Seewölfe 325 1
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Arwenack, der Schimpanse, stieß ein warnendes Keckern aus. Batuti wirbelte herum. Nur...
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Seewölfe 325 1
Burt Frederick 1.
Arwenack, der Schimpanse, stieß ein warnendes Keckern aus. Batuti wirbelte herum. Nur einen winzigen Moment hatte er nicht aufgepaßt und seinen Blick auf die Ostsee hinauswandern lassen. Der Bärtige flitzte von seinem Lotsenplatz weg, als säße ihm der Teufel selbst im Nacken. Nicht einmal Pete Ballie, der das Ruder mit seinen Riesenfäusten hielt, konnte schnell genug reagieren. In wilder Flucht hastete der Finne auf die Verschanzung an Steuerbord zu. „Der geht über Bord!“ brüllte Pete Ballie. Der schwarze Herkules aus Gambia, der im selben Moment losschnellte, knurrte nur. Die letzte Distanz von zwei Schritten überbrückte er mit einem Sprung, wie von einer Bogensehne abgefedert. Der Bärtige, schon halb auf dem Schanzkleid, schrie auf. Batuti erwischte ihn an den Fußgelenken und riß ihn unbarmherzig herunter. Hart schlug der Finne auf die Planken. Sofort war Batuti über ihm, drückte ihm die Oberarme mit den Knien vom Körper weg und versetzte ihm zwei Ohrfeigen, deren Klatschen bis zum Vordeck der „Isabella IX.“ zu hören war. „Ganz ruhig, du Bastard“, sagte Batuti drohend und rollte wild mit den Augen. „Sofort wieder an die Arbeit, oder du kriegst richtige Prügel!“ Das Gesicht des Finnen war schmerzverzerrt. Krampfhaft nickte er. Als sein Bezwinger von ihm zurückwich, begab er sich eilends wieder auf seinen Platz neben dem Ruderhaus. Nur weil er dort gebraucht wurde, hatte Batuti darauf verzichtet, ihn ins Traumland zu befördern. * Sie hatten dazugelernt. Und weder Philip Hasard Killigrew noch die übrigen Männer an Bord der „Isabella“ empfanden es so, daß sie sich einen Zacken aus der Krone brachen. Nein, für sie war es keine Schande, eine vorgefaßte
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Meinung zu ändern. Denn neue Erfahrungen hatte es mehr als genug gegeben, seit sie durch das Baltische Meer segelten. Da war niemand mehr in der Crew des Seewolfs, der die Ostsee noch einen Spucknapf nannte. Vergessen war das abfällige Grinsen, mit dem sie seinerzeit die königliche Geheimorder quittierten, die Hasard bei Skagen erbrochen hatte. Eine Vergnügungsreise war daraus nicht geworden, ganz gewiß nicht. Nun, an diesem Nachmittag des 12. März 1593, atmeten die Männer an Bord des schlanken englischen Dreimasters auf. Wahre Felsbrocken der Erleichterung rumpelten ihnen vom Herzen. Denn hinter ihnen lagen Tage mörderischer Schinderei. Das mühsame Lavieren durch das Labyrinth der Schären und Klippen vor der südwestlichen Küste Finnlands hatte alle gegenteiligen Meinungen endgültig beseitigt: Diese dreimal verdammte Ostsee war kein läppischer Suppenkübel. Jedem ahnungslosen Prahler, der das in Englands Hafenschenken jemals noch behaupten sollte, konnten die Seewölfe etwas anderes erzählen. Besagte Geheimorder, Handelsbeziehungen mit den baltischen Ländern anzuknüpfen, war mit verteufelten Hindernissen verbunden. Das hatte die Crew des Seewolfs zu spüren gekriegt. Knüppeldick. Wenn sie den Kerl auf dem Achterdeck nur ansahen, konnte ihnen nachträglich die Galle hochsteigen. Ein bißchen von seiner Wildheit hatte er verloren, dieser bärtige Finne. Bis vor weniger als zehn Stunden war er noch versessen darauf gewesen, die „Isabella IX.“ auseinanderzunehmen. Mit einer ganzen Armada von Fischerbooten war er aufgekreuzt. Aber die Seewölfe hatten ihm und seiner Meute den Hosenboden strammgezogen, und entsprechend klein und häßlich sah er jetzt aus -wozu auch beitragen mochte, daß Hasard zwei besondere Aufpasser neben ihm auf das Achterdeck gestellt hatte. Batuti, der schwarze Riese aus Gambia, war für einen weltfremden Inselfinnen
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schon ein furchterregender Anblick. Und Arwenack, der Schimpanse, sorgte mit Zähnefletschen und wüsten Drohgebärden immer von neuem dafür, daß dem Bärtigen ein Schauer über den Rücken lief. Auf diese Art und Weise hatte er brav und folgsam den Lotsen gespielt, seit die Seewölfe seiner Finnenmeute am Morgen dieses Tages die Kähne unter den Hintern weggeschossen hatten. Mit auf getuchten Segeln und sorgsam vertäut lag die „Isabella“ nun an der Pier im Hafen von Abo, jenem bedeutenden Handelszentrum an der Südwestküste Finnlands. Ein feuchtkalter Wind wehte vom Bottnischen Meerbusen her in die Mündung des Aurajoki, der, durch zahlreiche größere Inseln und Schären geschützt, ideale Voraussetzungen für den Aufstieg der Hafenstadt Abo bot. Bleigraue Wolken hingen tief über dem Mastenwald mit seiner Vielfalt von Geräuschen. Kein Traumklima für sonnenverwöhnte englische Seelords, die die Karibik und andere paradiesische Winkel dieser Erde kennengelernt hatten. Trotzdem war ihre Stimmung weit vom Nullpunkt entfernt. Der Landgang, der nun in Aussicht stand, ließ das langwierige Herumgurken im Inselgewirr und die sonstigen Tücken der Ostsee rasch in Vergessenheit geraten. Der Seewolf wandte sich von der Heckbalustrade ab. An Land, vor Kontorhäusern und Lagerschuppen, scharten sich die ersten Gaffer zusammen. Finnische Wortfetzen wehten herüber, aber auch andere Sprachen waren zu hören, wie die unverkennbar kehligen Laute aus den östlichen Ländern des Baltikums. Deutliches Staunen war zu vernehmen, denn allein ein englisches Schiff war schon ein ungewohnter Anblick in diesen Breiten. Einen Dreimaster von so schlanker Bauweise wie die „Isabella IX.“ hatte jedoch noch niemand gesehen. Dieses Meisterwerk der Schiffbaukunst, auf der Werft des alten Ramsgate in Plymouth entstanden, war seiner Zeit weit voraus und verdiente es, bewundert zu werden.
