der Pioniere eines neuen Verständnisses der Evolution kultureller Weltsichten. (Die integralen Studien als Disziplin beinhalten eine sorgfältige Untersuchung des ganzen Spektrums kultureller Weltsichten und ihrer Entwicklung, da dasjenige, was in Individuen als Spektrum des Bewusstseins erscheint (oben links), in Kulturen als Spektrum der Weltsichten erscheint (unten links). Somit ist die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen dem
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ontogenetischen und dem phylogenetischen Werdegang der menschlichen Art eine der zentralen Aufgaben der integralen Anthropologie. Dies führt unmittelbar zum Werk von Jürgen Habermas. Habermas meldete sich mit einem Paukenschlag zu Wort; sein Erkenntnis und Interesse ist eine verheerende Attacke auf den nackten Positivismus und Empirismus; 1976 veröffentlichte er Sprachpragmatik und Philosophie, eine knappe, aber um so brillantere Darstellung der universellen Stufen der Bewusstseinsentwicklung, wie er sie sah. Ich stieß auf Habermas' Werk, als ich Halbzeit gerade beendete, so dass ich nur noch kurz auf ihn eingehen konnte, aber es war offensichtlich, dass Habermas aus einer gänzlich anderen Richtung zu den gleichen generellen Schlussfolgerungen gekommen war wie Gebser und ich. Habermas wurde für viele, mich nicht ausgenommen, zum größten lebenden Philosophen der Welt, und in späteren Büchern stützte ich mich sehr weitgehend und dankbar auf Habermas' unendlichen Genius. Was allerdings bei Gebser und Habermas fehlt, ist eine echte spirituelle Dimension. Gebser rang sehr darum, den spirituellen Bereich in sein Werk einzubeziehen, aber es zeigte sich, dass er die kontemplativen Traditionen, die allein zum Kern des Göttlichen vordringen, nicht kannte oder aber nicht wirklich verstand. Wie schon gesagt, gibt es jenseits der integralaperspektivischen Stufe, die bei Gebser die höchste ist, noch weitere Stufen der transpersonalen oder spirituellen Entwicklung, die Gebser einfach in seiner integralen Stufe zusammenfallen lässt. Und für Habermas, der eben ein deutscher Rationalist ist, gab und gibt es keinen Gott jenseits der Vernunft. Was also nötig war, war eine Art Kreuzung zwischen Aurobindo, Teilhard de Chardin, Gebser und Habermas, eine Art Rahmen, in dem die jeweiligen Stärken der Genannten Platz finden würden. In der Rückschau glaube ich sagen zu können, dass eben dies in Halbzeit der Evolution gelang. Ich habe seither die dort angegebenen Kategorien verfeinert und die Quadranten erweitert (interessierte Leser verweise ich auf Eros, Kosmos, Logos und Eine kurze Geschichte des Kosmos). Der Grundrahmen ist jedoch dort erstmals angegeben, und ich glaube, dass er nach wie vor gültig ist. Neuere Forschungen und Theorien haben die Gültigkeit von Halbzeit der Evolution und von dessen zentralen Schlussfolgerungen sehr weitgehend bestätigt. Das Hauptproblem bestand in folgendem: Wenn man die kulturelle Evolution als Erklärungsprinzip für die Geschichte der Menschheit heranziehen will, sieht man sich mit schwerwiegenden Einwänden konfrontiert, die Traditionalisten, Romantiker und liberale Gesellschaftstheoretiker veranlasst haben, eben diese Auffassung scharf zurückzuweisen. Mit anderen Worten, wenn das Gesetz der Evolution für die kulturelle Entwicklung des Menschen Gültigkeit haben soll, welche Erklärung
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gibt es dann für Auschwitz? Und woher nimmt man die Berechtigung, gewisse kulturelle Hervorbringungen als fortgeschrittener zu bezeichnen als andere? Woher kann man den Mut zu solchen Werturteilen nehmen? Welche Anmaßung ist dies? Wiewohl ich also in dieser Vorrede die Theoretiker gescholten habe, die die Evolution ablehnen, sind ihre Einwände doch schwerwiegend und bedeutsam, weshalb man sie ernst nehmen und sich mit ihnen in einer fairen Weise auseinandersetzen muss. So können die Traditionalisten zum Beispiel nicht an eine kulturelle Evolution glauben, weil sie moderne Schrecken wie Auschwitz, Hiroshima und Tschernobyl vor Augen haben. Wie kann man sagen, dass in der Menschheit Evolution wirksam sei, wenn sie solche Ungeheuer gebiert? Sie ziehen es vor, die Evolution überhaupt zu leugnen, um nicht um eine Erklärung für diese Greuel ringen zu müssen. Und die Romantiker profitieren von einer Art universeller menschlicher Sympathie für die Zeit vor unseren heutigen Wirren. Die Menschen der Urzeit hatten nicht unter den Katastrophen der Moderne zu leiden: keine industrielle Umweltverschmutzung, kaum Sklaverei, kaum Besitzstreitigkeiten usw. Ist es denn nicht offensichtlich, dass es mit uns abwärts gegangen ist? Ist es denn nicht an der Zeit, zur Natur zurückzukehren, zum "edlen Wilden", und so zu einem wahreren Selbst, zu einer faireren Gemeinschaft, einem reicheren Leben zu gelangen? Die Theoretiker des gesellschaftlichen Liberalismus haben nicht weniger Grund, den Begriff einer kulturellen Evolution mit Abscheu zurückzuweisen. Nicht nur, dass dieser in ihren unfasslich rohen Formen wie zum Beispiel dem Sozialdarwinismus das Mitgefühl fehlt; viel schlimmer ist noch, dass diese Form eines krassen "Evolutionismus" in den Händen moralischer Kretins genau jene verheerenden und barbarischen Begriffe des "Übermenschen", der "Herrenrasse", der kommenden menschlichen Halbgötter hervorbringt, die in martialischem Stechschritt in die Geschichte hereinbrechen, ihre Überzeugungen dem gefolterten Fleisch von Millionen einbrennen und ihre Ideologie ungerührt bis zu den Greueln der Gaskammern forttreiben. Man kann es den Theoretikern des gesellschaftlichen Liberalismus nicht verdenken, dass sie jegliche Art einer "gesellschaftlichen Hierarchie" als Vorspiel zu Auschwitz betrachten. Wer also die Bewusstseinsevolution als Erklärungsprinzip heranziehen will, muss sich mit schwerwiegenden Einwänden auseinandersetzen. Notwendig ist daher eine Theorie, die Fortschritt und Regression erklären kann, das Gute und Schlechte, das Auf und Ab eines evolutionären Impulses, der im Menschen ebenso wirksam ist wie im übrigen Kosmos. Andernfalls gerät man in die unmögliche Situation, dass man einen groben Keil mitten
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durch den Kosmos treibt: Alles Nichtmenschliche unterliegt der Evolution, alles Menschliche nicht. Welche Grundsätze könnten die kulturelle Evolution in einer ausgereifteren Form rehabilitieren und damit die Menschheit mit dem übrigen Kosmos wiedervereinen und zugleich eine Erklärung für die Höhen und Tiefen der Bewusstseinsentwicklung liefern? Wir müssen, wie ich meine, die folgenden zentralen Erklärungsprinzipien heranziehen: 1. Die Dialektik des Fortschritts. Bei der Evolution und Entfaltung des Bewusstseins löst jede Phase bestimmte Probleme der vorangegangenen Phase, wirft aber zugleich hartnäckige – und manchmal auch komplexere und schwerwiegendere – neue Probleme auf. Weil Evolution in allen Bereichen, dem menschlichen und den nichtmenschlichen, mittels Differenzierung und Integration fortschreitet, tauchen auf jeder neuen und komplexeren Stufe notwendigerweise Probleme auf, die es davor nicht gab. Hunde bekommen Krebs, Atome nicht. Deshalb hat sich aber noch nicht gleich die ganze Evolution erledigt. Es ist einfach so, dass die Evolution gute und schlechte Seiten hat, dass sie dialektisch fortschreitet. Und je mehr Stufen der Evolution es gibt (je größer die "Tiefe" des Kosmos), desto mehr Fehlentwicklungen kann es natürlich geben. Evolution bedeutet also, dass jede neue Stufe neue Potentiale und neue Wunder mit sich bringt, aber unweigerlich auch neue Schrecken, neue Ängste, neue Probleme und neue Katastrophen. Halbzeit der Evolution ist eine Chronik der neuen Wunder und der neuen Krankheiten, die sich im rauben Wind der Evolution des Bewusstseins entfalteten. 2. Der Unterschied zwischen Differenzierung und Dissoziation. Weil nun die Evolution mittels Differenzierung und Integration fortschreitet, kann es auf jeder Stufe zu Fehlentwicklungen kommen – je größer die Tiefe des Kosmos, desto mehr Krankheiten können auftreten. Eine der häufigsten Pathologien der Evolution entsteht, wenn aus einer überschießenden Differenzierung eine Dissoziation wird. Bei der Evolution des Menschen zum Beispiel ist es eines, Körper und Geist zu differenzieren, und etwas völlig anderes, sie zu dissoziieren. Es ist eines, Kultur und Natur zu differenzieren, etwas ganz anderes, sie zu dissoziieren. Differenzierung ist der Auftakt zur Integration; Dissoziation ist der Auftakt zur Katastrophe. Wie wir auf den folgenden Seiten sehen werden, ist die Evolution des Menschen (wie jede Evolution) von einer Reihe wichtiger Differenzierungen gekennzeichnet, die völlig normal und für die Evolution und Integration des Bewusstseins sogar entscheidend sind. Aber auf jeder Stufe können die Differenzierungen in eine Dissoziation überschießen, wodurch Tiefe in Krankheit, Wachstum in Krebs, Kultur in einen Alptraum, Bewusstsein in
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Agonie verwandelt wird. Halbzeit ist eine Chronik nicht nur der notwendigen Differenzierungen der Bewusstseinsevolution, sondern auch der pathologischen Dissoziationen und Verzerrungen, die ihnen nur allzu oft folgen. 3. Der Unterschied zwischen Transzendenz und Verdrängung. Dass die Evolution mittels Differenzierung und Integration fortschreitet, heißt zugleich, dass sie durch Transzendenz und Einschließung fortschreitet. Jede Stufe der Evolution (beim Menschen und im allgemeinen) transzendiert die vorangegangene und schließt sie ein. Atome sind Teile von Molekülen, diese Teile von Zellen, diese Teile von komplexen Organismen usw. Jede Stufe schließt damit ihre Vorläufer ein, denen sie ihre eigenen charakteristischen und emergenten Eigenschaften hinzufügt. Dies ist der Grundsatz der Transzendenz und Einschließung. Verläuft diese Entwicklung jedoch pathologisch, tritt an die Stelle der Transzendenz und Einschließung Transzendenz und Verdrängung, Unterdrückung, Verzerrung und Spaltung. Auf jeder neuen und höheren Stufe gibt es genau diese beiden Möglichkeiten: Transzendieren und einschließen, annehmen, integrieren, akzeptieren, oder transzendieren und verdrängen, leugnen, entfremden, unterjochen. Halbzeit ist eine Chronik der großen transzendenten Höhepunkte der menschlichen Evolution, aber auch der unfasslichen Unterdrückungen und Grausamkeiten. Wo viel Licht ist, ist viel Schatten, und Halbzeit blickt beiden ins Antlitz. 4. Der Unterschied zwischen natürlicher Hierarchie und pathologischer Hierarchie. Im Evolutions-Prozess wird alles, was auf einer Stufe ein Ganzes war, auf der nächsten Teil eines Ganzen. Alles im Kosmos ist ein "Holon", wie es Arthur Koestler nannte, ein Ganzes, das zugleich Teil eines anderen Ganzen ist, und dies in einer unendlichen Abfolge. Ganze Atome sind Teile von Molekülen, ganze Moleküle sind Teile von Zellen usw. Alles ist ein Ganzes/Teil, ein Holon, das in eine "natürliche Hierarchie" eingefügt ist, eine Aufeinanderfolge zunehmender Ganzheit. Daher schlug Arthur Koestler ganz richtig vor, normale Hierarchien besser als Holarchien zu bezeichnen. Alle Evolutionsprozesse sind auch Hierarchisierungs-/ Holarchisierungsprozesse: Jede höhere Dimension transzendiert die niedrigere und schließt sie ein, jede Ebene ist ein Ganzes, das in unendlicher Wiederholung Teil eines anderen Ganzen ist. Deshalb transzendiert jede Entfaltungsstufe die vorangegangene und schließt sie ein, und deshalb entfaltet sich der Kosmos in unendlichen Umhüllungen und Einschließungen. Aber was transzendiert, kann auch unterdrücken. Deshalb können normale und natürliche Hierarchien zu pathologischen Hierarchien, zu
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Herrschaftshierarchien degenerieren. In einem solchen Fall weigert sich ein arrogantes Holon, sowohl Teil als auch Ganzes zu sein; es möchte nur Ganzes sein. Es möchte nicht in gegenseitiger Abhängigkeit Teil von etwas Größerem als es selbst sein, es möchte keine Kommunion mit seinen MitHolons, es möchte sie mit selbstverliehener Handlungsvollmacht und Agenz beherrschen. Macht tritt an die Stelle von Kommunion, Herrschaft an diejenige von Kommunikation, Unterdrückung an diejenige von Gegenseitigkeit. Halbzeit ist eine Chronik des außerordentlichen Wachstums und der Evolution normaler Hierarchien, eines Wachstums, das allerdings auch eine Degeneration zu pathologischen Hierarchien erlaubt, die ihren glühenden Stempel dem gemarterten Fleisch unzähliger Millionen einbrannten, eine Spur des Schreckens, die das Lebewesen hinterlässt, das nicht nur transzendieren, sondern auch unterdrücken kann. 5. Höhere Strukturen können in die Gewalt niedrigerer Impulse geraten. Ein keinen Kontrollen unterworfenes Stammesdenken ist so lange relativ harmlos, wie die ihm zur Verfugung stehenden technischen Mittel vergleichsweise bescheiden sind. Der Schaden, den man mit Pfeil und Bogen der Biosphäre und anderen Menschen zufügen kann, bleibt in einem überschaubaren Rahmen (wobei dieser Mangel an Mitteln nicht automatisch mit einem Vorhandensein von Weisheit gleichzusetzen ist). Verheerende Folgen hat es dagegen, wenn sich das Stammesdenken mit seiner ethnozentrischen Ausrichtung fortschrittlicher Rationalisierungstechniken bemächtigt. Auschwitz ist nicht das Ergebnis von Rationalität. Auschwitz ist die Folge davon, dass viele Hervorbringungen der Ratio in einer irrationalen Weise benutzt wurden. Auschwitz ist in die Gewalt des Stammesdenkens, einer ethnozentrischen Blut-und-Boden-Mythologie romantischer Disposition geratene Rationalität, die barbarische ethnische Säuberungen nach sich zog. Mit Pfeil und Bogen kann man sich schwerlich zum Völkermord rüsten, wohl aber mit Stahl und Kohle, Verbrennungsmotoren und Gaskammern, Maschinengewehren und Atombomben. Dies sind keine rationalen Vorhaben, wie auch immer man "rational" definieren mag; dies ist ethnozentrisches Stammesdenken, das die Werkzeuge eines fortgeschrittenen Bewusstseins requiriert und sie für die niedrigsten und schändlichsten Motive benutzt. Auschwitz ist die letzte Konsequenz nicht der Vernunft, sondern des Stammesdenkens. Dies sind also einige der Unterscheidungen, die, wie ich glaube, notwendig sind, um die Evolution in einer befriedigenderen und überzeugenderen Weise darzustellen und eine Erklärung sowohl für die unbestreitbaren Fortschritte als auch für die unbestreitbaren Katastrophen in der Geschichte der
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Menschheit zu finden. Zugleich haben wir damit ein Mittel zur Hand, um auf die Einwände der Evolutionsgegner zu antworten, die noch in vielerlei Hinsicht den theoretischen Diskurs auf diesem Gebiet aggressiv für sich vereinnahmen. Den Traditionalisten können wir sagen: Ihr habt die Dialektik des Fortschritts nicht verstanden. Ihr befasst euch mit allen schlechten Seiten der Moderne und klammert die guten sorgfaltig aus; dann verdammt ihr das Aufkommen der Moderne und ihre Säkularisierung, ohne zu sehen, dass die Moderne in Wirklichkeit eine Form der Entfaltung des GEISTES als Anwesenheit in unserer heutigen Welt ist. Ihr preist das verflossene mythisch-agrarische Zeitalter, als die Welt sich noch vor dem mythischen Gott oder der mythischen Göttin verneigte, als die Religion überall auf dieser schönen Welt ihr lächelndes Antlitz zeigte, alle Menschen eurem geliebten Gott ergeben waren und alles vom wunderbaren und lebendigen Hauch des GEISTES durchdrungen war. Sehen wir also großzügig über die durch neuere Befunde klar belegte Tatsache hinweg, dass es in zehn Prozent der Jäger-und-SammlerGesellschaften und in 54 Prozent der Ackerbau-Gesellschaften Sklaverei gab, in 37 Prozent der ersteren und 64 Prozent der letzteren die Praxis des Brautpreises und in 58 Prozent der ersteren und überwältigenden 99 Prozent der letzteren mehr oder weniger häufig Kriege. Die Tempel dieser großartigen Götter wurden auf dem gebrochenen Rücken von Abermillionen versklavter und gefolterter Menschen errichtet, denen man nicht einmal ein Mindestmaß an menschlicher Würde zubilligte und mit deren Blut und Tränen der Weg zum Altar dieses Gottes getränkt ist. Die Traditionalisten halten uns die Alpträume der Moderne vor Augen; dann sollten sie aber auch nicht so leichthin über die Alpträume vergangener Zeiten hinwegsehen. Und wenn die Traditionalisten bezüglich der guten Seiten der Moderne so merkwürdig still sind, dann müssen wir ihnen doch ins Gedächtnis rufen, dass die großen Befreiungsbewegungen – die Befreiung des Sklaven, der Frauen, der Unberührbaren –, dass diese großen Emanzipationsbewegungen eine Frucht der Hinwendung zur Ratio waren, jener Form, in der sich der GEIST in der modernen Welt eben entfaltete. Die positiven Aspekte der Moderne wie zum Beispiel der Fortschritt der Medizin, die für sich allein mehr Schmerzen und Leid gelindert hat als jede andere Errungenschaft in der Geschichte, sind nichts anderes als Eros und Agape der gegenwärtigen Entfaltung des GEISTES: Die freiheitlichen Demokratien, und nur sie allein, sind die Manifestation des GEISTES nicht in einem zynisch verheißenen mythischen Himmel, sondern hier und jetzt auf der Erde, im konkreten Leben unzähliger Menschen, die bisher als Sklaven, als das Eigentum anderer lebten, welche in aller Regel als ihre frommen Herren
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zutiefst von der Herrlichkeit des großen und wunderbaren Gottes überzeugt waren. Deshalb halten wir den Traditionalisten entgegen: Ihr habt die Dialektik des Fortschritts nicht verstanden, ihr habt nicht erkannt, dass das Höhere in die Fänge des Niedrigeren geraten kann, ihr habt nicht gesehen, dass der Geist in der gegenwärtigen Welt eben in Gestalt der guten Seiten der Moderne anwesend ist, und in dieser und anderer Weise habt ihr den Kontakt mit dem Puls der beständigen Evolution und Entfaltung des Geistes verloren, mit dem Wunder der Evolution als Selbstverwirklichung durch Selbsttranszendenz. Den Retroromantikern sagen wir: Ihr habt Differenzierung mit Dissoziation verwechselt, Transzendenz mit Verdrängung. Und sooft die Evolution eine neue und notwendige Differenzierung hervorbringt, schreit ihr: Niedergang! Alptraum! Schrecken über Schrecken! Devolution! Der Verlust des Garten Edens, die Entfremdung der Menschheit, die Spur des Elends, in den Wind der Geschichte geschrieben! Die Eichel muss sich differenzieren, um zu einer Eiche werden zu können. Aber wenn ihr Differenzierung als Dissoziation betrachtet, wenn ihr dies so gründlich miteinander verwechselt, dann müsst ihr natürlich die Eiche als furchtbare Schändung der Eichel betrachten. Eure Lösung für alle Probleme, denen sich die Eiche gegenübersieht, lautet also: Wir müssen zu unserer wunderbaren Eichelhaftigkeit zurückkehren. Genau das Gegenteil ist natürlich die Lösung: Finden wir heraus, was die Eicheln daran hindert, sich als Eichen zu verwirklichen, und beseitigen wir diese Hindernisse, damit Differenzierung und Integration in einer natürlichen Weise geschehen können, statt in Dissoziation und Zersplitterung abzugleiten. Wir können den Romantikern zustimmen, dass sich oft furchtbare Verirrungen in den Gang der Entwicklung und Evolution eingeschlichen haben – wer wollte dies bestreiten! –, aber die Lösung liegt nicht in einer Idealisierung der Eichelhaftigkeit, sondern im Wegräumen der Hindernisse, die die Eichel nicht zu ihrer selbstverwirklichten Eichenhaftigkeit heranwachsen lassen. Den liberalen Gesellschaftstheoretikern sagen wir: Ihr habt den Unterschied zwischen natürlicher und pathologischer Hierarchie nicht verstanden, und in eurem verständlichen Eifer, letztere auszumerzen, habt ihr erstere zerstört: Ihr habt das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Eine Hierarchie von Werten im weitesten Sinne ist in allem menschlichen Streben unausweichlich, weil wir alle Holons sind: Kontexte in Kontexten in unendlicher Abfolge, und jeder weitere Kontext fällt das Urteil über die weniger umfassenden Kontexte. Deshalb entsteht das Paradoxon, dass die egalitären Gesellschaftstheoretiker selbst ein hierarchisches Urteil fällen, wenn sie die Hierarchie verwerfen: Sie behaupten, dass keine Rangstufen
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besser sind als Rangstufen. Dies ist aber ein hierarchisches Urteil, womit sie sich dem peinlichen Vorwurf aussetzen, sich selbst zu widersprechen, insgeheim dasjenige zu befürworten, was sie mit Worten verurteilen. Sie haben eine Hierarchie, die die Hierarchie leugnet, eine Rangordnung, die keine Rangordnung duldet. Natürlich versuchen sie damit nur, das Joch pathologischer Hierarchien abzuschütteln, und bei diesem Bemühen wollen wir ihnen unsere Unterstützung gewiss nicht versagen. Aber die einzige Möglichkeit, sich von pathologischen Hierarchien zu befreien, besteht darin, normale und natürliche Hierarchien zu akzeptieren, das heißt eine normale Holarchie, die das arrogante Holon wieder an seinen angestammten Platz zurückbeordert und in eine Wechselseitigkeit der Fürsorge, der Kommunion und des Mitleids integriert. Ohne Hierarchie aber bekommt man bloß Haufen, keine Ganzheiten, und so ist keine Integration möglich. Mit diesem Ansatz, mit diesen fünf Unterscheidungen können wir die Menschheit wieder mit dem übrigen Kosmos vereinigen und uns vom Joch eines bizarren und starren Dualismus befreien: Hier die Menschheit, dort alles andere. Die anthropozentrische Arroganz dieser Haltung ist erschreckend – ob sie nun von Traditionalisten, rückschrittlichen Ökotheoretikern oder Romantikern vertreten wird, aber wir brauchen eine solche Haltung durchaus nicht zu akzeptieren. Noch absurder erscheint die Leugnung der Evolution im menschlichen und kulturellen Bereich, wenn man sich vor Augen hält, dass man damit ja jede Möglichkeit des Lernens im kollektiven Bewusstsein bestreitet. Man behauptet damit nichts anderes, als dass der Mensch von seiner Geburtsstunde an schon immer alles über alles wusste; nichts entstand und entwickelte sich, es tauchten keine Wahrheiten auf, es gab keine Evolution. Nein: Wir sind wesentlicher Bestandteil des einen und allumfassenden Evolutionsstroms, der selbst der GEIST-in-Aktion ist, die Art und Weise, wie der GEIST schafft, Bestandteil einer Evolution, die immer über das Vorangegangene hinausgeht, auf immer neue Ebenen der Wahrheit springt und von dort aus erneut springt. Es ist eine Evolution, die mit jedem neuen Quantensprung stirbt und neu geboren wird, die oft stolpert und sich schmerzliche Wunden zuzieht, aber sich immer wieder aufrafft und einen neuen Sprung wagt. Und erinnern Sie sich daran, wer der Urheber dieser Darbietung ist? Wenn Sie tief in Ihr eigenes Gewahrsein blicken und sich von Ihrer Selbstbezogenheit lösen, sich in den leeren Grund Ihrer eigenen Urerfahrung, das schlichte Gefühl des Seins, hier und jetzt auflösen – ist es dann nicht schlagartig klar? Waren Sie nicht schon von Anfang an dabei? Hatten Sie nicht Ihre Hand bei allem im Spiel, was dann folgte? Begann nicht der Traum, als Sie es überdrüssig waren, Gott zu sein? Genossen Sie es nicht,
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sich in den Hervorbringungen Ihrer eigenen wunderbaren Phantasie zu verlieren und so zu tun, als ob alles ganz anders sei? Schrieben Sie nicht dieses Buch und zahllose andere wie dieses, um sich einfach wieder daran zu erinnern, wer Sie sind? In der Rückschau war also Halbzeit einer der ersten nachhaltigen Versuche, auf der Grundlage gesicherter anthropologischer Erkenntnisse die Menschheit wieder mit dem übrigen Kósmos zu vereinigen, aufzuzeigen, dass derselbe Strom in unserem menschlichen Blut fließt, der kreisende Galaxien und gewaltige Sonnensysteme antreibt, der die mächtigen Ozeane durchpflügt und in unseren eigenen Adern rinnt, der die gewaltigsten Berge und unsere großen moralischen Hoffnungen bewegt. Ein und derselbe Strom durchzieht das ganze All, treibt den ganzen Kosmos in jeder seiner überdauernden Gesten an und will nicht ruhen, bis du dich erinnerst, wer und was du bist und dass du zu dieser Erkenntnis von jenem einzigen Strom einer alles durchdringenden Liebe getragen wurdest.
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Kapitel 3 Auge in Auge Integrale Philosophie und die Suche nach dem Wirklichen Die Anerkennung des gesamten Spektrums des Bewusstseins würde die weitere Entwicklung aller Fachgebiete unserer Zeit nachhaltig beeinflussen – und dies ist natürlich gerade ein Kernpunkt der integralen Studien. Die Anwendung dieses umfassenden Ansatzes auf Psychologie, Anthropologie und Soziologie haben wir bereits betrachtet. Im weiteren soll auch seine Anwendung auf bildende Kunst und Literatur, die feministische Theorie, die kulturellen Studien und die Spiritualität untersucht werden. Werfen wir jedoch zuvor noch einen kurzen Blick auf die Philosophie, die traditionell als die Königin der Geisteswissenschaften gilt, weil ihr wesentliches Merkmal die Weisheitsliebe in all ihren wunderbaren Formen ist. Eine integrale Betrachtungsweise des menschlichen Bewusstseins und Verhaltens muss davon ausgehen, dass der Mensch über ein Spektrum von Erkenntnismöglichkeiten verfügt, das mindestens das Auge des Fleisches, das Auge des Intellekts und das Auge des GEISTES umfasst. Was wäre, wenn man diese integrale Sichtweise auf die Philosophie anwenden würde? In Die drei Augen der Erkenntnis habe ich eben dies getan, und im Vorwort zur Neuauflage habe ich die Gründe erläutert, warum ich diesen integralen Ansatz für so überaus wichtig halte. Die weitaus meisten der großen Philosophen des Westens vertraten die Meinung, dass es irgendeine Art von Absolutem gibt, das Gute, Gott, den GEIST. Dies wurde praktisch von niemandem ernsthaft bestritten. Die brennende Frage lautete jedoch immer: In welchem Verhältnis steht die absolute Einheit zu der Welt der relativen Vielheit? Diese entscheidende Frage hat wie so viele der tiefsten Fragen der westlichen Philosophie zu einer Reihe höchst widerspenstiger Schwierigkeiten, Paradoxa und Absurditäten geführt. Wie das Leib-SeeleProblem und das Problem der Willensfreiheit war die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Absoluten und dem Relativen ein blutiger Stachel im Fleisch der westlichen Tradition, ein Stachel, der sich nicht ziehen ließ und sich jeder Auflösung widersetzte. Das Interessante hieran ist, dass alle diese zentralen Probleme – Leib/Seele, Geist/Gehirn, Willensfreiheit/Schicksal, Absolutes/Relatives, Noumenon/Phaenomena – genau dasselbe Problem darstellen, wie wir noch sehen werden.
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Und sie alle finden genau dieselbe Antwort.
Wo ist Gott? Von Aristoteles stammt die klassische Aussage, dass Gott mit der relativen Welt nichts Substantielles zu tun hat. Aristoteles' Gott ist ein Gott reiner Vollkommenheit, und es wäre ihm zufolge unzweifelhaft ein Mangel an Fülle, an Vollständigkeit und an unabhängiger Vollkommenheit, wenn sich ein solcher Gott mit der relativen Welt die Hände beschmutzen würde, wenn er sich mit relativen und endlichen Geschöpfen abgeben würde. Weil Gott keiner Sache bedürftig ist, gibt es für ihn natürlich keinen Anlass, eine relative Welt zu erschaffen. Wenn Gott wirklich die relative Welt erschaffen hätte, dann würde dies bedeuten, dass ihm etwas an seinem eigenen Wesen mangelte, was offensichtlich nicht möglich ist. Gott ist daher "in" der relativen Welt nur als Zweckursache: Der Gott, dem alle relativen Geschöpfe zustreben, ohne ihn jemals zu erreichen. Teile von Platons Schriften stehen zweifellos Aristoteles' Auffassung von einem unberührbaren, unbeteiligten, völlig abgeschiedenen Gott nahe. Platon sagt, dass man diese Welt als bloß flüchtige und schemenhafte Abspiegelung der wirklichen Welt betrachten könne, die die relative Welt der Sinne und der fehlgeleiteten Auffassungen völlig transzendiert. Aber dies ist gewissermaßen nur die eine Hälfte von Platon. Die andere (und weniger bekannte) Hälfte bekräftigt nachdrücklich, dass die ganze relative Welt eine Hervorbringung, eine Emanation, ein Zeichen der Fülle des höchsten Guts ist. So wird im Timaios, dem wohl einflussreichsten Buch der westlichen Kosmologie, ein Absolutes, das keine Welt hervorbringen kann, einem Absoluten, das dies vermag, nachdrücklich untergeordnet. Im Gegensatz zu Aristoteles' Schlussfolgerung, dass nur ein völlig unabhängiger Gott vollkommen sein könne, lautet die Schlussfolgerung des Timaios, dass ein Gott, der nicht erschaffen kann, überhaupt kein Gott ist. (Es wird sogar impliziert, dass ein Gott, der nicht erschaffen kann, auf einen Gott neidisch ist, der dies kann!) Aus dem schöpferischen Ausfließen des Absoluten geht also die ganze manifeste Welt hervor, so dass alle Dinge in ihrem Wesen die Fülle Gottes sind. Deshalb beschreibt Platon diese Erde als einen "sichtbaren, fühlbaren Gott". Damit begann diese Version des sperrigsten Dualismus des Westens: Das Absolute steht dem Relativen gegenüber – aber in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Das große Problem bei Aristoteles' Haltung besteht darin, dass er den Dualismus einfach so belässt, wie er ihn vorfindet. Aristoteles' Gott erschafft
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nicht; alle Dinge sind von ihrem Verlangen getrieben, diesen Gott zu erreichen, was ihnen aber niemals gelingen kann. Wie unangreifbar dies unter logischen Gesichtspunkten auch sein mag, so wird damit doch ein Spaltkeil grausam in das Herz des Kosmos getrieben. Gott da, wir hier, und die beiden sind einander in einer Liebe verbunden, die ewig unerfüllt bleiben muss. Aber auch der andere Lösungsvorschlag, dass Gott nämlich in der Welt als Fülle gegenwärtig sei, war mit großen Schwierigkeiten behaftet, zumindest in der Form, in der er üblicherweise vorgebracht wurde. Wenn man nämlich behauptet, das Absolute habe die relative Welt substantiell erschaffen, wie kann man dann die Existenz des Bösen erklären? Wenn Gott in diese Welt eingreift, muss man ihm dann nicht Auschwitz zum Vorwurf machen? Was für ein Monster wäre ein solcher Gott? Dieser Dualismus zwischen dem Absoluten und dem Relativen (und ihr gegebenenfalls bestehender Zusammenhang) spaltete die ganze Tradition der westlichen Philosophie und Theologie in zwei verfeindete und unversöhnliche Lager: Diejenigen, für die Gott deutlich (oder vollständig) in dieser Welt anwesend ist, und diejenigen, für die Gott deutlich (oder vollständig) außerhalb dieser Welt steht. Diesseitsorientierung stand Jenseitsorientierung gegenüber, die Absteiger den Aufsteigern, die Immanenzdenker den Transzendentalisten, die Empiriker den Rationalisten. Die aristotelische Tradition hielt sich einfach vom Aufruhr der relativen Welt fern und verwahrte sich dagegen, dass Gott sich die Finger schmutzig mache. Gott ist für sie die unabhängige und eine Vollkommenheit, weshalb Gott kein Bedürfnis habe, die Welt oder irgend etwas anderes zu erschaffen. Wie könnte etwas so überaus Vollkommenes noch irgend etwas unternehmen, ohne seine Vollkommenheit einzubüßen? Wenn etwas erschaffen wird, dann bedeutet dies, dass davor etwas fehlte; Gott aber fehlt nichts, und daher erschafft er nichts. Woher die Welt kam und warum sie entstand, bleibt daher buchstäblich im leeren Raum, wiewohl der relativen Welt das brennende Verlangen nach der Gottes-Vollkommenheit zutiefst eingeprägt ist, was letztlich bedeuten würde, dass dieser autistische Gott seinen Nächsten einfach die kalte Schulter zeigt und in seine unabhängige Absolutheit entschwindet, wo er es sich in der Wonne seiner unendlichen Besonderheit wohl sein lässt. Allerdings ist die verstandesmäßige Alternative, der zufolge sich der vollkommene Eine mit unvollkommenen Geschöpfen einließ, kaum überzeugender. Wenn der Vollkommene sich zum unvollkommenen Bösen herablässt, dann muss irgendwo etwas furchtbar schiefgegangen sein, und dies kann man niemand anderem als dem Einen selbst anlasten. Die christliche Theologie hat hierauf üblicherweise die Antwort parat, dass Gottes Wille die Welt entstehen lässt, und da die Willensfreiheit ein
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gutes Element dieser Welt ist, lässt Gott das Böse zu, aber er bringt es nicht hervor. Die Gnostiker argumentierten genau umgekehrt: Diese Welt ist so offensichtlich böse, dass für sie die ganze Welt nicht vom wirklichen Absoluten, sondern von einem Demiurgen geschaffen wurde, einem bösen oder zumindest untergeordneten Geist. Dies hielten sie für einen besonders geschickten Schachzug, um Gott aus der Welt fernzuhalten, denn wenn man ihn in die Welt lässt, dann ist etwas ganz furchtbar schiefgelaufen. Aber wenn man mit der Dualität in dieser intellektuellen Weise umzugehen versucht, ist damit nichts gewonnen. Wenn, wie die Gnostiker behaupten, diese Welt bloße Erscheinung, eine Täuschung und böse ist, die Hervorbringung des Demiurgen und nicht der wirklichen Gottheit, dann kommt ein solcher Demiurg dem Status eines Absoluten gefährlich nahe. Manche Gnostiker behaupten in der Tat, dass der Demiurg erschafft, aber selbst nicht geschaffen wurde, und dies ist letztlich eine Definition des Absoluten. Wir haben es hier also mit zwei Absoluten zu tun: einem absoluten Gott und einem absoluten Bösen, und wir sind damit wieder genau bei jenem Dualismus angelangt, den wir eigentlich überwinden wollten. Dieser hartnäckige Dualismus ist, so behaupte ich, der zentrale Dualismus der westlichen Tradition, der in zahlreichen Variationen immer wieder erscheint: Als der Dualismus zwischen Noumenon und Phaenomena, zwischen Leib und Seele, zwischen Willensfreiheit und Determinismus, zwischen Ethik und Natur, Transzendenz und Immanenz, Subjekt und Objekt, Aufstieg und Abstieg. Dass all dies letztlich denselben Dualismus darstellt, ist ein Thema, mit dem ich mich ausführlicher in Eros, Kosmos, Logos (und in dessen gemeinverständlicherer Version Eine kurze Geschichte des Kosmos) befasst habe, und ich möchte den interessierten Leser hiermit auf diese beiden Quellen verweisen. Was ich hier jedoch hervorheben möchte, ist einfach, dass es in der westlichen ebenso wie in der östlichen Tradition eine grundsätzliche und bezwingende Lösung für diese massiven Dualismen gibt, eine echte Lösung für die hartnäckigsten philosophischen Probleme des Westens, vom Widerspruch zwischen dem Absoluten und dem Relativen bis zum Leib-SeeleProblem. Allerdings hat diese Lösung, die den Namen "Nichtdualität" oder "Nondualität" trägt, eine außerordentlich unerfreuliche Eigenschaft: Ihre überaus bezwingende Antwort lässt sich nicht in Worte fassen, obwohl sie ein metaphysischer "Supertrick" ist, der garantiert alle Probleme löst, solange man nicht danach fragt. Und hier setzt Die drei Augen der Erkenntnis an.
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Die Augen der Erkenntnis Die drei Augen der Erkenntnis geht davon aus, dass es ein breites Spektrum menschlichen Bewusstseins gibt; dies bedeutet, dass dem Menschen verschiedene Erkenntnismodi zur Verfügung stehen, die jeweils eine andere Art Welt enthüllen (einen anderen Welt-Raum mit anderen Objekten, anderen Subjekten, anderen Raum-Zeit-Modi, anderen Motivationen usw.). In der einfachsten Form gibt es zumindest das Auge des Fleisches, das Auge des Intellekts und das Auge der Kontemplation. Stützt man sich ausschließlich oder vorwiegend auf einen dieser Modi, entstehen dadurch zum Beispiel Empirismus, Rationalismus und Mystik. In Die drei Augen der Erkenntnis behaupte ich, dass jeder dieser Erkenntnismodi spezifische und gültige Referenten besitzt: Sensibilia, Intelligibilia und Transzendelia. Deshalb besitzen alle diese drei Erkenntnismodi ein vergleichbares Maß an Zuverlässigkeit, und deshalb stellen sie jeweils vollkommen gültige Formen der Erkenntnis dar. Jedes umfassende und angemessene Verständnis des Kosmos muss daher alle drei Erkenntnisarten berücksichtigen, und alles, was weniger umfassend ist und den Anspruch erhebt, alleingültig zu sein, ist äußerst suspekt. Wenn man einmal einzusehen vermag, dass der Kosmos etwas Großes und Wunderbares ist, und dass man mindestens diese drei Formen von Erkenntnis braucht, um einen angemessenen Eindruck von diesem Wunder des Daseins zu bekommen, dann könnte man vielleicht die Entdeckung machen, dass einige unserer hartnäckigsten philosophischen Probleme gar nicht so hartnäckig sind. Und dies gilt auch für den schwerwiegendsten aller Dualismen, denjenigen zwischen dem Absoluten und dem Relativen, und das Dutzend seiner Bastarde, vom Leib-Seele-Problem über die Problematik von Determinismus und Willensfreiheit bis zu derjenigen von Bewusstsein und Gehirn.
Das Problem des Beweises Aber ist denn das mit den drei Augen der Erkenntnis gewonnene Wissen gültiges Wissen? Wie kann man diese Erkenntnisse bestätigen oder rechtfertigen? Woher weiß man, dass sie keine Irrtümer, Täuschungen oder Halluzinationen sind? In Die drei Augen der Erkenntnis sage ich, dass alle gültige Erkenntnis auf jeder Ebene und in jedem Quadranten die drei folgenden Stränge umfasst:
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1. Instrumentelle Injunktion. Diese hat immer die Form: "Wenn du dies wissen willst, tue dies." 2. Intuitive Apprehension. Dies ist die unmittelbare Erfahrung des von der Injunktion enthüllten Bereichs, das heißt die direkte Erfahrung oder DatenWahrnehmung (selbst wenn die Daten vermittelt sind, werden sie im Augenblick der Erfahrung unmittelbar wahrgenommen). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich dabei um eine Sinneserfahrung, eine mentale oder eine spirituelle Erfahrung handelt. 3. Gemeinschaftliche Bestätigung (oder Widerlegung). Dies ist die Überprüfung der Ergebnisse – der Daten, der Befunde – durch andere Menschen, die die Stufe der Injunktion und der Wahrnehmung in angemessener Weise durchgeführt haben. Wenn man die Jupitermonde sehen will, braucht man ein Fernrohr. Um den Hamlet verstehen zu können, muss man lesen lernen. Um die Wahrheit des Pythagorassatzes einsehen zu können, muss man sich mit Geometrie beschäftigen. Mit anderen Worten, eines der wesentlichen Elemente aller gültigen Formen von Erkenntnis ist die Injunktion – wenn du dies wissen willst, musst du dies tun. Die Injunktionskomponente aller gültigen Erkenntnis führt zu einer Wahrnehmung oder einer Erleuchtung, einer unmittelbaren Offenbarung der Daten oder Referenten in dem durch die Injunktion zum Vorschein gebrachten Welt-Raum, und diese Erleuchtung wird dann von all denjenigen überprüft (bestätigt oder widerlegt), die die Injunktion durchgeführt und sich dadurch die Daten verschafft haben. Natürlich wird meist die Naturwissenschaft als das Modell echter Erkenntnis schlechthin betrachtet, und die Wissenschaftsphilosophie wird heute von drei Ansätzen beherrscht, die nach allgemeiner Auffassung einander ausschließen: demjenigen des Empirismus, demjenigen von Thomas Kuhn und demjenigen von Sir Karl Popper. Der Vorzug des Empirismus ist seine Forderung, dass alle echte Erkenntnis auf experimentell zu erbringenden Beweisen beruhen müsse, und ich schließe mich dieser Forderung voll und ganz an. Nur: es gibt nicht nur sinnliche Erfahrung, sondern auch geistige und spirituelle Erfahrung. Mit anderen Worten, es gibt unmittelbare Daten und unmittelbare Erfahrung im Reich der Sensibilia, aber auch im Reich der Intelligibilia und demjenigen der Transzendelia. Wenn man also "Erfahrung" im richtigen Sinne als "unmittelbare Wahrnehmung" verwendet, dann muss man der empiristischen Forderung unbedingt beipflichten, dass alle echte Erkenntnis ihre Grundlage
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in der Erfahrung, in Daten, in Evidenz haben muss. Mit anderen Worten, die Empiriker betonen die Bedeutung des Wahrnehmungsoder Erleuchtungsstrangs aller gültigen Erkenntnis. Aber Evidenz und Daten sind nicht einfach fertig da und warten darauf, von irgend jemandem wahrgenommen zu werden. Und hier kommt Kuhn ins Spiel. Thomas Kuhn sagte, dass normale Wissenschaft grundsätzlich mittels, wie er es nannte, "Paradigmen" oder "Schulbeispielen" fortschreitet, und dies gab zu einem der größten Missverständnisse unserer Zeit Anlass. Ein Paradigma ist nicht einfach ein Begriff, sondern eine tatsächliche Praxis, eine Injunktion, eine Technik, die als Vorlage zur Erzeugung von Daten dient. Kuhns Argument lautet, dass echte wissenschaftliche Erkenntnis auf Paradigmen, Schulbeispielen, Injunktionen beruht, durch die neue Daten entstehen. Neue Injunktionen enthüllen neue Daten, und deshalb vertrat Kuhn die Auffassung, dass die Wissenschaft sowohl fortschreitend und kumulativ ist als auch gewisse Brüche oder Diskontinuitäten aufweist (neue Injunktionen bringen neue Daten hervor). Mit anderen Worten, Kuhn verweist auf die Bedeutung des injunktiven Strangs bei der Wissenssuche, das heißt, Daten sind nicht einfach fertig gegeben, so dass jeder sie sehen kann, sondern sie entstehen durch gültige Injunktionen. Durch gültige Injunktionen entstandene Erkenntnisse stellen in der Tat echtes Wissen dar, weil Paradigmen Daten enthüllen und sie nicht einfach erfinden. Die Gültigkeit dieser Daten wird dadurch nachgewiesen, dass schlechte Daten verworfen werden können, was uns wiederum zu Popper hinführt. Sir Karl Popper betont die Bedeutung der Falsifizierbarkeit: Echte Erkenntnis muss widerlegbar sein, da sie sonst bloß ein verkapptes Dogma ist. Popper verweist also auf die Bedeutung des Strangs der Bestätigung/Widerlegung bei aller gültigen Erkenntnis, und wie wir sehen werden, gilt dieser Falsifizierbarkeitsgrundsatz auf allen Gebieten, von den Sensibilia über die Inteligibilia zu den Transzendelia. Der integrale Ansatz erkennt also das Moment der Wahrheit in jedem einzelnen dieser wichtigen Beiträge zum Erkenntnisstreben des Menschen (Evidenz, Kuhn und Popper) an, ohne aber diese Wahrheiten auf die Sensibilia zu beschränken. Der Irrtum der Empiriker besteht in ihrer Unfähigkeit zu erkennen, dass es neben der sinnlichen Erfahrung auch geistige und spirituelle Erfahrung gibt. Der Irrtum der Kuhnianer liegt darin, dass sie nicht erkennen, dass Injunktionen für alle Formen gültiger Erkenntnis gefordert sind, nicht nur für die sensomotorische Wissenschaft. Und der Fehler der Popperianer ist ihr Versuch, den Grundsatz der Falsifizierbarkeit auf Sensibilia zu beschränken und die Falsifizierbarkeit durch Sinnesdaten zum Kriterium für geistige und spirituelle Erkenntnis zu machen, während falsche Daten in diesen Bereichen zwar durchaus falsifizierbar sind,
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aber nur durch weitere Daten aus diesen Gebieten, nicht durch Daten aus niedrigeren Bereichen. Die Popperianer haben recht bezüglich der Falsifizierbarkeit, aber unrecht bezüglich ihrer Beschränkung auf Sinnesdaten. So ist zum Beispiel eine schlechte Interpretation des Hamlet nicht durch empirisch-naturwissenschaftliche Daten falsifizierbar, sondern nur durch weitere Interpretationen, weitere geistige Daten, die in einer Gemeinschaft Interpretierender gefunden werden. Hamlet handelt nicht von einer Schatzsuche im Pazifik. Dies wäre eine schlechte, eine falsche Interpretation, und die Falsifizierbarkeit kann leicht von einer Gemeinschaft von Forschern aufgezeigt werden, die die beiden ersten Stränge durchgeführt haben (das Stück lesen, seine Bedeutungsinhalte wahrnehmen). Heute wird das Poppersche Falsifizierbarkeitsprinzip allgemein in einer pervertierten Weise angewandt: Es wird auf Sensibilia beschränkt, womit auf eine besonders heimtückische und hinterhältige Weise automatisch aller geistigen und spirituellen Erfahrung der Status echter Erkenntnis aberkannt wird. Diese durch nichts berechtigte Einschränkung des Falsifizierbarkeitsprinzips erhebt den Anspruch, echte Erkenntnis von dogmatischer zu scheiden, während sie in Wirklichkeit in ihrer eingeengten Form nichts weiter ist als ein heimlicher, aber bösartiger Reduktionismus, der nicht einmal durch sein eigenes Falsifizierbarkeitsprinzip gestützt wird. Wenn man dagegen dieses Prinzip von seiner Beschränkung auf Sinnesdaten befreit und ihm auch das Wächteramt im Bereich der Intelligibilia und der Transzendelia zubilligt, dann wird es zu einem wichtigen Aspekt des Erkenntnisstrebens in allen Bereichen, vom sinnlichen über den geistigen bis zum spirituellen. In jedem dieser Bereiche hilft es, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, das Beweisbare vom Dogmatischen, das Verlässliche vom Trügerischen.
Die spirituelle Injunktion annehmen Alle gültigen Formen von Erkenntnis setzen sich also zusammen aus einer Injunktion, einer Erleuchtung und einer Bestätigung, und es spielt dabei keine Rolle, ob es um die Jupitermonde, den Pythagorassatz, die Bedeutung des Hamlet oder das Wesen des Absoluten geht. Während nun die Jupitermonde vom Auge des Fleisches, das heißt, den Sinnen und ihren Verlängerungen (Sensibilia), enthüllt werden und der Pythagorassatz durch das Auge des Intellekts und seine inneren Wahrnehmungen bestätigt wird (Intelligibilia), kann das Wesen des Absoluten nur vom Auge der Kontemplation und seinen unmittelbar
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enthüllten Referenten geoffenbart werden, den Transzendelia, den spirituellen Daten, den unumstößlichen Fakten des spirituellen Welt-Raums. Zugang zu einem dieser gültigen Erkenntnismodi erlangt man jedoch nur, wenn man zunächst die Injunktion gültig vollzogen hat. Dies gilt für die physikalischen Wissenschaften, die geistigen Wissenschaften und die spirituellen Wissenschaften. Wenn man dieses wissen will, muss man jenes tun. Und während das Paradigma in den physikalischen Wissenschaften vielleicht das Teleskop ist, in den Humanwissenschaften vielleicht die sprachliche Interpretation, heißt im Bereich der spirituellen Wissenschaften das Musterbeispiel, die Injunktion, das Paradigma, die Praxis Meditation oder Kontemplation. Auch hier gibt es Injunktionen, Erleuchtungen und Bestätigungen, die ohne weiteres wiederholbar, verifizierbar oder falsifizierbar sind, womit alle Bedingungen für einen gültigen Erkenntnisgewinn erfüllt sind. In jedem Fall aber muss man die Injunktion durchführen. Man muss sich zu der exemplarischen Praxis bequemen, und dies gilt zweifellos auch für die spirituellen Wissenschaften. Wenn man dies nicht tut, hat man kein echtes Paradigma, weshalb man die Daten des spirituellen Welt-Raums auch nicht zu Gesicht bekommt. Man ist dann nicht besser als die Kleriker, die Galileis Injunktion nicht annehmen und nicht selbst durch das Fernrohr schauen wollten.
Das Auge der Kontemplation Wie ich auf den folgenden Seiten zeigen will, kann man das Problem des Absoluten und Relativen mit dem Auge des Fleisches oder dem Auge des Intellekts nicht lösen. Dieses tiefste aller Probleme und Geheimnisse gibt sich nur dem Auge der Kontemplation preis. Und wie Kant und Nagarjuna nachdrücklich zeigten, entstehen nichts als Antinomien, Paradoxa und Widersprüche, wenn man versucht, diese Lösung intellektuell oder rational zu formulieren. Mit anderen Worten, das Problem des Absoluten und Relativen ist weder empirisch mit dem Auge des Fleisches und seinen Sensibilia zu lösen noch rational mit dem Auge des Intellekts und seinen Intelligibilia. Die Lösung besteht vielmehr in der direkten Wahrnehmung der Transzendelia, die sich nur dem Auge der Kontemplation enthüllen und in diesem Bereich völlig verifizierbar oder falsifizierbar sind, und zwar mit Hilfe öffentlich zugänglicher Verfahren, öffentlich jedenfalls für jeden, der die Injunktion durchgeführt und die Erleuchtung erlangt hat.
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Dasselbe gilt für das Problem von Determination und Willensfreiheit, von Einheit und Vielheit, von Noumenon und Phaenomena, von Geist und Gehirn. In Die drei Augen der Erkenntnis führe ich aus, dass nur auf den höheren Stufen der Bewusstseinsentwicklung – die untrennbar mit der meditativen und kontemplativen Entfaltung verbunden sind – die Lösung dieser Dilemmata offensichtlich wird. Allerdings ist dies keine empirische Entdeckung und keine rationale Herleitung, sondern vielmehr eine kontemplative Wahrnehmung. Als Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Körper und Geist – oder Geist und Gehirn – hat der Westen Antworten zu bieten wie die Identitätsphilosophie (es sind zwei verschiedene Aspekte derselben Sache), den Dualismus (es sind zwei verschiedene Dinge), den Interaktionismus (sie sind verschieden, aber bedingen einander), den Parallelismus (zwei verschiedene Dinge, die miteinander nichts zu tun haben), oder den Epiphänomenalismus (das eine ist ein Nebenprodukt des anderen). Und was ihre Anhänger auch immer behaupten wollen – keine dieser Positionen war erfolgreich, weil sie alle mit irgendeinem schweren Mangel behaftet sind. Der Grund für ihre Unzulänglichkeit liegt, wie eine integralere Philosophie sagen muss, darin, dass sich das Leib-Seele-Problem nicht mit dem Auge des Fleisches oder dem Auge des Intellekts in befriedigender Weise lösen lässt, weil ja gerade diese beiden Modi integriert werden müssen, und eben dies können sie aus sich heraus nicht leisten. Die einzig akzeptable Antwort auf die Frage: In welchem Verhältnis stehen Leib und Seele zueinander? besteht also darin, die kontemplativen Injunktionen, die kontemplativen Praktiken, Paradigmen oder Musterbeispiele genau zu erklären und den Interessierten zu bitten, sich der Praxis zuzuwenden und "selbst zu sehen": Wenn du dies wissen willst, musst du jenes tun. Auch wenn den Empiriker und den Rationalisten diese Antwort nicht befriedigt, weil sie ausschließlich auf ihren eigenen Paradigmen und Musterbeispielen beharren, ist dies trotzdem die einzige technisch akzeptable Antwort und Vorgehensweise. Aber der Rationalist und der Empiriker setzen uns zu: Sie möchten, dass wir unsere aus der Kontemplation gewonnenen Schlussfolgerungen aussprechen und diese an ihren Injunktionen prüfen lassen. Sie möchten unsere Aussagen von den spezifischen Injunktionen trennen. Sie möchten sich an unsere Worte halten, ohne sich der Mühe zu unterziehen, unseren Paradigmen zu folgen. Und deshalb müssen wir sie daran erinnern, dass Worte ohne Injunktionen bedeutungslos sind. Worte ohne Injunktionen entziehen sich jeder Verifikation. Worte ohne Injunktionen sind der Stoff für Dichteritis, Dogma und Täuschung. Unsere Worte und unsere Schlussfolgerungen lassen sich sehr wohl überprüfen – verifizieren oder falsifizieren –, aber nur dann, wenn man die Injunktionen annimmt.
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Wenn also der Empiriker und der Rationalist unsere Schlussfolgerungen ohne die Injunktionen haben wollen, erhalten sie zwangsläufig eine sinnlose Antwort – und sie geben uns die Schuld dafür. Unsere Daten können nicht mit ihren Paradigmen und Musterbeispielen erzeugt werden, und jetzt kratzen sie sich den Kopf. Sie wollen dies nicht tun, und deshalb werden sie jenes nicht wissen. Sie bleiben im Bannkreis ihrer selbstauferlegten Blindheit, und sie nennen diese Blindheit Wirklichkeit.
Spirituelle Schulung und transzendente Daten Im Osten würde Zen das Problem der Einheit und der Vielheit in der folgenden Weise angehen. Die Frage könnte etwa mit einem berühmten ZenKoan lauten: "Wenn alles zum Einen zurückkehrt, wohin kehrt dann das Eine zurück?" Dies ist natürlich unser widerspenstiges Dilemma: Was ist die Beziehung zwischen dem Absoluten und dem Relativen, dem Einen und dem Vielen, zwischen Leerheit und Form? Und Zen weist natürlich jede verstandesmäßige Antwort zurück. Ein kluger Schüler gibt vielleicht zur Antwort: "Zum Vielen!", was als verstandesmäßige Antwort völlig in Ordnung ist, aber er erntet von seinem Meister nur einen Stockhieb. Jede verstandesmäßige Antwort wird umstandslos zurückgewiesen, wie auch immer sie lauten mag. Statt dessen muss der Schüler eine Injunktion befolgen, ein Paradigma, ein Musterbeispiel, eine Praktik, die in diesem Fall Zazen ("Sitzen in Versunkenheit") heißt. Und um eine sehr lange und komplexe Geschichte etwas gewaltsam abzukürzen: Nach durchschnittlich fünf bis sechs Jahren einer rigorosen paradigmatischen Schulung kann es geschehen, dass beim Schüler eine Reihe tiefer Erleuchtungen auftritt. Und man muss es mir einfach abnehmen, dass niemand eine solche Quälerei auf sich nehmen würde, wenn sein einziger Lohn ein epileptischer Anfall oder eine schizophrene Halluzination wäre. Nein, dies ist die Vorbereitung auf die Meisterprüfung im Reich der Transzendelia. Und wenn diese injunktive Schulung Früchte zu tragen beginnt, strahlen Erleuchtungen – üblicherweise als Kensho oder Satori bezeichnet – im direkten und unmittelbaren Gewahren auf, und diese Daten werden von der Gemeinschaft derjenigen, die den Injunktions- und Erleuchtungsstrang abgeschlossen haben, überprüft (bestätigt oder verworfen). Dann ergibt sich die Antwort auf die Frage "Wohin kehrt das Eine zurück?" mit vollkommener Klarheit und Unmittelbarkeit – und ich werde diese Antwort gleich geben.
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Das Entscheidende ist jedenfalls, dass die tatsächliche Antwort auf die Frage: Welches ist die Beziehung zwischen Einheit und Vielheit, Absolutem und Relativem, der Willensfreiheit und dem Schicksal, zwischen Bewusstsein und Form, Geist und Körper, dass die technisch richtige und genaue Antwort lautet: Satori. Die technisch richtige Antwort heißt: Nimm die Injunktion an, führe das Experiment durch, sammle die Daten (die Erfahrungen) und prüfe sie anhand derjenigen einer Gemeinschaft ähnlich Kompetenter. Man kann die Antwort in keiner anderen Weise formulieren, denn wenn man es täte, hätte man bloß Worte ohne Injunktionen, die völlig bedeutungslos bleiben müssen. Es ist wie beim Kuchenbacken: Man hält sich an das Rezept (die Injunktionen), backt den Kuchen und kostet ihn dann. Wenn uns nachher jemand fragt: "Wonach schmeckt der Kuchen?", dann kann man dem Betreffenden nur das Rezept geben, damit er ihn selbst kosten kann. Es ist nicht möglich, die Antwort theoretisch, verbal, philosophisch oder rational in einer irgendwie befriedigenden Weise zu geben: Wenn man dies wissen will, muss man jenes tun. Es gilt also: Nehmen Sie die Injunktion oder das Paradigma der Meditation an, üben und verfeinern Sie dieses Erkenntniswerkzeug, bis Sie lernen, die unglaublich subtilen Erscheinungen der Transzendelia zu erkennen, und vergleichen Sie Ihre Beobachtungen mit denjenigen anderer – wie auch ein Mathematiker seine Beweise mit denjenigen anderer vergleicht, die die Injunktionen befolgt haben –, und bestätigen oder widerlegen Sie damit Ihre Ergebnisse. Durch die Verifikation dieser Transzendelia wird das Verhältnis zwischen der Einheit und der Vielheit vollkommen klar (mindestens ebenso klar wie es Steine für das Auge des Fleisches und die Geometrie für das Auge des Intellekts sind), und damit löst sich dieser sperrige Dualismus in einem ganz wörtlichen Sinne auf. Die Antwort auf das Verhältnis zwischen dem Absoluten und dem Relativen lautet daher ganz gewiss nicht: Das Absolute hat die Welt erschaffen. Sie lautet gewiss nicht: Die Welt ist eine Täuschung, und nur das Absolute ist wirklich. Sie lautet nicht: Wir nehmen nur die phänomenale Abspiegelung einer noumenalen Wirklichkeit wahr. Sie lautet nicht: Schicksal und Willensfreiheit sind zwei Aspekte desselben Prozesses. Sie lautet nicht: Alle Dinge und Ereignisse sind verschiedene Aspekte eines einzigen, durchgängigen Gewebes des Lebens. Sie lautet nicht: Nur der Körper ist wirklich, und der Geist ist eine Abspiegelung dieser einen Wirklichkeit. Sie lautet nicht: Körper und Geist sind zwei verschiedene Aspekte des Gesamtorganismus. Sie lautet nicht: Der Geist emergiert aus einer hierarchischen Gehirnstruktur. Und sie lautet nicht einmal: Noumenon und Phänomena sind nicht-zwei und nondual. All dies sind bloß intellektuelle Symbole, die eine Antwort zu geben behaupten, aber die wahre Antwort liegt nicht in den Sensibilia oder
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Intelligibilia, sondern in den Transzendelia. Aber dieser Bereich offenbart sich erst nach Anwendung der Injunktion der Meditation, die deutlich werden lässt, dass alle diese intellektuellen Antworten völlig unangemessen und unzutreffend sind und dass sie alle nur weitere unauflösliche Schwierigkeiten, absurde Dilemmata und groteske Widersprüche hervorbringen. Die Antwort ist nicht, noch mehr zu reden: Die Antwort ist Satori oder mit welchem Namen auch immer man gültige kontemplative Anschauung belegen will. Und selbst wenn man diese Antwort mit Worten geben könnte – und natürlich kann man sie mit Worten geben, denn Zen-Meister reden ja die ganze Zeit darüber! –, so müsste dies jedem unbegreiflich bleiben, der nicht die Injunktion durchgeführt hat, wie zwar jedermann mathematische Symbole sehen kann, aber nur derjenige sie auch versteht, der eine entsprechende Ausbildung durchlaufen hat. Aber schlagen Sie das Auge der Kontemplation auf, und die Antwort ist so offensichtlich, so vollkommen, so unmissverständlich wie das Spiel des Sonnenlichts auf einem kristallklaren Teich an einem kühlen Frühlingsmorgen. Und dies war die Antwort.
Schlussfolgerung Wir haben nun gesehen, dass die westliche Tradition von Anfang an mit einer Reihe schmerzlicher Dualismen geschlagen war und dass sich die westliche Philosophie in praktisch all ihren Formen bis auf den heutigen Tag auf den einen oder anderen dieser Dualismen stützt (Leib/Seele, Wahrheit/Erscheinung, Noumenon/Phaenomenon, Transzendenz / Immanenz, aufsteigend / absteigend, Subjekt/Objekt, Signifikat/Signifikant, Bewusstsein/ Gehirn). Aber diese Dualismen und die mit ihnen zusammenhängenden Kernprobleme können letztlich nicht vom Auge des Fleisches und seiner Empirie und nicht vom Auge des Intellekts und seinem Rationalismus aufgelöst werden, sondern nur vom Auge der Kontemplation und seiner radikalen Erfahrungsmystik (Satori, oder wie auch immer man es nennen mag). Im Westen hat die Metaphysik seit Kant einen schweren Stand. Der Grund hierfür ist, wie ich behaupten möchte, in ihrem Versuch zu sehen, mit dem Auge des Intellekts zu tun, was nur mit dem Auge der Kontemplation möglich ist. Weil der Intellekt die Früchte der Metaphysik letztlich nicht herbeischaffen konnte, aber trotzdem diesen Anspruch lautstark erhob, musste irgend jemand früher oder später auf den Tisch schlagen und
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Beweise verlangen. Kant erhob diese Forderung, und die Metaphysik brach zusammen – zu Recht, jedenfalls in ihrer bisherigen Form. Weder der Empirismus noch die reine Vernunft noch die praktische Vernunft, noch irgend etwas davon zusammengenommen kann in das Reich des GEISTES (und der "wirklichen Metaphysik") blicken. Die rauchenden Trümmer, die Kant zurückließ, lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Dass nämlich alle künftige Metaphysik nur echt sein kann, wenn sie unmittelbare Erfahrungsdaten des spirituellen Reichs selbst liefert. Dies bedeutet, dass es neben der Sinneserfahrung und ihrer Empirie (wissenschaftliche und pragmatische Daten) und intellektueller Erfahrung und ihrem Rationalismus (reine und praktische Daten) auch noch spirituelle Erfahrung und Mystik geben muss (spirituelle Praxis und daraus entspringende Erfahrungsdaten). Die Möglichkeit einer direkten Erfahrung von Sensibilia, Intelligibilia und Transzendelia macht die Kantschen Einwendungen hinfällig und zeichnet der Erkenntnissuche die sichere Straße der Evidenz vor, wobei jeder ihrer Geltungsansprüche (Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, funktionelles Passen) auf jeder Ebene (der sinnlichen, intellektuellen und spirituellen, oder in wie viele Ebenen man das ganze Spektrum des Bewusstseins auch gliedern mag) von den drei Strängen echten Wissenserwerbs geleitet wird: Injunktion, Wahrnehmung, Bestätigung. Kurz, die drei Stränge echten Wissenserwerbs gelten auf allen Ebenen und in allen Quadranten. Die drei Stränge (mit ihrer Forderung nach Paradigmen, Evidenz und Falsifizierbarkeit) helfen uns bei unserer Suche, die Spreu vom Weizen, das Falsche vom Wahren, das Dogmatische vom Beweisbaren, den falschen Schein vom Verlässlichen zu trennen. Nach Anleitung der drei Stränge können die Geltungsansprüche eines jeden Quadranten in der Tat eingelöst werden. Und sie zahlen sich in barer Münze aus: der Münze der Evidenz aus der Erfahrung, der sinnlichen, der intellektuellen und der spirituellen. Dieser Ansatz setzt die Metaphysik wieder in ihre eigentliche Vollmacht ein, die nicht sinnlicher und nicht geistiger, sondern kontemplativer Natur ist. Mit dem Auge des GEISTES kann man Gott sehen. Mit dem Auge des GEISTES entfaltet die Welt ihre innersten Konturen. Mit dem Auge des GEISTES verkündet das Noumenon seine reine Gegenwart. Mit dem Auge des GEISTES gibt der Kosmos seine tiefsten Geheimnisse preis. Und mit dem Auge des GEISTES weichen die widerspenstigen Alpträume der sinnlichen und intellektuellen Aporien dem Strahlen der Leerheit selbst. Die integrale Philosophie kann keinen der anderen Erkenntnismodi ersetzen; sie kann die empirische Wissenschaft nicht ersetzen, nicht die kontemplative Meditation und keinen der übrigen geistigen Modi von Literatur über Poesie, Geschichte, Psychoanalyse und Mathematik bis zur Linguistik.
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Aber die integrale Philosophie ist da, mitten im Herzen der Verstandeswelt, von wo aus sie alle diese Erkenntnismodi, Wertdimensionen, Seinsebenen koordiniert und in ein klareres Licht rückt. Die integrale Philosophie gehört selbst dem Verstandesbereich an und kann als solche mit ihren Verstandesmitteln allein nicht über diese Sphäre hinausgelangen. Aber sie bekräftigt die Rolle der Kontemplation für die Gewinnung von Daten, und sie bezieht diese Daten in ihre Tätigkeit der Koordination und Aufhellung ein. Wenn sie auch selbst keine meditativen Daten liefert, bekräftigt sie doch die Existenz und Wichtigkeit dieser Daten.1 Es ist eine mandalische Vernunft in ihrer schönsten und umfassendsten Ausprägung. Sie kennt den Unterschied zwischen relativer Wahrheit, die sie enthüllen kann, und absoluter Wahrheit, bezüglich deren sie dem Auge der Kontemplation den Vortritt lassen muss. Integrale Philosophie koordiniert also auf der Verstandesebene das Wahre, das Schöne und das Gute, webt aus den vielen Gesichtern des GEISTES ein Mandala und lädt uns zu eigener spiritueller Praxis ein, damit wir schließlich dem GEIST von Angesicht zu Angesicht begegnen. Und wie lautet nun die endgültige Antwort auf den großen westlichen Dualismus? Die endgültige Antwort auf das Leib-Seele-Problem? Auf die Einheit und die Vielheit? Gott und die Schöpfung? Ob Gott in Auschwitz war? Ob wir Spielball des Schicksals sind oder einen freien Willen haben? Dies ist ja immer dieselbe Frage, weshalb ich hier eine weitere erschöpfende Antwort geben will: Wie erbärmlich ist doch diese langsam ziehende Wolke! Was sind wir doch alle für Traumwandler! Erleuchtet sehen wir die eine große Wahrheit: Schwarzer Regen auf dem Tempeldach. Ich bin überzeugt, dass diese integrale Sichtweise die empirische Wissenschaft ohne weiteres als sehr wesentlichen Bestandteil aller Bemühungen willkommen heißt, mit dem Kosmos Freundschaft zu schließen, sich auf seine vielen Stimmungen, Düfte, Facetten und Formen einzustimmen. Aber eine wirklich integrale Philosophie geht noch darüber hinaus. Sie versucht, die vielen Gesichter des Guten (des "Wir"), des Wahren (des "Es") und des Schönen (des "Ich") in sich zu schließen und zu koordinieren, da sie sich alle über das ganze Spektrum entwickeln, von ihren sinnlichen Formen (die mit dem Auge des Fleisches gesehen werden) über die intellektuellen Formen (die mit dem Auge des Intellekts gesehen werden) bis zu den spirituellen Formen (die mit dem Auge der Kontemplation gesehen werden) – ein vieldimensionales kosmisches Mandala der unendlichen Einschließung.
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Mit der Wissenschaft gelangt man zum Wahren, dem "Es" des GEISTES. Mit der Ethik gelangt man zum Guten, dem "Wir" des GEISTES. Was kann dann ein integraler Ansatz über das Schöne aussagen, das "Ich" des GEISTES selbst? Was ist das Schöne, das im Auge des Betrachters liegt? Was sieht man letztlich, wenn man im Auge des GEISTES, im Ich des GEISTES, ist?
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Kapitel 4 Eine integrale Theorie der Kunst (1) Einleitung Beim Prozess des Verstehens und Deutens bildet das Verhältnis zwischen dem Teil und dem Ganzen einen hermeneutischen Zirkel: Um das Ganze verstehen zu können, muss man die Teile verstehen, aber man kann die Teile nur verstehen, wenn man einen gewissen Begriff vom Ganzen hat. David Couzens Hoy Nach dem Tod der Avantgarde und dem Triumph der Ironie scheint die Kunst zu keinen ernsthaften Aussagen mehr fähig zu sein. Narzissmus und Nihilismus fuhren eine Schlacht um die Mitte einer Bühne, die es gar nicht mehr gibt, Kitsch und Schwulst liefern sich einen grotesken Ringkampf um eine Repräsentation, die längst bedeutungslos geworden ist, und nichts als die eitle Ichbezogenheit von Künstlern und Kritikern gleichermaßen, die im Spiegelkabinett einer in Gleichgültigkeit versunkenen Welt ihr eigenes Bildnis bewundern, scheint das Feld zu beherrschen. Die Absicht dieser Ausführungen ist es, aus dem narzisstischen und nihilistischen Abgesang auszubrechen, den die postmoderne bildende Kunst und Literatur auf allen Ebenen angestimmt hat, und statt dessen die Grundzüge einer wirklich integralen Theorie der bildenden Kunst und Literatur darzustellen, einer, wie man es nennen könnte, integralen Hermeneutik. Ich werde mich sowohl mit bildender Kunst als auch mit Literatur befassen, wobei jedoch der Schwerpunkt auf der bildenden Kunst liegt, die in gewisser Weise "schwieriger" ist, da sie in der Regel nicht mit einem Text versehen ist, der bei der Deutung behilflich sein könnte. (In einem späteren Essay werde ich mich ausführlicher mit einer alle Ebenen und alle
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Quadranten abdeckenden Analyse literarischer Bedeutung und Semiotik im allgemeinen auseinandersetzen.)1 Es ist kein Geheimnis, dass die Welt der Kunst und Literatur in einer Sackgasse steckt. Die postmoderne Literaturtheorie ist ein sehr gutes und sehr typisches Beispiel für das "Stimmengewirr der Deutungen", das sich in der Welt der Kunst ausgebreitet hat. Einstmals war "Bedeutung" etwas, das der Urheber erzeugte und in einen Text umsetzte und das der Leser einfach wieder herauszog. Diese Auffassung gilt heute allerseits als hoffnungslos naiv. So hat zum Beispiel die Psychoanalyse aufgedeckt, dass Bedeutung auch im Unbewussten liegen oder unbewusst erzeugt werden kann und dass sich diese unbewusste Bedeutung auch ohne Wissen des Urhebers im Text niederschlagen kann. Demzufolge wäre es Aufgabe des Psychoanalytikers, nicht des unbedarften Lesers, diese verborgene Bedeutung zum Vorschein zu bringen. Die "Hermeneutik des Verdachts" (P. Ricœur) in ihren vielen Formen betrachtete daher Kunstwerke als Quellen verborgener Bedeutung, die nur vom kompetenten Kritiker entschlüsselt werden können. Verdrängte, unterdrückte und sonst wie beiseite geschobene Kontexte sollten demzufolge in verkleideter Form in der Kunst zum Vorschein kommen, weshalb das Kunstwerk Zeugnis der Unterdrückung und Verdrängung sein sollte. Verdrängter Kontext war verborgener Sub-Text. Die marxistische Variante lautet, dass die Kritiker selbst im Kontext kapitalistisch-industrieller gesellschaftlicher Praktiken einer versteckten Unterdrückung existieren, und diese verborgenen Kontexte und Bedeutungen können in jedem Kunstwerk einer in diesem Kontext stehenden Person aufgefunden und herausgezogen werden. Ebenso wurde Kunst im Kontext von Rassismus, Sexismus, Elitismus, Speziesismus, Chauvinismus, Imperialismus, Logozentrismus, Phallozentrismus und Phallologozentrismus (Batterie nicht in der Packung enthalten) gedeutet. Strukturalismus und Hermeneutik rangen in ihren verschiedenen Formen heftig um die Auffindung des "wahren" Kontexts, der die wahre und wirkliche Bedeutung liefern und alle anderen Deutungen unterminieren beziehungsweise ersetzen sollte. Foucault übertrumpfte während seiner archäologischen Periode beide, indem er Strukturalismus und Hermeneutik in einer Episteme unterbrachte, die schon Ursache und Kontext jener Leute war, die doch gerade erst Hermeneutik und Strukturalismus betreiben wollten. Teilweise als Reaktion hierauf sagte dann der "New Criticism": Vergessen wir alle diese Interpretationen. Was wirklich zählt, ist das Kunstwerk an und für sich. Vergessen wir die (Bewusste oder unbewusste) Persönlichkeit des Autors, vergessen wir den historischen Zusammenhang, die Zeit, den Ort, und schauen wir nur auf die strukturelle Integrität des Kunstwerks selbst
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(seine Gesetzmäßigkeiten, seinen Code, seinen inneren Zusammenhang). Die Theorien der "affektiven Stilistik" und des "Reader-Response" (Leserreaktion) wiesen dies vehement zurück und behaupteten, dass die Bedeutung des Werks letztlich nur in der Reaktion des Betrachters gefunden werden könne, weil Bedeutung erst beim Lesen (d. h. Betrachten) des Kunstwerks erzeugt werde. Die Phänomenologen (Iser, Ingarden) versuchten es mit einer Kombination von beidem: Der Text habe Lücken ("Unbestimmtheitsstellen") und die Bedeutung dieser Lücken könne vom Leser aufgefunden werden. Dann kamen die Dekonstruktivisten und sagten: Ihr habt alle unrecht (und wer könnte dem noch etwas entgegensetzen). Sie behaupteten, dass alle Bedeutung kontextabhängig sei und dass Kontexte grenzenlos seien. Es gebe keine Möglichkeit, Bedeutung zu beherrschen oder gar endgültig zu bestimmen. Und so trudeln Kunst und Kunstkritik gleichermaßen außer Kontrolle geraten in das Weltall gnadenloser Unbestimmtheit hinaus – auf Nimmerwiedersehen. Die postmoderne Dekonstruktion führt, wie man schließlich erkannte, unwiderruflich in den Nihilismus: Es gibt nirgendwo echte Bedeutung, nur verschachtelte Täuschungen. Damit aber ist Kunst nicht mehr aufrichtige Äußerung, sondern Anarchie, die nichts anderem als persönlichen Launen und narzisstischem Exhibitionismus entspringt. Das von der Implosion der Postmoderne erzeugte Vakuum füllt triumphierend das Ich. Bedeutung ist kontextabhängig, und Kontexte sind grenzenlos, womit Kunstschaffender und Kunstkritiker gleichermaßen verloren in einem aperspektivischen Raum dahintreiben, den nichts als das Schnurren der egozentrischen Maschine erfüllt, die die ganze Darbietung antreibt. Hiergegen wird laut und vernehmlich Klage erhoben. Der Maler und Kritiker Peter Füller: Ich habe das Gefühl, dass wir heute den Abgesang auf die europäische Tradition der professionellen schönen Künste erleben, einen Epilog, in dem Kontext und Gegenstand der Kunst zum größten Teil die Kunst selbst ist.2 Und die Kunstgeschichtlerin Barbara Rose: Die Kunst, die heute die Museen und Galerien füllt, ist von so kümmerlicher Qualität, dass sich keine wirklich kritische Intelligenz gedrängt fühlen kann, sie zu analysieren ... Unter Künstlern und Kritikern herrscht durchwegs die Stimmung, dass wir kulturell am Ende der Fahnenstange angelangt sind.3 Und doch... Vielleicht ist Bedeutung kontextabhängig, und vielleicht sind
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Kontexte grenzenlos. Aber könnte es nicht eine Möglichkeit geben, diesen Sachverhalt in einer Weise zu betrachten, die der Kunst und ihrer Deutung wieder einen wirklichen Sinn gibt? Sollte man nicht das Stimmengewirr der Deutungen, das sich letztlich selbst dekonstruiert hat, auf eine feste Grundlage stellen können? Könnte es möglich sein, dass die von der Postmoderne ausgerufenen geschachtelten Lügen in Wirklichkeit geschachtelte Wahrheiten sind? Und könnte damit dem Narzissmus und Nihilismus, die so prahlerisch ihren Aufstieg verkündet hatten, der Boden entzogen werden? Kurz, könnte eine integrale Sichtweise die Kunst- und Literaturtheorie vor sich selbst retten?
Kontexte in Kontexten ohne Ende Wir leben in einer Welt von Holons. Diesen Begriff prägte Arthur Koestler, der damit Ganze bezeichnete, die zugleich Teile von anderen Ganzen sind: Ein ganzes Quark ist Teil eines ganzen Atoms, ein ganzes Atom ist Teil eines ganzen Moleküls, ein ganzes Molekül ist Teil einer ganzen Zelle, eine ganze Zelle ist Teil eines ganzen Organismus usw. In der Linguistik ist ein ganzer Buchstabe Teil eines ganzen Worts, dieser Teil eines ganzen Satzes, dieser Teil eines ganzen Absatzes usw. Mit anderen Worten, wir leben in einer Welt, die weder aus Ganzen noch aus Teilen, sondern aus Ganzen/Teilen oder Holons besteht. Ganze existieren nicht an und für sich, und ebenso wenig Teile. Jedes Ganze existiert zugleich als Teil eines anderen Ganzen, und soweit wir wissen, setzt sich dies unendlich fort. Selbst das Ganze des Universums in diesem Augenblick ist nur ein Teil des Ganzen des nächsten Augenblicks. Nirgendwo im Universum gibt es Ganze, und nirgendwo Teile: Es gibt überall nur Ganze/Teile. Wie ich in Eine kurze Geschichte des Kosmos zu zeigen versucht habe, gilt dies für den physischen, den emotionellen, den geistigen und den spirituellen Bereich gleichermaßen. Der Mensch existiert in Feldern innerhalb von Feldern, Strukturen innerhalb von Strukturen, Kontexten innerhalb von Kontexten, und dies setzt sich ohne Ende fort. Eine alte Geschichte erzählt von einem König, der einen Weisen aufsucht und ihn fragt, wie es komme, dass die Erde nicht ins Bodenlose fällt. Der Weise erwidert: "Die Erde ruht auf einem Löwen." – "Und worauf steht der Löwe?" – "Der Löwe steht auf einem Elefanten." – "Und worauf steht der Elefant?" – "Der Elefant steht auf einer Schildkröte." – "Und worauf steht die ...?" "Ihr könnt es hierbei bewenden lassen, Euer Majestät. Weiter unten kommen nur noch Schildkröten."
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Holons immer weiter nach unten, die in einer schwindelerregenden Weise ineinander geschachtelt sind, ohne dass man je auf einen Grund käme. Die "postmodernen Poststrukturalisten", mit denen man Namen wie Jacques Derrida, Michel Foucault und Jean-François Lyotard verbindet und zu deren Ahnherren George Bataille und Friedrich Nietzsche gehören, sind die großen Widersacher einer jeden Art von Systemtheorie oder "großen Erzählungen", weshalb man von ihrer Seite große Einwände gegen jegliche allgemeine "Holon"-Theorie erwarten müsste. Aber eine nähere Betrachtung ihres Werks zeigt, dass diesem sehr wohl eine Konzeption von Holons in Holons in Holons zugrunde liegt, von Texten in Texten in Texten (oder Kontexten in Kontexten in Kontexten), und diese Zwiebel von Texten in Texten bildet die "bodenlose" Plattform, von der aus sie ihre Attacken reiten. Nehmen wir zum Beispiel George Bataille: "In einem ganz allgemeinen Sinne" – und die Hervorhebungen sind von ihm – "erscheint jedes isolierbare
Element des Universums stets als ein Teilchen, das mit einem Ganzen, von dem es transzendiert wird, eine Verbindung eingehen kann. Seiendes erweist sich stets als Ganzes, das aus Teilchen zusammengesetzt ist, deren relative Autonomie unangetastet bleibt [ein Teil, das auch ein Ganzes ist. KW.]. Diese beiden Prinzipien [gleichzeitige Ganzheit und Teilheit. KW] beherrschen die ungewisse Gegenwart eines Ipse-Seins über eine Distanz, die alles unaufhörlich in Frage stellt."4 Alles wird in Frage gestellt, weil alles Kontext in einem Kontext in einem Kontext ist. Und die postmodernen Poststrukturalisten sind ja nun dafür bekannt, dass sie alles in Frage stellen. In einer Sprache, die bald schon als recht typisch galt (und inzwischen recht komisch wirkt), führte Bataille weiter aus, dass dieses "Alles in Frage stellen" dem menschlichen Bedürfnis entgegenwirkt, die Dinge im Sinne einer wohlfeilen Ganzheit und glatten Universalität ordnen zu wollen: "Wenn aus äußerstem Grauen die imperative Forderung nach Universalität erwächst, die durch ihre Eigenbewegung in einen Schwindel gerissen wird, dann ist das Ipse-Wesen, das sich als Universalie präsentiert, nur eine Herausforderung an die diffuse Immensität, die seiner bedenklichen Gewalt entgeht, die tragische Negierung von allem, das nicht zufällig sein eigenes bestürztes Phantom ist. Aber weil dieses Wesen ein Mensch ist, fällt es in die Mäander des Erkennens seiner Mitmenschen, wodurch seine Substanz absorbiert und auf ein Element desjenigen reduziert wird, das über den virulenten Wahn seiner Autonomie in der völligen Nacht der Welt hinausgeht."5 Nun ja. Das Entscheidende ist nicht, dass Bataille selbst keinerlei System gehabt hätte, sondern einfach, dass das System gleitet – Holons in Holons ohne Ende. Die schlichte Behauptung, "kein System" zu haben, kann also nicht ganz für bare Münze genommen werden. Deshalb auch leitete Andre Breton, seinerzeit das Haupt der Surrealisten, einen Gegenangriff auf diesen Teil von
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Bataille ein, wobei ihm die heutigen Kritiker der Postmoderne sekundieren: "Batailles Pech ist es, dass er seinen Verstand gebraucht: Zugegebenermaßen gebraucht er ihn wie jemand, der 'eine Fliege auf der Nase hat', womit er den Toten näher steht als den Lebenden, aber er gebraucht seinen Verstand. Er versucht mit Hilfe des kleinen Mechanismus in ihm, der nicht ganz und gar funktionsuntüchtig ist, seine Obsessionen mitzuteilen. Und diese schlichte Tatsache beweist, dass er, was immer er sagen mag, nicht behaupten kann, wie ein gedankenloses Tier gegen jegliches System zu sein."6 Beide Seiten haben in einem gewissen Sinne recht. Es ist ein System vorhanden – aber das System gleitet. Es ist in einer bodenlosen, schwindelerregenden Weise holonisch. Deshalb kann Jonathan Culler, der wohl bedeutendste Interpret von Jacques Derridas Dekonstruktion, sagen, dass Derrida nicht die Wahrheit an sich leugnet, sondern lediglich betont, dass Wahrheit und Bedeutung kontextabhängig sind (jeder Kontext ist ein Ganzes, das zugleich Teil eines anderen Kontexts ist, der selbst wiederum ...). "Man könnte daher", so Culler, "die Dekonstruktion als das Doppelprinzip der kontextuellen Bestimmung von Bedeutung und der unendlichen Erweiterbarkeit des Kontexts auffassen."7 Schildkröten immer weiter nach oben, immer weiter nach unten. Was von der Dekonstruktion in Frage gestellt wird, ist das Begehren, eine "letzte Ruhestätte" zu finden, sei es in der Ganzheit, in der Teilheit oder irgendwo dazwischen. Sooft jemand eine endgültige oder grundlegende Interpretation eines Texts oder Kunstwerks (oder auch eines Lebens, einer Geschichte oder des Kosmos) findet, ist die Dekonstruktion zur Stelle und behauptet, dass es keinen endgültigen Kontext gebe, weil dieser ebenfalls in unendlicher Folge Teil eines anderen Kontexts sei. Wie Culler es ausdrückt, ist jegliche Form eines endgültigen Kontexts "prinzipiell und in der Praxis nicht zu haben. Bedeutung ist kontextabhängig, und Kontext ist grenzenlos."8 Diesem Punkt stimmt selbst Jürgen Habermas zu, der ansonsten Bretons Haltung gegenüber Derridas Bataille einnimmt. Mit Habermas' Worten:9 "Diese bedeutungsverändernde Kontextvariation kann grundsätzlich nicht stillgestellt oder kontrolliert werden, weil Kontexte nicht ausgeschöpft, d.h. theoretisch nicht ein für allemal beherrscht werden können." Dass das System gleitet, heißt nicht, dass man keine Bedeutung festlegen könne, dass es keine Wahrheit gäbe oder dass Kontexte nicht lange genug erhalten blieben, um eine einfache Aussage machen zu können. Aber bei vielen postmodernen Poststrukturalisten hat die Entdeckung des holonischen Raums dazu geführt, dass sie sich gleich völlig in ihm verliefen. George Bataille zum Beispiel betrachtete sich den holonischen Raum lange und gründlich und verlor darüber richtiggehend den Verstand, obwohl man nicht genau sagen kann, ob es nicht vielleicht umgekehrt war.
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Für unser Hauptthema brauchen wir hier nur festzuhalten, dass es in der Tat ein System gibt, dass das System aber gleitet: Die Welt besteht aus Holons, Kontexten in Kontexten in Kontexten immer weiter nach oben, immer weiter nach unten.
Bedeutung ist kontextabhängig Das Wort "Tau" bedeutet in den Ausdrücken "Schiffstau" und "Tau auf dem Gras" zwei völlig verschiedene Dinge. Deshalb ist alle Bedeutung kontextabhängig; dasselbe Wort hat je nach dem Kontext, in dem es steht, ganz verschiedene Bedeutungen. Diese Kontextabhängigkeit scheint jeden Aspekt der Welt und unseres Lebens in ihr zu durchziehen. Nehmen wir an, in mir taucht der Gedanke auf, im Lebensmittelgeschäft einkaufen zu gehen. Wenn ich diesen Gedanken habe, dann erfahre ich damit den Gedanken selbst, den inneren Gedanken und seine Bedeutung – die Symbole, die Bilder, die Idee, ins Lebensmittelgeschäft zu gehen. Dies ist der obere linke, der intentionale Quadrant. Der innere Gedanke selbst ist aber nur vor meinem kulturellen Hintergrund sinnvoll. Wenn ich eine andere Sprache sprechen würde, würde sich der Gedanke aus anderen Symbolen zusammensetzen und hätte andere Bedeutungen. Wenn ich einer primitiven Stammesgesellschaft vor einer Million Jahren angehören würde, könnte ich niemals auf den Gedanken kommen, in ein Lebensmittelgeschäft gehen zu wollen. Ich würde vielleicht eher denken: "Es ist an der Zeit, wieder einmal einen Bären zu erlegen." Worauf es ankommt, ist, dass meine Gedanken in einem kulturellen Hintergrund auftauchen, der meinen individuellen Gedanken Struktur, Bedeutung und Kontext gibt, und ich könnte nicht einmal zu mir selbst sprechen, wenn ich nicht in einer Gemeinschaft von Individuen leben würde, die ebenfalls mit mir sprechen. Dies ist der untere linke, der kulturelle Quadrant. Die kulturelle Gemeinschaft dient also als intrinsischer Hintergrund und Kontext für alle meine individuellen Gedanken. Meine Gedanken tauchen nicht aus dem Nichts einfach in meinem Kopf auf: Sie tauchen aus einem kulturellen Hintergrund auf, und wie weit ich mich auch von diesem Hintergrund entferne, so kann ich ihm doch nie gänzlich entfliehen, und ich hätte ohne ihn nicht einmal Gedanken entwickeln können. Die gelegentlichen Fälle von "Wolfskindern" zeigen, dass das menschliche Gehirn ohne Kultur aus sich selbst keine sprachlichen Gedanken entwickelt.
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Kurz, meine individuellen Gedanken existieren nur vor einem breiten Hintergrund kultureller Praktiken, Sprachen, Bedeutungen und Kontexte, ohne die ich buchstäblich keine individuellen Gedanken formulieren könnte. Aber meine Kultur selbst wiederum hängt nicht losgelöst irgendwo im luftleeren idealistischen Raum. Sie hat materielle Komponenten, wie meine individuellen Gedanken eine materielle Entsprechung im Gehirn haben. Alle kulturellen Ereignisse haben gesellschaftliche Korrelate. Zu diesen konkreten sozialen Komponenten zählen Technikformen, Produktionsweisen (Gartenbau, Ackerbau, Industrie usw.), konkrete Institutionen, schriftlich fixierte Codes und Richtlinien, geopolitische Standorte usw. (der untere rechte Quadrant). Diese konkreten materiellen Komponenten, das jeweilige Gesellschaftssystem prägen ganz entscheidend die kulturelle Weltsicht, innerhalb deren meine individuellen Gedanken entstehen. Mein angeblich "individueller Gedanke" ist also in Wirklichkeit ein Holon mit all diesen verschiedenen Aspekten: intentionalen, verhaltensmäßigen, kulturellen und sozialen. Schreiten wir den holonischen Kreis ab: Das Gesellschaftssystem hat einen erheblichen Einfluss auf die kulturelle Weltsicht, die den individuellen Gedanken Grenzen setzt, die wiederum ihren Niederschlag in physiologischen Gehirnprozessen finden. Diesen Kreis kann man in jeder Richtung umschreiten. Alle diese Holons sind ineinander verwoben und bestimmen einander. Sie verursachen in konzentrischen Kreisen von Kontexten in Kontexten ohne Ende die anderen Holons und werden von diesen verursacht. Und diese Tatsache hat nun sehr konkrete Auswirkungen auf das Wesen und die Bedeutung der Kunst selbst.
Was ist Kunst? Die einfachste und vielleicht älteste Auffassung vom Wesen und der Bedeutung der Kunst (und damit auch von ihrer Interpretation) lautet, dass Kunst imitativ oder repräsentativ ist: Sie kopiert etwas aus der wirklichen Welt. Der Landschaftsmaler kopiert oder repräsentiert die wirkliche Landschaft. Platon vertritt diese Kunstauffassung in seinem Staat, wo er das Beispiel eines Bettes gibt: Ein Gemälde von einem Bett ist eine Nachahmung eines wirklichen Bettes (das wiederum die Nachahmung der Idee eines Bettes ist). Damit aber steht es Platon zufolge um die Kunst nicht zum besten: Sie verfertigt Nachahmungen von Nachahmungen der Idee, weshalb sie doppelt von dieser entfernt und dieser doppelt untergeordnet ist. Spätere Theoretiker versuchten diese platonische Auffassung nachzubessern, indem sie behaupteten, dass der wahre Künstler die Ideen mit dem Auge des Geistes
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schaue und unmittelbar nachahme und damit eine "perfektionistische" Kunst vollbringe – wie Michelangelo sagte: "Die Schönheit, die jeden gesunden Verstand anrührt und zum Himmel emporhebt." Aristoteles vertrat ebenfalls die Auffassung, dass Kunst die wirkliche Welt nachahme, und in der einen oder anderen Form hatte diese Kunstauffassung als mimesis einen langen und nachhaltigen Einfluss: Die Bedeutung der Kunst ist dasjenige, was sie repräsentiert. Das große Problem bei einer solchen Kunstauffassung liegt darin, dass ihr zufolge das Kunstwerk um so besser ist, je besser die Nachahmung ist. Eine perfekte Kopie wäre also ein perfektes Kunstwerk, womit die Kunst sich in der Verfertigung von trompe l'œils und Dokumentationsphotographie erschöpfen würde: Ist der Inhaber eines Ausweises auf dem Passphoto gut zu erkennen, wäre dies gute Kunst. Darüber hinaus ist keineswegs alle Kunst repräsentativ oder imitativ: Man denke etwa an die surrealistische, die minimalistische, die expressionistische, die Konzeptkunst usw. Während also manche Kunstwerke durchaus repräsentative Aspekte haben, kann mimesis allein weder das Wesen noch den Wert der Kunst erklären. Mit der aufkommenden Aufklärung in Europa erlangten zwei weitere Kunsttheorien Bedeutung, die auch heute noch großen Einfluss haben. Es überrascht nicht, dass diese Theorien aus der großen rationalen bzw. der großen romantischen Strömung hervorgingen, die im 17. und 18. Jahrhundert aufkamen und allgemein als die formalistische und die expressionistische Theorie bekannt wurden. Jetzt lautete die Frage nicht mehr, was Kunst sei, sondern wo sie sei.
Kunst ist im Schöpfer Wenn Wesen, Sinn und Wert der Kunst nicht einfach auf ihrer Fähigkeit zur Nachahmung beruhen, dann vielleicht auf ihrer Fähigkeit, etwas auszudrücken. In der Tat verlagerte sich in der Theorie und Praxis der Kunst der Schwerpunkt unter dem Einfluss der allgemeinen Strömungen der Romantik vielfach von der bloß getreuen Nachahmung und Wiedergabe zu einer mehr expressionistischen Haltung. Diese Kunstauffassung wurde in nachdrücklicher und einflussreicher Weise vertreten von Theoretikern wie Benedetto Croce (Was ist die Kunst ?), R. G. Collingwood (Principles of Art) und Leo Tolstoi (Was ist Kunst ?). Die grundlegende Schlussfolgerung dieser romantischen Theoretiker lautete: Kunst ist zunächst und vor allen Dingen Ausdruck der Empfindungen oder Intentionen des Künstlers. Sie ist nicht die Nachahmung einer äußeren Wirklichkeit, sondern Ausdruck einer inneren Wirklichkeit. Daher müsse man
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Kunst am besten in der Weise interpretieren, dass man versucht, die ursprüngliche Intention des Schöpfers des Kunstwerks (des Malers, Schriftstellers, Komponisten) zu verstehen. Für Tolstoi ist Kunst die "Ansteckung des Gefühls". Damit ist gemeint, dass der Künstler im Kunstwerk eine Empfindung ausdrückt, die im Betrachter die nämliche Empfindung hervorruft; die Qualität des Kunstwerks interpretiert man ihm zufolge am besten anhand der Qualität der Gefühle, die es ausdrückt und mit denen es uns "ansteckt". Für Croce ist Kunst Ausdruck der Emotion, die eine sehr wirkliche und ursprüngliche Form von Erkenntnis ist – oft von geradezu kosmischer Gewalt, insbesondere, wenn sie durch große Kunstwerke ausgedrückt und im Menschen wachgerufen wird. Collingwood wies der ursprünglichen Intention des Künstlers einen so hohen Rang zu, dass für ihn die innere, psychologische Schau des Künstlers selbst das eigentliche Kunstwerk war, gleichgültig, ob ihm je konkrete Gestalt verliehen wurde. Diese Auffassung von Kunst als Ausdruck einer ursprünglichen Intention, Empfindung oder Vision des Künstlers stand am Anfang der wohl heute noch vorherrschenden Schule der Interpretation von Kunst. Die moderne Hermeneutik, die Kunst und Wissenschaft der Interpretation, nahm ihren Anfang mit bestimmten romantisch inspirierten philosophischen Trends, insbesondere mit Friedrich Schleiermacher und später Wilhelm Dilthey, und hat bis in unsere Zeit mit so einflussreichen Theoretikern wie Emilio Betti und E. D. Hirsch ihre Fortsetzung gefunden. Dieser Ansatz einer der ältesten und in gewisser Weise bedeutendsten Schulen der Hermeneutik behauptet, dass der Schlüssel zur korrekten Interpretation eines Texts – wobei "Text" hier in einem ganz allgemeinen Sinne als jedes Symbol zu verstehen ist, das einer Deutung bedarf – die Wiederauffindung der ursprünglichen Intention des Schöpfers sei, eine psychologische Rekonstruktion der Absichten des Urhebers im ursprünglichen geschichtlichen Zusammenhang. Kurz, für diese Ansätze besteht – da die Bedeutung eines Kunstwerks die ursprüngliche Intention ihres Schöpfers ist – eine gültige Interpretation in der psychologischen Rekonstruktion und Wiederherstellung der ursprünglichen Intention. Die hermeneutische Kluft zwischen Künstler und Betrachter wird insoweit geschlossen, als es zu einem "Auge in Auge" mit der ursprünglichen Intention des Künstlers kommt, und dies geschieht durch die Verfahren einer gültigen Interpretation im Sinne einer ursprünglichen Wiederherstellung und Rekonstruktion. Es ist kein Zufall, dass die Theorie der Kunst als Ausdruck historisch mit den expressionistischen Strömungen in der Praxis der Kunst zusammenfiel. Die Expressionisten und Postimpressionisten des 19. Jahrhunderts wie Van Gogh, Gauguin und Munch wandten sich ausdrücklich gegen die realistische und impressionistische Nachahmung der Natur (Van Gogh: "Ich versuche
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nicht, genau wiederzugeben, was ich vor Augen habe; vielmehr setze ich Farbe eher willkürlich ein, um mich besser ausdrücken zu können"). Ihm folgten die Kubisten und Fauves (Matisse: "Was mich vor allem interessiert, ist Ausdruck") und schließlich Kandinsky und Klee und der abstrakte Expressionismus von Pollock, Kline und de Kooning. In seinen verschiedenen Manifestationen war der Expressionismus nicht einfach eine stilistische oder idealisierende Veränderung der äußeren Darstellung, sondern ein mehr oder weniger vollständiger Bruch mit der Tradition der Nachahmung. Um dieselbe Zeit, als diese Theorie (und Praxis) der Kunst als Ausdruck formuliert wurde, wies ein weiteres Kind der allgemeinen romantischen Bewegung, die Psychoanalyse, darauf hin, dass viele menschliche Absichten unbewusst sind. Ihr zufolge können diese Absichten, auch wenn sie unbewusst sind, sich in entstellter Form im Alltagsleben geltend machen, sei es als neurotische Symptome, als Traumsymbole oder als Versprecher oder allgemein als Kompromissbildungen, die Ausdruck des Abwehrkonflikts zwischen einem verbotenen Wunsch und einer zensierenden oder unterdrückenden Instanz sind. Der Psychoanalytiker, der darin geschult ist, den symbolischen Ausdruck dieser verborgenen Wünsche ausfindig zu machen, könne daher diese Symbole und Symptome dem Betreffenden auslegen, und dieser könne dadurch, so die große Hoffnung, zu einem gewissen Verständnis und einer Besserung seines unlustvollen Zustandes gelangen. Für den Bereich der bildenden Kunst und Literatur bedeutete dies zwangsläufig, dass der ursprüngliche Schöpfer (bildender Künstler, Schriftsteller, Dichter) wie jeder andere Mensch verschiedene unbewusste Absichten hat, und diese Absichten müssen in versteckter Form Spuren im Kunstwerk selbst hinterlassen. Daraus folgt unausweichlich: (1) Wenn die Bedeutung eines Kunstwerks die im Werk zum Ausdruck kommende ursprüngliche Absicht ist und wenn (2) die richtige Deutung des Kunstwerks daher die Rekonstruktion dieser Absicht ist und wenn schließlich (3) manche Absichten unbewusst sind und im Kunstwerk nur symbolische Spuren hinterlassen, dann besteht (4) ein wesentlicher Teil der richtigen Interpretation eines Kunstwerks in der Aufdeckung und Interpretation dieser unbewussten Triebe, Absichten, Begierden und Wünsche. Der Kunstkritiker wäre demzufolge nur dann ein guter Kritiker, wenn er auch Psychoanalytiker ist.
Kunst ist in der verborgenen Absicht Damit aber wurde eine Pandora-Büchse "unbewusster Absichten" geöffnet.
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Wenn das Kunstwerk die unbewussten Wünsche des Künstlers zum Ausdruck bringt, warum sollte man sich dann auf freudianische Themen beschränken? Es gibt schließlich verschiedene Typen unbewusster Strukturen im Menschen, deren Zahl sich bald explosionsartig vermehrte. Der Künstler befindet sich, wie die Marxisten sagten, innerhalb eines Rahmens technisch-wirtschaftlicher Strukturen, und ein Kunstwerk muss ihnen zufolge unausweichlich die "Basis" der wirtschaftlichen Gegebenheiten widerspiegeln. Deshalb gehört für sie zur richtigen Interpretation eines Textes oder Kunstwerks die Darstellung der Klassenstrukturen, in denen das Kunstwerk entstand. Da wollten die Feministinnen nicht zurückstehen, und sie versuchten in einer aggressiven Weise aufzuzeigen, dass die grundlegenden verborgenen Strukturen diejenigen der Geschlechtszugehörigkeit seien, so dass auch die Triebfeder der Marxisten die unbewussten oder kaum verhüllten Absichten patriarchaler Gewalt seien. Die Womanisten (farbige Feministinnen) ließen sehr bald die Feministinnen des Hauptstroms mit einer Kritik hinter sich, deren Standardfloskel lautete: "Das Patriarchat ist nicht an allem schuld, weißes Mädchen ..." Und so wuchs die Liste: Rassismus, Sexismus, Elitismus, Speziesismus, Anthropozentrismus, Androzentrismus, Imperialismus, Ökologismus, Logozentrismus, Phallozentrismus. Alle diese Theorien könnte man am besten als symptomatische Theorien bezeichnen: Sie betrachten ein Kunstwerk als symptomatisch für breitere Strömungen, deren sich der Künstler oft nicht Bewusst ist, seien es sexuelle, ökonomische, kulturelle und ideologische Strömungen. Sie räumen in aller Regel ein, dass die Bedeutung eines Kunstwerks der Ausdruck einer ursprünglichen Empfindung, Absicht oder Vision des Künstlers ist. Dem fügen sie aber sofort hinzu, dass es im Künstler Strukturen unbewusster Absichten gibt oder er in solchen Strukturen existiert, und diese dem Künstler selbst oft nicht Bewussten Strukturen hinterließen symbolische Spuren in seinen Werken. Diese Spuren könne der kompetente Kritiker aufdecken, entschlüsseln und interpretieren. Eine gültige Deutung ist also eine Deutung, die die individuellen oder kulturellen Absichten dekodiert und freilegt.
Kunst ist im Kunstwerk In all diesen Positionen könnte viel Wahrheit liegen – und wir werden sie gleich noch einer Bewertung unterziehen –, auch wenn die wenigsten Kritiker wohl die Auffassung billigen würden, dass Absichten allein, seien sie Bewusst oder unbewusst, das Wesen und den Wert der Kunst definieren. Teilweise als Reaktion auf diese ursprünglich romantischen und expressionistischen Kunstauffassungen entstanden verschiedene "formalere"
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Interpretationen von bildender Kunst und Literatur, und dies war, wie ich gesagt habe, weitgehend ein Vermächtnis der rationaleren Seite der Aufklärung. Der Rationalismus der Aufklärung hatte verschiedene weitreichende Auswirkungen auf die Theorie und Praxis der Kunst. Die ganze Atmosphäre des wissenschaftlichen Realismus der Aufklärung führte sehr schnell zu den realistischen Strömungen in der Literatur und Malerei (Zola, Balzac, Flaubert, Courbet) und weiter zu den Impressionisten, die die romantischexpressionistischen Trends weitgehend verwarfen. Ihr Bestreben war es vielmehr, "unmittelbare optische Eindrücke" in einer spontanen und unpersönlichen Weise wiederzugeben, wobei die Gefühle des Künstlers bestenfalls zweitrangig waren (Monet, Renoir, Manet, Pissarro, Degas), und zeitgenössische und aktuelle Erfahrungen objektiv, manchmal in einer fast dokumentarischen Weise festzuhalten, die stets Sympathie für die realistische Haltung verriet. Der Rationalismus der Aufklärung drang jedoch auch in einem ganz strengen und trockenen Sinne in die Theorie und Praxis der Kunst ein, nämlich in Form der Auffassung, dass das Wesen und der Wert der Kunst in der Form des Kunstwerks selbst zu finden sei. Ein großer Teil dieses Formalismus hatte seinen Ursprung in Kants überaus einflussreicher Kritik der Urteilskraft, fand jedoch bald auch markanten Ausdruck in der Musiktheorie von Eduard Hanslick und im Bereich der bildenden Kunst durch die Arbeiten von Roger Fry und Clive Bell. Ebenso drang der Formalismus in die Literaturtheorie ein, am deutlichsten sichtbar bei den russischen Formalisten (Jakobson, Propp), den amerikanischen "Neuen Kritikern" (Wimsatt und Beardsley), den französischen Strukturalisten (Lévi-Strauss, Barthes), den Neustrukturalisten (der frühe Foucault) und den Poststrukturalisten (Derrida, Paul de Man, Hartman, Lyotard). Für den Formalismus liegt die Bedeutung eines Texts oder eines Kunstwerks grundsätzlich in den formalen Beziehungen zwischen Elementen des Werks selbst. Für eine gültige Interpretation des Werks ist daher eine Aufhellung dieser formalen Strukturen notwendig. In vielen Fällen war und ist dies mit einer aggressiven Leugnung der Bedeutung der ursprünglichen Absicht des Urhebers verbunden. Der Künstler, der Urheber oder das Subjekt wurde für "tot" erklärt, das heißt für das Werk völlig irrelevant, wie zum Beispiel in Barthes' berühmtem Aufsatz über den Tod des Autors ("Die Äußerung hat keinen anderen Inhalt als den Akt, in dem sie sich vollzieht"). Die Sprache selbst nahm den Platz des Verfassers als Urheber des Texts ein, und die strukturelle Analyse (in ihrer ursprünglichen, neo- oder post-Form) wurde zur einzig sicheren Methode der Kunstinterpretation. Der "Tod des Subjekts" zog auch den Tod der ursprünglichen Intention des Subjekts als
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Quelle gültiger Interpretation nach sich, und die neue Parole lautete: "Was kommt nach dem Subjekt?" Innerhalb des recht einflussreichen amerikanischen New Criticism wurde diese Auffassung am nachdrücklichsten formuliert von Monroe Beardsley und William Wimsatt jr. In ihrem berühmten Essay "The Intentional Fallacy" kommen sie tatsächlich zu dem Schluss, dass die Absicht des Urhebers als Standard für die Beurteilung des Gelingens eines Werks weder verfügbar noch wünschenswert sei.10 Der Interpret und Kritiker müsse sich vor allen Dingen an das Kunstwerk selbst halten. Wie könne man, so ihre Auffassung, die Absicht eines Kunstwerks erkennen, wenn sie sich nicht in diesem selbst ausdrückt? Wo sonst könnte man sie denn aufspüren? Absichten, die ihren Niederschlag nicht im Kunstwerk finden, sind vielleicht interessant, aber sie sind per definitionem nicht Teil des Kunstwerks. Deshalb müsse sich jede Interpretation zuerst und vor allem den im Kunstwerk, das als selbständiges Ganzes betrachtet wird, liegenden Elementen zuwenden. Ähnliche formalistische Kunsttheorien legte für die Musik Eduard Hanslick (Vom musikalisch Schönen) vor, dem zufolge die Bedeutung der Musik in ihren inneren Formen lag (Melodie, Rhythmus, Harmonie), und für die bildenden Künste Roger Fry (Vision and Design) und Clive Bell (Art), die beide die Auffassung vertraten, dass das Wesen und die Bedeutung der Kunst in ihrer "signifikanten Form" zu finden sei (wobei für beide Cezanne das große Musterbeispiel war). In all diesen Versionen des Formalismus liegen Ort und Bedeutung eines Kunstwerks nicht in der Intention des Künstlers, noch in demjenigen, was das Kunstwerk darstellen könnte, noch in dem, was es ausdrücken könnte. Vielmehr liegt ihnen zufolge das Wesen und die Bedeutung der Kunst im formalen oder strukturellen Zusammenhang der im Kunstwerk selbst vorliegenden Elemente. Damit bestünde eine gültige Interpretation in erster Linie in der Aufhellung dieser Formen und Strukturen.
Kunst ist im Betrachter Als die moderne Welt der Aufklärung und die Gegenbewegung der Romantik der postmodernen Welt das Feld räumten, tauchte eine weitere sehr einflussreiche Strömung in der Kunstkritik auf. Während die formalistischen Theorien den Künstler umbrachten und sich ausschließlich auf das Kunstwerk konzentrierten, brachte diese neue Strömung auch noch das Kunstwerk um und konzentrierte sich auf das, was noch übrigblieb: den Betrachter des Kunstwerks.
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Für diese verschiedenen Theorien der "Rezeption und Reaktion" liegt die Bedeutung eines Kunstwerks weder in der ursprünglichen Intention des Urhebers noch in irgendwelchen besonderen Merkmalen des Kunstwerks selbst. Vielmehr behaupten diese Theorien, dass der primäre Ort der Bedeutung eines Kunstwerks, da man es nur durch seine Betrachtung (anschauen, zuhören, lesen) erkennen könne, nur in den Reaktionen der Betrachter selbst liegen könne. Damit kann dieser Auffassung zufolge das Wesen und die Bedeutung von Kunst nur in der Geschichte der Rezeption und Reaktion auf das Kunstwerk aufgefunden werden, und demgemäss bestünde eine gültige Interpretation des Kunstwerks in einer Analyse dieser Reaktionen (oder der Geschichte dieser Reaktionen). Passmore fasst dies wie folgt zusammen: "Der richtige Bezugspunkt für die Erörterung von Kunstwerken ist die Interpretation, zu der sie einem Publikum Anlass geben; diese Interpretation oder die Klasse solcher Interpretationen ist das Kunstwerk, was auch immer dem Künstler bei dessen Schöpfung vorschwebte. Der Interpret, nicht der Künstler, schafft das Werk."11 Diese Theorien haben ihren Ursprung weitgehend im Werk von Martin Heidegger, dessen hermeneutische Philosophie mit der traditionellen Auffassung von Wahrheit als einem unwandelbar und objektiv gegebenen Sachverhalt brach und an ihre Stelle den Begriff der Geschichtlichkeit der Wahrheit setzte: Der Mensch habe weniger eine unwandelbare Natur als vielmehr eine sich verändernde Geschichte, und was man daher "Wahrheit" nennt, sei sehr weitgehend geschichtlich bedingt. Weiterhin werde die Geschichtlichkeit der Wahrheit weniger durch wissenschaftliche Empirie als vielmehr durch Interpretation (durch "Hermeneutik") deutlich, wie zwei Menschen, die einander verstehen wollen, das, was sie zueinander sagen, interpretieren müssen ("Was meinen Sie damit? Ah, ich verstehe"). Interpretation sei mit der Geschichtlichkeit von Wahrheit untrennbar verbunden. Heideggers hermeneutische Philosophie hatte außerordentlichen Einfluss auf die Kunsttheorie, insbesondere über das Werk zweier seiner Schüler: Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida. Derrida haben wir bereits im Zusammenhang mit der strukturalistischen und der poststrukturalistischen Theorie erwähnt, denen zufolge die Bedeutung eines Texts in Ketten formaler Signifikanten zu suchen ist (wobei dem "Poststrukturalismus" zufolge diese Ketten von Signifikanten endlos "gleiten"). Gadamers Einfluss war und ist ebenso weitreichend; er dürfte heute wohl der bedeutendste Theoretiker der Ästhetik sein. Für Gadamer ist selbst ein "rein" ästhetisches Ereignis wie zum Beispiel die Betrachtung eines abstrakten Gemäldes kein bloß sinnlicher Vorgang. In dem Augenblick, in dem man die Frage nach der Bedeutung des Gemäldes,
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nach seiner Wirkung auf einen selbst oder nach seiner Aussage stellt, wenn also die stumme Betrachtung in Bedeutung übergeht, verlässt man unausweichlich das "bloß Sinnliche" und tritt in Sprache und Geschichte ein. Man begibt sich in die sprachliche Welt, die selbst wiederum nur durch Interpretation verstanden werden kann: Was bedeutet dies? Alle Bedeutung ist in der Geschichte vorhanden, das heißt, alle Bedeutung ist geschichtlich gefärbt. Ein Gemälde bedeutet uns heute etwas anderes, als es den Menschen etwa in tausend Jahren bedeuten wird (wenn es ihnen überhaupt noch etwas bedeutet). Mit anderen Worten, diesen Theoretikern zufolge kann man Bedeutung nicht vom Ablauf der Geschichte isoliert betrachten. Nach dieser Auffassung existiert das Kunstwerk in diesem geschichtlichen Strom, der neue Rezeptionen hervorbringt, neue Reaktionen herausfordert, neue Interpretationen liefert, neue Bedeutungen entfaltet. In dieser Sichtweise wäre das Kunstwerk gewissermaßen die Gesamtsumme seines individuellen geschichtlichen Stroms. Es ist nicht etwas aus sich selbst und außerhalb der Geschichte isoliert und selbstbezüglich Existierendes, das nur deshalb da ist, weil es sich selbst betrachtet; die einzige Möglichkeit, ein Kunstwerk zu erkennen, ist, es anzuschauen und zu interpretieren, und diese in der Geschichte gründenden Interpretationen konstituieren alle Kunst.
Wo also genau ist Kunst? Wie wir gesehen haben, sind die großen Kunsttheorien bezüglich des Wesens, des Orts und der Bedeutung von Kunst höchst unterschiedlicher Auffassung. Intentionale Theorien lokalisieren Kunst in der ursprünglichen Absicht, Empfindung oder Vision des Schöpfers. Formalistische Theorien suchen die Bedeutung von Kunst in den Beziehungen zwischen Elementen des Kunstwerks selbst. Die Theorien der Rezeption und Reaktion glauben das Wesen und die Bedeutung von Kunst im Betrachter zu finden. Symptomatische Theorien schließlich orten die Kunst in umfassenderen Strömungen, die in einer meist unbewussten Weise im Künstler und Betrachter gleichermaßen tätig sind. Man könnte also die ganze Kunsttheorie als einen mutigen Versuch betrachten, zu entscheiden, wo sich der Ort der Kunst genau befindet, wo man die Bedeutung eines Kunstwerks auffinden und wie man schließlich zu gültigen Deutungen eines Kunstwerks gelangen kann. Kurz: Was und wo ist Kunst? Ich behaupte nun, dass das Wesen und die Bedeutung von Kunst durch und durch holonisch sind. Wie jede andere Entität im Universum ist Kunst holonisch in ihrem Wesen, ihrem Ort, ihrer Struktur, ihrer Deutung und ihrer
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Bedeutung. Jedes einzelne Kunstwerk ist ein Holon, ein Ganzes, das zugleich Teil zahlreicher anderer Ganzer ist. Das Kunstwerk existiert in Kontexten in Kontexten in Kontexten, ohne Ende. Weiterhin, und dies ist nun der entscheidende Punkt, verleiht jeder Kontext dem Kunstwerk eine andere Bedeutung, weil, wie wir gesehen haben, alle Bedeutung kontextabhängig ist: Ändert man den Kontext, ruft man eine andere Bedeutung auf. Damit sind alle oben erörterten Theorien – die repräsentative, die intentionale, die formalistische, diejenige der Rezeption und Reaktion und die symptomatische – grundsätzlich richtig und wahr; sie alle verweisen auf einen spezifischen Kontext, in dem das Kunstwerk existiert und ohne den es nicht existieren könnte. Diese Kontexte konstituieren daher tatsächlich die Kunst selbst, das heißt, sie sind tatsächlich Teil des Wesens der Kunst. Dass diese Theorien miteinander im Widerstreit liegen, liegt einzig und allein daran, dass sie versuchen, ihren jeweiligen Kontext zum einzig wirklichen oder einzig bedeutsamen Kontext zu erheben, zum paradigmatischen, ursprünglichen, zentralen, bevorrechtigten Kontext. Jede dieser Theorien versucht, ihren Kontext als den einzigen wirklich ernstzunehmenden darzustellen. Die holonische Struktur der Wirklichkeit – Kontexte in Kontexten ohne Ende – bedeutet, dass jede dieser Theorien Teil einer geschachtelten Aufeinanderfolge von Wahrheiten ist. Jede von ihnen ist wahr, wenn sie auf ihren eigenen Kontext abhebt, und falsch, wenn sie versucht, die Wirklichkeit oder Bedeutsamkeit anderer bestehender Kontexte zu leugnen. Eine wirklich integrale Kunsttheorie, die sich mit Wesen, Bedeutung und Interpretation von bildender Kunst und Literatur auseinandersetzt, muss notwendigerweise eine holonische Theorie sein, eine Theorie konzentrischer Kreise geschachtelter Wahrheiten und Interpretationen. Das Studium von Holons ist das Studium geschachtelter Wahrheiten. An dieser Stelle wird nun deutlich, wo genau die postmoderne Dekonstruktion bezüglich der Holons auf ein falsches Gleis geriet und hoffnungslos in die Irre ging. Die Postmodernisten richteten den Blick fest auf den holonischen Raum und verloren dann – wie Bataille – richtiggehend den Verstand: Die Wirklichkeit besteht nicht aus geschachtelten Wahrheiten, sondern geschachtelten Lügen, Täuschungen in Täuschungen ohne Ende – und dies sind nun einmal die Merkmale eines psychotischen Zusammenbruchs. Sie stellen die Dinge genau auf den Kopf: Sie sehen das photographische Negativ einer Wirklichkeit, zu der sie kein Vertrauen mehr haben. Und wenn man einmal durch diesen Umkehrspiegel in Alices Wunderland eingetreten ist, ist nichts mehr so, wie es einmal war; das Ego ist in die Narrenfreiheit entlassen, und es gibt nichts Wirkliches mehr, das ihm Widerstand böte. Es
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bleibt nichts als ein widerwärtiger Nihilismus und Narzissmus als Richtschnur einer Welt, die in Gleichgültigkeit versunken ist. Wir haben es aber nicht mit geschachtelten Lügen, sondern mit geschachtelten Wahrheiten zu tun. Eine umfassende Kunsttheorie muss notwendigerweise von konzentrischen Kreisen einander einhüllender Wahrheiten und Deutungen ausgehen.