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„Keine Spanier“, stellte Ben Brighton fest, Erster Offizier und Stellvertreter des Seewolfs. Er folgte Hasard, der auf den unfreiwilligen Lotsen zutrat. Hasard lächelte. Ben spielte auf Wisby an. Dort, auf Gotland, waren sie mit dem räuberischen Kapitän Juan de Gravina aneinandergeraten. Doch hier in Abo ging es nicht um das Gold der Ostsee, um den Bernstein, der manchen Menschen wertvoll genug war, daß sie sich deswegen gegenseitig umbrachten. Der bärtige Zwangslotse knetete seine Finger, trat von einem Bein auf das andere und mühte sich, seinen Nebenmann nicht anzusehen. Batuti grinste bis zu den Ohren, wobei sein perlweißes Gebiß auf eindrucksvolle Weise sichtbar wurde. Und noch einmal rollte er wild mit den Augen, so, wie er den Finnen fortwährend in Schach gehalten hatte. Arwenack hüpfte um die Männer herum, ließ ein durchdringendes Keckern hören und stieß drohend die langen Arme hoch. „Es ist gut“, sagte Hasard und lachte. „Ihr habt eure Sache bestens erledigt. Schick mir Stenmark herauf, Batuti.“ „Nicht noch kleines Denkzettel für FinnenLump?“ entgegnete der Riese aus Gambia enttäuscht. Der Bärtige, der zwar die Worte nicht verstand, aber dennoch begriff, wich erschrocken einen Schritt zurück. „Nein, Schluß jetzt“, sagte der Seewolf energisch. Batuti zog die breiten Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. Deutlich war dem Bärtigen die Erleichterung anzumerken, als seine beiden fremdländischfurchterregenden Aufpasser endlich abzogen. Er starrte auf die Planken, denn er wollte die beiden Engländer nicht ansehen. Sie warteten auf den Schweden, soviel wußte er. Stenmark beherrschte als einziger an Bord die finnische Sprache. „Ich muß mich wundern“, sagte Ben Brighton gedehnt. „Ehrlich gesagt, ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn er uns doch noch auf eins der Unterwasserriffe hätte aufbrummen lassen.“
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„Ich denke, er ist froh, seine Haut retten zu können“, entgegnete Hasard. „Jedenfalls hätten wir ohne ihn mindestens drei oder vier Tage gebraucht, um Abo zu erreichen. Aber wahrscheinlich lag es auch an der guten Bewachung, daß er so prächtig gespurt hat.“ Ben Brighton lächelte versonnen. Schritte näherten sich. Stenmark enterte behende über den Niedergang zum Achterdeck auf und meldete sich zur Stelle. „Sag ihm, daß ich mit seinen Lotsendiensten zufrieden bin“, erklärte Hasard. „Ich habe Grund, ihn für einiges zu entschädigen. Von den Ängsten, die er wegen Batuti und Arwenack ausgestanden hat, wollen wir nicht reden. Aber er hat seine Schaluppe und eine Menge weiterer Fahrzeuge verloren. Und ganz unschuldig waren wir nicht an der Entwicklung der Dinge. Verklare ihm noch einmal, daß wir den Runenstein nicht absichtlich umgestürzt haben. Um die Sache zu einem guten Ende zu bringen“, Hasard zog ein Leinensäckchen aus der Tasche. das mit Silbertalern gefüllt war, „soll er dies als Entschädigung erhalten.“ „Aye, Sir“, sagte Stenmark, der große Augen bekommen hatte. Achselzuckend nahm er das Geldsäckchen, reichte es dem Finnen und begann, die Worte des Seewolfs zu übersetzen. „Fairneß ist ja ganz schön“, murmelte Ben Brighton, „aber meinst du nicht, daß dies ein bißchen zuviel des Guten ist?“ „Nein“, widersprach Hasard, „vergiß nicht, daß der Runenstein für die Finnen ein Heiligtum war. Und wenn wir zehnmal beteuern, daß wir das Ding für eine Felsnase gehalten haben und sie als Poller für unsere Trosse benutzten - sie werden uns das in hundert Jahren nicht glauben.“ Stenmark war mit seiner Übersetzung fertig, und der Finne nuschelte etwas in seinen Bart. Weiter vermied er es, die Engländer anzusehen. „Was sagt er?“ fragte Hasard. „Ob er jetzt abhauen kann“, erwiderte Stenmark mit hochgezogenen Schultern,
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als müsse er sich für die Schroffheit des Finnen entschuldigen. „Kann er“, sagte Hasard kurz entschlossen. Stenmark übersetzte, und der bärtige Finne verwandelte sich in einen geölten Blitz. Während er schon losrannte, stopfte er das Geldsäckchen unter seinen Gurt. Mit langen Sätzen hastete er über Quarterdeck und Kuhl und dann die Stelling hinunter. Augenblicke später war er im Menschengewirr an Land verschwunden. „Glaubst du, der ist dankbar?“ knurrte Ben Brighton. „Der lacht sich eins ins Fäustchen über deine Gutmütigkeit. Wenn du mich fragst, ein Tritt in den Hintern wäre der bessere Lohn für ihn gewesen.“ „Mag sein, daß du recht hast. Aber es geht mir auch darum, daß wir hier keinen unnötigen Ärger kriegen. Schließlich wollen wir freundschaftliche Handelsbeziehungen anknüpfen. Deshalb müssen wir als Engländer einen guten Eindruck hinterlassen, nicht zuletzt wegen der künftigen englischen Handelsfahrer. Die wollen auch gern gesehen sein, wenn sie die Ostsee anlaufen.“ „Das sehe ich ein. Aber ich sage dir, dieser bärtige Strolch ist ein ganz ausgekochtes Schlitzohr. Dein guter Wille ist bei ihm garantiert an der falschen Adresse.“ * Eine halbe Stunde später war der bärtige Halunke aus der einsamen finnischen Inselwelt so gut wie in Vergessenheit geraten. An Bord der _Isabella IX.“ standen wichtigere Dinge zur Debatte. Jene Dinge nämlich, die die Männer beschäftigten, seit der Hafen von Abo in Sichtweite aufgetaucht war. Ihre Gedanken bewegten sich auf einem schon genau festgelegten Kurs. Und der führte über die Stelling hinunter zur Pier, von dort aus weiter in die winkligen Hafengassen und in die gastlichen Häuser, die es dort zuhauf gab. Von letzteren hatten die Männer der „Isabella“-Crew eine ziemlich genaue Vorstellung. Denn zumindest in dieser Hinsicht konnte sich