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Kapitel 5 Eine integrale Theorie der Kunst (2) Wir sind nun so weit, dass wir die Geschichte der Kunst von ihrem ursprünglichen Impuls ausgehend kurz nachzeichnen können, wobei wir alle Wahrheiten innerhalb dieser Ausfaltung, die eine Einfaltung ist, in der jedes Ganze in einer endlosen, wunderbaren, zwangsläufigen Weise Teil eines anderen Ganzen wird, berücksichtigen und einschließen. (Und wer weiß? Vielleicht stellen wir auf unserer Suche nach dem Ursprung der Kunst fest, dass wir im Auge des GEISTES wohnen, der Schönheit im Auge des Betrachters, zu einem leuchtenden Kosmos geboren, der in seiner Gesamtheit das außergewöhnliche Kunstwerk unseres eigenen höchsten Selbst ist.)
Das Urholon der Kunst Ohne in irgendeiner Weise die vielen anderen Kontexte vernachlässigen zu wollen, die ein Kunstwerk ausmachen, kann man aus verschiedenen guten Gründen seinen Anfang auf ein Ereignis im Geist und Wesen des Künstlers datieren: Eine innere Wahrnehmung oder Empfindung, einen Impuls, eine Idee, einen Gedanken, eine Vision. Von irgendwo, man weiß nicht genau woher, taucht der schöpferische Impuls auf. Dem gehen zweifellos viele Kontexte voraus, und viele werden noch folgen. Aber beginnen wir hier, mit der ursprünglichen künstlerischen Wahrnehmung, dem ursprünglichen Impuls, und nennen wir dies das Urholon der Kunst. Das Urholon kann durchaus etwas aus der äußeren Welt repräsentieren (und dies wäre die Grundlage der Nachahmungsoder Repräsentationstheorien). Es könnte aber auch einen inneren Zustand zum Ausdruck bringen, sei es ein Gefühl (Expressionismus) oder eine Idee (Konzeptualismus). Um dieses Urholon entwickeln sich wie die Schichten einer Perle, die um den Keim eines Sandkörnchens wächst, Kontexte in Kontexten von aufeinanderfolgenden Holons, wenn das Urholon unwiderruflich in den geschichtlichen Strom eintritt, der einen großen Teil seines weiteren Schicksals bestimmen wird.
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Das künstlerische Urholon gelangt, auch wenn es zunächst im Bewusstsein des Künstlers auftaucht, sofort in zahlreiche schon vorhandene Kontexte, in die es sofort eingegliedert wird. Dies können unbewusste Strukturen im Künstler selbst sein, Strukturen in dessen Kultur oder auch umfassendere Strömungen im allgemeinen Weltgeschehen, von denen der Künstler vielleicht gar nichts weiß. Und doch hinterlassen diese größeren Holons vom ersten Augenblick der Existenz des Urholons an ihre Abdrücke auf ihm: Sie prägen ihm die Codes der umfassenderen Strömungen unauslöschlich ein. Die Theorien, die das Urholon besonders im Auge haben, sind natürlich die expressionistischen Theorien. Für diese ist im allgemeinen die Bedeutung von Kunst das Urholon, die ursprüngliche Absicht des Urhebers, weshalb für sie die richtige Deutung von der genauen Rekonstruktion und Wiederherstellung jener ursprünglichen Absicht und Bedeutung, jenes Urholons abhängt. Man kann also ihnen zufolge das Kunstwerk verstehen, indem man versucht, genau zu verstehen, welche Bedeutung das Kunstwerk ursprünglich für den Künstler hatte. Dies wird den meisten von uns einleuchten. Wenn man Platons Staat liest, will man natürlich möglichst genau wissen, was Platon ursprünglich damit aussagen wollte. Die meisten von uns interessiert es nicht, was der Staat für meine Großmutter bedeutete ; wir wollen wissen, was er für Platon bedeutete. Bei dieser Rekonstruktion der ursprünglichen Bedeutung ziehen diese traditionellen hermeneutischen Theorien in gewissem Umfang durchaus auch andere Kontexte heran. Sie befassen sich mit anderen Werken desselben Urhebers (wobei oft ein Muster sichtbar wird, das für die Deutung einzelner Werke hilfreich ist), mit anderen Werken im selben Genre (was eine Bewertung der Originalität erlaubt) und mit den Erwartungen des ursprünglichen Publikums (so ergehen sich zum Beispiel die Spaßmacher in Shakespeares Komödien ständig in Scherzen und Sticheleien, die wir heute meist fade und langweilig finden, während das ursprüngliche elisabethanische Publikum solche Spaße in Komödien erwartete und genoß; diese Erwartung war Gegenstand der ursprünglichen Intention des Autors, was uns heute beim Verständnis und der Interpretation des Stücks hilfreich ist). Alle diese sonstigen Kontexte helfen dem Interpreten, die ursprüngliche Bedeutung des Kunstwerks (des Texts, des Buchs, des Gemäldes, der Komposition) zu bestimmen und aufzudecken. Für diese Intentionstheorien sind aber diese Kontexte gegenüber dem Urholon nebensächlich und konstituieren es in keiner Weise. Es dürfte klar sein, dass es eine sehr anspruchsvolle, schwierige und in gewisser Weise endlose Aufgabe sein muss, diese ursprüngliche Absicht "rekonstruieren" und "wiederherstellen" zu wollen. Es könnte sogar sein, dass
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ein solcher Versuch letztlich mehr ein Ideal als eine pragmatische Möglichkeit ist. Dies rechtfertigt aber nicht, diese ursprüngliche Absicht einfach zu ignorieren, als wenn es sie überhaupt nicht gäbe, wie es praktisch alle späteren Theorien der Kunst und ihrer Interpretation taten. Natürlich kann man ein Kunstwerk nicht auf das Urholon beschränken – aber man kann dieses auch nicht ignorieren. Der idealistische Versuch, soviel vom ursprünglichen Holon wiederaufzufinden, wie in einer pragmatischen Weise möglich ist, wird immer Bestandteil einer allgemeinen integralen Deutungstheorie sein, die natürlich auch die Deutung von bildender Kunst und Literatur einschließt. Trotzdem ist der Versuch, Kunst auf nichts als das ursprüngliche Holon und dessen Ausdruck zu beschränken, genau der Punkt, an dem die Schwierigkeiten beginnen. Alle diesbezüglichen Versuche sind klar gescheitert. Der Grund hierfür liegt natürlich darin, dass das Urholon ein Ganzes ist, das auch Teil anderer Ganzer ist, und damit nimmt alles seinen Lauf... Selbst wenn man z. B. akzeptiert, dass das Kunstwerk in erster Linie in der ursprünglichen Absicht des Künstlers zu suchen ist, ist es heute doch allgemein anerkannt, dass der Künstler, wie oben schon gesagt, unbewusste Absichten haben kann, die sich als Muster in seinem Werk niederschlagen, die wiederum von anderen deutlich aufgezeigt werden können, wiewohl sie dem Künstler selbst vielleicht gar nicht Bewusst sind.
Unbewusste Absichten Wenn ein Urholon auftaucht, taucht es zweifellos durch die Wesensstrukturen des Künstlers hindurch auf, die teilweise unbewusst sind. Freud selbst war wohl der erste, der sich mit diesen unbewussten Strukturen und ihrem Einfluss auf die Gestalt des Kunstwerks befasste. In seiner Studie über "Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci" (die Freud interessanterweise stets als sein eigenes Lieblingswerk bezeichnete) zitiert er Leonardo: "Es scheint, dass es mir schon vorherbestimmt war, mich so gründlich mit dem Geier zu befassen, denn es kommt mir als eine ganz frühe Erinnerung in den Sinn, als ich noch in der Wiege lag, ist ein Geier zu mir herabgekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele Male mit diesem Schwanz gegen meine Lippen gestoßen."1 In der psychoanalytischen Deutung ist diese Phantasie sowohl ein Schlüssel zu Leonardos Kindheit als auch zum Ursprung seiner Homosexualität (eine Fellatio-Phantasie), und sie wäre demzufolge auch ein Schlüssel zur Interpretation vieler seiner künstlerischen Hervorbringungen.
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Alle künstlerischen Urholons, die in Leonardos Psyche auftauchen, tauchen durch die Strukturen seiner unbewussten Wünsche hindurch auf. Wenn das Urholon die Bühne betritt, müsse es nach dieser Deutung unausweichlich bereits in den Kontext unbewusster Wünsche eingebunden sein. Wenn also die Bedeutung eines Kunstwerks in den ursprünglichen Absichten des Urhebers zu finden sein soll, dann läge ein Teil dieser Bedeutung im Unbewussten, weil auch ein Teil der Absichten unbewusst ist. Es sei daher die Aufgabe des psychoanalytischen Interpreten, diese tieferen Zusammenhänge, diese Hintergrundholons auszuleuchten, innerhalb deren das Urholon erscheint. Dies ist alles völlig richtig, und gewiss muss dies auch Teil unserer Darstellung sein. Aber ebenso gewiss kann dies nicht die ganze Darstellung sein, und ebenso wenig der ganze Ort des Kunstwerks. Zunächst einmal: Sobald man akzeptiert, dass es im Künstler (wie auch im Betrachter und Kritiker) unbewusste Strukturen gibt, kann man sofort die Frage stellen: Was ist eigentlich die Natur und der Umfang dieses Unbewussten? Gibt es keine anderen unbewussten Strukturen außer den freudianischen? Ist Sex und Aggression alles, was man findet, wenn man einen Blick in die Tiefen der menschlichen Psyche wirft? Die Antwort lautet natürlich: Nein. Spätere psychologische und soziologische Forschungen haben eine Fülle weitgehend unbewusster Strukturen, Muster, Codes und Normen aufgedeckt, die alle an der Gestaltung unserer Bewussten Absichten beteiligt sind. Einige dieser Hintergrundstrukturen, dieser tieferen und weiteren Holons haben wir bereits genannt: das linguistische, das wirtschaftliche, das kulturelle, das historische Holon. Auf diese Hintergrundholons, diese weiteren Kontexte richten nun die Vertreter der symptomatischen Theorie ihren Blick, um die tieferen und weiteren Bedeutungen eines Kunstwerks festzustellen, weil auch hier wiederum der Kontext die Bedeutung bestimmt und deshalb breitere Kontexte tiefere Bedeutungen und Muster enthüllen, die möglicherweise beim Künstler oder seinem Kunstwerk allein nicht offensichtlich sind.
Das Spektrum des Bewusstseins Ich werde gleich wieder zu diesen symptomatischen Theorien zurückkehren. Zunächst muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass Forschungen auch in der "individuellen Psyche" mehrere wichtige, über das Freudsche Unbewusste hinausgehende Ebenen meist unbewusster Zusammenhänge aufgedeckt haben. Insbesondere haben die Schulen der existentiellhumanistischen und der transpersonalen Psychologie – die sogenannte
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"dritte" und "vierte" Kraft der Psychologie (neben Behaviorismus und Psychoanalyse) – zahlreiche "Reiche des menschlichen Bewusstseins" entdeckt und bestätigt, Reiche, die in vielen Fällen erst der Schlüssel zu einem Verständnis des Bewussten Lebens sind. Der Mensch ist wie alle existierenden Entitäten ein Holon, ein Individuum, das physische, emotionale, geistige, existentielle und spirituelle oder transpersonale Dimensionen hat. Alle diese Strukturen bilden Hintergrundkontexte, in die unser Oberflächenbewusstsein hineinragt. Und wie eine unbewusste "freudianische" Struktur unsere Bewussten Absichten färben und formen kann, so können diese tieferen Bereiche sich im Trojanischen Pferd unseres Alltagsbewusstseins verborgen halten. Wir brauchen uns hier nicht mit den Nachweisen hierfür im einzelnen aufzuhalten; für unsere einfacheren Zwecke genügt es festzuhalten, dass es der transpersonalen Psychologie zufolge in der Tat ein Bewusstseinsspektrum gibt, das vom isolierten individuellen Ich am einen Ende bis zum Zustand eines "Einheitsbewusstseins" und der "spirituellen Einung" am anderen Ende reicht. Innerhalb dieses Gesamtspektrums des Bewusstseins gibt es mindestens ein Dutzend Ebenen, die jeweils eine deutlich erkennbare Struktur aufweisen (u.a. die instinktive, die freudianische, die sprachliche, die kognitive, die existentielle und die spirituelle Ebene). Der entscheidende Punkt ist, dass jede dieser Dimensionen Bewusst oder unbewusst die Intention des Künstlers beeinflussen kann, die schließlich im Kunstwerk Gestalt annimmt. Deshalb gibt die Kenntnis dieses Bewusstseinsspektrums dem kundigen Kritiker eine Palette von Interpretationsmöglichkeiten an die Hand, die erheblich über die schlichtere freudianische Darstellung hinausgeht, da sie tiefere und weitere Kontexte des Gewahrseins aufhellt. Eine "integrale" oder "holonische" Theorie der Kunstinterpretation und Literaturkritik muss also alle diese verschiedenen Bereiche des menschlichen Unbewussten mit einschließen, die sich in der Intention des Urholons und seiner anschließenden öffentlichen Darbietung und Rezeption manifestieren. Die Intentionalität des Menschen hat in der Tat etwas von einer Zwiebel: Holons in Holons der Intentionalität in einem außergewöhnlichen Bewusstseinsspektrum (mit diesem Spektrum der Intentionalität werde ich mich im folgenden nochmals beschäftigen, wobei ich auch einige Beispiele geben werde, wie dieses hilfreich zur Interpretation eingesetzt werden kann). Die verschiedenen Schulen der Intentionalität, die sich mit dem ganzen Spektrum des Bewusstseins auseinandersetzen, haben den Blick zweifellos auf einen sehr wichtigen Aspekt des Wesens und der Bedeutung der Kunst gerichtet. Aber auch diese Theorien, ob sie sich mit den Bewussten oder den unbewussten Bereichen befassen, sind ihrem Wesen nach immer noch einseitig und beschränkt. Sie ignorieren die technischen und formalen
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Merkmale des Kunstwerks und wissen daher zum Beispiel nichts über die Bedeutung der Struktur von Harmonien und Melodien in der Musik auszusagen, über die Struktur und Funktion der Handlung in einem Prosastück, über den technischen Einsatz verschiedener Arten von Farben, über die strukturellen Bedingungen für verschiedene Kunstwerke und so weiter. Aus all diesen und anderen Gründen sind viele Theoretiker dazu übergegangen, sich unter Absehung von Urheber und Betrachter genauer mit der Struktur und Funktion des Kunstwerks selbst zu befassen. Denn wenn der Künstler darangeht, dem Ur-holon in einem konkreten Kunstwerk Gestalt zu verleihen, dann sieht sich dieses Urholon zunächst mit den materiellen Bedingungen seines Mediums konfrontiert: dem Stein bei einer Skulptur, der Farbe und der Leinwand bei einem Gemälde, den verschiedenen Instrumenten und ihren Spielern bei einer Komposition, der Grammatik und Syntax bei einem Prosastück. Das Urholon muss in ein Medium eingekleidet werden, das seine eigene Struktur hat, seinen eigenen Gesetzen gehorcht, seine eigenen Beschränkungen auferlegt, seine eigene Natur geltend macht. Das Urholon ist dann Teil eines anderen Ganzen, des Gesamtkunstwerks selbst.
Das Kunstwerk-Holon Die Kunsttheorien unterlagen in ihrer geschichtlichen Entwicklung einem ständigen Wechsel der Aktion und Reaktion zwischen zwei Extremen: dem Versuch, die ursprüngliche Absicht des Künstlers zu entschlüsseln und – wenn man dieser anscheinend unendlichen Aufgabe müde war – der Suche nach einer Möglichkeit, die Bedeutung von Kunst in einer anderen Weise zu interpretieren. Das häufigste Verfahren besteht dabei darin, sich auf das Kunstwerk selbst zu konzentrieren, das heißt das öffentliche Stück Kunst (das Gemälde, das Buch, das aufgeführte Stück, das Musical), das wir einfach das "Kunstwerk-Holon" nennen wollen. Die große Stärke – und zugleich große Schwäche – dieses Ansatzes liegt darin, dass er sich vor allem auf einen bestimmten Kontext konzentriert: das öffentliche Kunstwerk, wie es unmittelbar wahrgenommen wird. Alle anderen Kontexte werden ausgeklammert oder einfach ignoriert: Die Absichten des Urhebers (Bewusste und unbewusste), der geschichtliche Rahmen, die Erwartungen des ursprünglichen Publikums, die Geschichte der Rezeption und Reaktion – all dies wird beiseite gelassen, bei der Beurteilung des Gelingens oder Scheiterns des Kunstwerks nicht berücksichtigt.
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Natürlich haben diese Theoretiker Gründe für diese Vorgehensweise. Wie soll man denn die ursprünglichen Absichten des Künstlers erschließen können, so ihr Argument, wenn nicht aus dem Kunstwerk selbst? Wenn der Künstler Absichten hatte, die nicht im Kunstwerk aufscheinen, dann sei der Künstler diesbezüglich schlicht gescheitert; Absichten, die nicht im Kunstwerk eingefangen sind, sind per definitionem kein Teil dieses Kunstwerks, weshalb man sie ignorieren könne und müsse (etwas anderes anzunehmen sei eine "Täuschung über die Absicht"). Und warum soll man überhaupt die Frage stellen, was der Künstler "eigentlich" sagen wollte? Wie jeder von uns nicht immer der beste Interpret seiner eigenen Handlungen ist (wie einem Freunde gern bestätigen werden), so seien Künstler nicht immer die besten Interpreten ihrer eigenen Werke. Deshalb müsse man, so oder so, den Blick in jedem Fall einfach auf das Kunstwerk richten und es als solches bewerten, als selbständiges Ganzes: das Kunstwerk-Holon. Und genau dies tun alle Kunstwerk-Theorien. Sie beurteilen das Werk als ein intrinsisches Ganzes, und die Bedeutung des Kunstwerks ist für sie in den Beziehungen zwischen den Elementen oder Merkmalen des Werks selbst zu finden (das heißt den Beziehungen zwischen den "Subholons", aus denen es besteht). Einige Variationen zu diesem Thema haben wir bereits kurz betrachtet: Formalismus, Strukturalismus, Neostrukturalismus, Poststrukturalismus und New Criticism in ihrer jeweiligen Anwendung auf Theorien der Musik, der bildenden Kunst, der Dichtkunst, der Linguistik und der Literatur. Trotz seiner Beschränkungen hat dieser Ansatz zweifellos seine Vorzüge. In der Tat haben Kunstwerke Merkmale, die in gewisser Hinsicht für sich selbst stehen. Natürlich ist das Kunstwerk letztlich ein Ganzes, das auch Teil anderer Ganzer ist. Aber man kann sich sehr wohl auf den Ganzheitsaspekt eines jeden Holons konzentrieren; der Ganzheitsaspekt ist etwas sehr Konkretes und Wirkliches. Verschiedene formalistische und strukturalistische Theorien haben sich mit Recht einen festen Platz im Fundus legitimer Interpretationswerkzeuge erworben, indem sie sich auf den Ganzheitsaspekt eines Holons konzentrierten. Forscher dieser Richtungen haben verschiedene Merkmale herausgearbeitet, die ein Kunstwerk wertvoll machen, wie zum Beispiel Kohärenz, Vollständigkeit, Harmonie der Elemente innerhalb des Ganzen, aber auch Einmaligkeit, Komplexität, Bedeutungsreichtum, Intensität. All dies sagt etwas Interessantes über das Kunstwerk-Holon selbst aus; nichts davon muss man verwerfen. Trotzdem darf man letztlich auch nicht vergessen, dass jedes Ganze auch ein Teil ist; es existiert in Kontexten in Kontexten in Kontexten, die jeweils eine neue und andere Bedeutung zum ursprünglichen Ganzen beitragen, eine Bedeutung, die nicht offensichtlich ist
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und nicht aus der Betrachtung des individuellen Holons selbst gewonnen werden kann. Stellen wir uns zum Beispiel einmal vor, dass man bei einem Kartenspiel zusieht. Alle Karten werden nach bestimmten Regeln benutzt, aber das Interessante dabei ist, dass diese Regeln nicht auf den Karten selbst stehen: Keine der Regeln findet sich irgendwo auf den Karten. Jede Karte steht also in einem umfassenden Kontext, der ihr "Verhalten" und ihre "Bedeutung" regelt, und die tatsächlichen Regeln und Bedeutungen der Karte im jeweiligen Spiel können nur entdeckt und richtig interpretiert werden, indem man eine umfassendere Perspektive einnimmt. Das bloße Studium der Karte selbst führt niemals zu den Regeln und Bedeutungen hin, denen sie gehorcht. In derselben Weise wird der Inhalt eines Kunstwerks selbst zum Teil durch die verschiedenen Kontexte bestimmt, in denen das Urholon entsteht und in denen das Kunstwerk-Holon existiert. Nachfolgend ein kleines Beispiel, aus dem ersichtlich wird, was geschehen kann, wenn man sich nur auf das Kunstwerk-Holon allein konzentriert.
Ein Paar abgetragener Schuhe In seiner Abhandlung "Der Ursprung des Kunstwerkes" interpretiert Heidegger ein Gemälde von van Gogh, das ein Paar Schuhe zeigt, um daran deutlich zu machen, dass Kunst Wahrheit enthüllen kann. Während man letzterem nur zustimmen kann, ist Heideggers Weg in diesem speziellen Fall ein schlagendes Beispiel dafür, welch schwere Fehlinterpretationen entstehen können, wenn man holonische Kontexte außer acht lässt. Das Gemälde, auf das sich Heidegger bezieht, zeigt nichts als ein Paar stark verschlissener Schuhe ohne Schnürsenkel in der Vorderansicht, und dies ist schon alles; es sind keine weiteren Objekte zu sehen. Heidegger nimmt an, dass es sich um ein Paar Bauernschuhe handelt, und er sagt, dass er nur unter Bezugnahme auf das Gemälde zum Kern der Botschaft vordringen könne: Um dieses Paar Bauernschuhe herum ist nichts, wozu und wohin sie gehören könnten, nur ein unbestimmter Raum. Nicht einmal Erdklumpen von der Ackerscholle oder vom Feldweg kleben daran, was doch wenigstens auf ihre Verwendung hinweisen könnte. Ein Paar Bauernschuhe und nichts weiter. Und dennoch. Und dennoch versucht Heidegger, unter reiner Bezugnahme auf die Form des Kunstwerks zum Kern von dessen Bedeutung vorzudringen:
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Aus der dunklen Öffnung des ausgetretenen Inwendigen des Schuhzeuges starrt die Mühsal der Arbeitsschritte. In der derbgediegenen Schwere des Schuhzeuges ist aufgestaut die Zähigkeit des langsamen Ganges durch die weithin gestreckten und immer gleichen Furchen des Ackers, über dem ein rauher Wind steht. Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens. Unter den Sohlen schiebt sich hin die Einsamkeit des Feldweges durch den sinkenden Abend. In dem Schuhzeug schwingt der verschwiegene Zuruf der Erde, ihr stilles Verschenken des reifenden Korns und ihr unerklärtes Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrehung des Todes. Zur Erde gehört dieses Zeug und in der Welt der Bäuerin ist es behütet. Aus diesem behüteten Zugehören ersteht das Zeug selbst zu seinem Insichruhen.2 Dies ist eine wunderschöne Interpretation, wunderschön formuliert, und sie vertieft sich einfühlsam in die Details des Gemäldes. Um so betrüblicher ist es, dass praktisch keine einzige Aussage dieser Interpretation zutrifft. Zunächst einmal sind dies van Goghs Schuhe, nicht diejenigen einer Bäuerin. Er wohnte damals in der Stadt und lenkte keineswegs seine mühseligen Schritte über das Feld; unter den Sohlen ist kein reifendes Korn; nichts von einem langsamen Gang durch die immer gleichen Furchen des Ackers, kein Feuchtes und Sattes des Bodens, und keine Einsamkeit des Feldweges. Keine Spur von einem unerklärten Sichversagen in der öden Brache des winterlichen Feldes. "Das Kunstwerk gab zu wissen, was das Schuhzeug in Wahrheit ist", ruft Heidegger aus. Mag sein, aber Heidegger ist keineswegs zu dieser Wahrheit vorgedrungen. Vielmehr muss man – ohne in irgendeiner Weise die relevanten Merkmale des Kunstwerk-Holons selbst zu ignorieren – über das Kunstwerk hinaus in größere Kontexte eindringen, um seine Bedeutung tiefer zu ergründen. Fragen wir zunächst nach der Absicht des Urhebers. Van Gogh selbst hat sie in einem Gespräch über die allgemeinen Umstände der Entstehung des Werks beschrieben. Paul Gauguin teilte 1888 mit van Gogh in Arles ein Zimmer, und es fiel ihm auf, dass Vincent ein Paar völlig verschlissener Schuhe aufbewahrte, die für ihn eine sehr große Bedeutung zu haben schienen. Gauguin berichtet: Im Atelier lagen ein Paar genagelter Schuhe, ganz verschlissen und mit Schmutz besprenkelt; er machte davon ein bemerkenswertes Stilleben.
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Ich weiß nicht, warum ich das Gefühl hatte, dass hinter diesem alten Relikt eine Geschichte stecken müsse, und ich wagte eines Tages die Frage, ob er einen Grund dafür habe, dass er etwas, was man normalerweise dem Lumpensammler auf den Karren werfen würde, so respektvoll aufbewahrte.3 Vincent beginnt also die Geschichte dieser verschlissenen Schuhe zu erzählen. "Mein Vater", sagte er, "war Pfarrer, und auf sein Drängen studierte ich Theologie, um mich auf meinen künftigen Beruf vorzubereiten. Als junger Pfarrer ging ich eines schönen Morgens nach Belgien, ohne meiner Familie etwas zu sagen, um in den Fabriken das Evangelium zu verkünden, nicht so, wie man es mich gelehrt hatte, sondern so, wie ich es selbst verstand. Diese Schuhe haben, wie du siehst, die Strapazen dieser Wanderschaft gut überstanden." Aber warum genau waren diese Schuhe für Vincent so wichtig? Warum behielt er diese verschlissenen und unansehnlichen Schuhe so lange bei sich? Gauguin fährt fort: "Als Vincent bei den Bergleuten der Borinage predigte, nahm er sich eines Opfers eines Grubenbrandes an. Der Mann hatte so schwere Verbrennungen erlitten und war so verstümmelt, dass der Arzt keine Hoffnung auf eine Genesung hatte. Er glaubte, dass nur ein Wunder ihn retten könne. Van Gogh kümmerte sich vierzig Tage liebevoll um den Bergmann und rettete sein Leben." Es müssen vierzig außergewöhnliche Tage gewesen sein, die sich tief in van Goghs Seele einprägten. Über einen Monat lang war Vincent an der Seite eines Mannes, der so schwere Verbrennungen davongetragen hatte, dass der Arzt für ihn nur einen sicheren und qualvollen Tod voraussah. Dann hatte Vincent eine Vision, die er seinem Freund Gauguin mitteilte und die erklärt, warum diese Episode für ihn so wichtig war. Gauguin berichtet ganz ausführlich: "Als wir beiden Verrückten in Arles beisammen waren, ständig um schöne Farben ringend, liebte ich besonders Rot; wo konnte man ein perfektes Zinnoberrot bekommen? Er schrieb mit seinem gelben Pinsel an die Wand, die plötzlich violett wurde: Ich bin heil im Geiste Ich bin der Heilige Geist In meinem gelben Zimmer: ein kleines Stilleben in Violett. Zwei klobige, verschlissene, hässliche Schuhe. Es waren Vincents Schuhe. Diese zog er eines schönen Morgens an, als sie noch neu waren, und begab sich auf den Fußmarsch von Holland nach Belgien. Der junge Prediger hatte gerade sein Theologiestudium abgeschlossen, um wie sein Vater Pfarrer zu werden. Er machte sich zu den Bergleuten auf, die er seine Brüder nannte ...
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Anders als seine klugen holländischen Professoren glaubte Vincent an einen Jesus, der die Armen liebt, und seine ganz von Barmherzigkeit durchdrungene Seele verlangte danach, den Schwachen tröstende Worte zu geben und sich für sie zu opfern, und danach, die Reichen zu bekämpfen. Ganz bestimmt war Vincent schon verrückt." "Vincent war schon verrückt" – Gauguin wiederholt dies mehrmals, und die Ironie ist unüberhörbar: Wenn uns doch allen die Gnade einer solchen Verrücktheit zuteil würde! Dann berichtet Gauguin über die Explosion in der Grube: "Chromgelb strömte aus, ein furchtbares feuriges Leuchten... Die Geschöpfe, die in diesem Augenblick umherkrochen ... sagten an diesem Tag dem Leben Adieu, nahmen Abschied von ihren Kameraden ... einen von ihnen, furchtbar verstümmelt, das Gesicht verbrannt, nahm Vincent auf. 'Aber', sagte der Werksarzt, 'um diesen Mann ist es geschehen, wenn nicht ein Wunder geschieht ...'" Gauguin fährt fort: "Vincent glaubte an Wunder, an die mütterliche Fürsorge. Der Verrückte (ganz bestimmt war er verrückt) ließ sich nicht beirren und wachte vierzig Tage lang am Bett des Sterbenden. Unerschütterlich hielt er die Luft von seinen Wunden fern und bezahlte die Arzneimittel. Ein trostreicher Priester (ganz bestimmt war er verrückt). Der Patient begann zu reden. Und die verrückten Anstrengungen brachten einen toten Christen wieder ins Leben zurück." Die Narben auf dem Gesicht des Mannes, der durch das Wunder der Zuwendung dem Tod entrissen wurde, sahen für Vincent genauso aus wie die Narben einer Dornenkrone. "Ich hatte", sagt Vincent, "in der Gegenwart dieses Mannes, der auf seiner Braue mehrere Narben trug, eine Vision der Dornenkrone, eine Vision des wiederauferstandenen Christus." An diesem Punkt seines Berichts nimmt Vincent den Pinsel zur Hand und sagt zu Gauguin: "Und ich, Vincent, ich habe den Wiederauferstandenen gemalt." Gauguin schließt: "Vincent zog mit seinem gelben Pinsel, der plötzlich violett geworden war, eine Linie und rief aus: Ich bin der Heilige Geist, Ich bin heil im Geiste Ganz bestimmt war dieser Mann verrückt." Natürlich ist die Psychoanalyse hier schnell mit einigen therapeutischen Interpretationen zur Hand. Aber psychoanalytische Interpretationen, wie gut ihre relative Wahrheit auch sein mag, gelangen nicht als solche an tiefere "Reiche des menschlichen Unbewussten" wie zum Beispiel das existentielle, das spirituelle und transpersonale. Wenn man aber, wie schon an anderer
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Stelle dargestellt, innerhalb der Schule der transpersonalen Psychologie nach einer genaueren und umfassenderen Darstellung der tieferen Dimensionen des menschlichen Bewusstseins sucht, findet man eine Fülle zwingender Hinweise darauf, dass der Mensch Zugang zu tieferen Bewusstseinszuständen hat, die weit über die gewöhnlichen ichhaften Modi hinausgehen: ein Spektrum des Bewusstseins. Aus den oberen Regionen des Spektrums des Bewusstseins, das heißt den höheren Bewusstseinszuständen, berichten Menschen übereinstimmend von einem Gewahrsein, eins mit dem All zu sein, identisch mit dem Geist, ganz im Geist und so weiter. Der Versuch seichterer Psychologien wie zum Beispiel der Psychoanalyse, alle diese höheren Zustände einfach zu pathologisieren, hat eingehenderen Forschungen schlicht nicht standgehalten. Ein ganzes Netz interkultureller Evidenz legt vielmehr klar den Schluss nahe, dass diese tieferen oder höheren Zustände ein Potential sind, das allen Menschen zur Verfügung steht und wodurch das "Christusbewusstsein", spirituelle Wahrnehmung und Einung, jedem einzelnen von uns zugänglich ist. Der transpersonale Psychologe würde also sagen, dass, wie auch immer man Vincents Vision sonst noch interpretieren will, alles ganz klar darauf hindeutet, dass es sich sehr wahrscheinlich um eine echte Vision des radikalen Potentials in uns allen handelte. Diese höheren Zustände und Visionen können gelegentlich zusammen mit pathologischen Erscheinungen oder Neurosen auftreten, doch sind diese Zustände selbst deshalb nicht ihrem Wesen nach pathologisch. Im Gegenteil: Forscher bezeichnen sie immer wieder als Zustände eines außerordentlichen Wohlbefindens. Deshalb war Vincents zentrale Vision höchstwahrscheinlich weder krankhaft noch psychotisch, noch eine Geistesstörung, weshalb sich Gauguin ja auch ständig über diejenigen lustig macht, die so etwas glauben könnten: "Ganz bestimmt war er verrückt." Dies bedeutet ganz bestimmt nur eines: Er hatte Kontakt zu einer Wirklichkeit, die zu erleben wir uns alle glücklich schätzen müssten. Wenn van Gogh daher sagte, dass er den wiederauferstandenen Christus gesehen habe, dann meinte er dies genau so, und genau dies sah er sehr wahrscheinlich auch. Deshalb behielt er die Schuhe, in denen er diese Vision erlebte, als staubbedeckte, aber teure Erinnerung bei sich. Und deshalb liegt die Grundbedeutung dieses Gemäldes von van Gogh – nicht die einzige Bedeutung, aber die grundlegende Bedeutung – in etwas ganz Einfachem: Es sind die Schuhe, in denen Vincent Jesus pflegte, den Jesus in uns allen.
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Das Betrachter-Holon Man kann zu dieser Interpretation stehen wie man will, klar ist zumindest eines: Ein bloß formaler oder ausschließlich auf das Kunstwerk beschränkter Ansatz wie zum Beispiel derjenige Heideggers verfehlt wichtige Bedeutungen von van Goghs Gemälde. Und für diejenigen meiner Zeitgenossen, denen meine transpersonale Interpretation vielleicht doch etwas zu weit geht, möchte ich den Schluss von Gauguins Bericht nachreichen: "Und Vincent nahm seine Palette wieder zur Hand; stumm arbeitete er. Neben ihm war eine weiße Leinwand. Ich begann sein Portrait zu malen. Auch ich hatte die Vision eines Jesus, der Güte und Demut predigte." Sind wir modernen Menschen für so etwas schon zu abgestumpft? Aber wer diesen transpersonalen Aspekt der Interpretation nicht akzeptieren will, kann zumindest ohne weiteres akzeptieren, dass die übrigen Darstellungen des Berichts – das Grubenunglück, die Pflege des Mannes usw. – einige sehr wesentliche Kontexte liefern, die einige zusätzliche Bedeutungen zum Kunstwerk-Holon selbst beitragen (da Bedeutung wie immer kontextgebunden ist). Die verschiedenen Kunstwerk-Ansätze, die wahr, aber unvollständig sind, leiden daher unter dem Mangel, dass sie das Urholon (die Absicht des Urhebers in seiner ganzen Breite und Tiefe) außer acht lassen. Darüber hinaus aber versuchen sie auch, die Reaktion des Betrachters zu ignorieren. Solche Theorien können daher durchaus nichts darüber aussagen, welche Rolle diese Interpretation selbst für die Konstituierung des gesamten Wesens des Kunstwerks spielt. Der Künstler fällt nicht aseptisch und in hermetischer Isolation vom Himmel. Kunst und Künstler stehen in einem geschichtlichen Werdestrom, weshalb das Urholon selbst niemals auf einer Tabula rasa erscheint, der leeren Schiefertafel der isolierten Absichten des Künstlers. Vielmehr wird das Urholon selbst schon während seiner Entstehung von einem kulturellen Hintergrund mitgeprägt. Und dieser kulturelle Hintergrund ist durch und durch geschichtlich; er entfaltet sich in der Geschichte. Deshalb bleibt – ohne dass ich in irgendeiner Weise die übrigen Bedeutungen des Kunstwerks von der ursprünglichen Intention des Urhebers bis zu den formalen Elementen des Kunstwerks selbst leugnen wollte – doch eine Tatsache bestehen: Wenn ich das Kunstwerk betrachte, hat es für mich Bedeutung. Sooft ein Betrachter ein Werk ansieht und es zu verstehen versucht, geschieht ein, um mit Gadamer zu reden, "Schwinden des Horizonts", und ich würde dem hinzufügen: Ein neues Holon taucht auf, das selbst einen neuen Kontext darstellt und damit eine neue Bedeutung trägt.
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Natürlich liegt "die" Bedeutung eines Kunstwerks nicht ausschließlich in "meiner" persönlichen Reaktion darauf. Andere Menschen könnten andere Reaktionen haben. Aber das grundsätzlich Entscheidende ist, dass die Bedeutung eines Kunstwerks jedenfalls nicht von seiner allgemeinen Wirkung auf seine Betrachter losgelöst werden kann. Um dies noch stärker zu formulieren: "Der Betrachter" ist einfach der ganze kulturelle Hintergrund, ohne den es überhaupt keine Bedeutung geben könnte. Dieser große intersubjektive Hintergrund, dieser kulturelle Hintergrund stellt den Ozean von Kontexten dar, in dem sich Kunst, Künstler und Betrachter zwangsläufig bewegen. Schon wenn der Künstler die Arbeit an einem Kunstwerk aufnimmt, denkt er an jemanden; irgendein Betrachter schwebt ihm vor Augen, wie flüchtig und unscharf dieses Bild auch sein mag. Der intersubjektive Hintergrund stellt bereits einen Kontext dar, innerhalb dessen seine subjektiven Intentionen aufsteigen. Damit macht sich die Reaktion des Betrachters schon bei der Gestaltung des Kunstwerks geltend. Der kulturelle Hintergrund der Interpretationen geht schon in den Entstehungs-Prozess des Kunstwerks ein. Wenn dann das Kunstwerk der Öffentlichkeit vorgestellt wird, tritt es in einen Strom weiterer geschichtlicher Interpretationen ein, die jeweils selbst wieder eine weitere Schicht dieser zeitlichen und geschichtlichen Perle bilden. Jeder neue, emergierende, historische Kontext fügt der Perle eine neue Bedeutung hinzu, eine neue Schicht, die zu einem wesentlichen Bestandteil der Perle wird, eines Ganzen, das Teil wieder anderer Ganzer wird und in dem Prozess selbst verwandelt wird. Denken wir, um ein plastisches Beispiel zu geben, etwa an die Kontroverse, die sich heute um Kolumbus' Reise im Jahre 1492 entzündet hat. Betrachten wir diese Reise einmal als Kunstwerk: Was ist dann die Bedeutung dieses Werks? Vor einigen Jahrzehnten noch herrschte etwa die folgende Auffassung: Kolumbus war ein kühner Seefahrer, der gegen große Widerstände eine gefährliche Reise unternahm, auf der er die Neue Welt entdeckte und dabei einem recht primitiven und zurückgebliebenen Volk Kultur und Zivilisation brachte. Heute dagegen würden viele Menschen eine etwas andere Deutung geben: Kolumbus war ein sexistischer, imperialistischer, verlogener, feiger Prolet, der in Amerika auf Beutefahrt ging und Syphilis und andere Geißeln über friedliebende Völker brachte. Die Bedeutung des ursprünglichen Kunstwerks sieht nicht nur anders aus, sie ist anders, weil sie durch die Geschichte der späteren Rezeption und Reaktion verändert wurde. Diese Geschichtlichkeit, dieses konstituierende Wesensmerkmal von Interpretationen lässt sich in keiner Weise vermeiden. Spätere Kontexte fügen dem Kunstwerk neue Bedeutungen hinzu, weil Bedeutung immer und unausweichlich kontextabhängig ist. Die Betrachter-
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Theorien in ihren verschiedenen Formen konzentrieren sich auf diese Geschichte der Reaktionen als konstituierendes Element des Kunstwerks. Diese Theorien der Rezeption und Reaktion behaupten also, wie es ein Kritiker formulierte, dass künstlerische Bedeutung "weder eine Funktion ihres genetischen Ursprungs in der Psyche eines Urhebers [des Urholons] noch eine solche rein innerer Zusammenhänge zwischen den gedruckten Zeichen auf einem Blatt Papier [formalistische Theorien] ist, sondern eine Funktion ihrer Rezeption in einer Aufeinanderfolge von Deutungen, die seine Wirkungsgeschichte bilden, [was] die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit von Auffassung und Interpretation unterstreicht".4 Die Teilwahrheiten der Betrachterreaktion sind zweifellos Teil einer jeden holonischen Kunsttheorie und Kunsthermeneutik. Aber wie bei allen anderen betrachteten Ansätzen werden die wahren, aber unvollständigen Auffassungen dieser Theorie, wenn sie alleinige Gültigkeit für sich beanspruchen, nicht nur verfälschend, sondern schlicht komisch. Diese Theorien der Rezeption und Reaktion haben zusammen mit den symptomatischen Theorien die postmoderne Kunstszene in der Theorie und Praxis fast vollständig beherrscht und daher, wie wir schon sagten, zu immer narzisstischeren und nihilistischeren Auffassungen geführt. Befassen wir uns zunächst mit der Theorie der Betrachterreaktion.
Das Wunder, ich zu sein Kunstkritiker befinden sich seit jeher in einer etwas unangenehmen Situation: Das unfreundliche Wort heißt "parasitisch". Typisch hierfür war Flauberts Auffassung: "Der Kritik kommt der geringste Platz in der literarischen Hierarchie zu: Was die Form betrifft praktisch immer, und was den 'moralischen Wert' betrifft ganz ohne Zweifel. Sie kommt noch nach Reimspielen und Akrostichen, für die wenigstens noch eine gewisse Erfindungsgabe erforderlich ist." Nehmen wir zu diesem Parasitismus eine weitere unerfreuliche Tatsache hinzu: Für mehr als einen Gesellschaftskritiker ist das Merkmal der Generation des Babybooms ein krasser Narzissmus, und wenn etwas für Narzissmus kennzeichnend ist, dann die Abneigung dagegen, hinter irgend jemandem zurückzustehen. Woraus folgt, dass die Kunsttheorie in den Händen der Baby-boomer zu einer heißen Angelegenheit werden musste. Wenn Parasitismus mit Großspurigkeit zusammenprallt, muss irgend etwas nachgeben. Der Kritiker setzte alles daran, vom Trittbrett auf den Fahrersitz zu gelangen.
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Den Hebel für diese großartige Selbstbeförderung lieferten, wie ich schon andeutete, Theorien der Betrachterreaktion im Gespann mit symptomatischen Theorien, die gemeinsam unter dem Banner der poststrukturellen Postmoderne marschierten. Wenn das Wesen und die Bedeutung von Kunst ausschließlich im Betrachter liegen – "der Interpret, nicht der Künstler erzeugt das Werk" – und wenn nur kenntnisreiche Interpretation gültig ist, dann ist es geschafft: Der Kritiker allein erzeugt alle Kunst. Und so kam es, dass die Reaktion des Betrachters – also "ich" – zum A und O der Kunst wurde, dass der Kritiker – also "ich" – in die Mitte des schöpferischen Akts rückte, ja überhaupt in den Mittelpunkt der Welt der Kunst. Deshalb kann Catherine Belsey in ihrem Critical Practice sagen: "Kritik parasitiert nicht mehr an einem vorgegebenen literarischen Text – Kritik konstruiert ihr Objekt, bringt das Werk hervor."6 Worüber natürlich die Künstler nicht wenig erstaunt waren. Die Teilwahrheiten der Reaktion des Betrachters wurden zu einer Plattform, auf der der Kritiker als alleiniger Schöpfer enormes Gewicht gewann und nach wie vor hat. Das peinliche Dilemma für die Postmoderne dieser Prägung liegt darin, dass sie das Kunstwerk selbst vollständig auslöscht und sich damit eine Reaktionstheorie beschert, die – hoppla! – nichts mehr hat, worauf sie eigentlich reagieren könnte. Und wenn es kein Kunstwerk mehr gibt, auf das man reagieren kann, dann bleibt nur das Ego übrig. All dies hat jene beiden kaum verhüllten Trends der extremen Postmoderne, nämlich Nihilismus und seinen verborgenen Kern des Narzissmus genährt, wie den wacheren Kritikern in neuerer Zeit aufgefallen ist. David Couzens Hoy weist darauf hin, dass "die Ablösung der Kritik von ihrem Objekt" – das heißt die Auslöschung des Kunstwerks durch Betonung der Reaktion des Betrachters – "dieser all die Möglichkeiten einer reichen Phantasie eröffnet; aber wenn ... es nun keine objektive Wahrheit mehr gibt, dann ist das Kunstwerk der Krankheit der obsessiven Selbsteingenommenheit der zeitgenössischen Phantasie ausgeliefert". Die Kritik wird so "zum Ego-Trip des Kritikers". Dies ist die Kultur des Narzissmus. "Die Folge ist ein nackter Machtkampf, so dass Kritik in offene Aggression ausartet" und Teil "des aufkommenden Nihilismus der neueren Zeit" wird.7 Diese Theorien der Betrachterreaktion traten oft, wie gesagt, gemeinsam mit symptomatischen Theorien auf, deren einflussreichste die marxistische, die feministische, die rassistische und die imperialistische (postkoloniale Studien) waren. Diese besagen, wie wir uns erinnern, dass die Bedeutung der Kunst in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Hintergrundkontexten zu finden sei, die oft bloß die Maske von Macht und Ideologie und damit Vehikel einer bestimmten, in diesen Kontexten gebildeten Kunstauffassung seien, die
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der kompetente Kritiker darstellen könne, indem er die jeweiligen Hintergrundstrukturen aufhellt. All dies ist kaum zu bestreiten, aber ebenso ist all dies furchtbar einseitig, parteiisch und schief, wenn man es verabsolutiert. Diese Auffassungen haben der von Foucault in seinem Frühwerk geäußerten Meinung Auftrieb gegeben, dass die Wahrheit selbst kulturell relativ und willkürlich sei und ihren Grund in nichts als einem sich geschichtlich wandelnden Geschmack oder aber in Macht, Vorurteilen und Ideologie habe. Weil Wahrheit kontextabhängig ist, so das Argument, sei sie vollständig von sich wandelnden Kontexten abhängig. Alle Wahrheit sei daher kulturell konstruiert – die gesellschaftliche Konstruktion des Geschlechts, die gesellschaftliche Konstruktion des Körpers, die gesellschaftliche Konstruktion von mehr oder weniger allem –, und weil alle Wahrheit kulturell konstruiert sei, gebe es keine universelle Wahrheit und könne es diese auch nicht geben. Seltsamerweise beansprucht aber diese Auffassung ihrerseits für sich universelle Wahrheit. Sie stellt eine Reihe strenger Behauptungen auf, die angeblich für alle Kulturen wahr sein sollen (die Relativität der Wahrheit, die Kontextualität von Behauptungen, die gesellschaftliche Konstruktion aller Kategorien, die Geschichtlichkeit der Wahrheit usw.). Diese Auffassung behauptet also, dass es überhaupt keine universelle Wahrheit gibt – mit Ausnahme ihrer eigenen, die in einer Welt universell und überlegen ist, in der doch angeblich überhaupt nichts universell oder überlegen ist. Eine solche Haltung ist nicht nur heuchlerisch bis ins Mark, indem sie ihre eigenen Machtund Dominanzstrukturen zu verschleiern versucht, sondern zeugt auch von einem von keinerlei Selbstkritik getrübten Narzissmus. Kontextualität, auf der diese symptomatischen Theorien basieren, bedeutet aber weder Willkür noch Relativität. Sie bedeutet vielmehr: von Kontexten bestimmt, die die Bedeutung einengen. Mit anderen Worten, "Kontext" bedeutet "Beschränkungen", nicht Chaos. Diese Kontexte sind nicht willkürlich, subjektiv, idiosynkratisch, bloß konstruiert oder völlig relativ, gleichgültig, welchen Missbrauch die extremen Postmodernisten mit diesen Theorien auch getrieben haben. Deshalb gab selbst Foucault diesen "bloß konstruktivistischen" Erkenntnisansatz auf; er nannte ihn "anmaßend". Und auch ein entschiedener Vertreter von Gadamers sehr weitgehender Version der Geschichtlichkeit der Wahrheit erklärte, dass "verschiedene Deutungslinien möglich sind, weil kein Kontext absolut ist. Dies ist aber kein radikaler Relativismus, weil nicht alle Kontexte gleichermaßen angemessen oder gerechtfertigt sind ... Kontextualität verlangt Begründungen für Interpretationen, und diese Begründungen sollten nicht weniger faktisch oder objektiv sein als diejenigen eines Objektivisten. [Daher] ist die Wahl eines Kontexts oder Rahmens alles andere als beliebig."
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Bedeutung ist also in der Tat kontextabhängig (es gibt ja nichts als Holons!), aber dies hat nichts mit Willkür oder Relativität zu tun; vielmehr ist diese Bedeutung in verschiedene Kontexte eingebunden, die die Bedeutung einengen. Und selbstverständlich müssen diese Kontexte, seien sie im Künstler, im Kunstwerk, im Betrachter oder in der Welt im allgemeinen, selbst wirkliche, tatsächlich existierende Kontexte sein. Es ist nicht erlaubt, sich irgendwelche Kontexte zusammenzuphantasieren. Vielmehr muss der zur Interpretation herangezogene Kontext aus der Gesamtheit der vorhandenen Evidenz begründet werden. Dies wirft kein gutes Licht auf viele symptomatische Theorien, weil sich viele dieser Ansätze, seien sie imperialistisch, rassistisch, kapitalistisch, ökologisch oder feministisch, einen sehr spezifischen, oft sehr engen Kontext wählen und ihn zum einzigen, beherrschenden, hegemonialen Kontext erheben, in dem alle Interpretationen erfolgen müssen. Die Ergebnisse sind, wie ich oben gesagt habe, oft recht komisch, weil sie bescheidenere Wahrheiten zu kosmischen Proportionen aufblasen. Alfred Kazin, den The New Republic vor kurzem "den größten Literaturkritiker Amerikas" nannte, berichtet von einer typischen Szene, einer Veranstaltung über Emily Dickinson, die die Modem Language Association 1989 durchführte. Der Titel der Veranstaltung war "The Muse of Masturbation", und es war, wie Kazin sagt, "brechend voll". Es ging darum, "dass die verborgene Strategie von Emily Dickinsons Dichtung in ihrer Verwendung kodierter Bilder der klitoralen Masturbation'" lag, "'um die vom Patriarchat des 19. Jahrhunderts auferlegten Zwänge der Geschlechterrolle zu überwinden'." Kazin: "Die Kernaussage war, dass Dickinson in ihrem Werk reichlich von Metaphern wie Erbsen, Krümeln und Blumenknospen Gebrauch machte, mit denen sie anderen weiblichen Eingeweihten geheime Botschaften über verbotene onanistische Wonnen übermittelte."9 Es ist eines, einen Kontext aufzudecken, und es ist etwas anderes, einen Kontext aufzuzwingen. Ein Übermaß an symptomatischer Theorie bedeutet nun einmal das Diktat des Lieblingszusammenhangs und der Lieblingsideologie des Kritikers, dem es gar nicht mehr darum geht, Belege oder Begründungen beizubringen (denn wenn es keine Wahrheit gibt, sondern nur gesellschaftliche Konstruktionen, warum sollte man sich dann noch die Mühe machen, sich mit der Evidenz herumzuschlagen?). So sind wir von der unbestrittenen Tatsache, dass alle Wahrheit kontextabhängig ist und dass Kontexte grenzenlos sind, haltlos in die schwammige Auffassung geschlittert, dass alle Wahrheiten nur subjektiv und relativ, willkürlich und konstruiert sind. Wahrheit ist alles, was einem passt – womit man nichts mehr in Händen hält außer der hohlen Schale des Nihilismus, gefüllt mit der dicken Creme des Narzissmus, ein postmodernes Gebäck aus der Küche des Teufels.
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Schlussfolgerung Bringen wir die postmoderne Szenerie in eine sinnvollere Ordnung. Kontexte sind grenzenlose Mittel: nicht geschachtelte Lügen und willkürliche egomanische Konstruktionen, sondern geschachtelte Wahrheiten, die in breiteren und tieferen Wirklichkeiten verankert sind. Die nihilistische und narzisstische Haltung scheitert schon im Ansatz, und statt eines sinnlosen Relativismus werden reich strukturierte Kontexte von Wert und Sinn sichtbar, auf deren Boden sich begründete Interpretationen erarbeiten lassen. Dass alle Dinge Holons sind, bedeutet, dass alle Dinge Kontexte in Kontexten ohne Ende sind, und jeder Kontext fügt dem ursprünglichen Holon eine neue und wahre Bedeutung hinzu. Der Kunst einen Ort zu geben heißt also, sie in ihre verschiedenen Kontexte einzuordnen. Kunst umfasst in ihrer Entfaltung, die eine Einfaltung ist:
das Urholon, das heißt die ursprüngliche Absicht des Urhebers, wobei vielfältige Bewusste und unbewusste Ebenen der Psyche beteiligt sein können, vom individuellen Selbst bis zu den transpersonalen und spirituellen Dimensionen (das Spektrum des Bewusstseins); das Kunstwerk-Holon selbst, das in Form und Inhalt konkretisierte öffentliche Werk; die Geschichte der Rezeption und Reaktion (die zahlreichen Betrachter-Holons), die in einer bedeutsamen Weise Teil des Werks geworden sind; die umfassenderen Kontexte in der Welt im allgemeinen, das heißt wirtschaftliche, technische, sprachliche und kulturelle Kontexte, ohne die spezifische Bedeutungen erst gar nicht erzeugt werden könnten.
Alle diese Ganzen sind Teile anderer Ganzer, und das Ganze verleiht den Teilen eine Bedeutung, die diese als solche nicht haben. Jedes weitere Ganze, jeder umfassendere Kontext bringt eine neue Bedeutung mit sich, wirft ein neues Licht auf das Werk und konstituiert es dadurch neu. Damit sind bestimmte Bedeutungen eines Kunstwerks einfach die Hervorhebung eines bestimmten Kontexts. Die Interpretation eines Kunstwerks ist die Darstellung und Aufhellung eines besonders ins Auge gefassten Kontexts. Eine begründete Interpretation zu geben heißt, den Nachweis zu fuhren, dass ein bestimmter Kontext in der Tat wirklich und signifikant ist, und für einen solchen Nachweis ist es wie immer notwendig, das Gesamtgefüge der Hinweise sorgfältig zu prüfen.
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Ein Kunstwerk zu verstehen schließlich bedeutet, hermeneutisch so weit und tief wie möglich in den Kontext einzudringen, der das Kunstwerk bestimmt, eine "Verschmelzung der Horizonte" zu vollziehen, durch die ein neues Holon aufscheint und das Verstehen eines Werks zugleich zu einem letztlich befreienden Prozess der Selbsterkenntnis wird. Um das Kunstwerk zu verstehen, muss man sich gewissermaßen in seinen Horizont hineinbegeben, die eigenen Grenzen hinausschieben und bei diesem Prozess wachsen: Die Verschmelzung von Horizonten ist eine Erweiterung des Selbst. Die Gültigkeitskriterien für begründete Interpretationen von bildender Kunst und Literatur liegen letztlich in demjenigen, was der Kritiker für das Wesen und den Ort der Bedeutung in einem Kunstwerk hält. Und ich behaupte, dass diese Bedeutung holonisch ist. Es gibt nicht nur eine richtige Interpretation, weil kein Holon nur einen Kontext hat. Es gibt so viele legitime Bedeutungen, wie es legitime Kontexte gibt, was nicht in den Nihilismus, sondern in die Fülle fuhrt. Dies ist fern von jeglicher Willkür und Relativität, denn es gibt zwar nicht nur eine richtige Deutung, aber andererseits auch sehr viele falsche (das notwendige und wichtige Falsifizierbarkeitskriterium hat ganz gewiss auch seinen Platz in der Kunstinterpretation).10 "Interpretation hängt von den Umständen ab, in denen sie erfolgt ... Eine Strategie zum Auffinden von Kontexten dürfte für jegliche Interpretation als Vorbedingung für die Möglichkeit einer Interpretation unerlässlich sein",11 sagt Hoy. Wie wahr, aber nicht nur als Vorbedingung für die Möglichkeit einer Interpretation, sondern für die Existenz schlechthin: Es gibt nur Holons. Eine integrale Theorie der Kunstinterpretation stellt daher eine mehrdimensionale Analyse der verschiedenen Kontexte dar, in denen und durch die Kunst existiert und zu uns spricht: im Kontext des Künstlers, des Kunstwerks, des Betrachters und der Welt im allgemeinen.12 Weil sie keinen bestimmten Kontext bevorzugt, lädt sie uns ein, stets für neue Horizonte offen zu sein, die unseren eigenen Horizont erweitern und uns aus der Enge unserer Lieblingsideologie und dem Gefängnis unseres isolierten Selbst befreien.
Kunstbetrachtung Wenden wir uns noch einmal der Frage zu, was Kunst letztlich ist. Wenn man zum Beispiel ein großes Werk von van Gogh betrachtet, gewahrt man, was aller großen Kunst gemeinsam ist: die Fähigkeit, uns den Atem zu nehmen, uns ganz buchstäblich innerlich den Atem anhalten zu lassen, zumindest während der ersten Sekunden, in denen man es gewahrt oder es, um genauer zu sein, in unser Wesen eindringt: Man ist ein wenig benommen, ein
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wenig betäubt, für Wahrnehmungen offen, die man bisher nicht hatte. Manchmal geschieht dies natürlich auch in einer sanfteren Weise: Das Werk geht uns langsamer "unter die Haut", und doch ist man irgendwie verändert, manchmal mehr, manchmal weniger, aber man ist verändert. Dies ist der Grund, warum Kunst im Osten und Westen gleichermaßen noch bis vor kurzem in einem Zusammenhang mit tiefen spirituellen Transformationen gesehen wurde. Und ich meine durchaus nicht nur "religiöse" oder "sakrale" Kunst. Einige große Philosophen der neueren Zeit, von Schelling über Schiller bis Schopenhauer, haben auf einen wichtigen Grund dafür hingewiesen, warum große Kunst den Menschen über sich selbst hinausführen kann. Wenn man einen schönen Gegenstand betrachtet, sei er natürlich oder ein Artefakt, stellt man jede andere Aktivität ein und gewahrt nur noch; man möchte nichts als den Gegenstand betrachten. In diesem Zustand der Betrachtung will man nichts von diesem Objekt; man möchte es einfach betrachten, man möchte, dass dies niemals aufhört. Man möchte es nicht essen, es nicht besitzen, nicht vor ihm davonlaufen und es nicht ändern: Man möchte einfach schauen, betrachten, es niemals zu Ende gehen lassen. In diesem kontemplativen Gewahren kommt das eigene ichhafte Ergreifenwollen in der Zeit vorübergehend zur Ruhe. Man gibt sich entspannt seinem einfachen Gewahren hin. Man ruht bei der Welt, wie sie ist, nicht so, wie man sie haben will. Man steht der Stille gegenüber, dem Auge im Zentrum des Sturms. Man handelt nicht, um Dinge zu verändern; man betrachtet das Objekt, wie es ist. Große Kunst besitzt diese Macht, diese Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit zu fesseln und aufzuheben: Man schaut, manchmal ehrfürchtig, manchmal schweigend, aber immer hört die rastlose Bewegung auf, die sonst das Merkmal eines jeden wachen Moments ist. Dabei kommt es nicht auf den tatsächlichen Inhalt des Kunstwerks an. Große Kunst ergreift uns gegen unseren Willen und hebt diesen Willen auf. Man wird auf eine stille Lichtung geleitet, frei von Begehren, frei von Ergreifenwollen, frei vom Ich, frei von Selbstbezogenheit. Und in dieser Öffnung oder Lichtung des eigenen Gewahrens können höhere Wahrheiten aufleuchten, subtilere Offenbarungen, tiefere Zusammenhänge. Für einen Augenblick berührt man vielleicht sogar die Ewigkeit: Wie sonst sollte man es nennen, wenn die Zeit selbst in der Lichtung aufgehoben ist, die große Kunst im eigenen Bewusstsein erzeugt? Man möchte nichts als betrachten; man möchte, dass es nie aufhört, man Vergisst Vergangenheit und Zukunft, Selbst und Identität. Der große Emerson sagt: "Diese Rosen unter meinem Fenster beziehen sich nicht auf frühere Rosen oder bessere Rosen; sie sind, was sie sind, sie existieren im Heute mit Gott. Für sie gibt es keine Zeit. Es gibt nur die Rose; sie ist vollkommen in jedem Augenblick ihres Daseins. Der Mensch aber blickt voraus oder erinnert
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sich; er lebt nicht in der Gegenwart, sondern beklagt mit rückwärts gewandtem Auge die Vergangenheit, ohne auf den Reichtum zu achten, der ihn umgibt; er stellt sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf die Zukunft zu erhäschen. Aber er kann nicht glücklich und stark sein, solange er nicht mit der Natur über der Zeit in der Gegenwart lebt."13 Große Kunst hebt die Rückwärtswendung des Auges, das Klagen über die Vergangenheit, die Sorge vor der Zukunft auf: Man tritt mit ihr in die zeitlose Gegenwart ein, man ist heute noch bei Gott, vollendet in seinem Menschsein, offen für den Reichtum und die Herrlichkeit eines Reiches, das die Zeit vergessen hat und die Kunst uns wieder in Erinnerung ruft, nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihr Wirken in uns: die Aufhebung des Verlangens, woanders zu sein. So löscht sie das unruhige Begehren im Herzen des Leidenden selbst aus und macht uns – vielleicht für eine Sekunde, vielleicht für eine Minute, vielleicht für alle Ewigkeit – frei von allem inneren Aufruhr. Dies ist genau der Zustand, in den uns große Kunst versetzt, gleichgültig, was das Kunstwerk selbst enthält, Bauernschuhe oder Buddhas, Landschaften oder Abstraktionen – es spielt überhaupt keine Rolle. In dieser speziellen Hinsicht – und aus diesem speziellen Kontext – wird große Kunst nach ihrer Fähigkeit beurteilt, uns den Atem zu nehmen, uns unser Selbst zu nehmen, die Zeit wegzunehmen, alles auf einmal. Und was auch immer man unter dem Wort "GEIST" verstehen mag (sagen wir einfach mit Paul Tillich, dass es für jeden von uns unsere höchste Bestimmung beinhaltet): In diesem schlichten ehrfurchtsvollen Augenblick, in dem große Kunst in uns eindringt und uns verwandelt, leuchtet dieser GEIST in die Welt gerade ein klein wenig heller herein als noch einen Augenblick zuvor. Gehen wir noch einen Schritt weiter: Was wäre, wenn es uns irgendwie gelingen könnte, alles in der ganzen Welt als etwas außerordentlich Schönes, als ein erlesenes Stück großer Kunst zu sehen? Was wäre, wenn wir jetzt, in diesem Augenblick, alle Dinge und Ereignisse ohne Ausnahme als Gegenstand außerordentlicher Schönheit erkennen könnten? Nun, wir wären für einen Augenblick im Angesicht dieser Vision erstarrt; all unsere Lust und Unlust käme für einen Augenblick zur Ruhe, wir wären frei von aller Selbstbezogenheit und würden in die fraglose Kontemplation alles Seienden eingehen. Wie ein schönes Objekt oder Kunstwerk für einen Augenblick unseren Willen aufhebt, so würde uns die Betrachtung der Welt als Gegenstand der Schönheit für das fraglose Gewahren dieser Welt öffnen, nicht, wie sie sein könnte oder sollte, sondern wie sie einfach ist. Wäre es dann denkbar, nur einmal als Möglichkeit, dass wir, wenn wir die ausnahmslose Schönheit aller Dinge wahrnehmen, wirklich unmittelbar im Auge des GEISTES stehen, für das der ganze Kosmos ein Objekt der
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Schönheit ist, so wie er ist, einfach weil der ganze Kosmos in der Tat das strahlende Kunstwerk des GEISTES selbst ist? In dieser außerordentlichen Schau ist der ganze Kosmos das Kunstwerk des eigenen höchsten Selbst in all seiner Schöpferherrlichkeit, und deshalb ist auch jedes Objekt in der Welt in Wahrheit ein Objekt strahlender Schönheit, wenn es mit dem Auge des GEISTES wahrgenommen wird. Und umgekehrt, wenn man hier und jetzt alle Dinge und alle Ereignisse im ganzen Universum als Objekt reiner Schönheit sehen könnte, dann würde man notwendigerweise als Ich vergehen und als GEIST erstehen. In einem solchen Augenblick würde man nichts weiter vom Kosmos begehren, als seine unendliche Schönheit und Vollkommenheit zu betrachten. Man würde nicht vom Universum davonlaufen, es fassen oder verändern wollen: In einem solchen kontemplativen Augenblick gibt es weder Furcht noch Hoffnung, noch Bewegung. Man möchte nichts anderes, als in einer unendlichen Betrachtung versunken Zeuge zu sein. Man ist frei von allem Wollen, von allem Begehren, von aller niedrigen Regung und Bewegung. Man ist ein Zentrum reinen und klaren Gewahrens, gesättigt in seinem Sein durch die äußerste Schönheit von allem, was es betrachtet. Nicht ein Staubkörnchen ist von dieser Schönheit ausgeschlossen; kein Objekt, wie "hässlich" oder "furchterregend" oder "schmerzlich" es auch sein mag, nichts ist von dieser kontemplativen Umarmung ausgeschlossen, denn alles und jedes ist uneingeschränkt, gleichermaßen, ohne Ende, das strahlende Leuchten des GEISTES. Wenn man die ursprüngliche Schönheit eines jeden einzelnen Dings im Universum wahrnimmt, dann nimmt man die Herrlichkeit des Kósmos im Auge des GEISTES wahr, das Ich des GEISTES, das radikale Ich-Ich des ganzen Universums. Man ist bis zur Unendlichkeit erfüllt, strahlend vom Licht der tausend Sonnen, und alles ist vollkommen, wie es ist, immer und ewig, während man dies alles betrachtet, sein eigenes größtes Kunstwerk, den ganzen Kósmos, dieses All-Schöne, dieses Objekt unendlicher Freude und Wonne, das im Herzen alles Werdenden erstrahlt. Stelle dir den schönsten Menschen vor, den du kennst. Stelle dir den Augenblick vor, als du ihm oder ihr in die Augen blicktest und für eine flüchtige Sekunde gebannt warst: Du konntest die Augen nicht von dieser Vision losreißen. Die Zeit blieb stehen, und du starrtest gebannt in diese Schönheit. Stelle dir jetzt vor, dass dieselbe Schönheit dir aus jedem einzelnen Ding im ganzen Universum entgegenstrahlt: jedem Stein, jeder Pflanze, jedem Tier, jeder Wolke, jedem Menschen, jedem Gegenstand, jedem Werk, jedem Bach, ja selbst aus den Müllhaufen und gescheiterten Träumen – all dies strahlt diese Schönheit aus. Du bist stumm in der sanften Schönheit von allem erstarrt, was um dich geschieht. Du bist frei von Begehren, frei von der Zeit, frei von Vermeiden, ganz in das Auge des
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GEISTES entlassen, in dem du die unendliche Schönheit des Kunstwerks betrachtest, das die ganze Welt ist. Diese alles durchdringende Schönheit ist keine Übung in schöpferischer Phantasie. Sie ist die tatsächliche Struktur des Universums. Diese alles durchdringende Schönheit ist wahrhaftig jetzt in diesem Augenblick die wirkliche Natur des Kosmos. Sie ist nichts, was man sich vorstellen müsste, weil sie schlicht die tatsächliche Struktur der Wahrnehmung in allen Bereichen ist. Wenn man im Auge des GEISTES bleibt, ist jedes Objekt ein Objekt strahlender Schönheit. Wenn die Tore der Wahrnehmung aufgestoßen sind, ist der ganze Kosmos dein verlorener und wiedergefundener Geliebter, das ursprüngliche Antlitz der ursprünglichen Schönheit, von Anbeginn und in alle Ewigkeit. Im Antlitz dieser betäubenden Schönheit wirst du mit schwindenden Sinnen in deinen eigenen Tod versinken, und nie mehr wird man von dir etwas hören und sehen, außer in jenen sanften Nächten, in denen der Wind sacht über die Hügel und Berge geht und leise deinen Namen ruft.
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Kapitel 6 Der wiedergewonnene Gott Die Retroromantiker und ihre verhängnisvollen Fehler Innerhalb der Psychologie ist heute die transpersonale Psychologie diejenige Schule, die spirituelle Erfahrungen ernst nimmt. Etwa fünf grundlegende Ansätze der transpersonalen Psychologie sind heute von besonderem Einfluss: die Systemtheorie, veränderte (oder diskrete) Bewusstseinszustände, Stan Grofs holotropes Modell, verschiedene Formen jungianischer Psychologie (wie zum Beispiel Michael Washburns "neojungianische" Haltung) und mein eigener Spektrum- oder integraler Ansatz. Ich behaupte, dass das integrale Modell nicht nur die Grundmerkmale der übrigen Modelle einschließt, sondern darüber hinaus auch viele weitere wichtige Bereiche, die von diesen ignoriert werden, und dass es daher eine erheblich größere Bandbreite an Forschungen und Forschungsergebnissen abdeckt. In diesem und im nächsten Kapitel werden wir uns mit dieser Behauptung auseinandersetzen und in einen Dialog mit den wichtigsten Vertretern dieser alternativen Modelle eintreten.
Kurze Zusammenfassung meines Bewusstseinsmodells Beginnen wir mit dem Werk von Michael Washburn und seinem Begriff des "dynamischen Grundes".1 Washburn ist ein sehr klarer und sorgfältiger Autor, und ich schätze seine Formulierungen, auch wenn ich nicht immer mit ihm einer Meinung bin. Ich lerne aus seinen Darstellungen immer etwas dazu, und ich habe seine Veröffentlichungen immer nachdrücklich verteidigt. Um so enttäuschender ist es, dass er dazu neigt, mein Gesamtmodell falsch wiederzugeben. Weil dieses Missverständnis sehr verbreitet ist, will ich versuchen, meine Auffassung nochmals so genau wie möglich darzustellen. Wie ich in Die drei Augen der Erkenntnis und Psychologie der Befreiung (und nochmals zusammengefasst in Eine kurze Geschichte des Kosmos) erklärt habe, weist das Bewusstseinssystem als Ganzes (der obere linke
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Quadrant) meiner Meinung nach mindestens drei Hauptkomponenten auf: Grundstrukturen, vorübergehende (transitorische) Strukturen und das Selbst (oder Selbstsystem). Grundstrukturen und die Große Kette Zunächst gibt es die relativ beständigen oder dauerhaften Strukturen, diejenigen Merkmale, die nach ihrem Auftauchen im Entwicklungsgang bestehen bleiben, wie zum Beispiel sprachliche Kompetenz, kognitive Fähigkeiten, räumliche Koordination, motorische Fertigkeiten usw. Diese dauerhaften Strukturen bauen in der Regel auf schon vorhandenen Strukturen auf und fügen diese üblicherweise zu einem größeren und integrierteren Ganzen zusammen. Die wichtigsten dieser dauerhaften Strukturen nenne ich Grundstrukturen, und diese sind die grundlegenden Holons des Bewusstseins selbst. Die Grundstrukturen des Bewusstseins sind letztlich die traditionelle Große Holarchie des Seins (wie sie zum Beispiel bei Plotin, Asanga oder Aurobindo dargestellt ist).2 Mit anderen Worten, die Grundstrukturen sind einfach die Hauptebenen im Spektrum des Bewusstseins von der Materie über den Körper zum Geist zur Seele und zum GEIST. Im ersten Kapitel habe ich gezeigt, dass man dieses Spektrum auf viele verschiedene und gleichermaßen gültige Arten untergliedern kann. In Das Atman-Projekt habe ich siebzehn grundlegende Ebenen oder Grundstrukturen im Gesamtspektrum angegeben, unter anderem Stoff, Empfindung, Wahrnehmung, Impuls, Bild, Symbol, Begriff, Regel, formale Ebene, Schau-Logik, psychische, feinstoffliche, kausale und nichtduale Ebene. Üblicherweise vereinfache ich dies auf neun oder zehn der wichtigsten Grundstrukturen, die meiner Meinung nach das mindeste sind, was man für eine adäquate Darstellung des Gesamtspektrums und seiner Entwicklung braucht. Dies sind die sensomotorische, phantasmischemotionale, repräsentationale Ebene, Regel/Rolle, formale Ebene, SchauLogik und psychische, feinstoffliche, kausale und nichtduale Ebene. Wie man diese Ebenen jeweils nennen will, ist von untergeordneter Bedeutung (den interessierten Leser verweise ich diesbezüglich auf meine einschlägigen Werke). Wichtig ist, wofür sie stehen, nämlich das Spektrum des Bewusstseins selbst, die Große Holarchie des Seins. Wie schon gesagt, wird dieses Spektrum manchmal auf Materie, Körper, Geist, Seele und GEIST vereinfacht. Und selbst dies wird nochmals auf Körper, Seele und GEIST verkürzt (oder grobstoffliche, feinstoffliche und kausale Ebene). Für die nachfolgende Darstellung möchte ich jedoch neun oder zehn Grundstrukturen als Hauptebenen des Spektrums des Bewusstseins heranziehen.
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Übergangsstrukturen Neben diesen dauerhaften Grundstrukturen, die, wenn sie auftauchen, normalerweise bestehen bleiben, gibt es jedoch auch Merkmale, die relativ transitorisch oder vergänglich sind; sie tauchen auf und werden dann nach und nach verdrängt oder ersetzt. Das wichtigste Beispiel hierfür sind die Stadien der moralischen Entwicklung. Wenn die moralische Stufe 2 emergiert, schließt sie die moralische Stufe 1 nicht ein, sondern ersetzt sie. Zu den wichtigsten Übergangsstrukturen zählen Weltsichten (z. B. die archaische, magische, mythische, mentale, existentielle, psychische usw.; siehe Gebser), Selbstbedürfnisse (z.B. Sicherheit, Zugehörigkeit, Selbstachtung, Selbstverwirklichung, Selbsttranszendenz; siehe Maslow), Selbstidentität (z.B. Uroboros, Typhon, Persona, Ego, Zentaur, Seele; siehe Loevinger) und moralische Stadien (z. B. die präkonventionelle, konventionelle, postkonventionelle, post-postkonventionelle, siehe Nucci, Kohlberg, Gilligan).3 Wenn eine bestimmte Übergangsstruktur aktualisiert ist, ist sie natürlich ebenso wichtig und konkret wie die dauerhaften Strukturen; Übergangsstrukturen sind einfach meist von kürzerer Dauer, während dauerhafte Strukturen in der Regel bestehen bleiben. Das Entscheidende ist: Während der Entwicklung des Spektrums des Bewusstseins in einem Menschen bleiben die Grundebenen des Spektrums vorhanden, während Teile dieser Entwicklung temporär und transitorisch sind und früher oder später verschwinden. Der bedeutsame Unterschied zwischen den dauerhafen und den transitorischen Strukturen lässt sich leicht an einem Vergleich zwischen Piaget und Kohlberg aufzeigen. Bei der kognitiven Entwicklung bleibt grundsätzlich jede Stufe in der darauffolgenden enthalten, so dass die frühere Stufe immer ein wesentlicher Bestandteil der späteren ist. Wenn zum Beispiel Bilder emergieren, hat das Individuum vollen und beständigen Zugang zu seiner Fähigkeit, Bilder zu formen. Bilder werden ein unverzichtbarer Bestandteil des höheren symbolischen, begrifflichen und formalen Denkens sein. In der moralischen Entwicklung läuft dagegen der Prozess ganz anders ab: Höhere Strukturen gliedern niedrigere nicht ein, sondern ersetzen sie. Eine Person auf der moralischen Stufe 3 hat keinen Zugang zur moralischen Stufe 1, denn diese Stufen sind miteinander unverträglich (ein Konformist kann nicht gleichzeitig ein egozentrischer Aufrührer sein). Eine Person auf der moralischen Stufe 3 kann nicht einmal mehr in den Kategorien der moralischen Stufe 1 denken; diese früheren Strukturen haben sich längst aufgelöst und wurden ersetzt (wenn man einmal von pathologischen Zuständen wie Fixierung, Verdrängung usw. absieht).4 Seit ich einen Artikel über diese beiden verschiedenen Arten von Entwicklung ("Ontogenetic Development: Two Fundamental Patterns", 1981) veröffentlichte, habe ich die große Bedeutung dieser Unterscheidung immer
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wieder hervorgehoben, weil hiervon der ganze Begriff der Transzendenz abhängt. Entwicklung könnte in der Tat nach dem Gesetz des "Transzendierens und Einschließens" oder "Negierens und Erhaltens" ablaufen. Aber was wird negiert, und was wird erhalten? Was bleibt, und was wird ersetzt? Was hat Bestand, und was wird verworfen? Buddhas transzendieren die Empfindung eines getrennten Selbst, aber auch Buddhas müssen essen. Manche Dinge vergehen, und manche Dinge bleiben. Mein Standpunkt ist, dass höhere Entwicklung (wie alle Entwicklung) Grundstrukturen einschließt und eingliedert, aber Übergangsstrukturen ersetzt und dekonstruiert, und wenn diese beiden Dinge nicht auseinandergehalten werden, ist es um jegliche Entwicklung geschehen. Das Selbst und seine Drehpunkte Vermittelnd zwischen diesen Grundstrukturen und den Übergangsstrukturen steht die dritte Hauptkomponente, das Selbst-System oder die Selbst-Empfindung (oder einfach das Selbst). Dieses Selbst-System ist in vielerlei Hinsicht am wichtigsten, weil es die Bühne des Handelns darstellt. Ich habe die Meinung vertreten, dass das Selbst-System der Ort verschiedener entscheidender Fähigkeiten und Operationen ist, nämlich Identifikation (der Ort der Selbst-Identität), Organisation (was der Psyche ihren Zusammenhalt verleiht), Wille (der Ort der Auswahl innerhalb der Zwänge der gegenwärtigen Entwicklungsebene), Abwehr (der Ort der Abwehrmechanismen, der phasenspezifisch und phasentypisch, hierarchisch organisiert ist), Stoffwechsel (die "Verdauung" der Erfahrung) und Navigation (Entwicklungsentscheidungen).5 Weiterhin habe ich gesagt, dass das Selbst zwischen Grundstrukturen und Übergangsstrukturen vermittelt, und zwar in folgender Weise: Weil das Selbst der Ort der Identifikation ist, erzeugt diese ausschließliche Identifikation jedesmal, wenn sich das Selbst mit einer sich entwickelnden Grundstruktur identifiziert, die zugehörigen Übergangsstrukturen bzw. stützt diese. Wenn sich also zum Beispiel das Selbst mit dem präoperationalen Denken (Symbole und Konzeptionen) identifiziert, unterstützt dies eine präkonventionelle moralische Haltung (Kohlberg), eine Gruppe von Sicherheitsbedürfnissen (Maslow) und eine schützende Selbst-Empfindung (Loevinger). Wenn sich höhere Grundstrukturen entwickeln (zum Beispiel konkrete operationale Regeln), dann verlagert das Selbst (sofern es nicht fixiert ist) seine zentrale Identität auf diese höhere und breitere Organisation, wodurch eine neue moralische Haltung (konventionell), eine neue Gruppe von Selbst-Bedürfnissen (Zugehörigkeit) und eine neue Selbst-Empfindung (konformistische Persona) entsteht usw.6 Auf dieser neuen und höheren Stufe hat das Selbst freien und ungehinderten Zugang zu den davorliegenden Grundstrukturen wie zum
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Beispiel Symbolen und Konzeptionen, aber nicht mehr zu den früheren Übergangsstrukturen, weil diese eben dann erzeugt wurden, als das Selbst sich ausschließlich mit den niedrigeren Stufen identifizierte, und diese Identifikation ist jetzt überwunden. In dieser Weise werden Grundstrukturen erhalten und Übergangsstrukturen verworfen, weil sich Bewusstsein und Identität erweitern und dabei ihre niedrigeren und seichteren Hüllen abwerfen. Bei der Bewältigung der aufeinanderfolgenden Grundstrukturen (oder Grundebenen im Spektrum des Bewusstseins) geht das Selbst-System von einer engeren zu einer weiteren Identität über und durchläuft dabei einen Drehpunkt oder Wendepunkt in seiner Entwicklung. Sooft also das Selbst zu einer neuen Stufe des Bewusstseins fortschreitet (das heißt, sooft es sich mit einer neuen und breiteren Grundstruktur identifiziert), durchläuft es einen Prozess (1) der Verschmelzung oder Verbindung oder Einbettung, (2) der Differenzierung oder Transzendenz oder Ausgliederung und (3) der Aufnahme oder Integration. Dieser dreistufige Prozess stellt einen Wendepunkt der Selbst-Entwicklung dar, und es gibt so viele Wendepunkte der Selbst-Entwicklung, wie es zu bewältigende Grundstrukturen gibt. Das Selbst beginnt daher auf jeder Entwicklungsebene in Verschmelzung oder Einheit mit der Grundstruktur dieser Ebene. Sein Identifikationsort – oder sein "Schwerpunkt" – kreist um diese Grundstruktur: Er bildet eine Einheit mit ihr. Aber mit fortschreitender Entwicklung endet diese Einheit; das Selbst differenziert sich, lässt diese Struktur "los" oder transzendiert sie und identifiziert sich mit der nächsthöheren Stufe, wobei zugleich die vorherige Grundstruktur in die neue Organisation aufgenommen wird. Die ausschließliche Einheit mit der niedrigeren Struktur wird aufgelöst (transzendiert oder negiert), wobei aber die Fähigkeiten und Kompetenzen dieser Grundstruktur selbst in die neue und höhere Organisation eingegliedert und integriert ("Erhaltung und Einschließung") werden. Der Schwerpunkt des Selbst identifiziert sich jetzt vorwiegend mit einer höheren Grundstruktur des Bewusstseins, und diese Identifikation und Einbettung erzeugt die Übergangsstrukturen dieser Stufe (moralische Haltung, SelbstBedürfnisse, Selbst-Empfindung usw.). Jeder Grundstruktur der Entwicklung entspricht also ein "Drehpunkt" der Selbst-Entwicklung, ein Prozess der (1) Verschmelzung / Identifikation/Einbettung, (2) Differenzierung/EntIdentifikation/Transzendenz und (3) Integration /Aufnahme/Einschließung. Natürlich kann man Entwicklung auf zahllose Arten und praktisch unendlich gliedern und untergliedern, aber ich habe, wie gesagt, festgestellt, dass man mindestens neun oder zehn Grundstrukturen oder Ebenen des Spektrums des Bewusstseins braucht, um die relevantesten Tatsachen der Gesamtentwicklung darstellen zu können. Jeder dieser zehn Grundstrukturen entspricht ein Drehpunkt der Selbst-Entwicklung, ein dreistufiger Prozess der
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Verschmelzung, Differenzierung und Integration, der bei jedem Fortschreiten des Selbst-Systems eine neue Sprosse der sich ausdehnenden Sphären des Bewusstseins erklimmt. Ich habe auch gesagt, dass das Gewicht klinischer Befunde klare Hinweise darauf liefert, dass an jedem Drehpunkt bestimmte pathologische Störungen auftreten können: psychotische, Borderline-, neurotische, Skript-, Identitäts-, existentielle, psychische, subtile und kausale Pathologien.7 Ich habe in verschiedenen Veröffentlichungen eine Fülle von Beispielen für diese Entwicklungspathologien gegeben, und ich habe auch Therapieformen vorgeschlagen, die hierfür am besten geeignet sein könnten.8 Einem "Spektrum von Pathologien" entspricht ein "Spektrum von Behandlungsmodalitäten". Diese Sichtweise ist die einzige mir bekannte Möglichkeit, wie man wenigstens ansatzweise der großen Fülle klinischen Materials wie auch von Belegen für veränderte Bewusstseinszustände gerecht werden könnte. (Dieses Modell deckt ausdrücklich auch diskrete Bewusstseinszustände ab, was ich in einer Endnote erläutere9, und es macht ausdrücklich auch die zahlreichen verschiedenen Entwicklungslinien sichtbar, die "quasiunabhängig" durch die Grundebenen hindurch evolvieren. Diesen beiden Themen werden wir uns im Laufe der Diskussion noch ausführlicher zuwenden.) Nach dieser kurzen Zusammenfassung können wir uns jetzt mit einigen häufigen Missverständnissen dieses Modells auseinandersetzen. Wilbers Modell ist streng linear und übersieht damit all die amorphen und nichtlinearen Aspekte des Lebens. Linear in einem irgendwie strengeren Sinne sind nur die Grundstrukturen, insofern sie keine wesentlichen Auslassungen oder Umkehrungen zulassen. Bilder tauchen vor Symbolen auf, diese vor Begriffen und diese vor Regeln. Das gilt für beide Geschlechter gleichermaßen. Wir kennen keine Gesellschaft, in der diese Reihenfolge eine andere wäre. Es ist auch durch die nachdrücklichste gesellschaftliche Konditionierung nicht möglich, diese Reihenfolge umzukehren, und es sind keine Ausnahmen von Belang bekannt. Mit anderen Worten, die Forschungen haben immer nur bestätigt, dass diese Grundstrukturen überall dort, wo sie auftreten, geschlechtsneutral, interkulturell, unwandelbar und holarchisch sind (wobei mit "Holarchie" "geschachtelte Hierarchie" gemeint ist – siehe Kapitel 1). Wie sich Eicheln in einer Aufeinanderfolge linearer, unumkehrbarer Entwicklungsschritte zu einer Eiche entwickeln, so entfalten sich die Grundkomponenten (die Grundstrukturen) der menschlichen Psyche in einer holarchischen Aufeinanderfolge von Differenzierung und Integration. Wörter kommen nach Buchstaben und Sätze nach Wörtern, weil die spätere Stufe
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jeweils die vorherige einschließt und auf ihr aufbaut und selbst wiederum zu einem Bestandteil wird (jedes höhere Holon hüllt das niedrigere Holon ein). Es ist klar, dass es ohne Buchstaben keine Sätze geben kann. Und das höhere und umfassendere Holon folgt in der Entwicklung später, weil es die früheren und unvollständigeren Elemente zusammenfasst und integriert. Der Begriff "linear" wird oft in einer höchst abschätzigen Weise gebraucht und der vielgepriesenen holistischen Alternative gegenübergestellt, die irgendwie "nichtlinear" sein soll. Aber die allermeisten organischen und holistischen Systeme entfalten sich gerade in unumkehrbaren Stufen wachsender Einschließung und Einfaltung – von der Eichel zur Eiche, vom Samen zur Rose –, und sie tun dies zwangsläufig und unvermeidlich im linearen Strom des Zeitpfeils (ein Punkt, den Prigogine im Zusammenhang mit dissipativen Strukturen stets betont). Nichts anderes bedeutet "linear" auch in den Entwicklungswissenschaften (unumkehrbare geschachtelte Einfaltung), und in gewissen Aspekten ist die Entwicklung des Menschen linear, wofür die experimentelle und die klinische Forschung Belege in Überfülle gesammelt haben. Theorien, die diese linearen Aspekte unberücksichtigt lassen, sind allein schon deshalb zum Scheitern verurteilt. Nichtlinear ist aber insbesondere die Selbst-Empfindung. Das Selbst kann mühelos über das ganze Spektrum des Bewusstseins (oder das Spektrum der Grundstrukturen) schweifen. Deshalb ist das Selbst dort, "wo das Handeln ist". Es kann vor- und zurückspringen, sich in einer Spirale bewegen, zur Seite treten und beliebige dialektische Kehrtwendungen vollziehen. Wie Plotin vor langer Zeit sagte, kann sich das Selbst nur deshalb mit den Grundstrukturen identifizieren, weil diese keine Selbst-Empfindung haben.10 Und sooft das Selbst dies tut, erzeugt es – nach meinem Modell – bestimmte Übergangsstrukturen. Es betrachtet die Welt aus dem Blickwinkel der Grundstruktur, mit der es sich gegenwärtig identifiziert und die jetzt ihr "Schwerpunkt" ist, und es hängt von den Grenzen dieser Dimension ab, was es aus diesem Blickwinkel sieht und sehen kann. Wachstum bedeutet die Aufgabe einer engeren und flacheren Bewusstseinsebene zugunsten einer Erweiterung auf umfassendere, tiefere und höhere Modi. Während sich also die Grundstrukturen in einer linearen (und durchaus holarchischen) Weise entfalten, wobei jede höhere Dimension die niedrigere einschließt und einfaltet, verläuft die Reise des Selbst durch diese sich ausdehnenden Bewusstseinssphären keineswegs so "linear". Das Selbst kann "überall" sein und ist dies in der Regel auch. Dies bedeutet, dass makroskopisch ein Entwicklungsfortschritt des Selbst vom Engeren zum Weiteren, vom Flacheren zum Tieferen sichtbar wird, eine grundsätzliche Erweiterung der Identität vom Stoff über den Körper, den Geist und die Seele
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zum GEIST. Dessen ungeachtet verläuft mikroskopisch die Reise des Selbst durchaus chaotisch, auf einer erratischen Bahn, nicht wie auf Schienen. Deshalb sind die Übergangsstrukturen, wiewohl auch bei ihnen eine langfristige Entwicklung festzustellen ist, relativ instabil. So haben zum Beispiel Forschungen gezeigt, dass die Reaktionen eines Menschen, der etwa auf der moralischen Stufe 3 ist, nur zu 50% aus dieser Ebene stammen. 25% seiner Reaktionen stammen von höheren Ebenen, 25% von niedrigeren. Mit anderen Worten, sein Schwerpunkt liegt auf der moralischen Stufe 3, aber das Selbst ist "überall". Ich glaube, dass man nur dann, wenn man alle diese drei Komponenten berücksichtigt – "lineare" Grundstrukturen, das "über das Ganze verteilte" Selbst-System und die instabilen, aber grundsätzlich in einem Fortschritt begriffenen Übergangsstrukturen –, die Überfülle von Befunden aus klinischen, meditativen, phänomenologischen und empirischen Studien in Ost und West wenigstens andeutungsweise begreifen, würdigen und einordnen kann. Und ich habe festgestellt, dass alle Modelle, die weniger als dies leisten, entschieden zuwenig leisten. Wilber schenkt den Konflikten auf den präegoischen Stufen zuwenig Aufmerksamkeit. Diese Behauptung stammt von Washburn, und ich muss gestehen, dass ich sie nicht verstehe. "Das Hauptthema der präegoischen Phase ist für Wilber die Entwicklung der niedrigeren Grundstrukturen."11 Aber dies ist, wie wir gerade gesehen haben, nur ein Drittel der Geschichte. Die beiden anderen Drittel sind die Übergangsstrukturen und das Selbst-System mit seinen Drehpunkten, das heißt dem Ort, "wo das Handeln ist". Die präegoische Phase umfasst grob die ersten vier Drehpunkte der Selbst-Entwicklung (Drehpunkt 0: die prä- und perinatale Stufe, Drehpunkt 1: grob die ersten achtzehn Monate, Drehpunkt 2: erstes bis drittes Lebensjahr, und Drehpunkt 3: um das dritte bis sechste Lebensjahr). Diese Drehpunkte sind für die ganze Selbst-Entwicklung vermutlich von entscheidender Bedeutung, denn hier wird die Grundlage für alles Spätere gelegt. Darüber hinaus sind sie die wesentlichen ätiologischen Drehpunkte für einige schwere Pathologien (Psychosen, Borderline-Syndrom, Neurosen). Das Selbst-System ist, wie ich an anderer Stelle angedeutet habe, der Ort der Abwehrmechanismen (wie zum Beispiel Introjektion, Projektion, Ichspaltung, Verneinung, Reaktionsbildung, Verdrängung usw.; diese sind in einer hierarchischen Struktur angeordnet). Daher können spezifische Aspekte von Bewusstseinsstrukturen in der einen oder anderen Weise vom Strom der Bewusstseinsentwicklung abgespalten werden, wenn sie vom Selbst-System als Bedrohung empfunden werden.12
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Diese abgekapselten (oder in anderer Weise dissoziierten) Komponenten wirken als Läsionen des Gewahrseins, die das Bewusstsein mit symptomatischen Äußerungen (zum Beispiel verschiedenen Pathologien) untergraben. Das Selbst kann diese entfremdeten Aspekte seiner selbst nicht wirklich auflösen und transzendieren, weil sie jetzt verborgen und eingekapselt sind. Sie bleiben als Nester unbewusster Bindungen, Identifikationen und Intentionen zurück, die das Selbst nicht ungeschehen machen und nicht loslassen kann. Sie sind "kleine Subjekte", die sich nicht differenzieren und transzendieren und damit nicht wirklich integrieren lassen; sie führen vielmehr terroristische Angriffe aus dem Untergeschoss, aus dem Ort ihrer unbewussten Bindung und Fixierung. Dies ist Selbstentfremdung, Verdrängung und Krankheit. Da die meisten Abwehrmechanismen durchaus verbreitet und normal (und phasenspezifisch) sind, geht praktisch niemand völlig unbeschadet aus den frühen Entwicklungsstufen hervor; diesbezüglich bin ich mit Washburn grundsätzlich einig. Unsere Meinungsverschiedenheit betrifft lediglich die Frage, was genau auf diesen frühen Stufen verdrängt oder dissoziiert wird. Für Washburn ist dies nichts anderes als der "dynamische Grund", der unterdrückt oder aus dem Bewusstsein des Kindes verdrängt wird. Was aber meiner Meinung nach wirklich verdrängt wird, sind letztlich verschiedene Affekte, Emotionen, diffuse physische Empfindungen, Sinnlichkeit und emotionell-sexuelle Energien im allgemeinen: der Gesamtbereich von Prana, der Lebensenergie. Washburn meint, dass bestimmte präegoische Fähigkeiten und der dynamische Grund selbst notwendigerweise verloren gehen müssen und dass die Wiedergewinnung dieser verlorenen Fähigkeiten die Voraussetzung für eine transpersonale Entwicklung ist. Das Individuum müsse auf die frühesten Kindheitsstufen regredieren, in einer Spiralbewegung zum verlorenen dynamischen Grund zurückkehren und von dort aus die Entwicklung zur Transzendenz vollziehen. Bei ihm ist praktisch immer eine signifikante Regression die Voraussetzung für transpersonales Wachstum. Ich glaube dagegen, dass Regression häufig und manchmal notwendig ist, aber nicht deshalb, weil der dynamische Grund im ersten Lebensjahr verloren ginge, sondern weil gerade die Verdrängung jeweils das weitere Wachstum behindert. Je massiver die Verdrängung in den frühen Phasen ist, desto stärker wird höheres Wachstum behindert. Nach meiner Auffassung ist daher die "Regression im Dienste des Selbst" eine Rückkehr und eine Wiederverbindung mit den entfremdeten Gefühlen, Emotionen, Affekten und emotionell-sexuellen Energien, die an den frühen Drehpunkten dissoziiert wurden. Wenn diese wieder in das Selbst-System integriert werden, erleichtert dies das weitere Wachstum in Richtung der höheren und transegoischen Reiche. Damit kann Regression im Dienste des Selbst durchaus
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manchmal eine Voraussetzung für die Transzendenz des Selbst sein – aber sie ist nicht der eigentliche Mechanismus des transpersonalen Wachstums. Der Hauptunterschied betrifft also die Frage, ob so etwas wie ein dynamischer Grund tatsächlich, wie Washburn meint, im ersten Lebensjahr aus dem Bewusstsein ausgetrieben wird. Wie ich weiter unten zeigen werde, ist eine solche Auffassung in sich unstimmig (und zwar auch dann, wenn man, wie ich es tue, die Bardo- oder Zwischenreiche einschließt). Bis dahin erklärt mein eigenes Modell die schweren Konflikte in den ersten Lebensjahren sehr gut.
Wilbers Modell leugnet das Selbst vollständig. Verschiedene Kritiker haben behauptet, ich würde dem Selbst keinerlei Bedeutung beimessen oder ihm nur eine relative Existenz zubilligen. Ich weiß nicht, wie man dies angesichts der Tatsache behaupten kann, dass ich mindestens sechs Merkmale des Selbst-Systems (von der Identifikation über die Abwehr bis zum Willen) angegeben habe. Das ist doch, wie ich meine, für etwas, was angeblich nicht existiert, eine ganze Menge. Das Selbst-System ist in jeder Übergangsstruktur anwesend; es ist aber selbst keine Übergangsstruktur, sondern bringt diese vielmehr hervor. Das Selbst-System ist eine inhärente funktionelle Fähigkeit der Psyche, die, insofern es sich mit Grundstrukturen identifiziert, verschiedene Übergangsstufen hervorbringt; es ist ein Selbst, das seine Identität von der Materie über den Körper, den Geist, die Seele und den GEIST in einer großen Holarchie wachsender Einschließung entfaltet. Dieses Missverständnis beruht zum grössten Teil auf einer schwerwiegenden semantischen Verwechslung. Die Frage lautet doch: "Gibt es auf den höheren Entwicklungsstufen irgendeine Art von 'Selbst'?" Und die Antwort lautet: "Das hängt ganz davon ab, was man mit 'Selbst' meint." Wenn mit "Selbst" eine ausschließliche Identität mit der individuellen KörperSeele gemeint ist, dann ist dieses Selbst offensichtlich mit dem Emergieren der höchsten Identität weitgehend dekonstruiert, weil der "Schwerpunkt" sich vom Organismus auf das All verlagert. Das Selbstsystem identifiziert sich nicht mehr ausschließlich mit den Grundstrukturen des Geistes (dies bringt die als "Ich" bezeichnete transitorische Selbst-Empfindung hervor), sondern vielmehr mit den Strukturen des Kósmos überhaupt, dessen SelbstEmpfindung die höchste Identität des göttlichen Selbst ist. Mit anderen Worten, das Selbst-System geht vom individuellen Ich zu einem göttlichen Selbst oder GEIST über, den man je nach persönlicher Vorliebe als NichtSelbst oder Großes Selbst bezeichnen kann. Aber die ausschließliche Identifikation, das engere "Ich", geht dabei natürlich unter.
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Wenn man dagegen mit "Ich" jenen Aspekt des Selbstgewahrseins meint, der sich in der Auseinandersetzung mit der grobstofflichen gewöhnlichen Welt und ihrer sensomotorischen Wirklichkeit entwickelt, dann bleibt dieses Ich natürlich bestehen. "Ich" in diesem Sinne bezeichnet keine Übergangsstruktur, die durch höhere Selbste ersetzt wird, bis nur noch das SELBST vorhanden ist, sondern vielmehr eine funktionelle Kompetenz, die zu den dauerhaften Strukturen der Psyche gehört. In diesem Fall bleibt das Ich selbstverständlich bei der höheren Entwicklung erhalten. Ich habe von meinem ersten bis zu meinem jüngsten Buch durchgehend beide Positionen vertreten: dass nämlich das Ich als Kompetenz in der höheren Entwicklung erhalten bleibt, während das Selbst als Empfindung einer ausschließlichen Identität durch immer höhere und umfassendere Identitäten ersetzt wird. Beide Auffassungen sind zutreffend. Und ich bekomme regelmäßig Streit mit Leuten, die ausschließlich einer dieser Auffassungen anhängen und mir vorwerfen, ich würde nur die andere vertreten. Washburn ist diesbezüglich einfach der letzte in einer langen Reihe von Kritikern, der in diesem Fall behauptet, ich leugnete das Überdauern des Selbst bei jeglicher Form einer Höherentwicklung. Da er behauptet, dass dies meine Auffassung sei, wie ich sie in Das Atman-Projekt vertreten habe, wiederhole ich hier, was ich wirklich gesagt habe: Das Selbst muss sich vom Ich differenzieren, sich von ihm entidentifizieren, es transzendieren und dann in die höheren und neu auftauchenden Strukturen integrieren. Doch bedenken Sie bitte, dass das Ich intakt bleibt, wenn das Selbst sich von ihm ent-identifiziert – so wie auch der Körper intakt blieb, als das Ich ihn transzendierte. Transzendenz bedeutet nicht Deformierung. Man besitzt immer noch ein Ich – nur ist die Identität nicht mehr ausschließlich daran gebunden. (S. 236 f.) Washburn nennt fünf Punkte, in denen sich unser Modell seiner Meinung nach grundsätzlich unterscheidet. Dies sind natürlich diejenigen Elemente, die ihm zufolge mein Modell unberücksichtigt lässt und die sein Modell zur besseren Alternative machen. Wenn man aber mein Gesamtmodell heranzieht und nicht die von Washburn präsentierte Rumpfversion, dann wird diesen Einwänden sofort der Boden entzogen und erweist sich Washburns Position als völlig unhaltbar.13 Eine Frage bleibt jedoch noch, nämlich die Frage nach der Natur des präegoischen Potentials. Worum handelt es sich bei jenem "dynamischen Grund", der angeblich beim Kind "uneingeschränkt vorhanden" ist und bei der weiteren Entwicklung verloren geht? Hier enthält Washburns Modell tatsächlich etwas, was in meinem Modell fehlt. Wenn sein Modell allerdings
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auch in diesem Punkt nicht stichhaltig ist, dann ist nichts mehr vorhanden, wodurch es sich als Alternative empfehlen könnte. Wenden wir uns nunmehr also dieser Frage zu.
Das romantische Modell Ich war selbst einst ein Verfechter des romantischen Modells. Dieser Auffassung zufolge ist das Kind bei der Geburt (und ebenso die Menschheit in ihrer Morgendämmerung) der "edle Wilde", ganz in den holistischen und einzigen Urgrund eingebettet, "harmonisch eins mit der ganzen Welt". Dann aber geht dieser Urgrund durch die Aktivitäten des analytischen und spaltenden Ich verloren; er wird unterdrückt oder zu einem historischen Ereignis entfremdet (das heißt, er ist kein gegenwärtig auftretendes involutives Ereignis). Trotzdem ist, immer dieser romantischen Auffassung zufolge, dieser historische Verlust, der Verlust eines früher Aktuellen notwendig, damit das Ich zu einer reifen Unabhängigkeit gelangen kann. Dann werden in einer dritten großen Bewegung (nach der anfänglichen Einheit und dem anschließenden Auseinanderfallen) das Ich und der Urgrund in einer regenerativen Heimkunft und spirituellen Vermählung wiedervereint, wodurch der Urgrund wiedergewonnen wird, jetzt aber "auf einer höheren Ebene" oder "in einer reifen Form". So also in groben Zügen die romantische Auffassung. Und ich habe in der Tat sowohl die Arbeit an Das Atman-Projekt und an Halbzeit der Evolution mit der Absicht in Angriff genommen, diese Auffassung ontogenetisch (AtmanProjekt) und phylogenetisch (Halbzeit) zu untermauern. Ich halte mir sogar zugute, dass ich dieser alten Auffassung einige neue Gedanken hinzugefügt habe. Aber auch wenn dieses romantische Modell von Jung und den Jungianern (insbesondere Edinger und Neumann) mit Nachdruck vertreten wurde und obwohl ich mit einigen ihrer grundsätzlichen Aussagen völlig einverstanden war, fühlte ich mich auch zu einigen der kühneren Theoretiker der psychoanalytischen Theorie wie Roheim, Ferenczi und Norman O. Brown hingezogen, die durchaus auch auf der Linie dieses romantischen Modells waren. Diese psychoanalytischen Theoretiker würden es mir erlauben, so meine Hoffnung, eine sehr genaue Darstellung der Stufen dieses Verlustes des Urgrundes, des wahren Selbst, des Atman zu geben. Bezüglich der ontogenetischen Entwicklung zum Beispiel postulierte ich folgendes (wobei ich all diese verschiedenen Quellen zusammenführte): Das Kind beginnt im Zustand einer praktisch reinen Adualität, ganz in den Urgrund und das wahre Selbst (Atman) eingebettet, so dass Subjekt und Objekt eins sind; das Selbst
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und die "ganze Welt" sind eins. Dann werden durch die, wie ich es nannte, "primäre Verdrängung" Subjekt und Objekt gespalten. Das Selbst und die Welt (als die Große Mutter) werden gespalten und einander entfremdet, und die Welt der Dualität bricht in diesem Alptraum der Trennung, mit Tragik und Schrecken im Gefolge, auf die Bühne herein. Und die Entwicklung setzt ihr zerstörerisches Werk fort. Wenn das Körper-Ich von der Welt und der Großen Mutter abgespalten ist, hat es zwei ebenso grundlegende wie widersprüchliche Wünsche. Es möchte sich zum einen mit der Großen Mutter wiedervereinigen und dadurch wieder jenen paradiesischen Zustand des reinen Einsseins erlangen, in dem es vor der rohen Spaltung von Subjekt und Objekt verweilte. Um sich aber mit der Großen Mutter wiedervereinigen zu können, müsste das Körper-Ich seine eigene getrennte Existenz preisgeben, und dies erfüllt es mit Schrecken. Es möchte also Einheit und fürchtet sich zugleich davor, und diese einander widersprechenden Wünsche sind die Triebfeder der weiteren Entwicklung. Die Kombination dieser beiden Triebe habe ich "Das Atman-Projekt" genannt, den Wunsch, Einheit (Atman) zu erlangen, der mit einer ebenso großen Furcht vor dieser Einheit verbunden ist, was das Selbst zur Flucht in Ersatzbefriedigungen und zu Ersatzobjekten treibt. (Meiner festen Überzeugung nach ist das Atman-Projekt ein sehr reales Projekt und eine sehr tragfähige Konzeption. Aber der ersehnte Zustand der Einheit ist nicht derjenige des Kindes an der Mutterbrust, sondern derjenige des Selbst in der ursprünglichen Leerheit. Wie wir noch sehen werden, hatte ich die frühkindliche und präpersonale Struktur als transpersonalen Grund bei weitem überschätzt, weshalb ich zu der falschen Überzeugung gelangte, dass der Drang zur Einheit ein Drang zur Wiedererlangung dieser kindlichen Struktur sei, wenn auch in einer "reifen Form". Ich hatte nicht verstanden, dass dieser Drang zur Einheit der Versuch ist, etwas wiederzugewinnen, das bei einer früheren Involution verloren ging; ich werde dies gleich erläutern.) Wenn sich das Körper-Ich von der "Großen Mutter" oder der "Großen Umgebung" abgespalten hat, so meine frühere romantische Darstellung weiter, dann erfährt es aufgrund dieser primären Verdrängung eine primäre Entfremdung. Im Körper-Ich selbst, so meine damalige Auffassung, wird diese primäre Entfremdung während der ersten drei Lebensjahre zum Auslöser ganz bestimmter Ereignisse im Zusammenhang mit der Verteilung emotionell-sexueller Energie, der Libido, des Elan vital oder von Prana (und hier habe ich die Formulierungen kühnerer psychoanalytischer Denker übernommen). Unter dem Druck seines Wunsches, die Einheit mit der Welt (und der Großen Mutter) wiederzuerlangen, verteilt das Körper-Ich seine Libido auf verschiedene Körperzonen und besetzt sie mit entsprechenden Einigungsphantasien (von der mit Einheitsphantasien mit der Welt durch die Einverleibung von Essen besetzten oralen Zone bis zur mit Phantasien der
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sexuellen Vereinigung mit der Welt besetzten genitalen Zone). Alle libidinösen Organisationen waren dieser Auffassung zufolge lediglich eingeschränkte und verkürzte Versionen eines Bewusstseins, das einst wirklich "eins mit der ganzen Welt" war. Deshalb beschloss ich einen dieser frühen Essays mit dem Satz: "Gottesbewusstsein ist nicht sublimierte Sexualität; Sexualität ist verdrängtes Gottesbewusstsein."14 Diese Auffassung könnte entwicklungstheoretisch durchaus vertretbar sein – aber nur dann, wenn die kindliche Körper-Seele tatsächlich in einem vollständigen Gottesgewahrsein oder Urgrund-Gewahrsein ruht. Das Entscheidende ist ja, wie gesagt, dass diese romantische Auffassung mit der Frage steht und fallt, ob das Kind tatsächlich in ein Gottesgewahrsein oder einen vollständig anwesenden Urgrund eingetaucht ist, der dann während des ersten oder zweiten Lebensjahres ganz buchstäblich verdrängt wird. Dagegen ist diese Auffassung in keiner Weise haltbar und ohne jeden entwicklungstheoretischen Wert, wenn die präegoische Struktur nicht in vollem Umfang Gott ist, denn angeblich soll ja eben die Verdrängung des Gottesgewahrseins durch den Zweijährigen der Motor des weiteren Entwicklungsschemas sein. Wenn die "ursprüngliche Einbettung" des kindlichen Selbst nicht ganz und gar gleichbedeutend ist mit Gottesgewahrsein oder Urgrund-Gewahrsein, dann hat diese Entwicklungsauffassung keine Grundlage mehr. Genau dies ist das Problem, das letztlich die romantische Haltung scheitern lässt, wie mir bei meinen intensiven Anstrengungen, diese Auffassung zu untermauern, sehr schnell klar wurde. Jack Crittenden und ich hatten soeben die Zeitschrift ReVision Journal gegründet, und weil ich dringend Beiträge brauchte, veröffentlichte ich in Fortsetzungen den ersten Entwurf von Das Atman-Projekt, der noch mit allen romantischen Auffassungen und zahlreichen Prä/trans-Verwechslungen befrachtet war.15 Je mehr ich um dieses romantische Modell rang – und man darf mir glauben, dass ich mit allen Kräften rang –, desto mehr musste ich seine grundlegenden Mängel und Irrtümer erkennen, die ich gleich darlegen werde. Ich arbeitete also wie besessen die ersten Entwürfe sowohl von Das AtmanProjekt als auch von Halbzeit der Evolution um – beides war noch nicht als Buch erschienen –, wobei ich den Grund für die Änderung meiner Auffassungen darlegte, wie ich es auch ausführlich in "Odyssey" tat.16 Und "The Pre/Trans Fallacy"17 stellt letztlich eine säuberliche Auflistung aller Irrtümer dar, die mir diesbezüglich unterlaufen waren – weshalb ich sie ja so überaus gut kenne. Nennen wir also mein erstes Modell das "romantische/ jungianische/Wilber-I-Modell", das spätere "Wilber-II". Das Eigenartige an Wilber-I und Wilber-II ist aber nun, dass sie sich gar nicht so sehr unterscheiden. Beide schreiten von der präegoischen über die
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egoische zur trans-egoischen Stufe fort. Beide bekräftigen die großen Bereiche des Präpersonalen, Personalen und Transpersonalen. In beiden ist die letzte Triebfeder der Entwicklung der Versuch, den GEIST wiederzugewinnen. In beiden geschieht eine Involution und eine Evolution. Deshalb können sowohl Wilber-I als auch Wilber-II angemessene Deutungen für dieselbe Fülle klinischer und experimenteller Befunde geben. Der große und entscheidende Unterschied aber liegt darin, dass der romantische WilberI die kindliche prä-egoische Struktur in gewissem Sinne als Urgrund, als perfekte Ganzheit, als unmittelbares Einssein mit Gott, als völlige Versunkenheit in das Selbst, als Einssein mit der ganzen Welt sehen muss. Weil die Vollendung der Erleuchtung nach dieser Auffassung ein Wiederauffinden von etwas in der kindlichen Struktur Vorhandenem ist, muss diese kindliche Struktur diese höchste Vollendung in vollem Umfang besitzen (und sei es unbewusst). Dies ist der Punkt, an dem das romantische/Wilber-I-Modell in fatale Schwierigkeiten gerät, wie vielleicht schon klargeworden ist. Aber sehen wir uns dies Schritt für Schritt an. Die traditionelle romantische Auffassung lautet, dass die kindliche Struktur ein Einssein mit dem ganzen Urgrund oder Selbst auszeichnet, das jedoch unbewusst ist. Dann spaltet sich dieses Selbst von diesem Urgrund ab, verdrängt ihn, entfremdet sich von ihm und verliert den Kontakt zu ihm. In einer dritten großen (trans-egoischen) Bewegung vereinen sich das Selbst und der Urgrund wieder; der Urgrund wird wiedererweckt ("auf einer höheren Ebene", was auch immer dies bedeuten mag), und es tritt eine spirituelle Erneuerung und Regeneration ein. Die, wie man es nennen könnte, traditionelle romantische Auffassung besteht also darin, dass die Entwicklung von einem unbewussten Himmel (prä-egoisch) über eine bewusste Hölle (egoisch) zu einem bewussten Himmel (trans-egoisch) fortschreitet. Das Selbst ist auf der ersten wie auf der dritten Stufe ganz eins mit dem Urgrund, jedoch auf der ersten Stufe unbewusst, auf der dritten bewusst. Der entscheidende Fehler dieser Auffassung liegt darin, dass der zweite Schritt, der Verlust der unbewussten Einheit, eine schlichte Unmöglichkeit ist. Wie die Romantiker selbst bald erkannten, sind alle Dinge eins mit dem Urgrund; aber wenn man diese Einheit mit dem Urgrund wirklich verlieren würde, dann würde man aufhören zu existieren. In Wirklichkeit gibt es nur zwei Möglichkeiten bezüglich des Urgrundes: Man ist sich seiner Einheit mit dem Urgrund bewusst, oder man ist sich ihrer nicht bewusst. Aber diese Einheit besteht immer; sie kann höchstens bewusst oder unbewusst sein. Nun besteht, wie wir gesehen haben, der traditionellen romantischen Auffassung zufolge der prä-egoische Zustand in einer Einheit mit dem Urgrund, die jedoch unbewusst ist. Aber wenn dies so ist, dann kann der nächste Schritt, der Übergang von der prä-egoischen zur egoischen Stufe,
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nicht der Verlust dieser unbewussten Einheit sein. Wenn dies der Fall wäre, würde man aufhören zu existieren. Man kann sich der Einheit mit dem Urgrund bewusst oder nicht bewusst sein; aber wenn man sich ihrer schon nicht bewusst ist, dann kann man nicht noch einen Schritt zurückgehen. Der eigentliche Verlust ist bereits eingetreten. Die prä-egoische Struktur oder ursprüngliche Einbettung besteht schon in der Gefallenheit, der Entfremdung, dem Verlust. Die Involution ist schon geschehen. Es dauerte lange, bis den Romantikern dies klar wurde – aber dies brachte natürlich ihr ganzes Projekt zu Fall. Auf welch schwachen Füssen ihre Auffassung steht, wird noch klarer, wenn man den bekannten romantischen Begriff der "ursprünglichen Ganzheit" näher betrachtet. Die kindliche Struktur soll in einem "Einssein mit der ganzen Welt in Liebe und Seligkeit" bestehen, wie es Norman O. Brown ausdrückte. Aber womit ist denn das Neugeborene wirklich eins? Ist das kindliche Selbst ganz eins mit der Welt der Dichtkunst, der Logik, der Wirtschaft, der Geschichte, der Mathematik oder der Moral und der Ethik? Selbstverständlich nicht, denn diese sind noch gar nicht emergiert: Die angeblich "ganze Welt" des kindlichen Selbst ist ein erbärmlich kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit. Gewiss sind Subjekt und Objekt der kindlichen Struktur weitgehend prädifferenziert (und dies ist einfach die ozeanische oder Verschmelzungsphase von Drehpunkt 1), aber diese verschmolzene Welt weiß von einem überaus großen Teil des Kósmos nichts. Sie ist keineswegs eins mit der ganzen Welt, sondern nur mit einem winzigen Ausschnitt der Welt. Das einen Monat alte Selbst mag in "Wolken der Herrlichkeit" (aus dem Wiedergeburtsbardo, worauf ich gleich eingehen werde) erscheinen, aber es ist trotzdem letztlich nicht in das Nirvana, sondern in den Samsara eingetaucht und eingebettet. Es trägt all die Keime der Lust und der Unlust, des Nichtwissens, des Hungers und des Durstes in sich. Die Flammen der samsarischen Hölle umlodern das kindliche Selbst schon, und wenn dies gelegentlich eine relativ friedliche Zeit ist, dann ist es der Friede eines präpersonalen Nichtwissens, nicht einer transpersonalen Weisheit. Das kindliche Selbst ist ganz in den Samsara eingetaucht, es hat nur noch nicht genug Bewusstsein, um diese schmerzliche Tatsache wahrzunehmen. Aber je mehr sich das Selbst entwickelt und Bewusstsein erwirbt, desto mehr erkennt es, dass es schon gefallen ist, dass es schon in den Flammen des Samsara lebt. Diese schockierende Erkenntnis, diese bewusste Initiation in die Tatsache, dass die Erscheinungswelt von Tränen und Trauer, Sünde und Leid, Trishna und Duhkha durchzogen ist, stellt für das Selbst ein schweres Trauma dar. Dieses Erwachenstrauma beginnt in seinen frühesten Formen im ersten oder zweiten Lebensjahr (insbesondere an Drehpunkt 2), und hier
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gehen die romantischen/Wilber-I-Theoretiker in die Irre: Sie glauben, dass das Kind an diesem Punkt vom Nirvana in den Samsara übergeht, während in Wirklichkeit das schon im Samsara geborene Kind einfach zu dieser erschütternden Erkenntnis erwacht. Das so zum existentiellen Alptraum seiner samsarischen Schmerzen erwachte Selbst hat nun grundsätzlich zwei Wahlmöglichkeiten: Es kann sich in seinem Leben für diejenigen Dinge entscheiden, die einem fortwährenden Wachstum und einer ständigen Weiterentwicklung des Bewusstseins dienen, oder es kann seinen Rückschritt betreiben und sich für diejenigen Dinge entscheiden, die ihm helfen, das Bewusstsein auszulöschen und sich dem dumpfen Duhkha hinzugeben. Wenn es ersteres tut und dieses evolutionäre Wachstum mit entsprechender spiritueller Schulung beschleunigt, könnte es am Ende seine eigene ursprüngliche und zeitlose Natur entdecken, die niemals in einer vergangenen Kindheitsperiode verloren ging, sondern vielmehr in diesem gegenwärtigen Augenblick durch die Verhaftung an die zeitliche Welt verdunkelt wird. Dies ist eine wahrhaftige Wiederentdeckung und Wiedererinnerung, aber nicht an dasjenige, was angeblich im Lebensalter von einem Monat noch vollständig vorhanden war, sondern an dasjenige, was im zeitlosen Nun ganz gegenwärtig ist, das heißt vor aller Involution, nicht zu irgendeinem Zeitpunkt in der Evolution. Die tatsächliche historisch manifeste Entwicklung des Menschen verläuft also nicht vom unbewussten Himmel über eine bewusste Hölle zum bewussten Himmel, sondern vielmehr von der unbewussten Hölle über die bewusste Hölle zum bewussten Himmel. Hierin liegt der Übergang von Wilber-I zu Wilber-II.
Ursprüngliche Einbettung und der dynamische Urgrund Washburn folgt sehr weitgehend dem Modell Wilber-I. Er benutzt dieselben Grundstufen und dieselbe allgemeine Terminologie. Viele seiner Schlussfolgerungen entsprechen genau meinem alten Modell, und er räumt dies auch großzügig ein: "Wilber (1979) vertrat früher eine ähnliche Auffassung, die er jedoch später verwarf."18 Andererseits hat Washburn diese Auffassung ganz erheblich ausgebaut und verfeinert. Immerhin hat er hierzu zwei dicke Bücher geschrieben. Außerdem hat Washburn zumindest einige der schwerwiegenden Probleme bezüglich der traditionellen romantischen Auffassung erkannt, und er hat versucht, einige der zentralen und besonders verhängnisvollen
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Schwierigkeiten zu überwinden. Aber damit kommt er meiner Meinung nach vom Regen in die Traufe. Zunächst einmal erkannte er schon früh, dass die Einheit mit dem Urgrund beim Kind voll bewusst sein muss, wenn die präegoische Struktur (um genauer zu sein: die "ursprüngliche Einbettung") eins mit dem Urgrund ist. Die traditionelle Auffassung lautete ja, dass der Urzustand eine unbewusste Einheit mit dem Urgrund sei, und Washburn ist sich darüber im klaren, dass dies dann bereits ein gefallener Zustand ist – und tiefer kann man nicht fallen. Washburn ist also zu der Behauptung gezwungen, dass das einen Monat alte Kind sich des dynamischen Grundes uneingeschränkt bewusst ist. Er spricht von der "uneingeschränkten Kraft des Urgrundes im Körper des Neugeborenen", die sich in der "dynamischen Fülle und dem seligen Wohlbefinden, die das Merkmal einer ursprünglichen Einbettung sind", offenbare und gekennzeichnet sei durch "Ganzheit, Fülle und Seligkeit... ungeteilte grenzenlose Fülle".19 Washburn erkennt an, dass der Urgrund selbst nicht verloren gehen kann, da sonst das Selbst aufhören würde zu existieren. Das einzige, was also wirklich verlierbar ist, ist das Bewusstsein des Urgrundes, und dies bedeutet, dass das einen Monat alten Kind dieses Bewusstsein des uneingeschränkten Grundes in vollem Umfang haben muss, da sonst das ganze Schema unhaltbar wird. Kurz, da doch die Verdrängung des Bewusstseins des Urgrundes, die im ersten oder zweiten Lebensjahr beginnt, der Motor von Washburns Entwicklungsschema ist, kann das Bewusstsein des Urgrundes, wenn es nicht in vollem Umfang und uneingeschränkt vor diesem Zeitpunkt im kindlichen Selbst vorhanden ist, nicht unterdrückt werden, weil es noch gar nicht da ist, und Washburns Modell fällt damit in sich zusammen. Es bleibt nur der Schritt von Wilber-I zu Wilber-II. Eine stimmigere Auffassung von Involution und Evolution, wie ich sie etwa bei Plotin, Asanga, Schelling, Aurobindo, Garab Dorje, dem Lankavatara-Sutra und, wie ich meine, bei Wilber-II finde, müsste etwa folgendes sagen: Der GEIST manifestiert sich als die ganze Welt in einer Aufeinanderfolge zunehmend holistischer und holarchischer Sphären von der Materie über den Körper, den Geist und die Seele zum GEIST selbst. Dabei sind alle diese unterschiedlichen Dimensionen letztlich nur Ausgestaltungen des GEISTES in je unterschiedlichen Graden der Selbstverwirklichung und Selbstgewahrwerdung. Es gibt also in der Tat GEIST-als-Materie, GEIST-alsPrana, GEIST-als-Geist, GEIST-als-Seele und GEIST-als-GEIST. Involution (oder Efflux) ist dieser Auffassung zufolge der Prozess, in dem sich diese Dimensionen als Formen des GEISTES manifestieren, und Evolution (oder Reflux) der Prozess der Wiedererinnerung, der vom GEIST als Materie zu einer Wiedererinnerung an den GEIST als GEIST verläuft: ein
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Erkennen des GEISTES durch den GEIST als GEIST, und dies ist die traditionelle Verwirklichung der Erleuchtung. Nach diesem Schema könnte das kindliche Selbst in der Tat so etwas wie "ziehende Wolken der Herrlichkeit" sein (worauf ich gleich noch zurückkommen werde), aber es findet sich vor allen Dingen in die Dimensionen von GEIST-als-Materie, GEIST-als-Prana (Sinnlichkeit, emotionell-sexuelle Energien, Elan vital, diffus polymorphe Lebens- und Vitalkraft) und in die Frühformen von GEIST-als-Geist (Bilder, Symbole, Urkonzeptionen) ein. Die evolutive Entwicklung setzt sich fort mit einer weiteren Entfaltung der mentalen Dimension (GEIST-als-Geist) und den Anfängen der bewusstgewordenen spirituellen Dimensionen (GEIST-alsSeele). Der Kulminationspunkt ist die Erleuchtung oder die unmittelbare Erkenntnis des GEISTES-als-GEIST, der, weil er alles transzendiert, alles einschließt. Daher ist das Kind (wie überhaupt alles) in der Tat in den GEIST eingetaucht und eins mit dem Urgrund, aber es ist primär GEIST-als-Materie und GEIST-als-Prana, nicht GEIST-als-GEIST. (Wie wir noch sehen werden, hat nicht einmal nach der Bardo-Auffassung das kindliche oder neugeborene Selbst Kontakt zum GEIST-als-GEIST.) Deshalb ist sich all diesen Auffassungen zufolge das kindliche Selbst nicht des GEISTES-als-GEIST oder des reinen Nirvana-Zustandes bewusst, in dem es keine karmischen Neigungen, keine Begierden, keinen Hunger und keinen Durst gibt. Eine solche Sichtweise ist aber Washburn (und Wilber-I) völlig versperrt, weil für Washburn der Urgrund in der Struktur des einen Monat alten Kindes voll bewusst und uneingeschränkt gegenwärtig sein muss. Der Versuch, diese gewagte Behauptung aufrechtzuerhalten, zwingt Washburn zu immer fragwürdigeren Haltungen. Zunächst einmal muss Washburn Urgrund und GEIST voneinander trennen. (Weil der GEIST in der kindlichen Struktur nicht voll manifest ist, was Washburn zu erkennen scheint, muss irgend etwas anderes voll gegenwärtig sein, das sein Schema in Gang bringt, und dieses andere soll der "dynamische Urgrund" sein. Für Washburn sind also Urgrund und GEIST nicht dasselbe.) Der Urgrund kann ihm zufolge als freie psychische Energie und als GEIST erscheinen. Ich selbst möchte diese verschiedenen Ausgestaltungen von Washburns Urgrund mit den Kürzeln Urgrund-als-Prana, Urgrund-alsPsyche und Urgrund-als-GEIST bezeichnen (Washburns Terminologie lautet zum Beispiel "die Erscheinungsweise des Urgrundes als GEIST"). Man beachte, dass der Urgrund irgendwie mehr sein muss als der GEIST, da er in Formen erscheinen kann, in denen der GEIST anscheinend nicht erscheinen kann. Eines aber ist der Urgrund bei Washburn nicht: das mentale Ich. Eigenartigerweise kann der Urgrund als Libido erscheinen, als freie Psyche,
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als allumfassender GEIST, aber er ist anscheinend zu schwach, als das harmlose Ich erscheinen zu können. Ich und Urgrund sind Washburn zufolge sogar völlig voneinander verschiedene und getrennte Entitäten. Auf den höheren Entwicklungsstufen erscheint dann der Urgrund irgendwie als GEIST (was ich Urgrund-als-GEIST nenne), und dann vereinigen sich Washburn zufolge Urgrund als GEIST und das Ich. So soll eine Super-Entität entstehen, über die sich Washburn allerdings nirgendwo näher auslässt: der Urgrundals-GEIST/Eins mit dem Ich. Dies ist nun für Washburn kein neuartiger Zustand: Er stellt in gewissem Sinne eine Wiedervereinigung mit dem Urgrund dar, den das Zweijährige unterdrückte. Dies ist natürlich der absolut entscheidende Punkt: Washburn zufolge ist der Urgrund der spirituellen Verwirklichung letztlich eben jener Urgrund, den das Ich des Kindes unterdrückte, und eben deswegen muss Washburn postulieren, dass dieser Urgrund in der kindlichen Struktur voll gegenwärtig und bewusst sei. Hier wird nun Washburns schwammige Definition des "Urgrundes" entscheidend. Wie wir gesehen haben, kann der Urgrund als Libido, als Psyche und als GEIST erscheinen. So kann Washburn behaupten, dass das Kind den Urgrund unterdrückt, ohne jemals zu behaupten, dass das Kind den GEIST unterdrücke (weil Urgrund und GEIST nicht dasselbe sind). Wenn aber Washburns Schema wirklich brauchbar sein soll, dann muss der vom jungen Ich unterdrückte Urgrund der Urgrund-als-GEIST sein, denn Washburn sagt klar, dass die höhere Einheit ausdrücklich eine Vereinigung mit dem Urgrundals-GEIST ist. Weil Washburn anscheinend klar ist, dass dies einfach nicht gehen kann, behauptet er niemals explizit, dass das kindliche Selbst wirklich in Kontakt mit dem Urgrund-als-GEIST sei, und er behauptet auch niemals, dass das junge Ich den Urgrund-als-GEIST unterdrücke. Aber er hält stets daran fest (im Text und in seinen Tabellen), dass der Urgrund-als-GEIST nur auf den transegoischen Stufen erscheint. Hier beginnt Washburns Modell verdächtig einem verkappten Wilber-II zu ähneln. Aber Washburn will beides: Er will akzeptieren, dass sich der GEIST nur auf den trans-egoischen Stufen verwirklicht, aber er will zugleich nicht davon abrücken, dass dieselbe Wirklichkeit irgendwie auch in der kindlichen Struktur schon ganz vorhanden sei und dann erst vom Ich verdrängt wird. Zu diesem Zweck schafft er sich den Begriff des "dynamischen Urgrundes", der die Eigenschaften der drei großen Bereiche in sich vereint (die Libido des Präpersonalen, die psychische Energie des Personalen und den GEIST des Transpersonalen); dann kann er den "Urgrund" in jeder beliebigen Weise einsetzen. Wenn also das junge Ich den Urgrund in seiner Form als Prana oder physische Lebensenergie verdrängt, wozu es natürlich fähig ist, behauptet Washburn einfach, dass der ganze Urgrund selbst
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verdrängt wurde. Damit behauptet er implizit eine Verdrängung des GEISTES, ohne dies explizit sagen zu müssen, weil er ja weiß, dass dies nicht möglich ist. Wenn dann das Ich in den transpersonalen Bereich eintritt, geht Washburn einfach dazu über, den Urgrund als "GEIST" zu bezeichnen, ohne irgendwie zu erklären, warum der dynamische Urgrund sich plötzlich in etwas explizit Spirituelles verwandelt – aber genau dies ist doch das Kernproblem, um das es geht. Statt dessen wird auf den transpersonalen Stufen der Urgrund einfach "die Erscheinungsweise des Urgrundes als GEIST" genannt, der dann derselbe Urgrund sein soll, den das Kind verdrängte. In Wirklichkeit aber (und selbst den von Washburn vorgelegten Befunden zufolge) hat das Kind den Urgrund-als-Prana, nicht den Urgrund-als-GEIST verdrängt. Aber Washburn möchte beides, und deshalb muss er in den seltenen Fällen, in denen er den Urgrund wirklich zu definieren versucht, dies in einer Weise tun, die seinem Reduktionismus nicht schadet. Deshalb bestimmt er den Urgrund einfach als "physiko-dynamische Prozesse" (und er gibt für diesen Begriff keine nähere Erklärung). So versteckt er seinen Reduktionismus und seine Prä/trans-Verwechslungen hinter einer recht vagen Konzeption und kann damit seine prä-egoische spirituelle Kuh schlachten und melken zugleich. Es gibt, wie ich meine, einen recht einfachen Grund dafür, warum Washburn versucht, den ganzen dynamischen Urgrund als "physikodynamische Prozesse" darzustellen, und dieser hat mit seiner von der Prä/trans-Verwechslung geprägten Weltsicht (PTV-2) zu tun. Wie Chögyam Trungpa in Das Buch vom meditativen Leben sagt und Huston Smith in Forgotten Truth bekräftigt, setzt sich den großen Weisheitstraditionen zufolge, vom Schamanismus bis zum Vedanta, im Osten wie im Westen, die Wirklichkeit aus mindestens drei großen Reichen zusammen: Erde, Mensch und Himmel, die ihre Entsprechung in Körper, Seele und GEIST (dem Grobstofflichen, Feinstofflichen und Kausalen) haben, die wiederum den drei großen Zuständen des menschlichen Bewusstseins entsprechen: Wachzustand (grobstofflich, Körper), Traum (feinstofflich, Seele) und Tiefschlaf (kausal, GEIST).20 Dies sind natürlich die drei großen Reiche des Präpersonalen, Personalen und Transpersonalen. Washburn weigert sich aber, diese drei Reiche klar anzuerkennen. Unter der Last seines Prä/trans-Trümmerhaufens belässt er den Ich-Geist als einen Bereich, verschmilzt aber das GrobstofflichKörperliche mit dem Kausal-GEISTIGEN, und dieses Konglomerat nennt er den "Urgrund", den er dem Ich-Geist gegenüberstellt. Statt der drei großen Bereiche Körper, Seele und GEIST hat er nur seine "zwei Pole" des IchGeistes und des Urgrundes. Weil er das Kausal-GEISTIGE auf das Grobstofflich-Körperliche und seine Vitalität reduziert hat, bezeichnet er folgerichtig den ganzen Urgrund als physiologische Energie oder
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"physikodynamische Prozesse", womit er seine Prä/trans-Verwechslung konsequent zu Ende führt. Indem er den Urgrund des Seins auf Physiologie reduziert, kann er die Kindheit zu Gott erhöhen. Und nun wirft Washburn meinem Modell vor, dass es nicht so einfach und "ökonomisch" sei wie sein Modell, womit man ebenso gut sagen könnte, dass das Modell des Sonnensystems doch viel einfacher wäre, wenn man einfach den störenden Jupiter weglassen würde.21 Aber die wirklich großen Schwierigkeiten von Washburns romantischem/Wilber-I-Modell treten erst bei den höchsten Stadien zutage. Washburn zufolge kann sich das Ich, wenn es einmal den Urgrund notwendigerweise und nachdrücklich verdrängt hat, wieder mit dem Urgrund vereinigen. Weil der dynamische Urgrund "ursprünglich durch Verdrängung verloren ging, kann er nur durch Regression wiedergewonnen werden".22 Es hat mehr als einen Kritiker in Verwirrung gestürzt, was damit wohl gemeint sein könnte. Muss der Erwachsene zum präverbalen Stammeln zurückkehren? Wenn nicht, was dann? Und doch muss Washburn zufolge das Ich auf den Urgrund regredieren, der vorhanden war, aber in der Kindheitsphase verdrängt wurde, und dann können diese "beiden Pole der Psyche" – nämlich nach seiner Diktion der Urgrund und das Ich – "zu einem einzigen, vervollkommneten, psychischen Ganzen integriert werden".23 In der Tat eine frappierende Wendung: Der Urgrund ist jetzt plötzlich Bestandteil der ganzen Psyche – eine Unstimmigkeit, auf die ich noch zurückkommen werde. Womit wird aber letztlich Washburn zufolge wieder Kontakt aufgenommen? Der Urgrund-als-GEIST kann es nicht sein, weil sich dieser, wie er sagt, erst im Trans-egoischen manifestiert. Weil es nun der GEIST nicht sein kann, zieht Washburn seinen bewährten Passepartout hervor: Es sind die physikodynamischen Potentiale: "Die ursprüngliche Verdrängung wird aufgehoben, und die physikodynamischen Potentiale werden wiedererweckt."24 Dies soll wohl bedeuten, dass der GEIST jetzt manifest ist. Jedenfalls kann sich an diesem trans-egoischen Punkt der Urgrund als GEIST manifestieren. Dies bedeutet aber, dass mit dieser Erweckung eine völlig neue Entität entsteht, nämlich das "eine, vollkommene, psychische Ganze" – die Vereinigung von Ich und Urgrund. Aber dies lässt nur einen Schluss zu: Dieses Ganze war niemals unterdrückt und ging niemals verloren, weil es einfach noch nicht da war. Es ist eine emergente, eine neu entstandene Entität. Damit hat nach Washburns eigener Darstellung das kindliche Selbst weder mit dem Urgrund-als-GEIST noch mit Vereinigung von Urgrund und Selbst etwas zu tun, woraus folgt, dass Erleuchtung oder spirituelle Erweckung in keiner irgendwie bedeutsamen Weise eine Wiederherstellung
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des Kontakts mit etwas sein kann, das in der kindlichen Struktur vorhanden war und dann verloren ging. Weil dies so ist, muss aus Washburn/Wilber-I notwendigerweise Wilber-II werden. Eine der zentralen theoretischen Schwierigkeiten Washburns liegt meiner Meinung nach darin, dass er nicht zwischen Differenzierung und Dissoziation unterscheidet. Wie ich in Eros, Kosmos, Logos zu zeigen versucht habe, ist diese Verwechslung ein wesentliches Merkmal der romantischen Auffassung im allgemeinen. Entwicklung vollzieht sich immer auf dem Wege der Differenzierung und Integration, und ein Scheitern dieses Prozesses führt entweder zur Verschmelzung einerseits (wenn die Differenzierung misslingt) oder zu Dissoziation andererseits, wenn die Differenzierung zu weit geht und in Entfremdung und Zersplitterung führt. Für Washburn wie für die Romantiker gibt es im Grunde nur Verschmelzung oder Dissoziation ohne die mittlere Ebene der Differenzierung. Washburn sagt ungefähr folgendes: "Es gibt keine mittlere Ebene. Das Körper-Ich kann sich entweder der Großen Mutter ergeben und sich dadurch einer fortwährenden Wiedereinbettung [Verschmelzung] unterwerfen ..., oder es trennt sich von der Großen Mutter und führt dadurch eine dauerhafte Verdrängung [Dissoziation] herbei..."25 Was er letztlich nicht sieht, ist die Tatsache, dass die Differenzierung von Selbst und anderen weder eine Verschmelzung noch eine Dissoziation, sondern der notwendige Prozess einer Differenzierung und Integration (Transzendenz und Einschließung) ist, und dies ist nichts anderes als der Wachstumsprozess selbst. Wenn man sich aber darauf versteift, jede Differenzierung als Dissoziation zu betrachten, dann muss man natürlich jede Entwicklung in erster Linie als schaurige Talfahrt betrachten, weil jede normale Differenzierung als furchtbare Dissoziation, Zersplitterung und Entfremdung interpretiert wird. Die Eiche ist irgendwie eine schreckliche Schändung der Eichel. Die menschliche Entwicklung müsste demzufolge in einer Weise ablaufen, wie dies bei keinem anderen organischen System der Fall ist: Nach dieser romantischen Auffassung beruht das Wachstum und die Entwicklung einer jeden Stufe hauptsächlich darauf, dass sie die früheren Stufen unterjocht und verstümmelt. (Nur: wie soll so etwas bloß funktionieren? Warum in aller Welt sollte sich die natürliche Auslese für etwas Derartiges entscheiden? Also nicht die gelegentliche Verdrängung, sondern die tatsächliche Zertrümmerung des ganzen Urgrundes des Seins? Ist die Natur wirklich so ... verwirrt?) Diese Verwechslung von Differenzierung und Dissoziation ist, wie ich meine, der Grund, warum Washburn behaupten muss, dass die SelbstEntwicklung notwendigerweise mit einer Verdrängung des Urgrundes einhergeht, und warum er weiterhin behaupten muss, dass die spirituelle
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Erweckung nur eintreten kann, wenn jeder ohne Ausnahme vollständig zu den Potentialen zurückkehrt, die im einen Monat alten Kind noch vollständig vorhanden sind. Ohne diese massive Regression sei unter keinen Umständen eine Erleuchtung und spirituelle Erweckung möglich. Nach der Auffassung von Wilber-II können auf jeder der neun oder zehn Drehpunkte der Selbst-Entwicklung verschiedene Arten von Verdrängungen (oder Dissoziationen und Pathologien) auftreten, und zwar ganz besonders an den beiden ersten Drehpunkten. Wie ich dargelegt habe, wird bei diesen frühen Drehpunkten jedoch im allgemeinen nicht GEIST-als-GEIST, sondern GEIST-als-Prana verdrängt oder dissoziiert. Die Schwere dieser Verdrängung ist individuell verschieden; in schweren Fällen kann sie jegliche Entwicklung zum Stillstand bringen. In den meisten Fällen aber kommt das Individuum mit den Herausforderungen gut zurecht, und die Entwicklung schreitet bis zu ihrem Ziel fort, das ebenfalls individuell verschieden ist. Für Washburn/Wilber-I muss also die Entwicklung notwendigerweise mittels einer primären Verdrängung des Urgrundes fortschreiten, und damit ist spirituelle Erweckung nur möglich, wenn etwas wiedergefunden wird, das in der kindlichen Struktur wirklich und vollständig vorhanden war. Verdrängung gehört nach dieser Auffassung ganz wesentlich zum Entwicklungsmechanismus. Nach der Auffassung von Wilber-II ist Verdrängung etwas, das geschehen kann oder auch nicht, aber es ist keineswegs der Mechanismus des Wachstums, und wenn sie auf einer dieser frühen Stufen auftritt, ist es letztlich eine Verdrängung des GEISTES als Prana, nicht des GEISTES als GEIST. Wenn diese Verdrängung mäßig bis schwer ist, dann ist auf den höheren Wachstumsstufen möglicherweise eine Regression notwendig, damit diese tieferen Potentiale wieder eingegliedert werden können. Ob eine solche Regression auftritt, ist individuell verschieden, und ebenso das Ausmaß dieser Regression, aber diese ist jedenfalls keine grundsätzliche Notwendigkeit, und sie stellt auch keine Rückverbindung mit einem kindlichen, aber verdrängten GEIST-als-GEIST dar. Kurz, für Washburn/Wilber-I muss für jegliche spirituelle Entwicklung eine tiefgreifende Regression als Rückverbindung mit einem Urgrund stattfinden, der in der kindlichen Struktur uneingeschränkt vorhanden war. Für Wilber-II kann eine Regression stattfinden, und zwar vor allem dann, wenn diese im Zusammenhang mit einer Rückverbindung mit dem Urgrund-als-Prana oder zur Aufarbeitung von Dissoziationen, Pathologien oder Potentialverlusten an einem früheren Drehpunkt usw. notwendig wird. In diesem Fall handelt es sich um eine Regression im Dienste des Selbst vor der Transzendierung des Selbst. Es gibt aber zahlreiche Fälle von Erleuchtungen, die ohne generelle Regression auf die Kindheit eintraten, was deutlich gegen das Modell
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Washburns spricht. Im einzigen sorgfältigen Versuch einer vergleichenden Gegenüberstellung von Washburn und Wilber kommen L. Eugene Thomas u. a. zu dem Schluss, dass bei denjenigen Personen, die eine transpersonale Entwicklungsstufe erreicht hatten, "nur bei der Hälfte Hinweise darauf zu finden waren, dass sie eine regressive Übergangszeit durchlaufen hatten. Diese und andere Befunde sprechen zugunsten von Wilbers Theorie."26
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Kapitel 7 Wiedergeboren Stanislav Grof und der holotrope Ansatz Stanislav Grof ist wohl der bedeutendste lebende Psychologe. Er ist in jeder Hinsicht ein Pionier und einer der umfassendsten psychologischen Denker unserer Zeit. Zum Glück besteht zwischen Stan und mir bezüglich vieler zentraler Fragen der Humanpsychologie, des Bewusstseinsspektrums und der Reiche des menschlichen Unbewussten weitgehende Übereinstimmung. Aber es geht hier natürlich darum, unsere Differenzen zu diskutieren. In Eros, Kosmos, Logos habe ich Grofs Position ausführlich kritisiert und auf einige Punkte hingewiesen, an denen sein Modell meiner Meinung nach erhebliche Schwächen aufweist. Ich werde diese Schwachpunkte im folgenden zusammenfassen und dann eine grundsätzliche Antwort auf Grofs Kritik an meiner eigenen Arbeit geben.
Die monologische Wissenschaft Stanislav Grof betont immer wieder, dass "sich die westliche Wissenschaft einem Paradigmawechsel von bisher nie gekanntem Ausmaß zu nähern scheint".1 Das mag sein, aber das neue Paradigma und die Ansätze, die er diskutiert, sind monologisch, das heißt, sie reduzieren die Welt auf eine EsSprache. Er nimmt Bezug auf die Quanten- und Relativitätsphysik, die Kybernetik, die Systemtheorie, M-Felder, Chaos- und Komplexitätstheorie, die Youngsche Prozesstheorie usw. – aber alle diese Betrachtungsweisen sind gnadenlos monologisch. Sie reduzieren den Kosmos auf lauter rechtsseitige Begriffe; sie verkörpern letztlich den subtilen Reduktionismus, der ein unseliges Vermächtnis der kartesischen Tradition ist. Dabei sind sowohl die "mechanistische" als auch die "System"Wissenschaft monologisch. Die Kausalitätstheorie ist ebenso monologisch wie die Chaostheorie, Mechanizismus ebenso wie Organizismus, deterministische Theorien ebenso wie Komplexitätstheorien, die mechanistische Theorie ebenso wie die Prozesstheorie. Welche Vorzüge letztere auch immer gegenüber ersteren haben mögen (und sie haben viele), so sind sie doch samt und sonders bis in ihren innersten Kern Flachland-Theorien.
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Grof und die monologischen Theoretiker, die er als Kronzeugen des "Neuen Paradigmas" aufruft, beklagen fortwährend die Zersplitterung der modernen und postmodernen Welt und betonen die Dringlichkeit einer integrierenden Sichtweise. Ich stimme ihnen vollkommen zu – aber dieses monologische "Neue Paradigma" ist letzten Endes das Symptom, nicht das Heilmittel für die primäre Zersplitterung. Damit ist es Mitursache, nicht das Antidot für das Auseinanderfallen der modernen Welt. Wenn also etwa Joanna Macy gegen Eros, Kosmos, Logos einwendet, Feedback-Mechanismen seien nicht berücksichtigt und damit sei die Systemtheorie nicht angemessen dargestellt, geht ihre Kritik völlig am Wesentlichen vorbei. Selbstverständlich berücksichtige ich FeedbackMechanismen, und ich sage dies sogar ausdrücklich. Aber trotzdem gehört die Feedback-Theorie einfach zur ersten Generation von Systemwissenschaften, die um die Chaos- und Komplexitätstheorie ergänzt wurde, und sie alle sind durch und durch monologisch und können vollständig in einer Prozess- und Es-Sprache beschrieben werden, die das Grundmerkmal des subtilen Reduktionismus ist. Dieser hat die Lebenswelt unter das grausame Joch eines monologischen Imperialismus gebeugt, der ebenjene Zersplitterung vorantreibt, die er angeblich heilen will. Macy und ihre Mitstreiter vermögen also nach wie vor den entscheidenden Punkt nicht einzusehen, dass, um einmal Karl Kraus zu paraphrasieren, die Systemtheorie die Krankheit ist, die sie zu heilen behauptet. Leider hat Grof meiner Ansicht nach sein philosophisches Fundament zu sehr auf den Sand dieser monologischen Sichtweise gebaut, weshalb sein psychologisches Modell mit einigen schweren Mängeln behaftet ist.
Monologisches Bewusstsein Eine der großen Entdeckungen des postmodernen Westens besteht darin, dass das Bewusstsein nicht, wie man bisher glaubte, schlicht (über) die Welt reflektiert ("der Spiegel der Natur"), sondern in Wirklichkeit in einem Netz verborgener intersubjektiver Strukturen (linguistischer, ethischer, kultureller, ästhetischer und syntaktischer) verankert ist. Die subjektive wie die objektive Welt entstehen weitgehend durch die differenzierende Funktion dieser intersubjektiven Strukturen, die selbst nicht als Objekte oder Phänomene der unmittelbaren Wahrnehmung erscheinen, sondern vielmehr einen Hintergrundkontext bilden, durch den Subjekte und Objekte überhaupt erst in Erscheinung treten können. Aus diesem Grund konnte die Phänomenologie in ihren traditionellen Formen diese intersubjektiven Strukturen noch nicht entdecken; dies
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leisteten erst die Entwicklungen in der Kontextanalyse, im Strukturalismus und Poststrukturalismus, in der Linguistik und Semiotik, das heißt im allgemeinen Strom der Bewegung von der Moderne zur Postmoderne. Ich veranschauliche dies gerne mit dem einfachen Beispiel eines Kartenspiels wie zum Beispiel Poker. Beim Poker gelten für jede Karte ganz bestimmte Regeln, doch sind diese Regeln auf keiner der Karten zu finden. Wenn man also lediglich die Karte beschreibt, und sei es noch so genau – das heißt, wenn man reine Phänomenologie betreibt –, kann man niemals die Regeln entdecken, denen jede Karte gehorcht, die "intersubjektiven" Muster, nach denen letztlich jede Karte bewegt wird. Hier versagt die Phänomenologie völlig, und nur ein irgendwie gearteter strukturalistischer Ansatz kann diese Strukturen aufdecken. Diese folgenreiche historische Entwicklung fasste Foucault wie folgt zusammen: "Es tauchte also das Problem der Sprache auf, und es war klar, dass die Strukturanalyse der Phänomenologie bei weitem überlegen war, wenn es um die Darstellung der Wirkungen von Bedeutungen ging, die durch eine Struktur des linguistischen Typs erzeugt werden konnten. Da nun die phänomenologische Braut die Antwort auf das Rätsel der Sprache nicht wusste, musste sie ihren Platz an die neue Braut des Strukturalismus abtreten."2 Und eben dies heißt "Strukturalismus" im weitesten Sinne, also einschließlich Semiologie (Saussure), Semiotik (Peirce), dem "eigentlichen" Strukturalismus (Lévi-Strauss, Barthes, Lacan), Entwicklungsstrukturalismus (Piaget, Aspekte von Habermas, Kohlberg, Loevinger), Neostrukturalismus (Foucault) und Poststrukturalismus (Derrida, Lyotard). Trotz ihrer zahlreichen Differenzen ist ihnen das Fortschreiten von einer Philosophie des monologisch sich einer vorgegebenen Welt nähernden Subjekts zu einer solchen der dialogischen Erkundung der intersubjektiven Strukturen gemeinsam, durch die Subjekte und Objekte sich überhaupt erst differenzieren und erscheinen können. Diese Entwicklung fand ihre Fortsetzung in einer zunehmenden Einsicht in die Historizität vieler dieser intersubjektiven und dialogischen Strukturen (Nietzsche, Heidegger, Wittgenstein, Dewey, Rorty), und damit sind wir bereits an der Schwelle zur postmodernen Gestimmtheit. Wie groß die Gegensätze zwischen diesen Theoretikern auch sein mögen, so einen sie doch die vielfach beigebrachten Belege dafür, dass das monologische Bewusstsein und die monologische Methodologie äußerst beschränkte Modelle wenn nicht schlichte Verzerrungen der menschlichen Erfahrung und Wirklichkeit sind. Das Entscheidende im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen ist nun, dass die meisten Pioniere der modernen westlichen Psychologie – Freud, Jung, Adler, Rank, James, Watson, Titchener, Wundt – ganz in dieser präintersubjektiven Ära beheimatet sind. Sie alle arbeiteten in einem zutiefst
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monologischen Rahmen. Für sie alle gibt ein Subjekt Erscheinungen des Bewusstseins wieder, und diese phänomenologischen Aussagen werden als grundlegend genommen, selbst wenn sie letztlich in eine ganz andere Richtung weisen. Ob die Technik also Introspektion heißt (Wundt), freie Assoziation (Freud), Psychedelik (James), aktive Imagination (Jung) oder Bewusstseinsstrom (James) – sie alle stellen die grundsätzliche Angemessenheit der Phänomenologie niemals wirklich in Frage.3 Sie alle haben den Inhalt einer akzeptablen Phänomenologie ganz erheblich erweitert und von den typisch rational-egoischen Inhalten auf solche Bereiche wie Primär-Prozess, magische Kognitionen, kollektive mythische Bilder und Archetypen, religiöse Erfahrungen usw. ausgedehnt, aber keiner von ihnen hinterfragte je die intersubjektiven Strukturen, die eine solche Phänomenologie überhaupt erst ermöglichen, oder war sich ihrer überhaupt Bewusst. Kurz, sie alle erfanden neue Karten im phänomenologischen Spiel, aber keiner von ihnen entdeckte die nichtphänomenologischen Spielregeln. Die meisten psychologischen Forscher einschließlich Grof bleiben bis heute in diesem monologischen Bewusstseinsrahmen, auch wenn sie die Phänomenologie auf außergewöhnliche Bewusstseinszustände erweitern. Mit anderen Worten, auch mit noch so viel LSD, holotropem Atmen, Hypnose, schamanischen Erfahrungen, Übergangsritualen oder intensiver Körperarbeit können die moralischen, kulturellen, linguistischen und syntaktischen Strukturen nicht aufgedeckt werden, in denen und durch die diese subjektiven Erfahrungen entstehen. Und deshalb sind diese entscheidenden intersubjektiven Strukturen auf keiner der Landkarten oder Kartographien oder Kosmologien von Grofs Modell (und auch in keiner der Traditionen, die er in seinen Werken zitiert) zu finden. Diese konstitutiven Strukturen bleiben für Grofs Forschungsmodus unsichtbar, und ich meine, dass dies eine Lücke und ein Schwachpunkt in seinem System ist. In Grofs allgemeinem Modell geht monologisches Bewusstsein Hand in Hand mit monologischer Wissenschaft, und dies führt meiner Meinung nach zu einer höchst eingeengten Auffassung vom menschlichen Bewusstsein im allgemeinen. Weiterhin wird es dadurch praktisch unmöglich zu erklären, wie vorübergehende Bewusstseinszustände in dauerhafte Bewusstseinsstrukturen umgewandelt werden können, weil diese Strukturen weitgehend intersubjektiv konstruiert sind und daher in keiner Bewusstseinsphänomenologie erscheinen können, auch nicht in derjenigen Grofs. Weiterhin wird diese Unzulänglichkeit durch die Anwendung von Grofs Modell auf umfassendere Themen (geschichtliche, kulturelle, soziologische, ästhetische) stets nur reproduziert. Wenn also zum Beispiel Tarnas mit Hilfe von Grofs Modell das Aufkommen der Moderne interpretiert (in Idee und Leidenschaft), dann schlägt dieser Mangel sofort auf Tarnas' Darstellung
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durch, weshalb ihm meiner Meinung nach vieles von dem entgeht, was doch für das geschichtliche Aufkommen der Moderne entscheidend ist. Tarnas ist darüber hinaus ganz einer romantischen/ Washburn/Wilber-I-Auffassung verpflichtet, was in meinen Augen seine Darstellung weiter schwächt. Diese Hegemonie der monologischen Sichtweise ist an sich schon schlimm genug, aber sie führt Grof auch in die, wie ich meine, zentrale Fehlauffassung in seinem Modell, die das Wesen und die Bedeutung der perinatalen Ebene betrifft.
Perinatale Reduktion Grof definiert das Wort "perinatal" wie folgt: "Peri- bedeutet wörtlich um etwas herum oder bei, natalis heißt die Geburt betreffend. Gemeint sind Ereignisse, die der biologischen Geburt unmittelbar vorangehen oder folgen bzw. sie begleiten."4 Grof stellte bei seinen frühen psychedelischen Forschungen immer wieder fest, dass die Versuchspersonen während einer typischen Sitzung stets in irgendeiner Weise Kontakt mit immer früheren Stufen ihrer Entwicklung bekamen. Sie schritten dabei von oberflächlichen abstrakten oder ästhetischen Strukturen zu früherem biographischen (und freudianischen) Material fort und schienen schließlich ihre biologische Geburt wiederzuerleben. Dieses Spektrum von Erfahrungen im Umfeld der Geburt bezeichnete Grof als "perinatal". Wenn diese perinatale Ebene erreicht war, öffnete sich dahinter die Tür zu transpersonalen und spirituellen Erfahrungen. Weitere Beobachtungen legten den Schluss nahe, dass sich perinatale Erfahrungen im allgemeinen in vier recht gut abgegrenzte Kategorien gliedern lassen, die in auffälliger Weise den Phasen der biologischen Geburt entsprechen. Grof postulierte daher "perinatale Grundmatrizen" (PGM), die während der biologischen Geburt festgelegt werden. Man könne zwar nicht alle perinatalen Erfahrungen auf ein tatsächliches Wiedererleben der biologischen Geburt reduzieren, doch würden diese Matrizen als dem KörperGeist zutiefst eingeprägte Strukturen ein Raster für die weitere psychologische Entwicklung bilden. "Die Verbindung zwischen der biologischen Geburt und [...] perinatalen Erfahrungen ist sehr tiefgehender und spezifischer Natur", sagt Grof. "Dies macht es möglich, mit Hilfe der für eine Geburt typischen Phasen ein theoretisches Modell zu konstruieren, das die Dynamik der perinatalen Ebene des Unbewussten verstehen hilft."5 Die Phasen der biologischen Geburt legen das Raster für die vier grundlegenden perinatalen Matrizen fest: PGM I, das ozeanische oder amniotische Universum; PGM II, das kosmische Verschlungenwerden und Ausweglosigkeit; PGM III, der große Kampf vor Tod
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und Wiedergeburt; und PGM IV, Tod und Wiedergeburt. Diese Blaupausen, Schablonen oder Matrizen haben für Grof tiefe Wurzeln in den biologischen Aspekten der Geburt. Und doch sagt Grof nur, perinatale Erfahrungen beschränkten sich in der Regel nicht auf ein bloßes Wiedererleben des Geburtstraumas. Vielmehr seien perinatale Erfahrungen grundsätzlich die Pforte zu transpersonalen Erfahrungen. Grof sagt ausdrücklich: "Trotz seiner engen Verbindung mit dem Geburtsvorgang geht der perinatale Prozess über den rein biologischen Aspekt hinaus und besitzt wichtige psychologische, philosophische und spirituelle Dimensionen ... Es gibt bestimmte wichtige Merkmale des perinatalen Prozesses, die unmissverständlich darauf hinweisen, dass dieser ein sehr viel allgemeineres Phänomen als das Wiedererleben der biologischen Geburt ist."6 Damit könnte er durchaus recht haben, aber ich glaube doch, dass Grof genau an dieser Stelle seinen eigenen Definitionen untreu wird. Er führt ja Bewusst den Begriff perinatal ein, weil er ihn ausdrücklich auf Erfahrungen im Umfeld des biologischen Geburtsprozesses bezieht. Aber wenn Aspekte dieser Erfahrungen "unmissverständlich darauf hinweisen, dass dieser ein sehr viel allgemeineres Phänomen als das Wiedererleben der biologischen Geburt ist", dann verwirft er damit ausdrücklich die Verkürzung dieser Erfahrungen auf die biologische Geburt, behält aber den Begriff "perinatal" bei. Sooft also ein intensiver Tod-und-Wiedergeburts-Kampf jeglicher Art, in jedem Alter und unter jeglichen Umständen auftritt, analysiert Grof dies in einer doppeldeutigen Weise, die seiner versteckten doppeldeutigen Definition von "perinatal" entspricht. Er behauptet zuerst, dass das Wiedererleben des eigentlichen Geburtstraumas der Kern des Phänomens von Geburt und Wiedergeburt ist; dann aber verwirft er die Reduktion auf die biologische Geburt, behält aber den Begriff "perinatal" fur die Beschreibung der verschiedensten Erfahrungen von Tod und Wiedergeburt bei, von Erfahrungen, die, wie er weiterhin betont, in Matrizen verankert, wenn nicht gar auf diese reduzierbar sind, die bei der biologischen Geburt angelegt wurden. Aber dies ist kennzeichnend: "Auf dieser [perinatalen] Ebene des Unbewussten hingegen beherrscht die Todesthematik das Bild vollkommen."7 Dies zeigt nur, dass es bei allen intensiven perinatalen Erfahrungen um Leben und Tod geht; es bedeutet aber keineswegs, dass alle Erfahrungen, bei denen es um Leben und Tod geht, perinatal sind. Grof muss also von dieser breiteren und allgemeineren Bedeutung von "perinatal" zu einem "perinatal" im engeren Bedeutungszusammenhang mit der Geburt übergehen. Dies tut er im nächsten Schritt: "Die Verbindung zwischen der biologischen Geburt und [...] perinatalen Erfahrungen ist sehr tiefgehender und spezifischer Natur."8 "Das Erlebnis der Konfrontation mit dem Tod auf dieser Ebene ist
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gewöhnlich eng mit verschiedenen anderen Phänomenen verknüpft, die mit dem Geburtsvorgang im Zusammenhang stehen ... Sehr häufig empfinden sich die betreffenden Personen als Föten und können verschiedene Aspekte ihrer biologischen Geburt [...] wiedererleben ... Die Tod- und Wiedergeburterlebnisse treten in Form charakteristischer Themenverbindungen auf, deren grundlegende Merkmale von bestimmten anatomischen, physiologischen und biochemischen Aspekten der aufeinanderfolgenden Phasen der Geburt [...] logisch abgeleitet werden können."9 Nun könnte es ja zutreffen, dass intensiven Erfahrungen im Grenzbereich von Leben und Tod eine biologische Geburtsmatrix zugrunde liegt – nur beweist Grofs Material dies in keiner Weise. Seine Beobachtungen stammen hauptsächlich aus LSD-Sitzungen, bei denen Menschen durchaus die biologische Geburt wiedererleben mögen. Aber diese Beobachtungen sind zum Beispiel in keiner Weise eine Beschreibung der transpersonalen Stufen der Vipashyana-Meditation im Zustand des Nirvikalpa-Samadhi (von der Notwendigkeit, sich zuerst als Fetus zu erleben, ist in keinem der traditionellen Texte die Rede). Grof beschreibt einfach einen spezifischen Zusammenhang von Phänomenen, die unter LSD-Einfluss und gelegentlich auch bei anderen Formen von intensivem physiologischen Stress auftreten. Ich will aber Grofs Befunde gar nicht bestreiten; sie könnten durchaus zutreffend sein. Was ich aber in Frage stelle, ist die vorschnelle und weitreichende Extrapolation von der ganz spezifischen und begrenzten Geburtssituation, in der intensive Grenzerfahrungen zwischen Leben und Tod auftreten, auf Erfahrungen von Tod und Wiedergeburt im allgemeinen, die durchaus nicht immer mit einem Wiedererleben der biologischen Geburt verbunden sind. Ich werde auf diesen entscheidenden Punkt gleich noch einmal zurückkommen. Zunächst jedoch möchte ich auf diesen durch nichts gerechtfertigten und pauschalen Sprung Grofs hinweisen, der ihm durch seine versteckte doppeldeutige Definition von "perinatal" ermöglicht wird. Er sagt also: "Das Kernelement im komplexen dynamischen Geschehen des TodWiedergeburt-Prozesses scheint das Wiedererleben des biologischen Geburtstraumas zu sein." Und er fügt stets hinzu, dass dieser Prozess mehr ist als ein bloßes Wiedererleben des Geburtstraumas, wobei aber trotzdem das Wiedererleben der biologischen Geburt das notwendige Kernelement ist: "Obwohl nicht das gesamte Spektrum der Erlebnisse auf dieser Ebene auf das erneute Durchleben der biologischen Geburt zurückgeführt werden kann, scheint das Geburtstrauma doch ein wesentlicher Aspekt dieses Prozesses zu sein. Aus diesem Grund ziehe ich es vor, diesen Bereich des Unbewussten als 'perinatal' zu bezeichnen."10
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Genau hier kommt die verborgene doppeldeutige Definition ans Tageslicht. Worin besteht denn genau "diese Ebene der Selbsterkundung"? Sie ist eine Konfrontation mit Tod und Wiedergeburt. Und was ist ein wichtiger Kern dieser Auseinandersetzung, das heißt ein notwendiger Bestandteil? Es ist das Wiedererleben der biologischen Geburt, weshalb diese Erfahrung perinatal genannt wird. Aber worin besteht nun die "perinatale Ebene" selbst? Es sind die intensiven, existentiellen Tod-WiedergeburtErfahrungen. Aber hierin liegt ein Übergang von der ersten Definition (biologische Geburt) zur zweiten (intensive existentielle Krisen im allgemeinen), ohne dass Grof dies in irgendeiner Weise begründete. Es gibt, wie er sagt, "das gesamte Spektrum der Erlebnisse auf dieser Ebene [von Leben und Tod]", und es gibt den "Prozess der biologischen Geburt", und nach seiner doppeldeutigen Definition ist beides "perinatal". Dies ist der Punkt, an dem Grofs Definition sich vollständig aus ihrer Verankerung gerissen hat und wahllos in der existentiellen Welt vagabundiert. "Die Begegnung mit Geburt und Tod auf dieser tiefen Erfahrungsebene geht in der Regel mit einer existentiellen Krise von außerordentlichem Ausmaß einher, in deren Verlauf sich der einzelne ernsthaft mit dem Sinn seines Lebens und der Existenz im allgemeinen auseinandersetzt."11 Aus den Befunden, die Grof vorlegt, folgt aber lediglich, dass perinatale Erfahrungen tiefe existentielle Erfahrungen sein können; es folgt aber keineswegs daraus, dass alle existentiellen Krisen perinatal sind. Aber auf diesem grundlegenden Fehlschluss baut Grof seine doppeldeutige Definition auf und verankert er alle existentiellen Tod-Wiedergeburt-Phänomene in der eigentlichen Geburtsmatrix. So kann er alle Tod-Wiedergeburt-Erfahrungen als die Tod-Wiedergeburt-Erfahrung bezeichnen, und diese monolithische Tod-Wiedergeburt-Blaupause ist natürlich die biologische Geburt: "Die Todund Wiedergeburterlebnisse treten in Form charakteristischer Themenverbindungen auf, deren grundlegende Merkmale von bestimmten anatomischen, physiologischen und biochemischen Aspekten der aufeinanderfolgenden Phasen der Geburt [...] logisch abgeleitet werden können."12 Diese Doppeldefinition erweist sich als bequemes Mittel, wenn die Rolle des Geburtstraumas über dasjenige hinaus ausgedehnt werden soll, was Grofs Befunde belegen. Er wechselt einfach von der biologischen Geburt auf die "perinatale Ebene", weil dies, wie wir gesehen haben, nach seiner Doppeldefinition eben doch nicht dasselbe ist. Diese Doppeldefinition (Geburt/existentielle Erfahrung) erlaubt es ihm, seinen Reduktionismus implizit aufrechtzuerhalten und ihn zugleich explizit zu leugnen. Grof zufolge liegt also die perinatale Ebene des Unbewussten am Schnittpunkt zwischen dem Personalen und dem Transpersonalen. Dies heißt
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aber nichts weiter, als dass zwischen personaler und transpersonaler Entwicklung ein existentielles Tod- und Wiedergeburterlebnis liegt. Grof hat in keiner Weise gezeigt, dass ein Wiedererleben der biologischen Geburt in allen oder auch nur in den meisten Fällen notwendige Voraussetzung für eine solche Entwicklung ist. Intensive LSD- und holotrope Sitzungen könnten in der Tat zu einem Wiedererleben der Geburt führen; aber mit seinem Versuch, über diese ganz spezifischen Fälle pauschal auf die existentiellen und transpersonalen Dimensionen zu extrapolieren, überstrapaziert Grof seine Befunde bei weitem. Ich bin der Meinung, dass Grof mit dieser versteckten Doppeldefinition von perinatalen Erlebnissen als "existentiellen" und "Geburtserfahrungen" Chronologie und Ontologie miteinander verwechselt. Natürlich könnte bei intensiven LSD-Sitzungen, auf denen Grofs Modell nach wie vor aufbaut, eine chronologische Regression von der Gegenwart auf die frühe Kindheit (freudianisch) und zum Geburtstrauma (rankianisch) auftreten, und jenseits davon könnten, wenn der Betreffende sich von einer ausschließlichen Identifizierung mit dem grobstofflichen Körper-Geist gelöst hat, in der Tat transpersonale Erfahrungen auftreten. Weil aber Grof diese zeitliche Abfolge mit einer Ontologie der Bewusstseinsdimensionen verwechselt, muss er den biologischen GeburtsProzess zwischen den personalen und den transpersonalen Bereich einschieben, denn nur so kann er sein Modell über die spezifischen und relativ begrenzten Bedingungen hinaus generalisieren, in denen dieses Modell entstand. Und deshalb muss er auch grundsätzlich postulieren, dass ein irgendwie geartetes Wiedererleben der biologischen Geburt für die transpersonale Entwicklung prinzipiell notwendig sei. An diesem Punkt nun steht Grofs Modell, wie ich glaube, in erheblichem Widerspruch zu der großen Fülle von Belegen aus den meditativen und kontemplativen Traditionen, aus der westlichen Tiefenpsychologie (einschließlich der jungianischen) und aus der Forschung über außergewöhnliche Bewusstseinszustände. Die Frage lautet nicht, ob zwischen der personalen und der transpersonalen Ebene eine existentielle Ebene liegt. Dies wird praktisch von niemandem bestritten, auch nicht von mir. Die Frage lautet vielmehr, ob auf dieser existentiellen Ebene notwendigerweise die biologische Geburt wiedererlebt werden muss. Also nicht, ob dies gelegentlich der Fall ist, sondern ob dies immer so sein muss. Grof bejaht dies, praktisch alle anderen verneinen es. In keiner der großen spirituellen Traditionen ist davon die Rede, dass man die biologische Geburt notwendigerweise wiedererleben müsse. Auch in den asketischen Praktiken, schamanischen Techniken und in den kontemplativen Yoga-Schulen ist nichts davon zu finden. Es ist keine Rede davon in den großen Klassikern der Philosophia perennis oder in einem der
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großen Weisheitstexte. Auch die große Mehrzahl der westlichen Tiefenpsychologen einschließlich James und Jung und der allgemeinen jungianischen Tradition erwähnt davon nichts. (Und man findet dies nicht einmal beim Regressivisten Washburn, von dem man doch Zustimmung erwarten könnte.) Von Huston Smith stammt wohl die abschließende Kritik von Grofs Modell aus der Sicht der großen Weisheitstraditionen. Von den vielen entscheidenden Einwänden Smith', denen ich sämtlich zustimme, sind insbesondere die folgenden von Bedeutung: (1) Grof verwechselt chronologische Regression mit ontologischen Seins- und Bewusstseinsmodi, womit er deren tatsächlichen Ursprung grundsätzlich verkennt; (2) Grof Missversteht deshalb die tatsächliche Rolle der biologischen Geburt im existentiellen und spirituellen Bereich, weil diese Bereiche "von der Geburt beeinflusst, aber nicht durch sie kausal bedingt" sind, und (3) Grof erkennt deshalb nicht, dass "Geburt und Tod nicht nur physisch sind".13 Dagegen bekräftigt Smith, dass die von mir beschriebene Holarchie von Grundstrukturen mit den "ewigen Traditionen", wie er sie in Forgotten Truth darstellt, völlig im Einklang ist. Eine gewaltige Fülle meditativer und phänomenologischer Befunde aus den großen Traditionen stützt ohne jede Einschränkung diese Auffassung, die in Grofs Modell in seiner gegenwärtigen und beschränkten Form schlicht keinen Platz hat. Grof pflegt auf solche Kritik zu antworten, dass alle diese Weisheitstraditionen sehr wohl Tod- und Wiedergeburtphänomene anerkennen und dass sie alle darin übereinstimmen, dass solche existentiellen Krisen den entscheidenden Übergang von personaler Knechtschaft zu transpersonaler Befreiung darstellen. Hieran besteht kein Zweifel, aber Grof geht eben noch weiter und setzt im selben Atemzug existentiellen Tod und Wiedergeburt mit "perinatal" und "Geburt" gleich, und das Übergewicht der Befunde spricht eben gegen diese Gleichsetzung, die einen Anschein von Gültigkeit nur durch seine versteckte doppeldeutige Definition von "perinatal" gewinnen kann. Grof setzt schon voraus, was er beweisen will, nämlich nicht, dass eine existentielle Ebene zwischen aller personalen und transpersonalen Entwicklung liegt (dies wird von allen Seiten akzeptiert), sondern vielmehr, dass der Kern dieser existentiellen Ebene eine Blaupause der biologischen Geburt sei (was praktisch niemand außer Grof selbst behauptet und wofür er keinen grundsätzlichen Beweis vorgelegt hat). Damit hat er meiner Ansicht nach etwas, das vielleicht für intensive LSDund holotrope Sitzungen zutreffend ist, in ungerechtfertigter Weise zum Paradigma für alle Formen transpersonaler Entwicklung erhoben, eine Generalisierung, für die es keinerlei Evidenz gibt. Für mich (und ich stehe mit dieser Einschätzung keineswegs allein) sind diese Matrizen der biologischen Geburt eher eine idée fixe von Grof, ein beschränktes und beschränkendes
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Raster, durch das er alle Befunde sieht. Dieser Ansatz lässt aber andere, nicht minder wichtige Komponenten der menschlichen Psyche außer acht, insbesondere jene weitläufigen konstituierenden Netze moralischer, kultureller, sprachlicher und syntaktischer Strukturen. Im Ergebnis ist sein allgemeines Modell des Bewusstseins und der Bewusstseinsentwicklung, wie ich meine, außerordentlich wichtig und fruchtbar, aber doch sehr beschränkt.
Drehpunkt 0 und Drehpunkt 6 Ich bestreite aber weder die Existenz der perinatalen Grundmatrizen noch die Möglichkeit, dass diese eine wichtige Rolle für bestimmte psychospirituelle Entwicklungen spielen könnten. Ich möchte im folgenden kurz aufzeichnen, wie Grofs Daten unter Vermeidung seiner versteckten doppeldeutigen Definitionen mit meinem eigenen Modell in Einklang zu bringen sein könnten. Beginnen wir mit der, wie ich es nenne, existentiellen Ebene. In meinem Modell heißt die Grundstruktur dieser Ebene "Schau-Logik". Dabei ist das Selbst-Bedürfnis dasjenige nach "Selbst-Verwirklichung"; die moralische Empfindung ist postkonventionell, und die Selbst-Empfindung oder SelbstIdentität ist die "zentaurische" oder "existentielle" (Drehpunkt 6). Von meinem ersten bis zu meinem letzten Buch habe ich aus Hunderten von östlichen und westlichen Quellen (die ich auch angegeben habe) eine Fülle von Belegen dafür zusammengetragen, dass eine existentielle Ebene (oder wie auch immer man sie nennen mag) die große Pforte zu den spirituellen und transpersonalen Dimensionen ist. Die existentielle Ebene ist gewissermaßen die Schnittstelle zwischen dem Personalen und dem Transpersonalen (oder, mehr technisch gesprochen, zwischen dem am Grobstofflichen orientierten Körper-Geist und den transegoischen subtilen und kausalen Bereichen). Wenn also Entwicklung über die individuelle und existentielle Ebene hinaus fortschreiten soll, muss das Selbst (oder Bewusstsein) sich von seiner ausschließlichen Identifikation mit dem grobstofflichen Körper-Geist und allen seinen Beziehungen lösen bzw. diese dekonstruieren.14 Selbstverständlich ist dies ein "Tod", aber in meinem Modell findet an jedem Drehpunkt – was auch Grof anerkennt – ein kennzeichnender TodWiedergeburt-Kampf statt. Jede durch einen Entwicklungsfortschritt bedingte Verlagerung des Schwerpunkts bedeutet, dass das Selbst sich nicht mehr mit der Grundstruktur dieser Stufe identifiziert (dass es letztlich für diese Ebene gestorben ist, sich von dieser Ebene entidentifiziert, diese Ebene transzendiert hat) und in der neuen tieferen und weiteren Bewusstseinssphäre der nächsten Stufe wiedergeboren wird. Jeder
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Drehpunkt beinhaltet einen Tod auf einer grundlegenden Ebene und eine Wiedergeburt auf der nächsten, bis man schließlich auf den Leitersprossen der eigenen abgestorbenen Selbste zur Wiedergeburt in der Todlosigkeit gelangt.15 Die spezifischen Konturen einer jeden Transformation durch Tod und Wiedergeburt hängen von dem jeweiligen Drehpunkt ab: Es gibt den Tod des (ausschließlichen) Pleromas, den Tod des Uroboros, den Tod des Typhons, den Tod der Persona, den Tod des Ich, den Tod des Zentauren und den Tod der Seele (dies sind Modi der Selbst-Empfindung innerhalb einiger der wichtigen Grundstrukturen). Jeder Tod ist auf seine eigene Weise schwierig; wichtig ist jedenfalls der Tod dieser Modi. Dennoch ist der Tod-Wiedergeburt-Kampf auf der zentaurischen/existentiellen Ebene in gewisser Weise der dramatischste, und zwar einfach deshalb, weil er, wie gesagt, den großen Übergang vom personalen zum transpersonalen Reich darstellt. Wie ebenfalls schon gesagt, ist der existentielle Tod die Dekonstruktion der umfassenden Netzwerke biologisch orientierter Identifikationen (der Tod einer ausschließlichen Identifikation mit dem am Grobstofflichen orientierten Körper-Geist im allgemeinen). Deshalb ist der Tod-Wiedergeburt-Kampf der existentiellen Ebene ebenso tief bedeutsam wie intensiv. Die entscheidende Frage lautet also: Beinhaltet der Tod und die Wiedergeburt an diesem großen Übergang notwendigerweise das Wiedererleben der biologischen Geburt? Im Gegensatz zu Grof behaupte ich, dass dies manchmal durchaus der Fall sein kann, aber nicht notwendig ist, und wenn es nicht notwendig ist, dann kann dies auch nicht der grundlegende Mechanismus des großen Übergangs zum Transpersonalen sein. Meinem eigenen Modell zufolge ist, wie man sich erinnern wird, die biologische Geburt Drehpunkt 0. Wie alle Drehpunkte beinhaltet er einen grundlegenden dreistufigen Prozess der Verschmelzung, Differenzierung und Integration. Diese allgemeinen Teilphasen von Drehpunkt 0 entsprechen weitgehend Grofs PGM.16 Ich glaube in der Tat, dass diese Geburtsmatrizen dem grobstofflichen Körper-Geist des Menschen eingeprägt sind. Wie groß aber ihr Gewicht tatsächlich ist, lässt sich jedoch anhand der derzeit vorhandenen Befunde einfach nicht entscheiden. Meiner Meinung nach Misst Grof den Belegen für diese Ereignisse und deren Einfluss zuviel Bedeutung bei, und ich glaube, dass er diese Befunde auf alle Fälle überstrapaziert, wenn er ihnen allgemeine Bedeutung für den existentiellen und transpersonalen Bereich zuweist. Auf der Grundlage zureichender und zuverlässiger Evidenz lässt sich meiner Meinung nach nur folgendes sagen:
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Zwischen der personalen und der transpersonalen Entwicklung liegt eine existentielle Ebene (oder wie auch immer man sie nennen will). Diesbezüglich stimmen Washburn, Grof, die großen Traditionen und ich überein. In meinem Modell entspricht dies Drehpunkt 6. Dies bedeutet nicht, dass transpersonale Erfahrungen nicht schon vor Drehpunkt 6 auftreten könnten; dies kommt vor, und nicht einmal selten, doch handelt es sich dabei immer nur um vorübergehende Bewusstseinszustände, um Gipfelerfahrungen oder einen Zustand "ziehender Wolken der Herrlichkeit" (was ich gleich erläutern werde). Damit aber solche Zustände zu Wesensmerkmalen werden können (d.h. damit sich vorübergehende und ausschließende Bewusstseinszustände in dauerhafte und einschließende Strukturen verwandeln können, die dem Bewusstsein ständig verfügbar sind), muss der Mensch wachsen und sich auf sie hinentwickeln. An einem bestimmten Punkt dieses Wachstums kommt es zur Begegnung mit dem existentiellen Bereich, jenseits dessen dauerhaftere transpersonale Strukturen entdeckt werden können. Washburn, Grof und ich sind uns weiterhin einig, dass dieser existentielle Übergang mit einer oder einer Reihe von Konfrontationen auf Leben und Tod verbunden ist, die oft schwierig und schmerzlich sind, aber immer eine tiefe Transformation beinhalten. Dann aber trennen sich unsere Wege. Washburn und Grof sehen in diesem Übergang (weitgehend) eine buchstäbliche und notwendige Regression, Washburn auf Drehpunkt 1, Grof weiter zurück bis zum intrauterinen Zustand von Drehpunkt 0. Meine Ansicht ist, dass eine solche Regression auftreten kann, aber nicht die entscheidende Brücke zum Transpersonalen ist. Unter welchen Umständen könnte eine solche Regression auftreten? Nach meinem Modell führt jede Entwicklungsstörung an einem der Drehpunkte des Selbst zu einer "Läsion" des Bewusstseins. Diese Fehlentwicklungen (Ichspaltung, Entfremdung, Verdrängung, Zersplitterung, Fixierung, Dissoziation usw.) sabotieren in unterschiedlicher Weise die weitere Entwicklung. Handelt es sich um schwerwiegende Dissoziationen, kann es für die weitere Entwicklung notwendig sein, die dissoziierten Aspekte (die "unverdauten Erfahrungen" – eine passende Metapher, denn das Selbst ist der Ort des "Stoffwechsels" der Erfahrungen) wiederaufzufinden und neu zu integrieren. Wenn weiterhin das Bewusstsein auf der existentiellen Ebene beginnt, die ausschließliche Identifikation mit dem grobstofflichen Körper-Geist zu dekonstruieren, beginnt es auch die Verdrängungsschranke zu dekonstruieren, die für einen großen Teil der Dissoziationen der verschiedenen Aspekte dieses grobstofflichen und vitalen Körper-Geistes verantwortlich ist; dies ist der Grund dafür, warum gerade dann besonders schwere frühere Verdrängungen/Fixierungen ins Bewusstsein drängen (oder
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in einer anderen Weise als Regressionsmagnet wirken, der bewältigt werden muss, bevor eine Weiterentwicklung möglich ist). Auf der existentiellen Ebene (Drehpunkt 6) können also bedeutsame Fehlentwicklungen an einem der früheren Drehpunkte (wie z. B. Drehpunkt 0 und Drehpunkt 1) an die Oberfläche kommen und aggressiv Aufmerksamkeit fordern.17 Der entscheidende Punkt ist also meines Erachtens, dass in diesem Modell Platz für alle Befunde und Daten der Modelle von Grof und Washburn ist – aber nicht umgekehrt. Wenn zum Beispiel in einem bestimmten Fall eine Regression auf Drehpunkt 1 (Washburn) oder Drehpunkt 0 (Grof) vorliegt, ist für solche Phänomene in meinem Modell genügend Raum. Aber wenn solche schweren Regressionen in bestimmten Fällen nicht auftreten, versagen ihre Modelle völlig. Da aber sämtliche interkulturellen Befunde klar zeigen, dass Regression und direkte Kontaktaufnahme mit dem kindlichen Zustand durchaus keine notwendige Voraussetzung etwa für Sahaja-Samadhi sind, sind diese Modelle damit klar und gründlich gescheitert.
Frontale und psychische Entwicklungslinien Ich möchte nun versuchen aufzuzeigen, was sich meiner Meinung nach hinter Grofs Daten und seiner perinatalen Orientierung wirklich verbirgt. Die Tatsache, dass Drehpunkt 0 hinsichtlich dieses Lebens der "Anfangspunkt der Linie" ist, bedeutet nicht, dass er auch der Anfangspunkt des Bewusstseins sein müsse. Man muss die Möglichkeit offen lassen, dass es vor Drehpunkt 0 noch das ganze Spektrum der Bardo-Reiche (und der Reiche früherer Leben) gibt. Mit dieser Möglichkeit habe ich mich im Atman-Projekt ausführlich auseinandergesetzt, das heißt, ich habe ihr das ganze letzte Kapitel gewidmet. Wie ich in diesem Kapitel ausführe, hat das Bewusstsein vor der Empfängnis im grobstofflichen Körper-Geist den kausalen Dharmakaya und danach den feinstofflichen Sambhogakaya durchwandert und nimmt schließlich im Mutterschoß mit der Empfängnis grobstoffliche Gestalt an (womit Drehpunkt 0 beginnt). Deshalb habe ich zur Beschreibung dieses Sachverhaltes seit Das Atman-Projekt immer Wordsworth' "Nicht in völliger Vergessenheit ... sondern als ziehende Wolken der Herrlichkeit kommen wir ..." benutzt. Deshalb habe ich auch nie bestritten, dass transpersonale Erfahrungen unterschiedlicher Art in der prä-egoischen Phase möglich sind; ich habe lediglich bestritten, dass sie auf irgendwelchen prä-egoischen Strukturen beruhen. Nach dem Modell des tibetischen Buddhismus, dem ich im Atman-Projekt folge, besteht die individuelle Psyche oder das individuelle Bewusstsein aus
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zwei verschiedenen Essenzen oder Tropfen (tigle). In der Mitte des Herzens eines jeden Menschen befindet sich die leere Essenz (tigle) des Bewusstseins, die in zwei Ebenen oder Tropfen aufgeteilt ist: (1) Der "lebenslang unzerstörbare Tropfen", der sich während der Lebensspanne eines Menschen entwickelt, aber beim biologischen Tod zugrunde geht, und (2) innerhalb des lebenslang unzerstörbaren Tropfens der "ewig unzerstörbare Tropfen", der bis zur Buddhaschaft überdauert und bis zur endgültigen Erleuchtung von Leben zu Leben wandert. Dieser innere Tropfen ist in meiner Terminologie das psychische/feinstoffliche Wesen, das ich ganz Bewusst auch als "Seele" (sou/) bezeichne, weil diese ebenfalls bis zur spirituellen Wiederauferstehung im kausalen / nichtdualen göttlichen Reich seiner Leerheit Bestand hat. (Dies entspricht, wie wir noch sehen werden, auch recht weitgehend Aurobindos Unterscheidung zwischen dem frontalen Bewusstsein, das sich in diesem Leben entwickelt, und dem tieferen / psychischen Wesen, das von Leben zu Leben wandert.)18 Grundsätzlich gilt für dieses tibetische/Aurobindo/Wilber-II-Modell, dass die höchste in einem Leben erreichte stabile Evolutionsebene den ewigen unzerstörbaren Tropfen durchzieht und – normalerweise nicht als spezifische Erinnerungen, sondern als "Anpassungsstimmung" – auf das nächste Leben übertragen wird. Wie ich in Das Atman-Projekt erläutert habe, ist die Seele um so weniger verhaftet (das heißt, Vergisst sie ihren höheren Ursprung und ihre Soheit um so weniger), je höher sie entwickelt ist. Dies setzt sich bis zur vollständigen Erleuchtung fort; dann geht die Seele vollständig im uranfänglichen ungeborenen GEIST oder der radikalen Leerheit auf, die einfach das durchscheinende Leuchten eines jeden Augenblicks ist und in der sie negiert und zugleich erhalten wird. In Das Atman-Projekt beschreibe ich die vorgeburtlichen Bardo-Bereiche ausführlich, die dieser Seelentropfen auf seinem Weg zur Wiedergeburt im grobstofflichen Körper-Geist durchwandert (das heißt die Involutionsreise vom Kausalen über das Feinstoffliche zum grobstofflichen Körper-Geist), an deren Ende der vorgeburtliche Zustand steht. Mit anderen Worten, dieser Pränatale Zustand ist der Beginn von Drehpunkt 0 oder der frontalen Bewusstseinsentwicklung und -evolution (der Anfang des lebenslang unzerstörbaren Tropfens), einer Entwicklung oder Evolution, die sich über die neun oder zehn Grundstrukturen des (frontalen) Bewusstseins und der zugehörigen Selbst-Drehpunkte vollzieht. Zu diesem auf zwei Ursprüngen (frontal/Seele) aufbauenden tibetischen/ Aurobindo-/Wilber-II-Modell sind einige Anmerkungen zu machen. 1. Je mehr die Entwicklung des frontalen Bewusstseins fortschreitet, desto mehr verliert die Psyche/Seele die Fähigkeit zur Zeugenschaft. In Das Atman-Projekt beschreibe ich dies im Abschnitt "Amnesie und das
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Zwischenreich" (der Bardo ist das "Zwischenreich" zwischen Tod und Wiedergeburt) als Amnesie, als Vergessen. 2. In den Traditionen finden sich unterschiedliche Angaben dazu, wie lange es dauert, bis diese "ziehenden Wolken der Herrlichkeit" der psychischen/seelischen Zeugenschaft in der Kindheit verschwinden. Den Angaben von Lehrern zufolge, mit denen ich gesprochen habe, sowie laut verschiedener Texte scheint es sich um einen Zeitraum von einigen Wochen bis zu einigen Jahren zu handeln, was hauptsächlich von der "Kraft" des wandernden Seelentropfens abhängt. 3. Echte Erinnerungen an die Pränatale, perinatale und frühkindliche Zeit können, sofern sie sich als gültig erweisen – und ich denke hier an Grofs Daten –, nur in diesem psychischen / seelischen Bewusstsein enthalten sein, nicht in Strukturen oder im Bewusstsein der frontalen Persönlichkeit, weil diese Strukturen und ihre neuronalen Träger (Myelin-Scheiden) noch kaum entwickelt sind. Dieses Bewusstsein schlage ich in meinem Modell als den subjektiven Träger von Grofs perinatalen Erinnerungen vor, sofern weitere Befunde deren Existenz bekräftigen.19 4. Dies bedeutet, wie schon gesagt, dass transpersonale Ereignisse während der prä-egoischen Phase ihre Ursache nicht in einer der präegoischen frontalen Strukturen selbst haben, sondern vielmehr im tieferen psychischen / seelischen Wesen, das mit fortschreitender frontaler Entwicklung immer mehr vergessen wird (Amnesie). Die Verbindung mit der psychischen / seelischen Ebene ist daher kein Wiederfinden irgendwelcher prä-egoischer oder kindlicher Strukturen in der frontalen Linie (die das Bewusstsein ja gerade verdunkeln). Mit anderen Worten, die transpersonale Psyche/Seele der prä-egoischen Phase ist in keiner Weise eine prä-egoische Struktur, die in der prä-egoischen oder kindlichen Phase selbst definiert oder entwickelt werden würde. 5. Wenn die Entwicklung des frontalen Bewusstseins über die existentielle Ebene (Drehpunkt 6) hinausgeht und die psychische Ebene erreicht (Drehpunkt 7), beginnt die psychische/seelische Dimension in das frontale Bewusstsein einzudringen. 6. Genau dies ist der Grund, warum hier ein Wiedererleben des Geburtstraumas auftreten kann, denn der Träger des perinatalen Bewusstseins/Gedächtnisses ist nicht das Ich, das es zu jenem Zeitpunkt noch nicht gab, sondern das Psychische/Seelische, das jetzt im frontalen Bewusstsein emergiert. 7. Deshalb ist aber auch dieses Wiedererleben des Geburtstraumas in keiner Weise für die spirituelle Entwicklung notwendig; das Entscheidende ist hier vielmehr die Emergenz der psychischen Ebene im frontalen Bewusstsein, das mit einer Rückblende auf seinen Eintritt in den grobstofflichen Bereich verbunden sein kann, aber nicht muss.
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8. In jedem Fall ist dieser psychische / seelische Zeuge, sei es als "ziehende Wolken der Herrlichkeit" im Pränatalen und perinatalen Zustand oder als Emergenz auf Stufe 7 der frontalen Entwicklung, nicht der endgültige oder irgendwie höchste Sitz des Bewusstseins, sondern vielmehr ein bereits samsarisch gebundenes und wanderndes Wesen. Er hat in keiner Weise etwas mit radikaler Erleuchtung zu tun: Er ist vielmehr dasjenige, was dekonstruiert (negiert und erhalten) werden muss, damit die Erleuchtung eintreten kann. Auf der Stufe Wilber-I war ich der Auffassung, dass transpersonale Erfahrungen der Pränatalen bis zur frühkindlichen Stufe darauf beruhten, dass die prä-egoischen Strukturen ihrem eigentlichen Wesen nach transpersonal seien. Dies war die Prä/trans-Verwechslung. Das Modell WilberII besagt dagegen, dass jegliche transpersonalen Erfahrungen der Kindheit nicht auf prä-egoischen frontalen Strukturen beruhen, sondern (1) auf jenen "ziehenden Wolken der Herrlichkeit" des psychischen/seelischen Tropfens, (2) auf dem fortwährenden Zyklus von Wach-/Traum-/Schlafzuständen, durch die jedes Ich jeweils in 24 Stunden in den grobstofflichen / feinstofflichen / kausalen Bereich eintaucht (ganz zu schweigen vom im Sekundentakt auftretenden mikrogenetischen Involutionszyklus, zu dem sich Näheres im letzten Kapitel von Das Atman-Projekt findet), und (3) auf vorübergehenden Gipfelerfahrungen. Zur Prä/trans-Verwechslung kommt es, wenn echte trans-egoische Strukturen oder Zustände – einschließlich des psychischen/seelischen Bewusstseins, wo immer es auftaucht – mit den gleichen Strukturen auf der prä-egoischen Ebene gleichgesetzt werden (wie zum Beispiel emotionale Vitalität, polymorphe Perversität, freie Libido-Verteilung, kindliche Aduälität usw.) – der bekannte romantische Washburn/Wilber-I-Irrtum. Mit anderen Worten, die in der prä-egoischen Phase auftretenden transpersonalen Zustände beruhen in keiner Weise auf prä-egoischen Strukturen. Ganz ähnliche Folgen hat die Prä/trans-Verwechslung für die Ereignisse auf der Entwicklungslinie des frontalen Bewusstseins und derjenigen der Psyche / Seele. Wenn Grof und andere gelegentlich äußern, der Vorwurf der Prä/trans-Verwechslung könne "so nicht stimmen", dann liegt dies meiner Meinung nach daran, dass sie diese beiden Entwicklungslinien miteinander verwechseln. Was nämlich auf der einen Linie (der psychisch / seelischen) wirklich "trans" ist, erscheint während der "prä"-Phase der anderen Linie (der frontalen Linie). Wenn man diese beiden Linien auseinander hält und sich klarmacht, dass die Prä/trans-Verwechslung individuell für jede dieser beiden Linien gilt, dann sollte hier, wie ich meine, sofort Klarheit herrschen. So haben wir zum Beispiel schon gesehen, was die Prä/transVerwechslung für die frontale Entwicklung oder frontale Evolution bedeutet (prä-egoische frontale Strukturen dürfen nicht mit trans-egoischen frontalen
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Strukturen verwechselt werden; dies würde entweder zum Reduktionismus oder zum Elevationismus führen). Genau dasselbe Prä/trans-Prinzip ist aber ebenso im involutiven Bogen wirksam, und auch in diesem Ablauf dürfen prä und trans nicht verwechselt werden. Das "Tibetische Totenbuch" nennt einen ganz einfachen und tiefen Grund dafür, warum die Seele aus der Leerheit des klaren Lichts herausfällt und in immer tiefere Zustände (von kausal über feinstofflich bis grobstofflich) gerät: Der Seelentropfen verwechselt die niedrigeren oder Prä-Zustände mit den höheren oder Trans-Zuständen und entscheidet sich deshalb für das Niedrigere, weil er es für das Höhere hält. Ein schwerer Fall von Elevationismus wirft ihn ins Samsara (dies den Retroromantikern ins Stammbuch). Dies ist eine sehr klare Beschreibung, wie die Prä/trans-Verwechslung sich in den Bardo-Reichen und auf die involutive Bewegung auswirkt (was natürlich ebenso für die evolutive gilt, wenn auch in "umgekehrter" Richtung). Ich habe immer die Prä/trans-Verwechslung als eine Verwechslung von Involution als solcher mit Vorgängen innerhalb der Evolution bezeichnet. Man muss aber diese evolutiven und involutiven Linien streng auseinanderhalten, weil man sonst unvermeidlich in eine Prä/trans-Verwechslung in irgendeiner Form gerät. Und schließlich habe ich aus demselben Grund auch immer gesagt, dass regressive Therapien wie Rebirthing und Atemarbeit das Transpersonale "durch die Hintertür" zu erreichen versuchen. Dies meine ich durchaus nicht abwertend; ich ziele damit lediglich auf die unbestreitbare chronologische Abfolge einiger dieser Erfahrungen. Wenn, wie Grof sagt, eine typische LSDSitzung im Übergang von gegenwärtigen Problemen zu früheren biologischen Ereignissen und freudianischen Problemen und weiter zum rankianischen Geburtstrauma besteht (das dann oft das Tor zum Transpersonalen bildet), dann kann es bezüglich der chronologischen Reihenfolge keinen Zweifel geben: Sie ist unbestreitbar regressiv. Bei diesen regressiven Therapien nimmt man aber letztlich nicht Kontakt mit der Pein der biologischen Geburt auf, sondern mit dem psychischen / seelischen Bewusstsein, das zu diesem Zeitpunkt bestand. Und das Entscheidende ist nun, dass man mit dem psychischen/seelischen Bewusstsein ebenso leicht ohne Regression Kontakt aufnehmen kann; ja, bei fast allen Bewusstseinsdisziplinen erfolgt die Kontaktaufnahme ganz ausdrücklich ohne Regression. Das psychische / seelische Bewusstsein ist ja letztlich dasselbe Bewusstsein, das auf Stufe 7 nach der Bewältigung der existentiellen Krise von Stufe 6 auftaucht. Wenn das psychische/seelische Wesen zum Vorschein kommt, kann dabei durchaus die biologische Geburt in die Erinnerung treten; aber normalerweise ist dies nicht der Fall, und ganz gewiss ist dies für das weitere Wachstum auch nicht notwendig, weil die
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entscheidende existentielle Krise auf Leben und Tod ja schon am Drehpunkt 6 bewältigt wurde. Ganz abgesehen davon, dass diesem psychischen/seelischen Wesen selbst nur ein kurzes Dasein beschieden ist, bis es durch den ungeborenen GEIST der kausalen und nichtdualen Ebene ersetzt wird. Es dürfte nun deutlich geworden sein, dass Grofs Doppeldefinition von "perinatal" auf einer Verwechslung zwischen dem an Drehpunkt 0 vorhandenen psychischen / seelischen Bewusstsein und den eigentlichen Schablonen dieses Geburtsdrehpunkts beruht. Drehpunkt 0 ist der Anfang der prä-egoischen Bereiche, aber auch das Ende der Bardo-Reiche, und an dieser Berührungsfläche zwischen dem Beginn der frontalen Evolution und am Ende der psychischen/seelischen Involution entstehen die eigentümlichen dualen Erfahrungen, die Grof als perinatal bezeichnet hat. Weil er aber zwischen diesen beiden Linien, der Evolution und der Involution, nicht sorgfältig unterscheidet, setzt er sie manchmal in einer unkritischen Weise an ihrer Berührungsfläche gleich (biologische Geburt ist gleich Tor zum Transpersonalen). Verständlicherweise bestreitet er einen Reduktionismus, obwohl diese Gleichsetzung in höchstem Maße reduktionistisch (und einfach nicht richtig) ist. Wenn man aber diese beiden Linien säuberlich unterscheidet, vermeidet man nicht nur die Prä/transVerwechslung, sondern Grofs Daten lassen sich auch besser mit den großen Weisheitstraditionen der Welt vereinbaren, nicht zu reden von meinem eigenen Modell und der großen Fülle von Befunden, die zu dessen Gunsten sprechen. So, wie die Dinge heute liegen, bleiben in Grofs Modell große Mengen klinischer, experimenteller, phänomenologischer, intersubjektiver, meditativer und psychotherapeutischer Daten unberücksichtigt. Ich stelle bei Grof eine beunruhigende Neigung fest, seine eigenen Forschungen als die klinischen Daten zu betrachten. Er sagt immer wieder, dass "die Theorie anhand der klinischen Daten überprüft werden müsse". Ich stimme ihm hier vollkommen zu. Nur betrachtet Grof als "die klinischen Daten" letztlich seine eigenen Daten (Halluzinogene und Hyperventilation). Aber die übergroße Mehrzahl von Forschern, auf die ich mich stütze, waren ihrerseits Pioniere der unmittelbaren klinischen und experimentellen Forschung, von Jean Piagets bahnbrechender méthode clinique zu Margaret Mahlers umfassenden, auf Video dokumentierten Beobachtungen, von Loevingers Tests der Selbstentwicklung bis zu Kohlbergs und Gilligans moralischen Untersuchungen auf der Grundlage empirischer Befunde – ganz zu schweigen von der Fülle phänomenologischer Evidenz aus den großen kontemplativen Weisheitstraditionen. Das Atman-Projekt zum Beispiel basiert auf den empirischen, phänomenologischen und klinischen Befunden von über sechzig Forschern zahlreicher Richtungen (und von Hunderten weiteren, die angelegentlich erwähnt wurden) –, und der Großteil davon lässt sich in Grofs
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Modell nicht in angemessener Weise unterbringen. Und dann behauptet Grof ständig, dass mein Ansatz mit "den" klinischen Befunden nicht verträglich sei – in der Tat eine groteske Haltung. Ich bin natürlich mit Grof völlig einer Meinung, dass Modelle durch Beweise begründet und nach ihrer Übereinstimmung mit den Fakten beurteilt werden müssen. Und ich bekräftige, dass ich jederzeit bereit bin, mich dem Urteil der Fakten zu beugen, wie auch immer es ausfallen mag.20 Ich möchte abschließend wiederholen, was ich zu Beginn dieses Kapitels gesagt habe: Bezüglich des Gesamtbildes des Spektrums des Bewusstseins und der Reiche des menschlichen Unbewussten bestehen zwischen Washburn, Grof und mir sehr weitgehende Übereinstimmungen. Diese großen Gemeinsamkeiten stehen für mich im Vordergrund, auch wenn wir bezüglich der Details noch manchen Strauß ausfechten werden.
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Kapitel 8 Integraler Feminismus Sexus und Geschlecht auf dem ethischen und spirituellen Pfad Manifestiert sich der GEIST als männlich und weiblich? Gibt es einen Gott und eine Göttin? Haben Männer und Frauen daher unterschiedliche, und sei es komplementäre Formen von Spiritualität? Wo, wenn überhaupt, hören wir auf, Männer und Frauen zu sein, und beginnen wir, Menschen zu sein? Hat sich der Feminismus überlebt? Oder braucht er einfach einen integraleren Ansatz?
Eine feministische Perspektive Peggy Wright hat zwei feministische Aufsätze über meine Arbeit veröffentlicht. Beide enthalten einige vorzügliche Argumente, aber beide geben ein eher schiefes Bild von meinen Auffassungen (es scheint mir, dass sie mit meinem Werk nicht sonderlich gut vertraut ist).1 Aber ihre Fehlinterpretationen sind, wie gut ihre Absichten auch gewesen sein mögen, trotzdem typisch für einen bestimmten unseligen Trend bei feministischen Autorinnen, und ich halte es für wichtig, diese Punkte aufzuklären, wenn je ein wirklich integraler Feminismus entstehen soll, der bei männlichen und weiblichen Theoretikern gleichermaßen Anklang finden kann. Carol Gilligan Beginnen wir mit einigen der typischen Fehlinterpretationen von Carol Gilligans Werk und hinsichtlich des Begriffs der Hierarchie. Ich bin der Meinung, dass viele feministische Autorinnen einschließlich Wrights das Wesen der Hierarchie grob Missverstehen, was sie zu falschen Auffassungen bezüglich meines und Carol Gilligans Modell führt, das ein zutiefst hierarchisches Modell ist. Gilligan hat festgestellt, dass Männer und Frauen drei allgemeine hierarchische Stufen der moralischen Entwicklung durchlaufen, wobei Männer bei ihrem Weg durch diese Stufen ihren Urteilen mehr den Gedanken des Rechts und der Gerechtigkeit zugrunde legen, während Frauen ihre Urteile eher auf Fürsorglichkeit und Verantwortlichkeit stützen. Kohlbergs Fehler
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bestünde daher nicht in der allgemeinen Konzeption hierarchischer Stufen (die Gilligan akzeptiert),2 sondern in der Auffassung, dass innerhalb dieser Stufen die männliche Betonung von Rangordnungen eine höhere Stufe darstelle als die weibliche Betonung von Verbundenheit, was einfach nicht richtig ist. (Dies ist die Verwechslung von "durchlässig" mit "präpersonal", ein Fehlschluss, vor dem man sich unbedingt hüten muss.) Aber das Entscheidende ist nun: Jede spätere Stufe des weiblichen Urteils steht in der Tat bezüglich der Fähigkeit, Zuwendung und Fürsorglichkeit auszudrücken und zu manifestieren, höher. Alle weiblichen Stufen stehen in einer hierarchischen Ordnung, aber innerhalb einer jeden Stufe werden Urteile durch Schaffung von Verbindungen gefällt. Daher tritt bei Männern und Frauen dieselbe vertikale, hierarchische Abfolge von Entwicklungsstufen auf, wobei sich jedoch Männer auf ihrem Weg durch diese Stufen bei ihren Urteilen von Recht und Gerechtigkeit, Frauen dagegen von Fürsorglichkeit und Verantwortlichkeit leiten lassen. Ich habe die Fülle von Forschungen in diesem Bereich dahingehend zusammengefasst, dass Männer wie Frauen als "Agenz in Kommunion" existieren (wie alle Holons), wobei jedoch Männer die Agenz betonen, Frauen die Kommunion. Beide werden jedoch über dieselben allgemeinen, geschlechtsneutralen holarchischen Stadien der Bewusstseinsentfaltung transformiert. Gilligan zufolge durchlaufen also Frauen drei allgemeine Phasen: Selbstsucht, Fürsorglichkeit und universelle Fürsorglichkeit (die sie auch als das egozentrische, konventionell ethische und postkonventionell metaethische Stadium bezeichnet). Dies sind die drei allgemeinen Phasen des Präkonventionellen, Konventionellen und Postkonventionellen, die ich auch die egozentrische, soziozentrische und weltzentrische genannt habe (wobei in meinem Modell das weltzentrische oder globale Stadium das Sprungbrett und das Tor zu den höheren spirituellen Bereichen ist). Für Gilligan ist jedes dieser aufeinanderfolgenden Stadien höher und wertvoller, weil die Frau, wie ich es formulieren würde, den "Kreis der Fürsorge" auf immer mehr Menschen ausdehnen kann (Männer wiederum dehnen auf ihrem Weg durch diese Stufen den "Kreis der Gerechtigkeit" auf immer mehr Menschen aus, wobei sie vom egozentrischen über den ethnozentrischen zum weltzentrischen Modus fortschreiten). Gilligan nimmt an, dass "diese beiden unterschiedlichen ethischen Orientierungen ... in einer hierarchischen ethischen Stufe jenseits der formaloperationalen Ebene integriert werden können".3 Man beachte weiterhin, dass Gilligans Modell nicht nur hierarchisch, sondern auch linear im Sinne der Entwicklungsdenker ist. Ihre drei (bzw. vier) Hauptphasen entfalten sich in einer linearen Weise ohne die Möglichkeit einer Umkehr oder Auslassung, weil jede Phase von bestimmten in den
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vorangegangenen Phasen erworbenen Kompetenzen abhängt (man kann z. B. ohne die vorherige Stufe der Fürsorglichkeit nicht zur universellen Fürsorglichkeit gelangen). Es sind also bezüglich Gilligans Modell zunächst zwei Dinge festzuhalten: Es ist für Männer und Frauen linear und hierarchisch.4 Aber ebendies scheint mir von vielen Feministinnen gern ignoriert oder übersehen zu werden, weil sie Gilligan irgendwie die Meinung unterstellen, dass Frauen gänzlich frei von diesen garstigen "Rangordnungen" seien. Dies ist meiner Meinung nach typisch für eine bestimmte feministische Haltung, die weibliche Hierarchien unter dem performativen Widerspruch von "NurNetz-Modellen" ignorieren und leugnen. Indem sich deren Verfechterinnen vor allem auf die Heterarchie in der Erfahrung der Frau konzentrieren, ignorieren und entwerten sie wichtige Aspekte weiblicher Erfahrung, die auch hierarchisch sind, was meiner Meinung nach diesen ganzen Ansatz in eine bedenkliche Schieflage bringt und es praktisch unmöglich macht, überhaupt noch eine schlüssige Darstellung der weiblichen Entwicklung zu geben. Mit anderen Worten, diese Modelle kranken ganz erheblich an einer, wie ich es nennen möchte, pathologischen Heterarchie: nicht Kommunion, sondern Fusion, nicht Verknüpfung, sondern Verschmelzung, nicht Verbindung, sondern Indissoziation. Damit gibt es aber keine Möglichkeit mehr, Werte überhaupt noch in eine Rangordnung zu bringen, wodurch überhaupt alle Werte entwertet werden. Diese Pathologie veranlasste eine Feministin (die "Prozessweibchen" bei der Arbeit beobachtete) zu der Bemerkung: "Die Planlosen führen die Planlosen." Die typische pathologische Form männlicher Agenz ist brutale Dominanz und starre Autonomie. Der Mann möchte nicht Teil von irgend etwas sein (Kommunion), sondern nur selbst das Ganze (entfremdete Agenz): Er fürchtet Beziehungen und schätzt nur Autonomie. Dies ist keine männliche Agenz, sondern eine pathologische Form männlicher Agenz. Umgekehrt ist die typische pathologische Form weiblicher Kommunion Verschmelzung: Die Frau fürchtet Autonomie und verschwindet so sehr in Beziehungen, dass sie dabei ihre eigene Identität aufgibt. Sie möchte kein Ganzes (mit eigener Agenz) sein, sondern nur ein Teil von etwas anderem (übersteigerte Kommunion). Dies ist keine normale weibliche Heterarchie oder gleichberechtigte Äquivalenz, sondern eine pathologische Heterarchie oder Einschmelzung: Es gibt keine Rangordnungen mehr, und es zählt nur noch die Verbundenheit. Leider ist nun eben diese pathologische Heterarchie das Fundament allzu vieler dieser "Nur-Netz-" und "durchlässigen" Modelle einer angeblich weiblichen Entwicklung. Zutreffender ist meiner Meinung nach ein Modell, das bei Mann und Frau Hierarchie und Heterarchie anerkennt und akzeptiert und damit bei beiden Geschlechtern eine Unterscheidung von Entwicklung
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und Pathologie zulässt. Eines ist jedenfalls gewiss: Pathologische Maskulinität kann man nicht mit pathologischer Femininität überwinden.5 Das durchlässige Selbst Viele Feministinnen stimmen den umfassenden Forschungsbefunden zu, dass Männer die Agenz (das autonome Selbst) betonen, Frauen die Kommunion (oder "Verbundenheit" und das "durchlässige" Selbst). Ich glaube aber, dass viele Feministinnen die hierarchische Integration bei Frauen für unwichtig halten und unberücksichtigt lassen und dass sie deshalb nicht zu einer schlüssigen Erklärung der Entwicklung des durchlässigen Selbst kommen. Mit meinem Ansatz könnte dies in der folgenden Weise gelingen. Wie wir gesehen haben, entwickeln sich Männer und Frauen gleichermaßen über dieselben geschlechtsneutralen Grundstrukturen oder sich ausdehnenden Bewusstseinssphären, wobei jedoch Männer auf dem Weg durch diese Sphären Agenz, Rechte, Gerechtigkeit und Autonomie betonen, Frauen dagegen auf dem Weg durch dieselben holarchischen Sphären Kommunion, Verantwortlichkeit, Beziehungen, Fürsorglichkeit und Verbundenheit.6 Dabei entwickeln sich – nach meinem Modell – das "durchlässige" Selbst von Frauen über dieselbe allgemeine Stufenfolge von egozentrischen, soziozentrischen, weltzentrischen und spirituellen Bereichen wie beim Mann, aber mit einem anderen Schwerpunkt ("mit einer anderen Stimme"), anderen Prioritäten, einer anderen Stimmung und weitgehend anderen spirituellen Disziplinen. Damit gibt es bei der Frau eine egozentrisch durchlässige (selbstsüchtige), eine soziozentrisch durchlässige (Fürsorglichkeit), eine weltzentrisch durchlässige (universelle Fürsorglichkeit) und eine spirituell durchlässige Stufe (universelle Einung), während der Mann dieselben Sphären mit einem eher "agentischen" Schwerpunkt durchläuft (agentische, egozentrische, agentische soziozentrische Stufe usw.). So sind bei beiden dieselben Grundstufen – präkonventionell, konventionell, postkonventionell und post-postkonventionell – wirksam, aber jeweils mit einer anderen "Stimme". Es ist also keineswegs zutreffend, wie einige Kritikerinnen meinten, dass bei meinem Modell die präpersonalen Stufen einfach mit "durchlässigen" Grenzen gleichgesetzt seien, womit implizit die weibliche Orientierung entwertet sei.7 Vielmehr gibt es eine präpersonale durchlässige, personale durchlässige und transpersonale durchlässige Stufe. In der Gesamtentwicklung wird also das weibliche Selbst für immer tiefere und weitere Bewusstseinssphären durchlässig, bis es die Durchlässigkeit gegenüber dem GEIST oder Urgrund erreicht – und zwar über dieselben grundlegenden Sphären, durch die sich das männliche Selbst mit einer mehr
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"agentischen" Orientierung entwickelt. Keines der Geschlechter ist dabei in irgendeiner Weise privilegiert oder zum Paradigma erhoben.
Integraler Feminismus: Alle Ebenen und alle Quadranten Es gibt heute mindestens ein Dutzend feministischer Richtungen von Bedeutung (liberal, sozialistisch, spirituell, Öko, womanistisch, radikal, anarchistisch, lesbisch, marxistisch, kulturell, konstruktivistisch, Power), und das einzige, worüber sie sich einig sind, ist die Tatsache, dass es Frauen gibt. Es gibt keinen Konsens bezüglich "der" Stimme der Frauen, auch wenn manche Feministinnen behaupten, für alle Frauen zu sprechen. Was wir aber meiner Meinung nach brauchen, ist ein integralerer Ansatz, der die unterschiedlichen Perspektiven des runden Dutzends feministischer Schulen vereint und ein Schema vorlegt, in dem sie alle einen angemessenen Platz haben. Einen solchen integralen Ansatz habe ich bereits in Eros, Kosmos, Logos zumindest in groben Umrissen zu entwickeln versucht. Eros, Kosmos, Logos ist der erste Band der Kosmos-Trilogie; im kommenden zweiten Band (dessen vorläufiger Titel Sexus, Gott und Geschlecht: Die Ökologie von Mann und Frau lautet) werde ich dieses allgemeine Modell von Sexus und Geschlecht in Details ausarbeiten. Die Aufgabe besteht meiner Meinung nach darin, einen alle Quadranten und alle Ebenen umfassenden Ansatz bezüglich Sexus und Geschlecht zu entwickeln, das heißt einen integralen Feminismus. Dieser Ansatz bietet, wie ich glaube, die Chance, ein Dutzend verschiedener Schulen des Feminismus unter einem Dach zu vereinen, die sich eigenartigerweise gegen jegliche Zusammenführung und Integration sträuben. Bisher haben die vielfältigen Theorien bezüglich Sexus und Geschlecht – herkömmliche wie feministische – sich meist nur auf einen Quadranten (und oft nur eine einzige Ebene dieses Quadranten) konzentriert und versucht, diesen zum ausschließlichen Paradigma zu erheben. Ich möchte nun Beispiele aus allen vier Quadranten geben und aufzeigen, wie ihre wesentlichen Erkenntnisse, von ihren Hegemonieansprüchen befreit, zu einer integraleren Sichtweise zusammengeführt werden können. Oben rechts (verhaltensmäßig) Dieser Quadrant betrifft die objektiven Aspekte individueller Holons, wozu im Falle des Menschen u. a. biologische und hormonelle Faktoren zählen wie z. B. die Wirkungen von Testosteron, Oxytocin und Östrogen auf das individuelle Verhalten. Diese Faktoren beeinflussen (aber steuern nicht im
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strengen Sinne) nach Auffassung der meisten Forscher teilweise recht unterschiedliche Verhaltensmuster bei den Geschlechtern (ein typisches Beispiel wäre etwa sexuelle Ausschweifung bei Männern). Insbesondere die radikalen Feministinnen vertreten die Auffassung, dass es dramatische, biologisch bedingte Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt, und ihnen sekundieren ihre seltsamen Bettgenossen, die Soziobiologen. Für manche radikalen Feministinnen bedeutet dies: Östrogen ist die Göttin, Testosteron ist der Teufel. (Leider steckt hierin mehr als nur ein Körnchen Wahrheit, aber unter dem Strich muss man sagen, dass beide hormonellen Dispositionen ihre jeweils angemessenen und gleichermaßen wichtigen Funktionen haben.) Die radikalen Feministinnen und die Soziobiologen verweisen hier auf einige durchaus bedeutsame Aspekte der biologischen Grundlage bestimmter sehr signifikanter Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Dieser Ansatz ist auch ein wichtiges Element der zunehmend einflussreichen Schule der Evolutionspsychologie. Die Schlussfolgerungen dieser Richtungen würde ich dahingehend zusammenfassen, dass Männer biologisch auf Agenz, Frauen auf Kommunion disponiert sind, und diese Dispositionen sind das Ergebnis einer vermutlich seit Jahrmillionen wirksamen natürlichen Auslese, weshalb sie auch interkulturell zu finden sind, das heißt es ist nichts "Androzentrisches" an diesen Geschlechtsunterschieden, was viele radikale Feministinnen auch eindeutig klargestellt haben. Welche Bedeutung allerdings diesen sexuellen Unterschieden beigemessen wird, ist in der Tat von Kultur zu Kultur verschieden. Zu diesen Faktoren des oberen rechten Quadranten gehören auch makrobiologische Konstanten, die nach einhelliger Auffassung der Forscher universell und interkulturell vorhanden sind. So gebären und stillen zum Beispiel Frauen, während Männer im Durchschnitt physisch stärker und beweglicher sind. Die Feministinnen der zweiten und dritten Generation wie auch orthodoxe Forscher sind sich bezüglich der Existenz und der Bedeutung der meisten dieser Faktoren einig (sie sind zum Beispiel von entscheidender Bedeutung für die Erklärung der statistisch unterschiedlichen Rollen von Männern und Frauen im Produktions- und privaten Bereich, wenn Unterdrückung zur Erklärung nicht ausreicht). Unten links (kulturell) Dass nun diese biologischen Faktoren nur Tendenzen, nicht zwingende Ursachen sind, liegt daran, dass sie dem Einfluss starker kultureller Faktoren unterliegen und von diesen umgeformt werden, wodurch in vielen Fällen die biologische Tendenz verstärkt, aufgehoben oder sogar umgekehrt wird. Die meisten Forscher bezeichnen diese biologischen Unterschiede als Sexus und die kulturellen Unterschiede als Geschlecht. Weiterhin bezeichnen
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Forscher das biologische Geschlecht üblicherweise als "männlich" und "weiblich", die kulturellen Unterschiede als "maskulin" und "feminin". Meiner Ansicht nach werden beim Studium von Sexus und Geschlecht vor allem zwei große Fehler gemacht. Der erste, den vor allem die Konservativen begehen, besteht in der Annahme, dass alles Geschlechtliche restlos durch sexuelle Unterschiede bestimmt sei ("Biologie ist Schicksal"). Der zweite Irrtum ist derjenige der Liberalen, die glauben, dass alle sexuellen Unterschiede bloß kulturell konstruiert seien, so dass man das Biologische ignorieren könne. Beide Haltungen sind grundlegend falsch und entspringen fast immer ideologischer Voreingenommenheit. Nötig scheint es mir vielmehr zu sein, die Momente der Wahrheit aus beiden Positionen heranzuziehen: Biologisch konstante sexuelle Unterschiede (wie z. B. die Tatsache, dass Frauen gebären und stillen und Männer einen höheren Testosteronspiegel haben) werden in einer oft dramatischen Weise von kulturellen Faktoren und Einflüssen verändert und umgestaltet. Diesbezüglich scheint mir insbesondere die Rolle der Weltsichten bei der Formung des Geschlechts wichtig zu sein. Diese Weltsichten (die archaische, magische, mythische, mentale, existentielle usw.) sind, wie schon gesagt, Teil der intersubjektiven kulturellen Strukturen, innerhalb deren individuelle Subjekte und Objekte entstehen. Damit hängt es maßgeblich von ihnen ab, welche Elemente aus der männlichen und weiblichen Wertsphäre in einer bestimmten Gesellschaft jeweils ausgewählt und betont werden.8 Der entscheidende Punkt ist, dass Männer und Frauen gemeinsam (manchmal Bewusst, manchmal unbewusst) die intersubjektiven Strukturen schaffen, innerhalb deren ihre Subjekte und Objekte manifest und (an)erkannt werden, wobei diese kulturellen Strukturen manchmal auch in Angelegenheiten des Sexus wie des Geschlechts entscheidend werden. Die konstruktivistischen Feministinnen und die kulturellen Feministinnen haben sehr viel zu unserem Verständnis der wichtigen Rolle des unteren linken Quadranten beigetragen, und ihre Stimmen werden im Chor ganz dringend benötigt. Aber leider überstrapazieren sie manchmal ihre Befunde und behaupten, dieser Quadrant sei der einzig wichtige, womit sie nicht nur in innere Widersprüche geraten, sondern auch die ebenso wichtigen Stimmen der anderen Quadranten (und die übrigen feministischen Schulen) nicht gelten lassen wollen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass der Einfluss dieser anderen Quadranten, denen die Existenzberechtigung abgesprochen wird, als Unterdrückung dargestellt werden muss, weil sich die Konstruktivistinnen nicht vorstellen können, wie sie sonst in ihre derzeitige Situation geraten sein könnten. So müssen eben auch biologisch-funktionelle Unterschiede einer Unterdrückung durch eine männliche Ideologie zugeschrieben werden. Gebären und Stillen sind irgendwie eine Verschwörung des Patriarchats, weil ja alle Unterschiede angeblich kulturell konstruiert sind.
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Ein solcher Ansatz definiert aber Frauen als grundsätzlich von einem "Anderen" geprägt (aber gerade diese Definition wollen diese Feministinnen doch überwinden!). Und er definiert Männer grundsätzlich als Unterdrücker: "Alle Männer sind Vergewaltiger" ist das typische Beispiel hierfür, das schlicht eine Unverschämtheit ist. Die Männer sind nicht alle Vergewaltiger; wie jeder weiß, sind sie doch alle Rossdiebe. Aber lassen wir diese Unterschiede der Akzentuierung zunächst einmal beiseite und halten wir einfach fest, dass allen diesen wichtigen Ansätzen des unteren linken Quadranten die Bekräftigung der entscheidenden Rolle gemeinsam ist, die intersubjektive kulturelle Faktoren für die Entfaltung von Sexus und Geschlecht spielen. Oben rechts (sozial) Dennoch sind Weltsichten keine körperlosen, frei im idealistischen Raum schwebenden Strukturen. Alle Weltsichten – und überhaupt alle kulturellen Faktoren – sind fest in den materiellen Komponenten der Gesellschaft verankert, wie zum Beispiel den Produktionskräften, technischen Modi, architektonischen Strukturen, der wirtschaftlichen Basis, dem geopolitischen Standort und so weiter – all dem, was ich unter dem Begriff "Gesellschaftliches" zusammenfassen möchte. Mit anderen Worten, alle kulturellen Faktoren haben soziale Korrelate (jeder der vier Quadranten hat Korrelate in allen übrigen, also auch der kulturelle und der soziale). Gesellschaftssystem und kulturelle Weltsichten stehen in einem engen Zusammenhang, und dies wirkt sich selbstverständlich unmittelbar auf Angelegenheiten des Geschlechts aus. Insbesondere gibt es heute überwältigende Beweise dafür, dass, wie ich es ausdrücken würde, Weltsichten von der Basis bestimmt werden. Dies meine ich nicht in einem streng marxistischen oder deterministischen Sinne, sondern in dem allgemeinen Sinne, dass die technisch-wirtschaftliche Basis bestimmte Grenzen setzt, innerhalb deren sich Weltsichten entfalten. So legen zum Beispiel Ackerbaugesellschaften die Produktionsmittel (den schweren, von Tieren gezogenen Pflug) fast ausschließlich in männliche Hände, woraus androzentrisch betonte Weltsichten entstehen. Natürlich spielen hierfür auch andere Faktoren eine Rolle; ich möchte lediglich daraufhinweisen, dass die technisch-wirtschaftliche Basis einer der entscheidenden Faktoren ist. Die Diskussion des Themas Sexus und Geschlecht verwandelt sich daher an diesem Punkt in eine Analyse der Frage, welche Geschlechtsrollen Männer und Frauen an jeder der fünf oder sechs Hauptstufen der technischwirtschaftlichen Entwicklung der menschlichen Art zur Verfügung standen. Diese Stufen umfassen Jäger und Sammler, frühen und späten Ackerbau, frühes und spätes Industriezeitalter und frühes Informationszeitalter.
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Diese Phasen sind natürlich wie alle Phasen der Evolution asymmetrisch und unumkehrbar: Dampfmaschinen können nicht früher sein als Pflüge. Der Zeitpfeil beugt wie immer die Thermodynamik des materiellen Bereichs unter sein Joch, und alle Theorien einer gesellschaftlichen und technischwirtschaftlichen Entwicklung, die diese irreversiblen und "linearen" Prozesse nicht anerkennen, sind mit einem schweren Mangel behaftet, woran uns Prigogine, Jantsch und Laszlo immer wieder erinnern. Diese Gesellschaftssysteme interagieren, wie ich gesagt habe, mit zugehörigen kulturellen Weltsichten, weil alle vier Quadranten in einem gegenseitigen Austausch stehen. (Die fünf großen technologischen Phasen korrelieren jeweils der archaischen, magischen, mythischen, mentalen und existentiellen Weltsicht.) Unser integralerer Ansatz führt nun zu dem Befund, dass die technischwirtschaftliche Basis einen entscheidenden Einfluss hat, indem sie die Auswahl solcher Faktoren aus der männlichen und weiblichen Wertsphäre begünstigt, die für eine gegebene Gesellschaft einen evolutionären Vorteil darstellen. So sind zum Beispiel in Hirtengesellschaften Körperkraft und Beweglichkeit vorteilhaft, wodurch im öffentlichen und im Produktionsbereich die männliche Wertsphäre bevorzugt wird (97 °/o dieser Gesellschaften sind ausgeprägt patriarchal, wobei Unterdrückung keine erklärende kausale Rolle spielt). Umgekehrt ist in Ackerbaugesellschaften, deren primäres Produktionsmittel der Grabstock oder die Hacke ist, die weibliche Arbeitskraft im Vorteil, weil Schwangere ohne weiteres die Hacke handhaben können, ohne schwere Folgen befürchten zu müssen (in allen Gartenbaugesellschaften werden 80% der Nahrungsmittel von Frauen produziert). Es überrascht daher nicht, dass es in einem Drittel dieser Gesellschaften nur weibliche Gottheiten gibt (und alle Religionen der Großen Mutter mit Ausnahme von einer oder zwei Küstenkulturen eine gartenbauliche Basis haben).9 Die marxistischen Feministinnen und die Sozialfeministinnen haben viel zu unserem Verständnis der Bedeutung dieses unteren rechten Quadranten für die Gesamtschau beigetragen. Ebenso hat eine meiner Lieblingsautorinnen, Janet Chafetz, eine brillante und gründliche an Gesellschaftssystemen orientierte Analyse beigetragen. Die Ökofeministinnen haben die Rolle von Gaia als höchstem sozialen System betont. Von allen diesen Faktoren – verhaltensmäßigen, kulturellen und sozialen (auf der jeweiligen Entwicklungsebene) – hängt es weitgehend ab, wie individuelle Männer und Frauen ihre Existenz als physische und geschlechtliche Wesen erfahren. Und dies bringt uns zum oberen linken Quadranten.
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Oben links (intentional) Der obere linke Quadrant ist, wie wir uns erinnern, das Innere des Individuums, der Ort des Bewusstseins selbst, der aus den (mindestens) drei Hauptkomponenten Grundstrukturen, Selbst-System und Übergangsstrukturen besteht, die sich auf der präkonventionellen, konventionellen, postkonventionellen und post-postkonventionellen Ebene des Gesamtspektrums entfalten. Innerhalb dieses Bewusstseinsspektrums muss nun sowohl die horizontale Dimension, diejenige der "Translation", als auch die vertikale Dimension untersucht werden, diejenige der "Transformation". Translation ist ein Prozess der Agenz in Kommunion, ein relationaler Austausch zwischen einem Holon und der Umgebung, in die es eingebettet ist. Transformation ist eine vollständige Verlagerung in einen höheren oder tieferen Bereich (eine andere Ebene der Agenz in Kommunion). Man könnte sagen: Wo Agenz und Kommunion auf allen Ebenen horizontal operieren, operieren Eros und Agape zwischen Ebenen. Eros ist aufsteigende oder evolvierende Transformation, Agape absteigende oder involvierende Transformation (was ich gleich erläutern werde). Der entscheidende Punkt ist einfach, dass sowohl die horizontale oder translatorische Dimension als auch die vertikale oder transformatorische Dimension berücksichtigt werden müssen. Wenn man dies bezüglich der Unterschiede in Sexus und Geschlecht tut, dann findet man meiner Meinung nach folgendes: Männer transferieren mit einer Betonung der Agenz, Frauen mit einer Betonung der Kommunion. Männer transformieren mit einer Betonung des Eros, Frauen mit einer Betonung der Agape. Hier trägt der Ansatz von Gilligan und Tannen etwas Wesentliches zum Gesamtbild bei, und hier müssen die umfassenden Forschungen über die männliche Agenz und die weibliche Kommunion einbezogen werden. Allerdings genügt es dabei nicht, einfach männlich und weiblich in der translatorischen Dimension einander gegenüberzustellen, (Agenz/Trennung gegenüber Kommunion/Beziehung), weil Männer und Frauen auch mit einem anderen Schwerpunkt transformieren, nämlich in absteigender (Eros) bzw. aufsteigender (Agape) Richtung. Dies richtet in manchen Köpfen Verwirrung an, weil es so verstanden wird, dass Männer nur aufsteigen und Frauen nur absteigen, was keineswegs der Fall ist. Es bedeutet vielmehr, dass Männer und Frauen auf ihrem Weg durch die verschiedenen Stufen des vertikalen Wachstums und der vertikalen Entwicklung in unterschiedliche Richtungen blicken, die man nicht einfach als Agenz und Kommunion erklären, sondern als aufsteigende und absteigende Orientierung in der geschachtelten Holarchie ihres Seins auffassen muss. Eros strebt gewissermaßen himmelstürmend nach oben, während Agape
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nach unten strebt, um die Erde zu umfangen. Eros ist mehr transzendent, Agape mehr immanent (und beide besitzen ihre eigene Agenz und Kommunion, die horizontale, nicht vertikale Orientierungen betreffen). Dies ist keine abgehobene Abstraktion, sondern eine recht genaue Zusammenfassung eines großen Teils der interkulturellen Forschungen über Modi einer transformatorischen (oder Entwicklungs-)Orientierung bei Männern und Frauen. So fasst, um nur ein kleines Beispiel zu geben, Phil Zimbardo in seiner vielgelobten Fernsehserie über Psychologie die interkulturellen Unterschiede in den Verhaltensmustern von Jungen und Mädchen, wie sie sich in den verschiedensten Dingen, von Eßgewohnheiten bis zu Freundschaften und Spielformen äußern, wie folgt zusammen: "Mädchen haben Wurzeln, Jungen haben Flügel." Wurzeln und Flügel. Agape und Eros. Diese vertikale Tiefendimension muss der horizontalen Dimension der Agenz und Kommunion hinzugefügt werden, um die multidimensionalen Unterschiede in der ureigenen Wesensart von Männern und Frauen erfassen zu können. Deshalb entwickeln sich meiner Meinung nach Männer und Frauen nach Maßgabe derselben geschlechtsneutralen Grundstrukturen, aber sie tun dies mit etwas unterschiedlichen Wertsetzungen und in unterschiedlichen Ausdrucksformen in der translatorischen wie in der transformatorischen Ebene: Männer tendieren zu Agenz und Eros, Frauen zu Kommunion und Agape. (Selbstverständlich sind bei jedem einzelnen Menschen diese vier Faktoren in einem ganz individuellen Verhältnis und bei Männern und Frauen gleichermaßen vorhanden. Dies sind lediglich Tendenzen und durchschnittliche Wahrscheinlichkeiten, keine kausalen Determinanten.) Dennoch, und dies ist wichtig, wird mit diesen einfachen Sexusspezifischen Wahrscheinlichkeiten sofort die Interpretation hinfällig, dass Frauen nur unvollkommene Männer oder, was in neuerer Zeit öfter zu hören war, Männer nur unvollkommene Frauen seien. In der geschachtelten Holarchie von Grundstrukturen ist weder die männliche noch die weibliche Disposition als solche höher oder niedriger, tiefer oder weiter. Darüber hinaus schiebt dieser Ansatz neueren Versuchen verschiedener spiritueller Feministinnen einen Riegel vor, die weibliche Spiritualität von jeglichen transformatorischen Forderungen abzukoppeln. Solche Versuche stellen Frauen einfach als das "durchlässige" (Stichwort Kommunion) Selbst dar, was soweit in Ordnung ist; dann aber wird dieses durchlässige Selbst umstandslos mit einem spirituellen und ökologischen Selbst gleichgesetzt, womit letztlich jegliche Notwendigkeit einer hierarchischen Transformation bei Frauen geleugnet wird. Eine solche Auffassung lässt nicht nur in einer verheerenden Weise Gilligans, sondern überhaupt alle weiblichen Hierarchien außer acht, womit jegliche Transformation bei Frauen unmöglich gemacht ist.
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Dieser Flachland-Ansatz nimmt nicht zur Kenntnis, dass das durchlässige Selbst (das "Selbst in Verbundenheit") ebenfalls Wachstum, Entwicklung und Transformation durchmacht. Das durchlässige Selbst unterliegt einer Entfaltung und Transformation durch dieselben sich ausdehnenden Bewusstseinsphären, die auch das männliche agentische Selbst (auf seine Weise) bewältigen muss. Dies bedeutet also für die Frau: egozentrisch durchlässig, soziozentrisch durchlässig, weltzentrisch durchlässig, spirituell durchlässig. Das durchlässige Selbst ist als solches noch lange kein spirituelles Selbst: Dies wird es erst am höchsten oder tiefsten Punkt seiner Entwicklung. Die niedrigeren (präpersonalen) Phasen des durchlässigen Selbst sind ebenso egozentrisch, narzisstisch und unerfreulich wie die seichteren Stufen des männlichen agentischen Selbst. Beide sind gleichermaßen im Bannkreis ihrer eigenen unstillbaren Selbstsucht gefangen, und dies ist schlicht das genaue Gegenteil von jeglicher Spiritualität. Die niedrigeren Stufen des durchlässigen Selbst mit seinem großartigen Blick für ökologische Zusammenhänge sind oft wie die niedrigeren Stufen des agentischen Selbst präpersonal, präkonventionell und egozentrisch, und genau diese Haltung trägt die Hauptverantwortung für den ökologischen Raubbau. Bloße Kommunion oder Durchlässigkeit ändert als solche hieran überhaupt nichts: Sie bläht nur ihren eigenen Narzissmus auf, verbreitet ihre eigene Egozentrizität und gibt durchlässig ihre eigene Krankheit weiter. Kommunion ist der netzartig verknüpfte Zusammenhang aller Elemente in einem gegebenen Bereich, während erst Agape die Fähigkeit ist, tiefere Bereiche einzuschließen. Wenn man einmal verstanden hat, dass Kommunion und Agape nicht dasselbe sind, dann wird klar, dass der bloße Besitz eines durchlässigen Selbst nicht, wie diese Feministinnen sich das vorstellen, schon genügt, um in die bösartige Welt der männlichen Agenz moralisches Licht und Heil zu bringen. Vielmehr bilden die seichteren und egozentrischen Stufen des durchlässigen Selbst mit den seichteren und egozentrischen Stufen des agentischen Selbst das Doppelantlitz des Bösen dieser Welt, und eines dieser lächelnden Gesichter trägt unverkennbar weibliche Züge.