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ein finnischer Hafen kaum von allen anderen Häfen der Erdkugel unterscheiden. Der Seewolf spürte diese freudige Stimmung, die von seinen Männern Besitz ergriffen hatte. Er hatte sie auf der Kuhl versammelt, und da war jenes Leuchten in ihren Augen. Einige tuschelten miteinander und bemühten sich, nur nicht zu laut zu sein. Andere warteten schweigend und gespannt auf die Entscheidung des Kapitäns. Hasard blickte in die Runde und empfand leises Bedauern. Wie seine Entscheidung auch ausfiel, für einen Teil der Crew würde es eine Enttäuschung sein. Nach der Schinderei der vergangenen Tage hatten sie sich die Abwechslung an Land redlich verdient. Da gab es nur wenige Männer an Bord, die nicht darauf fieberten, sich in das brodelnde Leben der Hafenstadt zu stürzen - wie der Kutscher etwa, ein ruhiger und in sich gekehrter Mann, dem das wilde Vergnügen nicht viel bedeutete. Ähnlich verhielt es sich mit Ben Brighton. Durch seine unerschütterliche Besonnenheit hatte er die Seewölfe in manch heikler Situation davor bewahrt, den klaren Blick zu verlieren. Die Verantwortung als Hasards Stellvertreter stand für Ben an erster Stelle aller Überlegungen - was aber nicht bedeutete, daß er ein Kind von Traurigkeit war, wenn es wirklich einmal einen Grund zum Feiern gab. Jene drei, die sich stolz grinsend im Vordergrund aufgebaut hatten, stachen ins Auge, und so hatten sie das auch beabsichtigt. „Sehe ich richtig?“ sagte der Seewolf, der sich an der Schmuckbalustrade des Quarterdecks aufgebaut hatte. Er heftete seinen Blick auf Edwin Carberry, den bulligen Profos, der sein Rammkinn schon wieder herausfordernd in den Wind reckte. „Wie meinst du das, Sir?“ Carberry verschränkte die Arme vor dem mächtigen Brustkasten und tat, als gäbe es den leuchtend weißen Verband nicht, der seinen Kopf wie ein Turban zierte. Er deutete auf Luke Morgan und Old Donegal
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Daniel O'Flynn, die neben ihm standen. „Sind wir etwa gemeint?“ „Da du dich schon angesprochen fühlst, Mister Carberry“, entgegnete Hasard betont energisch, „gibt es über diese Frage wohl keinen Zweifel mehr.“ Ben Brighton wandte sich ab, legte die Hände auf den Rücken und maß das Quarterdeck mit langsamen Schritten, um sein Lächeln zu verbergen. Der Kutscher, Koch und gleichzeitig Feldscher an Bord der „Isabella“, drängte sich in den Vordergrund und zeigte anklagend auf die drei Männer. „Sir, ich weise ausdrücklich darauf hin, daß Mister Carberry, Mister O'Flynn und Mister Morgan gegen meine Anordnung verstoßen. Alle drei haben Order, die Krankenkammer nicht zu verlassen.“ „Sei nicht so pingelig, Knochenflicker“, knurrte Luke Morgan, dessen linke Schulter dick verbunden war. „Sehen wir etwa krank aus, was, wie?“ grollte Ed Carberry. „Ich am allerwenigsten“, erklärte Old O'Flynn und reckte die Brust heraus. Nachdem Ferris Tucker ihm ein neues Holzbein angefertigt hatte, waren da nur noch der verstauchte linke Fußknöchel und die Platzwunde am Hinterkopf Lächerlichkeiten, die man nach seiner Meinung längst vergessen konnte. „Was soll das denn heißen?“ fauchte Luke Morgan ihn an. „Wird für dich etwa ein Extrasüppchen gekocht, Donegal?“ „Nun bleib mal auf den Planken, Kleiner“, sagte der alte O'Flynn bissig. „Dir haben die Finnen einen Pfeil durch die Schulter gejagt. und Edwin haben sie einen zu tiefen Scheitel gezogen. Ist das was anderes als meine kleinen Kratzer oder nicht?“ Carberry wandte sich ihm mit scheinbarer Freundlichkeit zu. „Jetzt paß mal gut auf. Großvater. Wenn du meinst, daß du hier aus der Reihe tanzen mußt, dann ramme ich dich unangespitzt zwischen deine Planken. Klar?“ Old O'Flynns verwittertes Gesicht lief dunkelrot an. Er holte tief Luft.
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Die übrigen Männer hatten ihre liebe Last, ihr Glucksen und Kichern zu unterdrücken. Und der alte Mann schluckte seinen Zorn herunter, als die Stimme des Seewolfs dazwischenfuhr. „Schluß der Debatte! Ich erwarte, daß klare Anweisungen respektiert werden. Die Anordnungen des Kutschers sind in diesem Fall Gesetz. Ein für allemal!“ „Richtig!“ schrie Old O'Flynn triumphierend. „Dagegen kann auch ein Profos nicht anstinken! Sonst sollte man ihm mal die Haut in Streifen von seinem Affenarsch ziehen!“ Die Männer konnten nicht mehr an sich halten. Brüllendes Gelächter entlud sich wie Donner und ließ die Decks der „Isabella“ erbeben. Ed Carberry wirbelte herum, stemmte die Fäuste in die Hüften und brüllte gegen die Meute an. „Ihr lausigen Schnattertanten! Wollt ihr wohl die Schnäbel halten, ihr schräggebraßten Waldameisen! Wartet nur ab, bis ich wieder an Deck bin! Dann kriegt ihr Dampf von mir, bis euch das Wasser im Hintern kocht! Darauf könnt ihr einen zwitschern, ihr ...“ „Affenärsche!“ überschrie ihn die Crew. Hasard mußte sich mit aller Gewalt zwingen, nicht in den Übermut der Männer einzustimmen. Unten auf der Pier wandten die Leute erstaunt die Köpfe. Der Krach auf der englischen Galeone hörte sich furchterregend an. Daß dort auf dem ranken Dreimaster nicht die Fetzen flogen, daß es sich nicht um Meuterei oder zumindest handgreifliche Auseinandersetzungen handelte - das wurde den meisten Unbeteiligten erst klar, nachdem sie geraume Weile den Atem angehalten hatten. Der Seewolf ließ seine Männer gewähren. Denn Ausgelassenheit war an Bord der „Isabella“ noch nie in Disziplinlosigkeit ausgeartet. Zwistigkeiten oder Spannungen gab es in dieser Mannschaft nicht. Nicht umsonst waren Philip Hasard Killigrew und seine Crew auf den Weltmeeren schon zu Lebzeiten zur Legende geworden. Häufig genug waren
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sie mitten in die Hölle gesegelt, hatten dem Verderben furchtlos lachend ins blanke Auge gesehen und jeglichen Verdruß dank jenes Gemeinschaftsgefühls überwunden, das sie wie Pech und Schwefel zusammenhalten ließ. Die rauhen Worte, die sie sich gelegentlich an den Kopf warfen, klangen nur für einen Außenstehenden erschreckend. Für die Männer unter dem Kommando des Seewolfs waren es Freundschaftsbezeigungen, die nur sie selbst verstanden. Niemand sonst. Hasard sorgte schließlich mit einer Handbewegung für Ruhe, nachdem die größten Wogen der Heiterkeit verebbt waren. „Noch einmal zu unseren Kranken“, sagte er mit verhaltenem Lächeln. „Wenn ich recht sehe, Old Donegal, ist dein linker verstauchter Knöchel noch bandagiert. Im übrigen ist dein Kopfverband genauso ansehnlich wie der unseres Profos'. Wenn ich mich nicht irre, verbirgt sich darunter eine Platzwunde, die noch nicht verheilt ist.“ „Aye, aye, Sir“, erwiderte Old O'Flynn zähneknirschend. „Was dich betrifft, Luke“, fuhr der Seewolf fort, „hat der Kutscher wohl sehr richtig entschieden, daß du den linken Arm vorläufig nicht bewegen darfst. Dein Schulterdurchschuß war nämlich nicht von schlechten Eltern.“ Luke, der kleine, drahtige, dunkelblonde Engländer, senkte den Kopf. „Und über deinen Streifschuß, Ed, brauche ich wohl keine Worte zu verlieren.“ „Ein Kratzer, Sir“, entgegnete der Profos mit gedämpfter Stimme, was bei ihm eine Seltenheit war. „Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Wir haben die Nase voll davon, dauernd zu faulenzen. Das hält doch kein Rübenschwein aus.“ „Meine Rede“, fügte Luke Morgan eilfertig hinzu. „Man kennt seinen Körper doch selbst am besten und weiß, wann man wieder einsatzfähig ist. Kein schönes Gefühl, wenn man dann in die Koje verbannt wird.“