Weibliche Spiritualität Männer tendieren zu Agenz und Eros, Frauen zu Kommunion und Agape: Diese beiden grundlegenden Haltungen der männlichen und weiblichen Wertsphäre erzeugen, wenn sie sich über die Grundstrukturen des Bewusstseins entfalten, unter dem Einfluss verschiedener Weltsichten und der verschiedenen Stufen der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung die
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verschiedenen Geschlechtsmodi, die historisch bei Männern und Frauen zu beobachten sind. Der alle Quadranten und alle Ebenen umfassende Ansatz bietet, wie ich glaube, die Gelegenheit, eine sehr große Zahl sehr wichtiger, ja entscheidender Faktoren in der Diskussion über Sexus und Geschlecht zusammenzufassen. Die geschlechtsneutralen Grundstrukturen konkretisieren sich bei Männern und Frauen anders, und zwar abhängig von Faktoren aus allen vier Quadranten, von hormonellen Unterschieden über Weltsichten und Produktionsweisen bis zu translatorischen/transformatorischen Unterschieden. Weil aber alle vier Quadranten in einem engen Austausch miteinander stehen, darf keiner dieser Faktoren bei einer wirklich umfassenden Theorie des Sexus und Geschlechts übergangen werden. Und es gibt hier, wie ich glaube, auch einen direkten Zusammenhang mit der spirituellen Entwicklung. Der zweite Band der Kosmos-Trilogie wird einem ausführlichen Blick auf die verschiedenen Formen spiritueller Entwicklung höchst originaler weiblicher Heiliger, Schamaninnen und Yoginis in verschiedenen Jahrhunderten gewidmet sein, einer Entwicklung, die in vielen Fällen so ganz anders war als bei den männlichen Pendants. Diese weiblichen Praktiken beinhalten durchweg und interkulturell einen intensiven Modus nicht nur translatorischer Kommunion und Durchlässigkeit, sondern auch transformatorischer Agape (eine inkarnierte, körperzentrierte, immanente, abgestiegene, involutive und zutiefst verkörperte Mystik). Hier scheint ein verblüffender Kontrast zum traditionell mehr aufsteigenden, transzendenten, agentischen und vom Eros angespornten typisch männlichen Modus von Spiritualität auf. Trotzdem sind diese eher weiblichen spirituellen Praktiken immer auch Praktiken einer tiefen Transformation, nicht bloß einer Translation. Damit sind diese Mystikerinnen das schlagendste Argument gegen die reinen Durchlässigkeitstheorien, denen zufolge Durchlässigkeit als solche schon spirituell ist (wie wenn Kommunion und Agape einfach dasselbe wären). Mit anderen Worten, wenn Frauen ein echtes spirituelles Bewusstsein entwickeln wollen, müssen sie genauso viel dafür tun wie Männer. Wie wir festgestellt haben, sind "durchlässig" und "spirituell" auch nicht annähernd dasselbe. Vielmehr sind nur die tiefsten Stufen des durchlässigen Selbst wirklich spirituell ("GEIST-als-GEIST"), und diese tieferen Entwicklungen erfordern intensive und konsequente spirituelle Übung. Aber wo Männer ihr agentisches Selbst transformieren müssen, müssen Frauen ihr durchlässiges Selbst transformieren (der Weg von Selbstsucht über Fürsorge und universelle Fürsorge zu spiritueller Erkenntnis). Es sind dieselben wachsenden Bewusstseinssphären (von egozentrisch über soziozentrisch und weltzentrisch zur authentischen Spiritualität), die aber auf eine andere Weise durchlaufen werden.
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Viele, allzu viele Theoretikerinnen des "durchlässigen Selbst" wollen letztlich folgendes sagen: "Ich bin eine Frau, und dank meines durchlässigen Selbst bin ich schon spiritueller als ein Mann." Die wahren weiblichen Mystikerinnen machen dagegen deutlich, dass Frauen, die wirklich ihr durchlässiges Selbst transformieren und es nicht nur anders transferieren wollen, hierfür äußerste Anstrengungen unternehmen müssen (genau wie Männer). Diese außergewöhnlichen Mystikerinnen sagen ihren Schwestern letztlich folgendes: "Ja, ihr habt ein relationales, verkörpertes, durchlässiges Selbst. Aber auf dieser Grundlage müsst ihr noch viel tun – mit Feuer, Inbrunst und nicht nachlassendem Eifer –, um dieses Selbst wirklich zu transformieren und es ganz für die Tiefen des Göttlichen durchlässig zu machen." Einige der transformatorischen Praktiken dieser bemerkenswerten Frauen – die praktisch immer schwerste körperliche Kasteiungen beinhalten, um den GEIST über die absteigende oder sich inkarnierende Agape und ihr unbeirrbares Mitleid in das physische Sein herabzuziehen – sind so anspruchsvoll, dass allein schon ihre Lektüre anstrengend ist; jedenfalls sind sie nichts für die Kleinmütigen, und sie lassen alles, was eine bloß translatorische weibliche Spiritualität einem "wunderbar durchlässigen Selbst" andichtet, als Farce erscheinen. Diese außergewöhnlichen Frauen sind großartige Beispiele dafür, was eine Frau wirklich tun muss, wenn sie eine echte tiefe Transformation erlangen will, statt bloß auf der Grundlage ihrer translatorischen Durchlässigkeit Überlegenheit zu beanspruchen. Zugleich darf in keiner Weise vergessen werden, dass Männer und Frauen gleichermaßen entscheidenden Zugang zu Agenz und Kommunion wie auch zu Eros und Agape haben. Dass sie dazu neigen mögen, das eine oder das andere zu betonen, bedeutet nicht, dass sie überhaupt verschiedene Spezies wären. Deshalb muss man, wie ich glaube, die weitreichenden Ähnlichkeiten zwischen Männern und Frauen ebenso im Auge behalten wie die komplexen Unterschiede zwischen ihnen, und der Neigung widerstehen, die Diskussion mit ideologischer Glut zu führen, um ein Geschlecht zu Lasten des anderen zu erhöhen.
Männliche und weibliche moralische Tiefe Dies bringt uns zu unserem letzten und etwas sensiblen Bereich, demjenigen der eigentlichen moralischen Entwicklung. Viele radikale Feministinnen und Ökofeministinnen behaupten ständig mehr oder weniger explizit, dass der weibliche Modus irgendwie grundlegend moralischer oder ethischer sei als
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der männliche. Die feministische Forschung selbst aber lässt etwas ganz anderes – und noch viel Faszinierenderes – erkennen. Radikale Feministinnen und Ökofeministinnen betonen – und ich gebe ihnen hier völlig recht –, dass bei Frauen der Nachdruck auf den konkreten persönlichen Beziehungen liegt (das "verbundene Selbst"). Aber ebendies scheint es Frauen zu erschweren, Gilligans dritte und höchste Stufe der weiblichen moralischen Entwicklung zu erreichen, also von Gilligans "konventionell ethischer" zu ihrer "postkonventionell meta-ethischen" Stufe fortzuschreiten (was sie auch ein Fortschreiten von Fürsorglichkeit zu universeller Fürsorge nennt). Mit anderen Worten, weil bei Frauen persönliche und konventionelle Beziehungen sehr im Vordergrund stehen, ist es für sie schwieriger, in ihrer spezifisch weiblichen Entwicklung (das heißt aus der beziehungsbetonten, nicht der männlichen agentischen Haltung) die postkonventionellen und universellen Stufen zu erreichen. Deshalb erreichen, selbst wenn man Jane Loevingers ursprünglichen Test heranzieht, den sie nur auf Frauen aufbaute, mehr Männer die höheren Stufen. Weil Männer weniger den persönlichen soziozentrischen Beziehungen verhaftet sind, fällt es ihnen leichter, eine umfassendere universelle und postkonventionelle, auf das "große Bild" gerichtete Sichtweise einzunehmen, und deshalb gelangen mehr Männer auf die universelle, postkonventionelle moralische Stufe als Frauen (selbst wenn man Frauen nach der Meßlatte ihrer eigenen Maßstäbe und Werte beurteilt). Insgesamt ergibt sich bezüglich der männlichen und weiblichen moralischen Entwicklung ein interessanter Unterschied. Wie bei IQ-Tests Männer öfter unter und über den Werten von Frauen liegen (die allerdümmsten und die allerklügsten Menschen sind meist Männer), so liegen Männer auf den meisten Skalen der allgemeinen moralischen Entwicklung sowohl tiefer als auch höher als Frauen. Frauen scheinen, um es zu wiederholen, besonders zu persönlichen, eingebetteten, konventionellen Beziehungen zu neigen, weshalb sie mehr Schwierigkeiten haben, von der konventionellen Kommunion (Fürsorglichkeit) zur postkonventionellen Kommunion (universelle Fürsorge, Gilligans "postkonventionelle metaethische" Stufe) zu gelangen. Männer andererseits sind auf Grund ihrer vorwiegend agentischen Haltung statistisch eher zu beiden Seiten dieser konventionellen Wasserscheide anzutreffen: Mehr von ihnen erreichen die postkonventionelle, weltzentrische Stufe der universellen Einschließung, aber mehr von ihnen bleiben auch im präkonventionellen und egozentrischen Modus. Für jeden Abraham Lincoln und Mahatma Gandhi gibt es einen Charles Manson und einen Haarmann. Historisch sind daher Männer als wahrhaft leuchtende Vorbilder hervorgetreten, aber auch als die verworfensten Kreaturen, die diese Erde jemals trug.
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Das Entscheidende ist aber, um es zu wiederholen, dass der bloße Besitz weiblicher Kommunion im Gegensatz zur männlichen Agenz noch nicht einen spirituellen oder ethischen Vorrang verbürgt. Er könnte im Gegenteil sogar die Fortentwicklung in universelle und globale Bereiche (spirituelle wie ethische) verlangsamen, und er könnte zum Hindernis für eine wirklich globale ökologische Haltung werden. (Womit einer der zentralen Ansprüche des Ökofeminismus in Frage gestellt ist, nämlich die angeborene Überlegenheit der Frauen hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber der globalen Biosphäre.) Die zentrale Schlussfolgerung lautet jedenfalls, dass das kommunionische Selbst ebenso große, wenn nicht noch größere Anstrengungen unternehmen muss wie das agentische Selbst, um von egozentrischer Selbstsucht über soziozentrische Fürsorge zu weltzentrischer universeller Fürsorge zu gelangen, von wo aus es sich dem Leuchten des Göttlichen öffnen kann. Frauen haben ebenso wie Männer Jahre und oft Jahrzehnte von Blut, Schweiß und Tränen vor sich, wenn sie ihr Geburtsrecht einfordern wollen.
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Kapitel 9 Wie gerade ist der spirituelle Weg? Das Verhältnis zwischen psychischem und spirituellem Wachstum Muss das psychische Wachstum abgeschlossen werden, bevor ein echtes spirituelles Wachstum eintreten kann? In welchem Verhältnis stehen Psychotherapie und Meditation? Gibt es wirklich Stufen der spirituellen Entwicklung? Und wenn es solche Stufen gibt, sind sie dann für alle Menschen gleich? Sind diese Stufen nachprüfbar? Hat die Entfaltung des GEISTES eine bestimmte Richtung? Kommt es überhaupt darauf an?
David Bohm, Jenny Wade und das holonome Paradigma Jenny Wades Changes of Mind: A Holonomic Theory of the Evolution of Consciousness ist eine Darstellung der Evolution des Bewusstseins gemäss einem, wie sie es nennt, "holonomen Paradigma". Es ist ein äußerst kompetentes Buch, das man in vielerlei Hinsicht empfehlen kann; leider sind, wie ich glaube, gerade die zentralen Behauptungen unhaltbar. Es enthält eine Fülle von Daten und Befunden verschiedener Forscher, wobei Wade versucht, diese auf der Grundlage von David Bohms äußerst fragwürdigen Begriffen eines Impliziten und Expliziten zu deuten (mit denen ich mich gleich noch befassen werde), womit Wade aber in einen monologischen Alptraum gerät, aus dem sie sich nicht mehr befreien kann. All dies wird uns als "völlig neues Paradigma" angeboten, das endlich die transpersonale Theorie auf eine feste Grundlage stellen soll. Der relativ einfache Grundgedanke des Buchs ist das übliche neunstufige Modell der transpersonalen Entwicklung des Bewusstseins. In dieser Hinsicht ist der Ansatz des Buches weder neu noch strittig. Diesem Stadienmodell fügt Wade nun eine Theorie des "doppelten Ursprungs" des Bewusstseins hinzu (die sich praktisch nicht vom tibetischen Modell und demjenigen Aurobindos unterscheidet), sowie Bohms Begriffe des Impliziten und Expliziten. Das
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Neuartige an diesem Buch ist also die Verknüpfung der Bohmschen Auffassungen mit dem Standard-Stufenmodell – und genau hier scheitert dieses Buch völlig. Beginnen wir mit dem allgemeinen Begriff des Stufenmodells selbst, der seit nunmehr fast zwanzig Jahren das wichtigste Paradigma der transpersonalen Psychologie ist. Dass Wade dieses Paradigma vertritt, ist weder neu noch überraschend. Aber meiner Meinung nach vertritt sie dieses Stufenmodell in einer eigentümlich veralteten Form, und es ist vielleicht lohnend, sich die Gründe hierfür näher anzusehen. In Kapitel 6 bin ich kurz auf meinen Übergang vom romantischen Modell Wilber-I zum Modell Wilber-II eingegangen, der wegen gewisser schwerwiegender Mängel des jungianischen und retroromantischen Ansatzes notwendig war. Dieses Modell Wilber-II habe ich erstmals in Das AtmanProjekt vorgelegt, in dem siebzehn Stufen von der Geburt bis zur Erleuchtung skizziert sind. Weiterhin sind darin die Bardo-Stufen des präkonzeptionalen, Pränatalen und postmortalen Zustandes beschrieben (die Entwicklungslinien des Frontalen/Seelischen oder der Evolution/Involution). Bei den Recherchen zu diesem Buch stand ich vor einer schwierigen Entscheidung: Ich hatte Tausende von Seiten von Notizen vorliegen, in denen ich die Werke von einigen Hunderten von Theoretikern aus Ost und West zusammengefasst und gegenübergestellt hatte. Sollte ich dieses ganze Material veröffentlichen oder nur einen kurzen Abriss geben? Zu jenem Zeitpunkt (Atman wurde 1976 geschrieben und erschien 1980 als Buch) konnte ich keinen Verleger finden, der sich auch nur im mindesten für all dieses Forschungsmaterial interessiert hätte. Es blieb mir daher keine andere Wahl, als einige Dutzend Tabellen anzufertigen, in denen einfach die von diesen Theoretikern angegebenen Stufen aufgelistet waren; darüber hinaus gab ich die allgemeinen Zusammenhänge mit der siebzehnstufigen "Hauptschablone" an, die ich aus ihren gemeinsamen Anstrengungen erarbeitet hatte, wobei ich jeweils Lücken des einen Autors durch Erkenntnisse eines anderen ergänzte. (Für diejenigen, die Das Atman-Projekt nicht gelesen haben: In dieser Hauptschablone sind berücksichtigt und werden zitiert Loevinger, Selman, Graves, Baldwin, Neumann, Hartman, Kohlberg, Piaget, Freud, die kabbalistischen Sephirot, Berne, Aurobindo, Bubba Free John (Adi Da), Edinger, Sullivan, die buddhistischen Vijnanas, Klein, Erikson, Grof, Green und Green, Ferenczi, Ausubel, Fromm, Ouspensky, Radhakrishnan, Reisman, Blanck und Blanck, Gebser, Horney, Maslow, Assagioli, Fairbairn, Allport, Kirpal Singh, Broughton, Kierkegaard, Angyal, Welwood, Arlow, Bandura, Battista, die vedantischen Koshas, Boss, Arieti, Tiantai-Stufen, Binswanger, Werner, Saraswati, Tiller und die Kundalinl-Chakras.)
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Ich habe eine recht kurze, aber einigermaßen erschöpfende Darstellung einer jeden der siebzehn Stufen gegeben. Insbesondere habe ich mich konzentriert auf Veränderungen in Motivation, Kognition, Selbst-Empfindung, räumlichen und zeitlichen Modi, Affekt, Ganzheitsformen, Selbstkontrolle, Sozialisierung, Moralität, Angst und Schuld, Klarheit der Wahrnehmung und Todesfurcht, wie sich diese über die siebzehn Stufen entwickeln. In dieser Weise konnte ich das ganze Buch auf 200 Seiten verdichten, die in dieser "leserfreundlicheren" Form rasch einen Verleger fanden. Meine Hoffnung bei der Veröffentlichung dieser Kurzdarstellung war, dass Graduierte dieses Material aufgreifen und anhand der Tabellen und Übersichten die Originalquellen studieren und sich selbst mit den Details auseinandersetzen würden, die sonst in meinen Stapeln von Forschungsnotizen auf unabsehbare Zeit brachliegen würden. In der Tat erfüllte sich meine Hoffnung; viele spätere Forscher wandten sich den Originalquellen zu und arbeiteten die Details dieser siebzehnstufigen Schablone aus. So hat Washburn zum Beispiel immer großzügig anerkannt, dass er genau dies tat, wobei er seinerseits wichtige und weitreichende Ergänzungen beitrug. Diese siebzehn Stufen betrafen, wie ich klarstellte, die Evolution des Bewusstseins im manifesten individuellen Menschen (frontale Evolution). Diesen siebzehn Evolutionsstufen fügte ich die (involutiven) Bardo-Reiche gemäss dem tibetischen Modell hinzu, das ich mehr oder weniger vollständig übernahm, weil es das vollständigste und in vielerlei Hinsicht einzige Modell für diese Zustände ist. Insbesondere habe ich mich auf die drei Bardo- oder "Zwischen"-Zustände konzentriert, die unmittelbar nach dem Tod (mit dem direkten Eingehen in das höchste Ziel und den höchsten Grund des Dharmakaya) beginnen und mit einer Empfängnis oder dem vorgeburtlichen Zustand enden. Damit ist der Weg des Abstiegs vom Kausalen über das Feinstoffliche zum Grobstofflichen aufgezeichnet, an dessen Ende die Wiedergeburt im Pränatalen grobstofflichen Körper-Geist steht. Dies ist der vollständige Ablauf der Involution. Nach diesem tibetischen Involutionsmodell kommt es auf jeder Stufe dieses Abstiegs des Selbst in immer dichtere Formen zu einem "Vergessen" (Amnesie). Das frühe Pränatale und neonatale Selbst erscheint daher in der Tat als "ziehende Wolken der Herrlichkeit", aber diese involutiven Reiche werden Schritt für Schritt vergessen, wenn die Evolution im grobstofflichen Reich beginnt. Jede dieser siebzehn Evolutionsstufen faltet etwas "aus", das in der Involutionsbewegung "eingefaltet" wurde, weshalb jede evolutive Entfaltung eine Erweiterung und Vertiefung des Bewusstseins über eine "Wiedererinnerung" (Anamnesis) der höheren und transzendenten Reiche ist, die in der Involution "verloren gingen". Die Triebfeder dieses ganzen siebzehnstufigen Ablaufs ist der überkuppelnde Wunsch, das Ziel und den
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Urgrund des Dharmakaya wiederzuerlangen, der in der ursprünglichen Leere des Klaren Lichts direkt erfahren wurde (und nicht an der Mutterbrust). Der Motor der ganzen Evolutionssequenz ist, mit anderen Worten, das AtmanProjekt. Ich habe aber auch darauf hingewiesen, dass dieser involutive BardoAblauf nicht einfach etwas ist, das nach dem Tod und vor der Wiedergeburt geschieht. Er ist vielmehr die Grundstruktur der Erfahrung eines jeden Augenblicks: Wir befinden uns im Zustand einer beständigen Zusammenziehung aus der Unendlichkeit in Formen des Begreifens, Erfahrens, Erkennens und Wollens. In Das Atman-Projekt habe ich dies wie folgt ausgedrückt: "Die gesamte Entwicklungssequenz der Involution fand nicht nur vor der Geburt statt, sie wird vielmehr in jedem Augenblick aufs neue wiederholt. In diesem Augenblick und in diesem und in diesem ist ein Individuum Buddha, Atman, der Dharmakaya – aber in diesem Augenblick und in diesem Augenblick und in diesem wird das gleiche Individuum auch zu 'Fritz Müller', zum separaten Individuum, zum isolierten Körper, der scheinbar durch andere isolierte Körper begrenzt wird. Zu Beginn dieses wie jedes anderen Augenblicks ist jedes Individuum Gott als das Klare Licht; doch am Ende des gleichen Augenblicks zieht sich das gleiche Individuum blitzschnell wieder zum isolierten Ich zusammen. Und was zwischen dem Anfang und Ende dieses Augenblicks geschieht, ist identisch mit dem, was nach der Beschreibung im Bardo Thödol zwischen Tod und Wiedergeburt geschieht." Wie wir in Kapitel 7 gesehen haben, kann man dieses allgemeine Modell auch in Aurobindos Terminologie darstellen: Es gibt das von Aurobindo so bezeichnete "tiefe Selbst" oder "psychische Wesen", das wandert, und das frontale Selbst, das in jedem manifesten Leben eine Entwicklung oder Evolution durchläuft. Die siebzehn Stufen sind letztlich Stufen des frontalen Wesens; sie entfalten sich in einer Entwicklungsabfolge im Verlauf eines manifesten individuellen Lebens (aber in ihnen drücken sich auch dauerhafte ontologische Seinsebenen aus, nämlich die Große Kette des Seins). Hinter dem frontalen Wesen liegt das tiefere oder psychische Wesen, das "wandern" kann (in welchem Sinne man auch immer dies auffassen will, einem "mikrogenetischen" oder momentanen bis hin zum Kreislauf der Wiedergeburten). Dieses Wesen hat grundlegenden Anteil an der psychischen / feinstofflichen Ebene und besitzt damit die Fähigkeit einer zutiefst (wenn auch noch vorläufigen) transzendenten Zeugenschaft (und diese Fähigkeit ist auch das letzte Fundament des Selbst-Systems in der manifesten Evolution). Die Tibeter bezeichnen dieses tiefere psychische Wesen, wie wir gesehen haben, als den "unzerstörbaren Tropfen" (die psychische/feinstoffliche Ebene, wie sie sich in jedem einzelnen Menschen zeigt und wofür ich im engeren Sinne den Begriff "Seele" verwende), als
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Essenz (tigle), die vom Karma von Geburt zu Geburt getragen wird, bis sie wieder mit der höchsten Leerheit des Klaren Lichts vereinigt wird. Erinnerungen an die "Zeugenschaft" des Pränatalen und neo-natalen Zustandes beruhen also nicht auf der tatsächlichen Struktur des von der Mutter umhüllten frontalen Bewusstseins, sondern auf den "ziehenden Wolken der Herrlichkeit", zu denen das psychische Wesen vielleicht noch intuitiven Zugang hat. Die "Herrlichkeit" dieser "Wiedererinnerung" ist nicht die Herrlichkeit des Säuglings und des "dynamischen Grundes" der Einheit von Mutter und Kind, sondern diejenige des Zwischenreichs, aus dem das Kind soeben herausgetreten ist. Mit anderen Worten, ziehende Wolken der Herrlichkeit in der präegoischen Phase beruhen nicht, wie wir gesehen haben, auf präegoischen Strukturen (oder "physikodynamischen Prozessen"). Ebenso lokalisiert dieses (tibetische/Aurobindo/Wilber-II-) Modell das Subjekt dieser Erinnerungen im psychischen Wesen, nicht im frontalen Bewusstsein, für das es auf dieser Stufe auch praktisch keine neuronale Grundlage gibt. Nach dem tibetischen Modell geht der Zugang zu diesem psychischen Wesen immer mehr verloren, je mehr die Evolution des grobstofflichen Körper-Geistes fortschreitet. (Nach meinem Modell geschieht dies über die siebzehn Stufen frontaler Evolution. Dabei taucht auf der eigentlichen psychischen Stufe [Drehpunkt 7] das tiefere psychische Wesen im Bewusstsein auf und zeigt sich schließlich als der kausale Zeuge selbst, der auf allen früheren Stufen als der Kern des Selbst-Systems, sein eigentliches Bewusstsein auf jeder gegebenen Ebene implizit vorhanden war, aber erst auf der psychischen/feinstofflichen Entwicklungsebene als stabile Anpassung hervortritt und sich erst auf der kausalen Ebene als seine eigene conditio gewahrt, die letztlich im Nichtdualen aufgeht). Ebenso ist die radikale Einheit, die verloren ging und so inständig zurückersehnt wird (und die die einzige und höchste Sehnsucht im Herzen eines jeden Holons ist), die frühere Einheit des Dharmakaya, nicht die neonatale Einheit an der Mutterbrust (die, wie wir gesehen haben, eben keine Einheit mit der "ganzen" Welt ist). Dem Atman-Projekt liegt das Verlangen zugrunde, in der Evolution zu verwirklichen, was in der Involution verloren ging, und diese Verwirklichung geschieht über das frontale Bewusstsein auf dem manchmal steinigen Weg der etwa siebzehn Stufen. Dies als kurze Zusammenfassung des Modells Wilber-II, wie ich es in Das Atman-Projekt vorgelegt habe. In diesem und meinen späteren Büchern habe ich diese siebzehn Stufen oft auf etwa neun Stufen reduziert, wiewohl siebzehn Stufen für ein umfassendes Modell unumgänglich sind und eher noch weiter untergliedert werden müssten. Dieses vereinfachte neunstufige Modell vertrete ich insbesondere in Psychologie der Befreiung und Eine kurze
Geschichte des Kosmos.
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Diese neun Stufen präsentiert auch Wade in ihrem Modell (es sind letztlich die neun Drehpunkte der Entwicklung des Selbst),1 und ihre Darstellung dieser grundlegenden Stufen enthält, wie ich gesagt habe, nichts wesentlich Neues. Um so irritierender ist es, dass sie ihr neunstufiges Entwicklungsmodell ständig als "völlig neue noetische Theorie" bezeichnet – wenn diese doch schon seit über fünfzehn Jahren in gedruckter Form vorliegt. Was mich andererseits an ihrer Darstellung der ersten sechs oder sieben Stufen (der konventionellen Stufen vom Präpersonalen bis zum Personalen) beeindruckt hat, ist die Fülle der Daten, um die sie das Modell bereichert. Dies ist genau jene Art mühseliger Kleinarbeit, die erledigt werden muss, und ich fand ihr Buch in diesem Teil sehr gründlich, genau und bezwingend. Wade hat eine außerordentliche Gabe, zahllose Details zu einer schlüssigen Gesamtdarstellung zu ordnen, und dies wird in diesen Abschnitten des Buchs besonders deutlich. Unter anderem macht Wades Arbeit hier wieder einmal die zentrale Bedeutung des Stufenmodells für die transpersonalen Studien deutlich und zeigt auf, warum das Entwicklungsmodell für dieses Fachgebiet so außerordentlich wichtig ist. Implizit macht sie auch deutlich, wie kümmerlich die Alternativen sind. Wade hat hiermit einen vorzüglichen Beitrag geleistet, der, wie ich glaube, von bleibender Bedeutung für das Fachgebiet sein wird. Wade vertritt ebenfalls die These des "doppelten Ursprungs" (ein tieferes psychisches Wesen und die frontale Entwicklung), auch wenn sie dies wiederum als neuen Beitrag darzustellen versucht; lediglich in einer Fußnote verweist sie auf das tibetische Modell. Trotzdem steuert sie, auch wenn der zentrale Gedanke nicht neu ist, auch hier eine Fülle von Forschungsdaten bei, und auch dieser Teil des Buchs ist von großem Nutzen. Besonders gut gefielen mir die phänomenologische Deutung Pränataler und neonataler Erfahrungen und ihre graphischen Darstellungen des psychischen Bewusstseins "hinter" oder "neben" dem frontalen. Auch dies ist ein vorzüglicher Beitrag, der das Modell weiter untermauert. Die implizite Ordnung Leider trübt sich dieser gute Eindruck dort ganz erheblich, wo das Buch wirklich Neuland betritt. Ich kann nur sagen, dass nach meiner persönlichen Meinung Wades "holonomes Paradigma" – der theoretische Grundrahmen, in den sie das neunstufige Modell des doppelten Ursprungs einfügen will – zum allergrößten Teil unhaltbar ist. Ich will ganz kurz versuchen darzustellen, warum dies meiner Meinung nach so ist. Ihr "Paradigma" beruht auf David Bohms Theorie einer impliziten/expliziten Ordnung. Das Hauptproblem bei dieser Theorie besteht darin, dass sie, weil von der Physik herkommend, zutiefst monologisch ist.
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Bohm unternimmt den typischen Versuch, diese monologische Konzeption auf die dialogischen und translogischen Bereiche auszudehnen, wo sich der monologische Ansatz, so hilfreich er in seinem eigenen Bereich ist, in einen monologischen Irrsinn verwandelt, der die anderen Reiche verfälscht, weil er sie durch das Polarisationsgitter des monologischen Blicks presst. Dies hat schlimme Folgen. Die Wirklichkeit wird auf eine zweistufige Hierarchie abgebildet, das Explizite und das Implizite. Das Explizite ist, mit Wades Worten, die "Newtonsche physikalische Welt", das Implizite das "Absolute", das auch mit "dem Nichtmanifesten", "der Leere der Mystik" und reiner "Leerheit" gleichgesetzt wird. Dies ist einfach ein monologisches ZweiEbenen-Modell, in dem es nur Physik und GEIST gibt. Eine sinnvollere Holarchie aber wäre, wie wir gesehen haben: Materie, Körper, Geist, Seele und GEIST. Aber die These des Expliziten und Impliziten zwingt jeden Theoretiker, der sie akzeptiert, nur Materie und GEIST anzuerkennen, und dazwischen gibt es nichts. Der monologische Hammer saust auf Biologie, Psychologie und Theologie nieder und zerschmettert sie. Bohm selbst scheint gelegentlich die Unhaltbarkeit seiner Position klargeworden zu sein, und einige Zeit schlug er sich mit Versuchen herum, weitere implizite Ebenen einzubauen. Deshalb gab es also eine implizite Ebene und eine super-implizite Ebene, und einmal sogar eine super-superimplizite Ebene. Und all dies sollte auf den empirischen Befunden der Physik beruhen! Ich habe (1982b) eine nachdrückliche Kritik an Bohms Position veröffentlicht, die aber weder von ihm noch von einem seiner Anhänger jemals beantwortet wurde. Es war eine stürmische Zeit, und Marilyn Fergusons Brain/Mind Bulletin hatte soeben Bohm und Pribram für ihr hologaphisches Paradigma den vierten Annual Greatest Breakthrough of the Century Award verliehen. Ich war damals Herausgeber der Zeitschrift ReVision, und wir sammelten Dutzende von Essays über dieses neue Paradigma, die wir unter dem Titel Das holographische Weltbild veröffentlichten. Ich war Herausgeber des Buchs, aber in der unangenehmen Situation, als einziger einen entschieden abweichenden Standpunkt zu vertreten. Niemand wollte zu diesem Zeitpunkt am neuen Paradigma kritteln lassen, und ich stand als Spielverderber da. In meiner Kritik führte ich aus, dass den Theoretikern der Großen Holarchie zufolge das, was auf der einen Ebene explizit ist, auf der nächsten implizit ist (das heißt, was auf einer Ebene explizit ganz ist, ist eingefalteter Teil der nächsten) und dass man so auf allen Ebenen der Großen Holarchie eine explizit-implizit-Beziehung herstellen könne, in der Bohms kleine Wahrheit ihren Platz hat, ohne dass man sich einem massiven Reduktionismus ergeben muss. Außerdem verwies ich – wobei ich Bohms eigene Begriffe verwendete – auf die schweren inneren Widersprüche, die
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sein ständiger Versuch herausforderte, etwas zu beschreiben, das nach seiner eigenen Behauptung unbeschreibbar ist. Solange es auf diese Kritik auch nicht die Andeutung einer Antwort gibt, muss man wohl, wie ich meine, Bohms Theorie für widerlegt halten. Ohnehin ist sie während der letzten anderthalb Jahrzehnte erheblich in Misskredit geraten, und die neuere Physik stützt sie überhaupt nicht mehr. Ich war daher sehr erstaunt zu sehen, dass Wade wieder mit dieser alten Auffassung aufwartet und versucht, deren monologisch blutleer gewordenen Adern mittels der transpersonalen Theorie oder gar mit Gott neues Leben zu injizieren. Wade möchte tatsächlich dem transpersonalen StandardEntwicklungsmodell diese Theorie des Impliziten und Expliziten, das "holonome Paradigma" als Grundlage unterschieben, was leider zur Folge hat, dass dieses Modell von Bohms Reduktionismus und monologischem Flachland-Ansatz infiziert wird. Wade führt einfach den monologischen Irrsinn mit einem absoluten ewigen Selbst, das die implizite Ordnung von allem Seienden ist, ad infinitum. Und es tut schon weh, wenn sie schlicht erklärt: "Die Aussagen der neuen Physik, wie sie in Bohms holonomem Paradigma zum Ausdruck kommen ... ebnen den Weg zu einer Erklärung des Bewusstseins." Der monologische Alptraum wird einfach auf absolute Proportionen aufgebläht, und dies ist für Wade schon das neue Paradigma, das letztlich das Fundament für die transpersonale Theorie hergeben soll. Die Irrtümer werden bei diesen reduktionistischen Modellen immer dann besonders eklatant, wenn sie sich um den nichtdualen Bereich bemühen (Wades "nichtmanifestes absolutes Selbst" als "implizite Ordnung"). Ein versteckter Dualismus zwingt auch Wade, das Unbeschreibbare zu beschreiben (nämlich die Leerheit), um es für ihre theoretischen Zwecke einspannen zu können, wie es ja auch Bohm versucht hatte. Mit anderen Worten, wegen ihrer Unterscheidung zwischen implizit und explizit muss sie dem impliziten Reich Eigenschaften zuweisen, einem Reich, das sie formal als die absolute Leerheit identifiziert hatte, Eigenschaften wie "unaufhörliches Fließen", "Teile verschmelzen und vereinigen sich in ständiger Bewegung", "eine energetische Ordnung", "dynamisch und holographisch zugleich", "ein saumloses Ganzes" und so fort. Nichtduale Mystiker aber machen uns darauf aufmerksam, dass all dies dualistische Begriffe sind, weil sie nur als Element eines Gegensatzpaars einen Sinn haben. Wade muss aber dem impliziten Reich diese dualistischen Eigenschaften zuweisen, um ihrer Theorie eine Grundlage zu geben. Sie erkennt die Schwierigkeiten sofort, in die sie diese Vorgehensweise bringt, und bringt deshalb die Auffassung ins Spiel, dass das absolute Implizite und das relative Explizite letztlich "ein nahtloses Ganzes" sind, womit sie das Absolute zu einer Unterordnung von etwas anderem macht. (Dasselbe
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Problem entstand bei Washburns ebenso dualistischem Modell).2 Aber es gehört zum Einmaleins der Metaphysik, dass das Absolute dasjenige ist, das keine Unterordnung von etwas anderem ist. Es kann nicht etwas Gott sein, das Teil von etwas noch Größerem ist. Diese dualistische und monologische "Metaphysik" schwächt auch ihre Darstellung der Entwicklung in den transpersonalen Reichen; dies ist neben ihrem "holonomen Paradigma" einer der am wenigsten befriedigenden Aspekte des Buchs. Während die meisten mystischen und transpersonalen Modelle in diesem Bereich mindestens vier bis sechs Stufen anerkennen, nimmt Wade aus recht unverständlichen Gründen ihr Modell an diesem Punkt zurück: Sie gibt das Standardmodell (vier bis sechs transpersonale Stufen) auf und gibt sich mit zwei Stufen zufrieden. Sie lässt zwar Raum für weitere transpersonale Stufen, aber ihre Darstellung gerät dadurch trotzdem sehr schnell auf ein totes Gleis. Wie Daniel Brown, Jack Engler und ich in Psychologie der Befreiung zu zeigen versucht haben, gibt es eine Fülle von interkulturellem Material, aus dem sich ein mindestens sechsstufiges Modell der transpersonalen Entwicklung ableiten lässt (das ich üblicherweise auf vier Stufen vereinfache: psychisch, feinstofflich, kausal und nichtdual). Im Vergleich mit anderen Modellen transpersonaler Stufen – einschließlich demjenigen von Charles Alexander, mit dem wir uns in Kapitel 10 befassen werden – ist Wades Darstellung unnötig verkürzt. Es fehlt ihr die Detailfülle, die sie für die konventionellen Ebenen aufbietet (möglicherweise deshalb, weil sie selbst keine kontemplative Methode praktiziert).3 Wie auch immer, ihre großen entwicklungspsychologischen Gaben lassen sie hier im Stich, und dies ist einer der enttäuschenderen Abschnitte des Buchs. Ebenen und Linien Es gibt, wie ich glaube, noch einen weiteren Kritikpunkt an Wades Darstellung. Kurz nachdem ich Das Atman-Projekt (das Modell Wilber-II) veröffentlicht hatte, wurde mir klar, dass ich es in einer ganz bestimmten Hinsicht verfeinern musste. An den siebzehn Stufen war nichts Grundsätzliches zu verändern, aber dieses Modell differenzierte die verschiedenen Entwicklungslinien auf diesen Stufen nicht ausreichend, und es wurde auch nicht sorgfältig genug etwa zwischen dauerhaften und Übergangsstrukturen unterschieden. Deshalb veröffentlichte ich ein knappes Jahr nach Wilber-II eine überarbeitete Version, die man als Wilber-III bezeichnen könnte. Die Stufen sind in Wilber-II und Wilber-III im großen und ganzen dieselben, aber Wilber-III unterscheidet explizit die verschiedenen Entwicklungslinien, die sich auf diesen siebzehn Ebenen entfalten. Zu diesen verschiedenen Entwicklungslinien zählen eine affektive, eine kognitive, eine moralische, eine interpersonale, Objektbeziehungen, Selbst-Identität und so weiter; diese
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entfalten sich gleichsam unabhängig auf den verschiedenen Ebenen oder Grundstrukturen des Bewusstseins. Es gibt keine durchgängige, monolithische Linie, die für alle diese Entwicklungen gelten würde (was ich gleich noch erklären werde). Weiterhin führte ich eine Unterscheidung zwischen den dauerhaften und den vorübergehenden Merkmalen jeder dieser Entwicklungsstufen ein; ich beschrieb die sechs Hauptmerkmale des Selbstsystems, das diese Stufen bei seiner frontalen Entwicklung durchläuft (neben dem "unzerstörbaren Tropfen" seines involutiven Entwicklungsbogens), und ergänzte die gerichtete und strukturierte frontale Entfaltung um temporäre Zustände (zum Beispiel Wachen/Träumen/Schlaf). Dieses Modell (Wilber-III) habe ich seit seiner erstmaligen Veröffentlichung (1981) konsequent vertreten.4 Es war zu diesem Zeitpunkt eindeutig klar, dass ein monolithisches "unilineares" Spektrum den Befunden nicht gerecht werden konnte. Um so überraschter war ich, als Wade noch dem alten Modell Wilber-II folgte. Unter anderem (trotz ihrer gegenteiligen Behauptungen) geht das Modell Wade/Wilber-II von einer unilinearen Entwicklung aus, und genau deshalb gab ich es ja auf (oder besser gesagt, verfeinerte ich es zu WilberIII). Dies lässt sich am besten anhand eines Beispiels zeigen. Wade stellt folgendes fest: "Das noetische (Bewusstseins-)Wachstum eines Menschen verläuft nicht auf allen gesellschaftlichen Ebenen gleich. So kann jemand in einem bestimmten gesellschaftlichen Milieu auf der einen Stufe operieren, unter anderen Umständen aber auf einer höheren oder niedrigeren Stufe." Dagegen habe ich nichts einzuwenden, und das Modell Wade/Wilber-II deckt diesen Sachverhalt ohne weiteres ab; Menschen bewegen sich unter verschiedenen Umständen auf verschiedenen Grundebenen des Bewusstseins, wofür zum Beispiel gesellschaftliche Auslöser verantwortlich sein können. Wofür aber das Modell Wade/Wilber-II keine Erklärung hat, ist die Tatsache, dass die Komponenten des Bewusstseins eines Menschen unter denselben Umständen auf verschiedenen Ebenen liegen können. Im selben gesellschaftlichen Bereich und bei derselben Transaktion kann ein Mensch zum Beispiel auf einer sehr hohen kognitiven Entwicklungsebene sein (z. B. Formop) und zugleich auf einer sehr niedrigen Stufe der moralischen Entwicklung (z.B. Stufe 2), wobei vielleicht zugleich noch eine unbewusste Fixierung auf einer noch früheren affektiven Stufe besteht (ein z. B. an Drehpunkt 1 dissoziierter Anteil des Selbst). Im Modell Wade/Wilber-II ist für diese Tatsachen überhaupt kein Platz, weil es im allgemeinen nicht sorgfältig genug zwischen Ebenen und Linien unterscheidet. Weiterhin vermag es auch nichts darüber auszusagen, was
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genau in der Evolution erhalten und was verworfen wird.5 Diese Unterscheidungen sind aber das Minimum dessen, was erforderlich ist, um Entwicklung im allgemeinen und nichtlineare Entwicklungen im besonderen nachzeichnen zu können. Bei Wilber-III stand ich wiederum vor der Entscheidung, entweder einige Tausend Seiten Forschungsnotizen oder lediglich einen Abriss zu veröffentlichen. Diesmal zwangen mich persönliche Umstände (die Krankheit meiner Frau), nur einen Abriss herauszubringen (zunächst in Form eines Artikels in The Journal of Transpersonal Psychology, dann in Buchform als Transformations of Consciousness (deutsch: Psychologie der Befreiung, Bern 1988), wobei Jack Engler und Daniel P. Brown als Ko-Autoren mitwirkten).6 Wiederum hatte ich dabei die Hoffnung, dass ein fähiger Graduierter oder ein anderer Autor den Ball aufnehmen würde. Um so enttäuschter war ich, wie gesagt, dass Wade das alte Modell Wilber-II heranzog. Und wenn ich eine letzte persönliche Bemerkung machen darf: Ich hoffe immer noch, dass jemand für Wilber-III tun wird, was Washburn, Wade und andere für Wilber-II getan haben, nämlich die Kurzdarstellung um eigene Perspektiven bereichern, eventuelle Mängel beseitigen, Verbesserungen durchführen, wo nötig, und das ganze Modell einen Schritt weiterführen. Das Gebiet scheint immer noch von Modellen beherrscht zu werden, die von diskreten Zuständen ausgehen, Wilber I, Wilber-II und Grof, die meiner Ansicht nach schwerwiegende Mängel haben; ihre Stärken sind, wie ich meine, in Wilber-III eingebaut, wiewohl hierüber natürlich längst nicht das letzte Wort gesprochen ist. Bis jetzt wurde weitaus mehr über Washburn/Wilber-I und Wade/Wilber-II geschrieben als über Wilber-III, was für das einzige Modell, das meiner Meinung nach derzeit im Einklang mit den Befunden steht, nichts Gutes verheißt.7 Jenny Wade ist eine Entwicklungsdenkerin pur sang. Sie erfasst entwicklungstheoretische Probleme mit sicherem Blick und scharfem Verstand, und ich bin überzeugt, dass sie auf dem Gebiet der transpersonalen Entwicklungstheorie eine Stimme von Gewicht sein kann. Aber ich möchte ihr doch nahelegen, den Bohmschen Ballast mit all dem inhärenten monologischen Reduktionismus und die kabbalistischen Zahlenspielereien, die die Art und die Zahl der überhaupt möglichen Stufen viel zu sehr einschränken, über Bord zu werfen und sich ganz auf das Wesentliche zu konzentrieren: die Darstellung der dauerhaften und Übergangsebenen und der Linien in der Bewusstseinsentwicklung. Dies wäre ein wirklich hervorragender Beitrag. Über eine Theoretikerin solcher Begabung kann sich jede Disziplin glücklich schätzen, und ich bin überzeugt, dass von Wade noch viele wertvolle Beiträge kommen werden.
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Gibt es Stufen der spirituellen Entwicklung? Gibt es wirklich universelle und invariante Stufen der spirituellen Entwicklung? Welcher Zusammenhang besteht zwischen spiritueller und psychischer Entwicklung? Muss man seine psychische Entwicklung abgeschlossen haben, bevor eine echte spirituelle Entwicklung eintreten kann? Die Zusammenfassung dieser "Stufen" durch Rothberg deckt sich genau mit meinen Auffassungen: "Entwicklung vollzieht sich nicht auf eine irgendwie einfache Weise als Aufeinanderfolge weniger in sich geschlossener Stufen, die alle Aspekte des Wachstums abdecken ... Die [verschiedenen] Entwicklungslinien können manchmal in Widerstreit zueinander stehen, und einige von ihnen scheinen, wie Wilber sagt, durchaus keine kohärenten Stufen zu sein ... Es könnte also jemand etwa auf der kognitiven Ebene einen hohen, auf der interpersonalen oder moralischen Ebene einen mittleren und auf der emotionalen Ebene einen niedrigen Entwicklungsstand haben. Diese Entwicklungsdivergenzen scheinen vor allem durch allgemeine kulturelle Werte und Gebräuche bedingt zu sein."8 Wie schon kurz skizziert, bilden in meinem allgemeinen Modell (WilberIII) die grundlegenden Bewusstseinsstrukturen (das Spektrum des Bewusstseins) eine Art Grundgerüst. Diese Grundstrukturen werden jedoch von mindestens einem Dutzend verschiedener Entwicklungslinien durchzogen, die teils dauerhafter, teils vorübergehender Natur sind. Diese Entwicklungslinien betreffen Dinge wie affektive, moralische, interpersonale und raumzeitliche Entwicklung, Todestrieb, Objektbeziehungen, Kognition, Selbstidentität, Selbstbedürfnisse, Weltsichten, psychosexuelle, konative und ästhetische Entwicklung, Intimität, Kreativität, Altruismus, verschiedene spezielle Begabungen (Musik, Sport, Tanz, Malerei) usw. Es sind relativ unabhängige ("quasi-unabhängige") Entwicklungslinien, die natürlich vom Selbst-System lose zusammengehalten werden.9 Die Frage lautet also: Ist Spiritualität eine eigene Entwicklungslinie? Oder ist sie vielmehr die höchste Stufe, der Zenit oder Nadir dieser anderen Linien? Mit anderen Worten, in dieser Diskussion kommt nun alles auf die Bedeutung des Worts "spirituell" an, weil alle Argumente in diesem Zusammenhang auf die beiden unterschiedlichen Definitionen dieses Worts hinauslaufen. Die einen definieren "spirituell" als eine getrennte Entwicklungslinie, das heißt, für sie verläuft spirituelle Entwicklung parallel zur psychischen, emotioneilen und interpersonalen Entwicklung. Die anderen definieren "spirituell" als den Kulminationspunkt all dieser Linien, und in
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diesem Fall kann spirituelle Entwicklung erst beginnen, wenn die psychische Entwicklung weitgehend abgeschlossen ist. Ich glaube, dass beide Haltungen richtig sind, aber es muss jeweils genau definiert werden, was mit "spirituell" gemeint sein soll. Wenn zum Beispiel "spirituell" als "transmental" verstanden werden soll, dann kann offensichtlich das Transmentale erst dann stabil emergieren, wenn das Mentale in irgendeiner rudimentären Form gefestigt ist. Und wenn man "spirituell" als transverbal, transegoisch oder transpersonal definiert, dann kann der spirituelle Bereich erst dann stabil emergieren, wenn überhaupt erst ein verbales, mentales oder egoisches Selbst vorhanden ist, das transzendiert werden kann. Definiert man andererseits Spiritualität als eine getrennte Entwicklungslinie, dann kann sie sich natürlich neben, hinter oder parallel zu den anderen Entwicklungslinien, der affektiven, interpersonalen, moralischen usw. entwickeln. Hierzu einige Beispiele: In der affektiven Linie haben wir präkonventionellen Affekt (zum Beispiel narzisstischen Zorn), konventionellen Affekt (Empfindungen der Zugehörigkeit), postkonventionellen Affekt (globale Zuwendung, universelle Liebe) und post-postkonventionellen Affekt (Änanda, transzendentale Liebe in Seligkeit). Auf der moralischen Linie haben wir präkonventionelle Moral (was ich will, ist richtig), konventionelle Moral ("wir" haben immer recht), postkonventionelle Moral (universeller Gesellschaftsvertrag) und post-postkonventionelle Moral (das Gelübde des Bodhisattva). Auf der kognitiven Linie haben wir präkonventionelle Kognition (sensomotorisch, präoperational), konventionelle Kognition (konkrete Schemata, Regeln / Rolle), postkonventionelle Kognition (formal-rational bis postformale Schau-Logik) und post-postkonventionelle Kognition (Prajnä, Gnosis, Savikalpa, Nirvikalpa, post-postformal). Nach der ersteren Definition ist Spiritualität die höchste oder postpostkonventionelle Ebene aller dieser Linien. Nach der letzteren Definition wäre Spiritualität eine eigene, parallele Entwicklungslinie. Da dieses Thema offenbar für unsere Diskussion von entscheidender Bedeutung ist, sollte sich eine nähere Betrachtung lohnen. Lassen wir aber für den Augenblick noch die Bedeutung von "Spiritualität" beiseite, und konzentrieren wir uns auf "Ebenen" und "Linien" im allgemeinen. Dann werden wir uns wieder der Definition von "spirituell" zuwenden und eine abschließende Betrachtung versuchen. Ströme und Wellen Meine These lautet wie folgt: Es gibt ein Gesamtspektrum des Bewusstseins, durch das sich mehr als ein Dutzend verschiedener Entwicklungslinien hindurchziehen, die jeweils eine unterschiedliche
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Architektur, Dynamik, Struktur und Funktion haben können – das heißt, es besteht eine "Quasi-Unabhängigkeit" voneinander –, die aber durch das Selbst-System lose zusammengehalten werden. Diese These war in Das Atman-Projekt (1980) implizit vorhanden und wurde ein Jahr später mit dem Erscheinen von, wie wir es nennen wollen, Wilber-III explizit dargestellt. Zum damaligen Zeitpunkt gab es jedoch sehr wenig Material, das eine solche Mutmaßung hätte stützen können. Der Ausdruck "Entwicklungslinie" geht ursprünglich auf Anna Freud zurück, die ihn allerdings in einem sehr engen Sinne verwendete. Das heute vorherrschende eigentliche Entwicklungsparadigma stammt von Piaget, dem zufolge praktisch alle Entwicklungslinien vollständig in einem dominanten Bereich aufgehen, demjenigen der logischmathematischen kognitiven Entwicklung. In den vergangenen fünfzehn Jahren haben jedoch verschiedene theoretische und Forschungsarbeiten das Fundament der These Wilber-III ganz erheblich gestärkt, und ich möchte im folgenden einige der bedeutsamsten und einflussreichsten kurz zitieren. Howard Gardners Abschied vom IQ, das 1983 erschien, zeigte erstmals die Notwendigkeit auf, das Schema Piagets etwas "aufzulockern", ohne auf dessen bewährte Stärken zu verzichten. Piaget selbst hatte bereits den ersten Schritt getan: "Piaget räumte ein, dass das formale Denken sich nicht notwendigerweise über alle Bereiche erstreckt [die logisch-kognitive Entwicklung ist nicht nur die einzige Entwicklungsachse], sondern möglicherweise nur in denjenigen Linien zu finden ist, in denen ein Individuum ständig praktisch tätig ist. Hierin liegt ein stillschweigendes Zugeständnis, dass es mehrere Bereiche gibt [mehrere Entwicklungslinien], in denen Menschen kompetent sein können, und die Anerkennung der Möglichkeit, dass in manchen Bereichen Prozesse und Produkte vorhanden sind, die in anderen Bereichen fehlen."10 Gardner verweist darauf, dass "heute immer mehr darauf hindeutet, dass man sich [Entwicklung] besser als aus mehreren Domänen [Entwicklungslinien] zusammengesetzt vorstellen kann, wozu nicht nur logisch-mathematisches Denken [die Piagetsche Linie und diejenige, die immer noch und zu ausschließlich als die "kognitive" bezeichnet wird] und sprachliches Wissen gehören [z.B. Chomsky], sondern auch ... optischräumliches Denken, körperlich-kinästhetische Aktivität, musikalisches Wissen und sogar verschiedene Formen eines sozialen Verständnisses [u.a. moralische und interpersonale Kompetenz]."11 Gardner und seine Kollegen haben die frühkindliche Entwicklung auf mehreren dieser quasi-unabhängigen Linien intensiv untersucht (er spricht hier von "Domänen"), unter anderem Sprache, symbolisches Spiel, Musik, Zahlen, Zeichnen, Bauen mit Klötzchen und Körperausdruck oder Tanz. "Unser Ziel war es, ein Porträt der ... Entwicklung in jeder dieser
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verschiedenen Domänen zu geben, vor allem aber festzustellen, welche
Gemeinsamkeiten könnten."12
zwischen
den
verschiedenen
[Domänen]
bestehen
Mit anderen Worten, das Entscheidende ist neben der Verfolgung der Entwicklungslinien die Prüfung der Frage, ob es auch gemeinsame Entwicklungsebenen (oder Gemeinsamkeiten zwischen Domänen) gibt. Die Schlussfolgerung ihrer empirischen Forschungen unterstütze ich voll und ganz: "Vieles von demjenigen, was innerhalb eines bestimmten Symbolsystems [einer bestimmten Entwicklungslinie] geschieht, kommt nur in diesem Symbolsystem vor... Die Darstellung der Symbolentwicklung ist in Teilen eine Darstellung der ordinalen Skalen in jeder dieser Domänen, was wir an anderer Stelle als die "Ströme" der Symbolisierung [der Entwicklungslinien] bezeichnet haben. Aber es gibt definitiv Parallelen zwischen den Entwicklungen in den verschiedenen Domänen."13 Gardner und seine Kollegen stellten also fest, dass die verschiedenen Entwicklungslinien in "Wellen" fortschreiten – ein Begriff, mit dem Gardner das Fließende dieser Stufen kennzeichnen möchte. Er fand mit seinen Mitarbeitern vier invariante Wellen in jeder dieser Domänen (Erzählung, Musik, Tanz, Zeichnen, symbolisches Spiel usw.) sowie zwei oder drei weitere Wellen, die invariant zu sein scheinen, aber weiterer Forschungen bedürfen. Gardner fasste diese Wellen unter den Stichworten präkonventionell, konventionell und postkonventionell zusammen (nehmen wir noch postpostkonventionell hinzu, und wir sind völlig einer Meinung!). Nach Gardners Forschungen sind diese Wellen universell und invariant und haben ihre Grundlage in tiefen biologischen (und vermutlich psychischen / kulturellen) Konstanten. "Die Wellen der Symbolisierung sind obligatorisch. Das Kind muss sie gebrauchen, und zwar in der Reihenfolge, in der sie emergieren."14 Mit anderen Worten, sowohl die Ströme (die verschiedenen Entwicklungslinien) als auch die Wellen (die allen Strömen gemeinsame stufenartige Abfolge) weisen weitgehend universelle Merkmale auf. "Durch unser biologisches Erbe sind wir mit Mechanismen ausgerüstet – die wir hier als Ströme und Wellen der Symbolisierung bezeichnen –, mit deren Hilfe wir uns dieses Symbolsystem vorläufig erklären. Wir vermuten, dass diese Ströme und Wellen bei allen Menschen weltweit in ähnlicher Weise auftreten ..."15 Zugleich liegt in verschiedenen Kulturen der Nachdruck auf verschiedenen Linien oder Strömen, wiewohl diese dieselben stufenartigen Wellen durchlaufen: "Die symbolische Entwicklung besteht nicht aus einem einzigen Strang. Sie vollzieht sich vielmehr in mehreren Linien, die Abbild der jeweiligen Domänen sind, die verschiedene Kulturen in verschiedenen Entwicklungsphasen jeweils betonen. Die Wellen [die präkonventionelle,
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konventionelle und postkonventionelle – und, wie wir hinzufügen, die postpostkonventionelle] kommen in jedem Bereich zum Tragen, aber in welchem Umfang eine jede Welle ausgebildet ist und zu welchem Zeitpunkt ihre Wirkung am stärksten ist, hängt von der jeweiligen symbolischen Domäne ab."16 Schließlich, und dieser Punkt muss besonders hervorgehoben werden, weist Gardner darauf hin, dass dieser Ansatz (die Kombination von Linien und Ebenen bzw. Strömen und Wellen) "die Chance zur Aufhebung einer immer schwerwiegenderen Spaltung in der Entwicklungspsychologie bieten könnte. Es gilt heute die Auffassung, dass einerseits Piaget vor allem die allgemeinsten Aspekte der Entwicklung betrachtet und annimmt, dass einem Bereich zentrale Bedeutung zukommt, nämlich demjenigen des logischrationalen Denkens. Chomsky (und anderen, die von der "Modularitätshypothese" beeinflusst sind) wird die gegenteilige Auffassung zugeschrieben, dass Entwicklung in verschiedenen Domänen in unterschiedlicher Weise abläuft (wenn es überhaupt eine Entwicklung gibt). Mit unseren Wellen ist die Möglichkeit gegeben, dass bestimmte allgemeine, wellenartige psychische Prozesse domänenübergreifend auftreten, wobei aber die Art ihres Auftretens von der Natur und Struktur der jeweiligen Domäne abhängt. Wenn diese Theorie dazu beitragen könnte, zwei scheinbar widersprüchliche strukturalistische Ansätze miteinander zu versöhnen, wäre dies in der Tat ein erfreuliches Ergebnis."17 Eine spirituelle Linie? Deshalb ist meiner Auffassung nach die gemeinsame Achse (deren Skalen präkonventionell, konventionell, postkonventionell und postpostkonventionell sind) einfach das Bewusstsein als solches – die Grundstrukturen selbst, die Große Holarchie des Seins, das Spektrum des Bewusstseins (das ich üblicherweise in neun oder zehn Grundebenen untergliedere, die man einfach auch als präkonventionell, konventionell, postkonventionell und post-postkonventionell zusammenfassen kann). Dies sind die universellen Wellen, in denen die etwa zwölf Entwicklungslinien quasi-unabhängig fortschreiten. Die Ebenen des Spektrums bilden die Wellen der Entwicklung und Entfaltung; die einzelnen Linien sind die verschiedenen Ströme, die durch diese Wellen hindurchgehen, und das Selbst-System ist dasjenige, was versucht, diese quasi-unabhängigen Ströme mit ihren abgestuften Entwicklungswellen zu bändigen und in ein Gleichgewicht zu bringen. Kehren wir zur "Spiritualität" zurück. Der ersten Definition zufolge ist Spiritualität einfach die post-postkonventionelle Ebene dieser Linie. Nach der zweiten Definition ist Spiritualität eine getrennte Linie mit eigenem Entfaltungsgang. Ich denke, dass beides völlig akzeptable Auffassungen sind,
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solange man genau sagt, was gemeint sein soll, weil sie sich offensichtlich auf ganz unterschiedliche Sachverhalte beziehen. Betrachten wir zunächst die Spiritualität als eigenständige Linie. Ich glaube, dass eine solche Auffassung möglich ist, doch ergeben sich sofort verschiedene Schwierigkeiten. Die erste Frage lautet, wie man "spirituell" in einer Weise definieren kann, dass es nicht auf die höheren, transpersonalen und transmentalen Ebenen beschränkt bleibt. Wenn man "spirituell" mit "trans-" oder "post-" Begriffen zu definieren versucht (transverbal, transmental, transkonventionell, postformal, trans-egoisch), dann findet man sich unversehens im anderen Modell wieder (in dem Spiritualität nur auf den höheren Ebenen vorhanden ist und sich daher erst nach den niedrigeren Bereichen entwickeln kann). Andererseits kann man "Spiritualität" auch nicht mittels Begriffen anderer Entwicklungslinien definieren (affektiv, moralisch, interpersonal, kognitiv usw.). Wenn Spiritualität eine getrennte Entwicklungslinie sein soll, dann kann man sie nicht als emotionelle Offenheit, als Liebe, als moralisches Mitgefühl, als affektive Seligkeit, als kognitive Intuition und Einsicht usw. definieren (denn all dies ist bereits eigenen Entwicklungslinien zugeordnet). Es erweist sich also als äußerst schwierige Angelegenheit, "spirituelle Linien" zu definieren, und die meisten derjenigen, für die spirituelle Entwicklung parallel zu psychischen und anderen Linien verläuft, vermeiden es tunlichst, "spirituell" in einem irgendwie konkreteren Sinne zu definieren. Diese Schwierigkeiten sind der Hauptgrund dafür, dass ich bisher meist (aber keineswegs immer)18 bezüglich einer getrennten "spirituellen Linie" ein gelehrtes Schweigen bewahrt habe. Ich habe mich bei meinen Erörterungen auf klare, abgrenzbare Linien beschränkt wie Kognition, Affekt, Motivation, Selbst-Empfindung, moralische Reaktion, Ich-Bedürfnisse, Weltsichten usw. Dies hat zu der verständlichen, aber trotzdem unrichtigen Auffassung geführt, dass es für mich Spiritualität nur auf den "höheren" Ebenen gäbe. Ich bezeichne diese höheren Bereiche oft als die "spirituellen" Bereiche, habe aber andererseits niemals behauptet, dass es auf den niedrigeren Ebenen keine Spiritualität gäbe – einfach deshalb, weil alle Ebenen Ebenen des GEISTES sind. Ich habe daher von einer magischen Religion, mythischen Religion, rationalen Religion, psychischen Religion (Schamanen/Yogis), subtilen Religion (Heilige), kausalen Religion (Weise) und nichtdualen Religion (Siddhas) gesprochen, die jeweils eine Ebene oder Welle der spirituellen Linie oder des spirituellen Stroms bilden – und eben dies ist die Entwicklungslinie der Spiritualität über das ganze Spektrum des Bewusstseins. Die eigentliche Schwierigkeit scheint mir gar nicht darin zu liegen, eine Entwicklungslinie zu identifizieren oder zu charakterisieren, die man "spirituell" nennen könnte. Sie liegt vielmehr darin, demjenigen, was wir als
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"spirituell" bezeichnen, überhaupt Anerkennung zu verschaffen. Der Begriff ist für jegliche kohärente Diskussion, erst recht für ein Modell praktisch unbrauchbar (und es muss noch einmal daran erinnert werden, dass man zur Definition einer spirituellen Entwicklungslinie weder Begriffe aus den höheren transpersonalen Ebenen noch aus anderen Entwicklungslinien verwenden darf, da man sonst nur ein Gemisch anderer Linien und Ebenen bekommt, keine wirklich eigenständige spirituelle Linie). Aus diesem Grund möchte ich einfach meine eigene Darstellung geben. Mit Paul Tillich definiere ich die spirituelle Linie als diejenige Entwicklungslinie, an der das Subjekt sein "höchstes Interesse" hat. Mit anderen Worten, die spirituelle Entwicklungslinie ist die Entwicklungslinie des höchsten Interesses, gleichgültig, was dessen Inhalt ist. Wie fast alle anderen Entwicklungslinien entfaltet sich diese Linie des höchsten Interesses über die allgemeinen expandierenden Sphären des Bewusstseins, von präkonventionellem (egozentrischem) über konventionelles (soziozentrisches) und postkonventionelles (weltzentrisches) zu post-postkonventionellem (bodhisattvischem) Interesse. Oder, um die Begriffe der zugehörigen Weltsichten zu verwenden: Von archaischem über magisches, mythisches, mentales, psychisches und subtiles zu kausalem Interesse.19 Fowlers Werk ist natürlich auf diesem Gebiet ein erster Ansatz, und ich ziehe seine bahnbrechenden Bemühungen dankbar heran. Fowlers sechs Stufen gehen zwar nicht über die Schau-Logik hinaus, aber bis zu diesem Punkt decken sie sich fast vollständig mit meinen Befunden.20 Darüber hinaus gebührt Fowler hohe Anerkennung für seine wahrhaft bahnbrechenden Forschungen und seine sorgfältig dargestellten Belege für die frühen bis mittleren Stufen der spirituellen Entwicklungslinie. Spirituelle Ebene und spirituelle Linie Wir haben es hier also mit zwei ganz unterschiedlichen Verwendungen des Begriffs "spirituell" zu tun, die meines Erachtens beide akzeptabel sind, solange deutlich gesagt wird, welche von beiden gemeint ist. Im einen Fall handelt es sich um eine Ebene, im anderen um eine Linie. Im ersteren Sinne bedeutet "spirituell" im allgemeinen die postpostkonventionellen Wellen einer jeden Entwicklungslinie. So wird zum Beispiel post-postkonventionelle Erkenntnis (zum Beispiel Savikalpa- und Nirvikalpa-Samadhi, Gnosis, Jnana) als "spirituelle Erkenntnis" bezeichnet, nicht dagegen konkrete Schemata und konventionelle Regeln. Ebenso wird post-post-konventioneller Affekt (zum Beispiel transzendente Liebe/Seligkeit) als spirituell bezeichnet, nicht dagegen präkonventionelle narzisstische Wut. Die post-postkonventionellen Modi der Selbstidentität (Seele, Selbst) sind spirituell, nicht dagegen das konventionelle Ich, usw.
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In dieser Verwendung werden die "höheren Bereiche" der menschlichen Natur – die post-postkonventionellen Stufen einer der Entwicklungslinien wie zum Beispiel Erkenntnis, Affekt, Moral und Selbst-Empfindung allgemein als "spirituell" oder "authentisch spirituell" oder ähnliches bezeichnet. Auf jeder dieser Linien verläuft die Entwicklung, wie die Forschungen deutlich machen, im allgemeinen von präkonventionell über konventionell und postkonventionell zu post-postkonventionell, sei es in einem "starken" oder "schwachen" Sinne, aber immer klar erkennbar. In diesem Sinne können spirituelle Entwicklungen (post-postkonventionelle Entwicklungen) erst dann stabil emergieren, wenn die präkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Wellen zumindest in einer irgendwie signifikanten Weise bewältigt sind. Im zweiten Sinne ist mit "spirituell" eine eigene Entwicklungslinie gemeint, das heißt, spirituelle Entwicklungen können neben oder parallel zu Entwicklungen auf den anderen Linien eintreten, der kognitiven, affektiven, moralischen, interpersonalen usw. Wer allerdings das Wort in diesem Sinne gebraucht, muss genau angeben, welche Merkmale er der "spirituellen Linie" zuweisen will, denn es können hierfür weder die Merkmale anderer Linien herangezogen werden (Liebe, Gehorsam, Moral usw.), noch kann man darunter einfach die höchsten Bereiche der anderen Linien verstehen (dies wäre eine Verwendung im erstgenannten Sinne). So wurde Fowler gelegentlich der Vorwurf gemacht, seine Arbeitsdefinition von "Glaube" sei manchmal nicht von "Ethik" zu unterscheiden (weshalb der Kohlberg-Test und der Fowler-Test eine so hohe Übereinstimmung der Ergebnisse zeigen, dass manche Forscher der Meinung sind, dass bei beiden dasselbe gemessen wird). Aber wofür auch immer man sich entscheidet: Die Schwierigkeiten der Definition einer getrennten spirituellen Linie sind offensichtlich. Soweit ich "spirituell" im Sinne einer getrennten Linie benutze, habe ich diese als die Linie des "höchsten Interesses" definiert. Damit ist sie klar gegenüber der Moral (das höchste Interesse könnte zum Beispiel Nahrung sein), gegenüber der interpersonalen Entwicklung (das höchste Interesse ist manchmal nichtpersonal) und der Selbst-Entwicklung abgegrenzt (das höchste Interesse ist nicht notwendigerweise subjektorientiert). Dies ist allerdings nur meine eigene Arbeitsdefinition, neben der es durchaus noch weitere legitime Definitionen geben kann.21 Dies sind also die beiden Verwendungsmöglichkeiten – ein getrennter Strom oder die höchsten Wellen eines jeden Stroms. Die meisten Streitigkeiten bezüglich des Zusammenhangs von "Psychologie" und "Spiritualität" – oder Psychotherapie und Meditation – entstehen nur deshalb, weil die beiden Definitionen nicht klar auseinandergehalten werden.
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Wir werden uns diesem allgemeinen Thema im nächsten Kapitel nochmals zuwenden, und dort sollen auch weitere Beispiele gegeben werden. Halten wir fürs erste fest, dass diese beiden Verwendungsformen von "spirituell" nicht verwechselt werden dürfen. Spirituelle Stufen Kehren wir nun zu unserer ursprünglichen Frage zurück: Gibt es Stufen der spirituellen Entfaltung? Nach der ersten Definition ist das Spirituelle einfach der höhere Bereich einer jeden dieser Linien, weshalb nach dieser Definition Spiritualität zweifellos ein Stufen-Phänomen ist. Die post-postkonventionellen Stufen einer jeden Linie emergieren erst, nachdem die vorangegangenen Stufen grundsätzlich gefestigt sind. Die andere Frage ist dagegen, ob auch dann von Stufen die Rede sein kann, wenn man Spiritualität als getrennte Linie betrachtet. Ich bin der Meinung, dass fast jede getrennte spirituelle Linie, die man postulieren kann, eine aus Übergangsstufen bestehende Entwicklungsholarchie sein muss, wobei diese Stufen "weich" sind (die Reaktionen umfassen mehrere Ebenen). Ich glaube, dass klar erkennbare Stufen vorhanden sein müssen, weil diese zwangsläufig auf früher erworbenen Kompetenzen aufbauen und zugleich neue und prägende Merkmale hinzufügen, die an die Stelle der engeren und flacheren Orientierungen treten. Um also zum Beispiel von einer präkonventionellen Spiritualität (archaisch, magisch, egozentrisch) zu einer konventionellen Spiritualität (mythische Mitgliedschaft) zu gelangen, muss notwendigerweise die Fähigkeit erworben werden, sich in einen anderen hineinzuversetzen. Zuwendung und Anteilnahme kann sich ohne diesen Schritt in keiner Weise vom Selbst auf die Gruppe ausdehnen, und ohne diesen gibt es keine entsprechende Entfaltung einer tieferen spirituellen Anteilnahme. (Vergleiche: "Die Wellen der Symbolisierung sind obligatorisch. Das Kind muss sie durchlaufen, und zwar in der Reihenfolge, in der sie auftauchen.") Dieses Beispiel zeigt sehr klar, warum das allgemeine Stufenmodell so wichtig ist und warum ich glaube, dass dieses auch für die spirituelle Linie unverzichtbar ist. Es erklärt längst nicht alles, aber einige sehr wichtige Dinge. Zudem wurde bisher noch keine überzeugende alternative Darstellung ohne Stufen vorgelegt (ich höre immer alternative Metaphern wie zum Beispiel diejenige einer sich entfaltenden Blüte, aber Blüten entfalten sich in Stufen). Wiewohl also noch viele Details ausgearbeitet werden müssen, ist das Stufenmodell nach wie vor besser als jedes andere zur Deutung des weitaus größten Teils der verfügbaren Befunde geeignet. In Alexanders und Langers
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tiefschürfendem Buch Higher Stages of Human Development legen die Herausgeber eine sehr umfassende Übersicht über die Entwicklungsmodelle vor, die von höheren oder tieferen Bereichen als dem typischen egoischen Zustand ausgehen, und hinsichtlich der zwölf dargestellten Modelle verweisen die Herausgeber darauf, dass die meisten von ihnen hierarchische Stufen anerkennen (u. a. Carol Gilligan, Daniel Levinson, Michael Commons und Charles Alexander). Dies ist das Kind, das man nicht mit dem Bad ausschütten darf. Angesichts des amerikanischen Klimas der Feindseligkeit gegenüber "Stufen" (und allem, was "höher" sein könnte als das Ich) muss man das Leben dieses Babys mit aller Entschiedenheit verteidigen. Mehr Tiefe, weniger Spanne Damit kommen wir zu einem recht heiklen Problem. In einer fundierten Studie wurde gezeigt, dass nur ein bis zwei Prozent der Bevölkerung die autonome Stufe auf Loevingers Skala erreichen, das heißt die zweithöchste Stufe, und weniger als 0,5 Prozent die höchste oder integrierte Stufe (diese beiden Stufen entsprechen der frühen und der späteren zentaurischen Stufe). Ähnliche Studien haben gezeigt, dass weniger als vier Prozent Kohlbergs Stufe 6 erreichen: Fowler stellte fest, dass nur ein Prozent auf seine höchste Stufe gelangt, usw. Akzeptieren wir einfach einmal, um den Streit austragen zu können, dass dies grundsätzlich zutreffende Befunde sind. Dann erhebt sich die Frage: Bedeutet dies, dass man diese Stufen (die autonome, integrierte, zentaurische, postkonventionelle) durchlaufen muss, um echte spirituelle Fortschritte zu machen? Die Antwort hängt natürlich wiederum davon ab, was man unter "spirituell" versteht. Definiert man Spiritualität als postformal und postpostkonventionell, dann muss die Frage klar bejaht werden. Definiert man dagegen "spirituell" als eine getrennte Entwicklungslinie, ist die Antwort ein klares Nein. In letzterem Fall vollzieht sich die Entwicklung neben, hinter oder parallel zu den anderen Entwicklungslinien und kann diesen daher vorauseilen oder hinterherhinken. Allerdings wird dadurch die Frage lediglich zurückverlagert: Wenn man Spiritualität als getrennte Linie betrachtet, hängt dann eine stabile postkonventionelle spirituelle Entwicklung davon ab, dass der Übergang von der präkonventionellen zur konventionellen und zur postkonventionellen Welle gelingt? Aufgrund des Übergewichts der Befunde muss diese Frage meiner Meinung nach klar bejaht werden. In beiden Fällen ist daher die Schlussfolgerung dieselbe: Ob Spiritualität die höchste Welle oder ein getrennter Strom ist – es müssen letztlich immer dieselben allgemeinen Wellen bewältigt werden, von präkonventionell über konventionell zu postkonventionell zu post-postkonventionell (oder allgemeiner ausgedrückt, vom Grobstofflichen zum Subtilen und Kausalen).
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Um dasselbe nochmals mit anderen Worten auszudrücken: Die spirituelle Linie selbst schreitet von einer präpersonalen Welle (archaischer Haltung, Essen, Sicherheit, präkonventionelle Interessen) über eine personale Welle (von Zugehörigkeit und konventionellem Interesse zu postkonventionellem / globalem Interesse) zu einer transpersonalen Welle fort (postpostkonventionell, subtile und kausale Phase, bodhisattvisches Interesse). Kurz, der spirituelle Strom verläuft von der unbewussten über die Bewusste zur überbewussten Welle. Diese spirituellen Stufen sind meiner Meinung nach Übergangsstufen (Stufen im "weichen" Sinne), und natürlich kann das Selbst-System dabei trotzdem "überall" sein. Dies ist durchaus keine starre mechanistische Auffassung. Aber sie zeigt in der langfristigen Perspektive eine allgemeine Entfaltung über die sich ausdehnenden Wellen des Bewusstseins, wobei die Entwicklungen im spirituellen Strom von zuvor erworbenen Kompetenzen innerhalb eben dieses Stroms abhängen. So kann man zum Beispiel nur von präkonventionellem zu konventionellem Interesse fortschreiten, wenn man lernt, sich in andere hineinzuversetzen. Und man kann nicht von konventionellem zu postkonventionellem oder globalem Interesse gelangen, ohne eine perspektivische Haltung zu erwerben. In diesem Sinne vollzieht sich spirituelle Entwicklung unzweifelhaft stufenweise über diese allgemeinen Ebenen. Der spirituelle Strom muss in denselben allgemeinen Wellen verlaufen wie jeder andere Erwerb einer Fähigkeit, wenn er eine stabile Anpassung und nicht bloß eine Gipfelerfahrung oder ein vorübergehender Zustand sein soll. Zugleich vollziehen sich diese Entwicklungen quasi-unabhängig von den anderen Entwicklungslinien, so dass die spirituelle Entwicklung (hier wieder als getrennter Strom verstanden) der Entwicklung auf der affektiven, interpersonalen und künstlerischen Linie oder denjenigen der Objektbeziehungen oder der Abwehrmechanismen vorauseilen oder hinterherhinken kann. Bedeutet dies nun angesichts der Tatsache, dass die postkonventionelle Stufe einer jeden Entwicklungslinie nur sehr selten erreicht wird (von etwa 12%), dass weniger als ein Prozent der Bevölkerung die Entwicklung zur postpostkonventionellen oder transpersonalen Welle der Spiritualität (psychisch, subtil, kausal) erreicht? Ich muss diese Frage bejahen. (Und dies ist weiter keine Überraschung, denn Evolution bringt immer größere Tiefe und weniger Spanne hervor). Ich würde sogar sagen, dass kaum mehr als ein Prozent der meditierenden Bevölkerung die post-postkonventionelle Ebene der spirituellen Linie (oder überhaupt einer anderen Linie) dauerhaft erreicht. Dies bedarf natürlich noch der empirischen Untersuchung (siehe unten).
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Weisheit für alle? Für spirituelle Lehrer jeglicher Richtung ist dies ein besonders heikles Problem. Viele unter denjenigen, die zum Beispiel zu einer Meditationsklausur kommen, stehen vielleicht auf einer präkonventionellen Ebene der moralischen, Selbst- und interpersonalen Entwicklung. Sie machen vielleicht große Fortschritte auf der spirituellen Linie der Anteilnahme oder auf der kognitiven Linie der Erkenntnis, aber diese Einsichten werden durch den tiefen "Schwerpunkt" der Gesamtpsyche aufgezehrt. Spirituelle Lehrer stehen immer wieder vor dem Problem, sich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner einstellen zu müssen: Wie weit jemand auch auf der spirituellen Linie fortgeschritten sein mag, so genügt dies doch nicht, die anderen Linien mitzuziehen, die im Gegenteil die spirituelle Entwicklung nach unten ziehen können. Zugleich kennen wir alle spirituelle Lehrer, die eine außerordentlich hohe Stufe der spirituellen und/oder kognitiven Entwicklung erreicht haben, während ihre moralische, affektive, Abwehr-, Objektbeziehungs- und interpersonale Linie weit zurückgeblieben ist, was oft verheerende Folgen hat. Darüber hinaus betonen die großen Traditionen selbst oft nur die spirituelle Linie (insbesondere im Aufstiegsmodus) und vernachlässigen die interpersonale, affektive und psychische Linie, so dass man gerade von ihnen diesbezüglich am allerwenigsten Hilfe erwarten kann. Mein Vorschlag eines alle Ebenen und alle Quadranten umfassenden Ansatzes zielt auf eine integralere Ausrichtung, wobei mit Hilfe der Stärken der verschiedenen Ansätze (psychologische, interpersonale, spirituelle, soziale) die großen Lücken aufgefüllt werden können, die die einzelnen Ansätze für sich genommen aufweisen. Ich bin durchaus nicht der erste und einzige, der diese Forderung erhebt, aber um so enttäuschender ist der hartnäckige und weitverbreitete Widerstand gegen einen integraleren und ausgeglicheneren Ansatz. Eine weitere Schwierigkeit liegt für spirituelle Lehrer in Amerika darin, dass, wie Jack Engler feststellte, überproportional viele Menschen, die sich zu einer transpersonalen Spiritualität hingezogen fühlen, sich oft auf einer präkonventionellen Stufe der Selbstentwicklung befinden. Dies bedeutet, dass amerikanische Lehrer letztlich mehr mit unterstützender Psychotherapie als mit transformierender und transpersonaler Spiritualität beschäftigt sind. Unnötig zu sagen, dass diese Lehrer nur selten einmal irgendeine Entwicklung in irgendeiner Richtung feststellen können. Wie ich schon im Hinblick auf die post-postkonventionellen Stufen des spirituellen Bewusstseins gesagt habe, erreichen wohl auch bei einer Klausur – einmal ganz allgemein gesprochen – nicht einmal ein Prozent wirklich eine tiefe Satori – oder Rigpa-Erkenntnis (das heißt einen stabilen kausalen oder nichtdualen Zugang). Ich habe an Klausuren mit mehreren hundert
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Menschen teilgenommen, die schon sehr lange und sehr intensiv übten, und nur zwei Leute hatten einen Zugang zu Rigpa, der ihnen uneingeschränkt bestätigt werden konnte. Zwei Leute sind natürlich kein überwältigender Datenbestand, und doch wird nur aus diesem Bestand die ganze Tragweite des Stufenmodells erkennbar. (Den entsprechenden Forschungen und ihren Konsequenzen werden wir uns im nächsten Kapitel zuwenden.) Das arme Selbst Es ist jetzt vielleicht an der Zeit, den Grund dafür anzugeben, warum ich ständig das Selbst-System in das Zentrum all dieser Strömungen und Wellen, Ebenen und Linien, Strukturen, Stufen und Zustände gestellt habe: Das Selbst ist der Drahtseilakt der Seele. Es muss, so gut es kann, alle anderen Aspekte des psychischen Systems ausbalancieren, und das heißt letztlich die Einwirkungen der vier Quadranten auf das Individuum in ein Gleichgewicht bringen. Einige meiner Kritiker scheinen der Meinung zuzuneigen, dass ich das Begriffssystem der transpersonalen Entwicklung an kognitiven Strukturen festmache, was so nicht richtig ist. Die Grundstrukturen sind, wie ich gesagt habe, einfach die Große Holarchie des Seins, die natürlich einen kognitiven Aspekt hat. Aber das Sein ist dort, wo das Handeln ist Und wenn man allgemein von einer "Gesamtentwicklung" sprechen will, dann wird diese meines Erachtens nicht von einem Piagetschen Kognitions-motor angetrieben (und dieser wäre eine Art kognitiver Dissonanz, die versucht, Unstimmigkeiten durch Weiterentwicklung in Richtung eines formalen Gleichgewichts zu überwinden, in dem sie zur Ruhe kommen kann), sondern vielmehr so etwas wie eine "Selbst-Dissonanz", in der das Selbst mit den verschiedenen Entwicklungslinien "jongliert" und (von Eros) geschoben und (von Agape) gezogen wird, bis es in Gott zur Ruhe kommt. Dies ist nicht das Ende der Geschichte, sondern vielmehr der Beginn einer Entfaltung nach der Erleuchtung, wenn der Weise mit offenen Händen den Marktplatz betritt. Betrachten wir dies der Reihe nach. Das Selbst muss mit den vorhandenen Grundstrukturen und Übergangsstrukturen und mit den verschiedenen Entwicklungslinien, Bewusstseinszuständen, heterarchischen Kompetenzen und diskreten Begabungen "jonglieren" und diese steuern. Die "Gesamtentwicklung" hat ihren Antrieb in der Spannung innerhalb (und jenseits) dieses akrobatischen Akts. Manche Entwicklungslinien haben einen Omegapunkt und werden daher gezogen; andere sind eher kausal und werden daher geschoben; wieder andere haben Spiralform und verlaufen in Kreisen, und wieder andere sind Mandala-artig und entfalten sich von innen heraus. Und das Selbst, das arme einsame Selbst, muss mit alldem "jonglieren", so gut es kann. Die Summe dieses Schiebens und Ziehens,
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dieser Spiralen und Verwirbelungen ergibt die Gesamtentfaltung. Der Begriff der Stufen ist dabei ein wichtiger Teil, aber eben nur ein Teil der ganzen Darstellung. Entwickelt sich dieses "Gesamt-Selbst" über eine feste Abfolge von Stufen? Eben nicht, denn es ist ein Gemenge, ein Jonglierakt, ein Durchschnitt der auftretenden Entwicklungslinien. Es gibt bestimmte Aspekte der Selbst-Identität in einem engen Sinne (wie zum Beispiel als SelbstEntwicklung), die, wie die Forschung gezeigt hat, in Stufen verläuft, was ich in einer Endnote erklären möchte.22 Dies sind aber einfach Aspekte des Gesamt-Selbst – sie bilden eine Linie unter vielen, die nicht alle übrigen beherrscht –, weshalb wiederum das Selbst-System "überall" ist. Und seine einzige Aufgabe besteht sozusagen darin, über sich selbst hinauszugelangen. Ist diese Reise wirklich notwendig? Manche Menschen stören sich anscheinend daran, dass Rationalität (und Schau-Logik) irgendwie eine notwendige Voraussetzung für eine höhere oder transpersonale Entwicklung sein könnten. Ganz besonders Misstrauisch sind diese Leute, wenn solche Auffassungen von "Eierköpfen" vorgebracht werden. "Integriert" die transpersonale Stufe in der Tat die rationale? Und wenn dies so ist, wie steht es dann mit nicht-technischen Kulturen, die doch wohl keinen Zugang zur Rationalität haben? Müssen wir diesen eine Spiritualität absprechen?23 Entwicklungspsychologen wie Kegan und Philosophen wie Habermas verwenden "rational" in einem sehr allgemeinen und weiten Sinne, was manchmal für Verwirrung sorgt. So ist zum Beispiel die einfache Fähigkeit, sich in die Sichtweise eines anderen Menschen zu versetzen, eine rationale Fähigkeit. Man muss fähig sein, gedanklich seine eigene Perspektive zu verlassen, sich kognitiv ein Bild davon zu machen, wie die Welt für den anderen Menschen aussieht, und sich dann sozusagen dessen Schuhe anziehen. All dies sind außerordentlich komplexe kognitive Fähigkeiten, die als "rational" im weitesten Sinne bezeichnet werden können. Wie ich in Eros, Kosmos, Logos erläutere, bedeutet "rational" in diesem umfassenden Sinne unter anderem die Fähigkeit zu einem Perspektivismus, zu nachhaltiger Innenschau und zu einem Sich-Hineinversetzen in ein "AlsOb" und "Was-wäre-Wenn". Rationalität ist, einfach ausgedrückt, die nicht nur kurzfristige Fähigkeit zu kognitivem Pluralismus und Perspektivismus. Manche Theoretiker haben eingewandt, dass "Rationalität", wie der Begriff etwa von Piaget und Habermas benutzt wird, womöglich eurozentrisch ist und das "Fehlen" dieser Fähigkeiten in anderen Kulturen wohl nur Ausdruck westlicher Voreingenommenheit sei. Wie aber Alexander und andere ausführen, haben verschiedene Forscher "überzeugend dargestellt, dass formal-operationale Fähigkeiten auch in nichttechnischen Gesellschaften
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vorhanden sind, wenn man den Blick auf Aufgaben richtet, die der jeweiligen Kultur angemessen sind".24 Rationalität bedeutet nicht, dass man ein Aristoteles sein muss; es bedeutet vielmehr, dass man Perspektiven einnehmen kann. Deshalb kann Habermas behaupten, dass selbst bei den Jägern und Sammlern eine signifikante Zahl von Menschen zu formalen Operationen fähig war. Man agiert vernünftig, wenn man aus einer Perspektive agiert. Und hierfür muss man nicht die höhere Mathematik beherrschen. Ebenso wenig bedeutet Schau-Logik, dass man ein Hegel oder Whitehead sein müsse. Rationalität bedeutet Perspektive; Schau-Logik bedeutet die Integration oder Koordination verschiedener Perspektiven. Selbst bei den Jägern und Sammlern muss ein Anführer verschiedene Perspektiven einnehmen können und diese koordinieren, und dies ist Schau-Logik. Die westlichen Formen von Vernunft und Schau-Logik sind genau dies: westliche Formen, aber die zugrundeliegenden Fähigkeiten sind durchaus nicht auf den Westen beschränkt. Aber man kann Perspektiven erst koordinieren, wenn man überhaupt eine Perspektive einnehmen kann, und man kann keine Perspektive einnehmen, wenn man sich nicht in die Rolle eines anderen versetzen kann. Hierin liegt wiederum die beschränkte, aber unabdingbare Rolle des Stufenmodells. Ja, es ist meine feste Überzeugung, dass postkonventionelle Spiritualität von der Fähigkeit abhängt, verschiedene Perspektiven zu koordinieren. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass das Bodhisattva-Gelübde ohne diese Fähigkeit, das heißt ohne Schau-Logik, wirksam werden kann. Ich glaube, dass dies die Pforte ist, durch die stabile psychische, subtile, kausale und nichtduale Stufen der Spiritualität hindurchgehen müssen und auf der diese ruhen. Das Bodhisattva-Gelübde beruht per definitionem auf Schau-Logik, und wer je gelobt hat, alle Perspektiven zu befreien, hat dies aus einer Haltung der Schau-Logik getan. Und doch ist eine spirituelle Entwicklung ohne perspektivische Vernunft und ohne integral-aperspektivische Schau-Logik möglich, und zwar aus dem einfachen Grund, weil die spirituelle Linie eine quasi-unabhängige Entwicklungslinie ist. Die spirituelle Linie geht bis hinunter zur archaischen, sensomotorischen Ebene, auf der die Religion, das höchste Interesse, die Nahrung ist. Die nächste Ebene der spirituellen Linie sind die frühen prärationalen Reiche (magisch, egozentrisch). Mit der Fähigkeit, sich in die Rolle eines anderen zu versetzen, dehnt die spirituelle Linie ihr höchstes Interesse vom Selbst auf die Gruppe und deren Überzeugungen aus (mythische Mitgliedschaft). Von dort aus lernt man, eine universelle Perspektive einzunehmen (mythisch-rational, rational), aus der das höchste Interesse das Wohlergehen der ganzen Menschheit ohne Ansehen von Rasse,
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Geschlecht und Glaubensbekenntnis einzubeziehen beginnt. Dieses Bewusstsein gelangt in einer globalen Schau-Logik zur Blüte, die sich aller fühlenden Wesen als solcher annimmt. Dies bildet wiederum die Plattform für die transpersonalen spirituellen Stufen, die ihre grundlegende Aufgabe in der Befreiung des Bewusstseins aller fühlenden Wesen ohne Ausnahme erkennen. Es sind also die verschiedenen Formen von Spiritualität auch ohne "integrierende Vernunft" möglich. Aber eine globale, eine bodhisattvische, eine post-postkonventionelle und eine authentisch transpersonale Spiritualität sind nur dann möglich, wenn die Perspektiven aller fühlenden Wesen voll und ganz berücksichtigt werden, wenn man die tiefsten Möglichkeiten von Vernuft und Schau-Logik integriert und von diesen aus fortschreitet. Jeder kann sich als "spirituell" bezeichnen – und sogar mit Recht, denn jeder hat irgendeine Art von Interesse. Prüfen wir also, welches Modell dem Denken und Handeln jeweils tatsächlich zugrunde liegt, wie viele Perspektiven jeder annimmt, berücksichtigt, und zu integrieren versucht, und stellen wir fest, wie tief und wie weit jenes Bodhisattva-Gelöbnis reicht, nicht ruhen zu wollen, bis alle Perspektiven zu ihrer eigenen ursprünglichen Natur erlöst sind.
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Kapitel 10 Die Wirkungen der Meditation Den Aufstieg zu Gott und den Abstieg zur Göttin beschleunigen Wie verhalten sich Meditation und Psychotherapie zueinander? Beeinflusst Meditation den Gang der psychischen Entwicklung? Gibt es Stufen des spirituellen Wachstums, und kann man dieses beschleunigen? Was genau leistet Meditation überhaupt?
Vedische Psychotherapie und transzendentale Meditation Charles Alexander ist seit seiner Dissertation an der Harvard-Universität (1982) über die Ich-Entwicklung und Persönlichkeitsveränderung bei Gefängnisinsassen, die Transzendentale Meditation (TM) praktizieren, einer der bedeutendsten Vertreter der transpersonalen Entwicklungspsychologie. Ich schätze seine Arbeit sehr, insbesondere die Fülle der Forschungs- und empirischen Befunde, die er stets beiträgt. Statt bloß von einem "neuen Paradigma" zu reden, sammeln er und seine Kollegen Daten und schlagen Injunktionen (wie z. B. Meditation) vor, die zu den höheren Entwicklungsebenen hinführen können, so dass es nicht beim recht nutzlosen Reden bleibt. Darüber hinaus haben Alexander und seine Kollegen im Gegensatz zu den meisten Meditationslehrern in den Vereinigten Staaten Standardtests für die verschiedenen Entwicklungslinien eingeführt (u.a. Loevingers IchEntwicklung, Kohlbergs moralische Entwicklung, Tests für die Fähigkeit zu Intimität, Altruismus usw.) und diese mit überaus signifikanten Ergebnissen auf Populationen von Meditierenden angewandt. Die Bedeutung dieser Forschungen lässt sich noch gar nicht erahnen.1 In "Growth of Higher Stages of Consciousness: Maharishi's Vedic Psychology of Human Development" legen Alexander u. a. ihr Modell für die grundlegenden Stufen der Bewusstseinsentwicklung vor. Sie stellen darin fest: "Obwohl Wilbers Modell unabhängig von uns aus einer großen Zahl
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östlicher und westlicher Traditionen gewonnen wurde, weist es gewisse Ähnlichkeiten mit unserem eigenen Modell auf".2 Vor dem Hintergrund dieser breiten allgemeinen Übereinstimmung möchte ich nun mit meiner Darstellung fortfahren, wobei ich mich jedoch vor allem auf einige Details unserer Auffassungsunterschiede konzentrieren möchte. Schließen werde ich jedoch wie üblich mit einer Bekräftigung unserer vielen Gemeinsamkeiten.
Zustände, Stufen und Strukturen Eines der zentralen Probleme im allgemeinen Modell von Alexander u. a. liegt meiner Meinung nach in der fehlenden Unterscheidung von vorübergehenden Zuständen, dauerhaften Strukturen und Übergangsstadien. Ihr Modell basiert explizit auf dem vedischen (genauer: vedantischen) Begriff der fünf Koshas oder "Hüllen": Materie, Prana/Begierde, niedrigerer oder konkreter Geist, höherer Geist oder Intellekt und transzendentale Intuition; jenseits davon liegt Ahamkara, die Wurzel des getrennten IchBewusstseins, die höchste Zusammenziehung im Gewahrsein, dann das reine Selbst (das kausale) und schließlich das höchste Nichtduale (BrahmanAtman). Dies ist natürlich wiederum eine Version der traditionellen Großen Hierarchie des Seins und Bewusstseins, des Spektrums von Grundstrukturen des Bewusstseins, und ich bin natürlich mit diesem Spektrum grundsätzlich einverstanden.3 Die Autoren bekräftigen weiterhin, dass diese Grundebenen universell und invariant sind und dass sie nach ihrem Emergieren existent bleiben und hierarchisch in die weitere Entwicklung integriert werden. Letztlich deckt sich dieses Schema genau mit der These, die ich in Das Atman-Projekt vorgelegt habe, dass nämlich Entwicklung hierarchisch vom physischen und sensomotorischen zum kosmischen und höchsten Bewusstsein fortschreitet, wobei jede Stufe die vorangegangene differenziert und integriert: "Nach unserem Modell der Lebensspanne werden während des Wachstums von der sensomotorischen Periode hin zum kosmischen Bewusstsein fortschreitend tiefere Ebenen [des Bewusstseins] differenziert, aber jede davon operiert weiterhin auf ihrer charakteristischen Stufe der Verfeinerung, während sie innerhalb eines zunehmend integrierten Ganzen hierarchisch neuorganisiert werden."4 Dann jedoch folgen zwei meiner Meinung nach unglückliche theoretische Schritte: Sie versuchen, diese Ebenen des Bewusstseins zugleich in die Entwicklungslinien zu verwandeln (sie möchten alle ihre wichtigeren Ströme aus ihren Wellen ableiten), und anschließend verwechseln sie verschiedene
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Übergangszustände und -stufen mit jenen dauerhaften hierarchischen Ebenen. Zum ersten Problem: Sie versuchen, ihre Entwicklungsebenen (Ebene 1: sensomotorisch, Ebene 2: Prana-Begierde, Ebene 3: repräsentationaler Geist, Ebene 4: abstrakter Geist, Ebene 5: transzendentale Intuition, Ebene 6: Selbst oder Ich, Ebene 7: reines Selbst) zugleich in bedeutsame Entwicklungslinien zu verwandeln, weshalb aber alles, was in ihren Ebenen nicht vorhanden ist, auch nicht als Linie erscheinen kann. Aber offensichtlich ist Musik keine bestimmte Ebene des Bewusstseins, und ebenso wenig Ethik, Ästhetik, Tanz, Objektbeziehungen, Bedürfnisse, Weltsichten usw. All dies sind Linien, keine Ebenen, und wenn man daher versucht, seine Ebenen zugleich als Hauptlinien heranzuziehen, dann ist man gezwungen, alle diese realen Linien zu ignorieren, und genau dies tun Alexander und seine Mitautoren.5 Ich stimme mit Alexander u. a. völlig überein, wenn sie sagen, dass "alle Erkenntnis eine Funktion der Entfaltungstiefe des bewussten Gewahrseins" ist. Aber in ihrem Modell kommen keine moralischen oder sozialen Bereiche vor (oder auch Musik, Tanz, Malerei usw.), weil ihre Bereiche nichts weiter als eine horizontale Entfaltung ihrer vertikalen Grundstrukturen sind. Deshalb findet sich in ihren Diagrammen, in denen sie ihr Modell zusammenfassen, nichts, was auch nur entfernt mit Moral, Interpersonalem, Malerei, Weltsichten, Musik, Tanz usw. zu tun hätte. Dies findet seine Fortsetzung in einer Verwechslung von dauerhaften Grundstrukturen oder Bewusstseinsebenen – die in der Tat, wie die Autoren sagen, hierarchisch integriert werden – mit verschiedenen ÜbergangsStrukturen, die sich auf diesen Grundebenen entwickeln und die nicht integriert, sondern ersetzt werden. Mit anderen Worten, Alexander u.a. halten transitorisch und dauerhaft nicht auseinander, und dies macht ihre Darstellung der Entwicklung gelegentlich inkohärent. Wenn die Autoren zum Beispiel sagen: "Daher kann auch im kosmischen Bewusstsein Sinneswahrnehmung erhalten bleiben, wiewohl man nur noch von der Ebene des Selbst aus deren Zeuge ist", dann ist dies zweifellos richtig – Grundstrukturen bleiben immer erhalten (wenn auch in verwandelter Form). Aber man kann auf der Ebene des Selbst nicht mehr ebensolchen Zugang zu den moralischen Strukturen von Stufe 1 haben: Diese sind längst so gründlich differenziert und integriert, dass sie in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr vorhanden sind. Es ist völlig unmöglich, dass man zu diesen auf der Ebene des kosmischen Bewusstseins noch Zugang hätte. Weil aber das Modell der Verfasser nur hierarchische Einschließung kennt, muss es in diesen wichtigen Bereichen scheitern. Ich glaube also, kurz gesagt, dass Alexander u. a. ungeachtet der vielen tiefen und bedeutsamen Aspekte des von ihnen vorgelegten Modells leider
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auch versuchen, ihre Bewusstseinsebenen zugleich auch als HauptEntwicklungslinien zu verwenden, was beide beeinträchtigt und zwangsläufig in die Verwechslung von dauerhaften und Übergangsstrukturen führt.6
Subjektpermanenz Betrachten wir nun das Selbst auf seinem Weg durch die Grundebenen des Bewusstseins. "[Wir] schlagen vor, dass der Grundmechanismus der Entwicklung die spontane Verlagerung des Orts des bewussten Gewahrens auf immer tiefere inhärente Ebenen des Geistes ist" Dieser "Ort des bewussten Gewahrens", der sich von Ebene zu Ebene verlagert, ist meiner Meinung nach das Selbst (oder Selbst-System), der Ort der proximalen Selbst-Identität. Es ist das reine Selbst (oder Bewusstsein als solches), insoweit es sich mit einer begrenzten Ebene seiner eigenen Manifestation identifiziert. Ich stimme den Autoren zu, wenn sie sagen: "Wenn sich das ungebundene Selbst auf die aktuell verfügbare Struktur des Geistes [Ebene des Bewusstseins] projiziert, wird es in diese Struktur eingebettet und zugleich durch deren Grenzen beschränkt, wodurch es in ein 'gebundenes Ich' oder Selbst übergeht."8 Sie nennen die Bindung des Selbst mit einer sehr treffenden Wendung auch die "Positionierung des Bewusstseins". In meinem Modell entspricht dies der Positionierung der proximalen Selbstidentität, den eigentlichen Stationen der Selbst-Empfindung, den Stufen des Ich auf seinem Weg zum ICH-Ich oder reinen Zeugen. Auf diesem Entfaltungsweg wird auf der kausalen Ebene der stabile Endzustand des reinen Zeugen erreicht, und die Verfasser bezeichnen die stabile Erlangung dieses reinen Bezeugens als "Subjektpermanenz". Nach ihrer Sichtweise (die ich teile) markiert die Erlangung der Objektpermanenz (der Fähigkeit, Objekten ohne Unterbrechung zu folgen) in derselben Weise den großen Übergang vom prärepräsentationalen Reich (sensomotorisch/grobstofflich) zum repräsentationalen Reich (mental/feinstofflich), wie die Erlangung des stabilen Bezeugens oder der Subjektpermanenz den großen Übergang vom repräsentationalen zum postrepräsentationalen (kausalen) Reich markiert. (Buddhisten können ganz unbesorgt sein: Diese Selbstpermanenz ist einfach ununterbrochene Achtsamkeit, die die Ichlosigkeit aller Objekte enthüllt: Selbstpermanenz ist Gewahren des Nicht-Selbst). Diese "Subjektpermanenz" ist ein andauernder Zustand des Zeuge-Seins, der ohne Unterbrechung durch Wachen, Träumen und Tiefschlafzustände hindurch aufrechterhalten wird, eine Konstanz, die – ich stimme den Autoren auch hier völlig zu – notwendige Voraussetzung für die vollständige Erkenntnis der nondualen Soheit ist (und wer je diese Konstanz erfahren hat, weiß, dass sie unverkennbar, selbstbezüglich, postrepräsentational, nichtdual, selbstbestätigend, selbstexistent und selbsterlösend ist).
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Um zum "gebundenen Ich" oder der proximalen Selbst-Empfindung zurückzukehren: Die Autoren bezeichnen diese auch als den "primären Ort des funktionalen Gewahrens". Die zentrale Dynamik ihres Modells entsteht aus der Identifikation des ungebundenen Selbst mit einer bestimmten Bewusstseinsebene (wodurch ein "gebundenes Selbst" entsteht) und der anschließenden Ent-Identifikation mit dieser Ebene und Identifikation mit der nächsthöheren/nächsttieferen Ebene, bis das reine Selbst als es selbst erwacht. Mit ihren Worten: "In dieser Sichtweise ist der höchste Status des Erkennenden immer reines Bewusstsein. Im Prozess der Erfahrung wird jedoch das Bewusstsein als das Individuelle [Selbst] lokalisiert und identifiziert sich mit den Prozessen der aktuellen vorherrschenden Ebene [des Bewusstseins] (das heißt, das Bewusstsein ist unfähig, sich von diesen Prozessen abzukoppeln oder abzugrenzen)".9 Dies ist genau die Dynamik, die ich in Das Atman-Projekt ausführlich beschrieben habe, und es ist vielleicht nützlich, diese kurz zu betrachten, bevor wir mit dem Thema fortfahren.
Die Form der Entwicklung Kapitel 10 des Atman-Projekts beginnt wie folgt: "Dieses Kapitel, das wichtigste im ganzen Buch, wird kurz und bündig sein, denn ich möchte, dass die wichtigsten Aussagen darin für sich sprechen. Als ich über die Entwicklungsstufen nachdachte, stellte ich zu meinem großen Erstaunen fest, dass zwar jede Entwicklung in inhaltlicher Hinsicht völlig eigenständig verläuft, dass die Form der Entwicklung jedoch im wesentlichen stets die gleiche ist. Die Form der Entwicklung, die Form der Transformation vom Mutterschoss bis zur Gottheit, ist immer die gleiche, soweit ich dies zu beurteilen vermag." Ich habe diese Form in einigen Absätzen erläutert, die ich der Einfachheit halber hier nochmals wiedergebe. Nachfolgend also der Rest des Kapitels: Auf jeder Stufe wiederholt sich, dass eine Struktur höherer Ordnung – die komplexer und deshalb einheitlicher ist – durch Differenzierung der vorangehenden Struktur niederer Ordnung auftaucht (sich entwickelt)... Diese Struktur höherer Ordnung wird dem Bewusstsein vorgestellt, und schließlich (das kann fast augenblicklich eintreten, es kann sich aber auch über einen längeren Zeitraum erstrecken) identifiziert sich das Bewusstsein mit jener auftauchenden Struktur. Als der Körper beispielsweise aus seiner pleromatischen Verschmelzung mit der materiellen Welt auftauchte, wurde das Bewusstsein zum erstenmal ein Körper-Ich: das heißt, es identifizierte sich mit dem Körper. Das Bewusstsein war nun nicht mehr an die
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pleromatische Verschmelzung gebunden, sondern es war jetzt an den Körper gebunden. Als die Sprache im Bewusstsein auftauchte, wandelte sich das Bewusstsein von einem rein biologischen Körper-Ich zu einem syntaktischen Ich – und dieses Bewusstsein identifizierte sich schließlich mit der Sprache und operierte als syntaktisches Bewusstsein. Es war nicht mehr ausschließlich an den Körper gebunden, sondern jetzt an das mentale Ich. Ebenso taucht in einem fortgeschrittenen Stadium der Evolution der Gottes-Archetyp auf und wird dem Bewusstsein zugänglich (im feinstofflichen Bereich). Das Bewusstsein identifiziert sich mit der Gottheit und als diese und wird aus dieser Identifikation heraus aktiv. Das Bewusstsein ist dann nicht mehr ausschließlich an das Ich gebunden, sondern jetzt an dessen eigenen Archetypus. Entscheidend hierbei ist, dass mit Auftauchen jeder höheren Struktur das Bewusstsein sich schließlich mit jener Struktur identifiziert – was normal, natürlich und angemessen ist. Mit Fortschreiten der Evolution jedoch wird jede Ebene ihrerseits von sich selbst differenziert oder sozusagen "abgeschält". Das heißt, das Bewusstsein ent-identifiziert sich schließlich von seiner gegenwärtigen Struktur, um sich anschließend mit der nächsthöheren auftauchenden Struktur zu identifizieren. Präziser (und dies ist eine sehr wichtige Spezifizierung) sagen wir, dass das Bewusstsein sich von seiner ausschließlichen Identifikation mit jener niederen Struktur löst. Es lässt die niedere Struktur nicht einfach fallen, sondern identifiziert sich einfach nicht mehr ausschließlich damit. Entscheidend ist: Weil das Bewusstsein sich von der niederen Struktur differenziert, transzendiert es diese (ohne sie auf irgendeine Weise zu zerstören), und kann infolgedessen mit Hilfe der neu auftauchenden Struktur auf jene niedere Struktur einwirken. Als das Körper-Ich von der materiellen Umwelt differenziert wurde, konnte es auf diese Umwelt mittels des Körpers (etwa mit Hilfe der Muskeln) einwirken. Als das Ich-Bewusstsein vom Körper differenziert wurde, konnte es mit seinen Mitteln auf den Körper einwirken (mit Konzepten, Syntax usw.). Als das feinstoffliche Bewusstsein vom Ich-Bewusstsein differenziert wurde, konnte es mit seinen Strukturen auf Verstand, Körper und Welt einwirken (mit Psi-Kräften, Siddhis), und so weiter. Somit wiederholt sich auf jeder Stufe des psychischen Wachstums: 1) Eine höhere Struktur taucht im Bewusstsein auf (mit Hilfe symbolischer Formen); 2) das Bewusstsein identifiziert sich mit dieser höheren Struktur; 3) die nächsthöhere Struktur taucht schließlich auf; 4) das Bewusstsein löst seine Identifikation mit der niederen Struktur und verlagert seine grundsätzliche Identität auf die höhere; 5) dadurch transzendiert das Bewusstsein die niedere Struktur; 6) und ist nun in der Lage, von der höheren Ebene auf die niedere Struktur einzuwirken, 7) so dass schließlich
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alle vorangegangenen Ebenen im Bewusstsein und letztlich als Bewusstsein integriert werden können. Wir haben festgestellt, dass jede Struktur komplexer, höher organisiert und einheitlicher ist als die vorangegangene – und so schreitet die Evolution fort, bis nur noch die EINHEIT existiert, am Ende in jeder Hinsicht. Dann erst ist die evolutionäre Kraft erschöpft, und die vollkommene Entspannung als Leuchten des gesamten Welten-Flusses tritt ein. Jedesmal, wenn eine Struktur höherer Ordnung erinnert wird, wird die niedere Struktur ihr untergeordnet. Das heißt, dass auf jeder Stufe der Evolution das, was auf einer Ebene das Ganze ist, auf der folgenden zu einem Teil des Ganzen wird. Beispielsweise haben wir gesehen, dass der Körper in den ersten Stadien des Wachstums das Bewusstsein als Ganzes ausmacht – das Körperich. Wenn nun der Verstand auftaucht und sich entwickelt, verlagert sich das Identitätsgefühl auf den Verstand, und der Körper wird zu einem bloßen Aspekt, zu einem Teil der ganzen Person. Ähnliches geschieht beim Auftauchen der feinstofflichen Ebene: Verstand und Körper – die zuvor das Ganze des Bewusstseins-Systems ausmachten – werden nunmehr zu bloßen Aspekten oder Teilen des neuen, umfassenderen Bewusstseins. Genauso können wir sagen, dass an jedem Punkt der Evolution oder des Erinnerungsprozesses eine Form des Bewusstseins zu einem bloßen Bestandteil eines Bewusstseins höherer Ordnung wird (z. B. war der Körper vor dem Auftauchen des Verstandes der Bewusstseinsmodus; danach ist er nur noch ein Bestandteil davon). Dies kann man auf verschiedene Weise ausdrücken, wobei jede dieser Formulierungen uns etwas Wichtiges über Entwicklung, Evolution und Transzendenz sagt: 1) Was das Ganze ist, wird zu einem Teil; 2) was Identifikation ist, wird zur Loslösung; 3) was Kontext (engl.: context) ist, wird zum Inhalt (engl: content) [der Kontext der Kognition und Erfahrung einer Ebene wird zum bloßen Inhalt der nächsten]; 4) was Grund ist, wird Gestalt [wodurch Grund höherer Ordnung frei wird]; 5) was subjektiv ist, wird objektiv [bis beide Begriffe schließlich bedeutungslos werden]; 6) was Bedingung ist, wird Element [z. B. der Verstand, der a priori Bedingung der Erfahrung des Ich ist, wird zum bloßen Element der Erfahrung höherer Bereiche; wie ich in meinem Buch Das Spektrum des Bewusstseins (410) näher ausgeführt habe, schaut man dann auf diese Strukturen und benutzt sie deshalb nicht mehr als etwas, wodurch man die Welt anschaut und sie deshalb verzerrt]. Jede der obigen Aussagen ist letztlich eine Definition der Transzendenz. Doch ist jede gleichzeitig auch eine Definition einer Stufe der Entwicklung. Daraus folgt, dass beide im wesentlichen identisch sind und dass die Evolution, wie bereits gesagt wurde, "Selbstverwirklichung durch Selbsttranszendenz" ist.
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Entwicklung und Transzendenz sind zwei verschiedene Begriffe zur Beschreibung des gleichen Prozesses. "Transzendenz" hat man sich oft als etwas Merkwürdiges, Seltsames, Okkultes oder gar Psychotisches vorgestellt – obgleich in Wahrheit nichts Besonderes daran ist. Das Kind, das lernt, seinen Körper von der Umgebung zu differenzieren, transzendiert einfach nur die pleromatische Welt; das Kind, das die Sprache des Verstandes erlernt, transzendiert die Welt UND den physischen Körper; ein Mensch, der sich in Meditation über den feinstofflichen Körper befindet, transzendiert nur die Welt UND den Körper UND den Verstand. Die Seele, die sich in der Meditation des Kausalkörpers befindet, transzendiert Welt UND Körper UND Verstand UND den feinstofflichen Bereich ... Die Form jedes dieser Wachstumsschritte ist im wesentlichen die gleiche, und genau diese Form ist auch die Form von Transzendenz und von Entwicklung: Sie verläuft in einer sanften Kurve vom Unbewussten über das Selbstbewusstsein zum Überbewussten, wobei immer mehr erinnert wird, immer mehr transzendiert wird, immer mehr integriert wird und immer mehr vereinigt wird, bis schließlich nur noch jene EINHEIT bleibt, die schon von Anfang an gegeben war und die das Alpha und Omega ist auf der gesamten Reise der Seele durch die Zeit. Das eingebettete Selbst Nach dieser Darstellung der Form der Entwicklung habe ich fünf verschiedene Formen unbewusster Prozesse aufgezeigt, die im Gefolge der Entwicklung selbst auftreten. Ich nannte diese das Grund-Unbewusste, das archaische Unbewusste, das untergetauchte Unbewusste, das eingebundene Unbewusste und das auftauchende Unbewusste. Ich persönlich glaube, dass dies einer der wichtigsten Beiträge dieses Buchs ist, doch will ich mich im folgenden auf eine dieser Ebenen beschränken, nämlich das eingebundene Unbewusste, weil dieses für die hier geführte Diskussion von unmittelbarer Bedeutung ist. Der entscheidende Punkt ist folgender: Wenn sich das Selbst mit den einzelnen grundlegenden Ebenen oder Wellen des Bewusstseins identifiziert, ist es vollständig in diese Strukturen eingebunden und mit diesen so sehr verschmolzen, dass diese nicht mehr als Objekt wahrgenommen oder erfahren werden können. Die eigentlichen subjektiven Strukturen des Selbst sind auf dieser Stufe unbewusst: Sie sind das eingebundene Unbewusste. Sie sind Teil des Sehers und können daher selbst nicht gesehen werden, jedenfalls nicht auf dieser Ebene. Auf der nächsten Stufe gliedert sich das Selbst aus diesen Strukturen aus (ent-identifiziert sich von ihnen, löst sich von ihnen, transzendiert sie) und identifiziert sich mit der nächsthöheren Ebene, die dann wiederum das eingebunden Selbst bildet, dessen Strukturen
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das Selbst nicht als Objekt wahrnehmen kann und die daher das eingebundene Unbewusste dieser Stufe bildet.10 Entwicklung ist ein fortwährender Prozess der Eingliederung und Ausgliederung, der Identifikation und anschließenden Transzendierung. Und man wird immer von demjenigen beherrscht, das man nicht transzendiert hat. Kurz nachdem Das Atman-Projekt erschienen war, veröffentlichte Robert Kegan, heute Senior Lecturer an der Harvard Graduate School for Education und der Massachusetts School of Professional Psychology ein wahrhaft großartiges Buch, The Evolving Self. Darin stellte er fünf Hauptstufen der Evolution des Selbst dar; danach folgen auf den inkorporierten Zustand (pleromatische Stufe), die impulsive (typhonische), imperiale (magische), interpersonale (mythische Mitgliedschaft), die institutionale/formale (mentalegoisch) und die interindividuelle/postformale Stufe (relational, Schau-Logik, zentaurisch). Er erkannte zwar keine postpostkonventionellen und keine transpersonalen Stufen an, doch bis zu dieser Ebene besteht eine fast vollständige Übereinstimmung mit mir. Am meisten schätzte ich an The Evolving Self, wie Kegan die Konzeption der Einbettung, die er auf der Grundlage der Arbeiten von Schachtel und Piaget, welche auch mich beeinflussten, selbständig weiterentwickelte und zu einer zentralen Säule der Entwicklung machte. Er fasst dies brillant zusammen: "Wir haben jetzt nicht nur gesehen, wie man das Subjekt-ObjektGleichgewicht als die Tiefenstruktur in der Sinn-Evolution betrachten kann, sondern auch, dass dieser Evolutionsprozess eine gewisse Regelmäßigkeit aufweist. Wachstum beinhaltet immer einen Prozess der Differenzierung, der Emergenz aus der Einbettung, wodurch aus dem ehemaligen Subjekt ein neues Objekt geschaffen wird, das von der neuen Subjektivität ergriffen wird. Diese Bewegung beinhaltet eine, wie Piaget es nannte, 'Dezentrierung', den Verlust einer alten Mitte, und eine, wie man sagen könnte, 'Rezentrierung', die Gewinnung einer neuen Mitte."11 Kegan führt weiter aus: "Das Subjekt ist immer in die Organisationsprinzipien (die kognitiven Strukturen) [bei mir: die allgemeineren Grundstrukturen] eingebunden und eins mit diesen, während das Objekt dasjenige ist, was organisiert wird. Eine neue Stufe erscheint, wenn der subjektive Pol durch Ausgliederung des Selbst aus den Organisationsstrukturen eine Differenzierung erfährt. Das dann außerhalb dieser Strukturen stehende Selbst kann diese systematisch organisieren und als Objekte darstellen. Es kann dies aber nur mittels einer höheren Ebene von Organisationsstrukturen tun, in die es selbst wiederum eingebunden wird." Die Ähnlichkeiten sind frappierend, zumindest in dieser Hinsicht. Das Atman-Projekt erschien 1980, The Evolving Self 1982, wobei wir unabhängig voneinander diese Konzeptionen entwickelten, was ich als großes Glück für
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mich betrachte, denn wenn man anderer Auffassung ist als Kegan, wäre dies ein schlechtes Omen für das eigene Modell. Man hat uns beide gefragt, was wir jeweils vom Modell des anderen hielten: ich für meinen Teil bedaure es, dass mir während der Arbeit an Das Atman-Projekt Kegans ausführliche Darstellungen nicht zur Verfügung standen. Kegan seinerseits sagt, dass er immer wieder auf die Ähnlichkeiten zwischen seinem Modell und östlichen Modellen sowie meinem Modell angesprochen wird. In seinem letzten Buch In Over Our Heads (das ich nachdrücklich empfehle),13 führt Kegan aus: "Was wir als Subjekt und Objekt auffassen, ist für uns nicht notwendigerweise fest. Sie sind nicht dauerhaft, sondern können sich ändern. Die Umwandlung unserer Epistemologien, die Verwandlung eines Subjekts in ein Objekt, so dass man es 'haben kann', statt von ihm 'gehabt zu werden' – dies ist für mich die prägnanteste und zutreffendste Beschreibung des Wachstums des Geistes. [Ja!]. Diese Vorstellung vom Wachstum des Geistes stimmt mit der Selbst-Psychologie des Westens ebenso gut zusammen wie mit der 'Weisheitsliteratur' des Ostens." Bei Kegan wird man zum Jasager! Und er fügt liebenswürdigerweise hinzu: "Diejenigen, die sich für eine allgemeinere Integration östlicher Philosophie mit [dieser] Perspektive interessieren, verweise ich auf das Werk von Ken Wilber: Das Atman-Projekt, Halbzeit der Evolution und insbesondere "Das Spektrum der Entwicklung" in Psychologie der Befreiung".15 So sind Kegan und ich seit fünfzehn Jahren theoretische Weggefährten, und ich freue mich, dass sich hier endlich eine Gelegenheit bietet, die große Bedeutung seines Werks für meine eigenen Arbeiten gebührend herauszustellen. Mein Haupteinwand gegen Kegan ist natürlich, dass er die eigentlichen post-postkonventionellen oder transpersonalen Wellen des Wachstums nicht ernst genug nimmt. Es gelten dieselben Grundsätze, es ist dieselbe Entwicklungsform wirksam, und sein ganzes Schema kann ohne weiteres vom Selbst-Bewusstsein zum Überbewusstsein fortgeführt werden, dem Punkt, an dem der ganze Körper-Geist Objekt wird (Dōgen Zenji bringt Erleuchtung auf die kurze Formel: "Körper-Geist abgefallen!"). Das bedeutet: Die ausschließliche Identifikation mit dem Körper-Geist fällt weg; der ganze Körper-Geist wird Objekt des wahren Selbst, und man verhält sich gegenüber seinem ganzen Körper-Geist genauso, wie man sich gegenüber den an einem klaren Herbsthimmel ziehenden Wolken verhält. Der ganze Körper-Geist schwebt in durchscheinender Leerheit, im radikalen ICH-Ich, das das eigene ursprüngliche Antlitz ist: Alle Subjekte sind transzendiert, alle Tode sind gestorben, alle Selbste sind ausgegliedert, und an deren Stelle steht das leuchtende SELBST, das der ganze weite Kósmos ist, in seine wahre Natur entlassen, in seiner eigenen Verfassung selbst-erlöst, selbst-geschaut in seiner eigenen Erkenntnis: Das SELBST von allem, was war, ist und jemals sein wird.