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Hasard nickte scheinbar verständnisvoll. Ed Carberry und Luke Morgan waren es vor allem, in deren Augen schon ein Anflug von Hoffnung zu leuchten begann. Die beiden gierten am meisten nach dem ersehnten Landgang. Hasard hatte das sehr schnell begriffen, und im nächsten Moment mußten sie feststellen, daß sie bei ihm trotz allem auf Granit bissen. „Damit es keine Zweifel mehr gibt, Gentlemen“, sagte er hart, „die Anweisungen des Kutschers bleiben unverändert, und seinen weiteren Orders ist strikte Folge zu leisten. Ihr könnt euch eine halbe Stunde an Deck die Füße vertreten. Dann geht es wieder ab in die Koje. Das ist ein Befehl!“ „Himmel, Arsch und Kabelgarn“, knurrte Ed Carberry, „das ist doch zum ...“ Er ließ den Rest unausgesprochen, als er den Blick des Seewolfs spürte. „Wie soll man da gesund werden!“ maulte Luke Morgan. „In dieser verdammten miefigen Kammer wird man doch erst recht rammdösig.“ Nur Old Donegal Daniel O'Flynn hatte begriffen, daß es zu diesem Zeitpunkt besser war, das Maul zu halten. Carberry und Morgan erfuhren es einen Atemzug später. Die Stimme des Seewolfs war plötzlich wie ein Peitschenhieb. „Ich wiederhole meinen Befehl nicht. Höre ich noch ein Widerwort, lasse ich euch in der Krankenkammer einschließen. Ab jetzt! Ich warte nicht länger.“ Luke Morgans Augen wurden groß und rund. Nur Old O'Flynns Miene blieb unbewegt, während Ed Carberrys Rammkinn fast bis auf den Brustkasten sackte. „Aye, aye, Sir“, ächzte er dann, „wir fangen an mit dem Füßevertreten.“ Diesmal lachte keiner, als die drei nach einer Kehrtwendung über die Decksplanken in Richtung Back schlurften. Jeder der Männer wußte, wie bitter es war, sich wieder halbwegs auf dem Damm zu fühlen und trotzdem nicht so zu dürfen. wie man zu können glaubte. Aber jeder einzelne in der Crew war sich auch darüber im klaren, daß der Seewolf nicht anders
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entscheiden konnte. Den drei Verwundeten ihren Willen zu lassen wäre unverantwortlich gewesen. Für Hasard war es jetzt an der Zeit, die mit Spannung erwartete Entscheidung zu treffen. Daß es an Bord auch während der Liegezeit im Hafen genug Arbeit gab, war jedem klar. Für die besagte Spannung sorgte nur die Frage, wer zur ersten Gruppe gehörte, die Landurlaub erhielt. „Smoky!“ „Sir?“ Der Decksälteste trat vor. Smoky war ein breitschultrig gebauter Mann, dessen mächtige Fäuste davon zeugten, wie gut er in der Lage war, notfalls seinen Rang zu verteidigen. „Folgende Männer gehen unter deiner Führung an Land: Batuti, Mac Pellew, Dan O'Flynn, Piet Straaten, Jan Ranse, Nils Larsen, Bob Grey, Gary Andrews, Jack Finnegan, Paddy Rogers, Blacky, Jeff Bowie und Bill.“ Die, deren Namen gefallen waren, stimmten Jubelgebrüll an. Die anderen zogen lange Gesichter. Abermals sorgte der Seewolf mit einer energischen Handbewegung für Ruhe. „Smoky, du bist mir dafür verantwortlich, daß es keinen Krawall gibt. Ihr werdet in kein Fettnäpfchen treten und jedem Streit aus dem Weg gehen. Wir sind hier nicht in Plymouth. Ist das klar?“ „Aye, aye, Sir“, entgegnete Smoky grinsend, „wir werden frommer als die frommsten Klosterbrüder sein. Wer sich nicht daran hält, kriegt von mir persönlich eins auf die Nuß.“ „Das will ich hoffen.“ Hasard zwang sich, ernst zu bleiben. „Gibt es trotzdem Ärger, wird der Landgang auch für den Rest der Crew gesperrt. Ich denke, jeder weiß, was das heißt.“ Er brauchte es nicht näher zu erklären. Freundliche Warnungen, die nun unter der Crew ausgetauscht wurden, rückten die Dinge von selbst ins Lot. In der allgemeinen Wuhling, die jetzt entstand, schoben sich Philip und Hasard ins Blickfeld ihres Vaters. Die beiden Söhne des Seewolfs sahen enttäuscht aus. Auf Philips Schulter thronte Sir John, der
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karmesinrote Arara-Papagei, der sich eifrig das Gefieder putzte. „Hast du uns vergessen, Dad?“ fragte Hasard junior etwas erbittert. Äußerlich ähnelten sich die beiden Jungen wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen. Schon jetzt, in ihren jugendlichen Jahren, ließen sie erkennen, daß sie als erwachsene Männer einmal alle überragenden Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Vaters haben würden. Daß sie in diesem Augenblick aussahen, als könnten sie kein Wässerchen trüben, beeindruckte den Seewolf nicht. Die gesamte Crew wußte, welche verteufelte Portion Temperament und Starrsinn die beiden im Nacken hatten. Welche Scherereien sie ihrem Vater und seinen Männern schon bereitet hatten - nun, daran mochten sie nicht unbedingt erinnert werden. Und schließlich fühlten sie sich auch nicht mehr als kleine Kinder, denn bei den Aufgaben, die sie an Bord zu erledigen hatten, standen sie ihren Mann. So manches Mal hatte man die beiden Junioren aus verzwickten Situationen herauspauken müssen. Immer dann nämlich, wenn sie sich wieder einmal einen unerlaubten Alleingang geleistet hatten. Indes mußte Hasard ihnen zugute halten, daß sie mittlerweile gewitzt genug waren, um sich auch schon einmal allein zu helfen. „Was habt ihr auf dem Herzen?“ fragte Hasard und spielte den Ahnungslosen. „Dad“, entgegnete Philip junior drängend, „sollen wir etwa die ganze Zeit über an Bord bleiben?“ „Habe ich eure Namen aufgerufen?“ „Das nicht, aber ...“ „Wollt ihr zur Crew gehören?“ „Natürlich, Dad“, antworteten die beiden wie aus einem Mund. „Gut. Dann gelten für euch auch die gleichen Rechte und Pflichten, stimmt's?“ Hasard begann zu lächeln.
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Seine Söhne spürten, daß er es nicht ganz ernst meinte, daß es nur ein symbolischer erhobener Zeigefinger war. „Dad, bitte!“ bettelte Hasard junior. „In diesem Fall ist es doch etwas ganz anderes.“ „Wir haben von der Welt noch nicht soviel gesehen wie alle anderen an Bord“, fügte Philip hinzu. „Und wann haben wir schon mal wieder Gelegenheit, einen finnischen Hafen kennenzulernen?“ „Also gut“, sagte der Seewolf und nickte, nachdem er scheinbar eine Weile nachgedacht hatte. „Euer Landgang ist genehmigt. Aber bei Dunkelwerden seid ihr wieder an Bord, verstanden?“ „Aye, aye, Sir!“ schrien die beiden begeistert. Sir John, von dem plötzlichen Freudenausbruch überrascht, flatterte zeternd davon und kreiste unschlüssig durch das Gewirr des Takelwerks. Dann entschied er sich für den sicheren Platz auf dem Großmars. Von dort aus beäugte er mißtrauisch das Geschehen an Deck. Die Männer unter Smokys Führung, die sich auf ihr bevorstehendes Vergnügen freuten, hatten es jetzt mächtig eilig, sich für den Landgang umzuziehen. 2. Stenmark begleitete den Seewolf an Land. Die Aufgabe des blonden Schweden war es, abermals als Dolmetscher zu fungieren. Während des Aufenthalts im Ostseeraum hatten er und Nils Larsen diese wichtige Tätigkeit bestens besorgt. In gewohnter Weise übernahm Ben Brighton während der Abwesenheit Hasards das Kommando an Bord der „Isabella“. Hasard hatte sich entschlossen, auch die beiden Jungen mitzunehmen. Anfangs hatten sie darüber gemurrt, aber ihr Vater war hart geblieben. Für Smoky und die anderen wären die beiden „Rübenschweinchen“, wie sie an Bord liebevoll genannt wurden, nur eine Belastung gewesen. Im übrigen war es aus väterlicher Sicht nicht unbedingt zu vertreten, daß die Jungen allzu früh jene
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Art von Vergnügungen kennenlernten, denen sich erwachsene Seeleute widmeten. Willig folgten die Zwillinge dem Seewolf und seinem blonden Begleiter durch das Gewühl an der Pier. Vielfältiges Stimmengewirr umgab sie, überwiegend in der Landessprache, die für ihre englisch geprägten Ohren fremdartig melodiös klang. Die Handelssegler, die an der Pier vertäut hatten, stammten ausnahmslos aus den baltischen Ländern. Neben den Frachtschiffen unter finnischer Flagge gab es solche aus dem übrigen Skandinavien, aber auch aus dem Königreich Polen und den benachbarten deutschen Hoheitsgebieten. An der Pier herrschte jene Betriebsamkeit, die nur scheinbar einem völligen Chaos glich. Da wurden Kisten und Fässer und Ballen an Bord der Schiffe gemannt. Da rollten die schwerbeladenen Pferdekarren der Schiffsausrüster heran, während aus den Bäuchen der noch nicht gelöschten Segler die Waren gehievt wurden, die den Duft exotischer Gewürze ausströmten. Da standen Stapel und Berge von Proviantvorräten für die bald auslaufenden Schiffe bereit, und verschiedentlich gab es sogar lebende Tiere, die für eine Seereise verladen werden sollten. Nachdem sich Stenmark bei einem Einheimischen erkundigt hatte, war es nur ein kurzer Weg bis zum Büro des Hafenmeisters. Letzterer war ein freundlicher Mann, der die schwedische Sprache beherrschte, so daß es Stenmark mit seiner Übersetzerfunktion leichter hatte. Da Finnland unter schwedischer Verwaltung stand, war es nicht verwunderlich, daß die Sprache der Hoheitsmacht insbesondere in den Amtsstuben verwendet wurde. Hasard berichtete ohne Umschweife, daß er mit der „Isabella“ Abo angelaufen habe, um im Auftrag der englischen Krone Handelsbeziehungen anzuknüpfen. „Wir suchen das hiesige Handelshaus“, fügte der Seewolf hinzu, „zu dem die Handelsgaleone ,Katkorapu' gehört hat.“ „Gehört hat?“ wiederholte der Hafenmeister mit hochgezogenen Brauen.
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„Heißt das, daß es die ,Katkorapu` nicht mehr gibt?“ „So ist es.“ Hasard wechselte einen Blick mit Stenmark, dann entschloß er sich, die ganze Geschichte zu erzählen. Es gab keinen Grund, hier in Abo mit irgendwelchen Dingen hinterm Berg zu halten. So schilderte der Seewolf, wie ihnen vor der Südwestküste Finnlands die Galeone „Katkorapu“ begegnet war, deren Besatzung durch ein Feuer an Bord in Seenot geraten war. Die Rettung der finnischen Mannschaft und ihres Kapitäns Matti Hakulinen hatte sich für die Crew der _Isabella“ als Pferdefuß erwiesen. Denn die Finnen hatten sich als hinterhältige Schlitzohren entpuppt und nicht davor zurückgeschreckt, mittels Geiselnahme das englische Schiff in ihre Gewalt zu bringen. Bis nach Wisby auf Gotland hatte der anschließende Irrweg der Seewölfe zurückgeführt. Dort war Hasards Vetter Arne von Manteuffel die „Isabella“ aufgefallen, die unter ihrem neuen Namen „Katkorapu“ am Kai vertäut hatte. Gemeinsam mit der Crew Arne von Manteuffels war es dann den Seewölfen gelungen, ihr Schiff zurückzuerobern. Der Hafenmeister gab keinen Kommentar zu diesem Bericht des hochgewachsenen Engländers. Doch die zuvorkommende Art des Beamten ließ Hasard und Stenmark vermuten, daß Matti Hakulinen und seine wilde Meute in dieser Stadt keine besonderen Sympathien genossen haben mußten. Das Handelshaus, nach dem Hasard gefragt hatte, gehörte einem Mann namens Heikki Lahtinen. Der Hafenmeister beschrieb Stenmark den Weg dorthin mit knappen Worten. Das Kontor Lahtinens befand sich an der Linnan Katu, die von Süden aus auf der linken Seite des Aurajoki stadteinwärts verlief. Wiederum brauchten Hasard und Stenmark nur kurze Zeit, um ohne Umwege ihr Ziel zu erreichen. Vor dem Kontor, das mit seiner sauberen und gepflegten Fassade ansprechend
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aussah, wandte sich der Seewolf noch einmal seinen Söhnen zu, die er bis hierher mitgenommen hatte. „Müssen wir etwa mit hinein?“ fragte Philip junior voreilig. „Können wir nicht wenigstens draußen warten?“ meldete sich sein Bruder rasch zu Wort. Hasard schüttelte den Kopf. „Wenn die Herren Söhne so freundlich wären, mich auch mal zu Wort kommen zu lassen ...“ „Entschuldige, Dad.“ Die Jungen senkten den Kopf. „Vielen Dank“, sagte Hasard lächelnd. „Ihr könnt euch jetzt die Stadt ansehen. Aber verhaltet euch manierlich, seid freundlich zu den Leuten und mischt euch nicht in Sachen ein, die euch nichts angehen. Vor allem: Bei Dunkelwerden seid ihr wieder an Bord.“ „Aye, aye, Sir!“ riefen die Zwillinge strahlend. Während der Seewolf und Stenmark das Kontorhaus betraten, waren die Junioren schon losgerannt und um die nächste Gassenecke verschwunden. * Philip stieß seinen Bruder an, während sie ihre Schritte verlangsamten. „He, sag mal, sind wir jemals unfreundlich zu Leuten gewesen?“ Hasard blieb stehen. Er verzog das Gesicht und klemmte seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ich werde darüber nachdenken, wenn wir diese Gegend verlassen haben“, entgegnete er näselnd. „Merkst du nicht, wie es hier stinkt? Das ist nicht zum Aushalten. Mir wird gleich schlecht.“ Philip sah sich stirnrunzelnd um. Viele der Häuser beherbergten kleine Handwerksbetriebe. Die Schilder über den Eingängen konnte Philip nicht entziffern. Doch vor einem der Läden wurden Rohhäute von einem Pferdekarren abgeladen.