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Das Selbst-System Wir können nun zu Alexander u. a. zurückkehren und ihren Faden der Bewusstseinsentwicklung wieder aufnehmen: "Wir sind der Auffassung, dass [Entwicklung] sich durch den Prozess einer spontanen Verlagerung des vorherrschenden Orts des Gewahrseins [proximale Selbst-Identität] auf immer tiefere Ebenen des Geistes [Bewusstseinsebenen] vollzieht ... Unserer Auffassung nach beruht die Verlagerung des Bewusstseins, so dass es aktiv aus jeweils tieferen Ebenen heraus agieren kann, auf der Differenzierung dieser neuen mentalen Struktur gegenüber den früheren Ebenen. Wenn weiterhin das Bewusstsein sich aus der kognitiven Struktur herausverlagert, in die es bisher 'eingebunden' war, bekommt es dadurch die Möglichkeit, alle auf der früheren Ebene auftretenden kognitiven Prozesse hierarchisch zu integrieren und zu kontrollieren ... Man könnte daher als das tiefere Motiv der Entwicklung die fortschreitende Neuentdeckung ["Wiedererinnerung" oder Anamnesis] seiner eigenen inneren Natur durch das Selbst sehen, wodurch es eine immer bessere Perspektive auf die subjektive und objektive Welt gewinnt und diese immer besser beherrscht."16 Auf jeder dieser Stufen der Wiedererinnerung wird ein Ganzes Teil eines größeren Ganzen und nimmt, wie sie es formulieren, "den Status eines Subsystems innerhalb des mentalen Lebens an, statt dessen Ausführendes zu sein". All dies deckt sich praktisch vollständig mit Das Atman-Projekt, und insoweit stimme ich den Autoren vollkommen zu. Aber Alexander u. a. können wiederum nicht den vollen Nutzen aus dieser Auffassung ziehen, weil sie Ebenen und Linien und ebenso dauerhafte und Übergangsstrukturen nicht auseinanderhalten. Mit anderen Worten, sie scheinen gewisse Schwierigkeiten zu haben, vom Modell Wilber-II zum Modell Wilber-III zu gelangen. Dies wird besonders deutlich, wenn man ihre vier höheren Stufen des Wachstums betrachtet (die sie transzendentes Bewusstsein, kosmisches Bewusstsein, verfeinertes kosmisches Bewusstsein und Einheitsbewusstsein nennen), weil zwei von ihnen in Wirklichkeit dauerhafte Grundstrukturen sind, die in der weiteren Entwicklung erhalten bleiben, und zwei nur Übergangsstufen, die in der weiteren Entwicklung untergehen. Die dauerhaften Strukturen sind das kausale Selbst und der nichtduale BrahmanAtman. Der vorübergehende Zustand, in dem man das Kausale kostet, ist transzendentes Bewusstsein, wie man es üblicherweise durch Meditation erreicht. Wenn dieses transzendente Bewusstsein sich als Konstante durch den Wach-, Traum- und Tiefschlaf-zustand hindurchzieht, nennen die Verfasser dies "kosmisches Bewusstsein", und dies ist die andauernde Erkenntnis des Selbst, des Zeugen (Subjektpermanenz). Daher geht aber transzendentes Bewusstsein, das vorübergehende Kosten des Selbst, als solches unter (es wird negiert, und es ist vorübergehend), während das im
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kosmischen Bewusstsein enthüllte kausale Selbst der überdauernde Atman (das kausale Reich) ist. Im verfeinerten kosmischen Bewusstsein beginnt das Selbst, den subtilen Dualismus zwischen Subjekt und Objekt aufzulösen. Diese Übergangsstufe (des verfeinerten kosmischen Bewusstseins) kommt zum Abschluss, wenn das Selbst in reiner Nichtdualität als solcher (Brahman-Atman) subsumiert (negiert und erhalten, differenziert und integriert) und zu einer dauerhaften und ununterbrochenen Erkenntnis wird, die inmitten aller Manifestationen überdauert, die jetzt als Formen seines eigenen In-der-Welt-Seins erkannt werden.17 Wenn also Alexander u. a. sorgfältiger zwischen überdauernd und vorübergehend, zwischen Ebene und Linie unterscheiden würden, könnten sie zu einem ausgewogeneren und umfassenderen Modell gelangen, das ich der Einfachheit "Wilber-III" genannt habe und das, wie auch immer man es nennen mag, diesen subtileren und interessanteren Facetten der transpersonalen Entwicklung gerecht zu werden versucht.
Meditation und Entwicklung Die Rolle der Meditation für die Entwicklung des Menschen ist ein außerordentlich vielschichtiges und komplexes Thema, das mindestens die nachfolgenden Fragenkreise umfasst, die ich ganz kurz und allgemein charakterisieren will. Die Wirkung der Meditation auf das psychologische Unbewusste Im Atman-Projekt habe ich gesagt, dass die Wirkung der Meditation auf das Unbewusste davon abhängt, was man unter dem "Unbewussten" versteht. Dann habe ich die oben erwähnten fünf Arten von Unbewusstem dargestellt (Grund-, archaisches, untergetauchtes, eingebundenes und auftauchendes Unbewusstes) und Beispiele für die unterschiedliche Wirkung der Meditation auf diese gegeben. Interessierte Leser verweise ich auf diese Darstellung; grundsätzlich kann jedoch folgendes festgehalten werden: Meditation beginnt früher oder später, das eingebundene Selbst und das eingebundene Unbewusste aus seinem Verband zu lösen. Wenn man eine beobachtende Haltung der Achtsamkeit einnimmt, verwandeln sich die eigenen subjektiven Strukturen in objektive, so dass man sich aus seiner gegenwärtigen Entwicklungsebene zu lösen beginnt (das eingebundene Selbst wird gelockert und aus einer bestehenden subjektiven Verhaftung gelöst; das eingebundene Unbewusste wird aus seiner Einbindung gelöst).18 Weil dieses eingebundene Unbewusste aber die Verdrängungsstrukturen der
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Psyche in sich birgt, können, wenn diese Verdrängungsstruktur dekonstruiert (oder tiefgreifend gelockert) wird, zwei verschiedene Dinge – manchmal gleichzeitig – geschehen: Das untere oder untergetauchte Unbewusste (der "Schatten") drängt mit Macht nach oben, und das höhere oder emergente Bewusstsein (das Überbewusste und Übermentale) drängt mit Macht nach unten. Dies ist nicht nur für viele Meditierende verwirrend, sondern hat auch viele Theoretiker verwirrt, die keine Klarheit darüber gewinnen können, ob Meditation die Pforte zum Teufel oder zu Gott ist, ob, mit anderen Worten, Meditation ein "katatoner Rückzug" (Dr. Franz Alexanders Charakterisierung des Zen) ist, oder vielleicht eine Regression in einen ozeanischen Adualismus (Freuds Reaktion auf Rilke), oder ganz allgemein eine Entautomatisierung, oder ein Abstieg in der mentalen Hierarchie zu niedrigeren und weniger differenzierten (und kindlicheren und primitiveren) Zuständen. Oder ist sie vielmehr eine Fühlungnahme mit unserem tieferen Selbst, unserer wahren Natur, dem inneren Gott, den Engeln und den Archetypen unserer höchsten Möglichkeiten? Ich behaupte, dass sie beides ist. Dies hängt aber auch davon ab, wie man genau die Natur des untergetaucht Unbewussten, des emergent Unbewussten und des dazwischenliegenden eingebundenen Unbewussten verstehen will. Sobald man erkennt, dass das Eingebundene Selbst die Blende ist, die sowohl das Niedrigere/Untergetauchte als auch das Höhere/Aufgetauchte verbirgt, wird deutlich, dass die Aufhebung der Einbindung, die üblicherweise bei intensiver Meditation eintritt, diese beiden Reiche in die Unabhängigkeit entlässt. Und dies führt sofort zur nächsten Frage. Die Wirkungen der Meditation auf die menschliche Entwicklung Welche Wirkungen hat Meditation auf die allgemeine Entwicklung und das Wachstum des Menschen? Aurobindo gab hierauf eine bahnbrechende und inzwischen klassisch gewordene Antwort: "Die spirituelle Evolution gehorcht der Logik einer schrittweisen Entfaltung. Sie kann einen neuen entscheidenden Schritt erst dann tun, wenn der letzte große Schritt ausreichend bewältigt wurde: Auch wenn bestimmte kleinere Schritte durch einen raschen und abrupten Aufstieg übersprungen werden können, muss das Bewusstsein sich wieder zurückwenden und sich vergewissern, dass der Boden, den es beschreitet, in einer sicheren Verbindung zu dem alten Zustand steht: Eine größere oder konzentriertere Geschwindigkeit [die in der Tat möglich ist] hebt weder die Schritte selbst noch die Notwendigkeit ihrer Bewältigung in einer geordneten Reihenfolge auf." Aurobindo bringt hier klar zum Ausdruck, dass Meditation (oder überhaupt jede spirituelle Praxis) den
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Entwicklungsgang beschleunigen, aber nicht dessen Form oder Ablauf verändern kann. So tief Aurobindos Darstellung ist, so kann sie doch noch verfeinert werden. Machen wir wiederum den Schritt vom Modell Wilber-II zu WilberIII, und fragen wir statt dessen: Wenn es mindestens ein Dutzend verschiedener Entwicklungslinien gibt, (1) wie beeinflusst dann die Entwicklung auf einer Linie die Entwicklung auf den anderen, und (2) wie wirkt sich Meditation auf jede dieser Linien aus? Der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Entwicklungslinien Zu den verschiedenen quasi-unabhängigen Entwicklungslinien zählen unter anderem folgende: Moralische Entwicklung, Selbstidentität oder Entwicklung des proximalen Selbst (allgemein "Ich-Entwicklung" genannt), optisch-räumliches Denken, logisch-mathematisches Denken, sprachlichnarrative Erkenntnis, kognitive Entwicklung, Weltsichten, interpersonale Kapazität, psychosexuelle, konative und motivatorische Triebe, Intimität, spirituelle Entwicklung ("höchstes Interesse"), Selbst-Bedürfnisse, Altruismus, Kreativität, affektive Entwicklung, Ebene typischer Abwehrmechanismen, Raumzeit-Modi (raumzeitliche Architektur), Formen der Todesfurcht, epistemische Modi, verschiedene spezifische Begabungen (Musik, Malerei, physisch-kinästhetische Begabungen, Sport, Tanz) und Objektbeziehungen – um nur einige zu nennen. Nach dem heutigen Forschungsstand ist die Beziehung zwischen diesen verschiedenen Entwicklungslinien eine notwendige, aber nicht hinreichende". Soweit wir heute wissen, ist die physiologische Entwicklung notwendig, aber nicht hinreichend für die kognitive Entwicklung, diese wiederum notwendig, aber nicht hinreichend für die interpersonale (und Selbst-)Entwicklung, und diese wiederum notwendig, aber nicht hinreichend für die moralische Entwicklung. Forschungen haben diesen Zusammenhang bisher immer wieder bestätigt. Alle diese Linien reichen jedoch bis hinunter zur archaischen Ebene, das heißt, sie ruhen nicht aufeinander wie die Steine einer Mauer, sondern stehen vielmehr nebeneinander wie die Säulen eines Gebäudes. Dabei gilt folgende Bedingung: Aufgrund der spezifischen Natur ihres gegenseitigen Verhältnisses können einige der Säulen niemals höher sein als andere, was empirisch bestätigt wurde. Dies bezeichnet man theoretisch als eine notwendige, aber nicht hinreichenden Beziehung (einige Linien bilden einen notwendigen Kontext für andere). Dies bedeutet zum Beispiel, dass die moralische Entwicklung nicht der interpersonalen Entwicklung vorauseilen kann und diese nicht der kognitiven Entwicklung, die ihrerseits von bestimmten physiologischen
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Reifungsschemata abhängig ist (und all dies wird natürlich vom Selbst manipuliert). Umgekehrt kann dagegen der "notwendige" Teil dem "hinreichenden" Teil vorauseilen. So kann jemand zum Beispiel hinsichtlich der Erkenntnis ein sehr hohes Niveau erreicht haben, während er hinsichtlich der moralischen Entwicklung noch auf der ersten Stufe steht. Wir alle kennen Menschen, die sehr clever und trotzdem recht unmoralisch sind; dagegen haben moralisch hochstehende Menschen auch einen hohen kognitiven Entwicklungsstand: Die kognitive Entwicklung ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die moralische. Der Grund hierfür scheint darin zu liegen, dass sich die grundlegende Leiter des Bewusstseins sehr schnell entwickeln kann, ohne dass das Selbst bereit wäre, dieser Entwicklung zu folgen. Man kann von einer höheren Ebene aus denken (das ist weiter nicht schwierig), ohne tatsächlich auf dieser Ebene zu leben (wofür moralischer Mut erforderlich ist). Man kann von Dingen reden – aber man hat sie deswegen noch nicht. Die Leiter der Grundstrukturen kann sich also deutlich schneller entwickeln als die Bereitschaft des Selbst, diese Sprossen auch tatsächlich hinaufzuklettern. Das Selbst und sein "Schwerpunkt" – der immer dort ist, wo das Handeln ist – kann sehr tief bleiben, auch wenn es noch so viele schöne Worte zu machen weiß. (Dies gilt natürlich ebenso für die "spirituelle Entwicklung": Eine "Gipfelerfahrung" ist eines, eine stabile Anpassung etwas ganz anderes.)19 Das Selbst muss sich aus der unteren Ebene ausgliedern, der unteren Ebene ersterben und auf der nächsthöheren Ebene wiedergeboren werden, um dann tatsächlich auf dieser höheren und weiteren Welle des Gewahrseins zu leben. Und dieses authentische Leben muss sich unmittelbar in der tatsächlichen moralischen Haltung, den interpersonalen Beziehungen, dem affektiven Modus usw. äußern. Um aus einer höheren Ebene heraus leben zu können, muss das Selbst seiner Einbindung in eine tiefere Ebene wirklich ersterben (aber es ist natürlich viel einfacher, klug über die höheren Ebenen zu plaudern, als wirklich den unteren zu ersterben). Die Details dieser "notwendigen, aber nicht hinreichenden" Beziehungen zwischen den quasi-unabhängigen Entwicklungslinien sind zum größten Teil direkt empirisch und phänomenologisch erforschbar. Hier warten noch einige hundert Forschungsprojekte auf Graduierte. Die Wirkungen der Meditation auf eine bestimmte Entwicklungslinie Wir haben also gesehen, dass die verschiedenen Entwicklungslinien oft in einer notwendigen, aber nicht hinreichenden Beziehung zueinander stehen. Wenden wir uns nun der Frage zu, welche Wirkungen die Meditation auf jede der etwa zwölf Entwicklungslinien haben könnte.
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Dies ist ebenfalls eine Frage, die sich der unmittelbaren empirischen und phänomenologischen Untersuchung erschließen muss – Stoff für weitere einhundert Doktorarbeiten, und das Feld liegt weit offen vor uns. Bisher haben die meiste Arbeit auf diesem Gebiet Alexander und seine Mitarbeiter geleistet (auch dies ein Grund, warum ich ihre Beiträge so sehr schätze) sowie Daniel P. Brown, Mitautor von Psychologie der Befreiung. Die Vorgehensweise ist relativ einfach: Man führt die verschiedenen Tests (Loevingers Skala der Ich-Entwicklung, Kohlbergs Test der moralischen Entwicklung, Standardtests für Altruismus, Abwehrmechanismen, Empathie, interpersonale Kompetenz, Kreativität, physische Koordination, T-Scope usw.) an Gruppen von Menschen auf verschiedenen Stufen meditativer Kompetenz durch und trägt die Ergebnisse in ein Koordinatensystem ein (oder analysiert sie in anderer Weise). Auf der Grundlage des heutigen Forschungsstandes scheint mir jedoch bereits folgende Aussage gerechtfertigt zu sein: Meditation kann die Entfaltung einer bestimmten Entwicklungslinie erheblich beschleunigen, aber sie ändert die Reihenfolge oder die Form der grundlegenden Stufen dieser Entwicklungslinie nicht wesentlich. Die Ströme fließen schneller, aber durch dieselben Wellen. Meditation kann zum Beispiel die moralische Entwicklung (wie sie sich anhand des Kohlberg-Tests messen lässt) beschleunigen, aber es konnte noch nie gezeigt werden, dass sich durch sie eine dieser Stufen überspringen lässt. Die Meditation kann helfen, schneller von Stufe 1 auf Stufe 3 zu gelangen, aber sie erlaubt es nicht, Stufe 2 zu überspringen (ebenso kann LSD die eigene Welt erschüttern, für höhere Möglichkeiten offen machen, vergangene Ereignisse wieder zu integrieren helfen, verschiedene Traumata wieder lebendig werden lassen und verschiedene Brüche heilen, aber es ermöglicht es nicht, Stufe 2 der moralischen Entwicklung auf Dauer hinter sich zu lassen). Theoretisch ist dies natürlich nichts als einleuchtend: Stufe 3 baut, auch wenn sie Stufe 2 grundsätzlich ersetzt, trotzdem auf bestimmten Kompetenzen und Fertigkeiten auf, die nur auf Stufe 2 entwickelt werden. Eine Eichel kann nicht auf dem Weg zur Eiche die Stufe des Keimlings überspringen. Alexander hat eine Fülle von Forschungsdaten zusammengetragen, die diese Schlussfolgerung recht eindeutig stützen, und ich kann den interessierten Leser nur bitten, sich in seine Veröffentlichungen zu vertiefen. Die allgemeine Schlussfolgerung seiner Forschungen lautet jedenfalls, dass Meditation "die Entwicklung des Bewusstseins markant beschleunigt, ohne den grundsätzlichen Ablauf zu ändem".20
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Schlussfolgerungen Was auch immer die Meditation sonst noch leisten mag (und sie leistet sehr viel): Letztlich lockert sie das eingebundene Unbewusste und dekonstruiert das eingebundene Selbst (den Nexus von Identifikationen, den die proximale Selbst-Empfindung in jeder Welle seiner Entwicklung darstellt). Wenn sich das eingebundene Unbewusste zu lockern beginnt, lockert sich auch der Zugriff des Selbst auf sämtliche Entwicklungslinien; alle Entwicklungslinien sind hiervon betroffen. Das Selbst-System ist, wie wir gesagt haben, dasjenige, was all die verschiedenen Entwicklungslinien manipuliert und ausbalanciert und versucht, der Psyche irgendwie Zusammenhalt zu geben. Wenn die aktuelle Identitätsebene des Selbst zu zerbröckeln beginnt, wenn sich das eingebundene Unbewusste losreißt, löst sich das Selbst aus dieser Ebene heraus, ent-identifiziert sich von ihr, womit alles in Bewegung gesetzt wird: Alle Entwicklungslinien befinden sich in gewissem Umfang im Zustand eines Neuanfangs. So könnte es zum Beispiel auf der Entwicklungslinie der Abwehrmechanismen eine (meist vorübergehende) Regression auf frühere, ursprünglichere, weniger differenzierte Abwehrformen geben; wenn diese jedoch bewältigt werden und die Meditation Fortschritte macht, tritt oft ein bedeutsames Wachstum auf der Ebene der eingesetzten Abwehrhaltungen ein, wobei die Entwicklungshierarchie folgendes Bild zeigt: Von psychotischen Abwehrmechanismen (trügerische Projektion, Verzerrung, halluzinatorische Wunscherfüllung, projektive Identifikation) über Borderline-Mechanismen (Projektion, Ich-Spaltung, Verschmelzung von Selbst und Objekt) und neurotische Abwehrformen (Verschiebung, Isolierung/Intellektualisierung, Verdrängung, Reaktionsbildung) zu Abwehrformen des reifen Ich (Unterdrückung, Sublimierung). Von dort setzt sich diese Linie fort zu den transpersonalen Abwehrmechanismen, wie sie für das psychische, subtile und kausale Reich typisch sind (dies habe ich in Psychologie der Befreiung dargestellt). Auch hier könnten die verschiedensten unmittelbaren empirischen und phänomenologischen Untersuchungen durchgeführt werden. So könnte also in der Tat, wenn sich das Selbst aus einer bestimmten Ebene ausgliedert und von dieser ent-identifiziert und die verschiedenen Entwicklungslinien neu zur Diskussion gestellt werden, auf jeder dieser Linien eine vorübergehende Regression auftreten (z.B. bei den Abwehrmechanismen, der moralischen Reaktion, den visuell-räumlichen Wahrnehmungen usw.); der langfristige Netto-Effekt ist jedoch, dass die natürliche Wachstumstendenz der Psyche (d. h. Eros) und die natürliche
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Tendenz der höheren Ebenen, zu emergieren und abzusteigen (d. h. Agape) verstärkt werden. Empirische und phänomenologische Tests bezüglich dieser Entwicklungslinie, die im Längsschnitt an verschiedenen Gruppen von Meditierenden vorzunehmen wären, würden signifikante empirische Daten bezüglich dieser entscheidenden Fragen liefern. Sie dürften den bisherigen Befund bestätigen, dass Meditation die Reihenfolge oder Form dieser verschiedenen Linien beschleunigt, aber nicht verändert. Eine vorübergehende Regression auf einer dieser Linien ist an jeder Stelle aufgrund der fortwährenden Ausgliederung, die das Wesen der Meditation ausmacht, durchaus möglich. Der Netto-Effekt ist aber eine Intensivierung von Eros (des Aufstiegs zu Gott) und Agape (des Abstiegs zur Göttin). Die höheren und tieferen Bestrebungen des Selbst werden durch eine meditative Haltung beschleunigt, die letztlich nichts anderes ist als eine Öffnung für die eigenen tiefsten Möglichkeiten.
Psychotherapie und Meditation: Eine integrale Therapie Die Zusammenhänge zwischen Meditation und Psychotherapie bilden selbstredend ein schwieriges und komplexes Thema mit Dutzenden schwer identifizierbarer Faktoren, die alle in eine Reihe von Gleichungen eingehen, von denen wir noch nicht einmal ein ungefähres Bild haben. Immerhin ist die transpersonale Psychologie inzwischen ein gutes Stück über die rudimentären Aussagen auf diesem Gebiet hinausgelangt, wie z. B. "Meditation steigert die Fähigkeit zu Innenschau und Gelassenheit und kann daher die 'gleichmäßig schwebende Aufmerksamkeit' erleichtern, die für die Analyse notwendig ist." Oder: "Meditation senkt die Verdrängungsschwelle und kann so eine Regression im Dienste des Ich erleichtern." Oder: "Meditation erlaubt eine tiefgehende Heilung narzisstischer Wunden, wodurch die Ausbildung eines zusammenhängenden Selbst beschleunigt wird." Oder: "Meditation führt zu einer mentalen Weite, die die defensive Haltung abbaut." All dies ist für den Anfang und als grundsätzliche Orientierung völlig richtig, aber wir verfügen inzwischen über genügend Daten, Befunde und fortgeschrittene theoretische Modelle, um eine Lösung dieser Gleichungen mit größerer Genauigkeit in Angriff nehmen zu können. Ich bin überzeugt, dass es uns die weiteren Fortschritte in Forschung und Theorie schon sehr bald ermöglichen werden, etwa wie folgt vorzugehen. Eine Diagnose nach den Kategorien der DSM IV würde durch ein "Psychogramm" der Ebenen jeder der Hauptentwicklungslinien des Klienten
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ergänzt werden, u.a. der vertikalen Ebene (nicht nur des horizontalen Typs)21 der Selbstentwicklung (der Ebene der "Ich-Entwicklung"), der Ebene der Grund-Pathologie22, der Ebene der Objektbeziehungen, der Ebene der HauptAbwehrmechanismen, der vorherrschenden Selbstbedürfnisse, der moralischen Stufe und der spirituellen Entwicklung. Auf der Grundlage dieses Psychogramms könnte dann eine integrale Therapie vorgeschlagen werden. Diese integrale Therapie muss sich wiederum auf die weiteren Forschungsergebnisse bezüglich der Wirkungen verschiedener transformierender Praktiken auf die einzelnen HauptEntwicklungslinien stützen. Was ist zum Beispiel die Wirkung von Hatha-Yoga auf die Entwicklungslinie der Objektbeziehungen? Wie wirkt sich VipassanaMeditation auf die proximale Selbst-Empfindung (oder "Ich-Entwicklung") aus? Wie wirkt sich Meditation des Konzentrationstyps auf Abwehrmechanismen aus? Zu den transformierenden Praktiken gehören u. a. (in aufsteigender Reihenfolge): Physische oder grobstoffliche körperliche Praktiken (HathaYoga, Diät, Zufuhr von Ergänzungsstoffen, Hanteltraining, Aerobic; mit "physisch" sind hier auch die Wirkungen pharmakologischer Substanzen gemeint, auf welcher Ebene auch immer sie angreifen); affektive Psychotherapie (emotionale kathartische Therapie), Bioenergetik, psychoanalytische und verschiedene Aufdeckungstherapien, Hypnotherapie, Skript-, Rollen- und kognitive Therapie, existentielle Therapie, KundaliniYoga, Gottheiten-Yoga, Nada- und Shabda-Yoga, Tsogyal und spontane Luminosität, Vipassana, Trekchod, Sahaja- und Bhava-Samadhi (dies ist lediglich eine kleine Auswahl aus einigen der transformierenden Praktiken für die verschiedenen Ebenen des Spektrums des Bewusstseins; die Liste ist keineswegs vollständig). Die Forschungsaufgabe ist dann ganz einfach zu umreißen: Klinische Ermittlung der Wirkungen aller dieser transformierenden Praktiken auf die einzelnen Haupt-Entwicklungslinien. Dann könnte man auf der Grundlage des Psychogramms des Klienten und der bekannten Wirkungen der verschiedenen Transformationspraktiken auf die einzelnen Entwicklungslinien eine integrale Therapie verordnen, die (1) den Körper-Geist des Hilfesuchenden renormalisieren und (2) die postformale Entwicklung in Gang bringen könnte, falls gewünscht. Um einige skizzenhafte Beispiele zu geben: Einem Klienten mit einer Borderline-Erkrankung, einem impulsiven Ich, präkonventioneller Moral und bestehender Ichspaltung könnte man folgendes verordnen: Strukturaufbautherapie, Bibliotherapie, Hanteltraining, Ergänzungsstoffe, pharmakologische Mittel (nach
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Bedarf), Verbalisierungs- und Gesprächstraining und ganz kurze Sitzungen einer Meditation des Konzentrationstyps (keine gewahrseinsschulende Meditation, die beim Borderline-Syndrom noch nicht ausreichend stabilisierte subjektive Strukturen auflösen könnte). Ein Klient mit Angstneurose, phobischen Elementen, konventioneller Moral, Verdrängungs- und Verschiebungsreaktionen, Zugehörigkeitsbedürfnisssen und Persona-Selbst-Empfindung könnte mit folgendem behandelt werden: Aufdeckungs-Psychotherapie, Bioenergetik, SkriptAnalyse, intensivem Joggen oder Radfahren (oder einer anderen Einzelsportart), Desensibilisierung. Traumanalyse/ -therapie und Vipassana-Meditation. Einem Klienten mit existentieller Depression, postkonventioneller Moral, Unterdrückungs- und Sublimierungsreaktionen, SelbstverwirklichungsBedürfnissen und einer zentaurischen Selbst-Empfindung könnte man folgendes verordnen: Existentielle Analyse, Traumtherapie, eine Mannschaftssportart (z.B. Volleyball oder Basketball), Bibliotherapie, Taiji (oder Prana-Zirkulationstherapie), Dienst an der Gemeinschaft und Kundalini-Yoga. Einem Klienten, der jahrelang Zen praktizierte, aber unter einer Lebensziel-Apathie, Depressionen und Abstumpfung der Affekte leidet und im übrigen postkonventionelle Moral, postformale Erkenntnis, Selbsttranszendierungsbedürfnisse und psychische Selbst-Empfindung aufweist, könnte man folgendes empfehlen: Aufdeckungstherapie, eine Kombination von Hanteltraining und Jogging, tantrisches Gottheitenyoga (Visualisierungmeditation), Tonglen (MitgefühlsSchulung) und Dienst an der Gemeinschaft. Dies sind natürlich ganz einfache Beispiele, die aber verdeutlichen dürften, was mit integraler Therapie gemeint ist.23 Ich möchte nur wiederholen, dass diese integralen Empfehlungen auf klinischen Befunden und Forschungsergebnissen bezüglich der Wirkung verschiedener transformierender Praktiken auf die Hauptentwicklungslinien beruhen müssen. In dieser Weise ließe sich nicht nur feststellen, welche Verfahren für welche Zustände indiziert sind, sondern auch – was mindestens ebenso wichtig ist – welche kontraitidiziert sind (ich habe das Beispiel des intensiven Gewahrseinstrainings gegeben, das bei einer Borderline-Pathologie kontraindiziert ist; ich glaube, dass weitere Forschungsdaten zahlreiche und sehr spezifische Indikationen und Kontraindikationen liefern würden. Heute ist es noch so, dass "transpersonale Therapeuten" nur intuitiv und "auf gut Glück" vorgehen. Ich glaube, dass das Fachgebiet heute reif ist für den Eintritt in eine ganz neue Phase.
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Psychologie und Spiritualität Wir sind nun so weit, um die zentrale Frage in unserer Diskussion über Psychologie und Spiritualität stellen zu können: Ist psychische Entwicklung für spirituelle Entwicklung notwendig? Klären wir zunächst die Begriffe. Was man allgemein "psychische" Entwicklung nennt, ist in Wirklichkeit ein Gemenge verschiedener Entwicklungslinien, unter anderem der Linie der Entwicklung der Selbstidentität oder des proximalen Selbst (allgemein "Ich-Entwicklung" genannt), der Linie der Abwehrmechanismen (die normalerweise der Linie der Selbst-Entwicklung folgen, sich aber abspalten und auf einer früheren und primitiveren Ebene operieren können), der Linie der interpersonalen Entwicklung (der Fähigkeit, eine Rolle zu übernehmen, und zur Interaktion zwischen Selbst und anderen) und der Linie des Affekts (Disposition, fühlendes Gewahren). Dies alles sind quasi-unabhängige Linien, und wiewohl sie sich im großen und ganzen als "Bündel" entwickeln, das von der Ich-Empfindung zusammengehalten wird, können trotzdem Brüche und Spannungen zwischen ihnen entstehen, was oft genug der Fall ist (und wie wir gesehen haben, kann Meditation diese Linien beschleunigen, wenn auch nicht deren Ablauf oder deren Form ändern). Ebenso ist "Spiritualität" ein weiter und ungenauer Begriff. Wie wir gesehen haben, bezeichnen manche damit hauptsächlich die höheren Stufen einer der Entwicklungslinien. In diesem Sinne bezeichnet "spirituell" speziell die post-postkonventionellen, transpersonalen und supramentalen Stufen einer der Entwicklungslinien: Transpersonaler Affekt (Seligkeit), transpersonales Bewusstsein (das Überbewusste), transpersonales Selbst (psychische/feinstoffliche Seele und das kausale Selbst, der Zeuge), transpersonales Interpersonales (Mitgefühl), transpersonale Erkenntnis – (Prajna, Jnana, Gnosis) und transpersonale Zustände (Nirvikalpa, Nirvana, Nirodha). Nach diesem üblichen Sprachgebrauch bedeutet "psychisch" "mental und personal" und spirituell "supramental und transpersonal". Gemäss diesen Definitionen kann spirituelle Entwicklung nur dann auf einer gesicherten Basis fortschreiten, wenn die psychische Entwicklung weitgehend abgeschlossen ist. Dies hat zu der verbreiteten Auffassung geführt, dass man erst jemand sein müsse, bevor man niemand sein könne, und der vor allem von Aurobindo repräsentierten Haltung ("eine Entfaltung in logisch aufeinanderfolgenden Schritten"). Was in einem oft abwertenden Sinne als "lineare" oder "Leitern-Auffassung bezeichnet wurde. Weil aber dieser Ansatz die verschiedenen Entwicklungslinien nicht sorgfältig voneinander trennt, übersehen sowohl seine Anhänger als auch
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seine Kritiker einen zentralen Punkt: Die verschiedenen Linien schließen nicht aneinander an wie aufeinandergestapelte Mauersteine, sondern liegen quasiunabhängig nebeneinander, weshalb sie sich nicht linear nacheinander entfalten (und hier haben die Kritiker völlig recht). Andererseits aber entfalten sich die einzelnen Linien sehr wohl in einer linearen Abfolge, deren Reihenfolge unumstößlich ist (diesen Punkt übersehen die Kritiker, und sie schütten damit das Kind mit dem Bad aus).24 Auch wenn man also die zweite allgemeine Definition von "Spiritualität" zugrunde legt und sagt, dass spirituelle Entwicklung eine getrennte Entwicklungslinie ist, die neben den anderen verläuft (wobei alles vom SelbstSystem zusammengehalten wird), entwickelt sich dieser spirituelle Strom trotzdem von der präkonventionellen über die konventionelle und die postkonventionelle zur post-postkonventionellen Welle.25 Dieser Strom ist "linear" im Sinne von geschachtelt, holarchisch und unveränderlich. Er zieht sich durch diese Wellen in einer Abfolge hindurch, die nach den vorhandenen Befunden durch soziale Konditionierung nicht verändert werden kann (als Übergangsstrukturen sind sie "linear" in einem, wie wir es genannt haben, "weichen" Sinne: Die tatsächlichen Reaktionen reihen sich nach einer Wahrscheinlichkeitsverteilung aneinander, aber die grundsätzliche Abfolge ist unveränderlich, allgemeingültig und holarchisch). Aber wiewohl diese spirituelle Linie sich überwiegend aus Übergangsstrukturen zusammensetzt, bauen diese Strukturen doch auf den Kompetenzen und Fertigkeiten der früheren Strukturen auf, auch wenn einige ihrer zentralen Elemente ersetzt werden. Gilligans lineare und invariante Hierarchie zum Beispiel (die als Hierarchie der Anteilnahme der Hierarchie des höchsten Interesses sehr nahe steht) verläuft von der Haltung der Selbstsucht (egozentrisch, präkonventionell) über eine solche der Anteilnahme ("konventionell, ethisch") zu derjenigen der universellen Anteilnahme ("postkonventionell, metaethisch") und, wie ich hinzufügen würde, zum transpersonalen Mitgefühl (post-postkonventionell). Wie Gilligan betont, kann keine dieser Stufen übersprungen oder grundsätzlich geändert werden, und soviel wir wissen, gilt dies für jede spezifisch spirituelle Linie sowohl in ihren eher agentischen/männlichen Modi als auch ihren eher kommunikativen/weiblichen Modi (weil beide in denselben Wellen fortschreiten – denselben geschlechtsneutralen Grundstrukturen des Bewusstseins –, wenn auch mit einer anderen Betonung oder meiner anderen Stimme"). Und ich wiederhole es: Meditation kann sowohl im männlichen als auch im weiblichen Modus diesen Gang der spirituellen Entwicklung beschleunigen – aber nicht ändern.26 Ob man nun "spirituell" im Sinne der höchsten Wellen eines dieser Ströme oder im Sinne eines getrennten Stroms benutzt, die Schlussfolgerung
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ist dieselbe: Meditation kann anscheinend die Entfaltung dieser Ströme beschleunigen, aber ansonsten nicht verändern. Weil aber das allgemeine Selbst (oder Selbst-System) der Manipulator all dieser verschiedenen Entwicklungslinien ist – der kognitiven, affektiven, moralischen, spirituellen usw., die jeweils für sich quasi-unabhängig ablaufen –, kann Entwicklung im ganzen recht ungleichmäßig und ohne vorgegebene Reihenfolge verlaufen, wiewohl sich die einzelnen Linien in jeweils spezifischen Wellen entfalten. Auch wenn daher praktisch alle individuellen Linien in sich einem festen Ablauf gehorchen, gilt dies nicht für das Zusammenspiel des Ganzen. Das Selbst kann, wie schon gesagt, "überall" sein. Zusammenfassung Bezüglich des Verhältnisses zwischen Psychologie und Spiritualität ergibt sich also eine recht einfache Schlussfolgerung: Wenn man genau sagt, welche Entwicklungslinie man meint (statt die weiten und mehr oder weniger bedeutungslosen Begriffe "psychisch" und "spirituell" zu benutzen) – klärt sich die Verwirrung bezüglich ihres Zusammenhangs recht schnell. Man legt genau fest, welche Linien man mit "psychisch" und welche man mit "spirituell" meint, und vergleicht dann einfach diese Linien miteinander. Dann ergibt sich, wie wir gesehen haben, nach dem gegenwärtigen Forschungsstand, dass die Entwicklungslinien oft in einer "notwendigen, aber nicht hinreichenden" Beziehung zueinander stehen. Trotzdem zeigen die Linien oder Ströme ein stabiles Entwicklungsmuster über immer dieselben Ebenen oder Wellen einer präkonventionellen, konventionellen, postkonventionellen und post-postkonventionellen Haltung (die Grundstrukturen oder Wellen des Bewusstseins). Wenn man mit "spirituell" die höheren Ebenen dieser Linien meint, dann folgt die spirituelle Haltung offensichtlich nach der - herkömmlich verstandenen – psychischen. Wenn man mit "spirituell" aber eine bestimmte Entwicklungslinie meint, dann reicht diese Linie wie die meisten Entwicklungslinien bis hinunter zu den frühesten Stufen (Drehpunkt 0) und entwickelt sich nicht nach den, sondern parallel zu den übrigen Linien. Ich glaube, dass beides zutreffend ist, und man muss lediglich angeben, welche Definition man jeweils meint. Aber selbst wenn man Spiritualität als getrennte Linie definiert, entfaltet sich diese Linie oder dieser Strom dennoch in denselben grundlegenden Wellen wie die übrigen Ströme (von präkonventionell über konventionell und postkonventionell zu post-postkonventionell), so dass nach wie vor gilt: "Man muss konventionell sein, bevor man postkonventionell sein kann." Und es gilt auch nach wie vor, dass man präkonventionell und postkonventionell nicht miteinander verwechseln darf, nur weil beides nichtkonventionell ist.
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Zur Physiologie der Meditation Da die physiologische und die kognitive Linie die beiden Ausgangsstränge der Sequenz der oben genannten "notwendigen, aber nicht hinreichenden" Beziehungen sind, sind sie das Fundament, die Basislinien, auf denen alle übrigen ruhen, soweit wir dies nach dem derzeitigen Forschungsstand beurteilen können (sie bilden, genauer gesagt, die rechtsseitige und die linksseitige Grundlage der ganzen Sequenz; die physiologische Linie ist die Grundlage des oberen rechten Quadranten, die kognitive Linie diejenige des oberen linken Quadranten). Auch dies ist ein wichtiges Gebiet empirischer Untersuchungen, zu denen die TM-Forscher (wie Wallace, Orme-Johnson und Dillbeck) Wesentliches beigetragen haben, insbesondere die physiologischen Korrelate meditativer Zustände und Phasen. Von ganz wesentlicher Bedeutung war in diesem Zusammenhang Wallace' Aufsatz aus dem Jahre 1970 in Science, "The Physiological Effects of Transcendental Meditation", der die naturwissenschaftliche Welt zu der (für sie) schockierenden Einsicht zwang, dass bei der Meditation tatsächlich etwas Konkretes geschieht. Empirische Wissenschaftler erkennen ja nur die rechtsseitigen oder empirischen Aspekte von Holons an, aber da alle Holons diese Aspekte haben, ist einfach auch zu erwarten, dass Meditation in diesem empirischen und physiologischen Bereich klar erkennbare Wirkungen hervorruft. Dass dies so ist, hat Wallace bewiesen, womit das Dogma gründlich widerlegt wurde, dass Meditation wirkungslose Phantasie sei. Dadurch wurde die Tür zu weiteren wissenschaftlich-empirischen Forschungen weit aufgestoßen, bei denen die TM-Bewegung nach wie vor eine führende Rolle spielt, und ich glaube, dass wir alle ihr dafür sehr dankbar sein müssen.
Die Zukunft des Körpers Die Tatsache, dass die physiologische (oder "materielle") und die kognitive (oder "mentale") Linie zwei der grundlegendsten Linien im Wesen des Menschen sind ("Materie" und "Bewusstsein", rechts oder links), bedeutet, dass eine wahrhaft integrale spirituelle Praxis Körper und Geist auf jeder Stufe der allgemeinen Evolution, vom grobstofflichen über den feinstofflichen zum kausalen Körper-Geist, zumindest gleiche Bedeutung einräumen muss. So selbstverständlich diese Schlussfolgerung für uns heute klingt, so ist sie historisch doch ein recht radikaler Gedanke, worauf Michael Murphy hinweist. Auf der Grundlage der bahnbrechenden Erkenntnisse von
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Aurobindo, die Murphy jedoch in sehr bedeutsamer Weise erweitert, vertritt er seit vielen Jahren die Auffassung, dass heute nichts so dringend benötigt wird wie eine wahrhaft integrale Praxis. Diesem Thema ist auch sein Meisterwerk Der Quanten-Mensch gewidmet, und Charles Tart bemerkt zu diesem Buch: "Es gibt nur eine angemessene Beschreibung hierfür: Es ist das wichtigste Werk, das je über das Verhältnis zwischen Körper und Geist geschrieben wurde." Mit "Körper" und "Geist" meint allerdings Murphy nicht die üblichen und zu engen Bezeichnungen für das materielle Fleisch und die immaterielle Seele. Er meint hiermit vielmehr den ganzen Bereich des oberen linken Quadranten ("Geist" oder Bewusstsein im weitesten Sinne) und den ganzen oberen rechten Quadranten ("Körper" im weitesten Sinne). Sein zentrales Argument lautet: Man kann auf keiner Ebene der menschlichen Entwicklung das eine ohne das andere haben, und die Konsequenz hieraus ist, dass man beides bewusst und mit gleicher Intensität ergreifen muss. Dieses integrale Ergreifen führt zu einer Beschleunigung der Evolution vom grobstofflichen über den feinstofflichen zum kausalen Körper-Geist, wobei jede Stufe die vorangegangene umhüllt und völlig umwandelt. Dadurch werden der aufsteigende Strom der Evolution und der absteigende Strom der Involution in einem Prozess miteinander verbunden, durch den das Selbst, der Körper und die Welt verwandelt werden. Murphy ist sich auch dessen bewusst, wie wichtig es ist, nicht nur den oberen linken und oberen rechten, sondern auch den unteren linken und unteren rechten Quadranten zu integrieren, das heißt den intentionalen, verhaltensmäßigen, kulturellen und sozialen, um eine alle Ebenen und alle Quadranten umfassende integrale Praxis zu verwirklichen. In seinem neuesten Buch, The Life We Are Given, das Murphy zusammen mit seinem Freund George Leonard schrieb, entwickelt er ein ausgewogenes Übungsprogramm im Kontext von Familie, Gemeinschaft und Dienst, das er "integral-transformative Praxis" nennt. Ich habe mit Murphy oft über die "drei Wellen" diskutiert, die das Human Potential Movement in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat. Die erste Welle kam in den sechziger Jahren mit dem Beginn des ursprünglichen Human Potential Movement. Obwohl sich hinter diesem Begriff eine schillernde Vielfalt von Bestrebungen verbirgt, kann man wohl als das damalige Hauptanliegen der Bewegung den umstandslosen Weg zum Ziel betrachten, die Gipfelerfahrung, den Wochenend-Workshop, Seminare des Typs "Satori in sieben Tagen". Es war eine Explosion, wunderbar und erschreckend, großartig und verrückt, strahlend und grotesk. Ihr Zentrum war das Esalen-Institut, das von Murphy und seinem Freund Richard Price gemeinsam gegründet wurde.
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Nach etwa einem Jahrzehnt wich das Ziel einer "Gipfelerfahrung" dem Ziel einer "Plateau-Erfahrung", und damit begann die zweite Welle des Human Potential Movement. Die Schwächen des schnellen Weges zum Ziel wurden bald deutlich; er war nützlich für ein erstes Erwachen, doch waren die Erfolge äußerst kurzlebig und die Verfassung von Teilnehmern nachher manchmal schlechter als vorher. Kurz, es wurde bald klar, dass eine echte Transformation Zeit, Anstrengung und Durchhaltevermögen erfordert, mit einem Wort: Übung. Man begann sich also der Mühe wirklich transformativer Praktiken zu unterziehen: Vielleicht Zen, oder auch Yoga, langfristige Psychotherapie, Körperarbeit, Traumarbeit, Sport/Gymnastik, Körperschulung usw. An die Stelle der Fünf-Tage-Schnellkurse traten über fünf Jahre sich hinziehende Schulungswege. Aber auch diese lobenswerten Bemühungen hatten einen gravierenden Mangel: Sie schulten nur eine Fähigkeit des menschlichen Organismus, zum Beispiel Gewahrsein, Träume, körperliche Geschicklichkeit, Einsichtsvermögen oder emotionelle Offenheit, während die übrigen vernachlässigt wurden. Mit anderen Worten, diese Ansätze griffen nur eine Entwicklungslinie heraus und verfolgten sie durch die verschiedenen Ebenen, mussten aber am Ende feststellen, dass die übrigen Entwicklungslinien immer noch recht unreif, unentwickelt oder sogar verkümmert waren, wobei jetzt ein zusätzliches Problem hinzukam: Der Betreffende musste sich mit einer recht unausgewogenen Gesamtverfassung herumschlagen. Das arme Selbst, das all die verschiedenen Entwicklungslinien manipulieren muss, sah sich oft mit einem Riesen und einem Dutzend Zwergen konfrontiert. Und je größer die Fortschritte auf einem bestimmten Übungsweg wurden, desto schlimmer wurde es, was alle in größte Verwirrung stürzte. Deshalb folgte auf die zweite Welle der spezifischen Übungen die dritte Welle der integralen Praxis. Wiederum durchlief das Fachgebiet in einem Vorgang des Transzendierens und Einschließens, des Negierens und Erhaltens seine eigenen drei Wellen des Lernens. Mit anderen Worten, das Fachgebiet selbst schritt von seiner anfänglichen sensorisch dominierten Explosivität ("verliere den Verstand und komme zu Sinnen!") zu seiner zweiten Welle konkreter Praxis fort, was beides für die jetzt einsetzende dritte Welle der universellen/integralen Praxis notwendig war. Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass Michael Murphy für alle drei Wellen eine wesentliche Rolle spielt. Er war es, der oft in der Stille und hinter den Kulissen den Boden bereitete, auf dem sich jede der drei Wellen entwickeln konnte. Michael Murphy ist vielleicht der bedeutendste spirituelle Pionier unserer Generation, und zwar allein schon wegen der außerordentlichen Räume, die er schuf, damit darin auch andere eine Transformation erreichen konnten.
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Die dritte Welle der integralen Praxis steckt noch in den Kinderschuhen, aber wie alle Kinder wächst sie atemberaubend schnell. Ein Indiz für den Trend ist das Buch Was wirklich zählt. Auf der Suche nach Weisheit und Lebenssinn heute des ehemaligen Reporters der New York Times, Tony Schwartz. Ich glaube, dass Schwartz, wenn er das Buch überarbeiten müsste, hier und da eine Kleinigkeit ändern würde, aber insgesamt bleibt es ein außerordentliches Kompendium der heute verfügbaren TransformationsTechniken. Seine Schlussfolgerung ist eindeutig: Integrale Praxis ist heute die einzige brauchbare Möglichkeit der Transformation des Menschen. Sich auf den höchsten Punkt der dritten Welle aufzuschwingen: Gab es je ein aufregenderes Surf-Abenteuer im Bewusstsein?
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Kapitel 11 Auf dem Weg zum Omega-Punkt? Wo genau ist der Seinsgrund? Wo soll man den GEIST lokalisieren? Was darf man tatsächlich als heilig anerkennen? Wo genau ist der Seinsgrund? In der Kindheit? Im Matriarchat? In der Aufklärung? In Gaia? In einem fernen, aber vielleicht sich rasch nähernden Punkt Omega? Wo ist dieses höchste Göttliche? Dieser letzten entscheidenden Frage wenden wir uns in diesem und im nächsten Kapitel zu.
Wo ist das Heilige wirklich? Gus DiZerega und Richard Smoley haben eine sehr interessante Rezension von Eros, Kosmos, Logos veröffentlicht. Ich sage seit langem, dass es drei Arten von Philosophen gibt: Prärationale (alles von Magie über Neuheidentum bis Retroromantik), rationale (u.a. rational-analytische) und transrationale (transpersonale, kontemplative). DiZerega und Smoley haben ihre Rezension in GNOSIS veröffentlicht, einer Zeitschrift, die meiner persönlichen Meinung nach oft eine prärationale Haltung gegenüber der Spiritualität vertritt. Die Rezension eines ausgeprägt transrationalen Buchs in einer solchen Zeitschrift versprach also eine aufregende Lektüre zu werden und ist zumindest als Aufeinanderprall von Paradigmen einer näheren Beschäftigung wert. Auf Max Planck soll der Satz zurückgehen, dass alte Paradigmen erst mit ihren Anhängern sterben. Weil Paradigmen selbstbestätigend sind, ist es nicht möglich, Paradigmen durch irgendwelche Daten von innen heraus auszuhebeln, weshalb neue Befunde oder bessere Argumente ihre Anhänger in den seltensten Fällen von ihrer Meinung abbringen. Deshalb schreitet, wie ich Planck oft paraphrasiert habe, das Erkenntnisstreben nur von Leichenbegängnis zu Leichenbegängnis fort. Dies wird von niemandem bestritten, und es geht eigentlich nur darum, ehrlich zu sagen, auf wessen Begräbnis man wartet. DiZerega und Smoley leiten ihre Rezension mit einer Kritik an meiner Interpretation Aristoteles' als einem der archetypischen Aufsteiger des
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Westens ein. Sie verweisen darauf, dass Aristoteles soviel Zeit darauf verwandte, die Vielheit zu kategorisieren, dass er wohl kaum ein Aufsteiger gewesen sein könne. Das ist richtig, aber es geht am Wesentlichen vorbei. Wir wissen alle, dass Aristoteles sich die meiste Zeit mit diesseitigen Studien beschäftigte und dass ein großer Teil etwa der westlichen Naturwissenschaft seine Wurzeln in Aristoteles hat. Das bestreite ich gar nicht, aber in diesem Teil des Buchs gehe ich der Frage nach, wo verschiedene Theoretiker die höchste Wirklichkeit ansiedeln. Arthur Lovejoy erkannte sehr richtig, dass für Aristoteles nirgendwo in dieser Welt eine höchste Wirklichkeit (Gott) zu finden ist. Aristoteles' Gott ist vielmehr ganz jenseitig; sein Gott erschafft weder, noch ist er irgendeinem manifesten Bereich substantiell immanent (die Dinge streben auf Gott als finale Ursache zu, erreichen ihn aber nie). Auf die letztlich entscheidende Frage: Wo ist die wirkliche, endgültige und höchste Wirklichkeit? würde Aristoteles also antworten: Nirgendwo auf dieser Erde. Hinsichtlich der so überaus wichtigen Frage, wo die endgültige Wirklichkeit liegt – und was daher als zutiefst heilig betrachtet werden soll –, ist Aristoteles also in jeder Hinsicht jenseitig und ein Aufsteiger. Lovejoy arbeitet diesen absolut richtigen und faszinierenden Punkt – der im übrigen weitreichende historische Konsequenzen hatte – sehr klar heraus, womit sich DiZeregas und Smoleys Einwand erledigt haben dürfte. Im Zusammenhang mit Platon, der wiederum nach herkömmlicher Auffassung als der wirklich "jenseitige" Philosoph gilt, im Gegensatz zur "diesseitigen" Orientierung Aristoteles', verweist Lovejoy an dieser Stelle darauf, dass auf der tiefsten Ebene dieser Sachverhalt genau umgekehrt ist. Natürlich dominiert in Platons Philosophie die jenseitige Komponente, aber, wie Lovejoy sagt (und ich zitiere dies wörtlich in meinem Buch): "Das bemerkenswerteste und am wenigsten bemerkte Faktum seines (Platons) historischen Einflusses besteht darin, dass er nicht nur der europäischen Jenseitigkeit ihre charakteristische Form, Ausdrucksweise und Dialektik gab, sondern auch der genau gegenläufigen Tendenz – einer eigentümlich überschwenglichen Form von Diesseitigkeit". So beschreibt Platon zum Beispiel im Timaios die konkrete Manifestation dieser Welt aus der höchsten Wirklichkeit, wobei er diese Erde einen "sichtbaren, fühlbaren Gott" nennt. Auf diesem Strang konnte die neuplatonische Betonung der heiligen Manifestation entstehen, die diese Erde und diese Welt ohne weiteres als bis ins Innerste heilig betrachtete, wofür Aristoteles – und die vielen, die ihm folgten – keinerlei Raum hatten. Dies ist nun eine wahrhaft faszinierende Einsicht, die die Auffassungen darüber zurechtrückt, bei welchem dieser beiden so überaus einflussreichen Denker nun die höchste Wirklichkeit zu finden ist und was daher als heilig betrachtet werden könnte und was nicht. Dies läuft natürlich dem üblichen ökophilosophischen und neuheidnischen Vorurteil zuwider, welches sich
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Platon als Popanz aufgebaut hat und in ihm den Urheber des westlichen Hasses auf diese Welt sieht. Und es macht außerdem klar, warum Platon und nicht Aristoteles letztlich der Vater eines großen Teils des westlichen diesseitigen Pantheismus, Neuheidentums und Naturalismus sein konnte und tatsächlich historisch war. All dies entgeht DiZerega und Smoley anscheinend. Dann versuchen sie in ähnlicher Weise meine Behandlung Emersons zu kritisieren, aber sie vermögen in keiner Weise zu zeigen, dass ich Emerson falsch verstanden oder interpretiert hätte.1 Das "animalische Auge", das Emerson kritisiert, ist natürlich der Modus, auf den sich einige Naturverehrer und Neuheiden stützen, und Emerson verurteilt beredt eine Weltsicht, der DiZerega und Smoley offensichtlich anhängen. Meine Interpretation Emersons ist so weithin akzeptiert, so unbestritten, dass man sie sogar in Standard-Lehrbüchern findet.2 Ich habe mich ganz auf der sicheren Seite der Interpretation von Geistesriesen wie Emerson und Plotin gehalten, weil ich es mir einfach nicht leisten konnte, mich dem Vorwurf auszusetzen, in meiner Darstellung eine weithergeholte oder umstrittene Interpretation heranzuziehen. Ich habe deshalb ganz bewusst eine Haltung des breitestmöglichen Konsenses eingenommen.3 Diese ausgewogene Interpretation erschütterte die, wie ich finde, recht engen und etwas einseitigen Interpretationen von DiZerega und Smoley, und im Hintergrund drohte das Damoklesschwert der "Unvereinbarkeit der Paradigmen". Lange Zeit war die prärationale Orientierung das einzige "spirituelle" und "nichtrationale" Paradigma weit und breit. Es verdankte seine Zugkraft weitgehend seiner aggressiven Kritik und Bekämpfung des rationalen Paradigmas. Aber es gab und gibt nicht nur eine, sondern drei verschiedene Haltungen, die prärationale, rationale und transrationale, was bedeutet, dass das transrationale Lager auf zwei Fronten kämpfen muss, gegen den Treueschwur gegenüber der bloßen Rationalität und gegen ein noch verheerenderes Abrutschen in die Prärationalität. Dies sind die drei Haupt-Paradigmen; jedes wartet auf das Ableben des anderen, und die große Frage ist, wer am Ende Blumen auf die Gräber seiner Vorgänger legen darf und ob nach einer in ferner Zukunft liegenden Wiederauferstehung sich dereinst die Parteien einigen werden. Ich glaube, dass dies der Fall sein wird. Aber dies ist nur meine persönliche Meinung.
Wegweiser 1. Ich habe immer wieder Roger Walsh als einen der Leitsterne der
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transpersonalen Studien bezeichnet, und ich nutze immer gerne die Möglichkeit, ihm meinen tiefen Dank für sein Werk (und unsere Freundschaft) auszusprechen. Dasselbe gilt für seinen Partner Frances Vaughan; ihre vereinten Stimmen sind richtungweisend für das ganze Fachgebiet. Roger schrieb eine glänzende Zusammenfassung über einige der zentralen Themen von Eros, Kosmos, Logos, die in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht wurde.4 Angesichts der Tatsache, dass seine Arbeit inzwischen von etwa dreimal so vielen Menschen gelesen wurde wie mein Buch selbst, wird man meine Erleichterung darüber verstehen, dass sie fair, zutreffend und informativ und darüber hinaus ein Musterbeispiel für akademische Darstellung und Sachverstand ist. 2. Eine weitere vorzügliche Zusammenfassung von Eros, Kosmos, Logos stammt von Kaise Puhakka, "Restoring Connectedness in the Kosmos: A Healing Tale of a Deeper Order", das in The Humanistic Psychologist (Herbst 1996) erschien. Ich habe die beiden Zusammenfassungen von Walsh und Puhakka wirklich mit großer Befriedigung gelesen. Man erwartet sicher nicht, dass die Kritiker einem in allem recht geben, aber wenigstens, dass sie einen in etwa verstehen. Ich muss sagen, dass gerade in diesen beiden Arbeiten ein echtes Verständnis von Eros, Kosmos, Logos deutlich wird, und ich kann sie allein schon deshalb nur nachdrücklich empfehlen. 3. Ein Zeichen dafür, dass die transpersonale Orientierung immer mehr auch in die herkömmliche Psychologie eindringt, ist das jüngste Erscheinen des Textbook of Transpersonal Psychiatry and Psychology beim Verlag Basic Books, herausgegeben von Dr. med. Bruce Scotton, Dr. med. Allan B. Chinen und Dr. med. John Battista. Es ist eine vorzügliche Sammlung von Artikeln und Essays über fast alle Aspekte der transpersonalen Orientierung. Zugleich ist sie die jüngste einer Reihe vorzüglicher Anthologien über die Erwachsenen- und postformale Entwicklung, deren erste wohl Beyond Formal Operations war, herausgegeben von Michael L. Commons, Francis A. Richards und Cheryl Armon. Dieses 1984 erschienene Werk war und ist bahnbrechend und in jeder Hinsicht hervorragend. Einige weitere wichtige Anthologien habe ich in einer Endnote zusammengetragen.5 Alle diese Werke sind ein klarer Hinweis darauf, dass das Feld der Psychiatrie und Psychologie mehr und mehr bereit zu sein scheint, von einer postkonventionellen zu einer eigenen postpostkonventionellen Welle des Gewahrseins überzugehen, was man nur als gutes Zeichen betrachten kann. 4. Bryan Wittines Rezension von Eros, Kosmos, Logos in The Journal of Transpersonal Psychology (1995, 27, 2) fand ich tiefsinnig, ausgewogen, fair und scharfsichtig. Im Rahmen seiner grundsätzlichen Zustimmung hatte er auch einige Kritikpunkte, u. a. denjenigen, dass ich eine zu streng geschichtete Auffassung von Entwicklung mit scharf voneinander getrennten
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Ebenen vorlegen würde. Dies ist natürlich nicht zutreffend (siehe Kapitel 9 und 10), aber ich kann verstehen, dass ein Kritiker anhand meiner kurzen Zusammenfassung in Eros, Kosmos, Logos diesen Eindruck bekommen konnte. Wittines zweite Kritik betraf meine Behandlung Jungs und der Archetypen. Auch hier wiederum kann ich verstehen, dass er anhand der kurzen Zusammenfassung, die ich in Eros, Kosmos, Logos gab, zu bestimmten Auffassungen gelangen konnte. Das Problem liegt darin, dass Jung und seine Anhänger "Archetypus" auf drei verschiedene Weisen benutzen, die jeweils mit unaufhebbaren Schwierigkeiten behaftet sind. Die erste und häufigste Bedeutung ist "archaisches Bild". Dies war Jungs älteste Formulierung, die auch heute noch vorherrschend ist und vor allem in der mythopoetischen Bewegung, der Männerbewegung und in der Volkspsychologie gebräuchlich ist. Diese kollektiv im Unbewussten vorhandenen archaischen Bilder waren für Jung ein phylogenetisches Erbe, "die Anschauung des Instinktes von sich selbst". Jung glaubte, dass ein besonders reicher Fundus dieser Archetypen in den Mythologien der Welt vorhanden sei (weshalb ihn auch seine ersten Kritiker der "Mythomanie" ziehen). Diese archaischen mythischen Bilder waren nichtrational, weshalb Jung sie für eine unmittelbare Quelle spirituellen Gewahrens hielt. Vor diesem Hintergrund ist seine Aussage zu verstehen, dass "Mystik Erfahrung der Archetypen" sei. Legt man diese Bedeutung zugrunde, ist Jung ganz entschieden Opfer der Prä/trans-Verwechslung. Er differenziert nicht klar genug zwischen prärationalen und transrationalen Sachverhalten und erhebt daher prärationale Infantilismen einfach deshalb, weil sie nichtrational sind, zu spiritueller Wesensschau. Diese Verwendung von "Archetypus" habe ich, weil sie nach wie vor am häufigsten mit Jungs Namen in Verbindung gebracht wird, am stärksten kritisiert. Nach dieser Auffassung sind die Archetypen phylogenetisch und ontogenetisch in den Anfangsphasen der Evolution vorhanden. Ich habe darauf hingewiesen, dass man solche archaischen Bilder daher besser als "Prototypen" statt als "Archetypen" bezeichnen sollte, weil sie prärationale, magische und mythische Formen, keine subtilen, transrationalen und post-postkonventionellen Formen sind (in welcher Weise sie in der Philosophia perennis von Plotin über Garab Dorje und Asanga bis Vasubandhu verwendet werden).6 Jungs zweite Verwendung des Archetypus war erheblich weiter gefasst; ihr zufolge waren Archetypen einfach kollektiv ererbte "Formen ohne Inhalt". In Das Atman-Projekt zitiere ich Jung in diesem Sinne, und ich verweise darauf, dass, wenn dies unsere Definition von Archetypus sein soll, alle Tiefenstrukturen einer jeden Ebene des Spektrums des Bewusstseins (mit Ausnahme der formlosen) als "archetypisch" bezeichnet werden können,
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womit ich durchaus einverstanden bin. Nur hat dies dann überhaupt nichts mehr mit archaischen Bildern zu tun. Diese Verwendung von "Archetypus" als Tiefenstruktur ohne Inhalt möchte Wittine rehabilitieren: "Für mich sind Archetypen angeborene strukturelle Prädispositionen, die nur als Ordnungsprinzipien, aber niemals als spezifische Inhalte definiert werden können." Wittine sagt, dass ich diese Verwendung nicht kennen würde, was, wie oben gezeigt, nicht zutrifft. Ich verweise einfach darauf, dass diese Definition mit Jungs erster und häufigster Verwendung in keiner Weise zusammenstimmt. Wenn Wittine sich an diese Definition halten möchte, ist dies völlig in Ordnung, aber dann muss sie mit äußerster Sorgfalt gegenüber der ersten Verwendung abgegrenzt werden, um die Prä/trans-Verwechslung zu vermeiden. Für mich war die jungianische Literatur diesbezüglich wenig hilfreich. Die dritte Verwendung von "Archetypus" durch Jung und seine Anhänger bewegt sich mehr auf der Ebene der Philosophia perennis, für die Archetypen die ersten Formen der Evolution sind. Die ganze manifeste Welt entsteht aus dem Formlosen (oder dem kausalen Abgrund). Auf den ersten entstehenden Formen ruhen alle anderen, weshalb sie "Arche-Formen" oder Archetypen sind. Nach dieser Verwendung sind die Archetypen die höchsten Formen unserer eigenen Möglichkeiten, die tiefsten Formen unseres eigenen Potentials – aber auch die letzten Schranken gegenüber dem Formlosen und Nichtdualen. Als die ersten und frühesten Formen der Involution oder Manifestation (oder Bewegung weg vom kausalen Ursprung) sind die Archetypen auch die letzten (und höchsten) Formen der Evolution oder Rückkehr zum Ursprung. Als Formen unmittelbar an der Schwelle zum Formlosen sind sie die ersten Formen, die die Seele annimmt, wenn sie sich im Antlitz der Unendlichkeit zusammenzieht und ihre eigene wahre Natur verbirgt; aus eben demselben Grund sind sie aber auch die höchsten Leitsterne auf dem Weg zurück zum Formlosen und die letzte Grenze, die an der Schwelle einer strahlenden Unendlichkeit dekonstruiert werden muss.7 (Und ich möchte hinzufügen: Weil diese Archetypen die ersten Formen der frühen Involution sind, sind sie mehr oder weniger das genaue Gegenteil von archaischen Bildern: Diese zählen zu den ersten Formen, die in der frühen Evolution entstehen, und dies ist ein weiterer Grund, warum ihre Verwechslung zu so schweren theoretischen Problemen geführt hat.)8 Jung und die Jungianer benutzen gelegentlich "Archetypus" in diesem "höheren" Sinne, aber selbst dann bleibt die Diskussion recht blutleer. Ich glaube, dass Hameed Ali die Problematik kurz und schmerzlos auf den Punkt gebracht hat: "Jung kam der Essenz [des hohen Archetypus] und ihren verschiedenen Manifestationen sehr nahe, aber er blieb auf der Ebene der Imagination. Deshalb blieb es ihm versagt, die [archetypische] Essenz zu
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erkennen und zu erleben, und seine Psychologie bleibt ein geistiges Konstrukt, das mit der konkreten Anwesenheit der Essenz nichts zu tun hat."9 Es gibt also drei verschiedene Verwendungen von "Archetypus" bei Jung und den Jungianern, und alle drei sind, wie ich glaube, problematisch. Es gibt die archaischen Bilder, aber sie haben wenig oder gar nichts mit einer postpostkonventionellen Entwicklung zu tun. Archetypen als inhaltslose Tiefenstrukturen könnte man akzeptieren, doch steht diese Auffassung ganz erheblich im Widerspruch zur ersten Verwendung (so hat z. B. die formaloperationale Stufe eine Tiefenstruktur und ist in diesem Sinne "archetypisch", aber man kann das Formal-operationale nicht in archaischen Bildern finden), und wie sich dieser Begriff später bei den Jungianern entwickelt hat, scheint mir wenig hilfreich zu sein. Archetypus schließlich als "hoher Archetypus", im Sinne von Ausprägungen des Feinstofflichen (der ersten Formen in der Involution, der letzten Formen in der Evolution), ist ebenfalls akzeptabel, doch finde ich hier die jungianische Verwendung mit Ali zu blutleer. Letztlich aber ist der Jungsche Archetypus in allen drei Bedeutungen einfach zutiefst monologisch (siehe Anmerkung 3 zu Kapitel 7). Aus all diesen Gründen halte ich den jungianischen Ansatz, so bahnbrechend er war, im Rahmen der transpersonalen Studien der dritten Welle nicht für sonderlich hilfreich. Natürlich ist es immer möglich, den jungianischen Weg exemplarisch zu gehen, indem man seine Stärken nutzt, um seine Schwächen zu überwinden. Ein Beispiel hierfür ist Bryan Wittine, und man könnte viele weitere nennen. Dennoch darf man, wie ich heute glaube, dem jungianischen Licht nicht unbedacht folgen. 5. Ende der siebziger Jahre wurde die von Roberto Assagioli entwickelte Psychosynthese zu einem sehr beliebten System der spirituellen Psychologie und Therapie. Assagioli war ein außerordentlicher Pionier der transpersonalen Studien, der das Beste aus vielen psychologischen und spirituellen Traditionen zu einem äußerst effektiven Ansatz zu innerem Wachstum zusammenfügte. Unter anderem war er einer der ersten, die eine Integration von "Tiefenpsychologie" und, wie er es nannte, "Höhenpsychologie" und eine Zusammenführung von "Psychoanalyse" mit "Psychosynthese" forderten. Dennoch büßte die Psychosynthese aus verschiedenen Gründen an Einfluss ein.10 Seither habe ich mich immer gefragt, wann es wieder einen populären und doch stimmigen Ansatz in der Psychologie und Therapie geben würde, der Tiefen- und Höhenpsychologie miteinander verbinden könnte, und es scheint inzwischen ein solches System zu geben: Den "Diamond Approach" von Hameed Ali. Eine ausführliche Erörterung dieses Ansatzes soll einer Endnote vorbehalten sein.11 Hier soll lediglich gesagt sein, dass Hameeds System für mich eine vorzügliche Kombination einiger der besten modernen westlichen Psychologien mit alter spiritueller Weisheit ist. Es gehört zu den integraleren
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Ansätzen, die Aufstieg und Abstieg, Spiritualität und Psychologie zu einem zusammenhängenden und effektiven Verfahren der inneren Arbeit verbinden. Bei solchen populäreren Bewegungen hängt immer sehr viel davon ab, welche Menschen sich zu dem jeweiligen Ansatz hingezogen fühlen. Die Psychosynthese verlor u. a. deshalb an Boden, weil sie zwar eine im ganzen schlüssige Theorie war, aber die Ent-Identifizierung betonte, was in der Praxis viele dissoziative Leute anzog, sozusagen Patienten, die in manchen Fällen die Klinik übernahmen. Der Diamond Approach scheint sich bisher zu bewähren und erhielt von vielen Seiten hohes Lob, unter anderem von meinen nicht so leicht zu beeindruckenden Freunden Larry Spiro und Tony Schwartz. Zum Zeitpunkt, zu dem ich dies schreibe, kann ich den Diamant-Ansatz als die wohl ausgewogenste der allgemein verfügbaren spirituellen Psychologien/Therapien empfehlen. Man muss einfach abwarten, welche Kräfte sichtbar werden, wenn sich dieser im großen und ganzen homogene Ansatz zu einer großen, einflussreichen Organisation entwickelt: Wen er anziehen wird, welches Schicksal er haben wird, welche Kräfte freigesetzt werden, wenn er in die allgemeine Kultur eindringt. Vorläufig jedenfalls kann man die Tatsache, dass ein therapeutisches Wachstumssystem von solcher psychologischen Tiefe und transpersonalen Höhe in der allgemeinen Kultur Achtung und Wirkung erlangen kann, als Zeichen für die post-postkonventionellen Wellen betrachten, die langsam, aber stetig an unsere kollektiven Ufer schlagen.
Der idealistische Traum Einige Rezensenten haben Eros, Kosmos, Logos als idealistische Abhandlung eingestuft. Ich kann es verstehen, dass sie zu einer solchen Auffassung gelangt sind (schließlich haben Rezensenten nicht unbegrenzt Zeit für ein Buch, schon gar nicht für eines mit 800 Seiten). Aber obwohl ich gewiss große Sympathien für das idealistische Projekt habe, gehöre ich doch nicht im strengen Sinne zu diesem Lager. In Eros, Kosmos, Logos äußere ich große Wertschätzung für die Idealisten, insbesondere Schelling, weil diese zu den ersten zählten, die eine moderne Form von Spiritualität zu formulieren versuchten, das heißt eine transpersonale Philosophie, die die Weltsicht der Moderne einschließlich Entwicklung und Evolution berücksichtigt, was bis dahin praktisch noch keine spirituelle Sichtweise getan hatte (und was traditionelle spirituelle Ansätze nach wie vor in einer verheerenden Weise vernachlässigen). Evolution als "GEIST-in-Aktion" ist einfach eine von vielen
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idealistischen Grundaussagen, die ich mit gewissen Abänderungen gerne übernommen habe. Aber ich verweise zugleich auf zwei schwere Mängel, die den typischen idealistischen Ansatz letztlich zum Scheitern verurteilen: Er besitzt keine Injunktionen, kein Paradigma, keinen Yoga, und er neigt dazu, Schau-Logik mit GEIST gleichzusetzen. Dies sind sehr wesentliche Punkte, denn sie machen zugleich deutlich, in welcher Richtung ein Weg aus der idealistischen Sackgasse gesucht werden muss. "Fehlende Injunktionen" heißt, dass keine echte Methode vorhanden ist, um transpersonale Erkenntnisse zu reproduzieren. Die großen idealistischen – und "spirituellen" – Philosophen wie Spinoza, Schelling, Fichte, Hegel, Nietzsche, Schopenhauer, Whitehead und James hatten sehr wahrscheinlich verschiedene tiefe "Gipfelerfahrungen", in denen sie einen Blick auf die transpersonalen (oder post-postkonventionellen) Wellen des Gewahrseins erhaschen konnten. Aber eine Gipfelerfahrung ist kein reproduzierbarer Modus des Erkenntnisgewinns. Die Gipfelerfahrung muss von der PlateauErfahrung abgelöst werden und diese von einer permanenten Anpassung, wenn die Erkenntnisse dieser Entwicklungsebene verifizierbar/falsifizierbar sein und so wirklich in den Strom gültiger Erkenntnis eintreten sollen. Mit anderen Worten, von einem echten kognitiven Status kann erst die Rede sein, wenn diese vorübergehenden Bewusstseinszustände in stabile und dauerhafte Bewusstseinsmerkmale oder -Strukturen verwandelt sind. Und genau dies ist etwa die Rolle und Funktion des Yoga: Eine langfristige Praxis, eine Injunktion, ein Musterbeispiel oder ein Paradigma, das als Fundament aller echten transpersonalen Erkenntnis dient. Keiner der oben genannten Philosophen besaß etwas, das man als solche stabile transpersonale Praxis oder als ein solches Paradigma bezeichnen konnte, weshalb alle ihre Auffassungen bald zu einer bloßen Metaphysik verkamen (wobei ich hier Metaphysik im Sinne eines Denksystems ohne Grundlage in der Erfahrung gebrauche). Wenn man sich aber echtem Yoga (einer transpersonalen Injunktion und Praxis) widmet und wenn das Bewusstsein durch eine fortschreitend sich entwickelnde Strukturierung wächst, evolviert und an Kraft gewinnt, dann wird es in allen vorkommenden Zuständen immer mehr "wach" bleiben. In den fortgeschrittenen Wellen der spirituellen Übung bleibt das Selbst im Wachen, im Traum und im Tiefschlaf voll bewusst ("Subjektpermanenz") und wird schließlich dasjenige erkennen, was unter allen möglichen Zustandsänderungen gleich bleibt. Mit anderen Worten, es wird das Wandellose, das Zeitlose, das Raumlose erkennen, es wird sein eigenes ursprüngliches Antlitz, seine eigene ursprüngliche Natur, die allgegenwärtige Leerheit erkennen oder wiedererkennen, in der alle Zustände entstehen, eine Weile bestehen bleiben und wieder vergehen. Gottesbewusstsein ist dann
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nicht mehr nur ein wandelbarer Zustand, sondern ein dauerhafter Wesenszug, und es ist nicht mehr nur eine philosophische Idee, sondern eine unmittelbare und reproduzierbare Erkenntnis. Sosehr also alle diese Philosophen meine Sympathien haben, so kann man mich doch nicht als einen von ihnen betrachten. Was der postmoderne Westen hervorzubringen versucht, ist, wie ich meine, ein postempirischer, postidealistischer Yoga. Seit Kant müssen wir einsehen, dass nicht Metaphysik als solche, wohl aber eine Metaphysik ohne unmittelbare Erfahrung sinnlos ist. Direkte transpersonale Erfahrung aber beruht auf echten transpersonalen Praktiken, Paradigmen und Injunktionen, die die Reiche post-postkonventioneller Erfahrung enthüllen; diese allein kann die Grundlage einer verifizierbaren spirituellen Erkenntnis schaffen und so die idealistische Verheißung in Erfüllung gehen lassen, indem sie deren beschränkten Ansatz überwindet.
Eine integrale Theorie des Bewusstseins Ein erster Schritt zu einer echten Theorie des Bewusstseins ist die Einsicht, dass das Bewusstsein seinen Sitz nicht im Organismus hat. Bewusstsein entsteht vielmehr aus den vier Quadranten, und es existiert, wenn es denn überhaupt existiert, über alle vier Quadranten verteilt, in denen es jeweils in gleicher Weise verankert ist.12 In jüngster Zeit hat das Interesse an der Entwicklung einer "Wissenschaft des Bewusstseins" explosionsartig zugenommen. Zu den Hauptansätzen innerhalb dieser neuen Strömung zählen folgende: 1. Kognitionswissenschaft, für die Bewusstsein in Funktionsschemata des Gehirns/Denkens verankert ist, sei es als einfache Repräsentation (wie z.B. Jackendoffs "Computer-Geist"), sei es in den komplexeren Emergenz-/konnektivistischen Modellen, denen zufolge Bewusstsein aus hierarchisch integrierten Netzwerken emergiert. Derzeit ist wohl das Emergenz-/konnektivistische Modell das vorherrschende Modell der Kognitionswissenschaft; Alwyn Scott hat es in seinem Stairway to the Mind (Treppe zum Geist) sehr gut zusammengefasst, wobei die "Treppe" die Hierarchie von Emergenzen ist, die im Bewusstsein kulminieren. 2. Der Introspektionismus behauptet, dass man Bewusstsein am besten aus der Position der ersten Person verstehen könne, aus einer Prüfung und Interpretation unmittelbaren Gewahrens und erlebter Erfahrung, nicht aus einer objektivistischen Position der dritten Person, wie
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"wissenschaftlich" auch immer diese erscheinen mag. Hierzu gehören introspektive Psychologie, Existentialismus und Phänomenologie. Für die Neuropsychologie ist Bewusstsein in neuralen Systemen, Neurotransmittem und organischen Gehirnmechanismen verankert. Im Gegensatz zur Kognitionswissenschaft, die oft auf Informatik basiert und entsprechend wenig darüber zu sagen weiß, wie das Bewusstsein mit den organischen Gehirnstrukturen zusammenhängen soll, geht die Neuropsychologie mehr von den biologischen Grundlagen aus. Für sie ist Bewusstsein intrinsisch in neuralen Organsystemen genügender Komplexität vorhanden. Die individuelle Psychotherapie setzt die introspektive und interpretative Psychologie zur Behandlung psychischer Erkrankungen und emotioneller Probleme ein; für sie ist daher Bewusstsein vor allem in den Anpassungsfähigkeiten eines Organismus vorhanden. Für die Sozialpsychologie ist Bewusstsein in Netze kultureller Bedeutung eingebettet oder alternativ weitgehend ein Nebenprodukt des Gesellschaftssystems selbst. Hierzu zählen so unterschiedliche Ansätze wie der ökologische, der marxistische, der konstruktivistische und die Kulturhermeneutik. Die klinische Psychiatrie konzentriert sich auf den Zusammenhang zwischen Psychopathologie, Verhaltensmustern und Psychopharmakologie; sie deutet Bewusstsein zunehmend neurophysiologisch: Bewusstsein hat seinen Sitz im Nervensystem. Die Entwicklungspsychologie betrachtet Bewusstsein nicht als einzelne Entität, sondern als Entwicklungsprozess mit verschiedenen Wachstumsstufen, die sich jeweils durch eine wesentlich andere Architektur auszeichnet. In seinen avantgardistischeren Formen schließt dieser Ansatz auch höhere Stufen außerordentlicher Entwicklung und außerordentlichen Wohlbefindens sowie das Studium von Begabungen und außergewöhnlichen und Supranormalen Fähigkeiten ein, die als in allen Menschen veranlagte höhere Entwicklungspotentiale betrachtet werden. Hierzu zählen höhere Stufen kognitiver, affektiver, somatischer, moralischer und spiritueller Entwicklung. Für die psychosomatische Medizin ist Bewusstsein eng und unauflöslich mit organischen Körperprozessen verbunden; hierfür stehen etwa Gebiete wie die Psychoneuroimmunologie und Biofeedback. In den fortgeschritteneren Formen umfasst dieser Ansatz Bewusstseins- und Wunderheilung, die Wirkungen von Gebet bei bemerkenswerten Genesungen, Heilung mit Licht und Klängen, spontane Remission usw. Hierher gehören weiterhin all jene Ansätze, die sich mit den Wirkungen des Willens auf die Heilung befassen, von Kunsttherapie über Visualisierung und Psychotherapie bis zur Meditation.
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9. Außergewöhnliche Bewusstseinszustände von Träumen bis zur Anwendung psychedelischer Mittel bilden ein Fachgebiet, das seinen Vertretern zufolge für ein Verständnis des Bewusstseins im allgemeinen von entscheidender Bedeutung ist. Wiewohl etwa die Wirkungen von psychedelischen Drogen – um ein kontroverses Beispiel zu geben – zweifellos auf toxischen Nebenwirkungen beruhen, besteht auf diesem Forschungsgebiet Einhelligkeit darüber, dass sie auch als "unspezifische Erfahrungsverstärker" wirken und daher Aspekte des Bewusstseins aufdecken können, die man anderenfalls nicht studieren könnte. 10. Die östlichen und kontemplativen Traditionen behaupten, dass das gewöhnliche Bewusstsein nur eine enge und begrenzte Version tieferer oder höherer Bewusstseinsmodi ist und dass spezifische Injunktionen (Yoga, Meditation) notwendig sind, um diese höheren Potentiale verwirklichen zu können. 11. Für die Ansätze eines, wie man es nennen könnte, QuantenBewusstseins hat Bewusstsein die Fähigkeit, auf die physische Welt einzuwirken und diese zu verändern, und zwar in der Regel durch Quanten-Interaktionen sowohl im menschlichen Körper auf der intrazellulären Ebene (z. B. Mikrotubuli) als auch in der weiteren materiellen Welt (Psi). Hierzu gehören auch die vielfältigen Versuche, das Bewusstsein anhand verschiedener avantgardistischer physikalischer Theorien in der physischen Welt festzumachen (Bootstrapping, Überraum, Stringtheorie). 12. Forschungen bezüglich subtiler Energien postulieren und haben in einigen Fällen anscheinend gezeigt, dass es subtilere Formen von Bioenergie jenseits der vier anerkannten physikalischen Kräfte gibt (starke und schwache Kernkraft, elektromagnetische Kraft, Gravitationskraft) und dass diese subtileren Energien eine entscheidende Rolle für das Bewusstsein und seine Aktivität spielen. Diese Energien, die die Traditionen als Prana, Ki oder Qi bezeichnen – und die u. a. für die Wirksamkeit der Akupunktur verantwortlich sein sollen, um nur ein Beispiel zu geben –, gelten oft als das "fehlende Glied" zwischen dem intentionalen Geist und dem physischen Körper. Für die Theoretiker der Großen Kette in Ost und West wirkt diese Bioenergie als ZweiwegeFörderband, das die Wirkungen der Materie auf den Geist überträgt und die Absichten des Geistes der Materie einprägt. Wenn der Leser jetzt vermutet, dass ich all diesen Ansätzen eine gleich wichtige Rolle für eine integrale Auffassung von Bewusstsein zubilligen werde, dann ist dies völlig richtig. Ein Ansatz, der alle Ebenen und alle Quadranten berücksichtigen will, findet in all diesen Richtungen spezifische und bedeutsame Wahrheiten. Aber es ist nicht so, dass wir es einfach mit
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einem gegebenen Phänomen namens "Bewusstsein" zu tun hätten, welches diese verschiedenen Ansätze jeweils nur aus einem unterschiedlichen Blickwinkel betrachten. Vielmehr ist es so, dass Bewusstsein über alle vier Quadranten mit ihren verschiedenen Ebenen und Dimensionen verteilt ist. Es gibt nicht nur einen Quadranten (und gewiss nicht nur eine Ebene), auf den man zeigen und sagen könnte: Da ist das Bewusstsein. Bewusstem ist nicht in einer solchen Weise lokalisiert. Es ist richtig, dass der obere linke Quadrant der Ort des Bewusstseins ist, wie es in einem Menschen erscheint, aber dies ist der springende Punkt: wie es in einem Menschen erscheint. Das Bewusstsein als ganzes ist trotzdem in allen Quadranten verankert und über diese verteilt, dem intentionalen, dem verhaltensmäßigen, dem kulturellen und dem sozialen. Wenn man einen Quadranten "auslöscht", verschwinden alle Quadranten, weil jeder für die Existenz der anderen unabdingbar notwendig ist. Es trifft also durchaus zu, dass das Bewusstsein im physischen Gehirn verankert ist, wie es die Theorien 1, 3, 6 und 8 behaupten. Aber das Bewusstsein ist ebenso in der inneren Intentionalität verankert (Theorie 2, 4, 7, 10 und 11), einer Intentionalität, die physikalisch oder empirisch nicht erklärt und enthüllt werden kann. Ebenso kann das Bewusstsein auch nicht endgültig im Individuellen (sei es oben links oder oben rechts oder beides) lokalisiert werden, weil es ebenso vollständig in kultureller Bedeutung (den intersubjektiven Ketten kultureller Signifikate) verankert ist, ohne die es kein individualisiertes Bewusstsein geben kann. Ohne diesen Hintergrund kultureller Praktiken und Bedeutungen können sich individuelle Intentionen überhaupt nicht entwickeln, wie die gelegentlichen Fälle von "Wolfskindern" zeigen. So wenig es eine private Sprache gibt, so wenig gibt es ein streng individuelles Bewusstsein. Es ist nicht möglich, Bedeutung im luftleeren Raum zu erzeugen; ebenso wenig kann man sie nur mit einem physischen Gehirn erzeugen, sondern nur in einem intersubjektiven Kreis gegenseitiger Anerkennung. Physische Gehirne, die in der Wildnis aufgezogen werden (Stichwort Wolfskind), bringen weder persönliche Autonomie noch sprachliche Kompetenz hervor, woraus ganz einfach folgt, dass das physische Gehirn als solches nicht der autonome Sitz des Bewusstseins sein kann. Ebenso ist Bewusstsein auch in die materiellen sozialen Systeme eingebettet, in denen es sich vorfindet, und über diese verteilt. Nicht Ketten kultureller Signifikate, sondern Ketten sozialer Signifikanten bestimmen die jeweiligen Konturen spezifischer Manifestationen des Bewusstseins, und ohne die materiellen Bedingungen des sozialen Systems können sich weder ein individualisiertes Bewusstsein noch persönliche Integrität herausbilden. Kurz, wenn man einen dieser Quadranten, den intentionalen, den verhaltensmäßigen, den kulturellen oder den sozialen herausnimmt, zerstört
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man jegliches manifeste Bewusstsein. Und dies bedeutet schlicht und einfach, dass das Bewusstsein in keinem dieser Bereiche seinen ausschließlichen Sitz hat. Bewusstsein sitzt nicht nur im physischen Gehirn, nicht nur im Ökosystem, nicht nur im kulturellen Kontext, und es emergiert auch nicht aus einem dieser Bereiche. Es ist vielmehr in allen diesen Bereichen mit ihren jeweiligen Ebenen verankert und über diese verteilt.13 Methoden, die uns also eine "Theorie des Bewusstseins" anbieten, aber nur einen Quadranten (oder vielleicht gar nur eine Ebene eines Quadranten) heranziehen, liefern daher keinesfalls eine angemessene Darstellung des Bewusstseins. Nur ein Ansatz, der alle Quadranten und alle Ebenen berücksichtigt, kann zu einer authentischen Theorie des Bewusstseins führen, wenn es ein solches überhaupt gibt.
Radikale Ökologie Michael Zimmermans Aufsatz "A Transpersonal Diagnosis of the Ecological Crisis" ist eine tiefschürfende Rezension von Eros, Kosmos, Logos. Wie üblich bin ich mit Zimmermans Darstellung sehr weitgehend einverstanden, und ich nutze wiederum gern die Gelegenheit, meine Anerkennung für die Klarheit, Sorgfalt und Geistesschärfe auszusprechen, die er stets auf seine Arbeiten verwendet. Glänzend sind seine Darstellungen Heideggers (Eclipse of the Seif und Heidegger's Konfrontation with Modernity) und sein eigenes Contesting
Earth's Future. Zimmerman sagt vor allen Dingen, dass Eros, Kosmos, Logos, was auch immer man im Detail dagegen einwenden mag, eine echte transpersonale Ökophilosophie darstellt, einen Ansatz, der zugleich die meisten der herkömmlichen Ökophilosophien (einschließlich Tiefenökologie und Ökofeminismus) in Frage stellt. Zimmerman setzt sich insbesondere mit einer der zentralen Aussagen von Eros, Kosmos, Logos auseinander, dass nämlich die Biosphäre Teil der Noosphäre ist und nicht umgekehrt, und er sagt, dass eine solche Aussage den meisten Ökophilosophien den Boden entzieht, nicht ohne zugleich eine echte transpersonale Alternative anzubieten. Im Rahmen dieser allgemeinen Zustimmung erhebt Zimmerman auch einige Einwände. Insbesondere glaubt er, dass ich die heutigen Schulen der Ökophilosophie in Eros, Kosmos, Logos zu kurz und manchmal zu pauschal abhandle. Nun weiß aber Zimmerman, dass Band 2 einer ausführlichen und differenzierten Erörterung der wichtigsten Schulen dieser vielgestaltigen Bewegung gewidmet ist (u.a. dem Werk von Fox, Naess, Swimme, Beny, Warren, Eckersley, Merchant, Spretnak, Bookchin u.a.). Und Zimmerman weiß auch aus persönlicher Korrespondenz, dass ich sein großartiges
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Contesting Earth's Future als vorzügliche Quelle benutzt habe und dass ich sehr weitgehend mit den sehr relevanten Auffassungen übereinstimme, die er dort vorbringt. Und doch behauptet Zimmerman, meine Darstellung der Ökophilosophen in Eros, Kosmos, Logos sei gelegentlich verzerrt und verfälschend. Er meint, ich würde den tieferen Aspekten der Ökophilosophie nicht gerecht und würfe sie alle auf üble Weise in einen Topf. Ich sehe dies anders, und ich glaube, dass Band 2 dies in umfassender Weise klarstellen wird. Als Beispiel für meine angeblich verfälschende Darstellung führt Zimmerman meine Behandlung des Werks von Arne Naess an, dessen Philosophie für ihn mit den großen nichtdualen Traditionen des MahayanaBuddhismus und des Advaita-Vedanta im Einklang steht (wie dies auch Naess selbst behauptet). Aber eine solche "Ähnlichkeit" oder "Verträglichkeit" ergibt sich meiner Meinung nach nur bei oberflächlichster und seichtester Betrachtungsweise. In Band 2 werde ich auf 50 Seiten eine ausführliche Analyse von Naess' "Ökosophie T" geben, die für mich den großen nichtdualen Traditionen in fast jeder Hinsicht weit hinterherhinkt. Bei seinen Versuchen, die Ähnlichkeiten aufzuzeigen, lässt Naess selbst die einfachsten und wichtigsten Elemente unberücksichtigt, zum Beispiel den Begriff der Einheit in der Vielfalt, ein ganz wesentliches Merkmal der nichtdualen Erkenntnis. Es kommt einer Bankrotterklärung gleich, wenn Naess sagt: "Die Erweiterung und Vertiefung der individuellen Selbste macht sie irgendwie doch nie zu einer homogenen Masse ... wie man dies genauer darstellen könnte, weiß ich nicht (Hervorhebungen von ihm)."14 Wenn wir dies genauer darstellen werden (nämlich in Band 2), dann werden sich die Ähnlichkeiten in Luft auflösen. Ich werde zeigen, wie bei den Vertretern aller anderen bedeutenden Ökophilosophien genau dieselben Probleme bestehen, und auch ihre "Verträglichkeit" mit den nichtdualen Traditionen wird als weitgehend oberflächlich entlarvt werden. Die allgemeinen Aussagen, die ich in Eros, Kosmos, Logos über Ökofeminismus, Tiefenökologie und die Ökophilosophien im allgemeinen mache, sind also keineswegs verzerrt oder zu pauschal, sondern beruhen vielmehr auf einer tiefen Analyse, die deutlich macht, dass diese sämtlich in einer massiven Flachland-Orientierung befangen sind; Band 2 wird zeigen, dass mein Befund auch in dieser Schärfe gerechtfertigt ist. Dies sind keine wahllosen Verallgemeinerungen: Es ist die Zusammenfassung einer Reihe sehr spezifischer und ausführlicher Analysen. In einer seltsamen Anwandlung von political correctness um ihrer selbst willen deutet Zimmerman an, dass alle "großen Bilder" zu einer Totalisierung verleiten, die notgedrungen soziale Unterschiede marginalisieren. Eros, Kosmos, Logos ist nun ein großes Bild – könnte es nicht ebenfalls marginalisieren? 275
In der Tat sind manche "totalisierenden" Vorgehensweisen marginalisierend; andere bieten aber doch deutlich andere Anreize. Mein "großes Bild" tut explizit folgendes: Es verweist auf einige Bereiche der Theorie und Forschung, die man sich vielleicht näher ansehen sollte. Ich versuche keineswegs, alle Unterschiede zu einem monologischen Einheitsbrei zu pürieren, was ich ausdrücklich erläutere. Ich wende mich ganz klar gegen eine solche Vorgehensweise. Mein "großes Bild" ist vielmehr eine explizite Einladung zu einer umfassenderen Sichtweise, die Forscher gerade einlädt, eine Marginalisierung zu vermeiden, die sie sonst begehen könnten. Mein Ansatz lässt das Ergebnis offen; er nimmt das Ergebnis nicht vorweg, und er ist keine begriffliche Zwangsjacke. "Große Bilder" mit "offenem Ende" sind nicht zwangsläufig entfremdend. Und es wird immer deutlicher, dass Kritiker wie Lyotard oder Rorty, die gegen Meta-Erzählungen und große Bilder zu Felde ziehen, sich dabei in einen schweren inneren Widerspruch begeben. Wenn man sie fragt, warum große Bilder weder wünschenswert noch überhaupt möglich seien, dann bekommt man als Antwort ein sehr großes Bild, warum große Bilder nicht funktionieren. Auf diesen inneren Widerspruch haben schon Theoretiker von Charles Taylor bis Quentin Skinner, von Gellner bis Habermas hingewiesen. Karl-Otto Apel ist nur der letzte in dieser Reihe, wenn er sagt: "Rorty selbst bestätigt diese Struktur durch die Geltungsansprüche jedes einzelnen seiner Argumente gegen alle universellen Geltungsansprüche der Philosophie. So bringt er am Ende die neuartige rhetorische Figur eines fortwährenden performativen Widerspruchs hervor."15
Den spirituellen Baum schütteln Robert McDermott wirft in seinem Aufsatz "The Need for Dialogue in the Wake of Ken Wilber's Sex, Ecology, Spirituality" die Frage auf, ob ein polemischer Diskurs je einem akademischen und insbesondere spirituellen Dialog angemessen sein könne. Am Ende seiner Erörterungen verwirft er Polemik nachdrücklich, vor allem mit dem Argument, dass sie nicht "spirituell" sei. Ich glaube aber, dass auch dies von einer armseligen und engen Auffassung des Geistes zeugt, von seinem Wesen und seinem Ort. McDermott stellt die Frage, ob die großen spirituellen Philosophen wie Aurobindo, James oder Plotin denn jemals polemisiert hätten. Die Antwort ist natürlich ein klares Ja. Die große Mehrzahl der spirituellen Philosophen haben sich zu irgendeinem Zeitpunkt in einen intensiven polemischen Diskurs hineinbegeben: Platon, Hegel, Kierkegaard, Nietzsche, Fichte, Schopenhauer, Schelling, Augustinus, Origenes, Plotin, um nur einige wenige zu nennen. Sie
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haben dies getan, weil ihnen, wie ich glaube, der Unterschied zwischen demjenigen geläufig war, was Chögyam Trungpa Rinpoche "Mitgefühl" und "Idiotenmitleid" nannte. Dies könnte die schwierigste Lektion sein, die das "politisch korrekte" Amerika wird lernen müssen, welches "Idiotenmitleid" – also die Preisgabe einer unterscheidungsfähigen Weisheit und den Verlust des moralischen Nervs, diese zum Ausdruck zu bringen – allzu oft mit "Spiritualität" gleichsetzt. Ich glaube vielmehr, dass wir diese spirituellen Philosophen deshalb bewundern, weil ihnen jedes "Idiotenmitleid" fremd war, weil sie alle die Courage hatten, nötigenfalls in scharfen Worten Stellung zu nehmen, laut und deutlich ihre Stimme zu erheben. Für allzu viele ist ein "Gewahrsein ohne Wahl" gleichbedeutend mit dem Verzicht auf Entscheidungen. Aber dies ist selbst wiederum eine Entscheidung. "Gewahrsein ohne Wahl" bedeutet vielmehr, dass man sowohl Urteilen als auch Nichturteilen auftauchen lässt, wie es den Umständen angemessen ist. Ich glaube, dass gerade dies der Grund dafür ist, warum so viele große spirituelle Philosophen zu einer so unglaublich intensiven Polemik gegriffen haben, wofür Plotin ein ausgezeichnetes Beispiel ist. Plotin hat die Astrologen so heftig angegriffen, dass Dante sich genötigt sah, die ganze Schar in den achten Kreis der Hölle zu schicken, und er geißelte unerbittlich die Gnostiker, die kein Recht hätten, "überhaupt vom Göttlichen zu sprechen". Auch ich glaubte einmal, dass jemand, der eine so heftige Polemik betreibt, nicht sonderlich erleuchtet sein könne. Ich weiß heute, dass es genau umgekehrt ist. Man glaubt, dass sich echte Spiritualität von den Niederungen der Polemik fernhalten müsse, während diese in Wirklichkeit oft sehr leidenschaftlich zu diesem Mittel greift, um ihre Fähigkeit, Tiefe zu beurteilen (das heißt ihre Fähigkeit zu unterscheidender Weisheit) zu demonstrieren. Plotins beißender und manchmal sarkastischer Angriff gegen die Astrologen und Gnostiker ist ein Musterbeispiel hierfür: Es waren politisch mächtige und unangenehme Leute, und es erforderte einigen Mut, ihnen zu sagen, dass sie kein Recht hätten, überhaupt vom Göttlichen zu sprechen. Wenn McDermott wirklich hinter seinen Aussagen stehen würde, dann hätte er zweifellos Plotin öffentlich verurteilt. Aber ob er nun dafür zu verurteilen ist oder nicht – jedenfalls hat Plotin aufrecht seine Meinung vertreten, und wir dürfen ihm hierfür dankbar sein. Darüber hinaus sagt Plotin nicht eines in der Öffentlichkeit und etwas anderes im Privaten: Man weiß genau, wo er steht. Die Frage ist also nicht, ob diese großen spirituellen Philosophen polemisch agierten, denn das taten sie; die Frage ist vielmehr, warum sie es taten. Wenn solche Weise zu scharfer Polemik greifen, dann mag es durchaus sein, dass darin manchmal bloß eine latente Neurose zum Ausdruck kommt; oft aber haben wir es mit dem ganzen Gewicht ihres umfassenden Urteils zu tun, das aus ihrem ganzen Wesen kommt, einem Schrei aus ihrem
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Herzen. Es bedarf keiner besonderen Anstrengung, erstere auszuagieren, aber es braucht gewaltigen Mut, aufzustehen und letzteres zu verkünden. Ebendies bewundere ich bei all den von mir erwähnten Weisen und Philosophen, die uns die ganze Kraft ihrer zusammenfassenden Urteile hinterlassen haben. Im Gegensatz zu McDermotts gewiss aufrichtig gemeinten, aber deplazierten Aussagen kommt eine solche Polemik nicht von diesseits, sondern von jenseits des Gleichmuts. Der eine Geschmack ist der Urgrund scharfer Urteile, nicht der Verzicht auf sie. Diese Leute sind keine Irren, die Vorurteile von sich geben, sondern eher das, was die Tibeter den rasenden Aspekt eines erleuchteten Gewahrseins nennen würden. McDermott teilt uns mit, dass er früher seine Urteile qualitativer Unterscheidungen und unterscheidender Weisheit öffentlich und nachdrücklich zu verkünden pflegte, dass er aber hierauf verzichtete, um ein besserer Administrator zu sein. Ich akzeptiere seine Entscheidung. Aber ich glaube, dass es eine Katastrophe wäre, wenn jeder auf dem transpersonalen Gebiet diese Haltung einnehmen und darauf verzichten würde, seiner unterscheidenden Weisheit Ausdruck zu geben.16 Viele sehen nur allzu deutlich, in welch betrüblichem Zustand sich unser Fachgebiet befindet. Oft wird privat darüber geredet. Ich höre es andauernd. Die Leute sind alarmiert über den reaktionären, antiprogressiven und regressiven Nebel, der sich zäh über das ganze Fachgebiet legt. Und doch sind die meisten von ihnen nicht bereit, für ihre Meinung öffentlich geradezustehen, weil die gegenkulturelle Polizei schon bereitsteht, sie scheinheilig zu verurteilen. Etwas weniger administratives Jonglieren und etwas mehr unterscheidende Weisheit, der mit gelegentlicher Polemik Nachdruck verliehen wird, wäre meiner Meinung nach genau das, was das ganze Fachgebiet heute brauchen könnte. Ich jedenfalls will nicht länger dabeisitzen und töricht grinsen, wenn die Tiefe versandet. Und wenn wir wieder zu mehr Aufrichtigkeit finden, wenn wir in der Öffentlichkeit das verkünden, was wir auch privat sagen, dann könnten wir vielleicht entdecken, dass spirituelles Bewusstsein scharfe Urteile einschließt, nicht ausschließt.
Der Punkt Omega Einigen Rezensenten zufolge vertrete ich die Meinung, dass wir einem Punkt Omega zustreben, einem Endpunkt in der manifesten Zeit, an dem der Geist sich als GEIST erkennt und wir alle in Licht aufgehen. Richtig ist daran, dass im einzelnen Menschen der GEIST als GEIST erwachen kann (die traditionelle
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Erleuchtung). Und richtig ist auch, dass dies in gewisser Weise ein Entwicklungs- und Evolutionsprozess ist. Bestimmte Entwicklungen bereiten den Weg für diese zeitlose Erkenntnis: Menschen und Steine sind gleichermaßen GEIST, aber nur der Mensch kann diese Tatsache erkennen, und zwischen dem Stein und dem Menschen liegt die Evolution. Dies ist der Hintergrund des buddhistischen Dankgebets "für diesen kostbaren menschlichen Körper": Nur in einem menschlichen Körper kann Erleuchtung erlangt werden. Dies ist weder Göttern noch Tieren noch Dämonen noch Engeln möglich: Nur mit diesem menschlichen Körper kann ich zu diesem leeren Urgrund erwachen, der in allen anderen fühlenden Wesen gleichermaßen gegenwärtig ist. Deshalb auch betonen Aurobindo und Murphy die Zukunft des Körpers, des kostbaren menschlichen Körpers. Und dieser menschliche Körper ist unter anderem ein Ergebnis der Evolution. Dies bedeutet, dass der GEIST das Vehikel für seine eigene Selbstverwirklichung evolutiv hervorgebracht hat. Weil der GEIST in diese und als diese Welt involviert ist, evolviert er mit dem und als GEIST bis zu dem Punkt, an dem der GEIST überbewusst sein eigenes ursprüngliches Antlitz erkennt. Die Möglichkeit dieser Erkenntnis ist ein Ergebnis der evolutiven Selbstentfaltung des GEISTES, und in diesem Sinne hat diese Erkenntnis einen ausgeprägten Entwicklungsaspekt. Aber dies ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Evolution vollzieht sich in der Welt der Zeit, des Raums und der Formen, während die ursprüngliche Natur des GEISTES letztlich zeitlos und formlos ist, vor der Welt der Evolution, aber nicht jenseits von dieser. Man findet den GEIST oder die Leerheit nicht dadurch, dass man irgendwann in der Zeit einen evolutiven Omega-Punkt erreicht, sondern dadurch, dass man aus dem Zyklus von Zeit und Evolution überhaupt heraustritt (beziehungsweise aufhört, sich in diesen zusammenzuziehen). Mit anderen Worten, ein bestimmtes Maß an Evolution ist notwendig, bevor man aus der Evolution, aus der Zeit heraustreten und in die Zeitlosigkeit eintreten kann: In jene schockierende (Wieder-) Erkenntnis seines eigenen wahren Selbst, jenes Selbst, das vor dem Urknall war, vor der zeitlichen Welt, das in diesem und jedem Augenblick ewig leuchtet, unberührt vom Zahn der Zeit und dem Taumel des Raums. Dein eigenes ursprüngliches Gewahrsein ist nicht der Omega-Punkt der Darbietung, sondern die Leerheit der Darbietung, die in alle Richtungen ausstrahlt, ganz jenseits dessen, was Zeit und Raum je für es tun könnten, und doch allen Raum und alle Zeit nur aus dem einen Grund umfassend, dass die Ewigkeit die Hervorbringungen der Zeit und die Unendlichkeit diejenigen des Raums liebt. Wenn man zu zählen lernt, braucht man nicht bis eine Million zu zählen, um es zu begreifen. Wenn man einmal die Leerheit zutiefst erkannt hat, braucht man nicht ihre unendlichen Darbietungen zu beobachten, um zu
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erwachen. Das Spiel wird in diesem ursprünglichen Erschauen ungeschehen gemacht, und es bleibt nichts als das Leuchten selbst, das im Gesang eines Zaunkönigs an einem klaren Frühlingsmorgen vollkommen deutlich wird. Im nächsten Kapitel wollen wir den großen nichtdualen Traditionen in dieses zeitlose, allgegenwärtige Gewahrsein folgen, das, wie es heißt, nichts weniger ist als der tatsächliche Ort des GEISTES selbst.
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Kapitel 12 Immer schon Die strahlende Klarheit allgegenwärtigen Gewahrseins Wo sollen wir den GEIST ansiedeln? Was können wir wirklich als heilig anerkennen? Wo genau ist der Seinsgrund? Wo ist dieses höchste Göttliche?
Die große Suche Die Erkenntnis der nichtdualen Traditionen ist kompromisslos: Es gibt nur GEIST, es gibt nur Gott, es gibt nur Leerheit in all ihrer strahlenden Herrlichkeit. All das Gute und all das Böse, das Beste und das Schlechteste, das Aufrechte und das Verkommene – alles und jedes ist – genau so, wie es ist –, eine überaus vollkommene Manifestation des GEISTES. Es gibt nichts als Gott, nichts als die Gottheit, nichts als den GEIST in allen Richtungen, und kein Sandkörnchen ist mehr oder weniger GEIST als alles andere. Diese Erkenntnis bringt die große Suche zu einem Ende, die den Kern der Empfindung eines getrennten Ich ausmacht. Das getrennte Ich ist letztlich eine Empfindung des Suchens. Wenn man in diesem Augenblick "sich selbst" fühlt, fühlt man letztlich eine kleine innere Anspannung oder Zusammenziehung, eine Empfindung des Ergreifens, Begehrens, Wünschens, Haben-Wollens, Nicht-Wollens, Zurückweisens – eine Empfindung der Anstrengung, eine Empfindung des Suchens. In ihrer höchsten Form wird diese Empfindung des Suchens zu einer großen Suche nach dem GEIST. Man möchte von seinem unerleuchteten Zustand (der Sünde, der Täuschung oder der Dualität) zu einem erleuchteten oder spirituellen Zustand gelangen. Man möchte von dem Ort, an dem der GEIST nicht ist, an den Ort gelangen, an dem der GEIST ist. Aber es gibt keinen Ort, an dem der GEIST nicht ist. Der GEIST ist an jeder Stelle des Kósmos gleichermaßen und ohne Einschränkung. Alles Suchen, alle Bewegung, alles Streben ist zutiefst zwecklos. Die große Suche verstärkt lediglich den großen Irrtum, dass an irgendeinem Ort der GEIST nicht wäre und dass man von dort, wo er nicht ist, dorthin gelangen müsse, wo er ist. Aber es gibt keinen Ort, an dem weniger, und keinen Ort, an dem mehr GEIST wäre. Es gibt nur GEIST.
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Die große Suche nach dem GEIST ist einfach jener letzte Impuls, der die gegenwärtige Verwirklichung des GEISTES verhindert, und dies geschieht einfach deshalb, weil diese große Suche auf der Annahme beruht, dass Gott verlorengegangen sei. Die große Suche verstärkt den falschen Glauben, dass Gott nicht gegenwärtig ist, und verdeckt so die Wirklichkeit von Gottes allgegenwärtiger Anwesenheit. Die große Suche, die Gott zu lieben behauptet, ist in Wirklichkeit eben jener Mechanismus, durch den man Gott von sich wegschiebt, durch den man morgen zu finden hofft, was nur im zeitlosen Nun existiert, durch den man den Blick mit solcher Inbrunst auf die Zukunft richtet, dass die Gegenwart stets an einem vorübereilt, und Gottes lächelndes Antlitz mit ihr. Die große Suche ist die lieblose Zusammenziehung im innersten Kern der Empfindung eines getrennten Selbst, die die Triebfeder der heftigen Sehnsucht nach einem Morgen ist, in dem die Erlösung endlich eintreten wird – und bis dahin kann man, Gott sei Dank, man selbst bleiben. Je intensiver die große Suche, desto mehr kann man Gott verleugnen, desto mehr kann man seine eigene Empfindung des Suchens spüren, die die Umrisse des eigenen Selbst definiert. Die große Suche ist der große Feind des Seienden. Sollte man also einfach die große Suche aufgeben? Natürlich – wenn man es könnte. Aber schon das Bemühen, die große Suche aufzugeben, ist eine weitere große Suche. Schon der erste Schritt setzt die Empfindung des Suchens voraus und verstärkt sie. Die Selbst-Zusammenziehung kann in keiner Weise die große Suche beenden, weil Selbst-Zusammenziehung und die große Suche zwei Seiten derselben Medaille sind. Wenn nun der GEIST nicht als künftiges Ergebnis der großen Suche gefunden werden kann, dann gibt es nur eine Alternative: Der GEIST muss jetzt, in diesem Augenblick, voll und ganz gegenwärtig sein, und man muss ihn jetzt voll und ganz gewahren. Es genügt nicht zu sagen, dass der GEIST gegenwärtig ist und man ihn nur noch nicht erkennt. Dies würde die große Suche notwendig machen, dies würde verlangen, dass man ein Morgen sucht, in dem man die volle Gegenwart des GEISTES erkennen könnte, aber diese Suche verfehlt schon in ihrem ersten Schritt die Gegenwart. Solange man sucht, findet man nicht. Nein: Die Erkenntnis selbst, das Gewahren selbst muss irgendwie genau jetzt voll und ganz gegenwärtig sein. Wenn dies nicht der Fall ist, dann bleibt nichts als die große Suche, die nicht umhinkann, dasjenige vorauszusetzen, was sie überwinden möchte. Es muss etwas im eigenen gegenwärtigen Gewahren geben, das die ganze Wahrheit enthält. Irgendwie ist man, in welchem Zustand man sich auch immer befindet, ganz in alles eingetaucht, was man für die vollkommene Erleuchtung braucht. Man blickt irgendwie genau auf die Antwort hin. Man hat 100% des GEISTES genau jetzt in seiner
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Wahrnehmung. Nicht 20%, nicht 50% und nicht 98%, sondern buchstäblich 100% des GEISTES befinden sich genau jetzt in unserer Wahrnehmung – und der "Trick" besteht gewissermaßen einfach darin, diesen allzeit gültigen Stand der Dinge anzuerkennen und sich nicht einen künftigen Stand der Dinge zu basteln, in dem der GEIST sich aussprechen wird. Diese einfache Erkenntnis eines immer schon vorhandenen GEISTES ist letztlich das Projekt der großen nichtdualen Traditionen.
Dem Kósmos begegnen Viele Menschen haben eine heftige Abneigung gegenüber jeglicher "Mystik" oder "Transzendenz", weil sie glauben, dass dies irgendwie mit einer Verleugnung dieser Welt, einem Hass auf diese Erde oder einer Verachtung des Körpers und der Sinne und ihrer Vitalfunktionen usw. verbunden sei. Dies mag auf bestimmte dissoziierte Ansätze zutreffen, aber es ist sicher nicht die grundsätzliche Auffassung der großen nichtdualen Mystiker von Plotin und Eckhart im Westen bis Nagarjuna und Yeshe Tsogyal im Osten. Diese Weisen lehren vielmehr überall, dass die absolute Wirklichkeit und die relative Welt "nicht-zwei" sind (und nichts anderes bedeutet "nichtdual" oder "nondual"), so wie ein Spiegel und sein Spiegelbild nicht voneinander getrennt sind oder das Meer eins ist mit seinen vielen Wellen. Deshalb sind die "andere Welt" des GEISTES und "diese Welt" der getrennten Erscheinungen im tiefsten Sinne "nicht-zwei", und diese Nichtdualität ist eine unmittelbare und direkte Erkenntnis, die in bestimmten meditativen Zuständen auftritt (mit anderen Worten, mit dem Auge der Kontemplation geschaut wird), dann aber zu einer ganz einfachen, ganz alltäglichen Wahrnehmung wird, ob man meditiert oder nicht. Jedes einzelne Ding, das man wahrnimmt, ist das Leuchten des GEISTES selbst, und zwar so sehr, dass der GEIST nicht getrennt von diesem Objekt gesehen wird: Der Zaunkönig singt, und das ist es einfach, nichts weiter. Dies wird zu einer beständigen Erkenntnis durch alle Zustandsveränderungen hindurch, ganz natürlich, einfach so. Dies befreit von der grundlegenden Torheit, sich vor dem Wirklichen verstecken zu wollen. Aber woher kommt es denn, dass man normalerweise diese Wahrnehmung nicht hat? All die großen nondualen Weisheitstraditionen haben auf diese Frage mehr oder weniger dieselbe Antwort gegeben: Wir sehen nicht, dass der GEIST hier und jetzt voll und ganz gegenwärtig ist, weil unser Gewahrsein durch irgendwelche Vermeidungstendenzen getrübt ist. Wir wollen nicht entscheidungslos die Gegenwart gewahren; wir wollen vielmehr vor ihr
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davonlaufen, oder ihr nachlaufen, oder wir möchten sie ändern, sie hassen, sie lieben, sie verabscheuen oder irgend etwas unternehmen, um in sie hinein oder aus ihr hinaus zu gelangen. Wir tun alles mögliche, statt in der reinen Gegenwart des Gegenwärtigen zu verweilen. Wir verweilen nicht in der reinen Gegenwart, sondern wir wollen woanders sein, und zwar schnell. Die große Suche ist das Spiel in seinen endlosen Formen. In der nondualen Meditation oder Kontemplation aber kommt die Aufgeregtheit der Empfindung eines getrennten Ich zu tiefer Ruhe, und das Ich entspannt sich in die große Weite des Alls. Dann erkennt man, dass man nicht "da drinnen" ist und die Welt "da draußen" betrachtet, weil diese Dualität zu reiner Gegenwart und spontanem Leuchten zusammengefallen ist. Diese Erkenntnis kann in vielen Formen auftreten, zum Beispiel ganz einfach in folgender Weise: Man betrachtet einen Berg und entspannt sich in die Anstrengungslosigkeit seines eigenen gegenwärtigen Gewahrens. Plötzlich ist der Berg alles und man selbst nichts. Die Empfindung eines getrennten Ich ist plötzlich und vollständig verschwunden, und es gibt nichts weiter als alles, was von Augenblick zu Augenblick entsteht. Man ist vollkommen wach, vollkommen bewusst, alles ist ganz normal, nur ist nirgendwo mehr ein Ich zu finden. Man ist nicht auf dieser Seite seines Antlitzes und schaut auf den Berg da draußen; man ist einfach der Berg, man ist der Himmel und die Wolken, man ist alles, was von Augenblick zu Augenblick entsteht, ganz einfach, ganz klar, einfach so. Es gibt viele klingende Namen für diesen Zustand, von Einheitsbewusstsein bis Sahaj-Samadhi. Aber es ist in Wirklichkeit der einfachste und offensichtlichste Zustand, den man sich vorstellen kann. Und wenn man einen Blick auf diesen Zustand erhascht, den die Buddhisten den "Einen Geschmack" nennen, weil man ein Geschmack oder eine Erfahrung mit dem ganzen Universum ist, dann wird klar, dass man nicht in diesen Zustand eintritt, sondern dass dies in einer tiefen und geheimnisvollen Weise seit unvordenklichen Zeiten die eigene ursprüngliche Verfassung ist. Man war in Wirklichkeit niemals auch nur eine Sekunde außerhalb dieses Zustandes. Deshalb nennt Zen dies die torlose Schranke: Auf dieser Seite dieser Erkenntnis sieht es so aus, als müsste man etwas tun, um in diesen Zustand einzutreten; es sieht so aus, als müsste man durch ein Tor hindurchgehen. Wenn man dies aber tut und sich dann umwendet und zurückblickt, dann gibt es nirgendwo eine Schranke oder ein Tor – und es gab sie auch niemals. Man ist aus diesem Zustand überhaupt nie herausgetreten, weshalb man offensichtlich auch nicht in ihn gelangen kann. "Jegliche Form ist Leerheit einfach so, wie sie ist" bedeutet, dass alles, Sie und ich, immer schon auf der anderen Seite der torlosen Schranke sind. Aber wenn dies so ist, warum braucht man dann noch spirituelle Praxis? Ist dies nicht wiederum eine Form der großen Suche? Ja, spirituelle Praxis ist
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in der Tat eine Form der großen Suche, und als solche muss sie auch scheitern. Aber das ist es ja gerade: Sie und ich sind schon davon überzeugt, dass man bestimmte Dinge tun müsse, um den GEIST zu erkennen. Wir glauben, dass es Orte gibt, an denen der GEIST nicht ist (nämlich in einem selbst), und wir machen uns daran, diesen Zustand zu ändern. Wir haben uns schon zur großen Suche entschlossen, und deshalb nutzt die nichtduale Meditation diese Tatsache aus und hält uns in einer etwas listigen Weise zur großen Suche an (was im Zen "Wasser am Fluss verkaufen" heißt). William Blake sagte einmal, dass "ein Tor, der an seiner Torheit festhält, weise werden wird". Und deshalb beschleunigt nichtduale Meditation einfach die Torheit. Wenn man wirklich glaubt, den GEIST nicht zu haben, dann muss man es eben mit dieser Torheit versuchen: Versuchen Sie, GEIST zu werden, den GEIST zu entdecken, Kontakt mit dem GEIST aufzunehmen, den GEIST zu erreichen: Meditieren und meditieren und meditieren Sie, um zum GEIST zu kommen! Natürlich gelingt einem dies nicht. Man kann ebenso wenig zum GEIST kommen, wie man zu seinen Füssen kommen kann. Man ist immer schon GEIST, und man bekommt ihn nicht durch irgendeinen Rundumschlag zu fassen. Aber wenn man dies nicht einzusehen vermag, dann kann man es ja probieren. Nichtduale Meditation ist ein ernster Versuch, das Unmögliche zu tun, bis man am Ende seiner Kräfte ist, sich völlig erschöpft niedersetzt und plötzlich sieht, dass man Füße hat. Es ist aber nicht so, dass diese nichtdualen Traditionen höhere Zustände leugnen würden. Sie kennen im Gegenteil viele Praktiken, mit denen man ganz bestimmte Zustände eines postformalen Bewusstseins erreichen kann. Aber sie sagen, dass diese anderen Zustände, die einen Anfang und ein Ende in der Zeit haben, letztlich nichts mit dem Zeitlosen zu tun haben. Das eigentliche Ziel ist die Zustandslosigkeit, nicht eine fortwährende Begeisterung für veränderte Zustände. Diese zustandslose Verfassung ist die wahre Natur dieses und jedes anderen vorstellbaren Bewusstseinszustandes, weshalb jeder Zustand, in dem man sich befindet, völlig in Ordnung ist. Die Änderung des Zustandes ist nicht das höchste Ziel, sondern das Anerkennen der Wandellosigkeit, das Anerkennen der ursprünglichen Leerheit, und wenn man bloß in einem Schlummerzustand ruhig atmet, dann ist dieser Bewusstseinszustand eben auch in Ordnung. Dennoch muss man in allen Traditionen zum Nachweis seiner aufrichtigen Absicht eine Vielzahl vorbereitender Übungen durchführen, wozu unter anderem auch die Beherrschung verschiedener meditativer Bewusstseinszustände gehört, die letztlich zu einer stabilen postpostkonventionellen Anpassung führen. Aber keiner dieser Zustände gilt als endgültig oder privilegiert, und ein veränderter Bewusstseinszustand ist überhaupt nicht das Ziel. Vielmehr ist es so, dass man durch das Eintreten in
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diese verschiedenen meditativen Zustände und das Heraustreten aus ihnen allmählich begreift, dass keiner von ihnen die Erleuchtung darstellt. Sie haben alle einen Anfang in der Zeit, weshalb keiner von Ihnen zeitlos ist. Das Entscheidende ist die Einsicht, dass diese Änderung des Zustandes nicht das Entscheidende ist, und diese Einsicht kann in jedem Bewusstseinszustand auftreten.
Allgegenwärtiges Gewahren Diese ursprüngliche Erkenntnis des Einen Geschmacks – nicht die Herbeiführung, sondern das schlichte Anerkennen der Tatsache, dass man selbst und der Kósmos Ein GEIST ist, Ein Geschmack, Eine Geste – ist das große Geschenk der nichtdualen Traditionen. In einer vereinfachten Form gelangt man zu dieser Erkenntnis wie folgt: (Die folgenden "hinweisenden" Instruktionen sind direkte "Wegweiser" zur grundlegenden Natur des GEISTES oder zum inneren GEIST. Traditionell gibt es dabei viele absichtliche Wiederholungen. Wenn man einen solchen Text in der üblichen Weise liest, findet man diese Wiederholungen möglicherweise langweilig oder auch irritierend. Aber wenn der Leser Gewinn aus diesem Abschnitt ziehen will, möchte ich ihn bitten, ihn langsam und in aller Ruhe zu lesen und die Wörter und die Wiederholungen auf sich wirken zu lassen. Man kann den Text auch zur Meditation verwenden, indem man sich für jede Sitzung einen oder zwei Abschnitte oder vielleicht auch nur einen oder zwei Sätze vornimmt.) Beginnen wir mit der Einsicht, dass das reine Selbst, der transpersonale Zeuge, ein allgegenwärtiges Bewusstsein ist, selbst wenn man Zweifel an seiner Existenz hat. Sie gewahren jetzt in diesem Augenblick dieses Buch, das Zimmer, ein Fenster, den Himmel, die Wolken ... Sie können sich zurücklehnen und einfach feststellen, dass Sie alle diese vorüberziehenden Objekte gewahren. Wolken treiben am Himmel, Gedanken treiben durch den Geist, und wenn man sie "registriert", gewahrt man sie ohne alle Anstrengung. Man ist in einer einfachen, anstrengungslosen, spontanen Weise Zeuge von allem Gegenwärtigen. In diesem schlichten Zeugen-Gewahrsein stellt man vielleicht fest: Ich bin mir meines Körpers bewusst, und deshalb kann ich nicht bloß mein Körper sein. Ich bin mir meines Geistes bewusst, und deshalb kann ich nicht bloß mein Geist sein. Ich bin mir meines Ich bewusst, und deshalb bin ich nicht bloß dieses Ich. Irgendwie scheine ich Zeuge meines Körpers, meines Geistes, meines Ich zu sein.
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Und dies ist etwas Faszinierendes. Ich kann meine Gedanken sehen; also bin ich nicht diese Gedanken. Ich bin mir meiner Körperempfindungen bewusst; also bin ich nicht diese Empfindungen. Ich bin mir meiner Gefühle bewusst; also bin ich nicht nur diese Gefühle. Irgendwie bin ich der Zeuge von alldem! Aber was ist dieser Zeuge selbst? Wer oder was ist es, das alle diese Objekte gewahrt, das die Wolken vorüberziehen sieht, die Gedanken, die Objekte? Wer oder was ist dieser wahre Seher? Dieser reine Zeuge, der das Zentrum von allem ausmacht, was ich bin? Dieses schlichte Zeugen-Gewahrsein ist den Traditionen zufolge der GEIST selbst, der erleuchtete GEIST, die Buddha-Natur selbst, Gott selbst in
seiner Gänze. Den Traditionen zufolge ist es also nicht sonderlich schwierig, Kontakt mit dem GEIST, mit Gott oder dem erleuchteten GEIST zu erlangen. Dies ist einfach das eigene Zeugen-Gewahrsein in genau diesem Augenblick. Wenn man dieses Buch sieht, hat man dieses Gewahrsein in seinem ganzen Umfang in genau diesem Augenblick. In einem berühmten Text des Dzogchen- oder Maha-Ati-Buddhismus, einer der großartigsten nichtdualen Traditionen, heißt es: "Es kommt vor, dass Meditierende sagen, es sei schwierig, die Natur des Geistes zu erkennen" (im Dzogchen steht "die Natur des Geistes" für ursprüngliche Reinheit oder radikale Leerheit, die letztlich nichts anderes ist als der nichtduale GEIST). Der entscheidende Punkt ist, dass diese "Natur des Geistes" allgegenwärtiges Zeugen-Gewahrsein ist, und dies können dem Text zufolge manche Meditierenden nicht glauben. Sie glauben, es sei schwierig oder sogar unmöglich, dieses allgegenwärtige Gewahrsein zu erkennen, und sie müssten größte Anstrengungen unternehmen und sehr lange meditieren, um dieses erleuchtete Denken zu erreichen, während es doch nichts anderes ist als ihr allgegenwärtiges Zeugen-Gewahrsein, das jetzt in diesem Augenblick aktiv ist. Der Text fährt fort: "Manche männlichen oder weiblichen Übenden halten es für unmöglich, dass man die Natur des Geistes erkennen könne. Niedergeschlagenheit befällt sie, und Tränen rinnen ihre Wangen hinab. Aber es gibt gar keinen Grund, traurig zu sein. Es ist keineswegs unmöglich, sie zu erkennen. Ruhe unmittelbar in demjenigen, das glaubt, dass es unmöglich sei, die Natur des Geistes zu erkennen, und das ist es." Was die Auffassung betrifft, dieses allgegenwärtige Zeugen-Gewahrsein sei schwierig zu erlangen: "Es gibt Meditierende, die ihren Geist nicht in sich selbst ruhen lassen (einfaches gegenwärtiges Gewahren), wie sie es tun sollten. Statt dessen lassen sie es das Äußere beobachten oder im Inneren suchen. Aber man kann (den Geist) nicht sehen und finden, indem man das Äußere beobachtet oder im Inneren sucht. Es gibt überhaupt keinen Grund,
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das Äußere zu beobachten oder im Inneren zu suchen. Lasse unmittelbar in diesen Geist los, der das Äußere beobachtet oder im Inneren sucht, und das ist es."1 Wir gewahren dieses Zimmer: und genau das ist es; einfach dieses Gewahren ist der allgegenwärtige GEIST. Wir gewahren die am Himmel vorüberziehenden Wolken: Genau das ist es, genau dieses Gewahren ist allgegenwärtiger GEIST. Wir gewahren die im Geist vorüberziehenden Gedanken: Genau das ist es, genau dieses Gewahrsein ist allgegenwärtiger GEIST. Wir gewahren Schmerz, Aufruhr, Schrecken, Angst: Genau das ist es. Mit anderen Worten, die höchste Wirklichkeit ist nicht etwas, das man sehen kann, sondern vielmehr der allgegenwärtige Seher. Dinge, die man sieht, kommen und gehen, sind erfreulich oder betrüblich, angenehm oder schmerzhaft, aber der Seher ist nichts von alledem, und er kommt und geht nicht. Der Zeuge wankt nicht, schwankt nicht, tritt nicht in diesen Strom der Zeit ein. Der Zeuge ist kein Objekt, kein Ding, das man sehen kann, sondern der allgegenwärtige Seher aller Dinge, der schlichte Zeuge, das Ich des GEISTES, das Auge des Wirbelsturms, die Öffnung, die Gott ist, die Lichtung, die reine Leerheit ist. Es ist nicht möglich, dass man einmal keinen Zugang zu diesem ZeugenGewahrsein hätte. In jedem einzelnen Augenblick besteht ein spontanes Gewahren von allem, was gegenwärtig ist, und dieses schlichte, spontane, anstrengungslose Gewahren ist der allgegenwärtige GEIST selbst. Selbst wenn man glaubt, dass man ihn nicht sähe, ist es eben jenes Gewahren. Deshalb ist der höchste Zustand des Bewusstseins, der innerste GEIST selbst, nicht schwierig zu erreichen, sondern im Gegenteil unmöglich zu vermeiden. Eben dies ist das große und wohlgehütete Geheimnis der nichtdualen Schulen. Es spielt keine Rolle, welche Objekte oder Inhalte gegenwärtig sind; alles, was zum Vorschein kommt, ist in Ordnung. Manche Menschen haben größte Schwierigkeiten, den GEIST zu verstehen, weil sie versuchen, ihn als Objekt des Gewahrens oder als Objekt des Begreifens zu sehen. Aber die höchste Wirklichkeit ist nicht etwas, das man sehen kann, sondern der Seher selbst. Der GEIST ist kein Objekt; er ist radikales allgegenwärtiges Subjekt und daher nichts, was vor uns wie ein Stein, ein Bild, ein Gedanke, ein Licht, eine Empfindung, eine Erkenntnis, eine leuchtende Wolke, eine intensive Schau oder eine Empfindung großer Seligkeit auftauchen würde. All dies ist recht und schön – aber es sind Objekte, und eben dies ist der GEIST nicht. Wenn man also im Zeugen ruht, sieht man nichts Besonderes. Der wahre Seher ist nichts, was man sehen kann, weshalb man einfach damit beginnt, seine Identifikation mit jeglichen Objekten aufzugeben: Ich gewahre die Empfindungen in meinem Körper; diese sind Objekte, die ich nicht bin. Ich gewahre die Gedanken in meinem Geist; diese sind
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Objekte, die ich nicht bin. Ich gewahre mein Selbst in diesem Augenblick, das aber ebenfalls nur ein Objekt ist, was ich nicht bin. Anblicke ziehen in der Natur vorbei, Gedanken ziehen im Geist vorbei, Gefühle ziehen im Körper vorbei, und ich bin nichts davon. Ich bin kein Objekt. Ich bin der reine Zeuge aller dieser Objekte. Ich bin Bewusstsein als solches. Wenn man deshalb so im reinen Zeugen ruht, wird man nichts Besonderes sehen – alles, was man sieht, ist in Ordnung. Was man aber spürt, wenn man im radikalen Subjekt oder Zeugen ruht und aufhört, sich mit Objekten zu identifizieren, ist eine Empfindung unermesslicher Freiheit. Diese Freiheit ist nichts, was man sehen könnte: Man ist diese Freiheit. Wenn man der Zeuge von Gedanken ist, ist man nicht durch Gedanken gebunden. Wenn man der Zeuge von Gefühlen ist, ist man nicht durch Gefühle gebunden. Statt des zusammengezogenen Ich ist da einfach eine große Empfindung der Offenheit und Befreiung. Als Objekt ist man gebunden; als der Zeuge ist man frei. Man sieht diese Freiheit nicht; man ruht in ihr. Es ist ein unermesslicher Ozean unendlicher Leichtigkeit. So ruht man also in diesem Zustand des reinen und schlichten Zeugen, des wahren Sehers, der unermessliche Leerheit und reine Freiheit ist, und man lässt alles, was man sieht, ungehindert aufsteigen. Geist ist im freien und leeren Seher, nicht in den beschränkten, gebundenen, sterblichen und endlichen Objekten, die in der Welt der Zeit vorüberziehen. So ruht man in dieser weiten Leerheit und Freiheit, in der alle Dinge aufsteigen. Dieses reine Zeugen-Gewahren kann man nicht erlangen, weil es nicht möglich ist, mit etwas Kontakt aufzunehmen, das man nie verloren hat. Statt dessen ruht man in diesem leichten, klaren, allgegenwärtigen Gewahrsein, indem man einfach aufnimmt, was bereits geschieht. Man sieht den Himmel ja schon. Man hört die Vögel ja schon singen. Man spürt den kühlen Lufthauch ja schon. Der schlichte Zeuge ist schon gegenwärtig, schon tätig, und immer schon der Fall. Deshalb nimmt man nicht Kontakt mit diesem Zeugen auf und ruft man ihn nicht ins Dasein, sondern gewahrt einfach, dass er immer schon da ist, als das schlichte und spontane Gewahren von allem, was in diesem Augenblick geschieht. Und man bemerkt auch, dass dieser schlichte, allgegenwärtige Zeuge vollständig anstrengungslos ist. Es verlangt keinerlei Anstrengung, Geräusche zu hören, Landschaften zu sehen, den kühlen Lufthauch zu fühlen: Es geschieht schon, und man ruht mit Leichtigkeit in diesem anstrengungslosen Zeugen-Sein. Man folgt diesen Objekten nicht und weicht ihnen aber auch nicht aus. Weil der GEIST der allgegenwärtige Seher und nicht eines der beschränkten Dinge ist, die gesehen werden, kann man alle gesehenen Dinge kommen und gehen lassen, wie sie wollen. "Der Vollkommene benutzt den
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Geist als Spiegel", sagt Zhuangzi. "Dieser ergreift nicht und verwirft nicht, er nimmt auf, aber hält nicht fest." Der Spiegel empfängt mühelos seine Spiegelbilder, wie man mühelos eben jetzt den Himmel sieht und wie der Zeuge mühelos alle Objekte aufsteigen lässt. Alle Dinge kommen und gehen im anstrengungslosen Spiegel des schlichten Zeugen. Wenn ich als der reine und schlichte Zeuge ruhe, stelle ich fest, dass ich nicht in der Welt der Zeit gefangen bin. Der Zeuge existiert nur in der zeitlosen Gegenwart. Und auch dies ist wiederum kein Zustand, der schwierig zu erreichen wäre: er ist vielmehr unmöglich zu vermeiden. Der Zeuge sieht nur die zeitlose Gegenwart, weil nur die zeitlose Gegenwart wirklich ist. Wenn ich an die Vergangenheit denke, entstehen diese Vergangenheitsgedanken eben jetzt, in dieser Gegenwart. Wenn ich an die Zukunft denke, entstehen diese Zukunftsgedanken eben jetzt, in dieser Gegenwart. Vergangene wie künftige Gedanken entstehen eben jetzt, im schlichten allgegenwärtigen Gewahren. Und wenn sich die Vergangenheit wirklich ereignete, dann ereignete sie sich eben jetzt. Wenn sich die Zukunft wirklich ereignet, dann wird sie sich eben jetzt ereignen. Es gibt nur das "eben jetzt", es gibt nur diese allgegenwärtige Gegenwart: Dies ist alles, was ich je unmittelbar erkennen kann. Deshalb ist die zeitlose Gegenwart nicht schwierig zu erreichen, sondern vielmehr unmöglich zu vermeiden, und dies wird offensichtlich, wenn ich als der reine und schlichte Zeuge ruhe und Vergangenheit und Zukunft in einem schlichten, allgegenwärtigen Gewahren vorüberziehen lasse. Deshalb ist man nicht in der Zeit, wenn man im allgegenwärtigen Zeugen ruht. Wenn ich im schlichten bezeugenden Gewahren ruhe, stelle ich fest, dass die Zeit vor mir vorüber oder durch mich hindurchzieht, wie Wolken am Himmel vorüberziehen. Und nur deshalb kann ich Zeit gewahren: In meiner schlichten Gegenwärtigkeit, in meiner Ichseiendheit als reiner und schlichter Zeuge des Kósmos bin ich zeitlos. Wenn ich also eben jetzt in diesem schlichten, allgegenwärtigen Zeugen ruhe, stehe ich dem GEIST von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ich bin "noch heute" und immer bei Gott, in diesem schlichten, allgegenwärtigen bezeugenden Zustand. Meister Eckhart sagt: "Gott ist mir näher, als ich mir selbst bin", denn Gott und ich sind eins im allgegenwärtigen Zeugen, der die Wesensnatur des inneren GEISTES selbst ist, der genau dasjenige ist, was ich im Zustand meiner Ichseiendheit bin. Wenn ich kein Objekt bin, bin ich Gott (und jedes Ich im ganzen Kósmos kann dies mit ganzem Recht von sich sagen). Ich trete nicht in diesen Zustand des allgegenwärtigen Zeugen ein, der der GEIST selbst ist. Ich kann in diesen Zustand nicht "eintreten", weil er ja allgegenwärtig ist. Ich kann nicht beginnen, Zeuge zu sein: Ich kann nur gewahren, dass dieses schlichte Zeuge-Sein immer schon geschieht. Dieser
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Zustand hat keinen Anfang in der Zeit, weil er immer in der Gegenwart ist. Man kann weder von ihm fortlaufen noch ihm entgegeneilen: Man ist immer dieser Zustand. Deshalb sind Buddhas niemals in diesen Zustand eingetreten und sind fühlende Wesen niemals aus ihm herausgefallen. Wenn ich in diesem schlichten, klaren, allgegenwärtigen Zeugen ruhe, ruhe ich im großen Ungeborenen, im wesenhaften GEIST, in der ursprünglichen Leerheit, in unendlicher Freiheit. Ich kann nicht gesehen werden, und ich bin ohne alle Eigenschaften. Ich bin nicht dieses und nicht jenes. Ich bin kein Objekt. Ich bin weder hell noch dunkel, weder groß noch klein, weder hier noch dort. Ich habe keine Farbe, keinen Ort, keinen Raum und keine Zeit; ich bin äußerste Leerheit, ein anderes Wort für unendliche Freiheit, unendliche Ungebundenheit. Ich bin die Öffnung oder Lichtung, in der die ganze manifeste Welt eben jetzt entsteht, aber ich entstehe nicht in ihr: Sie entsteht in mir, in dieser unermesslichen Leerheit und Freiheit, die ich bin. Die Dinge, die man sieht, sind lustvoll oder unlustvoll, fröhlich oder traurig, zuversichtlich oder ängstlich, gesund oder krank aber der, der diese Dinge erlebt, ist weder glücklich noch traurig, weder zuversichtlich noch ängstlich, weder gesund noch krank, sondern einfach frei. Als reiner und schlichter Zeuge bin ich frei von allen Objekten, frei von allen Subjekten, frei von aller Zeit und allem Raum, frei von Geburt und Tod und frei von allem, was dazwischen liegt. Ich bin einfach frei. Wenn ich in diesem reinen und schlichten Gewahren ruhe, bemerke ich, dass dieses Gewahrsein keine Erfahrung ist. Es gewahrt Erfahrungen, aber es ist selbst keine Erfahrung. Erfahrungen kommen und gehen. Sie haben einen Anfang in der Zeit, verweilen ein wenig und gehen dann vorüber. Aber sie alle entstehen in der schlichten Öffnung oder Lichtung des weiten Raums desjenigen, was ich bin. Die Wolken ziehen in diesem weiten Raum vorbei, die Gedanken ziehen vorbei, und die Erfahrungen ziehen vorbei. Sie alle kommen, und sie alle gehen. Aber dieser weite Raum selbst, dieser freie und leere Seher, diese geräumige Öffnung oder Lichtung, in der alle Dinge entstehen, kommt und geht selbst nicht und bewegt sich in keiner Weise. Wenn ich also im reinen und schlichten Zeugen ruhe, beschäftigt mich nicht mehr die Suche nach Erfahrungen, sei es des Fleisches, sei es der Seele oder sei es des Geistes. Erfahrungen, ob hohe oder tiefe, heilige oder profane, frohe oder alptraumhafte, kommen und gehen einfach wie endlose Wellen des Ozeans desjenigen, was ich bin. Wenn ich im reinen und schlichten Zeugen ruhe, zieht es mich nicht mehr zu den Wonnen und den Qualen der Darbietungen der Erfahrung hin. Erfahrungen ziehen über mein ursprüngliches Antlitz hin wie die weißen Wolken über den klaren Herbsthimmel, und in mir ist Raum für alles.
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Wenn ich im reinen und schlichten Zeugen ruhe, wird mir allmählich auch deutlich, dass der Zeuge selbst kein getrenntes Ding oder etwas außerhalb desjenigen ist, dessen Zeuge er ist. Alle Dinge entstehen innerhalb des Zeugen, so dass letztlich der Zeuge selbst hinter allen Dingen verschwindet. So im klaren, allgegenwärtigen Gewahren ruhend, bemerke ich, dass es kein Innen und kein Außen gibt. Es gibt kein Subjekt und kein Objekt. Dinge und Ereignisse sind immer noch ganz gegenwärtig und entstehen ohne Zweifel – die Wolken ziehen vorüber, die Vögel singen immer noch, der kühle Lufthauch weht immer noch –, aber es gibt kein getrenntes Selbst, das sich aus ihnen zurückzieht. Ereignisse entstehen einfach so, wie sie sind, ohne die beständige und aufgeregte Bezugnahme auf ein zusammengezogenes Ich oder Subjekt. Ereignisse entstehen so, wie sie sind, und sie entstehen in der großen Freiheit, dass sie nicht von einem kleinen Ich definiert sind, das sie betrachtet. Sie entstehen mit dem GEIST als GEIST in der Öffnung oder Lichtung, die ich bin; sie entstehen nicht deshalb, um von einem Ich gesehen und durch dessen Wahrnehmung verzerrt zu werden. In meinem zusammengezogenen Modus bin ich "hier drinnen", auf dieser Seite meines Antlitzes, und schaue auf die Welt "da draußen", auf der "objektiven" Seite. Ich existiere auf dieser Seite meines Antlitzes, und mein ganzes Leben ist ein Versuch, dieses Antlitz, dieses Gesicht zu wahren, diese Selbstzusammenziehung zu behalten, diese Empfindung des Ergreifens und Suchens, eine Empfindung, die mich aus der Welt da draußen heraussetzt –, einer Welt, die ich dann begehren und verabscheuen kann, auf die ich zugehen und vor der ich zurückweichen kann, die ich ergreifen oder meiden, lieben oder hassen kann. Das Innen und das Außen befinden sich in einem immerwährenden Kampf, in einem Strudel von Hoffnungen und Ängsten, und dies ist das Drama der Wahrung des Gesichts. Man sagt: "Das Gesicht zu verlieren heißt, vor Scham zu vergehen", und wie wahr ist dies: Wir wollen nicht das Gesicht verlieren! Wir wollen nicht vergehen! Wir wollen nicht, dass die Empfindung des getrennten Selbst aufhört. Aber gerade diese Urangst, das Gesicht zu verlieren, ist die Wurzel unserer tiefsten Pein, denn das Gesicht zu wahren, eine Identität mit dem Körper-Geist zu wahren, eben dies ist der Mechanismus des Leidens, der Mechanismus, mit dem man den Kósmos in eine Konfrontation von innen und außen zerrt, ein grausamer Bruch, den ich als Schmerz erfahre. Aber wenn ich im schlichten, klaren, allgegenwärtigen Gewahren ruhe, verliere ich das Gesicht. Innen und außen verschwinden vollständig. Und dies geschieht einfach folgendermaßen: Wenn ich alle Objekte fallen lasse – ich bin nicht dies, ich bin nicht jenes – und im reinen und schlichten Zeugen ruhe, entstehen alle Objekte mühelos in meinem Gesichtsfeld, entstehen alle Objekte im Raum des Zeugen. Ich bin einfach eine Öffnung oder Lichtung, in der alle Dinge entstehen. Ich
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bemerke, dass alle Dinge in mir entstehen, in dieser Öffnung oder Lichtung, die ich bin. Die Wolken ziehen in dieser weiten Lichtung vorüber, die ich bin. Die Sonne scheint in dieser weiten Lichtung, die ich bin. Der Himmel existiert in dieser weiten Öffnung, die ich bin; der Himmel ist in mir. Ich kann den Himmel nicht schmecken; er ist mir näher als meine eigene Haut. Die Wolken sind in mir; ich sehe sie von innen heraus. Aber wenn alle Dinge in mir entstehen, dann bin ich einfach alle Dinge. Das Universum ist Ein Geschmack, und das bin ich. Ruhe ich so als der Zeuge, dann entstehen alle Dinge in mir, so dass ich letztlich alle Dinge bin. Es gibt kein Subjekt und kein Objekt, weil ich die Wolken nicht sehe: Ich bin die Wolken. Es gibt kein Subjekt und Objekt, weil ich den kühlen Lufthauch nicht fühle: Ich bin der kühle Lufthauch. Es gibt kein Subjekt und Objekt, weil ich den Donner nicht grollen höre: Ich bin der grollende Donner. Ich bin nicht mehr auf dieser Seite meines Antlitzes und betrachte die Welt da draußen: Ich bin einfach die Welt. Ich bin nicht hier drinnen. Ich habe das Gesicht verloren – und mein ursprüngliches Antlitz entdeckt, den Kósmos selbst. Der Vogel singt, und ich bin das. Die Sonne geht auf, und ich bin das. Der Mond scheint, und ich bin das in einem schlichten, allgegenwärtigen Gewahren. Wenn ich im schlichten, klaren, allgegenwärtigen Gewahren ruhe, ist jedes Objekt sein eigenes Subjekt. Jedes Ereignis "sieht sich" gewissermaßen selbst, weil ich jetzt dieses Ereignis bin, das sich selbst sieht. Ich betrachte nicht den Regenbogen: Ich bin der Regenbogen, der sich selbst sieht. Ich blicke nicht auf den Baum: Ich bin der Baum, der sich selbst sieht. Die ganze manifeste Welt entsteht unaufhörlich so, wie sie ist, nur gibt es keine Subjekte und Objekte mehr. Der Berg ist immer noch der Berg, aber er ist kein Objekt mehr, das betrachtet wird, und ich bin kein getrenntes Subjekt mehr, das ihn betrachtet. Ich und der Berg entstehen in einem schlichten, allgegenwärtigen Gewahren, und wir beide werden in diese Lichtung entlassen, wir beide werden in diesen nondualen Raum befreit, wir beide werden in der Lichtung erleuchtet, die allgegenwärtiges Gewahrsein ist. Diese Öffnung ist frei von der gewaltsamen Trennung in Subjekt und Objekt, von hier drinnen und dort draußen, von ich und anderen, von ich und Welt. Ich habe ganz und gar das Gesicht verloren – und in schlichtem allgegenwärtigem Gewahren Gott entdeckt. Wenn ich als der zeitlose Zeuge ruhe, hört die große Suche auf. Die große Suche ist der Feind des allgegenwärtigen GEISTES, eine hässliche Lüge im Antlitz der sanften Unendlichkeit. Die große Suche ist die Suche nach einer höchsten Erfahrung, einer mitreißenden Vision, einem Paradies der Wonnen, einem unendlichen Vergnügen, einer beeindruckenden Erkenntnis; es ist eine Suche nach Gott, eine Suche nach der Göttin, eine Suche nach dem GEIST –
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aber der GEIST ist kein Objekt. Der GEIST kann nicht ergriffen, erlangt, gesucht oder gesehen werden: Er ist der allgegenwärtige Seher. Die Suche nach dem Seher entspringt einem Irrtum. Ewig zu suchen heißt, ewig am Wesentlichen vorbeizugehen. Wie kann man auch etwas suchen, das eben in diesem Augenblick diese Buchseite gewahrt? DU SELBST BIST DAS. Man kann nicht nach etwas Ausschau halten, das der Ausschauhaltende ist. Wenn ich kein Objekt bin, dann bin ich Gott. Wenn ich ein Objekt suche, höre ich auf, Gott zu sein, und diese Katastrophe kann nicht dadurch behoben werden, dass man nach noch mehr Objekten sucht. Vielmehr kann ich nur als der Zeuge ruhen, der schon frei von Objekten ist, frei von Zeit und frei von der Suche. Wenn ich kein Objekt bin, bin ich der GEIST. Wenn ich als der freie und formlose Zeuge ruhe, bin ich eben jetzt bei Gott, in diesem zeitlosen und endlosen Augenblick. Ich koste die Unendlichkeit und bin in Fülle gebadet, weil ich nicht mehr suche, weil ich einfach in demjenigen ruhe, was ich bin. Bevor Abraham war, bin ich. Bevor der Urknall war, bin ich. Nachdem die Welt sich aufgelöst hat, bin ich. In allen großen und kleinen Dingen bin ich. Und doch kann ich niemals gehört, gefühlt, erkannt oder gesehen werden; der "Ich-Bin" ist der allgegenwärtige Seher. Weil die höchste Wirklichkeit nichts ist, was man sehen kann, sondern vielmehr der Seher, spielt es überhaupt keine Rolle, was zu einem gegebenen Zeitpunkt gesehen wird. Ob man Frieden oder Aufruhr sieht, Gleichmut oder Aufgeregtheit, Genuss oder Entsetzen, Glück oder Trauer, spielt keine Rolle: Nicht diese Zustände, sondern der Seher dieser Zustände ist schon frei. Es kommt also überhaupt nicht darauf an, Zustände zu ändern; es kommt darauf an, den allgegenwärtigen Seher anzuerkennen. Selbst inmitten der großen Suche und inmitten meiner schlimmsten SelbstZusammenziehung habe ich unmittelbaren Zugang zum allgegenwärtigen Zeugen. Ich brauche nicht zu versuchen, dieses schlichte Gewahren ins Dasein zu bringen. Ich brauche nicht in diesen Zustand einzutreten. Er ist mit keiner Anstrengung verbunden. Ich stelle einfach fest, dass ich den Himmel schon gewahre. Ich stelle einfach fest, dass ich die Wolken schon gewahre. Ich stelle einfach fest, dass der allgegenwärtige Zeuge schon tätig ist: Er ist nicht schwierig zu erreichen, sondern es ist vielmehr unmöglich, ihn zu vermeiden. Ich bin immer schon im Schösse dieses allgegenwärtigen Gewahrens, der radikalen Leerheit, in der alle Manifestation jetzt im Augenblick entsteht. Wenn man der Zeuge aller Objekte ist und alle Objekte in einem entstehen, dann steht man in äußerster Freiheit, in der großen Weite allen Raums. In diesem schlichten Einen Geschmack weht der Wind dir nicht entgegen; er weht in dir. Die Sonne scheint nicht in dir; sie scheint tief aus deinem innersten Wesen. Wenn es regnet, dann weinst du. Du kannst den
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Pazifik in einem einzigen Zug austrinken und das ganze Universum verschlucken. Supernovae werden in deinem Herzen geboren und sterben in ihm, und Galaxien wirbeln ohne Ende dort, wo du glaubtest, dass dein Kopf war, und all dies ist so einfach wie der Gesang eines Zaunkönigs an einem kristallklaren Morgen. Sooft ich den allgegenwärtigen Zeugen erkenne oder anerkenne, ist die große Suche unterbrochen und das getrennte Ich aufgehoben. Dies ist die höchste, geheime, nichtduale Praxis, das Üben des Nichtübens, die Praxis des schlichten Anerkennens, die Praxis der Wiedererinnerung und Erkenntnis, die ihre zeitlose und ewige Grundlage in der Tatsache hat, dass es nur GEIST gibt, einen GEIST, der nicht schwierig zu finden, sondern vielmehr unmöglich zu vermeiden ist. Der GEIST ist das einzige, das niemals abwesend ist und war. Er ist die einzige Konstante in deiner sich wandelnden Erfahrung. Du weißt dies buchstäblich seit einer Milliarde Jahren. Und du kannst dies ebensogut anerkennen. "Wenn du dies verstanden hast, dann ruhe in demjenigen, das versteht, und dies ist einfach der GEIST. Wenn du dies nicht verstehst, dann ruhe in demjenigen, das nicht versteht, und dies ist einfach der GEIST." Denn seit Ewigkeiten und in alle Ewigkeiten gibt es nur GEIST, den Zeugen dieses und jeden Augenblicks bis zum Ende der Welt.
Das Auge des GEISTES Wenn ich in diesem schlichten, klaren, allgegenwärtigen Gewahrsein ruhe, ruhe ich in dem allem einwohnenden GEIST; ich bin nichts anderes als der GEIST selbst, der Zeuge ist. Ich werde nicht GEIST; ich erkenne einfach den GEIST, der ich immer schon bin. Wenn ich im schlichten, klaren, allgegenwärtigen Gewahren ruhe, bin ich der Zeuge der Welt. Ich bin das Auge des Geistes. Ich sehe die Welt, wie Gott sie sieht. Ich sehe die Welt, wie die Gottheit sie sieht. Ich sehe die Welt, wie der GEIST sie sieht: Jegliches Objekt ist ein Objekt der Schönheit, jedes Ding und Ereignis ist eine Geste der Großen Vollkommenheit, jeder Vorgang ist ein Kräuseln im Teich meines eigenen ewigen Seins, weshalb ich nicht als Zeuge gegenüberstehe, sondern entdecke, dass der Zeuge ein Geschmack mit allem ist, was in ihm entsteht. Der ganze Kósmos entsteht im Auge des GEISTES, im Ich des GEISTES, in meinem eigenen inneren Gewahren, diesem schlichten allgegenwärtigen Zustand, und ich bin einfach das. Aus dem Grund des schlichten, allgegenwärtigen Gewahrens erhebt sich der eigene vollständige Körper-Geist. Wenn du im ursprünglichen Gewahren ruhst, beginnt dieses Gewahren dein Wesen zu durchdringen, und aus dem
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Strom des Bewusstseins gebiert sich ein neues Schicksal. Wenn die große Suche aufhört und die Empfindung eines getrennten Selbst geopfert wurde, wenn du für dich die Kontinuität der Zeugenschaft hergestellt hast, wenn allgegenwärtiges Gewahren dein ständiger Grund ist, dann wird sich dein ganzer Körper-Geist regenerieren, er wird wiederauferstehen und sich neu um den inneren GEIST organisieren, und du wirst wie von den Toten zu einem neuen Schicksal und einer neuen Aufgabe im Bewusstsein wiederauferstehen. Du wirst aufhören, als getrenntes Selbst (mit all dem Schaden, den dies dem Körper-Geist zufügt) zu existieren, und du wirst statt dessen als Träger des GEISTES existieren, weil der Körper-Geist jetzt die Freiheit hat, aus seinem höchsten Potential zu agieren, unbehindert und unverfälscht von den grausamen Zwängen der Selbst-Zusammenziehung. Aus dem Grund des allgegenwärtigen Gewahrseins wirst du dich erheben, und du wirst eine der erleuchteten Eigenschaften des Buddhas und Bodhisattvas erworben haben, "eines, dessen Sein (sattva) allgegenwärtiges Gewahrsein (bodhi) ist". Aber die buddhistischen Bezeichnungen sind nicht wichtig; wichtig sind die Erleuchtungszustände, für die sie stehen. Das Entscheidende ist einfach, dass du – sobald du das schlichte, allgegenwärtige Gewahrsein stabil erkannt hast, sobald die große Suche und die Selbst-Zusammenziehung ihres Eigenlebens beraubt und zu Gott zurückgeführt, in allgegenwärtigem Gewahrsein zu ihrem Grund zurückgebracht wurden – vom Grund des allgegenwärtigen Gewahrens auferstehen wirst und eine der höchsten Möglichkeiten dieses Grundes verkörpern wirst. Du wirst Träger des GEISTES sein, der du selbst bist. Dieser allgegenwärtige Grund wird durch dich und als du in einer Vielzahl außergewöhnlicher Formen leben. Vielleicht wirst du dich als Samantabhadra erheben, dessen allgegenwärtiges Bewusstsein die Form eines umfassenden Gleichheitsbewusstseins annimmt: Du wirst erkennen, dass das allgegenwärtige Gewahrsein, das ganz in dir gegenwärtig ist, dasselbe Gewahrsein ist, das ausnahmslos in allen fühlenden Wesen als eines und dasselbe vollständig gegenwärtig ist, als ein Herz, eine Seele, ein Geist, der atmet und pocht und pulsiert in allen fühlenden Wesen, und deine bloße Haltung pulsiert in allen fühlenden Wesen, und deine bloße Haltung wird alle Wesen an diese schlichte Tatsache erinnern, daran, dass es nur einen GEIST gibt, dass alles Gott gleich nahe ist, denn es gibt nur Gott, es gibt nur die Göttin. Vielleicht wirst du dich als Avalokiteshvara erheben, dessen allgegenwärtiges Gewahrsein die Form milder Barmherzigkeit hat. In der strahlenden Klarheit allgegenwärtigen Gewahrseins entstehen alle fühlenden Wesen als gleiche Formen innewohnenden GEISTES oder reiner Leerheit, und so werden alle Wesen als die Söhne und Töchter des GEISTES behandelt, die
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sie sind. Du wirst nicht anders können, als dieses Erbarmen mit zarter Hingabe zu leben, so dass dein bloßes Lächeln die Herzen der Leidenden erfreuen wird, und sie werden in dir die Verheißung erblicken, dass auch sie zur großen Weite ihres eigenen ursprünglichen Gewahrseins erlöst werden können, und du wirst dich niemals von ihnen abwenden. Vielleicht wirst du als Prajnaparamita erstehen, die Mutter der Buddhas, deren allgegenwärtiges Gewahrsein die Form einer großen Geräumigkeit annimmt, des Schosses des großen Ungeborenen, in dem der ganze Kósmos existiert. Die tiefste Wahrheit ist, dass alle Dinge aus dem Grund deines eigenen schlichten, klaren, allgegenwärtigen Gewahrseins geboren werden, und zum Grund deines schlichten, klaren, allgegenwärtigen Gewahrseins werden alle Dinge zurückkehren. In der strahlenden Klarheit deines allgegenwärtigen Gewahrseins ruhend, siehst du alle Welten entstehen, siehst du die Buddhas entstehen, siehst du alle fühlenden Wesen entstehen. Und zu dir werden sie alle zurückkehren. Und du wirst lächeln und sie in dieser großen Weite ewiger Weisheit empfangen, und alles wird wieder beginnen, nochmals beginnen und immer wieder beginnen im Schoss deines Zustandes der Allgegenwart. Vielleicht wirst du als Manjushri entstehen, dessen allgegenwärtiges Gewahrsein die Form leuchtender Intelligenz annimmt. Wiewohl alle Wesen gleichermaßen innerer GEIST sind, erkennen manche Wesen diese allgegenwärtige Soheit nicht ohne weiteres an, weshalb sich eine unterscheidende Weisheit strahlend vom Urgrund des Gleichheitsbewusstseins erheben wird. Du wirst instinktiv sehen, was wahr und was falsch ist, und damit Klarheit in allem schaffen, was du berührst. Und wenn die Selbst-Zusammenziehung nicht auf deine sanftere Stimme hören will, dann wird sich dein allgegenwärtiges Gewahrsein in seiner rasenden Form manifestieren, die, wie es heißt, niemand anders ist als Yamantaka, der Zuchtmeister des Herrn der Toten. Deshalb wirst du dich vielleicht als Yamantaka erheben, der grimmige Beschützer des allgegenwärtigen Gewahrseins und Samurai-Krieger des inneren GEISTES. Alles, was dem allgegenwärtigen Gewahrsein hinderlich zu sein scheint, muss rasch durchhauen werden, weshalb das allgegenwärtige Gewahrsein in vielen rasenden Formen auftritt. Du wirst vom Boden des Gleichheitsbewusstseins aus gedrängt sein, das Falsche, das Seichte und das Nicht-Allzeit-Gegenwärtige ans Licht zu zerren. Jetzt ist die Zeit für das Schwert, nicht für das Lächeln, aber dies ist immer das Schwert der unterscheidenden Weisheit, das alle Hindernisse im Grund des Allumfassenden unerbittlich durchhaut. Vielleicht wirst du dich als Bhaishajya-Guru erheben, dessen allgegenwärtiges Gewahrsein die Form einer heilenden Strahlung annimmt. Aus der strahlenden Klarheit des allgegenwärtigen Gewahrseins wirst du dich
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gedrängt fühlen, die Kranken und Traurigen und diejenigen, die Schmerzen leiden, daran zu erinnern, dass der Schmerz zwar wirklich ist, aber dass sie nicht dieser Schmerz sind. Mit einer einfachen Berührung oder einem Lächeln werden auf sich selbst zusammengezogene Seelen sich in die große Weite des inneren Gewahrseins entspannen, und Krankheiten werden im Leuchten dieser Befreiung alle Bedeutung verlieren. Und du wirst niemals müde werden, denn allgegenwärtiges Gewahren kostet keine Anstrengung; so wirst du immerfort alle Wesen daran erinnern, wer und was sie auf der anderen Seite der Furcht wirklich sind, in der bedingungslosen Liebe und rückhaltlosen Hinnahme, die der Geist-Spiegel allgegenwärtigen Gewahrseins ist. Vielleicht wirst du dich als Maitreya erheben, dessen allgegenwärtiges Gewahrsein die Form eines Versprechens annimmt, dass das allgegenwärtige Gewahrsein selbst in der endlosen Zukunft immer noch einfach gegenwärtig sein wird. Aus der strahlenden Klarheit dieses ursprünglichen Gewahrseins wirst du geloben, bis in eine Ewigkeit von Zukünften bei allen Wesen zu sein, weil selbst diese Zukünfte im schlichten gegenwärtigen Gewahren entstehen werden, demselben gegenwärtigen Gewahren, das jetzt eben dies sieht. Dies sind nur einige wenige der Potentiale eines allgegenwärtigen Gewahrseins. Die buddhistischen Namen sind nicht wichtig; es können auch andere Namen sein. Dies sind einfach einige der Formen deiner eigenen Auferstehung. Es sind einige der Möglichkeiten, die nach dem Tod der großen Suche Triebfeder deines Handelns sein könnten. Es sind einige der Möglichkeiten, wie die Welt für das allgegenwärtige Auge des GEISTES aussieht, das allgegenwärtige Ich des GEISTES. Sie sind, was du jetzt in diesem Augenblick siehst, wenn du die Welt so siehst, wie Gott sie sieht, aus dem grundlosen Grund des schlichten allgegenwärtigen Gewahrseins.
Und es wird alles ungeschehen gemacht Vielleicht wirst du als eine oder alle diese Formen allgegenwärtigen Gewahrseins entstehen. Aber wenn dies geschieht, spielt es letztlich keine Rolle. Wenn du in der strahlenden Klarheit des allgegenwärtigen Gewahrseins ruhst, bist du nicht Buddha oder Bodhisattva, bist du nicht dies oder jenes, bist du nicht hier oder dort. Wenn du im schlichten, allgegenwärtigen Gewahrsein ruhst, bist du der große Ungeborene, frei von allen Eigenschaften. Du gewahrst Farbe, bist aber farblos. Du gewahrst Zeit, bist aber zeitlos. Du gewahrst Form, bist aber formlos. In der großen Weite der ursprünglichen Leerheit bist du für diese Welt immer unsichtbar. Es ist einfach so, dass du als verkörpertes Wesen auch in der Welt der Form entstehst, die deine eigene Manifestation ist. Die inneren Potentiale des
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erleuchteten Geistes (die inneren Potentiale deines allgegenwärtigen Gewahrseins) wie Gleichmut, Unterscheidende Weisheit, Spiegelgleiche Weisheit, Urgrundbewusstsein und Allesumfassendes Gewahrsein, all dies verbindet sich mit den individuellen Neigungen und Begabungen deines eigenen Körper-Geistes. Wenn dann das getrennte Ich in die große Weite seines eigenen allgegenwärtigen Gewahrseins erstirbt, wirst du von einem oder allen dieser verschiedenen erleuchteten Potentiale beseelt wieder auferstehen. Du bist dann nicht von der großen Suche motiviert, sondern vom großen Mitgefühl dieser Potentiale, die teils sanftmütig, teils rasend sind, aber immer einfach die Möglichkeiten deines eigenen allgegenwärtigen Zustandes. Indem du nun so im schlichten, klaren, allgegenwärtigen Gewahrsein ruhst, wirst du dich mit den Eigenschaften und Tugenden deiner eigenen höchsten Potentiale erheben – vielleicht Mitleid, vielleicht Unterscheidende Weisheit, vielleicht kognitive Erkenntnis, vielleicht heilende Gegenwart, vielleicht zornige Erinnerung, vielleicht künstlerische Leistung, vielleicht sportliche Fähigkeiten, vielleicht erzieherisches Talent oder vielleicht etwas ganz Einfaches, wenn man vielleicht einfach der beste Blumengärtner in seinem Viertel ist (man verwirklicht, mit anderen Worten, eine der Entwicklungslinien, die in ihren ursprünglichen Zustand freigesetzt wurden, in ihren ureigenen post-postkonventionellen Zustand).2 Wenn der Körper-Geist von den Grausamkeiten befreit ist, die ihm die Selbst-Zusammenziehung zufügt, strebt er von selbst seinem höchsten Zustand zu, der in den großen Potentialen des erleuchteten Geistes aufscheint, den großen Potentialen schlichten, allgegenwärtigen Gewahrseins. Wenn du so im schlichten, allgegenwärtigen Gewahrsein ruhst, bist du der große Ungeborene; aber wenn du geboren wirst, wenn du dich aus dem allgegenwärtigen Gewahrsein erhebst, wirst du bestimmte Eigenschaften an dir tragen, die dem inneren GEIST eigen sind, Eigenschaften, die von den Veranlagungen deines eigenen Körper-Geistes und seiner jeweiligen Begabungen getönt sind. Und in welcher Form du auch immer wiederauferstehst, du wirst nicht von der Großen Suche, sondern von deiner Großen Pflicht gedrängt auferstehen, von deinem grenzenlosen Dharma, der Manifestation deiner eigenen höchsten Potentiale, und die Welt wird sich ändern, weil du sie änderst. Und du wirst niemals zaudern, du wirst niemals in der Erfüllung dieser großen Pflicht versagen, und du wirst dich niemals abwenden, weil das schlichte, allgegenwärtige Gewahrsein jetzt und immer mit dir sein wird, bis zum Ende der Welten, weil es jetzt und immer und für alle Zeit nur GEIST gibt, nur inneres Gewahrsein, nur das schlichte Gewahrsein von einfach diesem, und weiter nichts.
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Aber diese ganze Reise zum Seienden beginnt am anfangslosen Anfang: Man beginnt mit der einfachen Erkenntnis desjenigen, was immer schon der Fall war. ("Wenn du dies verstehst, dann ruhe in demjenigen, was versteht, und genau dies ist der GEIST. Wenn du dies nicht verstehst, dann ruhe in demjenigen, das nicht versteht, und genau dies ist der GEIST.") Man lässt diese Erkenntnis des allgegenwärtigen Gewahrseins auftauchen, sanft, beliebig, spontan, am Tage und in der Nacht. Dieses schlichte allgegenwärtige Gewahrsein ist nicht schwierig zu erlangen, sondern vielmehr unmöglich zu vermeiden, und man nimmt dies einfach zur Kenntnis. Dies tut man sanft, beliebig und spontan, am Tage und in der Nacht. Schon bald wird im Zustand des Wachens, Träumens und Schlafens diese Erkenntnis von selbst und durch ihre eigene innere Kraft wachsen und die Hindernisse überstrahlen, die ihre Natur zu überdecken scheinen, bis dieses schlichte, allgegenwärtige Gewahrsein sich in einer ununterbrochenen Kontinuität in allen Zustandsveränderungen ausspricht, in allen Veränderungen von Raum und Zeit. Dann verlieren Raum und Zeit jegliche Bedeutung und werden sichtbar als das, was sie sind, die glänzenden Schleier der strahlenden Leerheit, die du allein jetzt bist und du wirst ohnmächtig in dieses Schöne versinken, in dieses Wahre ersterben und dich in diesem Guten auflösen, und es wird niemanden mehr geben, der von Schrecken Zeugnis ablegen könnte, der Tränen ernst nehmen könnte, der Missbefinden konstruieren könnte, der das Göttliche leugnen könnte, das allein ist, das allein immer war und das allein immer sein wird. Und irgendwo in einer kristallklaren kühlen Nacht wird der Mond auf eine still wartende Erde scheinen, nur um diejenigen, die zurückgeblieben sind, daran zu erinnern, dass alles ein Spiel ist. Das Mondlicht wird in deren schlummernden Herzen Träume entzünden, und die Sehnsucht nach einem Erwachen wird sich in den Tiefen dieser ruhelosen Nacht regen. Du wirst wiederum den Drang verspüren, auf diese flehentlichen Gebete zu antworten, und du wirst dich gerade hier, gerade jetzt vorfinden und dich fragen, was dies alles eigentlich zu bedeuten hat – bis die blitzartige Erkenntnis dein Antlitz erhellt und alles ungeschehen gemacht wird. Dann wirst du dich als der Mond selbst erheben und diese Träume in deinem eigenen Herzen singen; du wirst dich als die Erde selbst erheben und alle ihre gesegneten Bewohner verherrlichen; du wirst dich als die Sonne selbst erheben, unendlich strahlend und viel zu offensichtlich, als dass man sie sehen könnte, und in diesem Einen Geschmack ursprünglicher Reinheit, ohne Anfang und ohne Ende, ohne Eingang und ohne Ausgang, ohne Geburt und Tod tritt alles in ein unumstößliches Dasein. Das Geräusch eines irgendwo in der Ferne singenden Wasserfalls ist alles, was noch verbleibt, um diese Geschichte zu erzählen, spät in dieser kristallklaren Nacht, die in ein herrliches Mondlicht getaucht ist, einfach so, einfach so.
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Als der große Zen-Meister Fazang im Sterben lag, keckerte ein Eichhörnchen auf dem Dach. "Das ist es", sagte er, "und weiter nichts".
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Anmerkungen Einleitung 1 Siehe Ken Wilber: Quantum Questions: Mystical Writings of the World's Great Physicists, Boston: Shambhala Publications, 1985. 2 Die Begriffe "integral" und "integrale Studien" werden manchmal mit Sri Aurobindo, seinem Schüler Haridas Chaudhuri und dem California Institute of Integral Studies (gegründet von Chaudhuri u. a.) in Verbindung gebracht, weshalb vielleicht einige Worte zu diesen angemessen sind. Wie auf den folgenden Seiten deutlich werden wird, hatte und hat Aurobindo erheblichen Einfluss auf mein Werk. Von ihm ging, wie Kapitel 6 zeigen wird, der maßgebliche Impuls für meinen Übergang vom "romantischen/Wilber-I-Modell" zu einem Modell "Aurobindo/Wilber-II" aus. Allerdings habe ich dieses Modell weiter verfeinert zu "Wilber-III" und "Wilber-IV", womit ich mich in Kapitel 9, 10 und 11 befassen werde. Insofern stellen diese Kapitel auch meine Kritik an Aurobindo (und Chaudhuri) dar. In ihren Grundzügen ließe sich diese Kritik wie folgt umreißen. Aurobindo und Chaudhuri waren Pioniere eines individuellen integralen Yoga. Dieser Yoga legt den Nachdruck auf die Integration des aufsteigenden und absteigenden Stroms im Menschen, um so das ganze Spektrum des Bewusstseins im transzendenten/aufsteigenden und immanenten/absteigenden Modus zu erfassen. "Aufstieg und Abstieg sind also zwei untrennbare Aspekte der Bewegung des integralen Yoga; sie sind Systole und Diastole der integralen Selbst-Schulung." (Chaudhuri 1965, S. 41) Dem stimme ich voll und ganz zu. Aber dieser Ansatz ist doch nur der Einstieg in eine viel umfassendere Sichtweise. Ein wirklich integraler Yoga muss die westlichen Beiträge zu Psychologie, Psychotherapie und persönlicher Transformation viel umfassender berücksichtigen (WilberIII), und er muss insbesondere in den Kontext der vier Quadranten und ihrer geschichtlichen Entfaltung eingebunden sein (Wilber-IV). Meine Kritik an Aurobindo und Chaudhuri läuft daher nicht auf eine Zurückweisung, sondern auf eine Verfeinerung ihres Modells hinaus, ohne die allerdings ihr System, wie ich glaube, recht beschränkt und
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einseitig bleibt. Dies wird in den folgenden Kapiteln noch deutlicher werden. 3 Im strengen Konstruktivismus ist das individuelle Subjekt (das Ich) in lauter intersubjektive linguistische Signifikate aufgelöst, was als der berühmte "Tod des Subjekts", der "Tod des Urhebers", der "Tod des Menschen" heftig gefeiert wird. Die Sprache tritt an die Stelle des individuellen Selbst als das eigentliche Subjekt des Diskurses (das heißt, man spricht nicht, sondern die Sprache spricht durch einen), und so werden Sie und ich in die Geisterbahn der Irrelevanz geschickt: Das Ich wird in nichts als das linguistische Wir dekonstruiert, und das tote Subjekt spukt durch die Gewölbe des postmodernen Vakuums. Aber nicht nur alle Iche (mit ihrer Wahrhaftigkeit) werden in ein linguistisches Wir aufgelöst, sondern auch alle Es-heiten (mit ihren objektiven Wahrheiten) verflüchtigen sich im Spiel der willkürlichen Konstruktion. Es ist vorbei mit Wahrheit und Wahrhaftigkeit, und an ihrer Statt regiert eine kulturelle Konstruktion, deren Triebfeder nichts als Machtgier, Ideologie und Geschlechtsinteressen sind, irgendein -zentrismus – eine lange Reihe hässlicher Motive von hässlichen Leuten. Aber indem diese Leute ihre Theorien vorbringen, tun sie doch etwas, was ihre eigenen Theorien kategorisch für unmöglich erklären (nämlich eine, wie sie glauben, macht- und ideologiefreie Theorie vorzulegen). Das Ich und das Es, denen im Augenblick des allmächtigen konstruierenden Wir jegliche wahre Existenz abgesprochen wird, behaupten sich letztlich doch als innere Widersprüche. Die Teilwahrheiten des Konstruktivismus können also nur dann aufgegriffen und zu einer weiteren, umfassenderen, integraleren Sichtweise umgearbeitet werden, wenn die verworfenen Bereiche wieder eingegliedert werden. 4 Sehr aufschlussreich ist die Gegenüberstellung von kulturellen Konstruktivisten, die alles auf das dynamische kollektive Wir (unten links) reduzieren, und Systemtheoretikern, die alles auf ein dynamisches kollektives Es reduzieren (unten rechts). Wir haben es hier wiederum mit einer Variante des Gegensatzes zwischen innerem und äußerem Holismus zu tun. Der kulturelle Konstruktivismus (oder innere Holismus) definiert Wahrheit primär nach einer Kohärenztheorie, das heißt, sie wird aus intersubjektiver Verflechtung und kultureller Bedeutung gesetzt, weil es keine objektiven Es-heiten gibt, in denen sich Adäquationstheorien der Wahrheit verankern ließen. Das Kulturelle allein ist wirklich, das Wir allein ist wirklich, und so werden alle Wahrheit und Wahrhaftigkeit auf kulturelle Interessen und willkürliche Konstruktionen reduziert, die selbst nur existieren, weil sie ein gewisses Maß an Kohärenz haben: Das Kulturelle allein ist wirklich, und alle anderen
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"Wahrheiten" leiten sich vom großen konstruierenden Wir her. Ich- und Es-heiten brauchen sich gar nicht erst um die Mitgliedschaft in diesem Kulturclub zu bemühen: Sie werden von der Tür gewiesen. Die Systemtheorie (der externe Holismus) wiederum findet Wahrheit in funktionellem Passen, einem interobjektiven Geflecht: Das Gesellschaftliche allein ist die primäre Wirklichkeit. Gemeinsam ist dem inneren und dem äußeren Holismus, dass sie ihre Wahrheitsbehauptungen im Kollektiv verankern, der eine im Kulturellen (unten links), der andere im Sozialen (unten rechts). Weil sie beide "holistisch" sind, könnte man vielleicht erwarten, dass sich beide in ihrem Anliegen ganz gut ergänzen würden, aber in Wirklichkeit blicken sie aufeinander herab, denn ersterer ist die Verkörperung des Subjektivismus, letzterer diejenige des Objektivismus: das große systemische Wir steht dem großen systemischen Es gegenüber. So wird man zum Beispiel niemals von einem Systemtheoretiker hören, dass alle Systeme bloß konstruiert oder willkürlich seien, oder nur als Ideologie des Geschlechts, der Macht, des Rassismus usw. existieren. Systemtheoretiker sind im großen und ganzen überzeugte Naturwissenschaftler, durch und durch monologisch, und sie glauben, dass es ihre Systeme wirklich gibt, dass sie weitgehend unabhängig von den Begriffen, mit denen man sie beschreibt, existieren: Wirkliche Wissenschaftler studieren wirkliche Systeme in der wirklichen Welt. Mit einem "willkürlichen Konstruktivismus" wollen sie nichts zu tun haben. Äußere Holisten sind in praktisch jeder Hinsicht Realisten. Die inneren Holisten, die kulturellen Konstruktivisten, glauben natürlich nicht an irgendwelche unabhängige oder realistische "Esheiten", seien sie dynamisch, Prozesshaft, verflochten, systemisch oder sonst etwas, weil für sie alle "Es-heiten" und alle "Ich-heiten" kulturell konstruierte Hervorbringungen des sprachlichen Wir sind. Sie glauben daher, dass die "Systeme" der Systemwissenschafter bloß willkürliche Erfindungen einer eurozentrischen Rationalität sind, die nichts anderes im Sinn hat, als die Macht über die ganze Welt an sich zu reißen. Es ist eine Macht, deren höchster Ausdruck epische Entwürfe und Vereinheitlichungsvorhaben sind wie die Systemtheorie, Projekte, deren Triebfeder eine marginalisierende, hegemonische, unterdrückende und gewalttätige Aggressivität übelster Art ist – dies alles als Erkenntnisstreben herausgeputzt, das in Wirklichkeit nichts anderes ist als nur spärlich verhüllte Machtgier. Innerer und äußerer Holismus sind also beide durchaus teilweise wahr, aber letztlich durchaus un-holistisch, weshalb sie einander auch ständig an die Gurgel gehen. Und immer wieder wissen sich die verleugneten und unterdrückten Quadranten in wunderbarer Weise doch
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zu behaupten; sie machen den Imperialisten als massive innere Widersprüche das Leben schwer, zersprengen ihre Enge zu einer weiteren und offeneren Schau und sprechen uns alle im Namen einer integraleren Auffassung an.
1. Das Spektrum des Bewusstseins 1 Das Vedanta-System (und sein ferner Verwandter, das Vajrayana) enthält ein vorzügliches Gesamtmodell der Strukturen und Zustände des Bewusstseins, das ich schematisch wie folgt darstellen würde: Die fünf "Hüllen" sind Umhüllungen des Bewusstseins oder "Geistes" (mind) im weitesten Sinne, das heißt des physischen, emotionellen, begrifflichen, intuitiven und Seligkeits-Bewusstseins. Dies bezeichne ich als die Grundstrukturen des Bewusstseins, die (oberen) linken Dimensionen und Ebenen der menschlichen Psyche. Der Vedanta erkannte jedoch, dass es einen Geist ohne Körper, ein Bewusstsein ohne Träger nicht geben könne. Deshalb wird jeder "Geist" von einem Körper getragen: der unterste Geist vom grobstofflichen Körper, die drei "mittleren" Geister vom feinstofflichen Körper und der höchste oder nichtmanifeste Geist vom kausalen Körper. Diese Körper sind einfach die materiellen Träger des Bewusstseinsprozesses, das heißt mit anderen Worten die rechtsseitigen Dimensionen der menschlichen Psyche. (Im Vajrayana und allgemein im Tantra werden die drei Geister von den drei "Winden" oder Energieströmen getragen, die als grobstofflich, feinstofflich und sehr feinstofflich bezeichnet werden.) Man trifft also die Auffassung des Vedanta/Vajrayana recht gut, wenn man vom grobstofflichen, feinstofflichen und kausalen KörperGeist spricht, die das Spektrum im linken wie im rechten Bereich abdecken, wobei jedoch eine wichtige Bedingung gilt: Gott ist immer "beidhändig" (d. h. diese Bereiche können nicht voneinander getrennt werden: Der grobstoffliche Geist tritt immer zusammen mit dem grobstofflichen Körper auf, der feinstoffliche Geist mit dem feinstofflichen Körper usw.). Weiterhin sind gemäss dem Vedanta/Vajrayana diese Grundstrukturen – die Ebenen des Körper-Geistes, von der grobstofflichen über die feinstoffliche bis zur kausalen – als dem Menschen beständig zur Verfügung stehende Hüllen oder Ebenen mit vorübergehenden Bewusstseinszuständen (also nicht dauerhaften Strukturen, sondern vorübergehenden Zuständen] wie folgt verbunden:
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Der grobstoffliche Körper-Geist wird typischerweise im Wachzustand erfahren, der feinstoffliche Körper-Geist im Traumzustand, und der kausale Körper-Geist (das Nichtmanifeste) im traumlosen Tiefschlafzustand. Zu beachten ist hierbei, dass Strukturen und Zustände nicht dasselbe sind (eine Verwechslung, die schon manche transpersonale Theorie in große Schwierigkeiten gebracht hat). In den verschiedenen meditativen Zuständen werden die höheren Ebenen des Körper-Geistes zu Gewahrsein gebracht, und zwar zunächst als vorübergehende Zustände, dann als dauerhafte Strukturen. Das Ergebnis dieser Umwandlung von Zuständen in Wesensmerkmale ist Moksha, die vollständige Erlösung: eine vollständige Freiheit von aller Manifestation als Allmanifestation. Es ist, mit anderen Worten, die uneingeschränkte Erkenntnis jenes GEISTES, der sowohl das Ziel als auch der Grund aller Zustände und aller Strukturen ist (Turiya, "das Vierte" jenseits des grobstofflichen, feinstofflichen und kausalen KörperGeistes – mit anderen Worten, die Leerheit und Soheit der ganzen Darbietung, die keine Zustandsänderung ist, sondern die zustandslose Verfassung aller Zustände). Dies ist ein außerordentliches und bei weitem das umfassendste Modell des menschlichen Bewusstseins in allen Traditionen (es umfasst Strukturen, Zustände und Ebenen sowohl des Körpers (der rechten Seite) als auch des Geistes (der linken Seite). Was meiner Meinung nach fehlt, sind die Entwicklungsdetails – aber hierauf ist ja der moderne Westen spezialisiert. Mit dem dort besonders ausgeprägten Gespür für Entwicklungen kann man dieses Modell um Übergangsstrukturen bereichern, die jeweils diesen Grundstrukturen zugeordnet sind. Das Ergebnis einer solchen Synthese wäre eine wahrhaft ost-westliche Gesamtschau. Ein solches Modell lege ich in Kapitel 6 bis 10 vor, wo ich auch dazu Stellung nehme, warum diese Erweiterungen meiner Meinung nach als Ergänzungen des Vedanta/Vajrayana-Modells notwendig sind. Was dem Vedanta/Vajrayana-Modell – und der Philosophia perennis im allgemeinen – weiterhin noch mangelt, ist das Wissen um den tiefgreifenden Einfluss des unteren linken (des kulturellen) und des unteren rechten (des sozialen) Quadranten auf das individuelle Bewusstsein und Verhalten, das sie im übrigen so vorzüglich verstehen (oben links und oben rechts). Die Große Kette zum Beispiel sieht im magischen, mythischen und mentalen Welt-Raum jeweils anders aus und ist anders. Dies heißt einmal mehr nichts anderes, als dass integrale Studien sich nicht nur über alle Ebenen, sondern auch über alle Quadranten erstrecken müssen. Die Arbeiten von Gebser (UL) und Marx (UR) zum Beispiel sind einem traditionellen Theoretiker der Großen Kette unverständlich, und sie sind in der traditionellen Sichtweise nicht
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unterzubringen, die insofern leider unzulänglich ist. 2 Stephen Jay Gould ist derjenige Theoretiker, der am meisten zitiert wird, wenn es darum geht, die Existenz einer Hierarchie in der Natur zu leugnen. Gould ist die Galionsfigur aller antihierarchischen, Flachlandund heterarchischen Theoretiker – obwohl er selbst die antihierarchische Haltung längst aufgegeben hat. Gould ist heute ein klarer Verfechter der Hierarchie sowohl in der Natur als auch in unseren Erklärungsprinzipien. In Sciences (Juli/August 1995) stellt Gould fest: "Wenn wir von aufeinanderfolgenden Stufen reden, scheinen dafür zwei Modi in Frage zu kommen: Sie sind entweder Inkremente des Fortschritts (vom Einfachen zum Komplexen) oder Schritte der Verfeinerung (vom Rudimentären zum Differenzierten). Das Modell für ersteres ist Addition, das für letzteres Differentiation. Ich habe die Grundkonzeptionen der Addition und Differentiation immer als unsere akademischen Vorurteile betrachtet, mit denen wir dem größeren Reichtum der Natur zu Leibe rücken. Aber die Natur... scheint uns hier sagen zu wollen, dass sie diese alternativen Lesarten ihrer grundlegenden Abläufe akzeptiert" (S. 36). Mit anderen Worten, hierarchische Stufen sind ganz real und nicht einfach unsere anthropozentrischen Erfindungen. Gould sagt dies ganz klar: "Ich räume meine ausgeprägte Vorliebe ... für ein Modell gerne ein, nach dem sich Auslese auf verschiedenen Ebenen einer genealogischen Hierarchie vollzieht, die Gene, Organismen, lokale Populationen und Arten umfasst ... Die Natur ist hierarchisch organisiert ... Entitäten auf jeder Ebene der Hierarchie können als biologische Individuen agieren, und deshalb kann Darwins Prozess der Auslese auf allen Ebenen auftreten ..." New York Review of Books, 19. November 1992, S. 47). Ich stimme dem voll und ganz zu. In Eros, Kosmos, Logos vertrete ich die Auffassung, dass die "Einheiten der Auslese" die einzelnen Holons in der Gesamtholarchie sind, was letztlich auch Gould sagt ("Auslese kann daher auf allen Ebenen auftreten"). Darüber hinaus sind Gould zufolge die einzelnen Ebenen nach ihrer Einschließlichkeit angeordnet: "Entitäten (existieren) in einer Abfolge von Ebenen, wobei auf jeder einschließenden Ebene jeweils einzigartige erklärende Prinzipien auftauchen. Diese hierarchische Perspektive muss den Grundsatz ernst nehmen, dass Erscheinungen auf einer Ebene nicht automatisch auf eine andere extrapoliert werden können" (NYRB, 3. März 1983). Deshalb, so fügt er hinzu, sind emergente Eigenschaften wirkliche Eigenschaften von Organismen: "Organismen haben eindeutig emergente Eigenschaften, weil ihre Merkmale ... das Ergebnis komplexer und nichtadditiver Interaktionen sind" (NYRB, 19. November 1992, S. 47). Deshalb ist für Gould wie für praktisch alle großen
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Theoretiker der Biologie, von Francisco Varela bis Ernst Mayr, die Natur hierarchisch geordnet; die Einheiten der Darwinschen Evolution sind hierarchisch geordnet, und die Erklärungsprinzipien der Biologie sind hierarchisch geordnet. Wäre es nicht langsam an der Zeit, dass die Antihierarchiker aufhören, Gould für ihre unhaltbare Position in Anspruch zu nehmen? 3 Damit soll nicht gesagt sein, dass es in der (frühen) Kindheit keine transpersonalen Erfahrungen geben könne. Eine derartige Auffassung habe ich nie vertreten. In Halbzeit der Evolution habe ich vielmehr dargelegt, dass auch das Kleinkind den (grobstofflichen) Wachzustand, den (feinstofflichen) Traumzustand und den (kausalen) Tiefschlafzustand erfährt und diesen ganzen Zyklus alle 24 Stunden durchläuft. Weiterhin habe ich im Atman-Projekt gesagt, dass das Kind in der Tat als "ziehende Wolken der Herrlichkeit" aus dem Zwischenreich (bardo) hervortreten könnte (über das psychische oder tiefere Sein). All dies sind vorübergehende transpersonale Zustände, aber noch keine dauerhaften transpersonalen Strukturen, die sich erst im Laufe einer ontogenetischen (frontalen) Entwicklung herausbilden. Deshalb gilt, dass transpersonale Zustände in der frühen Kindheit nicht auf präegoischen Strukturen beruhen. Dies ist in Kapitel 7, 9 und 10 noch ausführlicher dargestellt.
3. Auge in Auge 1 Wenn sich Philosophie (oder ganz allgemein intellektuelles Gewahren) intensiv auf ihren eigenen Ursprung konzentriert (das heißt die bezeugende Subjektivität, das reine Selbst), dann kann eine solche Philosophie in der Tat in Jnana-Yoga übergehen, den Yoga der Transzendierung des Geistes (mind) mit Hilfe des Geistes (mind). Bei tiefer, unablässiger Erkundung des Zeugen aller Erkenntnis weitet sich diese spezielle Form philosophischer Erkundung zu einem kontemplativen Gewahren: Der Geist selbst geht in der großen Weite ursprünglichen Gewahrens auf, und die philosophia weicht der
contemplatio. Aber es gibt nur wenige Philosophen, die den Geist einsetzen, um den Geist zu transzendieren. Jnana-Yoga ist im Osten sehr verbreitet, aber im Westen nur sehr selten zu finden, auch wenn er dann sehr tief sein kann. In Eros, Kosmos, Logos habe ich dies als "westlichen Vedanta" bezeichnet und einige seiner Vertreter erwähnt, wie z. B. Augustinus, Descartes, Fichte, Schelling, Hegel, Husserl und Sartre.
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Der Kern der integralen Philosophie, wie ich sie verstehe, ist also vor allen Dingen die mentale Tätigkeit, durch die die verschiedenen Modi der Erkenntnis und des Seins koordiniert, aufgehellt und begrifflich integriert werden, so dass die integrale Philosophie, auch wenn sie selbst die höheren Modi nicht herbeiführt, diese doch anerkennt und es der philosophia erlaubt, sich für die Praktiken und Modi der contemplatio zu öffnen. Integrale Philosophie ist aufgrund ihres umfassenden Charakters auch eine ausgeprägt kritische Theorie, und ihre Kritik richtet sich gegen alle weniger umfassenden Ansätze in Philosophie, Psychologie, Religion, Gesellschaftstheorie und Politik. Und schließlich ist sie auch eine theoria, die auf allen Ebenen und in allen Quadranten untrennbar mit der praxis verbunden ist.
4. Eine integrale Theorie der Kunst (1) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Einen Grundriss einer integralen Semiotik siehe in Kapitel 5, Anm. 12. Zitiert in Passmore, Serious Art, S. 16. 3 Zitiert ebenda. G. Bataille, Visions of Excess, S. 174. Ebenda, S. 174. Zitiert ebenda, S. XI. J. Culler, On Deconstruction, S. 215. Hervorhebungen von mir. Ebenda, S. 123. Hervorhebungen von mir. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, S. 231. Wimsatt und Beardsley, "The Intentional Fallacy", in: W. K. Wimsatt 1966. 11 Passmore, Serious Art, S. 34.
5. Eine integrale Theorie der Kunst (2) 1 Sigmund Freud, Studienausgabe (10 Bde. + Erg. Bd.), Frankfurt am Main: S. Fischer, 1969-75, Bd. 10, S. 109. 2 Heidegger 1997, S. 27 f. 3 Zitiert in M. Schapiro, Theory and Philosophy of Art, Kap. 5 und 6. Schapiro setzt sich mit der Frage auseinander, auf welches der verschiedenen Gemälde, die Schuhe darstellen, Heidegger und Gauguin sich beziehen; weil aber Heidegger sagt, dass sein Argument für jedes der verschiedenen Gemälde gilt, ist dies für meine allgemeine
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Schlussfolgerung belanglos. Gauguin hat zwei sehr bewegende Darstellungen von dieser Geschichte gegeben, die ich hier zusammengefasst habe, um möglichst viele Details zu berücksichtigen. Meyer Schapiros zahlreiche Bücher sind eine großartige Materialquelle (u. a. Late Antique, Early Christian and Mediaval Art; Romanesque Art; Modern Art; und Theory and Philosophy of Art: Style, Artist, and Society), und ich empfehle sie nachdrücklich. Wenn ich übrigens sage, dass alle vier Quadranten evolvieren, dann ist damit auch gemeint, dass Kunst selbst evolviert. Hierfür werde ich immer wieder kritisiert. Und ich kann es durchaus verstehen, wenn manche Menschen sagen: Wie kann von einer irgendwie gerichteten Entwicklung die Rede sein, wenn etwa ein Picasso primitive Bilder malt? Und wenn hier eine Richtung erkennbar sein soll, verläuft diese dann nicht rückwärts? Wie könnte Kunst den zwanzig Grundaussagen gehorchen, die ich in EKL für alle Bereiche postuliert habe? Weiterhin liebt es der eine modern, der andere afrikanisch, der dritte postmodern usw.: Wer wollte sich anmaßen zu sagen, dass eine dieser Richtungen "weiter entwickelt" sei? (Der übliche postmoderne Horror vor qualitativen Unterscheidungen – der natürlich selbst uneingestandenermaßen eine massive qualitative Unterscheidung ist: Die Haltung der Postmoderne ist besser als die Alternativen!) Wie stets beim Thema Evolution bekommt man das Problem erst dann richtig in den Blick, wenn man es aus einer ausreichenden Distanz betrachtet, die erst langfristige Trends sichtbar macht. Sich nur auf bestimmte Stilrichtungen und Inhalte der Kunst zu konzentrieren ist für sich genommen sicher nützlich und interessant, aber Eros entdeckt man in dieser Weise nicht. Fragen wir also bei den wenigen Kunsthistorikern nach, die die historische Entfaltung von Grundelementen der Kunst auf einer genügend tiefen Ebene, die also die Tiefenstrukturen der ästhetischen Dimension erkundet haben. Ein solcher Ansatz ist Meyer Schapiros Buch Theory and Philosophy of Art. Schapiro ist eine Ausnahmeerscheinung: Er ist nicht nur selbst ein berühmter Künstler, sondern auch ein erstklassiger Philosoph und ein begabter Schriftsteller. Richard Wollheim, Mill Professor der Philosophie in Berkeley, gibt folgende Zusammenfassung einer der zentralen Schlussfolgerungen von Schapiros Forschungsarbeiten, die, wie Wollheim sagt, "gewiss zu den grundlegenden Schriften der Kunstgeschichte gehören": Am Anfang schufen unsere Vorfahren figürliche Bilder der Tiere, die sie jagten. Dabei achteten sie nicht auf die Oberfläche, auf der sie die Darstellungen anbrachten. Dann taten sie es, und sie entdeckten
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Verwendungsmöglichkeiten für den Untergrund, sei es als Darstellungselement oder zur Steigerung des Bildes. Aber sie achteten nicht auf die Tatsache, dass, wie es bei Oberflächen in der Natur eben der Fall ist, der Untergrund Grenzen hatte. Dann taten sie es, und sie lernten zwischen den horizontalen und den vertikalen Rändern zu unterscheiden. Sie entdeckten spezifische Verwendungsmöglichkeiten für beide, aber sie achteten nicht darauf, wo bei dem Untergrund mit seinen Rändern oben und unten sein sollte. Dann taten sie es, und sie legten fest, wo oben sein sollte, und begannen, Verwendungsmöglichkeiten für die Orientierung zu finden. Und so weiter [unter anderem bis zum Auftauchen der Perspektive innerhalb der Orientierung ...]. Schritt für Schritt, und nicht ohne absichtliche oder unabsichtliche Regressionen wurden immer neue Aspekte explizit erkannt und so ein Medium aus den natürlichen Materialien entwickelt... (London Review of Books, 22. Juni 1995). Mit anderen Worten, wir beobachten hier die Entfaltung oder Emergenz von Welt-Räumen, die jeweils die fundamentalen und neu gelernten Elemente des früheren Welt-Raums transzendieren und einschließen (denn sonst würden und könnten sie selbst nicht emergieren: Das Signifikantere ruht auf dem Grundlegenderen, weil es dieses nach wie vor in sich enthält). Wollheim und Schapiro zeigen klar, dass dasselbe im großen Maßstab auch für den künstlerischen und ästhetischen Bereich gilt. "Sie achteten nicht darauf" bedeutet "sie sahen es nicht", und zwar deshalb nicht, weil es einfach nicht in ihrem Welt-Raum war: Es war noch nicht emergiert, es existierte buchstäblich nicht. "Und dann taten sie es" bedeutet "und dann konnten sie es (sehen), weil es jetzt emergiert war, weil es jetzt im neuen Welt-Raum existierte, der jetzt ins Dasein getreten war: Er hatte sich entwickelt, war emergiert oder evolviert, und er baute auf seinen Vorläufern auf, weil er sie einschloss und transzendierte. Wie Habermas gern sagt, kann Lernen nicht nicht geschehen. Und Lernen geschah in der ästhetischen Dimension ebenso wie überall sonst. Schapiro gibt einen hervorragenden Überblick darüber, wie die grundlegenden Elemente der ästhetischen Wahrnehmung historisch erlernt, ausgewählt und weitergegeben wurden (mit anderen Worten: Evolution). Aber diese ganze Entwicklung sieht man nicht, solange man nur auf an der Oberfläche liegende Dinge wie Stil, Inhalt, Thema usw. achtet. Selbst wenn also Picasso auf einen Primitivismus "regrediert", benutzt er doch Techniken und Perspektiven, die bei den ursprünglich "Primitiven" nicht vorhanden waren; er hat deren grundlegende Errungenschaften transzendiert und schließt sie ein, auch wenn er seine
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fortgeschrittene Technik hinter groben Linien verbirgt. So etwas genügt, um die meisten Kunstkritiker, die die Evolution nicht zu erkennen vermögen, völlig durcheinanderzubringen. Nicht aber Schapiro: Er sieht, vielleicht weil er selbst ein begabter Maler ist und alle Kniffe kennt, den fundamentalen Entwicklungsfortschritt auch in Picassos großartigen Abschweifungen. So entwickelt und entfaltet sich, um es kurz zu machen, die ästhetische Dimension nicht anders als Holons überall im Kosmos. Ich würde lediglich hinzufügen, dass jede dieser ästhetischen Entfaltungen Korrelate in den übrigen Quadranten hat. Eine neue ästhetische Wahrnehmung geht mit einer neuen Produktionsweise einher, einer neuen Ich-Empfindung (mit neuen Motivationen), einer neuen kulturellen Weltsicht (mit neuen intersubjektiven Werten), neuen Verhaltensmustern usw. Der ästhetischen Dimension aber gilt meine besondere Vorliebe. Sie erinnert uns an die Schönheit aller Stufen der Selbstverwirklichung des GEISTES. Sie hinterlässt eine klar erkennbare Spur von Schönheit zu Schönheit zu Schönheit, leuchtet aus der strahlenden Leere, lädt uns alle ein, uns immer wieder in die majestätische Großartigkeit der strahlenden Darbietung zu verlieben, und erinnert uns stets daran, dass Schönheit nicht bloß eine schöne Oberfläche, sondern ein überaus tiefer Erkenntnismodus ist: Schönheit ist die unmittelbare Wahrnehmung der Tiefe des Göttlichen, und mit der Entfaltung dieser Tiefe entfaltet sich auch diese wundersame Schönheit. Die Geschichte dieser Entfaltung ist die Geschichte der Kunst und Ästhetik in ihren vielen Dimensionen. Diese Geschichte endet für jeden einzelnen dann, wenn die Tiefe zur Unendlichkeit ausläuft, die Schönheit zur Gottheit eingeht, das Ich sich im Ich-Ich auflöst, Agenz in reine Leerheit einmündet, die die äußerste Tiefe des Göttlichen und die höchste Schönheit des GEISTES ist, eine grenzenlose und unendliche Freiheit, deren Es der Dharma, deren Wir der Sangha und deren Ich der Buddha ist: Das Wahre, das Gute und das Schöne. D. Hoy, The Critical Circle, S. 9. Zitiert in Passmore, S. 27. Zitiert ebenda. Hoy, S. 164-165. Ebenda, S. 69. Zitiert in C. Bengey, "Native American", The New Republic, 9. Oktober 1995, S. 38. Mit anderen Worten, die drei Stränge aller gültigen Erkenntnis (Injunktion, Wahrnehmung und Bestätigung, oder Musterbeispiel, Befund und Rechtfertigung, oder Paradigma, Daten und
Widerlegbarkeit) gelten unzweifelhaft auch für die Hermeneutik, wie sie auch für die empirische Wissenschaft und die Kontemplation gelten. Die Interpretation von Kunstsymbolen hat, am Rande bemerkt, viel mit der Traumdeutung gemein, und die hier vorgelegte integrale Hermeneutik ist (als Teil einer integralen Semiotik im allgemeinen) unbedingt für beides gedacht. In Kapitel 5 von Psychologie der Befreiung lege ich eine Theorie der Traumdeutung vor, der zufolge jedes Traumsymbol Träger von Bedeutungen aus praktisch jeder Ebene des Spektrums des Bewusstseins sein könnte, wobei dasselbe Symbol oft auch Träger von Bedeutungen vieler verschiedener Ebenen zugleich sein kann. Ich habe dort gesagt, dass man solche Träume am einfachsten in der Weise interpretiert, dass man auf den unteren Ebenen beginnt und sich nach oben durcharbeitet (von physischer Bedeutung über emotionale, mentale und existentielle zu spiritueller Bedeutung), wobei jeder umfassendere Kontext neues Licht auf das Traumsymbol wirft und neue Bedeutungen erkennbar macht (und Bedeutungen sind um so zutreffender, je stärker das "Aha-Erlebnis" auftritt oder je aussage- und bildkräftiger sie sind). Dasselbe gilt natürlich für die Kunst (und Symbole im allgemeinen). Das Spektrum des Bewusstseins ist ebenso im Schöpfer (als Teil der Bewussten oder unbewussten Intentionalität des ursprünglichen Holons) wie im Betrachter wirksam (bei einer bestimmten Reaktion des Betrachters kann jede Ebene des Spektrums aufgerufen werden). Ein und dasselbe künstlerische Symbol (z. B. ein Paar Schuhe) kann auf allen möglichen Ebenen des Spektrums gedeutet werden – beim Künstler und Betrachter gleichermaßen –, und alle diese vielschichtigen Interpretationen können gültig sein (wie dies auch für das Traumsymbol oder überhaupt jegliches Symbol gilt). Die Aufgabe einer integralen Hermeneutik besteht u. a. darin, diejenigen Ebenen möglichst genau zu bestimmen, die für eine begründbare Interpretation in einem vorliegenden Betrachtungsfall berechtigterweise herangezogen werden können. Welche Ebenen des Spektrums des Bewusstseins sind zum Beispiel bei der Schöpfung eines bestimmten Kunstwerks Bewusst oder unbewusst wirksam? Welche Ebenen werden am häufigsten bei Betrachtern angesprochen (Bewusst oder unbewusst)? Ist diese spezifische Wirkung vom Schöpfer beabsichtigt oder nicht? Und so weiter. Das Beispiel von van Goghs Schuhen hat gezeigt, wie wichtig die höheren Ebenen des Bewusstseins für eine gültige Interpretation sein können. Wie ich in diesem ganzen Band immer wieder sage, würde die Zulassung des ganzen Spektrums des Bewusstseins jede Disziplin
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ändern, auf die sie sich richtet, und die Kunst ist davon nicht ausgenommen. 11 Hoy, S. 69, 76. 12 Wir können jetzt die verschiedenen Theorien der Kunstinterpretation in den vier Quadranten durchgehen, wobei zugleich die vier in jedem Holon einschließlich des Kunstholons vorhandenen Facetten beleuchtet werden. Das eigentliche materielle Kunstwerk (das materielle Gemälde, Buch, Ausstellungsstück, die dargebotene Musik) ist der obere rechte Quadrant. Auf dieses Kunstwerk-Holon konzentrieren sich insbesondere die formalistischen Theorien; ihr Thema ist der Zusammenhang zwischen den Elementen im materiellen Kunstwerk-Signifikat, die eigentliche Form des Kunstwerk-Holons, wie es im öffentlichen Raum existiert. Das Kunstwerk ist aber auch Ausdruck der ursprünglichen Absicht des Künstlers oder Schöpfers, und diese ursprüngliche Absicht, das Urholon, ist der obere linke Quadrant. Dieser Quadrant ist der Ort des Spektrums des Bewusstseins, wie es sich in einem Individuum manifestiert, was bedeutet, dass jedem von uns (und damit eben auch dem Künstler oder Schöpfer) wirklich ein Intentionalitätsspektrum zur Verfügung steht. Alle diese Ebenen des Bewusstseins und der Intentionalität können sich auf die Ausbildung des Urholons auswirken (die ursprüngliche Absicht des Künstlers, die schließlich im öffentlichen, materiellen Kunstwerk Gestalt annimmt). Zu den Interpretationstheorien, die sich vor allem mit dem ursprünglichen Holon befassen, zählen die expressivistische und die Intentionalitätstheorie, die die ursprüngliche Absicht des Schöpfers (das Urholon) zu rekonstruieren und wiederherzustellen versuchen sowie bestimmte symptomatische Theorien, insoweit sie die individuelle unbewusste Intentionalität aufzudecken, zu entschlüsseln und zu interpretieren versuchen. (Und man könnte hinzufügen, dass das ganze Spektrum des Bewusstseins den umfassendsten Kontext bildet, aus dem diese allgemeinen Bewussten oder unbewussten Intentionalitäten des Künstlers und des Betrachters gleichermaßen verstanden werden können.) Aber weder das Urholon noch das Kunstwerk-Holon existieren als isoliertes und sich selbst betrachtendes Element. Beide sind in weitere und tiefere kulturelle und soziale Kontexte eingebunden. Der intersubjektive kulturelle Hintergrund, in dem das Urholon entsteht, ist der untere linke Quadrant. Dies ist das weite Sammelbecken kollektiver Signifikate und Weltsichten, in dem und auf dem individuelle Bedeutung wie ein Kork auf dem Wasser schwimmt und der vorgibt, welche Deutungen vorgenommen werden und vorgenommen werden können. Zu den Theorien, die diesen historischen kulturellen Hintergrund im
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Auge haben, zählen die Theorien der Rezeption und Reaktion und der Betrachter-Reaktion sowie jene symptomatischen Theorien, die die kulturelle Konstruktion von Bedeutung in den Mittelpunkt rücken. Neben diesem intersubjektiven kulturellen Hintergrund existieren die Ur- und Kunstwerk-Holons weiterhin in einem weiten interobjektiven sozialen System, dem unteren rechten Quadranten. Dieser stellt die Summe der materiellen, strukturellen, institutionellen und technischwirtschaftlichen Systeme – und das große Sammelbecken kollektiver Signifikanten – dar, die die materielle Seite der Kommunikation und des sozialen Aktionssystems im allgemeinen bestimmen. Hierzu gehören die verschiedensten Dinge, von den Produktionsmitteln bis zu geopolitischen Orten, von Verfahren der Informationsübertragung bis zu gesellschaftlichen Klassenunterschieden, von Einkommensverteilungen bis zu Strukturen linguistischer Signifikanten – alles Dinge, die erheblichen Einfluss auf den Künstler und das Kunstwerk haben. Zu den Theorien, die aus der Sichtweise des unteren rechten Quadranten interpretieren, zählen die marxistische, die sozialfeministische, die imperialistische und die ökologische – kurz, alle symptomatischen Theorien, insoweit sie sich auf die allgemeineren Strömungen des Gesellschaftssystems konzentrieren. Worauf es nun ankommt, ist, dass eine integrale Hermeneutik, das heißt eine integrale Kunst- und Literaturtheorie, und eine integrale Semiotik im allgemeinen alle diese Quadranten und alle Ebenen innerhalb dieser Quadranten ausdrücklich einschließt: alle Quadranten, alle Ebenen. Dies hat nichts mit Eklektik zu tun, sondern liefert einfach eine schlüssige Erklärung für die Strukturen von Holons. Schließlich noch ein Wort zu einer integralen Theorie der Semiotik im allgemeinen. Zu den Puzzlestückchen einer solchen Theorie zählen unter anderem: Ferdinand de Saussures Semiologie, der zufolge alle Zeichen, die auf Referenten verweisen, aus einem materiellen (oder äußerlichen) Signifikanten und einem geistigen (oder inneren) Signifikat bestehen; Charles Peirce' Semiotics, dem zufolge Zeichen nicht dyadisch (Signifikant und Signifikat), sondern vielmehr triadisch sind ("eine Aktion oder ein Einfluss, der eine Operation dreier Subjekte darstellt oder beinhaltet, wie z. B. ein Zeichen, dessen Objekt und den Interpretierenden, und dieser dreifache Einfluss ist in keiner Weise zu einer Aktion zwischen Paaren auflösbar"); die Sprechakttheorie von J. L. Austin und John Searle; die Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas; der Entwicklungs-Strukturalismus (z.B. Piaget); und die traditionelle Hermeneutik, um nur einige wenige zu erwähnen. Während sich "Semiotik" im engeren Sinne nur auf Peirce' Ansatz bezieht, hat es sich inzwischen eingebürgert, mit diesem Begriff das ganze Gebiet der
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Zeichen und Symbole zu bezeichnen. Nachdem es empirischen, positivistischen, behavioristischen und Repräsentationsparadigmen nicht gelang, eine schlüssige Darstellung zu geben, wie die Vielfalt sprachlicher Bedeutungen entsteht, wurde es zur entscheidenden Frage der Semiotik (und der Erkenntnis überhaupt), wo genau die Referenten von Äußerungen ihren Ort haben. Um ein einfaches Beispiel zu geben: Wenn ich sage: "Ich sehe den Hund", dann kann jeder auf den Hund schauen und deuten, sofern ein solcher da ist. Der wirkliche Hund hat einen einfachen Ort im empirischen Raum, weshalb es ganz einfach ist, diesen Referenten zu lokalisieren. Wenn ich dagegen sage: "Hans ist grün vor Neid, weil Peter gezeigt hat, dass er mehr Mumm hat" – wo ist dann genau der Ort von "Neid" und "Mumm"? Diese Dinge haben keinen einfachen Ort im physischen Raum, weshalb man nicht empirisch auf sie zeigen kann. Man kann nicht den Finger drauflegen. Ebenso kann man den Finger nicht auf die meisten Referenten der Mathematik legen (wo ist die Quadratwurzel von -1?), und ebenso wenig auf diejenigen der Dichtkunst, der Logik oder irgendeine der Tugenden: Man kann nicht auf Ehre, Tapferkeit, Mitgefühl oder spirituelle Erkenntnis zeigen. Aber die Tatsache, dass die meisten der wichtigeren Dinge in unserem Leben keinen einfachen Ort haben, bedeutet nicht, dass sie nicht wirklich seien oder dass es sie nicht gäbe. Es bedeutet lediglich, dass sie nicht im physischen Raum an einem einfachen Ort aufzufinden sind, dass sie nicht im sensomotorischen Welt-Raum vorhanden sind. Nun gibt es aber neben dem sensomotorischen Welt-Raum auch einen emotionellen, magischen, mythischen, rationalen, existentiellen, psychischen, subtilen, kausalen und nichtdualen Welt-Raum. Und alle
diese Welt-Räume haben ihre eigenen phänomenologisch wirklichen Referenten. Ein Hund existiert im sensomotorischen Welt-Raum und kann von jedem Holon mit physischen Augen gesehen werden. Die Quadratwurzel von -1 existiert im rationalen Welt-Raum und kann von jedem gesehen werden, der bis zur Entwicklungsstufe der formalen Operationen fortgeschritten ist. Die Buddha-Natur existiert im kausalen Welt-Raum und kann ohne weiteres von jedem gesehen werden, der auf seinem Entwicklungsweg diese sehr wirkliche Dimension seiner eigenen strukturellen Möglichkeiten erreicht hat. Mit anderen Worten, der wirkliche Referent einer gültigen Aussage existiert in einem spezifischen Welt-Raum. Die empiristischen Theorien sind grundsätzlich gescheitert, weil sie letztlich nur den sensomotorischen Welt-Raum anerkennen und damit nicht einmal den Grund für die Existenz ihrer eigenen Theorien angeben können, die nicht im sensomotorischen, sondern im rationalen Welt-Raum existieren.
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Kurz, der Signifikant (das heißt das materielle Wort "Hund", "-1" oder "Buddha-Natur", wie es auf dieser Seite geschrieben ist oder von einem Menschen ausgesprochen wird) ist der obere rechte Quadrant, das tatsächliche materielle Zeichen. Das Signifikat (was einem in den Sinn kommt, wenn man das Wort "Hund" oder "-1" oder "Buddha-Natur" liest) ist der obere linke Quadrant, die innere Wahrnehmung. Dies meinte Saussure mit dem materiellen Zeichen (Signifikant) und dem Begriff, für den es steht (Signifikat), die sich beide wiederum vom eigentlichen Referenten unterscheiden. Und dieser eigentliche Referent einer gültigen Äußerung existiert, insofern sie gültig ist, in einem gegebenen Welt-Raum, im intersubjektiven Raum, der intersubjektiven Öffnung oder Lichtung, innerhalb deren alle Referenten entstehen (der untere linke Quadrant). Weil alle Signifikanten per definitionem materiell sind, können sie von jedem Lebewesen mit physischen Augen gesehen werden (mein Hund kann die physischen Zeichen auf dieser Seite sehen). Aber das Signifikat kann man nur sehen, wenn man die entsprechende innere Entwicklungsebene erreicht hat. Mein Hund sieht zwar den Signifikanten "Hund", der für ihn aber keine Bedeutung hat, für ihn kein Signifikat ist, weshalb er nicht wissen kann, wo der Referent dieses Wortes tatsächlich ist. Ebenso kann ein Sechsjähriger die Wörter "Quadratwurzel von -1" lesen, aber diese Signifikanten bedeuten für ihn nichts (sie haben kein Signifikat), weshalb der Sechsjährige auch nicht den Referenten begreifen kann (die mathematische Entität, die nur im rationalen WeltRaum existiert). Weil also Referenten nur in bestimmten Welt-Räumen existieren, kann man diese nur sehen, wenn man in seiner Entwicklung bis zu diesem Welt-Raum fortgeschritten ist, wenn man in seiner Entwicklung dieses "entwicklungsbedingte Signifikat" erlangt hat. Deshalb kann jeder das Wort (das Signifikat) "Buddha-Natur" lesen, aber wenn der Betreffende auf seiner Entwicklung nicht bis zur kausalen Dimension fortgeschritten ist, dann bleibt dieses Wort für ihn bedeutungslos (es wird nicht das richtige entwicklungsbedingte Signifikat, die innere Wahrnehmung wachrufen), und deshalb wird der Betreffende die Buddha-Natur nicht wahrnehmen, so wenig, wie der Sechsjährige die Quadratwurzel von -1 wahrnehmen kann. Es gilt also: Alle Referenten existieren in Welt-Räumen (unten links); alle Signifikanten existieren im materiellen und empirischen Bereich (oben rechts), und alle Signifikate sind entwicklungsbedingte Signifikate und existieren oben links. Dabei existieren Signifikanten (oben rechts) und Signifikate (oben links) nicht im luftleeren Raum. Sie haben alle ihre jeweilige kollektive
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Form. Die kollektiven Signifikanten, die Form oder Struktur, die die Regeln und die Codes des Systems von Signifikanten festlegen (unten rechts), heißt einfach Syntax, Die kollektiven Signifikate, die eigentliche Bedeutung, die durch die kulturelle Intersubjektivität erzeugt wird (unten links), heißt einfach Semantik. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die verschiedenen semiotischen Schulen zusammenzuführen, die ich zu Beginn dieser Zusammenfassung erwähnt habe. Wenn man zum Beispiel wahrnimmt, dass das Signifikat (oben links) nur im Raum der kollektiven Weltsicht oder kulturellen Semantik (unten links) erscheint, der den notwendigen Hintergrundkontext für die individuelle Interpretation abgibt, erkennt man einen sehr engen Zusammenhang zwischen Peirce' triadischer und Saussures dyadischer Struktur des Zeichens: Peirce' Zeichen ist Saussures Signifikant, Peirce' Objekt Saussures Referent, und Peirce' Interpretierender Saussures Signifikat. Weiterhin gibt dieser integrale Ansatz den wichtigen Entdeckungen der Postmoderne Raum, den Entdeckungen bezüglich des Wesens der materiellen Elemente der Kommunikation und der Ketten gleitender Signifikanten (Derrida) und bezüglich der Bedeutung transformativer Codes für die Entscheidung, welche Signifikanten als gewichtig und welche als marginal gelten sollen (Foucault). Vor allem aber lässt sich, wie ich glaube, Paul Ricœurs "strukturalistische Hermeneutik" richtig einordnen, ein kühner und (teilweise) erfolgreicher Versuch, formalistische Explikation (das strukturelle System oder die Syntax des unteren rechten Quadranten) mit sinnvoller Interpretation (kulturelle Hermeneutik und Semantik des unteren linken Quadranten) zusammenzuführen. Ricœur: "Wenn die Intention die Intention des Texts ist, und wenn diese Intention die Richtung ist, die er für das Denken eröffnet, dann muss man die Tiefensemantik in einem grundsätzlich dynamischen Sinne verstehen. Ich sage also: Zu erklären heißt, die Struktur freizulegen, d. h. die inneren Abhängigkeitsverhältnisse, die die Statik des Texts bilden [die formalistische Syntax]; zu interpretieren heißt, sich auf den vom Text eröffneten Weg des Denkens zu begeben, sich auf den Weg zum Orient des Texts zu machen [Tiefensemantik]." Kurz: Einzelne Signifikanten sind Oben Rechts (materielle Zeichen), Signifikate sind Oben Links (innere Wahrnehmungen), Syntax ist Unten Rechts (kollektive Systeme und strukturelle Sprachregeln aus objektiver Sichtweise), und Semantik ist Unten Links (die eigentlichen Referenten sprachlicher Zeichen, wobei diese Referenten nur insofern existieren, als sie in bestimmten Weltsichten oder Welt-Räumen aufgedeckt werden). Fügt man diesen Quadranten noch, sagen wir, zehn Entwicklungsebenen
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hinzu, dann hat man damit, wie ich meine, die Grundlagen für eine wirklich umfassende oder integrale Theorie der Semiotik geschaffen. Und schließlich verleiht dieser integrale Ansatz quasi als Nebenprodukt spirituellen Referenten denselben Status wie jedem anderen gültigen Referenten, sei es ein sinnlicher, rationaler, mathematischer oder ein sonstiger Referent. Für mich ist die Verankerung spiritueller Referenten die entscheidende Frage auf diesem Gebiet – und doch wurden diesbezüglich bisher noch so gut wie keine Arbeiten geleistet. Eine integrale Semiotik weist "Hund" und "Gott" dasselbe Fundament zu. Deshalb kann man sagen, dass "Buddha-Natur" ein materielles Wort (der Signifikant) ist, dessen semantischer Referent in einem bestimmten Welt-Raum (in diesem Fall dem kausalen Welt-Raum) existiert, der nur als entwicklungsbedingtes Signifikat (die innere Wahrnehmung eines Menschen, der die Entwicklung oder Evolution bis hin zu diesem WeltRaum durchlaufen hat) enthüllt wird. Dies gilt grundsätzlich für alle Signifikanten, Signifikate und Referenten, weshalb spirituelle Erkenntnis in Verbindung mit der richtigen Methodologie einer solchen Erkenntnis (Injunktion, Daten, Falsifizierbarkeit) eine nachprüfbare und begründbare Grundlage hat. Meines Wissens ist dies ein völlig neuer Gesamtansatz, der weder in der modernen Welt noch in den alten Traditionen Vorbilder hat, auch wenn ich dies hier nur äußerst summarisch darstellen konnte. Wie bereits gesagt, werde ich mich in einem künftigen Buch ausschließlich diesem Thema widmen. 13 Emerson, Selected Prose and Poetry.
6: Der wiedergewonnene Gott 1 An anderer Stelle habe ich eine ausführliche Kritik von Michael Washburns Position vorgelegt (Wilber 1990), weshalb ich meine Argumente hier nicht wiederholen möchte. Im folgenden befasse ich mich insbesondere mit der überarbeiteten zweiten Auflage von The Ego and the Dynamic Ground. 2 Weitere wichtige dauerhafte Strukturen sind zum Beispiel die Talente, wie ich sie nenne, wie zum Beispiel mathematische, musikalische oder tänzerische Begabung. Ich denke hier an Howard Gardners wichtiges Werk über multiple Intelligenzen, mit dem ich mich in Kapitel 9 befassen werde. Wie wir dort sehen werden, verläuft die (relativ unabhängige) Entwicklungslinie jedes dieser Talente über dieselben allgemeinen Ebenen des Spektrums des Bewusstseins.
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3 Selbst-Bedürfnisse, Selbst-Identität und Moral nenne ich die Selbstbezogenen Stadien oder einfach Selbst-Stadien (weitere Selbstbezogene Stadien sind das Interpersonale, Abwehrmechanismen und Objekt-Beziehungen). Diese entstehen, wie wir sehen werden, wenn sich die proximale Selbst-Empfindung mit einer bestimmten Grundstruktur identifiziert. Die wichtigsten dauerhaften Strukturen sind also die Grundstrukturen und die Talente; die wichtigsten Übergangsstrukturen sind Weltsichten und die Selbst-Stadien. Daneben gibt es jedoch noch viele weitere. Weiterhin sind, wie wir sehen werden, die Grundstrukturen des Bewusstseins die allgemeinen (linien- und bereichsüberschreitenden) Ebenen oder Wellen der Entwicklung, durch die sich fast zwei Dutzend Entwicklungslinien oder -ströme hindurchziehen. Die Grundstrukturen sind im Kern dauerhafte Strukturen (auch wenn im Zusammenhang mit ihrer phasenspezifischen Emergenz einige transitorische Züge auftreten). Bei den Entwicklungslinien gibt es dauerhafte und Übergangsstrukturen. Beispiele für Entwicklungslinien sind die SelbstStadien, Weltsichten, affektive Entwicklung, kognitive Entwicklung, verschiedene Talente (Musik, Malerei, Tanz) usw. Mit allen diesen Themen werden wir uns in diesem und in den nächsten Kapiteln ausführlich befassen. 4 Die Unterscheidung zwischen dauerhaften und Übergangsstrukturen ist kaum bekannt. Eine der wenigen Ausnahmen ist Flavell (1963); er verweist auf diese wichtige Unterscheidung und merkt zugleich an, dass praktisch niemand etwas damit anzufangen weiß. Kohlberg (1984) unterscheidet zwischen funktionellen Stadien, harten Strukturstadien und weichen Strukturstadien, worin erste Ansätze einer Wahrnehmung dieser wichtigen Unterschiede sichtbar werden. Zugleich ist diese Trennung nicht streng und starr, sondern es handelt sich vielmehr um ein gleitendes Kontinuum zwischen rein dauerhaften und rein transitorischen Strukturen als idealisierte Endpunkte. Die Unterscheidung wird besonders klar im Hinblick auf den bewussten Zugang. Alte dauerhafte Strukturen sind dem Bewusstsein praktisch immer voll gegenwärtig und verfügbar (wie zum Beispiel Sensomotorik, Bilder, Symbole), während alte Übergangsstrukturen weitgehend dekonstruiert werden und dem Gewahrsein nicht vollständig zur Verfügung stehen, selbst wenn einige ihrer Grundkompetenzen tatsächlich differenziert und integriert wurden. Das Bedürfnis zu essen bleibt, nicht aber die orale Phase (abgesehen von Fixierungen, Verdrängung usw.). Dies wird im weiteren noch klarer werden. 5 Wilber 1984, 1996 c, Wilber u. a. 1986.
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6 Wenn ich das Selbst in einer rechtsseitigen (oder Es-) Sprache beschreibe, bezeichne ich es als das Selbst-System. In linksseitigen Begriffen ist es die Selbst-Empfindung und Selbst-Identität. Beides sind gleichermaßen gültige Sprachen und gleich wichtige Aspekte des Holons, das das Selbst darstellt. Wie wir sehen werden, untergliedere ich die allgemeine SelbstEmpfindung in anteriores Selbst (wird als Ich-Ich erfahren), proximales Selbst (wird als "Ich" erfahren) und distales Selbst (wird als "mir" oder "mein" erfahren). Technisch sagt man also: Wenn die proximale Selbst-Empfindung sich mit einer bestimmten Grundstruktur identifiziert, dann bringt die Ausschließlichkeit dieser Identifizierung die entsprechenden Übergangsstrukturen der Selbst-Stadien (Identität, Bedürfnisse, Moral) hervor oder unterstützt sie. Nicht alle Übergangsstrukturen werden in dieser Weise erzeugt, sondern nur die mit dem Selbst zusammenhängenden Stadien. Was dies genau bedeutet, wird, wie ich glaube, im Laufe der Erörterung noch klar werden. 7 Weiterhin gibt es auf jeder dieser Pathologie-Ebenen spezifische Unterformen, die von den tatsächlichen Ereignissen in den Phasen des jeweiligen Drehpunkts selbst abhängen, weil die Entwicklung in jeder dieser entscheidenden Phasen scheitern kann. Wenn es zum Beispiel dem Individuum nicht gelingt, die Verschmelzungsphase eines Drehpunkts zu verlassen, bleibt das Selbst ganz in diese Ebene eingebettet (Entwicklungsstillstand, Festhalten, Indissoziation, Verschmelzung). Ein Scheitern in der Differenzierungsphase bedeutet, dass das Selbst sich zu differenzieren und diese Ebene zu transzendieren beginnt, aber einen entscheidenden Fehlschlag erleidet, weil es teilweise gespalten und bestimmten Aspekten dieser Dimension verhaftet bleibt (Zersplitterung, Fixierung), was oft mit entsprechend schwachen Selbst-Grenzen einhergeht (Ich-Spaltung). Ein Scheitern in der Integrationsphase bedeutet, dass das Selbst sich weigert, bestimmte Aspekte der schon vorhandenen Grundstrukturen in seine neue Struktur hineinzunehmen; es differenziert sich nicht, sondern dissoziiert (Verdrängung), es transzendiert zwar, aber schließt nicht ein, sondern entfremdet, verleugnet, verdrängt und verzerrt. In Psychologie der Befreiung liefere ich für jeden der neuen Drehpunkte Beispiele für jede dieser Unterformen, insgesamt 27 Arten spezifischer Entwicklungspathologien. Weiterhin schlage ich Therapien vor, die für jede dieser Pathologien am besten geeignet sind. Dies ist noch eine recht allgemeine Diskussion, die noch in den Anfängen steht, aber ich glaube, dass sie einen nützlichen Schritt in Richtung einer umfassenden Übersicht über die Psychopathologie darstellt.
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8 Wilber 1984, 1995, 1996d, Wilber u.a. 1986. Siehe auch Kapitel 10, insbesondere den Abschnitt "Integrale Therapie". 9 Im Gegensatz zu den dauerhaften und Übergangsstrukturen des Bewusstseins sind Bewusstseinszustände eher diskret und vorübergehend. Der Unterschied gegenüber den Übergangsstrukturen besteht darin, dass diese, wenn sie vorliegen, wie die dauerhaften Strukturen selbst ganz und beständig zur Verfügung stehen; Zustände dagegen kommen und gehen und halten meist nicht länger als einige Stunden an. Weiterhin sind Grundstrukturen inklusiv (d. h. sie schließen ihre Vorgänger direkt ein), während Zustände meist exklusiv sind (man kann nicht betrunken und nüchtern gleichzeitig sein), weshalb alle strengen Modelle Außergewöhnlicher Bewusstseinszustände nicht in der Lage waren, die Entwicklung und Evolution des Bewusstseins in ein Begriffsmodell zu bringen. Die drei wichtigsten Zustände sind Wachen, Träumen und Tiefschlaf, die den traditionellen Psychologien zufolge dem grobstofflichen, feinstofflichen und kausalen Reich entsprechen. Der Mensch ist ab den ersten Monaten des Pränatalen Lebens aller drei Zustände teilhaftig und hat daher Zugang zum grobstofflichen, feinstofflichen und kausalen Reich, wenn auch nicht in einer dauerhaften oder angepassten Weise. Wachstum besteht in einer allmählichen Umwandlung dieser einander abwechselnden und vorübergehenden Zustände in dauerhafte Strukturen und Wesensmerkmale. Die Mechanismen dieser Umwandlung sind das Einmaleins des Wachstums und der Entwicklung des Bewusstseins beim Menschen und der Evolution im allgemeinen. 10 Dieser Plotinsche Ansatz lässt sich direkt auf die buddhistischen Studien übertragen, womit eine der einfachsten und dauerhaftesten Integrationen des östlichen und westlichen Ansatzes bewerkstelligt ist. Ausführlicher befasse ich mich mit diesem Thema in Eine kurze Geschichte des Kosmos. 11 1995, S. 38. 12 Die Art der Abwehr hängt von der Entwicklungsebene ab, auf der die Dissoziation auftritt (Hierarchie der Abwehrmechanismen), und dies gilt bis hin zu den transpersonalen Reichen mit ihren eigenen Abwehrmechanismen und Pathologien. Die Hauptdynamik der Abwehr ist auf allen Ebenen die Todesfurcht; die Abwehrmechanismen fallen erst, wenn alle Tode gestorben sind, alle Subjekte getötet sind: dann herrscht nur noch Leerheit. Diese Leerheit ist nicht vom Tod bedroht, weil sie nie geboren wurde; sie ist das große Ungeborene, unendlich strahlend, ist völlig schutzlos, weil es nichts Außerhalb von ihr gibt, das sie verletzen, ihr weh tun, sie schieben, sie ziehen könnte. (Eine weitere
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Erörterung dieser Themen siehe in Das Atman-Projekt, Halbzeit der Evolution und Psychologie der Befreiung). Technisch gesprochen können fast alle oberflächlichen Strukturen der Grundstrukturen und der Übergangsstrukturen dissoziiert, verdrängt, sublimiert oder anderweitig abgewehrt werden. (Die Oberflächenstrukturen der Übergangsstrukturen sind einfach diejenigen Oberflächenstrukturen der Grundstrukturen, mit denen sich das proximale Selbst identifiziert hat. Dies erzeugt die entsprechenden Übergangsstrukturen der Selbst-Stadien, und diese Oberflächenstrukturen werden unterdrückt, nicht die Tiefenstrukturen der Grundstrukturen.) 13 Dies sind die fünf Unterschiede: 1. Wie wichtig ist die Rolle des prä-egoischen Konflikts? Washburn meint, dass ich diesem prä-egoischen Konflikt praktisch keine Bedeutung beimäße. Aber wie wir gesehen haben, sind die ersten vier Drehpunkte der prä-egoischen Phase in vielerlei Hinsicht gerade die wichtigsten, und Konflikte in den Teilphasen dieser Drehpunkte sind ein zentrales Thema der frühen Entwicklung. (Wie wir noch sehen werden, lautet die eigentliche Frage hier, was verdrängt wird, nicht ob etwas verdrängt wird.) 2. Übergang zur egoischen Phase: Bleiben prä-egoische Potentiale erhalten, oder gehen sie verloren? Washburn behauptet, dass in meinem Modell kein Platz für Untergang und Verdrängung prä-egoischer Potentiale sei. Wiederum hat er nur die Grundstrukturen im Auge, die in der Tat integriert werden, nicht untergehen. Im Selbst-System sind aber viele Abwehrmaßnahmen wirksam, weshalb auch viele prä-egoische Potentiale verloren gehen. (Der eigentliche Meinungsunterschied betrifft wiederum die genaue Natur und die Merkmale dieser untergehenden prä-egoischen Potentiale. Für Washburn sind diese prä-egoischen Potentiale Formen des dynamischen Grundes, die ursprünglich im kindlichen Selbst vollbewusst sein sollen, aber im ersten oder zweiten Lebensjahr verdrängt und aus dem Gewahren ausgeschlossen werden. Für mich sind die prä-egoischen Potentiale allgemeine physische Vitalität, sinnliches Gewahren, diffuses Prana und emotionell-sexuelle Energie im allgemeinen, worauf ich noch zurückkommen werde.) 3. Die egoische Phase: Kann das mentale Ich seinen Ursprüngen und Grundlagen entfremdet werden? Washburn (1995) sagt, dass nach meinem Modell "das mentale Ich den Kontakt zu seinen Grundlagen behält. Präegoische Grundstrukturen bleiben innerhalb der umfassenderen Grenzen des egoischen Lebens erhalten" (S. 40-41). Auch hier wiederum hat Washburn nur die Grundstrukturen im Auge
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und ignoriert das Selbst-System und die Selbst-Drehpunkte mit ihren Pathologien, Verdrängungen und Dissoziationen völlig. Selbstverständlich kann das Ich Aspekte seiner prä-egoischen Potentiale ausgrenzen und verdrängen (Differenzierungen können an jedem der Drehpunkte zu Dissoziationen werden!). 4. Übergang zu trans-egoischen Phasen: Gerader Aufstieg oder spiralförmige Bewegung durch Ursprünge? Indem Washburn nur die Grundstrukturen betrachtet und das Selbst-System und die Übergangsphasen außer acht lässt, kann er ein groteskes Zerrbild meines Modells als "gerade Aufstiegsbewegung" präsentieren. Damit lässt er nicht nur die ganze Bewegung absteigender und involutiver Energien außer acht, die ich in den von ihm angegebenen Quellen klar und ausführlich beschrieben habe, sondern er trivialisiert auch den dialektischen und spiralförmigen Gang der Entwicklung des Selbst, das, wie wir gesehen haben, "überall" ist. (Und wiederum betrifft der eigentliche Meinungsunterschied die Natur der kindlichen Struktur, die angeblich der verlorene "Ursprung" und die "Quelle" ist, auf die das reife Selbst regredieren muss, um zu spiritueller Erweckung zu gelangen.) 5. Die trans-egoische Phase: Gibt es zwei Selbste oder keines? Bei dieser Diskussion ignoriert Washburn nachgerade alles, was ich je über das Ich geschrieben habe, das sowohl negiert wird als auch erhalten bleibt, und er tut hier nichts weiter, als seine Auffassung triumphierend als Berichtigung meiner Irrtümer darzustellen. Betrachtet man diese fünf Punkte genauer, mit denen Washburn Mängel in meinem Modell aufzeigen und sein eigenes Modell empfehlen will, zeigt sich rasch, dass sie in dieser Form samt und sonders nichtig sind. Die Vorzüge seines Modells lösen sich, wie ich glaube, in Luft auf. Wilber 1979b. Diese Auffassung (dass nämlich Libido eine beschränkte Version des GEISTES sei) ist sogar auch aus involutiver Sicht stimmig, die das Niedrigere aus dem Höheren ontologisch (in der Involution), nicht chronologisch (als Evolution) ableitet und deshalb die prä-egoische Struktur nicht zu einem trans-egoischen Gottesbewusstsein zu erheben braucht. Diese involutive Haltung ist mein Standpunkt, während Washburns (und meine eigene frühere) Haltung letztlich die romantische Orientierung ist. Wilber 1978a, 1978b, 1978c, 1979a. In einem weiteren Artikel habe ich diese Grundposition ebenfalls vertreten (Wilber 1979b). Wilber 1982a. Wilber 1980. 1995, S. 249. 1995, S. 48, 50, 49. Mit Stan Grof werde ich mich im nächsten Kapitel
befassen, doch ist hier anzumerken, dass die Auffassungen von Washburn und Grof bezüglich des perinatalen und neonatalen Zustandes einander oft diametral entgegengesetzt sind. Für Washburn tritt der eigentliche Verlust des Urgrundes erst um den achtzehnten Lebensmonat ein, während für Grof dieses Drama etwa um den Zeitpunkt der Geburt abgeschlossen ist. Hier öffnet sich eine große Kluft zwischen ihren beiden Auffassungen; wenn die eine richtig ist, muss die andere ganz falsch sein. Wenn also jemand den Schmerz der Geburt als getrenntes Selbst wiedererlebt, erlebt er nach Grofs Befunden nicht die Ereignisse wieder, die um den achtzehnten Lebensmonat eintraten. Washburns Modell zufolge müsste aber ebendies der Fall sein. Ebenso gibt es zwischen Grof und Washburn keine Gemeinsamkeit bezüglich der Frage, an welchem Punkt die Tragödie der Existenz in das menschliche Bewusstsein eintritt. Grofs und Washburns Auffassungen ähneln sich nur aus der Ferne; aus der Nähe betrachtet könnten ihre Differenzen kaum größer sein. Meiner Meinung nach befasst sich Grof im Grunde mit Drehpunkt 0 und Washburn mit Drehpunkt 1, und ich glaube, dass ihr Werk diese Auffassung klar belegt. Ich komme hierauf nochmals im nächsten Kapitel zurück. 20 Diese drei großen Reiche sind der Grund dafür, warum es in der westlichen Philosophie immer drei Strömungen gab, eine sinnliche, eine rationale und eine idealistische, je nachdem, ob der Nachdruck auf Körper, Seele oder GEIST gelegt wurde. Die Prä/trans-Verwechslung erklärt auch, warum die sinnliche/ romantische Philosophie und der Idealismus immer in eigenartigen und grotesken Allianzen gegen den gemeinsamen "Feind" antraten, den Rationalismus. Schelling hat meiner Meinung nach diese drei großen Bereiche sehr gut integriert, das heißt, er schuf einen Ausgleich zwischen Romantik, Rationalismus und Idealismus (weshalb ihn auch alle drei Strömungen für sich beanspruchen). Die späteren Romantiker verschrieben sich jedoch nur allzu oft einem rein prärationalen und sinnlich-emotionalen Ansatz, weshalb sich Fichte und Hegel zu heftigen Attacken nicht gegen die Vernunft, aber gegen die Romantiker veranlasst sahen, die eifrig bemüht waren, prärationale Infantilismen mit transrationaler Glorie zu umkleiden. Die ganze deutsche Tradition ist ein Fallbeispiel für die Prä/transVerwechslung, indem sie einmal einen Hegel, ein andermal einen Hitler hervorbringt. Gerade weil die deutsche Tradition mit solcher Kraft und solchem Adel nach dem GEIST strebte (worin ihr immerwährendes Verdienst liegt), stand sie besonders in der Gefahr, prärationale
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physische und emotionale Wallungen mit transrationaler Erkenntnis und transrationalem Gewahrsein zu verwechseln. Blut und Boden, zurück zur Natur, der edle Wilde – dies waren die Schlagworte, die auf das Panier einer romantischen Rückkehr zum GEIST geschrieben waren. Es ging dabei um eine Wiedergewinnung des verlorenen Urgrundes, eine Rückkehr zum deus absconditus, eine mit Blut geschriebene Offenbarung, die in das Fleisch derjenigen eingeschnitten wurde, die sich dieser Ideologie des edlen Wilden, der Reinheit der Rasse entgegenstellten. Und die Gaskammern warteten als der stille Schoss der Großen Mutter auf diejenigen, die dieses Bild der Reinheit störten. 21 Natürlich ist Washburn ein zu sorgfältiger Theoretiker, als dass er an seinen eigenen zweipoligen Reduktionismus glauben würde, weshalb er das richtige dreiteilige Modell mit seiner Auffassung, dass der Urgrund als Libido (grobstofflich), freie Psyche (Seele) und GEIST (kausal) erscheinen kann, durch die Hintertür wieder einführt. Dies ist die richtige dreistufige traditionelle Sichtweise, und wenn man einmal erkennt, dass der Urgrund der Urgrund aller drei genannten Ebenen gleichermaßen ist, fällt er aus der Entwicklungsgleichung heraus, und die "neuartigen" Aspekte von Washburns Darstellung lösen sich in nichts auf, womit wir wieder beim Modell Wilber-II angelangt wären. Weil Washburn dies nicht sieht, schlittert er immer tiefer in seinen Reduktionismus (und anschließenden Elevationismus). Washburn sagt, dass das Neugeborene in der "ursprünglichen Einbettung" des kindlichen Zustandes "in den dynamischen Urgrund und in die im Urgrund anwesende numinose Macht eingetaucht ist" (S. 48). Das zentrale Merkmal dieses Zustandes ist "die uneingeschränkte Anwesenheit der Macht des Urgrundes im Neugeborenen ..." (S. 48). Diese Aussage Washburns ist wichtig, denn wenn der Urgrund im kindlichen Zustand nicht vollständig anwesend und ganz uneingeschränkt ist, dann kann die spirituelle Erweckung des trans-egoischen Zustands keine Vereinigung mit etwas sein, das auf dem Entwicklungsweg verloren ging (dann wäre spirituelle Erweckung vielmehr eine Emergenz, die in der Tat eine Wiedervereinigung darstellt, und zwar mit etwas, das nicht in einer frühen Evolutionsphase, sondern in der vorangegangenen Involutionsbewegung verloren ging, und dies ist natürlich die Auffassung von Plotin/Aurobindo/Wilber-II). Wenn denn der Urgrund "uneingeschränkt" im Neugeborenen vorhanden sein soll, dann müsste ein Blick auf die Wesensmerkmale des kindlichen Selbst zeigen, worin dieser Urgrund besteht. Hat etwa das Neugeborene die Fähigkeit, sich kognitiv in die Rolle eines anderen zu versetzen? Nein, diese Fähigkeit taucht erst um das siebte oder achte Lebensjahr auf. Aber ohne diese Fähigkeit, sich in die Rolle eines
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anderen zu versetzen, gibt es auch keine Fähigkeit zu wirklichem Mitgefühl, zu altruistischer Liebe oder intersubjektiver Fürsorge; es gibt keine rücksichtsvolle Ethik und moralische Tugend und keinen Dienst am anderen. Dieser kindliche Zustand ist nach praktisch einhelliger Meinung ein äußerst egozentrischer und narzisstischer Zustand. Dann emergiert schließlich das Ich – insbesondere, wie Washburn sagt, mit dem konkreten und formal-operationalen Denken –, und diese Emergenz geht, wie er behauptet, notwendigerweise mit der "primären Verdrängung" des Urgrundes einher (er wird aus dem Bewusstsein verdrängt). Und doch ist nach Ansicht der Forscher ebendies der Zeitraum, in dem sich eine konventionelle und postkonventionelle Moral entwickeln kann, in dem das Selbst lernt, sich in die Rolle eines anderen zu versetzen, intersubjektive Liebe, Mitgefühl, Barmherzigkeit, Zuwendung und Fürsorge zu entwickeln. Nach Washburns Modell fehlt also dem Selbst gerade dann, wenn der Urgrund ganz und uneingeschränkt gegenwärtig ist, Liebe, Mitgefühl, Tugend, Hilfsbereitschaft. Und wenn dann der Urgrund verdrängt wird, entwickelt das Selbst Liebe, Mitgefühl, Tugend und Fürsorge. In der Tat ein sehr seltsamer Urgrund. (Es ist, wie ich sagen würde, ein von Prä/trans-Verwechslungen durchsiebter Urgrund.) Im übrigen ist Washburns "PTV-3" einfach ein Mangel an Wahrnehmungsfähigkeit: Sie steht einfach für Washburns Unfähigkeit, den Trikaya anzuerkennen, die Existenz eines grobstofflichen, feinstofflichen und kausalen Reichs. Weil er ein dreiteiliges Kräftespiel auf ein zweiteiliges verkürzt, muss er jede Renormalisierung als Irrtum betrachten. 1995, S. 171. Ebenda. 1995, S. 201. 1995, S. 74. 1993, S. 67.