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„Das sind alles Gerbereien“, erklärte Philip. „Ich finde es nicht so schlimm. Der Geruch ist doch ganz natürlich.“ „Ich wußte es.“ „Was wußtest du?“ „Daß du selbst ein Stinktier bist. Deshalb stört dich so was nicht. Ich wußte es schon immer.“ Hasard sprintete los, noch während er die letzten Worte herunterhaspelte. Philip rannte mit zwei Schritten Abstand hinter ihm her, die Fäuste hoch erhoben. „Wenn ich dich erwische!“ schrie er. „Warte, bis ich dich erwische! Dann ziehe ich dir die Haut in Streifen von deinem Affenarsch, du Würstchen!“ Hier, wo sie sich außer Hörweite ihres Vaters befanden, konnten sie es sich ohne Risiko leisten, Vertrautes aus Ed Carberrys Wortschatz anzuwenden. Die Finnen, die in ihrer Arbeit innehielten und den in wilder Jagd dahinrasenden Jungen nachschauten, verstanden ohnehin keine Silbe. Die Verfolgungsjagd führte bis auf einen kleinen Platz, in dessen Mitte ein steinerner Brunnen stand. Keiner der beiden Jungen nahm zunächst die Umgebung wahr. Hasard lief bis hinter den Brunnen. verharrte dort geduckt und mit gespannten Muskeln und spähte über den Steinrand zu seinem heranflitzenden Bruder. Philip bremste seinen rasanten Ansturm auf der anderen Seite des Brunnens. „Warte nur“, knurrte er, „das Stinktier nimmst du noch zurück.“ Hasard stutzte plötzlich und starrte an ihm vorbei. „He, sieh dir das an! Ich glaube ...“ „Damit legst du mich nicht herein“, fauchte Philip und hetzte blitzartig los. Nach links umkreiste er den Brunnen. Hasard floh notgedrungen in entgegengesetzter Kreisrichtung. „Hör auf!“ schrie er. „Das ist kein Trick, Mann!“ Philip stoppte seine Schritte an der Stelle, an der sich sein Bruder eben noch befunden hatte. Und nun sah auch er, was Hasards Aufmerksamkeit erweckt hatte.
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In der Gasse, aus der sie den Platz erreicht hatten, waren zwei Jungen aufgetaucht. Beide stämmig, beide :achsblond und etwa so alt wie die Söhne des Seewolfs. Doch was am meisten an den Finnenjungen auffiel, waren die armlangen Knüppel, die sie in der Hand hielten. Und in der Art, wie sie die Einmündung der Gasse versperrten, erinnerten sie an Erwachsene, die eine Treibjagd veranstalteten. Philip und Hasard vergaßen ihren Zwist in Sachen Stinktier auf der Stelle. Langes Rätselraten wurde ihnen gleichfalls erspart, denn unvermittelt ertönte hinter ihnen wildes Geschrei. Die Zwillinge wirbelten herum und glaubten ihren Augen nicht zu trauen. Ein grauer Schatten huschte mit Kläglichem Winseln über den Platz. Ein grauer Schatten mit eingezogenem Schwanz, der in einem der Hauseingänge Zuflucht suchte. Insgesamt vier Gassen waren es, die sternförmig auf den Platz zuliefen. Und aus jeder der Einmündungen tauchten weitere junge Burschen auf. Jeweils zu zweit, hatten sie alle Fluchtwege abgeriegelt. Knüppelschwingend und schreiend rannten sie jetzt hinter der hilflosen Kreatur her. Im Laufen hoben sie Steine auf. Was sie mit ansehen mußten, versetzte den Zwillingen gleichermaßen einen Stich mitten ins Herz. Der Hauseingang war ein schlechter Zufluchtsort, denn natürlich konnte ein Vierbeiner eine normale gußeiserne Türklinke nicht öffnen. Heulend sprang das graue, zottige Wesen an der Tür hoch, als die johlende Meute herannahte. Im nächsten Moment wischte es wieder wie ein Schatten weg, rechtzeitig, bevor die ersten Knüppel niedersausen konnten. Sofort zogen sich die Jungen wieder zu den Gasseneinmündungen zurück. Steine flogen und ließen dem grauen Wesen kaum Zeit zum Atemschöpfen. Aber der Fluchtweg in eine der Gassen war nun abermals versperrt. Philip und Hasard sahen jetzt, daß es sich um einen Wolfshund handelte, der hier auf so niederträchtige Weise gepiesackt wurde.
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Das Tier schien noch jung zu sein und war bis auf die Knochen elend abgemagert. Die Panik war dem Hund anzusehen, wie er irrend hin und her hastete, einen besseren Schlupfwinkel suchend, da er den Hauseingängen nicht mehr vertrauen konnte. Die Finnenmeute hatte längst wieder alle vier Gassen abgeriegelt und stimmte nun verstärktes Gejohle an, da das hilflose Opfer offenbar endgültig in der Falle saß. Weitere Steine flogen. Eins der Wurfgeschosse traf das Tier, das schmerzerfüllt heulte und in panischer Angst nun doch wieder in einen Hauseingang flüchtete. Dort preßte sich das Tier flach auf den Boden, und deutlich war zu sehen, wie es zitterte. Es mußte ganz einfach spüren, daß das Kesseltreiben jetzt von vorn begann. Keiner hatte bislang die beiden Jungen beachtet, die beim Brunnen standen. Das änderte sich jetzt. Philip und Hasard verständigten sich mit einem einzigen Blick. Worte waren überflüssig. Ihr Zorn kochte über, da sie das mißhandelte Tier in seinem ganzen Elend mit ansehen mußten. Und es gab für die Söhne des Seewolfs nur eine einzige Entscheidung. Wie von einer Bogensehne abgefeuert, schnellten sie los - auf die Gasse zu, aus der sie den Platz erreicht hatten. Die beiden flachsblonden Burschen, die dort immer noch johlten und sich mit ihren Knüppeln voller Jagdfieber vorbeugten, fanden keine Zeit mehr, sich von ihrer Überraschung zu erholen. Wie ein Sturmwind waren die Zwillinge jäh über ihnen, schmetterten ihnen die Knüppel aus den Händen und beförderten sie mit wenigen gezielten Hieben auf das bucklige Steinpflaster. Philip und Hasard verschwendeten keinen Augenblick. Sofort wandten sie sich wieder dem Platz zu. Keine Frage, daß der Tanz jetzt erst richtig anfing. „Sieh dir das an!“ rief Hasard begeistert. Philip nickte grimmig, seine Augen leuchteten wie die seines Bruders, und
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geduckt erwartete er die Finnenmeute, die plötzlich sehr still geworden war. Was Hasard so begeisterte, war der Wolfshund. Ein pfiffiges Kerlchen mußte es sein, denn wie ein geölter Blitz verließ er seinen Hauseingang, wetzte quer über den Platz und an den Zwillingen vorbei in die Gasse, die sie ihm geöffnet hatten. Erst jetzt sahen sie, daß der arme Kerl nur auf drei Beinen rannte. Das rechte Hinterbein zog er nach, der Stein mußte ihn dort getroffen haben. Wie höllisch schnell er trotzdem war, zeugte von seiner Geschicklichkeit. Wütende Rufe tönten jetzt über den Platz. Die Zwillinge vergewisserten sich mit einem raschen Blick. daß ihr Schützling endgültig in Sicherheit war. Immer weiter stob er durch die Gasse, in südlicher Richtung. Um ihn brauchten sie sich nicht mehr zu kümmern. Aber Erleichterung war noch nicht am Platze. „Aufpassen!“ zischte Hasard, der sich als erster wieder dem Brunnenplatz zugewandt hatte. Philip vollführte ebenfalls eine schneidige Kehrtwendung. Sein ganzer aufgestauter Zorn lag in dieser Bewegung. Die verdammten Strolche sollten nicht glauben, daß sie leichtes Spiel hatten! In breiter Front pirschten alle sechs Tierquäler heran. Den Brunnen hatten sie schon hinter sich gelassen, und alle waren sie mit Knüppeln bewaffnet. Was sie schrien, konnten Philip und Hasard nicht verstehen. Kein Zweifel aber, daß die Meute nicht besonders froh war, ihre beiden Kumpane am Boden liegen zu sehen. Während sie noch etwa zehn Yards entfernt waren, zog einer der Finnenjungen mit der freien Hand einen Stein aus der Hosentasche. Ein scharfer Ruf ertönte von dem, der in der Mitte heranschlich. Er überragte die anderen um einen halben Kopf, hatte rostrotes Haar und kantige Schultern. Seine ausgefransten Hosenbeine wedelten über abgewetzten Holzpantinen. Er mußte der Anführer sein, denn der andere ließ den Stein sofort fallen.
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In fünf Yards Entfernung blieb die Tierquälerhorde stehen. Breitbeinig nahmen die sechs Burschen eine drohende Haltung ein, indem sie ihre Knüppel auf das Pflaster stellten die Hände darauf legten. „Sieh dir das an“, sagte Philip grinsend, „vielleicht denken die, wir haben die Hosen voll oder so was.“ Hasard konnte nicht antworten, denn der Tierquäler-Anführer schrie etwas. Verstehen konnten sie nichts, nur so viel, daß es haßerfüllte Worte waren, die er ihnen entgegenschleuderte. „Schwenkt euch, ihr Stinkstiefel!“ schrie Hasard auf englisch zurück. „Seht zu, daß ihr Land gewinnt, oder ...“ Demonstrativ packte er einen der am Boden liegenden Knüppel. Philip folgte seinem Beispiel. „Kommt her, ihr Kakerlaken!“ forderte er lautstark. „Los, los, beeilt euch, ihr seid doch richtig scharf drauf, eins auf die Rübe zu kriegen!“ Die beiden, die von den Söhnen des Seewolfs langgelegt worden waren, krochen stöhnend außer Reichweite. ihre Ahnung sollte sie nicht trügen, denn der Tanz begann nun erst richtig. Auf einen Schrei ihres Anführers stürmte die Meute los - knüppelschwingend und mit Gebrüll. Philip und Hasard ließen sie seelenruhig herannahen. Fassungslos mußten die Finnenjungen feststellen, daß ihre wohlgezielten Knüppelhiebe ins Leere sausten. Denn schnell und geschmeidig wie Raubkatzen hatten die Zwillinge den Angriff unterlaufen, wichen aus und schlüpften blitzartig durch die Tierquäler-Front. Keiner konnte rechtzeitig reagieren, denn sofort waren Philip und Hasard wieder zur Stelle und versetzten zweien von ihnen einen Tritt in den Hintern. Die beiden segelten armrudernd nach vorn, verloren ihre Knüppel und schrammten sich die Haut auf, als sie schreiend über das rauhe Pflaster schlitterten.