7. Wiedergeboren 1 1998, S. 27. 2 In Miller 1993, S. 52. 3 Die Jungschen "Archetypen" sind im Kern monologisch, auch wenn sie kollektiv sind. Sie sind letztlich kollektiv subjektive, nicht kollektiv intersubjektive Strukturen. So entsteht zum Beispiel das subjektive Bild der
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Großen Mutter innerhalb intersubjektiver Strukturen, die in keinem jemals von den Jungianern vorgelegten Verzeichnis von Archetypen erscheinen, und zwar deshalb, weil diese intersubjektiven Strukturen keine Objekte der monologischen Phänomenologie sind und daher von keiner jungianischen oder neo-jungianischen Untersuchungstechnik zum Vorschein gebracht werden können. Jung und seine zahlreichen Anhänger bleiben ganz innerhalb der monologischen Tradition, auch wenn sie Inhalt und Reichweite dieser Phänomenologie in fruchtbarer Weise erweitert haben. Eine ausführlichere Erörterung der Jungschen Archetypen siehe in Kapitel 11. 1998, S. 418. 1997, S. 27. Ebenda, S. 27 f. 1998, S. 106. 1997, S. 27. 1998, S. 107. 1985, S. 134, 107. 1988, S. 28. 1985, S. 107. Smith 1976, S. 165. Natürlich sind der grobstoffliche Körper-Geist selbst und alle seine Kompetenzen und dauerhaften Strukturen in den höheren Organisationen des feinstofflichen und transpersonalen Bereichs eingeschlossen. Was aber aufgehoben werden muss, ist die ausschließliche Beschränkung und Identifikation des Bewusstseins mit dem grobstofflichen Körper-Geist (einer transitorischen Identifikationsstruktur), und dies ist in jeder Hinsicht ein echter und oft grausamer Kampf auf Leben und Tod. Weil das Bewusstsein aus dem biologisch orientierten Welt-Raum auszieht (dem grobstofflichen KörperGeist im allgemeinen), ist dies in der Tat ein Ersterben gegenüber dem umfassenden Netz biologischer Identifikationen, ein Ersterben gegenüber der ausschließlichen Identifikation mit den grobstofflichen Mechanismen des Lebens und der Lebenskraft im allgemeinen, ganz zu schweigen von all den Strukturen konventioneller Bedeutung und konventioneller Beziehungen, die sich um den grobstofflichen KörperGeist entwickelt haben. Grof hält meine existentielle Ebene für blutleer, weil sie keine Konfrontation mit dem biologischen Tod enthielte (den Grof seiner Doppeldefinition gemäss mit Großbuchstaben schreibt, weil er darauf besteht, dass der perinatale Tod der einzig wirkliche Tod ist). Aber Grofs Einwand ist unbegründet. Die Dekonstruktion des grobstofflichen Körper-Geists ist sehr wohl ein biologischer Tod. Wenn das Bewusstsein
die Identifikation mit dem biologischen Bereich im allgemeinen beendet, kann dies gelegentlich genauso dramatisch und physiologisch intensiv sein, wie Grof sich das vorstellt. Das von mir vorgelegte Modell kann diese Intensität und die Genese dieser Intensität sehr gut darstellen. Darüber hinaus ist in meinem Modell, wie wir noch sehen werden, sehr wohl Platz für die Möglichkeit eines Bewussten Wiedererlebens des biologischen Geburtstraumas. Aus diesen Gründen erweist sich Grofs Kritik als haltlos. 15 In Die drei Augen der Erkenntnis und wiederum in Eros, Kosmos, Logos versuche ich aufzuzeigen, in welch unterschiedlicher Weise Theoretiker die Begriffe "Tod" und "Todestrieb" benutzt haben. Hier herrscht ein unbeschreibliches semantisches Chaos. Ich möchte hier nur sagen, dass es mindestens zwei völlig verschiedene Arten von "Tod" gibt, die von Platon bis Freud und im Osten wie im Westen anerkannt waren, und die ich "horizontalen" und "vertikalen" Tod nennen will. Der horizontale Tod ist dasjenige, was ich hier soeben beschrieben habe: das Ersterben gegenüber einem der Elemente auf einer beliebigen Ebene. Dies kann negative Folgen haben (wie zum Beispiel Dissoziation), aber es kann auch Element eines positiven Wachstums sein (der Mechanismus der Ent-Identifikation und Transzendenz im allgemeinen, der dialektisch in einen vertikalen Tod hineinführt). Vertikaler Tod bedeutet üblicherweise – zum Beispiel bei Freud – die regressive Bewegung, bei der eine höhere Struktur verloren geht und eine Regression auf die unterste Ebene stattfindet, den anorganischen Zustand (deshalb "Tod"). In bezug auf diese Definition (Freuds letzte Formulierung, die mit Grofs Darstellung nicht das mindeste zu tun hat) stellt Freud den Todestrieb dem Eros gegenüber; das Ziel von Eros ist es, wie er sagt, Einheiten zu schaffen; das Ziel des Todestriebs ist es, zu zerlegen oder zu zerstören. Diese Verlagerung auf eine niedrigere Ebene ist eine Form des vertikalen Todes (dies ist der eigentliche Thanatos, der eigentliche Trieb zu einem Tod auf der Ebene der unfühlenden Materie, die vollständige Regression). Mit dieser Konzeption steht Freud ganz in der neuplatonischen Tradition, für die sich Manifestation in einer vertikal aufsteigenden Bewegung (Reflux, Eros) und einer vertikal absteigenden Bewegung (Efflux) vollzieht, wobei dies keine lineare, sondern eine spiralförmige Bewegung zwischen seichteren und tieferen Dimensionen innerhalb der geschachtelten Holarchie des Seins ist. Dann habe ich jedoch darauf hingewiesen, dass das, was für Freud Thanatos war, für die neuplatonische Tradition Agape war. Dies führte mich zu einigen, wie ich meine, sehr aufschlussreichen Erkenntnissen bezüglich dieses ganzen Sachverhalts und zu den folgenden
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Schlussfolgerungen: Von Eros abgespaltene Agape erscheint als Thanatos, von Agape abgespaltener Eros als Phobos. Die Weiterungen dieser Konzeption sind in Eros, Kosmos, Logos ausführlich dargestellt. Grof ignoriert sie aber in seiner Erörterung meiner Auffassungen vom Tod völlig. 16 Grof weist eine solche Ähnlichkeit zurück. Er behauptet, dass sie sich keineswegs ähneln und Drehpunkt 0 daher in keiner Weise denselben Zweck erfülle wie die PGM. Dies erscheint mir doch als recht kleinliche Haarspalterei. Drehpunkt 0 bezieht sich auf die Schablonen im Bereich der biologischen Geburt. Die PGM beziehen sich auf die Schablonen im Bereich der biologischen Geburt: Wo soll da ein Unterschied sein? Die Drehpunkte und ihre Teilphasen, wie ich sie dargestellt habe, sind allgemeine Prozesse, einfache Fixpunkte, mit deren Hilfe man sich im allgemeinen Entwicklungs-Prozess orientieren kann. Sie sind im übrigen durch klinische, therapeutische, empirische und phänomenologische Befunde sehr gut abgesichert. Der allgemeine Prozess der Differenzierung und Integration lässt sich in vielfältiger Weise sinnvoll untergliedern. Ich habe festgestellt, dass eine vierfache Untergliederung, die ich meist auf die noch einfachere Trias Verschmelzung/Differenzierung/Integration verkürze, als theoretische Zusammenfassung dieser umfassenden Befunde sehr gute Dienste leistet (Wilber u. a. 1986). Grofs PGM beziehen sich auf das spezifische Umfeld der tatsächlichen biologischen Geburt, weshalb sie natürlich in bestimmten Details abweichen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Grofs vier Phasen der biologischen Geburt und mein Drehpunkt 0 sich auf dieselben Prozesse beziehen. Grofs Kritik wird durch diese schlichte Tatsache hinfällig. Die Entsprechungen sind wie folgt: Teilphase 1 von Drehpunkt 0 ist der Anfangszustand der ozeanischen Verschmelzung, Indissoziation, Einbettung; dies ähnelt sehr dem amniotischen und ozeanischen Einssein von PGM I (und steht ganz allgemein für die gesamte vorgeburtliche Zeit). Teilphase 2 ist der allgemeine DifferenzierungsProzess, durch den sich der Körper des Kindes gegenüber demjenigen der Mutter differenziert und von diesem fortgetrieben wird. Am Beginn dieser Differenzierung besteht "Verschlungenwerden und Ausweglosigkeit" (PGM II), am Ende die Trennung und Differenzierung durch die Geburtswege (PGM III). Die letzte Teilphase, diejenige der Lösung und Integration, ist die Geburt selbst und der neonatale Zustand (PGM IV), die zugleich die Anfangsphase von Drehpunkt 1 ist. Grof behauptet, Drehpunkt 0 sei eine Ad hoc-Hinzufügung, die ich meinem Modell eilig angeflickt habe, um es seinen Daten anzupassen.
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Dem ist nicht so. Als ich vor fünfzehn Jahren das Modell der Drehpunkte vorlegte, gehörte nicht nur der perinatale Drehpunkt bereits dazu (ja, ich nahm ihn damals aufgrund von Grofs Daten, aber auch anderer Quellen auf), sondern ich beschrieb auch die noch früheren BardoReiche als Drehpunkte. Ich glaube, dass dies alles nach wie vor richtig ist, weil ein Drehpunkt nichts weiter beschreibt als eine Abfolge von Verschmelzung, Differenzierung und Integration. Der Grund, warum Drehpunkt 0 (und in gewissem Umfang auch Drehpunkt 1) etwas anderes zu sein scheinen als die anderen Drehpunkte, liegt darin, dass dies die einzigen physischen Drehpunkte mit einem einfachen Ort sind, während die übrigen Drehpunkte innerlich sind (wie zum Beispiel Emotionen, Konzeptionen, existentielles Dilemma, psychische Vorkommnisse usw.), die alle keinen einfachen Ort haben (und daher einer oberflächlichen Betrachtungsweise "anders" erscheinen). Aber alle diese Drehpunkte sind vom ersten bis zum letzten Formen des GEISTES und seines in Entwicklungsschritten sich vollziehenden Wachstums, eines Wachstums, das – in allen Bereichen, vom grobstofflichen über den feinstofflichen bis zum kausalen – über Drehpunkt-Prozesse verläuft. Von "ad hoc" kann hier nicht die Rede sein. Was dann als wirklicher Meinungsunterschied noch bleibt, ist die Frage, inwieweit sich diese Ereignisse an Drehpunkt 0 auf die Entwicklung des Erwachsenen, auf transpersonale Erfahrungen, auf die klinische Pathologie und psychotherapeutisch auswirken. Ich bin der Meinung, dass die meisten dieser Ereignisse Drehpunkt 6 betreffen, aber dass sie unter bestimmten Umständen auch Drehpunkt 0 betreffen könnten, wie Grof dies darstellt. Andererseits ist Grof ganz auf das Perinatale und die Geburt fixiert, und insoweit diese Position unhaltbar ist, ist dies auch Grofs Modell. 17 Dies braucht jedoch nicht "linear" zu geschehen, weil die überdauernden Eindrücke früherer Drehpunkte dem Selbst-System – dem zusammengesetzten Individuum – als komplex geschachtelte frühere Ereignisse eingegliedert und dem gegenwärtigen Bewusstsein unter bestimmten Umständen (einschließlich LSD-Gaben und holotropen Sitzungen) holarchisch zur Verfügung stehen. 18 Aurobindos Gesamtmodell des Bewusstseins besteht letztlich aus drei Systemen: (1) dem oberflächlichen/äußeren/frontalen Bewusstsein (Wachzustand), bestehend aus physischen, vitalen und mentalen Bewusstseinsebenen, (2) einem tieferen psychischen / seelischen System "hinter" dem frontalen Bewusstsein auf allen seinen Ebenen (inneres Physisches, inneres Vitales, inneres Mentales und inneres Psychisches oder Seele) (Traumzustand), und (3) den vertikalen
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aufsteigenden / absteigenden Systemen, die nach oben (höherer Geist, erleuchteter Geist, intuitiver Geist, Overmind, Supermind) (Tiefschlafzustand) und nach unten (das Unterbewusste und Unbewusste) über den Geist hinausreichen, wobei all dies in Sat-ChitAnanda eingeschachtelt ist. Man hat mir manchmal vorgeworfen, ich würde Aurobindos System Nr. 2 nicht berücksichtigen, das tiefe oder Seelensystem, doch trifft dies nicht zu (wie auch das ganze letzte Kapitel von Das Atman-Projekt deutlich macht). Andererseits kann ich diesen Vorwurf seitens einiger Aurobindo-Anhänger insoweit verstehen, als Das Atman-Projekt eine einfache Darstellung von Wilber-II ist (und sich nicht mit allzu vielen Details befasst, wiewohl diese stets klar erkennbar impliziert sind), und in anderen Darstellungen wie zum Beispiel Psychologie der Befreiung erwähne ich sie um der Kürze der Darstellung willen nicht. Jedenfalls ist es seit meiner ersten Beschäftigung mit Aurobindo die Ausnahme geblieben, dass ich anderer Meinung bin als er. Ich akzeptiere obige drei Punkte von Aurobindos Modell vollständig, und sie sind auch vollständig in Wilber-II und in den späteren Verfeinerungen enthalten. Der Einfachheit halber spreche ich manchmal vom "Frontalen", wenn ich nicht nur System 1, sondern auch System 3 meine, soweit dieses in die frontale Entwicklung in diesem Leben hereinragt (mit anderen Worten, mit "frontal" meine ich in aller Regel die ganze vertikale Große Kette, wie sie sich jeweils im Leben eines Menschen manifestieren kann, vom Physischen über das Vitale, Mentale, höhere Mentale, erleuchtete Mentale und intuitive Mentale zum Overmind und Supermind). Damit ist, um es zu wiederholen, keine starr "lineare" Entwicklung gemeint; das tiefere psychische Wesen "hinter" dem Frontalen kann oft in das Frontale hineinragen. Aber insgesamt verläuft die Entwicklung und Anpassung natürlich holarchisch, weil frühere Kompetenzen das Fundament für spätere bilden. Auch dies deckt sich grundsätzlich mit den Auffassungen Aurobindos. (Dieser Gebrauch von "frontal" darf nicht mit Adi Das Verwendung dieses Worts verwechselt werden, der damit meist die längs der Frontlinie des Körpers absteigende spirituelle Kraft meint; frontal in diesem Sinne steht für eine höhere involutive Kraft, die die frontale Linie reinigt. Ich stimme dieser Verwendung zu, doch dürfen die beiden Bedeutungen nicht miteinander verwechselt werden.) Schließlich darf (bei Aurobindo und bei mir) die Seele nicht mit dem reinen Atman verwechselt werden. Das Ich ist das, was sich in diesem Leben entwickelt; die Seele ist das, was sich zwischen den Leben entwickelt (oder, wenn man so will, sich in diesem Leben zum Überbewussten entwickelt; der ganze Bardo geschieht jetzt, von
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Augenblick zu Augenblick), während der reine Atman nicht evolviert und nicht involviert. Der reine Atman ist reiner Zeuge, nichtmanifest, nicht evolvierend, ungeboren, unsterblich. An die Stelle der evolvierenden Seele tritt der Ungeborene GEIST (reiner Atman-Brahman). Technisch gesprochen ist nach meinem Modell die Seele das Psychische/Feinstoffliche bis zum niederen Kausalen, und da sie dem Kausalen angehört, evolviert sie; der reine Atman ist das hohe Kausale, und da er nicht manifest ist, evolviert er nicht, wird er nicht geboren, stirbt er nicht: Er geht überhaupt nicht in den Strom ein, sondern umhüllt ihn vielmehr vollständig, wie ein Spiegel jede seiner Widerspiegelungen umhüllt. Das tibetische Modell und den "unzerstörbaren Tropfen" behandle ich übrigens auch in Eros, Kosmos, Logos, und zwar ausführlich (S. 750771). Dieses Thema taucht also in meinen Büchern schon seit sechzehn Jahren immer wieder auf und ist daher so neu auch nicht mehr. 19 Die Existenz dieser Pränatalen, perinatalen und frühkindlichen Zustände, die Grofs Daten sichtbar machen, stellt, falls diese weiterhin bestätigt werden, einen schweren Schlag für das Modell Washburn/Wilber-I dar, weil dieses ganz auf der Annahme ruht, dass der höchste Grund irgendwie ganz im kindlichen Zustand anwesend sei. Aber selbst bei diesen "weitestgehenden" Modellen ist die höchste Ebene, die in der prä-egoischen Phase vorhanden ist, nur die psychische / seelische, die nicht nur nicht der GEIST ist, sondern sogar die letzte dualistische Schranke gegenüber dem GEIST. Aber damit wird gerade die zentrale Aussage des Modells Washburn/ Wilber-I unhaltbar: Nirgendwo in der prä-egoischen Phase gibt es einen uneingeschränkten Seinsgrund oder GEIST-als-GEIST; man findet im besten Fall die Seele, im schlimmsten Fall chaotische Antriebe. Beide Möglichkeiten – eine "weitgehende" (die Seele) und eine konventionelle (chaotische Antriebe) – lassen das Modell Washburn/Wilber-I vollständig scheitern, weil spirituelle Verwirklichung nach diesem Modell eine Wiederauferstehung und eine Wiederverbindung mit etwas sein muss, das in der prä-egoischen Phase vollständig vorhanden war, aber in der ganzen prä-egoischen Phase ist nirgendwo etwas Höchstes oder Nichtduales zu finden. Dies ist für mich ein schlagendes Argument, mit dem das Modell Washburn/Wilber-I gründlich widerlegt ist. 20 Weil mein Modell auf Befunden beruht, nicht auf Theorien, habe ich die Astrologie dabei nicht berücksichtigt. Oder ich habe vielmehr die Astrologie vollständig berücksichtigt, aber in einer Weise, die Grof nicht akzeptieren kann. Ich muss auf der Grundlage der heute vorhandenen Befunde sagen, dass die Astrologie eine zutreffende Interpretation des inneren Welt-Raums der mythischen Mitgliedschaft ist (das heißt des
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unteren linken Quadranten auf seiner mythischen Entwicklungsebene). Dies bedeutet aber, dass die Astrologie im Vergleich mit Methoden aus den mentalen (und höheren) Entwicklungsstufen den Beweis ihrer Richtigkeit nicht erbringen kann. Bisher hat die Astrologie laut der Zusammenfassung der vorhandenen Befunde durch Roger Walsh (Gnosis, Frühjahr 1996) bei experimentellen Untersuchungen – auch solchen, die von Astrologen selbst durchgeführt wurden – immer wieder versagt. Solange die Astrologie nicht mindestens einige solcher Tests besteht, bleibt mir nichts anderes übrig, als skeptisch zu bleiben. Und trotzdem glaube ich, dass sie eine sehr genaue Hermeneutik des Inneren des mythischen Welt-Raums darstellt. Meine diesbezüglichen Auffassungen habe ich in einer langen Fußnote in Eros, Kosmos, Logos dargelegt, die mich jedoch Rick Tarnas zu streichen bat, bis ich sein angekündigtes Cosmos and Psyche gelesen hätte. Nun warte ich dringend auf Tarnas' Buch, und ich bin liebend gerne bereit, die Transitastrologie zu berücksichtigen, wenn sie nur irgend etwas beibringt, das man als Beweis für ihre Richtigkeit ansehen könnte. Ich habe des öfteren gesagt, dass die Astrologie, wenn ihre Richtigkeit gezeigt wird, für mich nicht mehr nur eine geringwertige Hermeneutik des mythischen Welt-Raums wäre, sondern vielmehr eine tiefe Hermeneutik der Weltseele. Ich bin liebend gerne bereit, dies zu glauben, aber ich warte auf Beweise.
8. Integraler Feminismus 1 Ich muss leider sagen, dass Wrights Darstellung eine der gröbsten Verzerrungen meines Werks ist, die je veröffentlicht wurden, und ich kann den Leser nur warnen: Sie gibt meiner Meinung nach meine Auffassungen nicht richtig wieder, weshalb auch ihre Kritik nicht glaubwürdig ist. Wrights beide Aufsätze erschienen im ReVision Journal. Weil ich diese Zeitschrift gemeinsam mit Jack Crittenden gegründet habe, werde ich oft nach meiner Meinung hierüber gefragt, und ich muss leider sagen, dass ihre akademischen Standards gelegentlich doch sehr niedrig geworden sind. Es zeigt sich allzu oft eine antimodernistische und regressive Haltung, und weder Jack noch ich sind über diese Voreingenommenheit glücklich. Wir haben keinerlei Verbindungen mehr zu dieser Zeitschrift, auch wenn natürlich unsere guten Wünsche ihre Herausgeber begleiten.
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Als ReVision beschloss, eine dreiteilige Serie über mein Werk zu veröffentlichen ("Ken Wilber und die Zukunft der transpersonalen Forschung") erschien ich zwangsläufig wieder auf ihren Seiten. Einige der Aufsätze waren hervorragend (zum Beispiel derjenige von Roger Walsh), während andere akademisch blutleer waren und nicht wenige von ihnen mein Werk grob verzerrten. Als Zusammenfassung, Darstellung oder Erläuterung meines Werks ist diese Serie jedenfalls keine zuverlässige Quelle. Zugleich bin ich ReVision dankbar, dass man mir Raum für eine ausführliche Antwort gab (die in Kapitel 6, 7, 8 und 9 eingearbeitet ist). Die Redakteure dieser Serie, Donald Rothberg und Sean Kelly, reagierten in einer sehr schwierigen und undankbaren Situation großartig, und ich möchte ihnen meine tiefe Dankbarkeit für ihre Geduld, Sorgfalt und Aufmerksamkeit aussprechen. Wrights Essay ist typisch für diese Serie, und folgendes ist typisch für ihre Argumentation: "Wenn man eine Theorie vorlegt, die angeblich tiefe, unveränderliche Strukturen des Menschen beschreibt, keine kulturell geprägten Erfahrungen, dann muss man die kulturellen Annahmen angeben, die dem Modell selbst zugrunde liegen" (1995, 3). Aber ich habe nie gesagt, dass mein Modell unveränderliche Strukturen und keine kulturell geformten Erfahrungen beschreibt. Ich habe immer wieder die Analogie des menschlichen Körpers herangezogen: Er hat 208 Knochen, zwei Lungen, ein Herz – Tiefenstrukturen, die universell sind –, während es von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich ist, in welcher Weise sich dieser Körper dem Spiel, dem Sex, der Kultur und der Arbeit widmet; diese oberflächlichen Strukturen sind kontingent, historisch geformt und kulturabhängig. Ich bin stets für eine Auffassung eingetreten, die ein Gleichgewicht zwischen universellen Tiefenstrukturen und kulturabhängigen Oberflächenstrukturen findet. Aber dieses klar zutage liegende Gleichgewicht in meinem Werk ignoriert Wright; statt dessen legt sie ein einseitiges, teilweise lächerliches Zerrbild meiner Auffassungen vor, die sie dann triumphierend mit einer "ausgewogeneren Sichtweise" berichtigt, die oft nichts weiter ist als eine Variante meiner tatsächlichen Auffassungen, bevor Wright sie verzerrte. Sie greift einfach meine tatsächlichen Schlussfolgerungen wieder auf, indem sie nötigenfalls die Terminologie ändert, um die Manipulation zu verschleiern, und präsentiert dies als "feministische" Berichtigung meiner "androzentrischen" Auffassungen. Nehmen wir zum Beispiel ihre Kritik an meiner Verwendung der Begriffe "Hierarchie" und "Heterarchie" in Eros, Kosmos, Logos. Für diese Begriffe hat sich seit langem ein fester Gebrauch in der Literatur eingebürgert, den ich sorgfältig und angemessen darstelle. Dann füge
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ich den Gedanken hinzu, dass beide Modi auch in einer pathologischen Form auftreten können. In meiner Erörterung geht es durchwegs um diese vier Modi: normale und pathologische Hierarchie, normale und pathologische Heterarchie. Ich sage: "In der Heterarchie kommen Autorität und Entscheidung durch das pluralistische und egalitäre Wechselspiel aller Parteien zustande" (S. 34). Wright dreht dies sofort so, dass für mich also "Heterarchie unfähig ist, Prioritäten herzustellen", dass ich letztlich bestreiten würde, dass es in der Heterarchie überhaupt Prioritäten gäbe. Aber "Autorität und Entscheidung" bedeutet selbstverständlich Vorgaben, Richtlinien oder Prioritäten, weil es sonst keine Autorität und keine Entscheidungen gäbe (was eine pathologische Heterarchie wäre, wie ich deutlich mache). Die Autorität oder Priorität einer normalen Heterarchie beruht, wie ich sage, auf einem "pluralistischen und egalitären Wechselspiel aller Parteien". Wright möchte nun meine Auffassung wie folgt "berichtigen": Nein, Heterarchie bedeute in Wirklichkeit "Herrschaft mit", deren Grundlage "gegenseitige Beziehungen und Austausch der Teile" seien – also genau meine Definition von Heterarchie. Wright verzerrt also meine Auffassung dahingehend, dass es in einer natürlichen Heterarchie überhaupt keine Herrschaft gäbe, und als Beispiel führt sie dasjenige an, was ich eindeutig als "pathologische" Heterarchie bezeichnet habe, in der in der Tat überhaupt keine Prioritäten mehr gelten. Dann behauptet sie, dass ich die Heterarchie zur Karikatur gemacht habe, indem ich ihr die Fähigkeit abgesprochen habe, überhaupt eine Leitung, Prioritäten oder Regeln gelten zu lassen, und dann macht sie sich daran, meine falsche und erniedrigende (und "androzentrische") These zu berichtigen. Hierzu tut sie nichts weiter, als meine Heterarchie ("Gleichberechtigung und Gemeinschaft aller Parteien") in "Synarchie" umzubenennen ("wechselseitige Beziehungen und gemeinsamer Austausch von Teilen"). Und schon befinden wir uns auf einer verwunschenen Gilliganschen Insel, auf der all das schöne Verbindende, Kommunizierende und heilende Miteinander den Frauen zugeordnet ist und all das garstige Rangordnen und Herrschen den Männern. Da werden Männer zu den Hauptinhabern von Hierarchie – die Wright unter Missachtung der reichhaltigen Literatur zum Thema als Macht "in den Händen einiger weniger" interpretiert (was aber eine pathologische Hierarchie ist) –, und Frauen die hauptsächlichen Träger der wunderbaren Synarchie. Und so etwas nennt sich dann "Berichtigung des Androzentrismus". Dabei habe ich meine Schlussfolgerung in dieser Diskussion sehr
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klar formuliert: "Hüten wir uns einstweilen einfach vor Theorien, die Hierarchie oder Heterarchie über alles stellen und dem einen oder dem anderen einen ontologischen höheren Status geben wollen. Wenn ich den Begriff 'Holarchie' verwende, meine ich damit insbesondere ein ausgewogenes Verhältnis von normaler Hierarchie und normaler Heterarchie. 'Holarchie' steht also im weiteren Verlauf unserer Erörterungen für eine Haltung, die sowohl extreme Hierarchie als auch extreme Heterarchie meidet, aber das Beste beider Seiten zu bewahren versucht." (S. 45) Dass ich auf die Grundbedeutung von Hierarchie als "heilige Herrschaft" hingewiesen habe, bedeutet nicht, dass Heterarchie nicht heilig sei (es ging mir darum, die Hierarchie aus den Händen von Theoretikerinnen wie Wright zu befreien, weshalb ich eine genauere historische Bestimmung geben musste). Meine Schlussfolgerung war letztlich, dass das Heilige in einem Gleichgewicht und in einer Partnerschaft von Hierarchie (traditionell männlich) und Heterarchie (traditionell weiblich) existiert. Diese Schlussfolgerung vereinnahmt Wright einfach unter dem Namen "Synarchie" für sich. Sie stellt wiederum zuerst meine Schlussfolgerung fälschlich als androzentrisch dar, fügt ihr die gynozentrischen Aspekte meiner Auffassung hinzu, die sie ignoriert oder verzerrt hat, und präsentiert diese meine Schlussfolgerung unter einem anderen Namen als ihren eigenen Diskussionsbeitrag. 2 Gilligans (1996) drei hierarchische Stufen sind die, wie sie es nennt, (1) "egozentrische" (präkonventionell), die (2) "konventionell ethische" oder "Fürsorge" und die (3) "postkonventionell meta-ethische" oder "universelle Fürsorge". Diese Stufen sind hierarchisch, weil sie unveränderlich sind. Keine von ihnen kann übersprungen werden; jede transzendiert die Kompetenzen ihrer Vorgänger und schließt sie ein (Differenzierung und Integration). Sie sind daher in einer einschließenderen und umfassenderen Abfolge angeordnet, und jede von ihnen steht damit auf einer höheren Entwicklungsstufe als ihre Vorgänger. Gilligan hat darüber hinaus eine vierte Stufe vorgeschlagen, die die Perspektiven der Gerechtigkeit und Fürsorge hierarchisch integriert (siehe unten). Bei Alexander u. a. ("Einleitung") findet sich eine hervorragende Erörterung des zentralen Gedankens der Hierarchie bei Gilligan und ein Beitrag von Gilligan selbst, in dem sie die Bedeutung der Hierarchie unterstreicht. 3 C. Alexander u. a. (1990), S. 10. Gilligan sieht in dieser höheren Stufe moralischer Integration eine "kognitive Transformation von einem formalen zu einem dialektischen Denkmodus, der die Widersprüche unter ein Dach bringen kann, aus denen oft ethische Probleme
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entstehen" (Hervorhebungen von mir, ebenda, S. 223). Dies habe ich den Übergang von Formop zur Schau-Logik genannt, einer Schau-Logik, die bei Gilligan auch "umfassendere", "dialektische" und "polyphone" Sichtweise heißt, eine Sichtweise, die "Intelligenz und Gemüt wiedervereint" (zentaurische Stufe) und insbesondere "die verschiedenen Stimmen von Gerechtigkeit und Fürsorge" integriert (S. 224), das heißt, ein Gleichgewicht innerhalb eines jeden Mannes und einer jeden Frau herbeiführt, was Gilligan auch eine "paradoxe wechselseitige Abhängigkeit von Selbst und Beziehung" nennt (Agenz und Kommunion) (S. 224). All dies ist in meiner Definition von zentaurischer Schau-Logik ausdrücklich erwähnt, einer Stufe, auf der die Integration von männlich und weiblich innerhalb des einzelnen Individuums beginnt. Aber diese Integration vollzieht sich, wie Gilligan betont, niemals nahtlos und glatt; es bleibt immer eine (unauflösliche) Spannung zwischen diesen beiden Stimmen, auch wenn sie auf der Stufe der Schau-Logik relativ viel näher beisammenliegen als auf der formaloperationalen Stufe. Deshalb glaube ich, dass wir männliche und weibliche Dispositionen auch auf die höheren Stufen mitnehmen, auch wenn sie in jedem Menschen immer harmonischer zusammenklingen. Der GEIST ist weder männlich noch weiblich, und als GEIST sind wir weder das eine noch das andere. Aber als verkörperte und uns manifestierende Wesen haben wir Wurzeln in körperlichen Dispositionen mit jeweils unterschiedlichen Wertsphären, durch die in allen Ereignissen freudige Kommunikation geschieht, und diese Saiten des Körpers schwingen in unterschiedlichen Klangfarben auf dem Weg hin zu Gott und zur Göttin, die Manifestationen der reinen Leerheit sind. Insbesondere könnte man sagen, dass GEIST-als-Materie geschlechtslos ist; der GEIST hat sich auch in die unfühlendsten Formen ausgegossen, die zu einfach sind, um sich fortpflanzen zu können, und vom Sexus unberührt sind. Wenn der GEIST von der Materie zum Körper evolviert, entwickelt der GEIST-als-Körper seine Sexualität, um sich auf dieser Ebene fortzupflanzen. GEIST-als-Körper ist also zutiefst geschlechtlich, männlich oder weiblich. Wenn sich der GEIST vom Körper zum Geist entwickelt, beeinflussen diese markanten körperlichen Unterschiede auch den Geist, weshalb die sexuelle Orientierung auch im GEIST-als-Geist erhalten bleibt (wie zum Beispiel an der unterschiedlichen moralischen Orientierung deutlich wird), wiewohl diese Unterschiede auf den höheren geistigen (zentaurischen) Stufen immer mehr integriert werden. Wenn die Seele aus dem GEIST emergiert, enthält auch der GEIST-als-Seele die nachtönenden "evolutionären Spuren" der sexuellen Dispositionen, die so nachdrücklich
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im Körper und in geringerem Maße auch im Geist vorhanden sind; die Seele ist die letzte Station der sexuellen Differenzierung, auf der Sexus als feiner Duft nachtönt. Der GEIST-als-GEIST schließlich ist wiederum geschlechtslos: die reine Leerheit, die, wenn sie sich manifestiert, ihre eigene Sexualität ganz selbstverständlich annimmt (Agape). 4 Selbst wenn man ausschließlich bei Gilligans und Loevingers Modell beginnt (das ursprünglich unter ausschließlicher Berücksichtigung von Frauen entwickelt wurde), gelangt man trotzdem zu einem Modell, das dem meinigen sehr ähnelt, weil dieses Modell Gilligans und Loevingers Aspekte und Stufen der Verknüpfung und Rangordnung direkt, ausdrücklich und genauestens einschließt (verschiedene Aspekte meines Modells sind ausdrücklich Loevingers frühem Modell entnommen, das mit Frauen entwickelt wurde. Später habe ich es "ent-feminisiert" – und "ent-maskulinisiert" – und bin so zu den geschlechtsneutralen Grundstrukturen des Bewusstseins gelangt, die Männer und Frauen bei ihrer Entwicklung mit unterschiedlichen Akzentuierungen durchlaufen). Wright stellt diese Punkte meines Modells völlig verzerrt dar. Eine weitere von Wrights Verzerrungen: Ich habe niemals, wie Wright behauptet, Kinder von transpersonalen Erfahrungen ausgeschlossen. Ich habe vielmehr gesagt, dass Kinder in der Regel keine dauerhaften Strukturen transpersonaler Anpassung entwickeln (der Bardo verblasst, und die frontalen Strukturen sind alle prä-egoisch). Bisher hat niemand (weder Armstrong noch die Feministinnen, noch sonst jemand) Beweise für die Behauptung beigebracht, dass Kinder stabile und dauerhafte transpersonale Strukturen entwickeln, weshalb ich sie natürlich auch nicht in meinem Modell berücksichtige. Aber Kinder können sehr wohl verschiedene flüchtige transpersonale Gipfelerfahrungen oder vorübergehende Zustände haben. Wie wir in Kapitel 7 gesehen haben, kann der Mensch schon in den ersten Monaten nach der Empfängnis in die drei Grundzustände eintreten (Wachen, Träumen, Schlaf) und hat deshalb grundsätzlich Zugang zu den drei großen Bereichen des Grobstofflichen, Feinstofflichen und Kausalen (wenn auch dieser Zustand noch in keiner Weise dauerhaft ist). Einflüsse aus diesen Zuständen sind aber auf jeder Entwicklungs- (frontalen) Stufe möglich, weil eben alle Menschen wachen, träumen und schlafen. Darüber hinaus durchläuft jeder Mensch in praktisch jedem Alter alle 24 Stunden einen ganzen Zyklus, in dem er vom Wachen (grobstofflich) in den Traum (feinstofflich) und dann in den Tiefschlaf (kausal) eintaucht, woraufhin das Ganze wieder von vorne beginnt. Das Selbst kann "überall" sein, und dies gilt genauso für Kinder. Aber der entscheidende Punkt ist die stabile frontale Anpassung, und diese verläuft nun einmal von der präkonventionellen über die
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konventionelle und postkonventionelle zur post-postkonventionellen Stufe. (Eine weitere Erörterung dieser Themen siehe in Kapitel 9 und 10.) Wright wirft mir einen "ärgerlichen Monismus" vor – eine krasse Fehldeutung. Meine "höchste" Wirklichkeit ist, wie ich immer wieder betont habe, keine von anderen Stufen abgegrenzte Stufe, sondern vielmehr die Soheit oder der leere Grund, der in allen Stufen und allen Erscheinungen gleichermaßen gegenwärtig und diese Stufen und Phänomene selbst ist. Ich habe in diesem Zusammenhang oft die Metapher gebraucht, dass die Soheit nicht die oberste Sprosse einer Leiter ist, sondern vielmehr das Holz, aus dem die ganze Leiter gemacht ist. Wenn also der GEIST als GEIST erkannt wird (was wir "GEIST-alsGEIST" genannt haben), dann wird einfach der ganze Seinsgrund erkannt, der in jeglichem Ding und jeglichem Ereignis im ganzen Kosmos gleichermaßen und vollständig gegenwärtig ist. Er ist das Alleinschließende und Allumschließende, die ursprüngliche Leerheit, die eins ist mit jeglicher Form. Wrights Erörterung dieses Themas (und ihre Kritik an meinem "ärgerlichen Monismus") ist irrelevant, weil sie meine Auffassung falsch wiedergibt. Siehe auch Anmerkung 7. 5 Eine ausführliche Erörterung dieses Themas siehe in Kapitel 1 von Eros, Kosmos, Logos. 6 Die Grundstrukturen sind grundsätzlich identisch und geschlechtsneutral, doch manifestieren sich die auf das Selbst bezogenen Übergangsstrukturen bei den Geschlechtern mit unterschiedlicher Orientierung, weil das Selbst-System, das zwischen Grund- und Übergangsstrukturen vermittelt, bei Männern und Frauen mit unterschiedlicher Akzentuierung wirkt. Das heißt, das Selbst von Männern operiert eher agentisch, während das weibliche Selbst eher beziehungs- oder gemeinschaftsorientiert ist. Wenn man also von den geschlechtsneutralen Grundstrukturen ausgeht und diesen das Enzym des Selbst-Systems mit seinem Identifikations-Prozess hinzufügt (der selbst grundsätzlich von der Form männlich/agentisch oder weiblich/kommunikativ ist), entstehen die moralischen Übergangsstadien Kohlbergs bzw. Gilligans. All dies ist in dem von mir vorgelegten Geschlechtsmodell enthalten. Dies ist nur ein Beispiel für den umfassenderen Prozess, der für mich Entwicklung ausmacht, nämlich: Wenn man die etwa sechs Hauptmerkmale des Selbst-Systems auf die Grundstrukturen einwirken lässt, bilden sich die Hauptlinien der Selbst-Stufen heraus wie zum Beispiel Moral, Selbst-Identität, Selbst-Bedürfnisse usw. So erzeugt das als "Identifikation" bezeichnete Merkmal des Selbst, wenn man es auf einander folgende Grundstrukturen anwendet, die
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Stufen der Selbst- oder Ichentwicklung. Das Merkmal der Abwehr erzeugt, auf die Grundstrukturen angewandt, die Hierarchie der Abwehrmechanismen. Das Merkmal des Stoffwechsels erzeugt, auf die Grundstrukturen angewandt, die Hierarchie der Selbstbedürfnisse usw. Wenn in allen diesen Fällen das Selbst jeweils eine eher agentische oder eher kommunikative Tönung annimmt, tönt dies in entsprechender Weise die einzelnen Umsetzungen. 7 Wright hält diese Verzerrung in beiden Aufsätzen aufrecht: "Wilber hat letztlich die Prä/perm-Verwechslung ... in eine transpersonale Theorie umgesetzt." Die Tatsache, dass ich klar zwischen präpersonal durchlässig, personal durchlässig und transpersonal durchlässig unterscheide, zeigt eindeutig, dass ich in keiner Weise präpersonal mit durchlässig (permeabel) gleichsetze, was den Kern von Wrights Vorwurf ausmacht, dass ich die Prä/perm-Verwechslung beginge, den Kern ihres Sexismus-Vorwurfs. Die Tatsache, dass ich nichts von alledem tue, hindert Wright nicht daran, weiter diesen grotesken Vorwurf aufrechtzuerhalten. (Nebenbei bemerkt: Zu den pathologischen Erscheinungen auf den präpersonalen Stufen gehören – bei Mann und Frau – Selbstgrenzen, die im Kontext ihres eigenen Geschlechtsstandards zerbrechlich, zusammenhanglos, brüchig und verschwommen sind, das heißt nicht bloß durchlässig, sondern zersplittert. Eine schwache und unzusammenhängende Grenze im durchlässigen Selbst gilt nach ihren eigenen Standards als schwach und unzusammenhängend, nicht in bezug auf das agentische Selbst. All dies ist längst in die Literatur eingegangen, und ich glaube, dass Wright über ihrer AndrozentrismusPhobie einige sehr wichtige theoretische und Forschungsarbeiten entgehen.) Wright gliedert ihre Kritik an meiner Position in drei Hauptabschnitte. Der erste ist die Erörterung des Themas "Hierarchie/Heterarchie", mit dem ich mich oben schon auseinandergesetzt habe. Den zweiten Abschnitt nennt sie "Ökologisches", wo es um zwei Hauptprobleme geht. Das eine ist ihre Behauptung, dass meine Erörterung ökologischer Fragen nicht stichhaltig sein könne, weil ich die Prä/perm-Verwechslung beginge. Letzteres ist aber nicht der Fall, wie wir soeben gesehen haben. Diese gravierende Fehldeutung hängt direkt mit der zweiten ökologischen Frage zusammen, mit der sich Wright auseinandersetzt. So glaubt sie zum Beispiel, ich unterschätzte die Rolle der Rationalität für eine Heilung der Welt. In Wirklichkeit aber sage ich klipp und klar, dass die positiven Beiträge aller früheren Stufen akzeptiert und integriert werden müssen, und hierzu gehören ganz ausdrücklich auch die prärationalen und
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rationalen Modi. Wright stellt die völlig unbegreifliche Behauptung auf, dass meine Sichtweise "die Bedeutung positiver, integrierender Aktionen innerhalb der kognitiven Ebenen des Rationalen übersieht oder ihr zumindest einen viel zu geringen Stellenwert beimisst ..." Aber ich bin, nachdem ich auf die außerordentliche Integrationskraft von Rationalität und Vernunft verwiesen habe, gerade zu folgender Schlussfolgerung gekommen: "Deshalb wäre es im Augenblick schon ein gewaltiger Wandel, wenn nur globale Rationalität und pluralistische Toleranz sich durchsetzen könnten, also das Egoisch-Rationale ..." (1995, 254). Wiederum ist Wright zu einem ganz ähnlichen Schluss gelangt – dass nämlich mit Rationalität sehr viel erreicht werden kann –, den sie für sich beansprucht, mir abspricht, und dann meine Position als androzentrisch, überholt und falsch bezeichnet. Wrights dritter Hauptkritikpunkt ist die Behauptung, dass meine anthropologischen Quellen "überholt" seien. Als Beispiel führt sie meine Bezugnahme auf Habermas an. Aber Habermas ist durchaus nicht meine wichtigste anthropologische Quelle. Die Bibliographie von Eros, Kosmos, Logos enthält fast 100 zeitgenössische anthropologische Quellen (und Band 2 über 500), die ich nicht ohne Grund angegeben habe. Wright behauptet, dass meine früheste technologische Stufe die Jäger und Sammler seien, und sie hält diese Auffassung für überholt, weil die Aasverwertung (scavenging) vorherrschend gewesen sei. Meine früheste technologische Stufe ist in Wirklichkeit das Furagieren (foraging), wozu Aasverwertung, Jagen und Sammeln gehören. Ich habe die Stufen klar und deutlich angegeben, und ich beziehe mich hierbei ausdrücklich auf Lenski, nicht auf Habermas (eine sehr ausführliche Erörterung dieser technologischen Stufen in meinem Modell siehe in Wilber 1996d). Wenn Wright behauptet, dass mein Ansatz auf überholten anthropologischen Forschungen beruhe, dann ist dies in höchstem Maße unverantwortlich. Weitere Beispiele für Wrights "Argumente": In Eros, Kosmos, Logos erwähne ich das bedeutsame Argument von Janet Chafetz, dass Frauen, die einen schweren Pflug bedienten, mehr Missgeburten erlitten, weshalb es ihr Darwinscher Vorteil war, dies zu unterlassen. Chafetz selbst gibt keine Quelle für diese Information an. Wright stürzt sich darauf und behauptet, dass ich häufig "nicht belegte Sekundärquellen" heranziehen würde. Aber der Umstand, dass schwere körperliche Arbeit ab dem sechsten Schwangerschaftsmonat das Risiko von Fehlgeburten dramatisch erhöhen kann, ist eine schlichte medizinische Tatsache. Niemand würde dies bestreiten, weshalb Chafetz (und ich ebenso wenig) keine Notwendigkeit sieht, hierfür eine Quelle anzugeben. Wright aber führt dies als Beleg dafür an, dass ich Quellen nicht sorgfältig zitiere und diese des öfteren "sekundär" seien.
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Insbesondere hat Wright meine Verwendung des Begriffs "Zentaur" ins Visier genommen. Die Bedeutung eines Worts hängt, wie jeder Semantiker weiß, einfach davon ab, wie man es benutzt. Jane Loevinger beschreibt die höchste Entwicklungsstufe bei Mann und Frau unter Bezugnahme auf Broughton wie folgt: "Körper und Geist sind Erfahrungen eines integrierten Selbst." Hubert Benoit, Jane Alexander und Erik Erikson haben einen solchen integrierten Zustand mit dem Begriff "Zentaur" belegt, weil der menschliche Geist als "Reiter" nicht von seinem "Pferd", dem Körper, getrennt ist, sondern eins mit ihm. Dies schien mir eine geglückte Verwendung des Begriffs zu sein, weshalb ich ihn mit Jane Loevingers Definition übernahm. Und ein Begriff bedeutet nun einmal genau das, was sich aus seiner Definition und seiner Verwendung ergibt. Wright aber stürzt sich auf die Tatsache, dass Zentauren in der griechischen Mythologie männlich waren. Für sie ist dies wiederum ein Beweis dafür, dass mein Ansatz androzentrisch sei. Aber dann könnte sie auch noch einen Schritt weiter gehen. Ja, in der griechischen Mythologie waren Zentauren Männer, aber viele von ihnen waren auch schmutzige, vulgäre Kretins. Dann sollte sie wenigstens konsequent sein und mir gleich noch vorwerfen, dass ich Männer schlecht mache. Wenn es Allgemeingut wäre, dass Zentauren männlich waren, und wenn sich zeigen ließe, dass die Verwendung dieses Begriffs für Frauen irgendwie eine Ungleichbehandlung darstellt, dann könnte man seine ständige Verwendung vielleicht als sexistisch betrachten. Aber zum einen ist es nicht nur den meisten Menschen neu, dass Zentauren männlich waren, und wenn man zum anderen unter Bezugnahme auf die alte Mythologie behauptet, dass die Verwendung dieses Begriffs sexistisch sei, dann müsste man auch sagen, dass der Begriff Gaia sexistisch, einseitig und voreingenommen sei, weil Gaia eine Frau war. 8 Ich sage Bewusst "aus der männlichen und weiblichen Wertsphäre ausgewählt", weil verschiedene Aspekte dieser biologischen Gegebenheiten je nach den Umständen bevorzugt werden (so geben zum Beispiel Pfluggesellschaften der männlichen Körperschaft den Vorzug). Ich spreche immer von der männlichen und weiblichen Wertsphäre (nicht der maskulinen und femininen), weil diese eine biologische Grundlage haben und damit quasi-universell sind. "Maskulin" und "feminin" sind weniger eine Frage der "Auswahl" als der "Konstruktion", das heißt, nach der Auswahl aus biologischen Faktoren bilden sich die kulturspezifischen Formen des Maskulinen und Femininen heraus. Sowohl kulturelle Weltsichten als auch technisch-wirtschaftliche Faktoren spielen eine Rolle bei der Auswahl aus der männlichen und der weiblichen Wertsphäre, woraus dann kulturspezifisch bestimmte
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maskuline und feminine Ausdrucksformen entwickelt werden. Einige dieser maskulinen und femininen Ausdrucksformen sind universell, andere nicht; wenn sie es sind, haben sie ihre Ursache in konkreten biologischen Gegebenheiten. 9 In Band 2 stelle ich diese verschiedenen Faktoren im einzelnen dar und liefere umfassende Belege für diese Schlussfolgerungen. 10 Bezüglich der möglichen Bedeutungen von "Gaia" und ihrer tatsächlichen Rolle in lebenden Systemen siehe Eros, Kosmos, Logos, Kapitel 4 und 5.
9. Wie gerade ist der spirituelle Weg? 1 Wade fasst Drehpunkt 7 und Drehpunkt 8 zu einer Stufe zusammen, die sie einfach "die Transzendente" nennt, während sie Drehpunkt 5 in zwei gleichwertige Ebenen unterteilt, "Errungenschaft" und "Mitgliedschaft", wofür sie Dinge wie Hemisphärendominanz als Grundlage heranzieht (woraus sich meist auch männliche und weibliche Versionen derselben Ebene ergeben, wiewohl es auch Menschen gibt, die beides nacheinander erfahren). Die erstere Maßnahme ist eine etwas unglückliche, aber legitime Vereinfachung, die letztere meiner Meinung nach eine nicht gerechtfertigte Interpretation der Daten. Bezüglich des Männlichen und Weiblichen glaube ich, wie schon erläutert, dass meist biologische/konstitutionelle Faktoren Mann und Frau dahingehend disponieren, dass sie die einzelnen Phasen mit etwas unterschiedlichen Schwerpunkten durchlaufen (Agenz und Kommunion, Leistung und Mitgliedschaft); dies ist kein Unterschied, der – wie Wade es darstellt – auf Stufe 5 plötzlich auftaucht und auf Stufe 7 ebenso plötzlich wieder verschwindet. Wenn ich sage, dass Wades Stufen der Bewusstseinsentwicklung in erster Linie die Stufen der Selbstempfindung sind (korreliert mit den neun Drehpunkten und Weltsichten), dann meine ich damit nicht, dass sie andere Faktoren übersieht; in der Regel ist dies nicht der Fall. Aber ich will zu zeigen versuchen, dass sie es versäumt, die verschiedenen Entwicklungslinien auf jeder Stufe sorgfältig und konsequent zu differenzieren, und ihnen eine quasiunabhängige Entwicklung zuzubilligen. Ihre Definitionen orientieren sich vorwiegend am Modus der transitorischen Selbstempfindung (und ihrer transitorischen Weltsicht) auf jeder der Stufen, weshalb sie die für jede Stufe typischen Merkmale beschreibt statt freier Entwicklungslinien. Ich werde dies im weiteren noch erklären.
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2 Nagarjuna wies darauf hin, dass man, sobald man das Absolute qualifizieren möchte – und sei es in Begriffen wie "Ganzheit" und "Nichtduales" – sofort ein dualistisches Modell erzeugt. Washburn muss den Urgrund qualifizieren, um ihn gegenüber dem Ich abzugrenzen, wodurch sofort ein scharfer Dualismus entsteht, den er dann mit seinem "psychischen Ganzen" zu überwinden versucht, wodurch aber der Urgrund zu einem Teilbereich von etwas anderem wird und so kaum ein Urgrund sein kann, von dem alles ausgeht. Ebenso weist Wade "der Leerheit" verschiedene Merkmale zu, um sie gegenüber der expliziten Welt der Getrenntheit zu differenzieren, womit sie in eine zutiefst dualistische Ontologie gerät, die auch sie zu überwinden versucht, indem sie beides zu einer Art Möbiusband zusammenheftet, so dass "die absolute implizite Ordnung" und die relative "explizite Ordnung" zwei Aspekte des "saumlosen Ganzen" sind, wodurch aber ihr Absolutes nicht sonderlich absolut ist. Nagarjuna und den nichtdualen Mystikern zufolge entspringt dies dem irregeleiteten Bemühen, die Leerheit zu qualifizieren; die aber dies tun, sagte Nagarjuna, "heiße ich unheilbar". 3 Vor allem wenn Wade das von zwei Ursprüngen ausgehende neunstufige Standardmodell mit den Sephirot der Kabbala zur Deckung zu bringen versucht (was man tun kann), gerät das Ganze meiner Meinung nach doch sehr schnell zu einem theoretischen Gesellschaftsspiel, für das es wenig Befunde gibt, zu einer Zahlenspielerei, um ein Schema zu retten. In den letzten zehn Jahren ist es immer deutlicher geworden, dass transpersonale Theoretiker ein festes transpersonales Paradigma brauchen, das Wade entweder nicht hat oder aber sorgfältig verbirgt, vielleicht um "akademisch" zu sein. Wenn dem so ist, würde ich sie doch bitten, die Heuchelei aufzugeben und eine authentischere transpersonale Hermeneutik auf der Grundlage expliziter Paradigmen und Injunktionen, nicht auf derjenigen theoretischer Konzeptionen vorzulegen. Als Transpersonalisten wollen wir doch beschreiben, was wir kontemplativ sehen, nicht bloß dasjenige, was wir theoretisch denken. Ein Paradigma ist keine Idee, sondern eine Praxis, und wenn sie von einem "holonomen Paradigma" spricht, dann möchten wir doch gerne etwas von ihrer Praxis hören, weil sie sonst eben keineswegs ein neues Paradigma hat. 4 Die erste Zusammenfassung von Wilber-II wurde 1979 veröffentlicht ("A Developmental View of Consciousness", Journal of Transpersonal Psychology, 11, Nr. 1, 1979). Die ausführliche Darstellung erschien als Das Atman-Projekt 1980. Wilber-III wurde erstmals veröffentlicht in "Ontogenetic
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Two Fundamental Patterns", The Journal of Transpersonal Psychology, 13, Nr. 1, 1981; hieran schloss sich eine Development:
zweiteilige Serie in derselben Zeitschrift an, "The Developmental Spectrum and Psychopathology: Part 1, Stages and Types of Pathology; Part 2, Treatment Modalities" (Wilber 1984). Diese Arbeiten gingen dann in Psychologie der Befreiung ein (Wilber u. a. 1986). In Wilber 1984 wurde der Unterschied zwischen dauerhaften und Übergangsstrukturen wohl am nachdrücklichsten herausgearbeitet; Wilber 1990 war vor allem den Unterschieden zwischen Ebenen und Linien gewidmet, und beides erfährt mit dem vorliegenden Buch eine Aktualisierung. 5 Ein Mangel an Wades Stufen scheint mir zu sein, dass sie nicht sorgfältig und konsequent genug zwischen dauerhaften und Übergangsstrukturen unterscheidet. Hieran krankt auch ihr Gedanke, dass das absolute ewige Selbst die implizite Ordnung sei, welche holographisch alle Dinge und Ereignisse im Universum in sich schließt, so dass jemand, der zu dieser impliziten Ordnung erwacht, eins mit absolut allem sei, was je in der expliziten Ordnung existierte, existiert oder existieren wird. Der Erweckte ist aber nicht eins mit Todesfurcht, mit dem grobstofflichen Körper-Geist, mit den Ich-Motivationen dieser niedrigeren Reiche usw. Nach Wades Theorie sollte all dies erhalten bleiben, während es in Wirklichkeit negiert wird. Ähnliches gilt für die Korrelierungen, die sie mit Gehirnstrukturen vornimmt. Diese Gehirnstrukturen sind für sie die äußeren (oben rechts: Stammhirn, limbisches System, Neokortex usw.) Korrelate der inneren Grundstrukturen (oben links: Empfindungen, Antriebe, Bilder, Symbole, Begriffe, Regeln usw.). Bei seinem Entwicklungsgang durch die Grundstrukturen erzeugt das Bewusstsein verschiedene Übergangsstrukturen. Wades neun Stufen sind letztlich Stufen von Übergangsstrukturen (es sind letztlich die neun Drehpunkte der Bewusstseinsentwicklung und der zugehörigen Weltsichten), die sie mit Gehirnstrukturen korreliert; diese Zuordnungen sind zutreffend, aber sie vermag nicht zu zeigen, warum die Evolution erstere dekonstruiert (d. h. zerstört), nicht aber letztere. Dies ist ein inhärentes Problem des Modells Wade/Wilber-II, dessen Ursache, wie gesagt, darin zu suchen ist, dass nicht klar zwischen dauerhaften und Übergangsstrukturen unterschieden wird. Da Wilber-II letztlich mit Aurobindo kongruent ist, stellt Wilber-III zugleich meine Kritik oder besser gesagt meine kritische Würdigung von Aurobindo (und Chaudhuri) dar. Es ist also keine Zurückweisung, sondern eine Verfeinerung. Und da weiterhin die Große Kette des Seins (die Große Holarchie) letztlich identisch ist mit Wilber-II, stellt Wilber-III auch weitgehend meine allgemeine Kritik und Verfeinerung der
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Philosophia perennis dar (d. h. u. a. der grundlegenden Psychologie des Vedanta, des Mahayana/Vajrayana-Buddhismus, der kabbalistischen Sephirot, Plotins und der neuplatonischen Tradition usw.). Diese Verfeinerungen von Wilber-III sind meiner Meinung nach von größter Bedeutung, insbesondere für die Details einer Integration östlicher und westlicher Modelle. Die Modelle des Typs II sind hierfür nicht mehr ausreichend, wie nützlich sie auch für eine erste Orientierung waren. 6 Dieses Modell wurde erstmals dargestellt in "Ontogenetic Development: Two Fundamental Patterns" (Wilber 1981a); es folgte eine zweiteilige Serie in derselben Zeitschrift, "The Developmental Spectrum and Psychopathology: Part 1, Stages and Types of Pathology; Part 2, Treatment Modalities"). Diese Arbeiten wurden in Psychologie der Befreiung (Wilber u. a. 1986) aufgenommen. In Wilber 1990 wurden die Unterschiede zwischen Ebenen und Linien klar herausgearbeitet, wiewohl das vorliegende Buch meinen aktuelleren Standpunkt wiedergibt. Zugleich wurde immer offensichtlicher, dass das "Geheimnis" der psychologischen, noetischen oder Bewusstseinsdimension nicht ausschließlich in dieser Dimension zu finden sein kann. Das Spektrum des Bewusstseins umfasste ja nur den oberen linken Quadranten, weshalb sich mein Blick immer mehr auf die eigentliche Herausforderung richtete, nämlich nicht nur die Phasen der Bewusstseinsentwicklung aufzuhellen, sondern in einem alle Ebenen und alle Quadranten umfassenden Ansatz alle Verknüpfungen dieser Phasen mit den anderen Quadranten zu klären. Dies ist Wilber-IV, das Modell, das ich in Eros, Kosmos, Logos und Eine kurze Geschichte des Kosmos sowie in diesem Buch vorlege. Eine Zusammenfassung von Wilber-IV findet sich auch in Kapitel 11 dieses Buchs unter der Überschrift "Eine integrale Theorie des Bewusstseins". 7 Ich selbst habe verschiedene Anläufe zu einer ausführlicheren Darstellung von Wilber-III unternommen; manche Leser erinnern sich vielleicht an Erwähnungen von System, Self, and Structure oder etwas, das ich Patterns and Process in Consciousness genannt habe; jetzt nenne ich es Principles of Transpersonal Psychology, aber ich will dieses Buch wirklich nicht schreiben und wünschte, dass sich jemand der Konzeption annehmen und damit sein Glück versuchen wollte. Auf der anderen Seite findet die Kurze Geschichte starkes Interesse, ein Buch, in dem ganz das Modell Wilber-III (und Wilber-IV) im Vordergrund steht, und zwar in seiner vereinfachten Form als "Leiter" (dauerhafte Grundstrukturen), "Kletterer" (das Selbst-System) und "Sichtweise" (die sich durch die Grundebenen hindurchziehenden
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Linien). Vielleicht weckt die Beschäftigung mit diesem Buch das Interesse an einer genaueren Betrachtung von Wilber-III und findet sich ein Graduierter, der so freundlich ist, dieses Lehrbuch zu schreiben. ReVision, Sommer 1996. Der genauere Zusammenhang dieser Entwicklungslinien müsste noch in empirischen und phänomenologischen Forschungen untersucht werden. Nach den derzeitigen Befunden ist davon auszugehen, dass zum Beispiel physiologische Entwicklung notwendig, aber nicht hinreichend ist für kognitive Entwicklung, die notwendig, aber nicht hinreichend ist für interpersonale (und Selbst-)Entwicklung, die wiederum notwendig, aber nicht hinreichend ist für moralische Entwicklung. Wir werden uns diesem Thema in Kapitel 10 noch ausführlicher widmen. In meinem Modell ist die Hauptachse, an der all dies gemessen wird, das Bewusstsein (die Ebenen des Spektrums des Bewusstseins, die Ebenen der Grundstrukturen). Diese "Bewusstseinsachse" hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Konzeption der kognitiven Entwicklung, doch sind sie nicht einfach dasselbe, insbesondere angesichts der Einseitigkeiten der kognitiven Forschung. Damit meine ich zum Beispiel: (1) die fast ausschließliche Betonung der Es-Erkenntnis, die man als "Kognition" bezeichnet, die aber die Ich- und Wir-Aspekte des Bewusstseins außer acht lässt; (2) die durchgängige Überbetonung des Erwerbs naturwissenschaftlicher Es-Erkenntnis als zentrale Entwicklungsachse, mit dem damit einhergehenden Versuch, (3) eine zentrale Achse in Begriffen einer Piagetschen logisch-mathematischen Kompetenz zu definieren; (4) die durchgängige Nichtberücksichtigung von Emotionen (und Prana) als Bewusstseinsmodi; (5) die fast völlige Nichtbeachtung der transrationalen Strukturen des Bewusstseins. Deshalb vermeide ich es, die Grundstrukturen des Bewusstseins mit der kognitiven Entwicklungslinie gleichzusetzen, auch wenn die Überschneidungen mit dieser Linie besonders groß sind. Wenn ich gelegentlich die Grundstrukturen als "kognitive" Strukturen bezeichne, dann gilt dies mit den genannten Einschränkungen; in der Regel trenne ich beides voneinander. S. 81. Alle Zitate in diesem Abschnitt stammen aus Gardner u. a. (1990). Ebenda. Ebenda, Hervorhebungen von mir. S. 87, Hervorhebungen von mir. S. 93. S. 95. Meiner Meinung nach gibt es eine "metaphysische" Grundlage für die Existenz von Ebenen und Linien (oder Wellen und Strömen) und für die Tatsache, dass sie in ihren Grundzügen universell sind (auch wenn sie sich oft in ganz unterschiedlichen Oberflächenstrukturen
manifestieren). Die unterschiedlichen Entwicklungslinien sind stets Varianten der vier Quadranten, die sich in Entwicklungs- oder Manifestationsebenen entfalten. Alle Holons besitzen (mindestens) die vier Quadranten oder einfach die "großen Drei" Ich, Wir und Es: Subjektivität oder Ich (Selbstausdruck, Selbst-Begabungen, Ästhetik, Selbstidentität, Ichstruktur, Selbstbedürfnisse usw.), Wir oder gemeinschaftliche Intersubjektivität (u.a. moralische Entwicklung, Ethik, Richtigkeit und Gerechtigkeit, Fürsorge und Verantwortlichkeit) und Es (oder objektive Wirklichkeiten, Kognition im Es-Modus, Objektpermanenz usw.). Jeder dieser vier Quadranten entfaltet sich über die Grundebenen seiner eigenen Manifestation; dies ist mit Linien und Ebenen, Strömen und Wellen gemeint. 16 S. 95. Mit Aurobindo könnte man auch die grobstoffliche (frontale), feinstoffliche (psychische) und kausale (höhere und überbewusste) Entwicklung als drei grob unterscheidbare Linien betrachten, die sich innerhalb gewisser Grenzen quasi-unabhängig entwickeln können. Dies bedeutet, dass sich Menschen (ontogenetisch und phylogenetisch) zum Beispiel im psychischen/feinstofflichen Bereich sehr weit entwickeln können, während sie bezüglich der frontalen Strukturen (Ich, Rationalität, konventional verbal usw.) noch relativ unentwickelt sind. Dies wirft auch ein Licht darauf, warum ich glaube, dass diese verschiedenen Ströme nicht wie Ziegelsteine linear aufeinandergeschichtet sind, sondern eher wie Säulen nebeneinander stehen, und warum weiterhin Fortschritte auf der einen Linie denjenigen auf anderen Linien vorauseilen oder hinterherhinken können. 17 17 S. 95. Hier sind noch zwei weitere Ansätze zu erwähnen. Diane McGuinness, Karl Pribram und Marian Pirnazar (1990) stimmen mit Piaget überein, dass es eine universelle kognitive Entwicklungslinie von der sinnlichen Ebene über konkrete Schemata / Operationen zu abstrakten Subtilitäten gibt, weisen jedoch darauf hin, dass Forschungen die Piagetsche Auffassung nicht stützen, dass dieses logisch-kognitive Schema in allen Bereichen auftritt (und es besteht auch keine Relation zu den Altersstufen). Vielmehr ist es so, dass dieses allgemeine Fortschreiten mit jeder neuen Lernerfahrung oder Entwicklungslinie (auf jeder Altersstufe) immer wieder neu auftritt. Dem stimme ich völlig zu. "Dieses Modell einer fortwährenden Zustandstransformation" ist "trotzdem hinsichtlich der Mikroentwicklung beim Erwerb von Fertigkeiten hierarchisch. Die Zustände ... bilden eine invariante Sequenz, und jeder spätere Zustand integriert den vorangegangenen" (Alexander u.a. 1990, S. 14). Man beachte, dass der Fortschritt vom
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Sinnlichen über das konkrete Schema zum Abstrakten / Subtilen letztlich den Entwicklungsschritten vom Präkonventionellen über das Konventionelle zum Postkonventionellen entspricht (auch wenn sie kein Post-postkonventionelles anerkennen). Kurt Fischer, Sheryl Kenny und Sandra Pipp (1990) verweisen zunächst darauf, dass der Piagetsche Gedanke einer synchronen Entwicklung in allen Bereichen weiteren Forschungen nicht standgehalten hat. Wir drücken dies so aus, dass sich verschiedene Linien mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln. Die Verfasser zeigen auf, dass eine Piagetsche Stufe eine Fähigkeit ist, die mit Kompetenz ausgefüllt werden muss, was bei jeder Fertigkeit anders abläuft und insbesondere von der konkreten Praxis abhängt. Diese Fertigkeiten unterscheiden sich teilweise recht erheblich, doch gelten für sie alle trotzdem drei hierarchische Ebenen des Erwerbs, die die Verfasser die sensomotorische (präkonventionell), diejenige der konkreten Repräsentationen (konventionell) und diejenige der Abstraktionen nennen (postkonventionell). Die abstrakte Ebene untergliedern die Verfasser in vier weitere hierarchische Stufen: Frühe und späte formale Operationen (formal rational oder formop) und zwei postformale Stufen, diejenige der Systeme und diejenige der Systeme von Systemen (d. h. zwei Phasen der Schau-Logik). Fischer u. a. verweisen auch auf die Bedeutung biologischer/ Gehirnreifungsabläufe für diese verschiedenen kognitiven Entwicklungen, womit sie ganz zu Recht, wie ich meine, den engen Zusammenhang der linksseitigen und rechtsseitigen Aspekte eines jeden Holons des menschlichen Bewusstseins betonen. Diese wichtigen Modelle stehen sämtlich im Einklang mit dem allgemeinen Gedanken verschiedener Ströme, die sich in denselben allgemeinen Wellen fortpflanzen (nach meiner Sichtweise unterschiedliche Entwicklungslinien, die sich über dieselben allgemeinen Bewusstseinsebenen entfalten, die nicht von einer einzigen und synchronen Piagetschen Linie zusammengehalten werden, sondern vom Selbst-System, das mit all den quasi-unabhängigen Linien, Ebenen, Stufen und Zuständen jongliert). Zu beachten ist weiterhin, dass es neben vertikalen oder transformativen Entwicklungen auch horizontale oder translative Entwicklungen gibt. Weil jede Grundstruktur weiter vorhanden bleibt, wenn auch in einer subsumierten Form, kann sie in ihrem eigenen Bereich weiter praktiziert, entwickelt und geschult werden. Die orale Phase emergiert in den ersten Lebensmonaten, aber eine herrliche Mahlzeit ist immer etwas, das auch noch ein Erwachsener genießen kann. Man kann also die horizontalen oder translativen Entwicklungen
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beliebiger Linien, Ströme oder Domänen erkunden. Darüber hinaus gilt, dass nur noch translatives Wachstum (wenn überhaupt) bleibt, wenn bei einem Individuum eine größere vertikale Transformation abgeschlossen ist. Diese translativen Entfaltungen können dauerhaft und transitorisch sein; manche sind hierarchisch integriert, andere sind eher die "Jahreszeiten des Erwachsenenlebens", die Daniel Levinson so schön dokumentiert hat. Eine der Schwierigkeiten bei der Untersuchung höherer vertikaler Transformationen liegt darin, dass die Gesellschaft als Schrittmacher der Transformation (auf der aktuellen Evolutionsstufe) etwa im Bereich der formalen Ebene wegfällt, was bedeutet, dass man bei seinen postformalen und post-postkonventionellen Entwicklungen nicht nur auf sich selbst gestellt ist, sondern manchmal sogar aktiv behindert wird. Die meisten Studien – von Loevinger über Kohlberg bis Plaget – zeigen, dass die großen vertikalen Transformationen gegen Ende der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter meist aufhören und dass von da an nur noch verschiedene horizontale oder translative Entwicklungen auftreten. Der Schwerpunkt einer bestimmten Kultur wirkt daher als "Entwicklungsmagnet": Wenn man unterhalb des Durchschnitts liegt, wird man von diesem Magneten nach oben gezogen; versucht man, darüber hinaus zu gelangen, verspürt man einen Zug nach unten. An unserem Punkt der Evolution scheint es nur relativ wenige Praktiken zu geben, die als höhere und postformale Schrittmacher der Entwicklung dienen können. Hierzu gehören insbesondere Meditation und integrale transformative Praktiken, aber auch (wenn auch weit weniger bedeutsam) einige wenige Formen von Psychotherapie, intensive künstlerische oder sportliche Leistungen (die intensive Ausübung eines Talents oder einer Entwicklungslinie), in seltenen Fällen psychedelische Mittel, holotrope Atemarbeit und andere yogische Manipulationen des grobstofflichen Körper-Geists, lebensbedrohliche Krankheit oder Unfall und Gnade. 18 In A Sociable God zum Beispiel zeichne ich die Entwicklungslinie der Spiritualität/Religion über magische, mythische, rationale, psychische, subtile, kausale und nichtduale Religion nach (die jeweils eine Ebene oder Welle der spirituellen Linie oder des spirituellen Stroms sind). Weiterhin habe ich zwischen translativer spiritueller Legitimität (auf einer gegebenen Ebene) und transformativer spiritueller Authentizität unterschieden (der Fähigkeit zur Transformation auf eine höhere/tiefere Ebene). 19 Die technischen Korrelationen für diese Begriffe sind wie folgt (siehe auch Eros, Kosmos, Logos):
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Mit präkonventionellen Reichen sind insbesondere die sensomotorischen Bereiche gemeint (die Grundstrukturen von Materie, Empfindung und Wahrnehmung) und in einem allgemeineren Sinne die präoperationalen Reiche (Impuls, Bild, Symbol und Begriff), sowie alle diesen Grundstrukturen zugeordneten Übergangsstrukturen (z. B. Schutzbedürfnis, Präkon-Moral, impulsive Selbst-Empfindung usw.). Die zugehörigen Weltsichten sind die archaische, die magische und die magisch-mythische. Unter den konventionellen Reichen sind allgemein die Grundstrukturen des gesamten Konop (Regeln/Rolle) und frühen Formop zu verstehen sowie alle diesen Grundstrukturen zugeordneten Übergangsstrukturen (konformistisches Selbst, mythische Mitgliedschaft, Zugehörigkeitsbedürfnisse usw.). Die Weltsichten sind die mythische und die mythisch-rationale. Unter postkonventionellen Reichen sind allgemein die Grundstrukturen des späteren Form-op und die ganze Schau-Logik zu verstehen sowie alle diesen Grundstrukturen zugehörigen Übergangsstrukturen (die formale, postformale, zentaurische und integrierte Struktur, Gesellschaftsvertrag und universelle Grundsätze usw.). Die Weltsichten sind die rationale und die existentielle. Unter post-postkonventionellen Reichen sind allgemein die Grundstrukturen des Psychischen, Subtilen, Kausalen und Nichtdualen zu verstehen sowie alle diesen Grundstrukturen zugehörigen Übergangsstrukturen (die post-postformalen einschließlich der vier entsprechenden moralischen Stufen in diesen Reichen [siehe Eros, Kosmos, Logos, S. 624 ff.]). Die Weltsichten sind die schamanischyogische, die heiligmäßige, die weise und die nichtduale (Naturmystik, Gottheitsmystik, formlose Mystik, nichtduale Mystik). 20 Fowler, der seine empirischen und phänomenologischen Forschungen als rekonstruktive Wissenschaft betrieb, hat festgestellt, dass Menschen sechs oder sieben Hauptstufen der Entwicklung des spirituellen Glaubens (oder der spirituellen Orientierung) durchliefen, und seine Befunde stehen sehr weitgehend im Einklang mit der Darstellung, die ich hier gebe. In Kürze: Stufe 0 ist "präverbal undifferenziert" (unsere archaische Stufe). Stufe 1 nennt Fowler "intuitiv-projektiv" (unsere magische Stufe), die er auch in eine Beziehung zu Präop setzt. Stufe 2 nennt er "mythisch-wörtlich", und diese ordnet er dem frühen Kon-op zu, wobei sich die Treue auf diejenigen erstreckt, die "sind wie wir". Stufe 3 ist die "synthetisch-konventionelle", die "wechselseitige interpersonale Perspektivenübernahme" und "Konformität gegenüber Klassennormen und -interessen" beinhaltet, das heißt spätes Konop und frühes Formop (Stufe 2 und 3 sind unsere
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mythisch und mythisch-rationale, und beide Stufen entsprechen zusammen unserer allgemeinen mythischen Mitgliedschaft). Stufe 4 ist "individuierend-reflexiv"; hier emergieren "dichotomisches Form-op" (und das Ich), und sie beinhaltet "Relativierung der eigenen Perspektiven" und eine "neue Verortung von Autorität innerhalb des Ichs". Stufe 5 ist "verbindender Glaube"; hier emergiert "dialogisches Erkennen", und man wird offen für "bedeutungsvolle Begegnungen mit anderen Traditionen als den eigenen" (postkonventionelle, universelle Rationalität und universeller Pluralismus, reifes Ich, Beginn der weltzentrischen Orientierung). Stufe 6 ist "universalisierender Glaube", der von den Erfahrungen und Wahrheiten früherer Stufen informiert ist (zentaurische Integration früherer Stufen). Dieses zentaurische Selbst wird von egoistischem Streben gereinigt und durch geschulte Intuition mit dem Grund des Seins verbunden; dies ist eine "Aktualisierung des Geistes einer umfassenden und erfüllten menschlichen Gemeinschaft" (unsere SchauLogik, die Verwirklichung der weltzentrischen Orientierung und der Anfang der transpersonalen Intuition. Die höheren kontemplativen Stufen hat Fowler angesichts ihrer Seltenheit nicht untersucht, doch ist die Übereinstimmung bis dahin sehr eng, oft auch exakt). Fowler, Stufen
des Glaubens. 21 Es gibt natürlich viele verschiedene Definitionen von "spirituell" (und "religiös"); in A Sociable God nenne ich elf ganz unterschiedliche, aber häufige Verwendungen dieser Begriffe. Bei der vorliegenden Erörterung konzentrieren wir uns auf die beiden häufigsten Verwendungen im Rahmen dieser allgemeinen Diskussion der Entwicklung der Spiritualität und ihres Zusammenhangs mit der psychischen Entwicklung. Es gibt vielleicht noch eine weitere Verwendung von "spirituell", die ebenfalls relativ häufig ist: Spiritualität ist dasjenige, was alle anderen Ebenen und Linien in einer umfassenden Weise integriert. In dieser Bedeutung ähnelt der Begriff sehr meinem "umfassenden Selbst" (als Ort der Integration), und soweit der Leser diese Verwendung bevorzugt, kann er selbst die notwendigen Korrelationen vornehmen. 22 Im Lehrbuch der transpersonalen Psychologie, das ich seit fünfzehn Jahren zu schreiben gedenke, aber immer noch nicht niedergeschrieben habe, gliedere ich das "Gesamt-Selbst" in zwei allgemeine Aspekte, das proximale Selbst und das distale Selbst. Das proximale Selbst ist das intime subjektive Selbst, das als ein "Ich" erfahren wird. Das distale Selbst ist das objektive Selbst, das als "mir" oder "mein" erfahren wird. (Daneben gibt es noch das anteriore Selbst, das als "Ich-Ich" erfahren wird, und dies ist die Intuition des Zeugen, die vor dessen voller kausaler Entfaltung vorhanden ist.) Die Summe dieser drei Selbste
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nenne ich das Gesamt-Selbst. Das proximale Selbst ist nun in der Tat eine eigene Entwicklungslinie von Übergangsstrukturen. Es ist die Entwicklungslinie der SelbstEmpfindung oder proximalen Selbst-Identität (oft "Ichentwicklung" genannt), durchläuft aber in meinem Modell das ganze Spektrum vom pleromatischen Selbst über das uroborische und typhonische Selbst und über Persona, Ich, Zentaur und psychische/subtile Seele bis zum kausalen Geist. Der Einfachheit halber nenne ich dies oft das Selbst oder die Selbst-Empfindung, ohne mich mit weiteren Unterscheidungen aufzuhalten. Das Gesamt-Selbst ist dagegen das proximale Selbst einschließlich des distalen Selbst (und seiner eigenen Intuition des anterioren Ich-Ich) und einschließlich von allem anderen, was in den Umkreis des Selbst kommt: Ich, mir und mein, der große Jonglierakt, der das Gesamt-Selbst darstellt. Bei der Entwicklung der proximalen Selbst-Identität, der Linie der Selbst-Empfindung, wird das proximale Selbst der einen Stufe Teil des distalen Selbst der nächsten. Das bedeutet, dass das intim Subjektive der einen Stufe zum Objekt des Gewahrseins der nächsten wird ("Ich" wird zu "mir" oder auch "mein"); in dieser Weise löst sich die SelbstEmpfindung von den Grundstrukturen ab, wird Identifikation zu EntIdentifikation, wird Verbundenheit zu Losgelöstheit. Der Tod des proximalen Selbst verwandelt es in ein distales Selbst, das schließlich im großen Tod der endgültigen Erleuchtung vollständig abgelegt wird, wenn das Ich-Ich allein als das höchste Selbst aller Subjekte und aller Objekte in Erscheinung tritt. Dies ist die Entwicklungslinie der spezifischen oder proximalen Selbst-Empfindung, die in der Tat aus relativ unveränderlichen Entwicklungsstufen besteht. Und diese Stufen der proximalen SelbstEmpfindung sind genau die Drehpunkte der Selbst-Entwicklung (deren Zahl ich meist mit neun oder zehn angebe). Das Gesamt-Selbst dagegen, das ich manchmal auch als den "Schwerpunkt" des Bewusstseins bezeichne, ist ein Gemenge aus der proximalen Selbst-Empfindung, dem distalen Selbst und all den anderen Dingen, mit denen das Gesamt-Selbst jongliert. Hierzu gehören zum Beispiel unbewusste Aspekte, die sich bei der Entwicklung der proximalen Selbst-Empfindung abgespalten haben (unbewusste Antriebe, dissoziierte Personae usw.), aber auch die "Drahtseilakte" der übrigen Übergangsphasen, die Wesenszüge, Zustände und Talente. Die Wahrnehmung des eigenen Gesamt-Selbst (seines schlichten So-Existierens in eben diesem Augenblick) umfasst also nicht bloß das eigene "Ich" und "mein", sondern in irgendeiner Weise auch alles
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andere, das sich zu einem bestimmten Zeitpunkt im eigenen Bewusstsein befindet: Besitz, Talente, Beziehungen, Freunde, Verwandte, Wünsche, Ziele, Ängste usw. (einschließlich unbewusster Absichten, die ebenfalls ihren Einfluss ausüben). Aus diesem Grund durchläuft das Gesamt-Selbst keine invariante (oder universelle) Stufenfolge. Weil es ein Gemenge ist, ist es in der Tat "überall". Aber in der langfristigen Betrachtung stellt man natürlich doch am Selbst, insoweit es sich weiter entfaltet, ein allgemeines Fortschreiten durch die Hauptwellen des Bewusstseins fest, und zwar einfach deshalb, weil alle Linien, mit denen es jongliert, selbst diese Wellen durchlaufen. Deshalb ist an diesem Schwerpunkt, insoweit die Entwicklung auf einer der Linien fortschreitet, eine langsame und progressive Entwicklung und Entfaltung festzustellen, ohne dass diese einen festen Ablauf hätte. Das bedeutet, dass diese Entwicklung des Gesamt-Selbst während dieses Prozesses durch eine beliebige Zahl unterschiedlicher Linien vorangetrieben werden kann. Zu einem Zeitpunkt könnte sich das Gesamt-Selbst durch sein kognitives Wachstum entwickeln (das heißt seine Gesamt-Tiefe vermehren), zu einem anderen könnte das Wachstum auf der affektiven Linie vorangehen. Zu einem Zeitpunkt könnte das künstlerische Wachstum eine enorme Schubkraft entwickeln und das Selbst mit sich mitreißen, und zu einem anderen könnte dies das spirituelle Wachstum sein. Zu wieder einem anderen Zeitpunkt könnte es das proximale Selbst selbst sein, das sich nach dem Licht sehnt und alles mit sich zieht. Dieses Gesamtwachstum vollzieht sich nicht auf einer festen Bahn, auch wenn dies für fast alle Entwicklungslinien innerhalb dieses Wachtumsprozesses gilt; dennoch nimmt die Tiefe insgesamt zu, und zwar in einer bestimmten Richtung (nämlich zum GEIST-als-GEIST, gedrängt von Eros, gezogen von Agape). Und deshalb müssen auch alle Versuche scheitern, das Gesamtwachstum primär auf kognitive Strukturen oder kognitive Dissonanz zurückzuführen, auf das Wachstum des Ich oder psychosexuelles Wachstum, auf interpersonales oder emotionelles oder spirituelles Wachstum. An jedem Punkt der Entwicklung kann bei jedem Menschen jede dieser Linien in der Gesamtentwicklung die Führung übernehmen, bis diese Linie zurückfällt und eine andere Linie oder andere Linien die "Lokomotivfunktion" übernimmt. Nirgendwo ist hier ein invariantes (oder hierarchisches) gestuftes Fortschreiten zu erkennen, und doch strebt alles demselben entgegen, nämlich Gott. 23 Washburn stellt die Frage, ob Schau-Logik (und der Zentaur) nicht vielleicht eine unnötige Ad-hoc-Hinzufügung sei. Könnte nicht einfach die Rationalität den Körper integrieren, wenn doch jede Ebene die
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vorangegangene transzendiert und einschließt? Warum sollte man die zusätzliche Stufe der Schau-Logik hinzufügen und diese zur Voraussetzung für die Integration von Körper und Geist machen? Ich habe jede einzelne Stufe meines Modells nicht aufgrund philosophischer Spekulation, sondern auf der Grundlage breitester empirischer, phänomenologischer, klinischer und kontemplativer Evidenz vorgeschlagen. Dies gilt auch für den Zentauren und seine Schau-Logik. Jenseits von Piagets formal-operationaler Stufe wurde von mindestens zwei Dutzend bedeutenden Theoretikern und Forschern, die ich genauestens zitiert habe, eine weitere kognitive Stufe postuliert, eine, wie man sagen könnte, Stufe "höherer Vernunft" oder in gewissem Sinne ein allgemein postformales Reich. Als ich erstmals die Existenz einer Stufe der Schau-Logik in Betracht zog (in "The Spectrum of Consciousness", Main Currents in Modern Thought, 1974), konnte ich nur einige wenige Forscher des Hauptstroms (wie zum Beispiel Arieti) und einige wenige Philosophen wie Schelling, Hegel und Gebser ausfindig machen, die meiner Meinung waren. Aber inzwischen sprechen von postformalen Stufen u. a. Arlin, Cowan, Souvaine, Lahey, Kegan, Koplowitz, Fischer, Kenny, Pipp, Richards und Commons, Pascual-Leone, Kohlberg und Ryncarz, Habermas, Bruner, Cook-Greuter, Basseches, L. Eugene Thomas, Sinnott, Kramer, Gilligan, Murphy, Tappen, Alexander u.a. Francis Richards und Michael Commons (1990) haben diese postformale Stufe wohl am sorgfältigsten dargestellt. Für sie besteht diese Phase der Schau-Logik aus vier Teilphasen, einer systematischen, metasystematischen, paradigmatischen und paradigmaübergreifenden. Ich empfehle ihre Arbeit sehr. Aber unabhängig von den Details ist heute die Existenz von etwas ähnlichem wie Schau-Logik von einer signifikanten Zahl von Theoretikern und Forschern anerkannt und durch eine Fülle von Belegen abgestützt. Und deshalb rede ich auch von Schau-Logik. Ad hoc ist hieran jedenfalls nichts. Ebenso habe ich auf der Grundlage verschiedener fundierter Forschungsarbeiten, insbesondere derjenigen von Loevinger, Broughton, Maslow, Rogers, Gilligan, Graves und anderer die Existenz der zentaurischen Selbst-Empfindung vorgeschlagen. Die Arbeiten dieser Forscher zeigen, dass es jenseits der individualistischen Ego-Phase und von dieser gut abgrenzbar eine Stufe der Integration von Körper und Geist gibt. Ich habe des öfteren Loevingers Zusammenfassung von Broughtons Forschungen zitiert: "Auf dieser Stufe sind Körper und Geist Erfahrungen eines integrierten Selbst." Und deshalb lege ich diese Konzeption vor. Warum sage ich, dass nur und erst die Schau-Logik Körper und
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Geist integrieren kann? Dies ist natürlich relativ und eine Frage des Spielraums. Man könnte auch behaupten, dass Körper und Geist erst mit der vollständigen Erleuchtung wirklich integriert sind, und ich könnte mich auch damit einverstanden erklären. Grundsätzlich aber bezeichne ich den Zentauren als die Integration von Körper und Geist, weil (1) dies unmittelbar aus den Befunden von Loevinger, Broughton, Graves und anderen hervorgeht und (2) der Zentaur als der große Übergang vom grobstofflichen Körper-Geist zum feinstofflichen Körper-Geist die "endgültige" Integration dieses grobstofflichen Körpergeists darstellt. Technisch gesprochen: Weil die Schau-Logik an der Schwelle zum Transmentalen steht, ent-identifiziert sich das Selbst der Schau-Logik immer mehr vom Geist (im Sinne der Ratio). Weil die Schau-Logik die formale Rationalität transzendiert, kann sie die formale Vernunft und den Körper leichter integrieren. Grundsätzlich transzendiert jede Stufe ihre Vorläuferin und schließt sie ein, doch gilt dies insbesondere für die eigentlichen Grundstrukturen (die ohne eine inhärente Selbst-Empfindung sind). Man darf nie vergessen, dass das Selbst es ist, das die Grundstrukturen bewältigt, und die vorderste Front der Selbst-Entwicklung ist der Sitz der Todesfurcht. Was immer also die führende Ebene der Entwicklung ist, mit der sich der "Schwerpunkt" des Selbst identifiziert: Diese Ebene ist der Knotenpunkt der Todesfurcht. Während die Grundstrukturen recht problemlos integriert werden können, ist dies bei den Selbst-Stufen mit ihren Rändern der Todesfurcht nicht möglich. Erst dann, wenn die Grundstrukturen transzendiert und von ihrer Selbst-Identifikation befreit sind, kann das Selbst aufhören, sich gegen den Tod zu wehren. Wenn also das Selbst mit Form-op identifiziert ist, kann es nicht Form-op loslassen und eine problemlose Integration mit früheren Ebenen vornehmen. Für Form-op ist dies ein bekannter Sachverhalt, aber dies gilt für alle Ebenen, mit denen sich das Selbst bei seiner Entwicklung identifiziert (dies ist letztlich die Dynamik der Verdrängungsschranke auf allen Entwicklungsebenen: Die Grenze der Abwehrmechanismen in ihren vielen Formen und Ebenen wird vom eingebetteten Unbewussten einer jeden Ebene mit seiner inhärenten Todesfurcht geschaffen). Die erste Stufe nach der Identifikation mit Form-op ist natürlich Schau-Logik; an diesem Punkt kann der Formop-Geist, der jetzt bar aller Selbst-Empfindung ist, problemloser in die früheren Ebenen einschließlich der körperlichen Reiche integriert werden. Dies sind, wie immer man sie erklären will, die faktischen klinischen Befunde auf dieser Ebene, auf der "Körper und Geist Erfahrungen eines integrierten Selbst sind". (Ein weiterer Faktor, der zur Integration des Zentauren beiträgt, ist
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die auf dieser Stufe auftretende signifikante Lockerung der Verdrängungsschranke. Eine Erörterung dieses Themas siehe in Kapitel 7.) Kurz, die Befunde zeigen eindeutig, dass diese postformale integrierte personale Stufe (Zentaur) sich signifikant von der vorangehenden formalen, egoischen Stufe unterscheidet. 24 1999, S. 8.
10: Die Wirkungen der Meditation 1 Selbstverständlich gibt es auch ernstzunehmende Kritik an der TMForschung, die sich unter anderem gegen eine gelegentliche Voreingenommenheit der Forscher, eine ungeeignete Methodik und Blindheit gegenüber negativen Folgen auf die Praktizierenden richtet. Aber selbst wenn man diese Einwände berücksichtigt, bleiben die Forschungsergebnisse dennoch beeindruckend. So erreichte zum Beispiel ein Prozent einer repräsentativen Gruppe von College-Studenten die beiden höchsten Stufen Loevingers (autonom und integriert), während es bei einer Vergleichsgruppe regelmäßig Meditierender 38% waren. "Die Sichtung von über zwanzig veröffentlichten Studien (mit etwa 7000 Probanden) ergab, dass die höchste durchschnittliche Ich-Entwicklungsebene, die eine repräsentative Gruppe von Erwachsenen erreichte, die Stufe der 'Gewissenhaftigkeit' war (darüber liegen die individualistische, die autonome und die integrierte Stufe). Weiterhin gelang es mit keiner Intervention, die Ich-Entwicklung so zu stimulieren, dass ein Wachstum über die Ebene der Gewissenhaftigkeit hinaus eintrat." Dass 38% der Meditierenden über diese Schwelle hinausgelangten, ist ein außerordentliches Ergebnis. Wenn man darüber hinaus den LoevingerTest geringfügig abwandelt, so dass unter denjenigen, die die höheren Stufen erreicht haben, besser differenziert werden kann, ergibt sich, dass 87% einer meditierenden Population die Schwelle der Gewissenhaftigkeit überschritten, wobei 36% die autonome und 29% die integrierte Stufe erreichten. (Alexander u. a. 1990, S. 333) 2 1990, S. 339. 3 Alexander u. a. bezeichnen ihre etwa sieben Grundebenen des Bewusstseins als "mentale Ebenen", vielleicht ein nicht ganz glücklicher Ausdruck, weil es in ihrem Schema auch submentale und supramentale Ebenen gibt. Sie verstehen unter "mental" im weiteren Sinne "die mehrere Ebenen umspannende Gesamtfunktion des Bewusstseins",
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weshalb ich ihre Grundebenen meist als Bewusstseinsebenen bezeichnen werde; diese decken sich, wie gesagt, grundsätzlich mit meinen Grundstrukturen des Bewusstseins. Ich sage im Haupttext, dass dies eher "vedantisch" als "vedisch" ist, weil in den Veden nichts von den Koshas oder Hüllen des Gewahrseins zu finden ist, nichts von den drei großen Reichen (grobstofflich, feinstofflich, kausal), keine Lehre von den drei großen Zuständen (Wachen, Träumen, Tiefschlaf) und keine Psychologie des Atman und seiner Beziehung zu Brahman. Alle diese Aussagen tauchen erst in den viel späteren Upanischaden auf, die im Vedanta kodifiziert wurden. In Indien beruft man sich gern auf die Autorität der Veden, wenn man einer Sache besonderes Gewicht verleihen will. 4 S. 319. 5 Grundebenen des Bewusstseins sind auch ihre eigenen Linien, aber nicht alle Linien stammen von diesen Ebenen (vor allen Dingen nicht die wichtigeren unter ihnen). Wenn eine Grundstruktur emergiert, bleibt sie existent, und damit kann sie beliebig weiterentwickelt werden; als Ebene ist sie auch ihre eigene Linie. Dagegen definieren die Grundstrukturen nicht die anderen großen Entwicklungslinien, wenn man einmal davon absieht, dass sie für deren Entwicklung notwendig, aber nicht hinreichend sind. Auf S. 296 setzen Alexander u. a. die "Reihen" in ihrem Diagramm mit "Bereichen" (Linien) gleich. Aber die Reihen sind auch die Ebenen des Bewusstseins, und genau hier liegt das Problem (Ebenen werden als die Hauptlinien verwendet). Natürlich lässt dies eo ipso Raum für die anderen Bereiche (wie z. B. den ethischen, den künstlerischen usw.), aber diese Bereiche können auf keiner ihrer Reihen untergebracht werden. Die Verfasser sind daher an einem bestimmten Punkt gezwungen, diese Bereiche in ihre "Spalten" oder "Fähigkeiten" hereinzunehmen, aber diese sind schon als Entwicklungsperioden definiert, was wiederum letztlich keinen Raum für spezifische Bereiche lässt. 6 Ihre Grunddynamik ist wie folgt: "Gemäss dem orthogenetischen Entwicklungsprinzip (Werner) müssen die postrepräsentationalen [postpost-konventionellen] Stufen gegenüber der repräsentationalen Ebene differenziert und hierarchisch in diese integriert werden. Die Fähigkeit zum begrifflichen Denken würde damit nicht aufgegeben. Vielmehr würde das ganze repräsentationale System den Status eines Teilsystems innerhalb des geistigen Lebens bekommen, statt dessen Träger zu sein" (S. 289). Ich stimme dem vollkommen zu – aber nur, was die dauerhaften Strukturen betrifft. Die Übergangsstrukturen sind keine funktionellen
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Teilsysteme; ihre Funktionalität ist untrennbar mit der phasenspezifischen Ausschließlichkeit der proximalen Selbst-Identität auf dieser Stufe verbunden, und wenn diese Ausschließlichkeit aufhört, geht diese Selbst-Stufe mit ihr unter. Diese fehlende Unterscheidung von dauerhaft und transitorisch zwingt aber die Verfasser, zwei ihrer sechs Ebenen als "funktional" zu definieren. In ihrem Diagramm stellen sie diese gestrichelt dar, um sie gegenüber den festen/strukturellen Ebenen abzuheben; aber eigentlich sollten doch alle sechs Ebenen strukturell sein – womit letztlich ein Drittel ihres Modells hinfällig wird. S. 22. S. 295. Ebenda. Das eingebundene Unbewusste, das durch die ausschließliche Identifikation des Selbst mit einer bestimmten Grundstruktur des Bewusstseins erzeugt wird, spielt eine außerordentlich wichtige Rolle für die Entwicklung und die dabei auftretenden pathologischen Erscheinungen, denn das eingebundene Unbewusste ist auf allen Ebenen der Sitz der Abwehrmechanismen des Selbst. Wenn sich das Selbst mit einer Ebene identifiziert, muss es diese Ebene gegen Bedrohungen verteidigen, letztlich auch gegen den Tod (und zwar so lange, bis das Selbst dieser Ebene erstirbt, sich von ihr differenziert, sich aus ihr ausgliedert, sie von einer proximalen in eine distale Ebene umwandelt, von der Verhaftung zur Loslösung übergeht). Bis dahin aber dissoziiert, verdrängt, verschiebt, projiziert und verzerrt das SelbstSystem alle Aspekte des Selbst oder anderer, die diese Identität, ihr Leben, ihre gegenwärtige Entwicklungs- und Anpassungsebene bedrohen. Dies ist der "horizontale" Kampf auf Leben und Tod, der auf jeder Entwicklungsebene stattfindet, bis alle Tode gestorben sind, alle Subjekte transzendiert wurden, alle Selbste ausgegliedert wurden und an ihrer Stelle das leuchtende SELBST erscheint, das der ganze weite Kósmos ist. The Evolving Self, S. 31. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf mein fünftes Argument in "The Form of Development" verweisen: "Was subjektiv ist, wird objektiv". Diese unaufhörliche Umwandlung des Subjekts dieses Augenblicks in das Objekt des Subjekts des nächsten Augenblicks ist natürlich eine von Whiteheads zentralen Aussagen. Dies ist nach wie vor eine der bündigsten Formulierungen von Whiteheads tiefer Philosophie und einer der vielen Punkte, in denen sich meine Auffassungen mit den seinen decken. In Kapitel 6 von Die drei Augen der Erkenntnis habe ich mich ausführlich mit Whiteheads Werk auseinandergesetzt und Entsprechungen mit meinem eigenen Werk
aufgezeigt. Eros, Kosmos, Logos enthält ebenfalls einige Fußnoten in diesem Sinne. Meine Kritik an Whitehead betrifft insbesondere zwei Dinge. Das eine ist die Tatsache, dass seine letztlich monologische Orientierung die Brauchbarkeit seiner Metaphysik erheblich einschränkt. Indem er eine im Kern subjektivistische Haltung einnimmt (das Subjekt wird zum Objekt des nächsten Subjekts), übersieht er die große Bedeutung der Intersubjektivität (seine Gesellschaften sind interobjektiv, nicht wirklich intersubjektiv, d. h. es sind Gesellschaften monologischer Ereignisse), weshalb ihm auch entgeht, dass Ereignisse niemals nur subjektiv/objektiv sind, sondern alle vier Quadranten umspannen (d.h. sie sind Holons). Dies ist der Grund, warum aus Whiteheads Haltung, um nur ein Beispiel zu geben, niemals eine schlüssige und umfassende linguistische Theorie hervorgehen konnte, auch wenn seine Anhänger etwas anderes behaupten. Whitehead hat aus dem modernen monologischen Zusammenbruch des Kósmos ein Paradigma für die ganze Wirklichkeit gemacht. Das Zweite ist, dass Whitehead, auch wenn ihn Theoretiker wie John Buchanan für den transpersonalen Philosophen schlechthin halten, dies aus sehr gewichtigen Gründen nicht sein kann, sosehr ich ihn andererseits bewundere. Um nur das offensichtlichste Beispiel zu geben: Um zum nichtdualen Kósmos zu erwachen, muss man, wie wir gesehen haben, Subjektpermanenz erlangen, das heißt die ununterbrochene Kontinuität des Bewusstseins im Wachen, Träumen und Schlafen. Solange dies nicht mittels Yoga oder Kontemplation als Bewusstseinsleistung erbracht wird, kann es auch keinen Erkenntnismodus geben, der das Wirkliche enthüllt. Diese yogische Injunktion oder Praxis ist das eigentliche transpersonale Paradigma, ohne das (oder etwas Vergleichbares) es keinerlei transpersonale Errungenschaften gibt. Die Notwendigkeit dieser Injunktion muss als Mindestanforderung in einem transpersonalen System enthalten sein. Nun ist aber klar, dass die Systeme von Shankara, Nagarjuna, Aurobindo, Plotin (und Alexander und Wilber) diese Forderung erfüllen, Whitehead dagegen auch nicht annähernd. Dies ist durchaus kein peripheres Problem, sondern gerade die entscheidende Forderung, die aber Whitehead in keiner Weise erfüllt. Whitehead als "den transpersonalen Philosophen schlechthin" zu bezeichnen stützt sich also bestenfalls auf ein translatives Sprachspiel; die transformativen Injunktionen, die den transpersonalen und postpost-konventionellen Bereich wirklich enthüllen und diesen Anspruch rechtfertigen würden, fehlen völlig. Für mich war Whiteheads Darstellung immer ein hervorragender Ausgangspunkt, aber eben nicht
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mehr. Einige seiner Begriffe sind, wie ich glaube, dennoch unverzichtbar, wie z.B. Erfassen oder erfassende Einigung, wirkliche Einzelwesen (actual entities) und Gesellschaften, Kreativität (als absolute und universelle Subjektivität), Konkretisierung, vergegenwärtigende Unmittelbarkeit, kausale Wirksamkeit, "die vielen werden eins und werden um eins vermehrt" – die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden, und diesbezüglich bin ich ein begeisterter Whiteheadianer. Aber alle diese Begriffe nehmen eine völlig andere Gestalt an, wenn man vom grobstofflichen Bereich (den Whitehead abdeckt) zum feinstofflichen und kausalen Bereich übergeht, die nur durch höhere yogische Injunktionen enthüllt werden und daher von Whitehead im günstigsten Fall nur andeutungsweise postuliert werden (zum Beispiel ewige Objekte). Whiteheads Philosophie ist nur ein dünner Aufguss dieser Prinzipien im grobstofflichen Bereich, wo Whitehead sie ausmacht (und auf dieser verwässerten Ebene recht gut darstellt). Aber hinsichtlich der höheren Formen und Funktionen oder gar der Injunktionen und Paradigmen, die diese enthüllen, hat Whitehead im besten Fall vage Andeutungen aus zweiter und dritter Hand, und schon gar nicht findet sich in seiner Philosophie irgend etwas, das direkt zu diesen höheren Bereichen hinführen würde. Und doch ist Whiteheads erste Orientierung anderen Versuchen wie z. B. dem logischen Positivismus, dem reinen Empirismus, dem wissenschaftlichen Materialismus usw. unendlich überlegen. Deshalb habe ich nach wie vor viele Sympathien für so viele Whiteheadianer wie zum Beispiel die großartigen John Cobb und Charles Hartshome sowie die vielen vorzüglichen Bücher von David Ray Griffin. Zusammenfassung von Alexander u. a. 1990, S. 19. In diesem Buch spricht Kegan einen der Hauptmängel von The Evolving Self an, nämlich die nicht beantwortete Frage nach der genauen Natur und dem Zusammenhang von Linie und Ebene, von Strom und Welle, von bereichsspezifischem und bereichsübergreifendem Prinzip. Er spricht hier vom "allgemeinen zugrundeliegenden Prinzip", das die verschiedenen Linien (die kognitive, affektive usw.) "derselben Bewusstseinsebene" in jeweils ähnlicherweise organisiert. Seine drei Bewusstseinsebenen sind letztlich die präkonventionelle, die konventionelle und die postkonventionelle (der Leser möge selbst nachlesen, wie er dies genau formuliert), was sich ebenfalls sehr gut mit meiner eigenen Auffassung deckt, auch wenn Kegan noch zögert, eine post-postkonventionelle Welle anzuerkennen. S. 34. S. 363.
16 S. 297, 295. 17 Man beachte auch, dass sie ihre sechste Ebene "das Ich" (das heißt das individuelle Selbst) nennen, weshalb ihnen der Blick dafür verstellt ist, dass das Selbst vielmehr dasjenige ist, das alle Ebenen durchwandert, bis es im und vom SELBST subsumiert wird (das der implizite Ursprung des Gewahrseins oder ICH-Ich auf allen vorherigen Ebenen und der implizite Kern des Selbst-Systems auf diesen Ebenen war), ein SELBST, das selbst wiederum aus sich heraus und in die strahlende Leerheit des Nichtdualen eintritt. Durch diese Haltung versperren sie sich meiner Meinung nach den Weg zu einer angemesseneren Auffassung des Selbst-Systems als demjenigen, das die verschiedenen Linien ausbalanciert und nicht einfach eine weitere Linie neben anderen ist, womit die Psyche ja bloß ein zusammenhangloses Gewirr von Linien wäre, die in keinerlei Austausch miteinander stehen. Ich glaube also, dass es nur eine brauchbare Sichtweise gibt: (1) Das proximale Selbst ist (auf jeder Ebene) der Identifikationsort ("der primäre Ort des funktionellen Gewahrens", das "gebundene Ich"); (2) das proximale Selbst identifiziert sich nacheinander mit jeder emergierenden Grundstruktur (oder Bewusstseinsebene) und wird daher in diese Ebene (oder diese Welle) eingebunden; (3) dadurch entsteht ein Strom transitorischer SelbstStufen (Selbst-Empfindung, Selbst-Bedürfnisse, Moral), der durch die Ausschließlichkeit der proximalen Identifikation stabilisiert wird; (4) diese Ausschließlichkeitsstrukturen können sich aufgrund der "Ungebundenheit" des allgemeinen Selbst quasi-unabhängig voneinander entwickeln, wiewohl das Selbst sie lose zusammenhält; diese Strukturen bleiben bestehen, bis (5) das Selbst sich aus dieser Ebene ausgliedert, (6) sich in die nächste Ebene einbettet, (7) die die vorangegangenen dauerhaften Strukturen integriert, aber die vorangegangenen Ausschließlichkeits-/ Übergangsstrukturen negiert, und dies setzt sich bis zum Endpunkt der Entwicklung fort (oder bis zur Erleuchtung, nach der wiederum eine eigene Dynamik einsetzt). Alexander u.a. unterteilen im übrigen die Gesamtentwicklung in drei große Stufen: die prärepräsentationale (die präkonventionelle), die repräsentationale (die konventionelle und postkonventionelle) und die postrepräsentationale (die post-postkonventionelle). Hier stimme ich ihnen völlig zu; dies entspricht dem grobstofflichen, feinstofflichen und kausalen Reich. Ich stimme weiterhin, wie schon gesagt, dem originalen und wichtigen Gedanken der Verfasser zu, dass der Übergang vom ersten zum zweiten Reich über Objektpermanenz und derjenige vom zweiten zum dritten Reich über Subjektpermanenz erfolgt. Sie dürften mir wohl zustimmen, dass das vierte Reich, Turiya, einen weiteren
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großen Übergang darstellt, den man "nichtduale Permanenz" nennen könnte. In diesem Buch verwende ich den Begriff "Meditation" in einem allgemeinen Sinne. Verschiedene Meditationsformen rufen verschiedene spezifische Wirkungen hervor, wobei die allgemeinen Schlussfolgerungen entsprechend angepasst werden können. Je loser der "notwendige, aber nicht hinreichende" Zusammenhang zwischen den Entwicklungslinien ist, desto unabhängiger voneinander können sie sich entwickeln. So können zum Beispiel die kognitive und die moralische Entwicklung sehr weit auseinander klaffen, indem erstere der letzteren weit vorauseilt, während die interpersonale und die moralische Entwicklung meist synchroner verlaufen. Ich bin der Meinung, dass die mit dem Selbst zusammenhängenden Stufen (oder einfach die Selbststufen) sich als "Gruppe" entwickeln, die durch die proximale Selbst-Empfindung zusammengehalten wird, wobei sie dennoch eine gewisse Unabhängigkeit behalten, weil die SelbstEmpfindung "überall" sein kann. Im schlimmsten Fall kann diese sogar im Inneren dissoziieren und zu einer Aufsplitterung der Selbst-Linien führen. 1990, S. 289. In das integrale Psychogramm können auch horizontale Typologien aufgenommen werden, soweit diese dem jeweiligen Therapeuten nützlich erscheinen. Eine bekannte horizontale Typisierung wäre etwa das Enneagramm, das neun Haupttypen der Persönlichkeit umfasst. Wie ich in Eine kurze Geschichte des Kosmos erklärt habe, sind diese neun Enneagramm-Klassifikationen keine vertikalen Ebenen, sondern horizontale Typen, die daher auf allen Ebenen erscheinen können (mit Ausnahme des oberen und unteren Bereichs, wo sie verblassen). Wenn man also mit dem Enneagramm arbeiten möchte, muss man die neun Typen auf verschiedenen Ebenen betrachten. Es genügt nicht zu wissen, dass man eine "Sechs" auf dem Enneagramm ist. Man muss vielmehr fragen: Ist man eine präkonventionelle Sechs, eine konventionelle Sechs, eine postkonventionelle Sechs oder eine post-postkonventionelle Sechs? Ein integrales Psychogramm muss also eine horizontale und eine vertikale Analyse umfassen (das Enneagramm, wie es heute üblicherweise verwendet wird, fördert nicht die Transformation, sondern nur die Translation). Einer der Gründe, warum ich mich nicht ausführlicher mit horizontalen Typologien beschäftige, sei es die jungianische, das Enneagramm oder die Astrologie, liegt darin, dass es für sie keine empirische Evidenz gibt, weil es praktisch unmöglich ist zu beweisen, dass sich Jeder Mensch einem dieser Typen zuordnen lässt. (Ich
erwähne hier auch die Astrologie, aber nicht deshalb, weil ich daran glauben würde, sondern weil es, selbst wenn sich zeigen ließe, dass sie eine gewisse Gültigkeit besitzt, dennoch eine horizontale Typologie bleibt, die sich, wie ich behaupte, grundsätzlich nicht als Charakterologie verifizieren lässt.) Ganz anders verhält es sich mit den vertikalen Ebenen wie dem Spektrum der Grundstrukturen, weil sie, soweit diese Ebenen zutreffend sind, praktisch jeder durchläuft, was sich empirisch recht verlässlich zeigen lässt. Abgesehen von schweren Störungen entwickelt also jeder Mensch Bilder, Symbole, Begriffe und Regeln. Die vertikalen Ebenen sind jene universellen Strukturen, die praktisch jeder durchläuft, wofür genügend kulturübergreifende Belege beigebracht wurden. Um Begriffe entwickeln zu können, muss man zuerst Bilder entwickeln, und Ausnahmen hiervon sind nicht bekannt. Anders verhält es sich bei horizontalen Typologien, weil man einem der Typen zuordnenbar sein kann oder auch nicht. Ebendeshalb bin ich kein großer Freund von horizontalen Typologien. Andererseits habe ich durchaus nichts dagegen, wenn man sie als Interpretationshilfe benutzt. Man darf nur nicht behaupten, dass sie umfassend oder universell seien, weil sich dies nicht durch Forschungsergebnisse belegen lässt. Don Riso führt meines Erachtens das horizontale Enneagramm hervorragend mit dem vertikalen Spektrum des Bewusstseins zusammen. Siehe Personality Types und Understanding the Enneagram. 22 Jedem der neun oder zehn Drehpunkte der Selbst-Entwicklung entspricht eine bestimmte Klasse einer Pathologie. Siehe Kapitel 4, Das Spektrum der Psychopathologie, in Wilber u.a.: Psychologie der Befreiung. Bryan Wittine stellt es in seiner Rezension von Eros, Kosmos, Logos (siehe Kapitel 11) so dar, als ob ich dort scharf abgegrenzte Pathologien und ebenso scharf abgegrenzte Behandlungsverfahren angeben würde, was keineswegs der Fall ist. Wie das Selbst "überall" ist, so sind auch Erkrankungen und ihre Behandlungen "überall". "Ebenen" sind auch hier wiederum einfach abstrakte Wegmarken, mit deren Hilfe man sich im Strom des sich entfaltenden Bewusstseins zurechtfinden kann. 23 Ich habe sehr viele Therapieformen unberücksichtigt gelassen, u. a. Beziehungstherapien (wie z. B. Familientherapie, Gruppentherapie, Paartherapie oder Sanghaorientierte Praktiken), weil ich hier nur von am Individuum orientierten Ansätzen spreche. Ich möchte erstere in keiner Weise ausschließen. Integrale Therapie deckt per definitionem alle Ebenen und alle Quadranten ab und befasst sich mit dem Intentionalen, Verhaltensmäßigen, Kulturellen und Sozialen in allen relevanten Dimensionen.
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24 Jack Engler, von dem der Satz stammt: "Man muss zuerst jemand sein, bevor man niemand sein kann" (Wilber u. a. 1986), bezog sich dabei auf die Entwicklungslinien des Selbst, und diesbezüglich hat er vollkommen recht. Deshalb ist er davon überzeugt, dass Meditation die Ich-Kraft stärkt, und ich stimme ihm vollkommen zu ("Ich-Kraft" bezeichnet im technischen Sinne die Fähigkeit zu interesselosem Bezeugen). Englers entscheidende Aussage – die ich in ähnlicher Form schon in "Die Prä/trans-Verwechslung" formuliert habe – wird von vielen seiner Kritiker übersehen, vermutlich deshalb, weil er die spirituelle Linie nicht ausdrücklich von der Selbst-Linie trennte. Das kann man ohne weiteres tun; seine wichtigen Aussagen über die Selbst-Linie verlieren dadurch nicht an Bedeutung. Seine Darstellung wird auch nicht durch die pseudofeministische Kritik von Peggy Wright erschüttert. Das durchlässige Selbst entwickelt sich ebenfalls vom präkonventionellen über den konventionellen und postkonventionellen zum post-postkonventionellen DurchlässigkeitsModus, und Englers Haltung (und auch meine) ist: "Man muss konventionell sein, bevor man postkonventionell sein kann." 25 Es geht hier um frontale Entwicklung. Wenn man zum Beispiel "bezeugendes Bewusstsein" aufzeichnet, stellt man eine U-förmige Entwicklung fest, in der sich die "ziehenden Wolken der Herrlichkeit" des psychischen/feinstofflichen Seelentropfens spiegeln (zum Beispiel Grofs Daten, soweit sie einer Prüfung standhalten). Der erste Schenkel dieses U ist einfach das Ende der Involutionslinie, die nicht mit der evolutiven und frontalen Entwicklungslinie verwechselt werden darf, die erst auf der niedrigsten und primitivsten Ebene beginnt, auf der das "höchste Interesse" – die Form frontaler Spiritualität – oral ist: Das höchste Interesse ist Essen, Überleben, physische Sicherheit usw. Das höchste Interesse der "ursprünglichen Einbindung" ist schlicht Essen, und genau dies ist die Form des "dynamischen Grundes" auf dieser Stufe: Gott ist oral, der Geist ist nichts als Mund. 26 Wie dies im einzelnen aussieht, hängt vom jeweiligen Meditationstyp ab, von der Ebene, auf die sich die Meditation richtet, davon, ob eine mehr aufsteigende oder eine mehr absteigende Orientierung besteht, und davon, ob der Ausübende männlich oder weiblich ist. Grundsätzlich aber würde ich sagen, dass diese Schlussfolgerung ("Meditation kann sowohl im männlichen als auch im weiblichen Modus diesen Gang der spirituellen Entwicklung beschleunigen") zutreffend ist. Die meditative Entwicklung beinhaltet in ihrem Kern die Entfaltung geschlechtsneutraler Bewusstseinsstrukturen, so dass die Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Modus zwar bedeutsam bleiben, aber doch sekundär werden.
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11: Auf dem Weg zum Omega-Punkt? 1 In der ersten [englischen] Auflage von Eros, Kosmos, Logos waren bei einigen langen Zitaten keine Auslassungspunkte eingefügt; diese wurden in späteren Auflagen wiederhergestellt. Aber auch in der ersten Auflage waren in den Endnoten alle Seitenzahlen angegeben, von denen die verschiedenen Zitate stammten. In einem langen Emerson-Zitat z. B., in dem die Auslassungspunkte fehlten, enthält die Endnote fünf Quellenangaben. Mit anderen Worten: Niemand hat versucht, so zu tun, als ob diese Zitate alle von derselben Stelle stammen würden. Weil nun DiZerega und Smoley bei ihrer Rezension von Eros, Kosmos, Logos fehlende Auslassungspunkte in Emerson-Zitaten entdeckt haben, werfen sie mir üble Machenschaften vor, obwohl die Endnoten völlige Klarheiten schaffen. Dort sind die verschiedenen Quellen deutlich angegeben, weshalb von einem Täuschungsmanöver nicht die Rede sein kann. 2 Ich habe in meiner Emerson-Deutung u. a. gesagt, dass (1) die Natur nicht GEIST ist, sondern ein Symbol des GEISTES (oder eine Manifestation des GEISTES), (2) die sinnliche Wahrnehmung als solche den GEIST nicht enthüllt, sondern ihn verdunkelt, (3) nur eine Aufstiegsströmung den GEIST enthüllen kann, (4) der GEIST nur verstanden werden kann, wenn die Natur transzendiert wird (m. a. W: Der GEIST ist der Natur immanent, aber er enthüllt sich nur vollständig in einer Transzendierung der Natur; kurz, der GEIST transzendiert die Natur, aber schließt sie ein). Interessehalber habe ich in dem allgemein anerkannten Standardwerk Cliffs Notes on Emerson (Lincoln, Nebraska: Cliffs Notes, 1975) nachgeschlagen und dort Punkt für Punkt folgendes gefunden: Zu 1. "Emerson ... benutzte die Natur als Symbol für das Reich des GEISTES ... Natur [ist] ein Symbol des GEISTES" (S. 15, 16). Die Natur ist eine Ausdrucksform des GEISTES, aber sie ist nicht der GEIST in seiner Fülle. Die Verfasser verweisen auf die Parallele zu Plotin: "Hier kehrt Plotins Gedanke einer kosmischen Bewegung wieder. Es gibt zwei Bewegungen, eine ausgehende oder absteigende [Efflux, Agape], wobei das spontane Schöpfertum des Höheren das Niedrigere hervorbringt. Dies ist die Bewegung, durch die die verschiedenen Ebenen der Wirklichkeit unaufhörlich ins Dasein gebracht werden. Dann gibt es die rückkehrende Bewegung, den Aufstieg [Eros, Reflux], durch die die Seele durch alle Stufen des Seins [die Emerson oft "Plattformen" nennt] zur endgültigen Vereinigung mit dem Ersten Prinzip aufsteigt [dem nichtdualen Einen]" (S. 63, 64). "In Emersons Epigraph aus dem Jahre
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1836", so die Verfasser weiter, "wird die Natur als 'das Letzte der Seele' beschrieben, die letzte Emanation aus Gott" (S. 9). Sie ist also die niedrigste Ausdrucksform Gottes, aber dennoch ein Ausdruck Gottes. Für Emerson ist die Natur der Ausgangspunkt der Wiedererinnerung der Seele an den GEIST, nicht der Endpunkt! Naturverehrer und Neuheiden können sich damit natürlich nicht anfreunden; ihre Ansichten in Ehren, aber Emerson können sie jedenfalls für ihr Lager nicht beanspruchen. Zu 2. "Das Vertrauen auf die Sinne und den nichterneuerten Verstand allein lassen die spirituellen Sehnsüchte des Menschen scheitern" (S. 14). Es gibt ein "höheres Wissen, ein Wissen, das der Sinneserfahrung oder der auf dieser Erfahrung beruhenden Reflexion nicht zugänglich ist" (S. 40). Zu 3. "Für Emerson erfordert also der ethische Aufstieg den Einsatz der höheren Fähigkeiten des Menschen" (S. 14). "Das Gute und das Leben verwirklichen sich also für Emerson in unserem ethischen Aufstieg zur Weltseele" (S. 11). Zu 4. "Wir sehen also bei Emerson die unverkennbare Tendenz, sich mit seinem Geist zu immer höheren Wirklichkeitsebenen zu erheben" (S. 19), was über "eine Hierarchie von Fähigkeiten" geschieht (S. 24). "Seine zentrale Aussage ist der ethische Aufstieg: Die Natur lehrt den Menschen den rechten Umgang mit der Natur – damit er sie transzendieren kann" (S. 16). Die Natur muss also im GEIST transzendiert (und in ihm eingeschlossen) werden, weil die Natur einfach ein niedriger Ausdruck des GEISTES ist, aber eben doch dessen Ausdruck, und ein passender und sublimer Ausgangspunkt für die Reise zurück zum GEIST. Und über denjenigen, der auf der Ebene der Naturverehrung bleibt, sagt Emerson: "Sein Geist ist verroht, und er ist ein selbstsüchtiger Wilder..." Wie gesagt, alle diese Aussagen Emersons sind weitgehend unbestritten, und genau auf diese Aussagen habe ich mich in Eros, Kosmos, Logos bezogen. 3 Einige Gelehrte haben mich gefragt, warum ich mich für Inges PlotinÜbersetzung entschieden habe, weshalb vielleicht eine kurze Erklärung sinnvoll ist. Bei der Darstellung von Plotins Denken habe ich die Arbeiten von Turnball, Brehier, Rist, O'Daly, Wallis und Karl Jaspers (der vielleicht mein bevorzugter Kommentator war) herangezogen und mich insbesondere auf drei der wichtigeren (englischen) Übersetzungen seiner Werke gestützt: A. H. Armstrongs siebenbändige Ausgabe in der Loeb Classical Library, Harvard University Press (erschienen 1966-1988), William Ralph Inges zweibändige Ausgabe, ursprünglich die Gifford Lectures 1917-1918, die 1929 erschien und 1968 nachgedruckt wurde, und Stephen MacKennas Übersetzungen, die er zwischen 1917 und 1930
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anfertigte (heute in der Reihe Penguin Classics und der großartigen Ausgabe von Larson Publication erhältlich). Aus verschiedenen Gründen, die ich gleich erklären werde, schien mir William Inges Übersetzung gewisse Vorzüge zu haben. Die anderen Übersetzungen verstanden vielleicht den Buchstaben, nicht aber den Geist Plotins besser, und so gut sie technisch teilweise waren, so eng war manchmal ihr interpretativer Horizont. Trotzdem wird Inges Übersetzung meist nicht neben den anderen Plotin-Übersetzungen genannt, und zwar einfach deshalb, weil er nur repräsentative Auszüge, keine vollständige Übersetzung vorlegte. Wo ich diese benötigte, habe ich mich hauptsächlich auf Armstrong gestützt. Wie O'Meara (1995) vor kurzem sagte, "tritt Armstrongs Übersetzung an die Stelle derjenigen von S. MacKenna ... die, wie groß ihre literarischen Vorzüge auch sein mögen, weniger zuverlässig und weniger klar ist" (S. 127). Viele Kritiker lieben nach wie vor MacKennas wunderbaren Stil, und ich gehöre dazu. Auch Inge zog MacKennas Übersetzungen zu Rate (mit Ausnahme der letzten Teile, die MacKenna zu dieser Zeit noch nicht abgeschlossen hatte), und Inge äußerte sich höchst anerkennend über sie. Wo Inge in seiner Übersetzung von MacKenna abwich, hatte er gute Gründe dafür; er erläutert sie in ausführlichen Fußnoten, die jeder Gelehrte nachlesen und für sich kritisch würdigen kann. Statt mich nun in diese Auseinandersetzung um technische Details und auf Fachdiskussionen einzulassen und statt ständig zwischen drei Übersetzungen zu pendeln, entschied ich mich einfach dafür, bei Inges Version zu bleiben. Natürlich bleibt die Tatsache, dass die Hauptpunkte mit jeder der drei Übersetzungen herausgearbeitet werden können; warum habe ich mich gerade für Inge entschieden? Einen Grund habe ich bereits genannt: Inge scheint mir einen tieferen spirituellen Zugang zu haben als die anderen. Ich liebe MacKennas Übersetzung: sie ist teilweise wunderschön und immer bewegend, und ich möchte seine großartige und hingebungsvolle Leistung in keiner Weise in Abrede stellen. Ebenso ist Armstrongs Version technisch hervorragend. Aber Inge schien mir mit einer tiefen Intuition begabt zu sein, die in seinem Werk deutlich zum Ausdruck kommt, und diese Tiefe zog mich an. Der zweite Grund ist, dass Inge selbst ein fähiger Philosoph war, und oft verhelfen solche Fähigkeiten zu mehr Tiefe und umfassenderen Wahrnehmungen bei einer interpretativen Aufgabe, für die fachliches Können nur eine der Voraussetzungen ist. Ich möchte, um es zu wiederholen, MacKennas Leistung in keiner Weise schmalem, aber er war gelernter Bankangestellter und Journalist; seine große Liebe zu Plotin ist offenkundig und anrührend, aber mir waren auch der Hintergrund und die kommentatorischen Fähigkeiten wichtig, die Inge in
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seine Aufgabe einbringen konnte. Der dritte wichtige Grund, warum ich mich für Inge entschied, liegt darin, dass er lange Zeit der einzige (oder zumindest einer der ganz, ganz wenigen) Gelehrten war, die wirklich von der Wahrheit dessen überzeugt waren, was Plotin sagte: Er interessierte sich für Plotin nicht als bloß historische Kuriosität, sondern vielmehr als einen Vertreter einer tiefen Weltsicht, die sich nach wie vor durch große Wahrheit, Güte und Schönheit auszeichnete. Wie groß Inges Ansehen war, lässt sich daran ablesen, dass er für Bertrand Russell der einzige Philosoph von Rang war, der an Plotin glaubte: "Ein philosophisches System", schreibt Russell in seinem Kapitel über Plotin in seiner Geschichte der westlichen Philosophie, "kann aus verschiedenen Gründen als bedeutsam gelten. Der erste und offensichtlichste Grund liegt darin, dass wir es vielleicht für wahr halten. Es gibt heute nicht viele Jünger der Philosophie, die diese Meinung von Plotin hätten; William Inge ist diesbezüglich eine seltene Ausnahme." Im weiteren bezeichnet Russell Inges Buch als "unschätzbar" und macht klar, dass "man die Aussagen Inges über den Einfluss von Platon und Plotin unmöglich in Frage stellen kann". Und genau hierum ging es in meinem Buch in dem Abschnitt über Plotin: den historischen Einfluss Plotins. Inges unbestrittene Kompetenz auf diesem Gebiet war ein weiterer Grund, warum ich mich für ihn entschied. Und schließlich wollte ich einfach diesem großen Mann Ehre erweisen, der so lange die Fackel Plotins hochhielt, als alle ihn zu vergessen drohten. Deshalb also habe ich mich für Inge entschieden. Ich habe eindeutig klargemacht, dass alle Zitate von Inge stammten, und ich habe die Seitenzahlen genau angegeben. Der Text Inges enthält ebenfalls die genauen Fundstellen bei Plotin (meist die Enneaden). Alles, was man von einem Gelehrten verlangen kann, der eine solche Auswahl trifft, sind genaue Quellenangaben, und diese habe ich gemacht. (In der ersten [engl.] Auflage wurden mehrere Auslassungspunkte weggelassen, die in späteren Auflagen wieder eingefügt wurden. Und mit den vier "Satoris" und "häufig" ist Plotin gemeint (siehe hierfür und das folgende Zitat Eros, Kosmos, Logos S. 696 f. [Anm. d. Übers.]), dies wurde ebenfalls in späteren Auflagen berücksichtigt. Aber Karl Jaspers' Schlussfolgerung bleibt genau dieselbe, weshalb ich sie ja auch zitiere: "Was noch Porphyrios eine seltene und anormale zuständliche Erfahrung scheint, das ist bei Plotin das Wirkliche, Natürliche, allem Dasein erst Sinngebende." Die Interpretation bezüglich des "Göttlichen in uns" (siehe Eros, Kosmos, Logos S. 406. [Anm. d. Übers.]) geht sowohl auf Karl Jaspers als auch Inge zurück, und beide begründen dies sorgfältig. Ich habe dies ausführlich zitiert, damit jeder Gelehrte es überprüfen kann.)
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Aber natürlich ist Eros, Kosmos, Logos kein Werk über technische Details der griechischen und lateinischen Übersetzung; es ist ein Buch, in dem ein kleiner Ausschnitt von Plotins Gedankenwelt und ihr historischer Einfluss behandelt wird, die ich genau und angemessen dargestellt habe. Die meisten Leser waren von diesem Abschnitt sehr angetan. Die technischen Fragen bezüglich der Verdienste der verschiedenen Übersetzungen tangieren die Hauptgedanken überhaupt nicht. Die allgemeine Gedankenwelt Plotins, wie ich sie dargestellt habe, lässt sich aus jeder der Übersetzungen ableiten ; dies sind einfach die Grundzüge Plotinschen Denkens (Anmerkung 2 macht ebenfalls deutlich, dass meine Interpretation von Plotin und Emerson grundsätzlich unbestritten ist). 4 Walsh, R. 1995. The spirit of evolution. A review of Ken Wilber's Sex, Ecology, Spirituality, Noetics Sciences Review, Sommer 1995. 5 Siehe auch M. Commons, J. Sinnott, F. Richards und C. Armon (Hrsg.), Adult Development, Bd. 1, Comparisons and Applications of Adolescent and Adult Developmental Models, New York (Praeger) 1900. M. Commons, C. Armon, L. Kohlberg, F. Richards, T. Grotzer und J. Sinnott (Hrsg.), Adult Development, Bd. 2, Models and Methods in the Study of Adult and Adolescent Thought, New York (Praeger) 1990. J. Sinnott und J. Cavanaugh (Hrsg.), Bridging Paradigms: Positive Development in Adulthood and Cognitive Aging, New York (Praeger) 1991. Ebenso J. Sinnott (Hrsg.) Interdisciplinary Handbook of Adult Lifespan Learning, Greenwich, Conn. (Greenwood Press) 1994.
Transcendence and Mature Thought in Adulthood: The Further Reaches of Adult Development, hrsg. von Melvin E. Miller und Susanne R. Cook-Greuter, ist eine vorzügliche und sehr lesbare Anthologie. Besonders zu erwähnen sind vielleicht die Kapitel von Melvin Miller ("World Views and Ego Development"), in denen er sich mit einem sehr vernachlässigten Thema befasst, und von L. Eugene Thomas ("An Emerging Transpersonal Paradigm of Consciousness"), das eine hervorragende Einführung zu diesem Thema gibt. Ich schätze die Arbeiten von Thomas sehr; er geht mit großer Klarheit, Gründlichkeit und scharfem Urteil an seine Aufgabe heran. Und stets spricht er genau die entscheidenden Probleme auf diesem Fachgebiet an. Charles Tarts Transpersonal Psychologies ist nach wie vor ein gutes Nachschlagewerk, ebenso Seymour Boorsteins Transpersonal Psychotherapy. Transformations of Consciousness (Wilber u.a. 1986; dt.
Psychologie der Befreiung: Perspektiven e. neuen Entwicklungspsychologie, Bern, München, Wien 1988) ist immer noch ein Standard-Lehrbuch der transpersonalen Entwicklungspsychologie. Die vielleicht verständlichste transpersonale Anthologie ist das von
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Roger Walsh und Frances Vaughan herausgegebene Paths beyond Ego. (Mein einziger Einwand ist, dass die Verfasser immer noch die Entwurfsversion meines Aufsatzes "Eye to Eye" abdrucken, in der ich aus semantischen Gründen bestritt, dass eine höhere oder transpersonale "Wissenschaft" möglich sei, weil "Wissenschaft" und "empirisch" so oft in einem Atemzug genannt werden. Ich kam später zu dem Ergebnis, dass dies eine unnütze Wortklauberei sei, weshalb ich in der veröffentlichten Version von "Eye to Eye" genau angab, was mit einer höheren nichtempirischen Wissenschaft gemeint sein könnte, und dies ist seither meine Haltung geblieben. Aus unerfindlichen Gründen verwenden die Herausgeber immer noch die ursprüngliche Fassung [S. 184- 189].) Abgesehen davon stellt diese Anthologie die beste Einführung in dieses Fachgebiet dar und kann nur empfohlen werden. 6 Am Rande bemerkt: Ich betone immer, dass ich mit Jung bezüglich der Natur dieser archaischen Bilder als solche einig bin: Ich glaube, dass sie kollektiv weitergegeben werden, dass sie eine Art phylogenetisches Erbe sind (was auch Freud akzeptierte), dass sie bei bestimmten Krankheitsformen von Bedeutung sind, dass sie überall in den Mythen der Welt zu finden sind, dass sie oft in Träumen erscheinen usw. Aber diese archaischen Bilder haben wenig oder gar nichts mit der postpostkonventionellen Entwicklung zu tun. Eine der Prä/transVerwechslungen Jungs bestand darin, dass er kollektiv mit transpersonal verwechselte, während es kollektive präpersonale, kollektive personale und kollektive transpersonale Strukturen gibt. 7 Im Sinne der Philosophia perennis kann man die Archetypen auf vielerlei Weise beschreiben. Wenn man sich in der formlosen Meditation befindet (Verlöschen oder Nirvikalpa-Samadhi), sind die ersten Erscheinungen, die man sieht, wenn man aus dem Verlöschen heraustritt, genau diese Archetypen. Es sind subtile Formen, Klänge, Lichterscheinungen, Affekte, Energieströme usw. Ebenso sind die ersten Formen, die man jede Nacht wahrnimmt, wenn man aus dem traumlosen Tiefschlaf heraustritt und zu träumen beginnt, die Archetypen. Im AnuttaratantraYoga erscheinen sie, wenn man aus dem schwarzen Beinahe-Erlangen absteigt. Das gemeinsame Merkmal ist dabei, dass die Archetypen die Urformen an der Grenze zwischen dem kausalen Nichtmanifesten und der ersten Manifestation auf der feinstofflichen Ebene sind. Sie sind daher die ersten und frühesten Formen der Involution oder Manifestation (das heißt der vom kausalen Ursprung weg gerichteten Bewegung) und die letzten oder höchsten Formen der Evolution oder Rückkehr zum Ursprung (und damit auch die letzten Schranken). Diese Archetypen sind, wie ich gesagt habe, subtile Formen,
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Lichterscheinungen, Energieströme, Klänge, äußerst subtile Affekte usw.: Die ersten Formen des Seins, nach denen alle niedrigeren Seinsweisen modelliert werden, die ersten Formen des Affekts, deren schwacher Widerhall alle geringeren Gefühle sind, die ersten Formen des manifesten Bewusstseins, dessen blasser Abglanz alle geringeren Erkenntnisse sind, die ersten Formen der Luminosität, deren verschwommene Andeutung alle geringeren Einsichten sind, die ersten Formen des Klangs, dessen hohles Echo alle geringeren Klänge sind. Deshalb sind diese wahren Archetypen die "Formen" (= "Ideen") unseres eigenen höchsten Potentials, die "Formen" unserer eigenen wahren Natur, die uns in Erinnerung rufen, wer und was wir in Wirklichkeit sind. Am Ende aber werden sie beiseite gelegt und dekonstruiert: Die Leiter hat ihren Zweck erfüllt und wird weggeworfen, und an ihrer Stelle erscheint die leuchtende Unendlichkeit, die immer schon durch und jenseits dieser Formen leuchtete. Ein noch größeres Problem stellt die Tatsache dar, dass die Weitergabemechanismen bei diesen beiden Arten von "Archetypen" auch nicht annähernd dieselben sind. Archaische Bilder werden aus gemeinsamen vergangenen Erfahrungen übernommen. Aber die höheren Tiefenstrukturen (oder höheren Archetypen) waren niemals eine gemeinsame frühere Vergangenheit, weshalb sie auch nicht denselben Ursprung haben. (Der Grund hierfür ist, dass die "hohen Archetypen" zu Beginn der Involution untergehen, während die "niedrigen Archetypen" oder archaischen Bilder bei der frühen Evolution untergehen. Ich kenne keinen Jungianer, der diese Unterscheidung getroffen hätte, womit die ganze Stosskraft der "archetypischen" Psychologie verpufft und auch ihre höherentwickelten Varianten von Prä/trans-Verwechslungen heimgesucht werden). Essence, S. 20. Dies ist erörtert in Anthony, Ecker und Wilber, Spiritual Choices. Der "Diamond Approach" von Hameed Ali (der unter dem Pseudonym A. H. Almaas schreibt) ist meiner Meinung nach eine vorzügliche therapeutische/transformative Disziplin. Im Rahmen dieser grundsätzlichen Wertschätzung, die ich gleich noch einmal bekräftigen werde, habe ich jedoch einige Kritikpunkte. Besonders interessant an Alis Entwicklung als Theoretiker ist sein Übergang vom klassischen romantischen Modell Wilber-I zu einem starken Modell Aurobindo/Wilber-II. Das Problem liegt jedoch, wie wir sehen werden, darin, dass er in einer unschlüssigen und selbstwidersprüchlichen Weise zwischen beiden Modellen schwankt. Eines seiner ersten Bücher, Essence (1986) liegt klar auf der Linie des romantischen/Wilber-I-Modells. Das Neugeborene ist ganz in
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Kontakt mit der ESSENZ oder dem Sein: "Babys und Kleinkinder haben nicht nur ESSENZ; sie sind in Kontakt mit ihrer ESSENZ, eins mit ihrer ESSENZ, sie sind die ESSENZ" (S. 83). In seinen späteren Büchern schreibt Ali ESSENZ stets mit Großbuchstaben; dies habe ich für diese Zitate übernommen. Dann aber geht mit dem Emergieren und der Entwicklung des Ich und seiner Objektkonstanz die ESSENZ verloren. "Man kann also sagen, dass der Mensch mit ESSENZ geboren wird, diese aber später nicht mehr besitzt" (S. 84). Diese verschiedenen Aspekte der ESSENZ, in denen Ali die platonischen Ideen erkennt (u.a. Wille, Kraft, Freude, Selbst, persönliche ESSENZ, Mitgefühl, Verschmelzung, Liebe, Intelligenz, Frieden) gehen mit der Ichentwicklung nach und nach unter, weil das Ich gewissermaßen der große Feind von ESSENZ und Sein ist. "Weil die ESSENZ verschiedene Aspekte besitzt und zu verschiedenen Zeiten (der frühen Entwicklung) verschiedene Aspekte vorherrschen, geht die ESSENZ Aspekt für Aspekt verloren" (S. 89). Um die Zeit der späten Kindheit ist die ESSENZ weitgehend verschüttet und steht nur noch andeutungsweise zur Verfügung. An ihrer Stelle sind jetzt verschiedene "Löcher", psychische Hohlräume vorhanden, die durch die Unterdrückung bzw. den Untergang der verschiedenen Aspekte der ESSENZ entstanden sind. Die frühe Entwicklung besteht also (nach "Ali-I") aus (1) dem tiefgreifenden und allgemeinen Verlust der ESSENZ, Aspekt für Aspekt, woraufhin (2) verschiedene Löcher, Unzulänglichkeiten oder Mängel im Sein des Individuums entstehen, die (3) das Individuum dann mit verschiedenen weiteren Abwehrmechanismen kompensiert. Der Mensch tritt also praktisch ausnahmslos als ein Bündel von Löchern und Abwehrmechanismen, deren Sinn die Vermeidung von Sein und ESSENZ ist, in das Erwachsenenalter ein. Ziel der Therapie ist daher für Ali-I die Wiedergewinnung der Aspekte der ESSENZ, die in der Kindheit vorhanden waren, dann aber verdrängt, verleugnet oder aufgegeben wurden. "Dieses Wissen um die Art des Untergangs der ESSENZ ist von entscheidender Bedeutung für die Frage, mit welchen Techniken die ESSENZ wiedergewonnen werden kann" (S. 89). Nämlich: Indem man seine gegenwärtigen Symptome, Nöte, Unzulänglichkeiten oder Löcher nichturteilend gewahrt, hört man auf, sich gegen den Mangel zu wehren, und erfährt ihn einfach. In diesem unmittelbaren Gewahren tritt schließlich eine Empfindung der Leerheit auf, und wenn man in dieser Leerheit bleibt und ganz in diese eintritt, taucht der entsprechende Aspekt der unterdrückten ESSENZ wieder auf und "füllt" dieses Loch. Durch die Wiedergewinnung der ESSENZ kann also die postformale Entwicklung zügig fortschreiten.
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Dies ist offensichtlich ein ausgeprägt romantisches Modell. In vielerlei Hinsicht ist es eine genaue Kopie von Wilber-I; es wird sogar gesagt, dass das Kind ganz als der Atman selbst verwirklicht ist: "Die Hindus nennen es den Atman. Das Kind besaß ihn zu Anbeginn, aber sein Verlust führte zur Ausbildung der Ich-Empfindung einer Identität..." (S. 169). Aber wie wir gesehen haben, sind nicht einmal die Tibeter (und schon gar nicht die Hindus) der Auffassung, dass das Kind voll verwirklicht oder ganz in Kontakt mit dem Atman sei und dass dieser Atman im Prozess des Heranwachsens verloren ginge. Vielmehr geht der Atman bei der vorhergehenden Involution verloren, nicht bei der frühen Evolution. Aber in dieser Phase ist Ali ganz einem ausgeprägt romantischen Modell verpflichtet: "Unsere Auffassung davon, wie die ESSENZ in Kindern entsteht und dann zugunsten von Ich-Identifikationen verdrängt wird, stellt eine neue und sehr überraschende Beobachtung dar." Natürlich ist dies weder neu noch überraschend, sondern das 200 Jahre alte romantische Entwicklungsschema. Nun aber ahnt Ali ein gravierendes Problem bezüglich dieses Schemas, weshalb er gegen Ende von Essence seine Haltung zu revidieren beginnt, womit er den langsamen Übergang vom romantischen/Wilber-I-Modell zu einem Modell des Typs Wilber-II einleitet. Er sagt, dass man das Auftauchen der ESSENZ auf zweierlei Weise betrachten könne, nämlich zum einen als Aufdeckung, zum anderen als Entwicklung, wobei ersteres die Wiedergewinnung von etwas ist, was in der Kindheit vorhanden war, aber verloren ging, letzteres das Wachsen und die Entwicklung von etwas, das in der Kindheit nur in leisen Ansätzen da war. Ali erklärt, dass er hier für die These der Aufdeckung eingetreten sei, aber er merkt an, dass möglicherweise beide Auffassungen richtig seien und dass eigentlich das Wichtigste an der ganzen Sache die Entwicklung sei. "Die Deutung des Prozesses als Entwicklung trifft einen Aspekt der ESSENZ genauer, der in gewissem Sinne zentraler steht" (S. 161). Dieser zentrale Aspekt der ESSENZ "durchläuft einen Prozess der Entwicklung, des Wachstums und der Ausdehnung ... Diese wahre Persönlichkeit (wahres Selbst, Atman, persönliche ESSENZ) wächst, dehnt sich aus und entwickelt sich in einem ganz spezifischen Sinne" (S. 163). Mit anderen Worten, sie wächst und entwickelt sich, statt eingeengt zu werden und unterzugehen. Nachdem Ali so an die Schwelle zu einem echten Modell des Typs Wilber-II gelangt ist, schreibt er The Pearl beyond Price – Integration of Personality into Being: An Object Relations Approach, das als einer der vorzüglichsten Beiträge zu einer ost-westlichen Psychologie und
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Psychotherapie gelten muss. Das einzige Problem bei diesem Buch ist meiner Meinung nach die Tatsache, dass Ali nicht entschlossen genug zu einem Modell des Typs Wilber-II übergeht, sondern in sehr widersprüchlicher Weise zwischen diesem und dem Modell Wilber-I hin und her schwankt. Einerseits bekennt sich Ali klar zu einem allgemeinen Entwicklungsprozess (ein starkes Aurobindo/Wilber-II-Modell), bei dem die Ichentwicklung keine Unterdrückung der ESSENZ, sondern ein Wachstum in Richtung der ESSENZ ist, und zwar im Rahmen eines umfassenden Entwicklungs- oder Evolutionsprozesses. So ist, wie er sagt, die persönliche ESSENZ "das höchste Produkt der Ichentwicklung. Mit anderen Worten, Ichentwicklung und spirituelle Erleuchtung sind nicht zwei getrennte Prozesse, sondern Teile desselben Prozesses" (S. 154). Er wiederholt dies immer wieder und sehr deutlich: "Man muss vielmehr die Ichentwicklung und die spirituelle Transformation als einen einzigen Prozess der menschlichen Entwicklung auffassen ... Die innere Evolution [verläuft] von der Geburt über die Ichentwicklung zur Verwirklichung der persönlichen ESSENZ. Es handelt sich also um einen einzigen Evolutionsprozess vom Beginn der Ich-Entwicklung bis zu den letzten Stufen der spirituellen Erleuchtung" (S. 161). "Dies ist eine radikale Abkehr von den Auffassungen sowohl traditioneller spiritueller Lehren als auch denjenigen der modernen Psychologie", schreibt er. "[Diese Auffassung] führt diese beiden Gebiete zu einem einzigen Geist zusammen, demjenigen der menschlichen Natur und Entwicklung" (S. 154). Diese "Vereinheitlichung" war natürlich die zentrale Aussage von Das Atman-Projekt und von Aurobindo und davor schon von Fichte, Schelling und anderen. Mit diesem Übergang zu einem Modell des Typs Aurobindo/Wilber-II gelingen Ali einige sehr tiefe und wichtige Beiträge zu den Techniken der spirituellen Transformation und der postformalen Entwicklung durch entsprechende Arbeit an den frühesten Traumata des Selbst (insbesondere, wie wir sehen werden, an Drehpunkt 2). Wenn Selbst-Entwicklung und spirituelle Entwicklung Teil desselben Spektrums des Bewusstseins und nicht einfach Antagonisten sind, dann kann eine frühe Störung der ersteren auch die letztere beeinträchtigen. Dies ist der Kern des Diamond Approach (und von Wilber-II). Und doch finden sich überall in The Pearl beyond Price noch verstreute Reste des "Ali-I-" (des romantischen/Wilber-I-) Ansatzes. Ich möchte dies anhand einiger ausführlicherer Beispiele belegen, um zu zeigen, warum dies ein so wichtiger Punkt ist. Beginnen wir mit dem wahren Selbst, dem Atman oder essentiellen Selbst. Ist es beim Kind ganz verwirklicht oder nicht? Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, ist es die Haltung der Romantiker, der Neojungianer,
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von Washburn und von Wilber-I, dass das essentielle Selbst in der Kindheit vollständig gegenwärtig ist und dass die Entwicklung des Ich diesen Urgrund verleugnet, verdrängt oder verdunkelt. Das Ich wird dem Urgrund entfremdet, den es jedoch später ("in einer reifen Form" oder "auf einer höheren Ebene") wiedergewinnen und so eine Wiedervereinigung mit Gott, dem Urgrund, dem Sein oder der ESSENZ erlangen kann. Zu Beginn der Evolution ist nach dieser Auffassung das Selbst also eins mit dem Urgrund; in der Mitte der Evolution wird es diesem Urgrund entfremdet, und die Evolution vollendet sich in einer Wiedervereinigung von Selbst und Urgrund, einer Wiedergewinnung desjenigen, was auf der Anfangsstufe der Evolution voll gegenwärtig war, aber später unterging. Dies ist der Grundriss des romantischen Modells in seinen vielfältigen Formen. Die Auffassung der Philosophia perennis dagegen lautet, dass das Selbst während der Involution dem Geist entfremdet wird, nicht während der Evolution. Involution ist der davorliegende (aber zugleich zeitlose) Vorgang, bei dem der GEIST aus sich ausgeht und die Seele hervorbringt, diese den Geist, diese den Körper (Prana) und dieser die Materie. Jede "tiefere" Ebene ist eine Einschränkung, eine Manifestation oder ein verkürzter Ausdruck ihrer "höheren" Dimension, so dass alle Wellen letztlich Manifestationen des Ozeans des GEISTES sind. Jede tiefere Ebene "vergisst" ihre höhere Dimension (Anamnesis); das Endergebnis ist die Welt der Materie, die ins Dasein gefallen ist und sich nun fragt, wie ihr dies denn geschehen sei. Die dann einsetzende Evolution faltet aus und bringt in die Erinnerung zurück, was eingefaltet und vergessen wurde: Aus der Materie entsteht Leben, aus dem Leben entwickelt sich der Geist, aus dem Geist emergiert die Seele und aus der Seele der GEIST, der der Grund und das Ziel des ganzen Ablaufs ist. Nach dieser Auffassung wird das Kind in der Tat "in Wolken der Herrlichkeit" geboren, weil es (um die tibetische Version heranzuziehen) gerade die Involution vom GEIST über die Seele und den Geist durchlaufen und einen materiellen Körper angenommen hat. In keiner Weise aber ist das Kind nach dieser Auffassung vollständig in Kontakt mit dem Dharmakaya oder GEIST (wenn man einmal davon absieht, dass der GEIST der Urgrund aller Dinge und damit natürlich auch von Kindern ist). Vielleicht steht das Kind am Ende der Involutionslinie (die primäre Entfremdung ist bereits geschehen) und am Anfang der Evolutionslinie, die jetzt an ihrem tiefsten und Ausgangspunkt steht: Das Kind ist primär ein von Trieben beherrschtes, narzisstisches, egozentrisches Körper-Selbst; es lebt um der Nahrung willen, und sein Gott ist der Mund. Und weil das Kind sich in seiner frontalen Entwicklung und Evolution
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auf der untersten Ebene befindet, ist es auch in die unterste Dimension des GEISTES eingebunden: Es ist eins mit der materiellen und physischen Welt (Piaget sagt: "Das Selbst ist hier sozusagen materiell"). Dies ist der undifferenzierte Zustand protoplasmischen Gewahrseins, der im frühkindlichen Zustand vorherrscht (die Teilphase der Verschmelzung an Drehpunkt 1). Es gibt weder differenzierte Emotionen noch emotionelle Objektkonstanz, keine geistigen Konzeptionen, Symbole oder Regeln, keine Logik, keine Prosa, keine Poesie, keine Mathematik, keine bildende Kunst, keine Musik, keinen Tanz, keine Fähigkeit, sich in die Rolle eines anderen zu versetzen, und daher auch keine echte Liebe, kein Mitgefühl, keine Barmherzigkeit, keine Toleranz und keine Güte. Und so stellten sich die Romantiker den Urgrund vor. Weil sie kein wirkliches Verständnis für den Gedanken der Involution hatten, hielten sie diesen frühkindlichen physischen Verschmelzungszustand für den großen Urgrund des Seins selbst, nur weil es ein "undifferenzierter" Zustand war. Natürlich differenziert und transzendiert das Selbst sehr schnell diesen rohen physischen Verschmelzungszustand, um eins zu werden mit dem Empfindungskörper, dann dem Geist, der Seele, dem GEIST und schließlich alles zu transzendieren, alles einzuschließen. Dieses Transzendieren des physischen Verschmelzungszustandes ist ein schmerzliches Erwachen zur Getrenntheit des Körper-Selbsts (Drehpunkt 2). Dieses Erwachen ist aber nicht der Verlust des GEISTES oder der ESSENZ, sondern der bittersüße erste Schritt zum vollständigen Erwachen des GEISTES. Dagegen kamen die Romantiker zu dem verständlichen, aber äußerst naiven Schluss, dass der Schmerz und die Entfremdung des emergierenden Ich deshalb eintreten, weil Gott soeben verlorengegangen sei (während das Ich einfach der erste schmerzliche Schritt zurück zu Gott ist). Die traditionelle romantische Auffassung besteht also in folgendem: (1) Das kindliche Selbst ist zunächst eins mit dem Urgrund, ist sich dessen aber nicht bewusst; (2) diese Einheit geht dann notwendigerweise durch das emergierende Ich verloren bzw. wird durch dieses verdrängt; (3) nachdem das Ich in einem notwendigen Schritt den Urgrund zerstört hat, kann es zu diesem zurückkehren oder diesen in einer anderen Weise wiedergewinnen, aber jetzt in einer vollbewussten Weise, wodurch die spirituelle Wiedervereinigung eintritt. Während das Kind unbewusst eins mit dem Urgrund ist, ist das reife Selbst in einer bewussten Erkenntnis eins mit ihm. Aber den Romantikern dämmerte selbst, dass ihr Schema unhaltbar war, weil der zweite Schritt eine Unmöglichkeit ist. Wenn alles eins mit dem Urgrund ist und diese Einheit zerbricht, dann hört damit die eigene
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Existenz auf. Man kann sich der Einheit nur bewusst oder nicht bewusst sein. Wenn sie schon unbewusst ist, dann gibt es keine tiefere Stufe mehr. Und wenn die Romantiker sagen, dass die Einheit des kindlichen Selbst mit dem Urgrund unbewusst ist, dann ist das kindliche Selbst schon gefallen. Damit aber befanden sich die Romantiker in einer unhaltbaren Situation: Wenn der erste Urzustand schon Gefallenheit ist, dann kann die Erleuchtung keine Wiedergewinnung von Vergangenem sein. Damit ist der ganze traditionelle retroromantische Ansatz ad absurdum geführt. (Historisch entwickelte sich die Romantik zum Ansatz Hegels/Aurobindos/von Wilber-II weiter bzw. erlosch als zusammenhängende Bewegung, wiewohl natürlich immer wieder einmal retroromantische Versuche in Form der üblichen Prä/trans-Verwechslung auftauchen, womit wir uns noch befassen werden.) Der einzig denkbare Versuch, eine retroromantische Haltung im engeren Sinne zu retten, ist der Weg, den Washburn eingeschlagen hat. Wenn die Erleuchtung eine Wiedergewinnung von etwas sein soll, das im Kind vorhanden ist, aber verloren geht, dann muss es eine kindliche Einheit mit dem Urgrund geben, und diese Einheit muss in irgendeiner Weise voll bewusst und "eingeschränkt gegenwärtig" sein. Wie ich in Kapitel 6 zu zeigen versucht habe, ist dies völlig unhaltbar; aber anders lässt sich der retroromantische Ansatz überhaupt nicht verteidigen. Wenden wir uns mit diesem theoretischen Hintergrund nun wieder Ali zu. Ist das essentielle SELBST oder der Atman im Kind voll gegenwärtig? Hier erleidet Ali sein romantisches Waterloo. Wenn dieses Modell irgendwie zutreffen soll, muss das Kind ein Bewusstsein vom SELBST haben, ganz SELBST-verwirklicht sein, denn andernfalls gäbe es nichts, was sich wiederzugewinnen lohnte. Genau diesen Schritt geht Ali. "Wenn das essentielle SELBST gegenwärtig ist, dann wird in gewissem Sinne das Kind geboren; es ist SELBST-verwirklicht. Es ist sein wahres SELBST ... Das Kind ist in gewisser Weise in diesem frühen Alter SELBST-verwirklicht. Es ist vollständig das essentielle SELBST" (S. 266, 278-279). Nun muss man doch die Frage stellen: Wird dieses SELBSTverwirklichte Kind von Mitgefühl, von Barmherzigkeit, selbstlosem Dienst, Toleranz oder Güte bewegt? Aber Ali räumt ein, dass das Selbst an diesem Punkt äußerst egozentrisch, narzisstisch, triebhaft, in höchstem Masse in sein Ich versenkt ist – und dies kann man wohl nur als die Antithese von allem Spirituellen bezeichnen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich also, dass das kleine Kind durchaus keinen bewusst SELBST-verwirklichten Eindruck macht. Deshalb versucht sich Ali aus dieser romantischen Sackgasse
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herauszuwinden, indem er seine Zuflucht zum traditionellen romantischen Oxymoron nimmt: Das Kind ist voll SELBST-verwirklicht, sich aber dieser SELBST-Verwirklichung nicht bewusst. "Das Kind gewahrt nicht, dass es das essentielle SELBST ist. Es ist sich seiner SELBST-Verwirklichung nicht bewusst" (S. 278). Ein Oxymoron ist dies deshalb, weil "SELBST-verwirklicht" (Self-realized) gleichbedeutend ist mit: "Sich des SELBST bewusst" (im Englischen tritt dieses Oxymoron schärfer hervor, weil "realize" sowohl "verwirklichen" als auch "erkennen" bedeutet [Anm. d. Übers.]), und man kann nun einmal nicht unbewusst bewusst verwirklicht sein. Um die Rückkehr zum alten romantischen Modell vollständig zu machen, brauchte Ali nur noch zu behaupten, dass das Kind dann die unbewusste SELBST-Verwirklichung verliert (eine ontologische Unmöglichkeit, aber ein anderer Ausweg bleibt dem traditionellen romantischen Ansatz nicht). Und in der Tat: "Die Wahrnehmung der Verletzlichkeit, Beschränkung und Abhängigkeit, verbunden mit der Unfähigkeit, diese von der Erfahrung des essentiellen SELBST zu trennen, führt zur Aufgabe der Identität mit letzterer. Das Kind büßt seine unbewusste SELBST-Verwirklichung ein" (S. 279). Alis eigene Analyse zeigt aber, dass das Kind das essentielle SELBST niemals wirklich erfährt: "Es gibt ein wahres und zeitloses SELBST, ein essentielles Selbst, das nicht im frühen Leben konstruiert wird" (S. 265) – völlig richtig. "Das ESSENTIELLE SELBST fühlt sich wie eine konzentrierte Gegenwart an, eine kostbare und reine Gegenwart von Bewusstsein, mit der charakteristischen Selbst-Empfindung. Das Selbst der Endgültigkeit, Einzigartigkeit, Einmaligkeit und Kostbarkeit ist klar und vollständig ... Dieses Selbst ist die Quelle reiner Liebe und Erkenntnis" (S. 272, 277). Ist dem Kind nun dies alles als unmittelbare und unverzerrte Erfahrung gegeben? Dies ist Ali zufolge nicht der Fall: "Da das Kind das essentielle SELBST nicht in einer objektiven Weise gewahrt, kann es nicht anders, als diese SELBST-Empfindung mit dessen Repräsentation zu verbinden", das heißt die Intuition des SELBST wird auf das begrenzte und beschränkte Körper-Selbst angewandt. Ali sagt, dass beim Kind die großartigen Eigenschaften des Selbst als der großsprecherische Narzissmus des kindlichen Selbst verzerrt erscheinen. "Die großartigen Eigenschaften gehören dem essentiellen SELBST an, aber sie werden großsprecherisch, wenn sie auf Körper und Geist angewandt werden. Die Täuschung liegt darin, dass sie auf den KörperGeist angewandt werden" (S. 278). Die entscheidende Frage lautet aber dann: Hat das Kind je ein unverzerrtes Gewahrsein der großartigen Qualitäten des wahren
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SELBST, oder gelangt es nur an die Täuschung? Ali antwortet hierauf, dass die großartigen Qualitäten des ESSENTIELLEN SELBST vom kindlichen Selbst stets in einer verworrenen und trügerischen Form wahrgenommen werden, und dass es gar nicht anders kann. "Diese Gefühle der Großartigkeit und Allmacht sind falsch" (S. 278). Es ist also klar, dass das Kind das ESSENTIELLE SELBST als solches niemals in einer unverfälschten Form berührt, sondern nur verworrene und trügerische Intuitionen dieses SELBST hat. Da nützt es auch nichts, dass das Kind während der narzisstischen (übenden) Teilphase das SELBST intuiert, aber diese Intuition fälschlich auf seine gegenwärtige und begrenzte Entwicklungsstufe anwendet, weil nämlich alle Entwicklungsstufen dies in ihrer jeweils spezifischen Weise tun (man nennt dies das "Atman-Projekt": Die allgegenwärtige Intuition des Atman, die fälschlich mit dem gegenwärtigen und begrenzten Selbst identifiziert wird). So oder so folgt aus Alis eigener Darstellung, dass das Kind keinen unverfälschten Kontakt mit einer der großartigen Eigenschaften des ESSENTIELLEN SELBST hat, und damit können diese großartigen Eigenschaften auch nicht verloren gehen. (Sie sind in der Involution untergegangen, nicht in der Evolution, weshalb die Rückerinnerung an sie eine Emergenz in der Evolution, keine Aufdeckung in der Evolution ist). Was während der Kindheit untergeht oder untergehen kann, sind die verschiedenen Formen der ESSENZ auf der jeweiligen Stufe. Bei unserer Erörterung von Washburn haben wir dies so formuliert, dass beim Kleinkind der GEiST-als-Prana, nicht der GEIST-als-GEIST untergeht oder verdrängt wird. Ebenso manifestiert sich die ESSENZ auf jeder Stufe ihrer Entwicklung und ihres Wachstums in verschiedenen Formen (ein allgemeines Wachstum, das, wie Ali ja bekräftigt hat, die Mittelachse der Entwicklung ist), wobei jeder der Aspekte der ESSENZ auf dieser Stufe verdrängt, verleugnet oder verzerrt werden oder in sonstiger Weise verloren gehen kann. Dieser Verlust nicht der eigentlichen ESSENZ, sondern der ESSENZ auf dieser Stufe, hinterlässt regelrechte "Löcher", gegen die das Selbst weitere Schutzmauern aufrichtet. Diese Abwehrmechanismen werden aber meiner Meinung nach letztlich nicht wegen des Verlustes der eigentlichen ESSENZ, sondern wegen Fehlentwicklungen auf dem Weg des Selbst zur eigentlichen ESSENZ geschaffen. Diese frühen Abwehrmechanismen werden oft gegen gefährliche Triebe, Wünsche, libidinöse Regungen, gegen den Elan vital (GEIST-als-Prana), gegen Emotionen und Gefühle aufgeboten, und sie bleiben sehr häufig bis ins Erwachsenenalter erhalten. Wenn
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dann die eigentliche ESSENZ (der psychischen Ebene) im Bewusstsein zu emergieren beginnt, richten sich diese Abwehrmechanismen auch gegen diese. Eine starre Grenze ist eine starre Grenze. Eine Mauer, die das Ich fernhält, kann auch Gott fernhalten. Im Hinblick auf das spirituelle Wachstum ist es also sehr wichtig, diese frühen Abwehrmechanismen zu verstehen und zu dekonstruieren, aber nicht deshalb, weil man dadurch eine reine ESSENZ wiedergewinnen würde, die in der Kindheit vorhanden war und später unterdrückt wurde, sondern vielmehr deshalb, um Blockierungen aufzuheben, die die höhere Emergenz der ESSENZ an sich verhindern. Diese "Löcher" haben also gewissermaßen eine doppelte Wirkung, indem sie sowohl das Niedrigere als auch das Höhere ausschließen. Sie sind der Ort des Submergenten wie des Emergenten (das vom eingebundenen Selbst und dem eingebundenen Unbewussten auf jeder Entwicklungsstufe erzeugt wird). Sie sind aber keine Kompensationen für eine reine ESSENZ, die in der Kindheit gegenwärtig, aber zugleich untergegangen ist. Wie Plotin zu sagen pflegte, beruhen die meisten unserer Probleme nicht auf einem "Nein", sondern einem "Noch nicht". Die Löcher sind zum Teil ein "Nein", und zwar gegenüber früheren Gefühlen, Emotionen, Wünschen und Trieben; aber sie sind vor allen Dingen ein "Noch nicht" der eigentlichen ESSENZ, die geboren werden möchte, ein höherer Zustand, der herabkommen will, nicht ein kindlicher Zustand, der nach oben drängt. Wenn man also empirisch ein Loch mit unbefangenem Blick betrachtet, dann fällt vielleicht zunächst der unterdrückte/submergente Aspekt dieser Leerheit, dieses Mangels oder dieser Abwesenheit auf; vielleicht entdeckt man auch eine spezifische Erinnerung an die früheren Ereignisse, die die Verdrängung oder den Untergang mitverursacht haben. Wenn dieser aktuelle Verlust jedoch bewältigt wird, weicht die Leerheit einer Form der LEERHEIT selbst, der ESSENZ an sich, der eigentlichen ESSENZ, der ESSENZ der psychischen oder subtilen Dimension (die, wie Ali ungewollt aufzeigte, in der kindlichen Struktur niemals direkt gegenwärtig ist). Das Loch enthält nicht einfach ein unterdrücktes vergangenes Aktuelles, sondern die Leerheit an der Schwelle zu einem künftigen Potentiellen, das erstmals im Entwicklungsgang auftaucht. Die Erkundung der Abwehrhaltungen gegen vergangenes Aktuelles unterstützt das Auftauchen von künftigem Potentiellen, weil dieselben Abwehrmechanismen beides überdecken (das eingebundende Unbewusste verbirgt, wie wir gesehen haben, sowohl Niedrigeres als auch Höheres vor seinem eingeengten Blick). Empirisch stellt sich also dieses "Loch" nicht als die Leerheit von etwas dar, das einmal vorhanden war, aber unterdrückt wurde, sondern
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als etwas Neues, das um seine Emergenz ringt. Die empirische Leerheit ist eine tiefe Sehnsucht nach einem großartigeren Morgen, keine Klage über den Verlust eines geringeren Gestern. Ali sagt, dass man mit erleuchtetem Gewahrsein sehen könne, dass das Kleinkind strahlende ESSENZ sei. Aber mit erleuchtetem Gewahrsein kann man die ESSENZ auch aus dem Schmutz strahlen sehen; darum geht es nicht. Es geht darum, in welcher Form sich die ESSENZ letztlich auf den einzelnen Stufen manifestieren kann. Wenn das Kind notwendigerweise die ESSENZ als "großsprecherisch", "falsch", "narzisstisch", "trügerisch" und "verformt" erfährt, dann ist sie ganz gewiss nicht "SELBST-verwirklicht", und deshalb kann die Entwicklung auch nicht im Verlust der SELBST-Verwirklichung bestehen. Ali kann in solche Irrtümer verfallen, weil er aus einer typisch romantischen Haltung unbewusst mit einer zweifachen Definition von "ESSENZ" arbeitet, einer "horizontalen" und einer "vertikalen". Bei seiner Darstellung des Kindes in der übenden Phase (Teilphase 1 von Drehpunkt 2) hält Ali fest, dass das Kind nach Margaret Mahlers vorzüglichen Forschungen "ganz von sich selbst erfüllt" ist. Wie Mahler sagt: "Narzissmus in Reinkultur!" Und sie fährt fort: "Das Kleinkind lebt in einer Welt der unbegrenzten Möglichkeiten ... Das Hauptmerkmal dieser Übungsperiode ist das ausgeprägt narzisstische Verhältnis des Kindes zu seinen eigenen Funktionen, seinem Körper und zu den Objekten und Möglichkeiten seiner wachsenden 'Wirklichkeit'" ... "Es ist entzückt über seine Möglichkeiten, immer aufs neue hingerissen von den Entdeckungen, die es in seiner immer größer werdenden Welt macht, und gleichsam verliebt in die Welt und seine Großartigkeit und Allmacht." Ali kommentiert diese Zitate voller Begeisterung: "Wir hätten die Erfahrung des ESSENTIELLEN SELBST nicht beredter darstellen können. Mahler demonstriert hier ihre scharfsichtige Wahrnehmung der Manifestationen des wahren SELBST" (S. 271). Aber was Mahler hier in Wirklichkeit beschreibt, ist die Teilphase, aus der die narzisstischen Persönlichkeitsstörungen hervorgehen. Diese Teilphase ist nicht der Gipfel des wahren SELBST, sondern des Egozentrismus, und dies ist das genaue Gegenteil des wahren oder essentiellen SELBST. Wenn diese Entwicklungsphase so bis ins Erwachsenenalter fortdauern würde, dann wäre ein solcher Mensch absolut unfähig, sich in einen anderen hineinzuversetzen, anderen Menschen oder überhaupt anderen fühlenden Wesen Interesse oder Zuneigung entgegenzubringen; er wäre ein narzisstisches Monster, für das andere bloß Verlängerungen seines großsprecherischen Selbst sind und dem es an jeglichem Mitgefühl, an jeglicher Liebe und Zuwendung
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mangelt. Dies ist das typische Gegenteil von SELBST-Verwirklichung, kein vorzügliches Beispiel hierfür. Aber dies ist die ständige Gefahr bei allen bloß monologischen Ansätzen, wie sie hier der Diamond Approach exemplarisch vertritt. Das Ich-Mir-Mein wird zur Mittelachse der Wirklichkeit, und dann wird alles, was in dieser einen Dimension aufleuchtet, als "erleuchtet" oder als Manifestation der "ESSENZ" aufgefasst. Ali sagt, und wie ich meine zu Recht: "Integrationsfähigkeit ist auf allen Funktionsebenen gegeben, der physischen, mentalen, emotionalen und der Seinsebene. Da aber die Seinsebene die tiefste ist, steigert sie, wenn sie verwirklicht ist, alle Dimensionen der Integrationsfähigkeit" (S. 171). Ich stimme ihm hier völlig zu. Es gibt eine horizontale Integration, die Integration auf den jeweiligen Ebenen, und es gibt die vertikale Integration der höchsten Ebene, diejenige des Seins oder der ESSENZ an sich, die alle Integrationsarten steigern kann. Ali hält aber diese beiden Formen der "Fülle" nicht sorgfältig auseinander. Wenn er auf irgendeiner Ebene irgendeine Art von Fülle entdeckt, identifiziert er sie sofort mit der Seinsebene, wo es sich in Wirklichkeit um nichts weiter als eine sehr weit gediehene horizontale Fülle und Integration handelt. Dies ist nicht die eigentliche ESSENZ, sondern einfach die ESSENZ auf dieser Stufe. So sagt Ali über das narzisstische und egozentrische Kind, dass es sich in einem Zustand reiner Liebe und essentiellen Seins befände: "Babys befinden sich die meiste Zeit in diesem Zustand des Seins. Diesen Zustand nimmt man wahr, wenn man ein Baby als 'lieb' und 'süß' erlebt. Man erfährt diesen Aspekt als eine sanfte und weiche Gegenwart, die sich flauschig, rein und süß anfühlt" (S. 320). Aber wenn süß, lieb, niedlich und flauschig Merkmale reiner Liebe und essentiellen Seins sind, dann sind Kätzchen völlig SELBST-verwirklicht. Auch hier haben wir es wiederum mit der Verwechslung von ESSENZ an sich mit einer bloß horizontalen "Fülle" (oder "ESSENZ auf dieser Stufe") zu tun. In all diesen Rückgriffen Alis auf das romantische Modell spiegelt sich die klassische romantische Verwechslung schlechthin. Die Romantiker von einst und jetzt suchen – was ihr unsterbliches Verdienst ist – nach Möglichkeiten, das Ich zu transzendieren und den GEIST, das reine Sein oder den holistischen Urgrund zu entdecken. Und um das Sein zu entdecken, muss man ihnen zufolge die ausschließliche Identifikation mit dem Ich oder der Empfindung eines getrennten Selbst aufgeben. In der Praxis sieht dies so aus, dass man den Geist entspannt und das Ich loslässt, wodurch erweiterte, freiere, offenere und spirituellere Seinsmodi verfügbar werden. So weit, so gut, und die Romantiker haben diesbezüglich auch sehr
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tiefe Beobachtungen gemacht. Aber dann begingen die Romantiker ihren schwerwiegenden Fehler: Sie teilten die Welt einfach in Sein einerseits und Ich andererseits ein. Alles, was Ich war (oder rational, analytisch, begrifflich, persönlich oder linear), galt als "schlecht", und alles andere, alles, was ohne Ich war, galt als Gott, als Urgrund, als Herrlichkeit. Ich war Sünde, Nicht-Ich war Sein, Urgrund, Gott, ESSENZ. Aber die Welt des "Nicht-Ich" schließt auch das Prä-Egoische und das Trans-Egoische ein, wobei ersteres sehr schlecht, letzteres sehr gut ist, und die Romantiker warfen einfach alles in einen Topf. Dies hatte katastrophale Folgen. Bei ihrem edlen Streben nach dem TransEgoischen verherrlichten die Romantiker letztlich alles, was nichtegoisch, nichtbegrifflich, nicht-rational war, weshalb sie sehr oft auch auf ein prärationales und präkonventionelles Gleis gerieten: sie regredierten auf der Suche nach ihrem Gott und ihrer Göttin. Ebenso nahmen sie einfach an, dass in der (ontogenetischen und phylogenetischen) Evolution vor der Emergenz des Ich ESSENZ, Sein, Urgrund, Eden sein müsse. Engel müssten vor dem garstigen Auftauchen des Ich auf Erden gewandelt sein. Entwicklungsgeschichtlich waren aber vor dem Ich nicht Engel, sondern Affen, davor Würmer, davor Farne und davor Schmutz. Das Ich war kein Fall aus dem Urgrund, sondern ein großer Schritt nach oben, in Richtung des Erscheinens des Urgrundes als überbewusster Zustand und überbewusste Verwirklichung. Mit anderen Worten, der ursprüngliche Fall geschah in der Involution, nicht während der frühen Evolution. Und das Ich ist nicht der äußerste Punkt der Entfremdung und des Verlustes, sondern die Hälfte des Weges zurück zum Ursprung. Das Ich ist ein bedeutsamer Zuwachs an ESSENZ, nicht ein bedeutsamer Verlust an ESSENZ. Das Glas ist halb voll, nicht halb leer. All dies entging den Romantikern jedoch wegen ihrer schlichten Kategorisierung "hier Ich, dort Sein", wodurch sie immer wieder in schwere Prä/trans-Verwechslungen gerieten. Und ich erwähne all dies deshalb, weil eben diese Kategorisierung in "Sein" einerseits und "Ich" andererseits Ali den Weg ebnet, wenn er von seinem Modell des Typs Wilber-II zu seinem älteren Modell des romantischen/Wilber-I-Typs zurückkehrt. So teilt Ali also die Welt in "Ich-Zustände" und "Seins-Zustände" ein, und alles, was erstere nicht haben, müssen letztere haben. "Das Sein ist immer da. Dass es keine bewusste Erfahrung ist, ist ein Hinweis auf die Abwesenheit von Abwehrmechanismen gegen es" (S. 138). Aber Steine haben keine bewusste Erfahrung des Seins, und doch bilden sie keine Abwehr gegen es aus. Wiederum wird hier Plotin bestätigt: Das Problem
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des Steins ist nicht ein "Nein", sondern ein "Noch-nicht". Der Stein unterdrückt nichts. Der Stein braucht nicht seine Abwehrmechanismen zu beseitigen, seine ESSENZ zu entdecken und seine Einheit mit ihr wiederzugewinnen. Um die ESSENZ bewusst zu erkennen, muss der Stein sich vielmehr zu einer Pflanze entwickeln, diese zu einem Pferd, dieses zu einem Affen und dieser zu einem Menschen, der den Weg des Diamond Approach geht und die ESSENZ erkennt. Nicht Aufdeckung, sondern Entwicklung. Deshalb stellen die meisten kindlichen prä-egoischen Zustände auch keine Abwehr gegen die ESSENZ als solche dar, sondern das Kind hat einfach noch nicht die Fähigkeit entwickelt, die ESSENZ als solche bewusst in sich zu fassen. Ali geht aber immer davon aus, dass entweder Ich oder Sein sein müsse, weshalb die prä-egoischen Zustände zur ESSENZ an sich überhöht werden (wie wir bei seiner Verherrlichung des narzisstischen Ungeheuers der Teilphase des Übens gesehen haben). Seine zentrale Verwechslung wird sehr gut in folgender Aussage sichtbar: "Wer glaubt, dass seine Grenzen mit den äußeren Umrissen des Körpers zusammenfielen, hat sich nicht nur mit dem Körper identifiziert, sondern auch vom Sein ent-identifiziert" (S. 398). Ganz und gar nicht. Es geht nicht um Ich oder Sein. Es geht um PräIch, Ich und Sein. Und der Übergang vom Prä-Ich zum Ich (und die Identifikation mit dem Körper) ist ein Fortschreiten zum Sein, kein Rückzug von ihm. Sobald man dieser Prä/trans-Verwechslung verfallen ist, muss jeder Schritt in der Evolution des Selbst oder Ich als Zerstörung des Seins interpretiert werden: Die Eiche ist eine Schändung der Eichel. Die retroromantische Rutschbahn. Wenn Ali nur ein einfaches Modell des Typs Washburn/Romantik/Wilber-I vorlegen würde, wie er es in seinem Essence tat, dann hätten seine Aussagen wenigstens Konsequenz. Aber Ali geht, wie ich zu Beginn dieser Rezension gesagt habe, in The Pearl beyond Price klar und eindeutig zu einem Modell des Typs Aurobindo/Wilber-II über, und er lässt hieran keinen Zweifel. Aber dieses Modell steht in scharfem Widerspruch zu dem noch in Resten vorhandenen romantischen/Wilber-I-Modell. So sieht er in seiner Darstellung in The Pearl beyond Price die Ichentwicklung ganz richtig als Zuwachs an ESSENZ, nicht als Verlust von ESSENZ. "Das Ich baut bei seinem Wachstum und seiner Entwicklung immer mehr seine Abwehrhaltung ab; es erwirbt mehr Flexibilität, Elastizität und damit Offenheit gegenüber ESSENTIELLEN Wahrnehmungen" (S. 136). "Natürlich manifestiert sich [die ESSENZ] immer öfter, je älter das Kind wird" (S. 159). "Es handelt sich also um einen einzigen Prozess der Evolution von den Anfängen der
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Ichentwicklung bis zu den letzten Stufen der spirituellen Erleuchtung" (S. 161). Dies ist sein grundlegendes Modell des Typs Aurobindo/WilberII, dem ich voll und ganz zustimme. (Was die "ziehenden Wolken der Herrlichkeit" betrifft, die im Laufe der Ich- oder frontalen Entwicklung immer mehr vergessen werden, so muss dieses psychische/seelische Gewahrsein notwendigerweise verklingen. Nichts, was das Ich tun oder unterlassen mag, kann dieses Vergessen aufhalten. Mit anderen Worten, dieser spezifische Verlust hat nichts mit dem Ich oder der Ichentwicklung zu tun. Den Tibetern zufolge steht dieser Verlust von Anfang fest; die christlichen Mystiker sagen, dass das Kind in Sünden geboren ist: Es wird nicht in der ESSENZ geboren und nicht erst von seiner Mutter mit Sünden beladen. Der Verlust geschieht vielmehr durch die Involution, durch die Zusammenziehung des getrennten Selbst im Angesicht der Unendlichkeit. Diese Zusammenziehung vollzieht sich im Vorgeburtlichen und findet ihren Abschluss im materiellen Körper. Da nichts innerhalb der Ichentwicklung diesen Prozess aufhalten kann, kann man auch die Ichentwicklung nicht für ihn verantwortlich machen. Das frontale Ich ist Teil der Bemühungen, zum Ursprung zurückzugelangen. Das Ich wird nur dann zu einer "Sünde", wenn es länger an seinem Platz verharrt, als ihm zusteht. Das Ich ist der Akteur vom prä-egoischen bis zum egoischen Schenkel der Entwicklung. Erst auf der postformalen und trans-egoischen Stufe, die im frühen Erwachsenenalter beginnen, wird das Ich zum "Problem". Aber das Ich einfach eine "Krankheit" zu nennen ist so, wie wenn man die Eichel eine kranke Eiche nennen würde. Sein Problem liegt nicht in dem "Nein", sondern im "Noch nicht".) Ich habe noch einige weitere (geringfügige) Kritikpunkte, die ich kurz ansprechen möchte, bevor ich mich der positiven Würdigung der großen Stärken des Diamond Approach zuwende. ▪ Indem sich Ali hauptsächlich auf Drehpunkt 2 und die frühe Entwicklungsphase der Trennung und Individuation konzentriert, unterschätzt er die Bedeutung der übrigen Drehpunkte im individuellen und kollektiven Modus. Weil er sich praktisch nur mit Objektbeziehungen befasst, scheint im vierten Lebensjahr schon alles "gelaufen" zu sein. Aber damit übergeht er die noch bevorstehenden ganz wesentlichen Drehpunkte und Entwicklungen (insbesondere Drehpunkt 3, 4 und 5). ▪ Ebenso scheint der Diamond Approach die Piagetsche Revolution zu ignorieren, die uns gelehrt hat, dass auch nach dem vierten Lebensjahr noch große psychische Erdbeben auftreten. Eines der klassischen Experimente Piagets hat zum Beispiel gezeigt, dass sich das Kind erst im siebten oder achten Lebensjahr in einen anderen hineinversetzen kann. Aber echte Liebe bedingt eben immer eine
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Achtung vor der Perspektive des anderen. Ali hätte den ÜbungsNarzissmus des dritten Lebensjahrs nicht so ohne weiteres mit Essentieller Liebe gleichgesetzt, wenn er Piaget berücksichtigt hätte. ▪ Ali könnte sich den vielen transpersonalen Theoretikern gegenüber, die ihm vorangingen (u.a. Washburn, Engler, Alexander), doch etwas erkenntlicher zeigen. Die meisten von Alis Hauptaussagen waren schon zehn oder zwanzig Jahre vor ihm veröffentlicht. Aber abschließend sollen doch auch die großen Vorzüge des Diamond Approach gebührend gewürdigt werden. Im modernen Westen gab es zwei tiefe Entdeckungen bezüglich des Unbewussten und seiner Beziehung zur Psychopathologie und Psychotherapie. Die erste nahm ihren Ausgangspunkt mit Plotin, taucht wieder bei Fichte und Schelling sowie Schellings Schülern Schopenhauer und Nietzsche auf und fand ihre Zusammenfassung in Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten (1869; das Werk erlebte in zehn Jahren acht Auflagen; ein unerhörter Erfolg für ein akademisches Werk); sie erhielt eine überzeugende klinische und theoretische Grundlegung durch Pierre Janet und wurde schließlich von Sigmund Freud kodifiziert. In ihren verschiedenen Formen besagt sie schlicht, dass der Geist den Körper unterdrücken kann, dass Begriffe Gewalt über Triebe haben, dass der Wille sich über Gefühle hinwegsetzen kann und dass die Folge dieses inneren Bürgerkriegs emotionale Krankheit, Neurosen, innere Spaltung und Entfremdung sein können. Die Heilung besteht stets in einer irgendwie gearteten Aufdeckung: Aufhebung der Verdrängung, Aufdeckung des unterdrückten Affekts oder Triebs, Aussöhnung mit diesem Trieb und dessen Reintegration in das Selbst. Mit anderen Worten, diese erste große Entdeckung betraf die spezifische Dynamik von Drehpunkt 3. Die zweite große Entdeckung betrifft einen schwierigeren Sachverhalt, weshalb sie erst später gemacht wurde. Sie betrifft die noch tiefere Dynamik von Drehpunkt 2, den Prozess, bei dem der "protoplasmische" und der "materielle Verschmelzungszustand" sich differenzieren und so ein zusammenhängendes, einheitliches, funktionelles Selbst hervorbringen. Mit anderen Worten, dies ist der Übergang vom Prä-Ich zum Ich. Die Dynamik besteht hier nicht darin, dass das Ich den Körper unterdrücken würde; vielmehr gibt es noch gar kein Ich, das stark genug wäre, irgend etwas zu unterdrücken. Pathologien an diesem frühen Drehpunkt betreffen daher keine Verdrängung, nicht den Ödipus/Elektra-Komplex und keinen inneren Bürgerkrieg, sondern überhaupt das Wachstum eines kohärenten Selbst. Zu den Problemen an diesem Drehpunkt 2 gehören daher narzisstische
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Persönlichkeitsstörungen, Borderline-Pathologien und andere schwere Erkrankungen. Therapien, die auf diese tiefe Ebene zielen, versuchen daher nicht, etwas aufzudecken (es gibt nichts aufzudecken, weil das Selbst noch nicht stark genug ist, überhaupt etwas zu verdrängen), sondern beinhalten vielmehr einen sogenannten Strukturaufbau, den Versuch, dem Selbst dabei zu helfen, sich aus dem materiellen Verschmelzungszustand herauszudifferenzieren. Die Linie dieser zweiten großen Entdeckung verläuft von Schelling bis Jung (mit seinem Individuationsbegriff), wurde jedoch erst durch die genaueren Theorien und Forschungen von Edith Jacobson, D. W. Winnicott, Heinz Kohut, Otto Kernberg und Margaret Mahler vollendet, um nur einige der bekannteren Namen zu nennen. Sie hat unser Verständnis von der frühen Entwicklung des oberen linken Quadranten revolutioniert und ist auf ihre Art nicht weniger bahnbrechend als die erste Linie, die zu Freud und einem Verständnis von Drehpunkt 3 führte. Meine Darstellung des Modells Wilber-III enthält umfassende Verweise auf diese wegbereitenden Arbeiten, und ich habe betont, für wie wichtig ich sie halte, und zwar nicht nur für ein Verständnis der Ichentwicklung, sondern vor allem für den weiteren Verlauf dieser Entwicklung zum postformalen und spirituellen Bereich. Leider gab es bisher – von so bedeutenden Ausnahmen wie Jack Engler abgesehen – noch kaum Versuche, diese bahnbrechenden Erkenntnisse in Methoden der spirituellen Entwicklung zu integrieren. Hier liegt meiner Meinung nach das große Verdienst des Diamond Approach. Hameed Ali benutzt (insbesondere in seinem Modell "Ali-II", wie es in The Pearl beyond Price dargestellt ist) die Erkenntnisse über Drehpunkt 2 in höchst effektiver Weise, um Menschen bei ihrer postformalen und post-postkonventionellen Entwicklung zu helfen. Meiner Meinung nach verfügt er hier über sehr tiefe und umfassende Einsichten, und wie er diese Einsichten einsetzt, um Zugang zu den transpersonalen Reichen zu schaffen, ist beeindruckend und in vielerlei Hinsicht ohne Beispiel. Ali kennt mehrere Stufen des Wachstums nach der Entdeckung der persönlichen ESSENZ (die jedoch alle in der persönlichen ESSENZ gegründet bleiben). Zu diesen höheren Stufen zählt die persönliche ESSENZ im eigentlichen Sinne, deren Entdeckung in Reiche jenseits des Persönlichen führt, und zwar grob in folgenden Schritten: Nach dem unpersönlichen Zeugen folgt kosmisches Bewusstsein, danach reines Sein, das sich als duale, durch die Liebe vermittelte Einheit mit der persönlichen ESSENZ manifestiert, dann Abwesenheit (oder Verlöschen), eine Leere, in der liebevolle Anwesenheit spontan in Gestalt der persönlichen ESSENZ entsteht, dann das Namenlose, das mit der
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persönlichen ESSENZ in allen Reichen nichtdual verbunden ist, und schließlich das Absolute (das sich ebenfalls als persönliche ESSENZ spontan manifestiert, um eine angemessene, spontane Funktion sicherzustellen). In der Literatur des Diamond Approach finden sich keine Hinweise darauf, dass Subjektpermanenz erreicht werden würde, die das Merkmal einer stabilen Anpassung auf der kausalen Ebene ist, noch darauf, dass Wachtraumkonstanz erreicht werden würde, das Merkmal einer stabilen Anpassung auf der subtilen Ebene. Mit anderen Worten, der Diamond Approach scheint nicht über die Anpassung auf der psychischen Ebene hinauszugehen, auch wenn bereits eine sehr klare Ahnung der höheren Bereiche vorhanden ist. Aber auch dies ist schon eine außerordentliche Leistung, die den Diamond Approach zu den besten heute in einem größeren Maßstab verfügbaren transformativen Techniken zählen lässt. The Pearl beyond Price ist eines der wirklich großen und bahnbrechenden Bücher des ost-westlichen Dialogs. Die von mir vorgebrachten Kritikpunkte sind im Kontext einer großen Bewunderung zu sehen. Man muss natürlich abwarten, welches Schicksal unsere Kultur einem postformalen und post-postkonventionellen Ansatz zugedacht hat. Historisch wurde das postformale Bewusstsein praktisch überall verdammt. Sobald eine Gruppierung, die einen solchen Ansatz vertritt, Zulauf findet und ins öffentliche Bewusstsein rückt, machen sich auch in pluralistischen, toleranten Gesellschaften, die sich den Werten der westlichen Aufklärung verpflichtet fühlen, plötzlich bisher im Hintergrund liegende kulturelle Kräfte massiv geltend. Deshalb beobachte ich die weitere Entwicklung des Diamond Approach mit besten Wünschen und Wohlwollen, aber auch mit einigem Bangen. 12 Dieser ganze Abschnitt stellt eine Zusammenfassung des Modells WilberIV vor, wie es in Eros, Kosmos, Logos, Eine kurze Geschichte des Kosmos und in diesem Buch dargestellt wird. Die Wilber-III-Aspekte in diesem Modell sind praktisch unverändert, doch wurden sie in einen Kontext ("alle Quadranten, alle Ebenen") gestellt, der ihre konstituierenden Elemente deutlicher hervortreten lässt. Weder Bewusstsein, Persönlichkeit, individuelle Agenz noch Psychopathologie können einfach oder ausschließlich im individuellen Organismus angesiedelt werden. Der subjektive Bereich ist immer schon in intersubjektive, objektive und interobjektive Wirklichkeiten eingebunden, die zum Teil subjektive Agenz und deren Pathologien konstituieren; dies ist der Hintergrund für den Übergang von Wilber-III zu Wilber IV. 13 Die linksseitigen Dimensionen sind in der Tat das Reich des inneren Bewusstseins, aber die rechtsseitigen Bereiche sind die äußeren Formen des Bewusstseins, ohne die die inneren Formen nicht existieren und
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nicht existieren können. Bezüglich des "Orts" des Bewusstseins (und für diejenigen, die Kapitel 4 und 5 gelesen haben) kann man sagen – und ich vertrete diese Auffassung –, dass dieses seinen manifesten Ort an genau derselben Stelle hat wie die Kunst. Anders ausgedrückt, der obere linke Quadrant ist einfach der funktionelle Ort einer verteilten Erscheinung. Das Bewusstsein hat seinen Sitz nicht im Gehirn, aber auch nicht außerhalb des Gehirns: Dies sind physische Grenzen mit einem einfachen Ort, während ein großer Teil des Bewusstseins nicht einfach im physischen Raum existiert, sondern auch in emotionellen Räumen, in mentalen Räumen und in spirituellen Räumen, die eben keinen einfachen Ort haben und trotzdem (mindestens) so wirklich sind wie der einfache physische Raum. Deshalb sagen wir, dass das manifeste Bewusstsein über alle Quadranten mit allen ihren Ebenen und Linien verteilt ist. Die rechtsseitigen Bereiche haben alle einen einfachen Ort in der physischen Raumzeit, und man kann auf sie mit dem Finger deuten; die linksseitigen Bereiche dagegen haben ihren Ort in Räumen der Intention, nicht solchen der Ausdehnung, weshalb man nicht den Finger drauflegen kann. Trotzdem ist das Bewusstsein in diesen intentionalen Räumen ganz genauso verankert wie in den ausgedehnten Räumen, ob dies die äußere Welt oder das Nervensystem oder etwas Dazwischenliegendes ist. Die rechtsseitigen Reduktionisten (subtile Reduktionisten) versuchen, Räume der Intention auf solche der Ausdehnung zu verkürzen und dann das Bewusstsein in einem hierarchischen Netzwerk von Emergenzen mit physischer Ausdehnung unterzubringen (von Atomen über Moleküle, Zellen und das Nervensystem zum Gehirn), und dies ist ein für allemal zum Scheitern verurteilt. Dies wäre höchstens die halbe Wahrheit (nämlich die rechtsseitige Hälfte). David Chalmers (1995) sorgte vor kurzem für eine Sensation, als sein Essay "The Puzzle of Conscious Experience" im Scientific American veröffentlicht wurde, der Bastion der physikalistischen Wissenschaften. Chalmers kam darin zu der verblüffenden Schlussfolgerung, dass sich das subjektive Bewusstsein nach wie vor allen objektivistischen Erklärungsversuchen entzieht: "Deshalb schlage ich vor, die bewusste Erfahrung als grundlegendes Merkmal zu betrachten, das sich auf nichts Einfacheres mehr reduzieren lässt. Dies mag als ein befremdlicher Gedanke erscheinen, doch scheint diese Annahme um der Konsistenz willen geboten zu sein" (S. 83). Man kann doch immer wieder nur erstaunt sein, wie viel Aufhebens angelsächsische Philosophen von der Neuerfindung des Rades machen. Immerhin bringt Chalmers einige gute Argumente. Das erste ist die
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Nichtzurückführbarkeit des Bewusstseins, das der physischen Welt "hinzugefügt" werden muss, um eine vollständige Darstellung der Welt geben zu können. "Eine vollständige Theorie muss also aus zwei Komponenten bestehen: Naturgesetzen, die uns etwas über das Verhalten physikalischer Systeme von der infinitesimalen bis zur kosmologischen Größenordnung sagen, und psychophysischen Gesetzen, wie man sie nennen könnte, die etwas darüber aussagen, wie diese Systeme mit der bewussten Erfahrung verknüpft sind. Diese beiden Komponenten liefern eine wahre Theorie aller Erscheinungen" (S. 83). Dieser schlichte Versuch, den linksseitigen und den rechtsseitigen Bereich wieder beide im Kósmos gelten zu lassen, wurde als kühnes Unterfangen aufgenommen, was wieder einmal die Macht des Reduktionismus belegt, der eine so selbstverständliche Aussage als Kühnheit erscheinen lässt. Chalmers versucht, dies auf eine Formel zu bringen: "Vielleicht hat Information zwei grundlegende Aspekte, einen physischen und einen erfahrungsmäßigen ... wo immer man bewusste Erfahrung vorfindet, liegt sie in einem Aspekt als Informationszustand vor, während der andere Aspekt ein physischer Prozess im Gehirn ist" (S. 85). Jeder Zustand hat demzufolge einen inneren/intentionalen und einen äußeren/physikalischen Aspekt. Meine Auffassung lautet natürlich, dass alle Holons nicht nur diese zwei, sondern vielmehr vier grundlegende und nicht zurückführbare Aspekte besitzen, so dass jeder "Informationszustand" gleichzeitig einen intentionalen, verhaltensmäßigen, kulturellen und sozialen Aspekt besitzt; darüber hinaus hat jeder dieser Aspekte mindestens zehn Hauptebenen. Dies käme einer Theorie aller Erscheinungen viel näher, wenn denn so etwas überhaupt sinnvoll ist. Chalmers weist weiterhin darauf hin, dass alle physikalistischen und reduktionistischen Deutungen des Bewusstseins (wie zum Beispiel diejenige von Daniel Dennett und Francis Crick) nur die, wie es Chalmers nennt "einfachen Probleme" lösen (wie zum Beispiel die objektive Integration in Gehirnprozesse), während das zentrale Geheimnis des Bewusstseins unberührt bleibt. Er hat natürlich völlig recht. Amüsant daran ist nur, dass all die physikalistischen Wissenschaftler, die nun dasitzen und Chalmers' Essay lesen, dem Geheimnis schon auf Tuchfühlung nahe sind: Sie sind schon in Kontakt mit ihrer gelebten Erfahrung, ihrem unmittelbaren Gewahren, ihrem grundlegenden Bewusstsein. Aber statt diesen Strom direkt zu erforschen (zum Beispiel mit Vipassana), sitzen sie da, lesen Chalmers' Aufsatz und versuchen, ihr eigenes Bewusstsein zu verstehen, indem sie es als digitale Bits in neuronalen Netzen oder in konnektivistischen
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Pfaden objektivieren, die hierarhisch in der Freude am Schauspiel eines Sonnenuntergangs gipfeln – und wenn sie feststellen müssen, dass all dies letztlich überhaupt nichts erklärt, kratzen sie sich den Kopf und fragen sich, warum sich das Geheimnis des Bewusstseins einfach nicht lösen lassen will. Für Chalmers liegt "das schwierige Problem" in der Frage, "wie physikalische Gesetze im Gehirn zu subjektiver Erfahrung führen", das heißt, wie Physisches und Geistiges zusammenspielt. Dies ist die alte kartesische Frage, deren Lösung wir heute nicht näher sind als Descartes, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Es ist ein Dilemma, das sich nur in den postformalen Reichen lösen lässt (eine ausführliche Erörterung dieses Themas siehe in Kapitel 3). So gibt es zum Beispiel in der einfachen Hierarchie physische Materie, Empfindung, Wahrnehmung, Impuls, Bild, Symbol ... eine Erklärungslücke zwischen Materie und Empfindung, die noch in keiner Weise befriedigend überbrückt ist – weder von der Neurowissenschaft noch der Kognitionswissenschaft, der Neuropsychologie, der Phänomenologie oder der Systemtheorie. David Joravsky sagt in seiner Rezension von Richard Gregorys Mind in Science: A History of Explanations in Psychology and Physics: "Der Sehvorgang wird in Teilprozesse zerlegt: Das physikalische Licht, die Erregung im neuronalen Netz von Auge und Gehirn, die ebenfalls physisch ist, die Empfindung, die subjektiv ist und sich einer streng physikalischen Analyse entzieht, und Wahrnehmung, die kognitive Aufbereitung der Empfindung, die noch weniger einer rein physikalischen Analyse zugänglich ist." Gregory stellt selbst die Frage: "In welcher Weise hängt Empfindung mit neuraler Aktivität zusammen?", und er fasst den aktuellen Kenntnisstand auf diesem Gebiet kurz und bündig zusammen: "Wir wissen es leider nicht." Der Grund hierfür ist ihm zufolge "eine unüberwindliche Kluft zwischen Physik und Empfindung, die die Physiologie nicht überbrücken kann", eine, wie er auch sagt, "unüberschreitbare Kluft zwischen unseren beiden Reichen". Mit anderen Worten, zwischen der linken und der rechten Hälfte des Kósmos. Selbstverständlich ist diese Kluft nicht wirklich unüberschreitbar: Man sieht die physische Welt jetzt in diesem Augenblick, und damit ist die Kluft überbrückt. Die Frage ist freilich, wie. Und die Antwort enthüllt sich, wie ich in Kapitel 3 gesagt habe, nur dem postformalen Gewahren. Die "unüberschreitbare Kluft" ist einfach ein anderer Ausdruck für den Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, der das Kennzeichen nicht von Descartes' Irrtum, sondern von aller Manifestation ist, was Descartes einfach mit außerordentlicher Scharfsicht festgestellt hat. Diese Kluft
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begleitet uns immer noch, und sie ist nach wie vor das Geheimnis im Herzen des Samsara, das durch nichts anderes als die postpostkonventionelle Entwicklung enthüllt werden kann. Bis dahin lösen sich alle reduktionistischen Ansätze jeglicher Richtung, ob sie linksseitig auf rechtsseitig oder rechtsseitig auf linksseitig oder irgendeinen Quadranten auf irgendeinen anderen reduzieren wollen, sich an den Säumen wie ein billiger Anzug auf. Solche Reduktionismen oder Elevationismen erzeugen, wie Joravsky sagt, "Mysterien oder Unsinn oder beides zusammen", und damit ist der Wissensstand der Bewusstseinsforschung exakt zusammengefasst. Wie wir im folgenden sehen werden, muss also die Methodologie einer integralen Theorie des Bewusstseins zweigleisig sein: Das eine ist die parallele Verfolgung der einzelnen Ebenen und Linien in jedem der Quadranten, das andere die Aufdeckung ihrer wechselseitigen Beziehungen, wobei eine Reduzierung der Quadranten auf einen einzigen in keiner Weise zulässig ist. Das andere ist die innere Transformation der Forscher selbst. Ich fürchte, dass dies der eigentliche Grund dafür ist, warum die linksseitigen Dimensionen des unmittelbaren Bewusstseins so nachdrücklich ignoriert und aggressiv desavouiert wurden. Rechtsseitige Erkenntnispfade kann man immer ohne die Notwendigkeit einer inneren Transformation beschreiten; man lernt einfach eine neue Translation. (Genauer gesagt: Die meisten Forscher haben bei ihrem Wachstumsprozess die Stufe des Form-op oder der Schau-Logik erreicht, und höhere Transformationen sind für empirisch-analytische oder systemtheoretische Untersuchungen nicht notwendig.) Die linksseitigen Wege erfordern jedoch irgendwann Bewusstseinstransformationen beim Forscher selbst. Man kann sich das ganze Wissen der Quantenphysik aneignen, ohne das Bewusstsein zu transformieren, aber dies ist in keiner Weise bei Zen möglich. Man braucht keine Transformation, um Dennetts Consciousness Explained zu verstehen, sondern man transferierf einfach. Dagegen ist es ohne Transformation nicht möglich, Plotins Enneaden wirklich zu verstehen. Man besitzt das notwendige Rüstzeug für Dennett, weil man wie er schon zur Rationalität transformiert ist, weshalb man die Referenten von Dennetts Sätzen ohne weiteres sehen kann (ob man seinen Ansichten zustimmt oder nicht; man sieht zumindest, worauf er sich bezieht, weil seine Referenten klar und deutlich im rationalen Welt-Raum existieren). Wenn man dagegen keine Transformation in die kausalen und nichtdualen Reiche durchlaufen hat oder nicht zumindest eine starke Intuition von diesen hat, kann man die Referenten von Plotins Sätzen nicht sehen. Man versteht sie einfach nicht. Man glaubt, dass Plotin
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"Dinge sieht" – und dies ist ja auch in der Tat so. Aber jeder Mensch kann diese Dinge sehen, der die Transformation in diese Welt-Räume vollzieht, wo dann die Referenten von Plotins Sätzen, die im kausalen und nichtdualen Welt-Raum existieren, sonnenklar werden. Und diese Transformation ist unabdingbarer Bestandteil des Paradigmas – der Injunktion – für eine integrale Betrachtungsweise des Bewusstseins. Es sind also diese beiden Dinge, die gleichzeitige Betrachtung aller Quadranten und die Transformation des Forschers selbst, gleichermaßen für eine integrale Betrachtungsweise des Bewusstseins notwendig. Eine integrale Theorie des Bewusstseins ist, um dies klarzustellen, keine eklektische Zusammenführung der in diesem Buch dargestellten großen Ansätze, sondern vielmehr eine integrierte Vorgehensweise, die sich zwangsläufig aus der holonischen Natur des Kósmos ergibt. Natürlich ist die Methodologie eines integralen Ansatzes komplex, aber sie ergibt sich aus den schon dargestellten einfachen Leitlinien: Drei Stränge und vier Geltungsansprüche mit jeweils zehn Ebenen. Gehen wir dies noch einmal kurz durch. Die drei für alle gültige Erkenntnis notwendigen Stränge sind Injunktion, Wahrnehmung und Bestätigung (oder Musterbeispiel, Beobachtung und Bestätigung/Widerlegung, oder Instrument, Daten, Widerlegbarkeit). Diese drei Stränge sind bei der Erzeugung aller gültigen Erkenntnisse wirksam, und zwar auf allen Ebenen und in allen Quadranten. Dies ist jedenfalls meine Auffassung. Jeder Quadrant besitzt jedoch eine unterschiedliche Architektur und damit eine andere Art von Geltungsanspruch für die drei Stränge: Propositionale Wahrheit (oben rechts), subjektive Wahrhaftigkeit (oben links), kulturelle Bedeutsamkeit (unten links) und funktionelles Passen (unten rechts). Weiterhin gibt es in jedem dieser Quadranten neun oder zehn Hauptentwicklungsebenen, weshalb das Erkenntnisstreben auf dem Weg durch diese unterschiedlichen Ebenen unterschiedliche Formen annimmt. Die drei Stränge und die vier Geltungsansprüche sind uneingeschränkt wirksam, aber jeweils mit etwas anderen Konturen. Nehmen wir zum Beispiel einen Forscher, dessen individuelles Bewusstsein der obere linke Quadrant ist, ein Spektrum von neun oder zehn Ebenen, die wir unter anderem als Materie, Körper, Geist, Seele und GEIST zusammengefasst haben. Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, kann man dies weiter vereinfachen zu Körper, Geist und GEIST, den traditionellen "drei Augen" der Erkenntnis: Das Auge des Fleisches, das Auge des Geistes (mind) und das Auge der Kontemplation (dies ist lediglich eine Vereinfachung; alles, was ich im folgenden sagen werde, gilt für alle zehn Ebenen, nicht nur die Vereinfachungen).
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Das Auge des Geistes kann nun gewissermaßen nach oben, nach unten oder seitwärts blicken." Der Geist (Verstand und Schau-Logik) kann Daten aus den Sinnen, Daten aus dem Geist selbst oder Daten aus der Kontemplation empfangen. Im ersteren Fall bekommt man empirisch-analytische Erkenntnis (das heißt symbolische Erkenntnis präsymbolischer Formen, deren Referenten im sensomotorischen WeltRaum existieren), im zweiten hermeneutische, phänomenologische und mathematische Erkenntnis (symbolische Erkenntnis von symbolischen Formen, deren Referenten im mentalen und formalen Welt-Raum existieren) und im dritten mandalische Wissenschaften (symbolische Landkarten von transsymbolischen Sachverhalten, deren Referenten in den postformalen Welt-Räumen existieren). Alle diese verschiedenen Erkenntnismodi gehorchen aber auf allen zehn Ebenen stets den drei Strängen gültigen Erkenntnisgewinns und sind daher in einer echten und begründbaren Epistemologie verankert (eine ausführliche Erörterung dieses Themas siehe in Kapitel 3). Die drei Stränge, vier Ansprüche und zehn Ebenen liefern also eine recht vollständige Methodologie des Wissenserwerbs, und dies führt direkt zu einer integralen Theorie des Bewusstseins. Ich möchte noch einmal einige der im Haupttext erwähnten wichtigeren Ansätze aufgreifen und ganz kurz aufzeigen, worum es geht. Die emergentistischen/konnektivistischen Modelle der KognitionsWissenschaft (wie zum Beispiel Alwyn Scotts Stairway to the Mind) wenden die drei Stränge des Erkenntniserwerbs auf den oberen rechten Quadranten an, die objektiven Aspekte individueller Holons. Richtschnur für Aussagen hierüber ist der auf empirisch beobachtbare Ereignisse angewandte Geltungsanspruch der propositionalen Wahrheit, das heißt, bei diesem Ansatz anerkennen die drei Stränge nur solche Holons, die im sensomotorischen Welt-Raum nachweisbar sind (das heißt Holons mit einem einfachen Ort, die mit den Sinnen oder ihren Verlängerungen empirisch beobachtbar sind). Dennoch sind alle Holons ausnahmslos holarchisch, in unendlicher Fortsetzung aus hierarchischen Holons in Holons zusammengesetzt, das heißt, dieser emergentistische/konnektivistische Ansatz wendet die drei Stränge auf objektive, äußere, hierarchische Systeme an, wie sie im individuellen, objektiven Organismus (dem oberen rechten Quadranten) erscheinen. Dies ist völlig in Ordnung, allerdings nur so lange, wie diese Ansätze nicht ihren epistemischen Geltungsbereich verlassen und versuchen, ausschließlich mit ihren eigenen Begriffen auch Aussagen über die anderen Quadranten zu machen. Im Falle der emergentistischen/konnektivistischen Theorien heißt dies, dass sie eine gültige Hierarchie des oberen rechten Quadranten vorlegen (von
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Atomen über Moleküle, Zellen, neuronale Organismen, Reptilienhirn und limbisches System bis zum Neokortex); dann aber soll das Bewusstsein irgendwie auf wunderbare Weise auf der obersten Ebene erscheinen (das heißt, die linksseitigen Dimensionen werden als monolithische und monologische einzelne Entität behandelt, die als "Bewusstsein" einfach an das obere Ende der rechtsseitigen Hierarchie platziert wird; man sieht nicht, dass jeder Stufe der rechtsseitigen Hierarchie eine Bewusstseinsebene in der inneren oder linksseitigen Dimension entspricht). So gibt Scott eine Standardhierarchie für den oberen rechten Quadranten an, deren Stufen Moleküle, biochemische Strukturen, Nervenimpulse, Neuronen, Neuronenketten und das Gehirn sind. Erst dann tauchen bei ihm urplötzlich "Bewusstsein und Kultur" als seine beiden obersten Ebenen auf. Aber Bewusstsein und Kultur sind natürlich keine Ebenen des oberen rechten Quadranten, sondern eigene Quadranten mit einer eigenen, wenn auch korrelierenden Entwicklungshierarchie (jede dieser Stufen ist dabei eng mit dem oberen rechten Quadranten verbunden, ohne aber in irgendeiner Weise auf diesen reduziert oder durch diesen erklärt werden zu können). Eine integrale Theorie des Bewusstseins schließt also die Hierarchie des oberen rechten Quadranten und diejenigen Aspekte der emergentistischen/ konnektivistischen Modelle sehr wohl ein, die eine gültige Darstellung dieses Bereichs geben; aber sobald diese Theorien ihren epistemischen Geltungsbereich verlassen und sich damit in einen bloßen Reduktionismus verwandeln, muss man sie aufgeben. Der grundlegende Referent der verschiedenen Schulen des Introspektionismus ist die innere Intentionalität des Bewusstseins, die unmittelbar gelebte Erfahrung und Lebenswelt des Individuums (der obere linke Quadrant). Diese Ansätze wenden also die drei Stränge gültiger Erkenntnis auf die Daten des unmittelbaren Bewusstseins an, und zwar unter Heranziehung des Geltungsanspruchs der Wahrhaftigkeit (weil für die Darstellung innerer Sachverhalte Aufrichtigkeit unabdingbar ist: anders gelangt man nicht an Inneres). Der Introspektionismus steht in einem engen Zusammenhang mit Interpretation (Hermeneutik), weil die meisten Bewusstseinsinhalte referentiell und intentional sind, weshalb ihre Bedeutung einer Interpretation bedarf: Was bedeutet dieser Satz? Der Traum von heute nacht? Krieg und Frieden? Wie wir gesehen haben (Einleitung, Kapitel 3, 4 und 5), gehorcht alle gültige Interpretation den drei Strängen Injunktion, Beobachtung und Bestätigung. Im Fall des Introspektionismus werden diese drei Stränge auf symbolische/referentielle Sachverhalte und nicht bloß auf sensomotorische Sachverhalte angewandt, die lediglich empirisch-
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analytische Erkenntnisse liefern würden. Wie jeder weiß, ist diese interpretative und dialogische Erkenntnis schwieriger und subtiler als die eklatante Offensichtlichkeit des monologischen Blicks, weshalb sie aber nicht weniger wichtig ist (im Gegenteil). Die introspektiven/interpretativen Ansätze, von der Tiefenpsychologie über die Phänomenologie bis zur Kontemplation, verschaffen also Erkenntnisse über die inneren Umrisse des individuellen Bewusstseins. Diese Aufklärung und Aufhellung des oberen linken Quadranten ist eine wichtige Facette einer integralen Deutung des Bewusstseins. Die Entwicklungspsychologie geht nun noch einen Schritt weiter und beschäftigt sich mit den Stufen der Entfaltung dieses individuellen Bewusstseins. Weil sie meist einen eher wissenschaftlichen Status für sich beansprucht, verbindet die Entwicklungspsychologie oft eine Untersuchung der inneren oder linksseitigen Erfahrungsinhalte (der "Semantik" des Bewusstseins, deren Richtschnur interpretative Wahrhaftigkeit und intersubjektives Verständnis sind) mit einer rechtsseitigen oder objektiven Analyse der Bewusstseinsstrukturen (der "Syntax" des Bewusstseins, deren Richtschnur propositionale Wahrheit und fünktionelles Passen sind). Dieser "Entwicklungsstrukturalismus" hat seine Wurzeln insbesondere in der Piagetschen Revolution; er ist ein unverzichtbares Werkzeug für die Aufhellung des Bewusstseinsbegriffs und ein wesentlicher Aspekt eines jeglichen integralen Ansatzes. (Allerdings vereinen diese Ansätze nur selten die Semantik und die Syntax der Stufen der Bewusstseinsentwicklung in einer klaren Weise miteinander, und eine pragmatische Integration ist mein besonderes Anliegen.) Östliche Modelle und Modelle außergewöhnlicher Bewusstseinszustände betonen, dass es mehr Dinge im oberen linken Quadranten gibt, als sich unsere Philosophie träumen lässt, von unseren herkömmlichen Psychologien ganz zu schweigen. Die drei Stränge aller gültigen Erkenntnis werden hier auf nonverbale, postformale und postpostkonventionelle Zustände angewandt. So gibt es im Zen zum Beispiel eine primäre Injunktion oder ein primäres Paradigma (Zazen, Meditation im Sitzen), die zu unmittelbaren Erfahrungsdaten führt (Kensho, Satori), die wiederum von der Gemeinschaft derjenigen, die die beiden ersten Stränge durchgeführt haben, auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden. Schlechte Daten werden ohne Ausnahme zurückgewiesen, und all dies unterliegt einer ständigen Überprüfung und Änderung im Lichte weiterer Erfahrungen und von der Gemeinschaft hervorgebrachter Daten. Anders kann man ja auch nicht vorgehen: Keine Theorie des Bewusstseins kann für sich in Anspruch nehmen, vollständig zu sein, wenn sie die Daten
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aus den höheren oder tieferen Dimensionen des Bewusstseins ignoriert; diese Erkundung der ferneren Bereiche des oberen linken Quadranten ist ein zentraler Aspekt einer integralen Theorie des Bewusstseins. Die Anhänger des Gedankens der feinstofflichen Energien (Prana, Bioenergie) bereichern das Puzzle dieser Untersuchungen um ein wichtiges Stückchen. Allerdings scheinen sie oft zu glauben, dass diese feinstofflichen Energien der zentrale oder gar der einzige Aspekt des Bewusstseins seien, während sie lediglich eine der unteren Dimensionen des Gesamtspektrums darstellen (Prana wird manchmal in astralische und ätherische Energie unterteilt, doch sind all dies untere bis mittlere Ebenen.) Für die Theoretiker der Großen Kette in Ost und West ist Prana einfach das Bindeglied zwischen dem materiellen Körper und dem geistigen Bereich (siehe Kapitel 1), und in gewissem Sinne scheint mir dies völlig richtig zu sein. Das Entscheidende an einer alle vier Quadranten berücksichtigenden Analyse ist aber, dass die von den Traditionen als körperlos, transzendent und nichtmateriell aufgefassten Modi Korrelate im materiellen Bereich haben; jeder linksseitige Sachverhalt hat eine rechtsseitige Entsprechung. Deshalb spricht man zutreffender vom physischen Körper-Geist, vom emotionalen KörperGeist, vom mentalen Körper-Geist usw. In dieser Weise lässt man transzendente Sachverhalte zu und stellt sie zugleich auf eine feste Grundlage. Nach dieser Konzeption ist Prana schlicht der emotionelle Körper-Geist im allgemeinen, der Korrelate in allen vier Quadranten hat (im Subjektiven die Protoemotionen, im Objektiven das limbische System, im Intersubjektiven das magische und im Interobjektiven das Stammesverhalten). Natürlich wird die Erkundung dieser subtileren Prana-Energien dadurch erschwert, dass sie als Stufe jenseits der physischen Dimension im sensomotorischen Welt-Raum nicht empirisch beobachtet werden können (sie existieren im emotionellen Welt-Raum, und dort können sie ohne weiteres beobachtet werden, zum Beispiel immer dann, wenn man Zorn, Freude oder Hunger empfindet; dies kann man unter Beachtung der drei Stränge intersubjektiv mitteilen und bestätigen). Weiterhin können die objektiven Aspekte dieser Energien ebenfalls erkundet werden, und zwar zum einen mit den üblichen empirischen Verfahren zur Erforschung des Gehirns und des limbischen Systems mit Verfahren wie Emissionscomputertomographie und Elektroenzephalogramm (Anwendung der drei Stränge auf die empirischen Korrelate), und zweitens mit den etwas schwierigeren Bemühungen, deren Einflüsse auf den dichteren materiellen Bereich festzustellen, wobei ebenfalls die drei Forderungen Instrumente, Daten und Bestätigung gelten (wie dies unter
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anderem Forscher wie Tiller und Motoyama versucht haben; eine vorzügliche Übersicht findet sich in Murphy 1992). Nicht hilfreich ist dagegen die Behauptung, dass in diesen Energien allein der Schlüssel zum Bewusstsein läge. Ähnliches gilt für die Psi-Ansätze, die natürlich zu den kontroverseren Aspekten der Bewusstseinsforschung zählen (u. a. Telepathie, Vorauswissen, Psychokinese, Hellsichtigkeit). Ich bin der Ansicht, dass heute die Existenz bestimmter Arten psychischer Phänomene nicht mehr ernsthaft bestritten werden kann. Hiermit habe ich mich in dem Buch Die drei Augen der Erkenntnis auseinandergesetzt, wo ich auch die Anwendung der drei Stränge auf Psi-Ereignisse behandle, und ich möchte meine Befunde hier nicht wiederholen. Ich möchte lediglich betonen, dass die Einsicht, dass der sensomotorische Welt-Raum nur einer von mindestens zehn Welt-Räumen ist, von dem absurden Versuch Abstand nehmen lässt, alle Erscheinungen ausschließlich auf der Grundlage empirischer Sachverhalte erklären zu wollen. Weil andererseits der sensomotorische Welt-Raum das Fundament der Weltsicht des naturwissenschaftlichen Materialismus ist, wird es gern über alle Massen aufgebläht, wenn einmal irgendein Beweis für nicht-sensomotorische Sachverhalte wie Psi gefunden wird. Natürlich lassen sich Psi-Ereignisse nicht uneingeschränkt in den sensomotorischen Welt-Raum einordnen, aber dies gilt genauso für Logik, Mathematik, Dichtkunst, Geschichte, Bedeutung, Wert oder Moral. Wozu also die Aufregung? Es gibt viele Hinweise darauf, dass PsiPhänomene vorkommen, und wenn es hierfür keine sensomotorische Erklärung gibt, folgt daraus nicht, dass es kein Psi gäbe, sondern dass man die Phänomenologie dieser Erscheinungen in anderen WeltRäumen erkunden muss. Jede integrale Theorie des Bewusstseins muss also diese Erscheinungen und die Belege für ihre Existenz ernst nehmen. Von dem Dutzend der Bewusstseinstheorien, die ich im Haupttext behandelt habe, ist meiner Meinung nach der Quanten-Ansatz der einzige, für den es derzeit keine sicheren Beweise gibt, und wenn ich sage, dass man ihn in eine integrale Bewusstseinstheorie aufnehmen könne, lasse ich damit lediglich die Möglichkeit offen, dass er sich eines Tages als brauchbar erweisen könnte. In Die drei Augen der Erkenntnis untersuche ich die verschiedenen Interpretationen der Quantenmechanik und ihre mögliche Bedeutung für die Bewusstseinsforschung. Ich will diese Diskussion hier nicht wiederholen; es sei lediglich gesagt, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt die theoretischen Schlussfolgerungen (wie zum Beispiel die Aussage, dass Intentionalität die Wellenfunktion zusammenbrechen lässt) auf äußerst spekulativen Annahmen beruhen, denen die meisten Physiker keine
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gesicherte Grundlage zubilligen. Das Kernproblem bei diesen Ansätzen liegt meiner Meinung nach darin, dass sie den Subjekt/Objekt-Dualismus auf einer Ebene aufzulösen versuchen, auf der er nicht aufgelöst werden kann; wie ich oben gesagt habe, liegt die einzige (Auf-)Lösung des Problems in einer postformalen Entwicklung, und keine noch so großen formalen Anstrengungen können einer solchen Lösung irgendwie nahe kommen. Trotzdem sind solche Forschungen durchaus nützlich, und sei es nur um der Erkenntnisse willen, die man bei ihrem Scheitern gewinnt. In einem positiveren Sinne könnten sie dazu beitragen, einiges von den Wechselwirkungen zwischen biologischer Intentionalität und Materie aufzuhellen. Alle diese Ansätze zielen auf den einzelnen Menschen. Die kulturellen Ansätze verweisen dagegen darauf, dass individuelles Bewusstsein nicht von alleine entstehen kann. Alle subjektiven Ereignisse sind immer auch intersubjektive Ereignisse. Es gibt keine persönliche Sprache, und es gibt kein autonomes Bewusstsein (mit Ausnahme des GEISTES-als-GEIST, der aber ohnehin nicht individuell ist). Die Worte, die ich hier gebrauche und die Sie hier lesen, wurden weder von Ihnen noch von mir erfunden, und Sie stammen weder ausschließlich aus meinem Bewusstsein noch ausschließlich aus Ihrem Bewusstsein. Vielmehr befinden wir uns beide in einem großen intersubjektiven Welt-Raum, in dem wir leben und sind. Dieser kulturelle Welt-Raum, der untere linke Quadrant, formt die Struktur, Kontur und Tönung Ihres und meines Bewusstseins mit, und keine Theorie des Bewusstseins wäre ohne diese wichtige Dimension vollständig. Bei diesen kulturellen Ansätzen werden die drei Stränge auf den intersubjektiven Kreis selbst angewandt, die Tiefensemantik der Bedeutungswelten, in denen Sie und ich gemeinsam existieren. Diese kulturellen Welt-Räume evolvieren und entwickeln sich (von archaisch über magisch, mythisch, mental usw.), und die Anwendung dieser drei Stränge auf diese Welt-Räume enthüllt unter der Voraussetzung von gegenseitigem Verständnis und Angemessenheit diese kulturellen Konturen des Bewusstseins. Genau dies ist der Weg, den diese bedeutsamen Ansätze einschlagen. Auch dies ist eine entscheidende Komponente einer integralen Theorie des Bewusstseins. Ähnliches gilt für die Gesellschaftswissenschaften: Die materiellen Grundlagen der Kommunikation, die technisch-wirtschaftliche Basis und das Gesellschaftssystem im objektiven Sinne prägen ebenfalls die Konturen des Bewusstseins. Die drei Stränge liefern nach Maßgabe propositionaier Wahrheit und funktionellen Passens auf ihren jeweiligen Ebenen diese sozialen Determinanten. Der engere marxistische Ansatz
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ist natürlich längst in Misskredit geraten (wiederum einfach deshalb, weil er seinen Geltungsbereich überschritt und alle vier Quadranten auf den unteren rechten reduzierte); das Moment der Wahrheit liegt im historischen Materialismus jedoch darin, dass die Produktionsweisen einen tiefgreifenden und konstituierenden Einfluss auf den Inhalt des individuellen Bewusstseins ausgeübt haben, weshalb die Aufdeckung dieser sozialen Determinanten für eine integrale Theorie des Bewusstseins absolut unerlässlich ist. Ich hoffe, dass diese Darstellung bei aller Kürze doch die Umrisse der Methodologie einer integralen Theorie des Bewusstseins aufzeigen und deutlich machen konnte, dass jeder weniger umfassende Ansatz unzulänglich ist. Der integrale Aspekt liegt darin, dass jede Ebene und jeder Quadrant als solcher erkundet wird und dann die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen ermittelt werden, wobei kein Quadrant auf einen anderen reduziert werden darf. Deshalb beinhaltet, wie ich oben schon gesagt habe, ein integraler Ansatz gegenüber dem Bewusstsein zwei wesentliche Elemente: Das eine ist die parallele Darstellung von Ereignissen auf allen Quadranten und allen Ebenen, das andere die innere Transformation des Forschers selbst (dieses integrale Modell habe ich auch als Wilber-IV bezeichnet). Jeder der im Haupttext behandelten Ansätze hat darin einen wichtigen und unverzichtbaren Platz, und zwar nicht im Sinne eines Eklektizismus, sondern als wesentlicher Aspekt eines holonischen Kósmos. Eine ausführlichere Erörterung dieser Themen siehe in Wilber "An Integral Theory of Consciousness", demnächst erscheinend im Journal of
Conscious Studies. 14 1989, S. 173. 15 1994, S. IX, Hervorhebungen vom Verfasser. 16 McDermott geht mit mir wegen einiger polemischer Fußnoten in Eros, Kosmos, Logos heftig ins Gericht. Nach Rücksprache mit Verlegern, Lektoren und Kollegen habe ich mich in der Tat dafür entschieden, einige in einem polemischen/ironischen Unterton gehaltene Fußnoten anzufügen, in denen ich vielleicht neun oder zehn Theoretiker (von mehreren Hunderten, mit denen ich mich befasst habe) in scharfer Form kritisiere. Es handelt sich dabei um Leute, die sich selbst gerne eines polemischen und teilweise beißenden Tons bedienen. Sie verurteilen in aggressiver Weise Kulturen und Zivilisationen, prügeln gnadenlos auf Männer ein oder erklären ohne jeden Hauch von Ironie, dass sie allein im Besitz des neuen Paradigmas seien. Leute, die anderer Meinung sind als sie, kanzeln sie oft in gehässiger Weise ab. Ich habe es mir in diesen Fußnoten einfach gestattet, die Zurückweisung ihrer Argumente mit einer Prise ihrer eigenen Medizin zu würzen.
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Aus dem runden Dutzend von Bewegungen, die eine besonders regressive oder dem Flachland verpflichtete Auffassung vertreten – oder die einem reinen Abstiegs- bzw. Aufstiegsszenario anhängen –, habe ich einen oder zwei typische Vertreter ausgewählt. Zu diesen zänkischen Bewegungen gehören einige der bloß abgestiegenen (und regressiven) Aspekte des Ökofeminismus, der Tiefenökologie, des Ökoholismus und des Ökoprimitivismus, einige der regressiven Aspekte der jungianischen, archetypischen und mythopoetischen Bewegungen, Astrologie und Astro-Logik als mythische Mitgliedschaft, monologische Physik ist gleich Mystik, monologische Systemtheorie, Positivismus und reine AbstiegsGnosis (östliche und westliche). Ich habe hieraus jeweils ein repräsentatives Beispiel gewählt und eine polemische Antwort gegeben. McDermott bedauert dies; ich betrachte diese Polemik aber als wesentlichen Bestandteil des Buchs, ohne den es seinen Zweck nicht erfüllt hätte (ich hatte verschiedene Gelegenheiten, diese Fußnoten zu ändern, aber ich sah keinen Grund hierfür). Zugleich bin ich natürlich gern bereit, in einen Dialog mit diesen Theoretikern einzutreten, wie ja auch die sich über drei Fortsetzungen erstreckende Diskussion im ReVision Journal belegt. Eros, Kosmos, Logos wurde zum zentralen Thema dieser Diskussion, und für mich ist das Positive daran, dass dadurch das Gespräch richtig in Gang gekommen ist. Manche Theoretiker wurden dadurch auch gezwungen, ihre Karten wirklich auf den Tisch zu legen. McDermott meint, dass der Ton dieser Fußnoten das Gespräch behindert hätte, während genau das Gegenteil der Fall ist. Die Leute sahen sich genötigt, klar dafür oder dagegen Stellung zu beziehen, und dies ist, wie mir scheinen will, doch etwas Gutes.
12: Immer schon 1 Kunsang 1986. 2 Die meisten nichtdualen Schulen kennen mehrere Stufen der nachnirvanischen Entwicklung, die zur nichtdualen Erleuchtung führen, und mehrere Entwicklungsstufen nach der Erleuchtung, durch die das allgegenwärtige Gewahrsein den ganzen Körper-Geist von oben nach unten neu ausrichtet (wie man eine Hängebrücke baut). Nachfolgend eine typische Klassifizierung der nach-nirvanischen und nachilluminatorischen Entwicklungswellen (ich glaube, dass diese Wellen genügend belegt sind, um in mein integrales Modell aufgenommen zu
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werden). Wir beginnen beim Nirvana selbst. Nirvana im klassischen Sinne ist dauerhafte Erlangung des Nirvikalpa-Samadhi oder Verlöschens, das heißt der Eintritt in das reine, kausale, formlose, nichtmanifeste Reich (die Vorsilbe nir in Nirodha, Nirvikalpa oder Nirvana bedeutet "ohne", "fehlen" oder "aufhören"). Aber die nichtdualen Schulen behaupten, dass dies noch ein bedingter Zustand ist, der gegenüber dem ganzen Reich der Manifestation abgegrenzt ist. Deshalb ist zum Beispiel der Zustand des bedingten Nirvikalpa-Samadhi nur das achte der zehn Ochsenbilder des Zen, die die post-postkonventionelle Entwicklung darstellen (dieses achte Bild ist ein leerer Kreis, "nir"). Jenseits des bedingten Nirvikalpa-Samadhi kennen die verschiedenen nichtdualen Traditionen eine Reihe von Stufen oder Entwicklungswellen, die letztlich zu einer dauerhaften und spontanen Erkenntnis des Immer-Schon-Zustandes führen (das heißt zum inneren, leuchtenden, einfachen, nackten, allgegenwärtigen Gewahren selbst), zu einer spontanen und fortwährenden Erkenntnis, die oft als SahajaSamadhi bezeichnet wird. Diese nach-nirvanischen Entwicklungen verlaufen von einem bedingten Nirvikalpa-Samadhi zum Sahaja-Samadhi, und zwar meist in einer Aufeinanderfolge von etwa drei großen Wellen, nämlich (1) Erkenntnis der Subjektpermanenz (durchgehendes Gewahrsein im Wach-, Traum- und Tiefschlafzustand), (2) Ausmerzung der subtilsten der Subjekt-Objekt-Spannungen, die das kausale Herz umgeben und die Empfindung eines getrennten Selbst stabilisieren, so dass (3) die letzten Reste einer Dualität in das Licht eines allgegenwärtigen Gewahrens getaucht werden und (4) schließlich der nichtduale Sahaja-Zustand ohne Anstrengung in allen Zustandsveränderungen erkannt wird. Sahaja selbst ist "nichtduale Erleuchtung", jenseits deren die Entwicklungen oder Wellen nach der Erleuchtung liegen, die zum BhavaSamadhi führen, der Überstrahlung und Verherrlichung der ganzen manifesten und nichtmanifesten Welten. Diese Entwicklungen geschehen im Raum des Sahaja, im nichtdualen Raum des einfachen, allgegenwärtigen Gewahrens, wenn sich der Körper-Geist von den Qualen der Selbst-Zusammenziehung befreit hat, das heißt, wenn die Erkenntnis eintritt, dass diese Selbst-Zusammenziehung nicht existiert, niemals existierte und niemals existieren wird. Durch diese Erkenntnis wird der Körper-Geist zu seinem eigenen ursprünglichen Zustand verherrlicht, der nackten Luminosität, die selbstevident und ewig ihre eigene Äusserung ist.
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Colophon Die Fußnoten 5.5, 5.8, 10.7, 10.12 und 10.14 sind in dem Original gebrochen. Die Sanskrit-Begriffe wurden mit einfachem lateinischen Satz umgeschrieben, da sie im Original z.T. falsch waren. Andererseits sind sie auch in anderen KW-Werken auf dieselbe Art umgeschrieben.
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