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Die anderen kreiselten herum und drangen mit wirbelnden Knüppeln auf die respektlosen Fremdlinge ein. Hasard und Philip benutzten ihre eigenen Knüppel zur Abwehr. Und dann gingen sie zum Gegenangriff über. Die verbliebenen vier Finnen-jungen hatten das Gefühl, daß sich zwischen ihnen ein Wirbelwind entfesselte. Da setzte es Hiebe und Knüffe und schallende Maulschellen, und sehr schnell verstummte auch die großspurige Stimme des Anführers. Längst hatten die Söhne des Seewolfs ihren Gegnern die Knüppel aus den Händen geschlagen und kämpften mit den Fäusten weiter. Als die ersten zwei oder drei Finnen-jungen heulend vor Schmerzen Reißaus nahmen, hatte Hasard den Anführer im Griff. Durch einen wahren Trommelwirbel von Fausthieben, den Hasard entfaltete, geriet der Rothaarige ins Wanken. Philip beförderte unterdessen einen weiteren aufs Pflaster, der sich mit Geschrei wieder aufrappelte und ebenfalls das Weite suchte. Unvermittelt wurden Stimmen laut. Stimmen von Erwachsenen. Die verbliebene Tierquälermeute, ohnehin im Rückzug begriffen, nahm die Beine in die Hand. Hasard und Philip sahen, daß auf dem Brunnenplatz Leute erschienen, die wegen des Geschreis ihre Häuser verlassen hatten. „Weg hier!“ rief Hasard halblaut und stürmte auch schon los, ohne auf eine Antwort seines Bruders zu warten. Philip folgte ihm nach anfänglichem Zögern. Die Gasse, die nach Süden in Hafenrichtung führte, war noch frei. So hatten die beiden Jungen keine Mühe, schleunigst zu verschwinden. Erst als sie sicher waren, daß ihnen niemand folgte, verlangsamten sie ihre Schritte. „Mußte das sein?“ fragte Philip atemholend. „Wir haben uns doch nichts vorzuwerfen, oder?“ „Bist du sicher?“ „Warum denn nicht?“ „Weil die Einheimischen vielleicht eine andere Meinung haben. Kann ja auch sein,
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daß es die Eltern von diesen Tränen waren, die da aufgetaucht sind.“ „Egal“, sagte Philip, „vor denen hätten wir auch keine Angst haben müssen.“ „Himmel noch mal!“ stöhnte Hasard. „Bist du heute schwer von Begriff? Es geht doch darum, was Dad gesagt hat. Ist dir nicht klar, daß dies unser letzter Landgang gewesen sein könnte, wenn wir Pech haben?“ Philip blieb stehen. „Wir haben nichts Unrechtes getan. Das steht ja wohl fest. Ich kann mich nicht entsinnen, daß wir unfreundlich waren.“ „Aber vielleicht haben wir uns in eine Sache eingemischt, die uns nichts angeht.“ „Nichts angeht?“ wiederholte Philip aufbrausend. „Hör mal, wenn diese Bande mit acht Mann hoch über ein wehrloses kleines Hundchen herfällt, dann ist es doch wohl unsere Pflicht, einzugreifen!“ „Natürlich hast du recht. Jedenfalls ist die Geschichte vorbei. Hoffen wir nur, daß Dad nichts davon zu Ohren kriegt.“ „Hm, tja ...“ Philip rieb sich nachdenklich das Kinn. „Dann ist es wohl am besten, wenn wir uns erst mal zur ‚Isabella' zurückziehen.“ Ohne Mühe fanden sie ihren Weg durch das Gewirr der Gassen in der Hafengegend von Abo. An jeder Ecke verhielten sie vorsichtig, bis sie sicher waren, daß ihnen die Meute unter der Führung des Rothaarigen nicht unversehens auflauerte. Unbehelligt erreichten sie schließlich die Pier, an der die „Isabella“ vertäut lag. Schon auf der Stelling, hörten die beiden Jungen plötzlich einen Laut, der wie ein klagendes menschliches Seufzen klang. Stirnrunzelnd verharrten sie. wechselten einen Blick und drehten sich um. Da war ein hoher Stapel von leeren Wasserfässern, die aus der Galeone des Seewolfs stammten und offenbar von einem Schiffsausrüster abgeholt werden sollten. Schutzsuchend in dem engen Raum zwischen zwei Fässern kauerte der Wolfshund. Wieder ließ er diesen klagenden Laut hören, und während er hechelnd seine Zunge zeigte, bewegte er
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den schmalen Kopf auf und ab. Es schien, als wollte er die beiden Jungen auffordern, sich ihm zu nähern. „Mein Gott“, sagte Hasard tonlos, „der arme Kerl hat hier auf uns gewartet.“ „Aber wie konnte er das wissen?“ entgegnete Philip kopfschüttelnd. „Wie konnte er wissen. wo die ‚Isabella' liegt und daß wir hier zu Hause sind?“ „Unsere Fährte!“ rief Hasard in jäher Begeisterung. „Natürlich, das ist es! Er hat unsere Fährte verfolgt.“ Vorsichtig, beinahe zaghaft, bewegten sie sich die Stelling hinunter und fürchteten dabei, daß der Graue jeden Moment die Flucht ergreifen würde. Immerhin hatte er höllisch schlechte Erfahrungen mit den Menschen hinter sich. „Sieh nur, was für traurige Augen er hat“, sagte Philip andächtig. „Kein Wunder, nach allem, was er hinter sich hat. Und sieh dir mal an, wie mager er ist. Da kann man richtig die Rippen zählen.“ Hasard grub in seinen Taschen. Aber ausgerechnet jetzt hatte er nichts Eßbares bei sich. Auch Philip hatte keinen Leckerbissen bereit. „Wenn wir es schaffen, ihn mit an Bord zu nehmen“, meinte er, „dann könnten wir ihn erst mal richtig aufrappeln.“ Sie bückten sich, hielten ihm die Hände entgegen und redeten mit behutsamen Worten auf ihn ein. Und dann, als sie nahe genug heran waren und riskierten, ihn zu streicheln, schloß er hingebungsvoll die Augen. Freude erfüllte die Jungen, wie sie sie selten zuvor empfunden hatten. Die arme mißhandelte Kreatur faßte Zutrauen zu ihnen und schien instinktiv zu spüren, daß sie nicht zu jener groben Sorte gehörten wie die acht Finnenburschen. „Komm, Kleiner“, sagte Hasard lockend, indem er sich aufrichtete. „Jetzt gibt's was Feines für dich.“ Philip folgte seinem Beispiel, und r rückwärts bewegten sie sich auf die Stelling zu, wobei sie den kleinen Grauen fortwährend mit freundlichen Worten und Handbewegungen bedachten.
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Es klappte schneller, als sie gedacht hatten. Die Zuneigung des Hundchen schien endgültig zu sein. Während die Jungen sich langsam von ihm entfernten, hob er den Kopf und richtete die Ohren auf. Die Traurigkeit schwand aus seinen Augen, deutliches Interesse zeigte sich mit einem Leuchten. Und dann richtete er sich kurzerhand auf und folgte den Jungen auf drei Beinen hinkend. Der erste, der ihnen an Bord begegnete, war der Kutscher. Einen Sack voll Bohnen geschultert, strebte er auf das Kombüsenschott zu. Nur aus den Augenwinkeln heraus sah er die Zwillinge, als sie durch die Pforte im Schanzkleid traten. Dann erfaßte sein Blick das graue Etwas, das schwanzwedelnd die Decksplanken beschnupperte. Erschrocken ließ der Kutscher den Bohnensack fallen. „Um Himmels willen!“ stöhnte er und faßte sich an die Stirn. „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“ „Wieso?“ erwiderte Philip mit Unschuldsmiene. „Das arme Hundchen ist fast verhungert.“ „Da ist es doch wohl unsere Pflicht“, fügte Hasard hinzu, „ihn ordentlich aufzupäppeln.“ Der Kutscher verdrehte die Augen und schickte einen flehentlichen Blick zum Himmel. „Nein!“ ächzte er. „Das stehe ich nicht durch. Noch mehr Viehzeug an Bord!“ 3. Keine fünf Minuten vergingen, bis sich die gesamte verbliebene Mannschaft auf der Kuhl versammelt hatte. Es war ein ungläubig staunender Halbkreis, der sich um die Zwillinge mit ihrem zottigen grauen Schützling bildete. Zwischen den beiden Jungen hatte sich das Hundchen auf die Planken gesetzt, ließ sich streicheln und blickte mit gespitzten Ohren zutraulich in die Runde. Ed Carberry war es, der das Schweigen brach.
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„Das hätte ich euch vorher sagen können“, verkündete er dröhnend, „wenn unsere beiden Rübenschweinchen an Land gehen, gibt's irgendwas Komisches.“ „Was ist denn so komisch an einem halbverhungerten Hund?“ entgegnete Hasard junior wütend. Sein Bruder beschränkte sich darauf, einen düsteren Blick auf den Profos abzuschießen. In gespieltem Erschrecken hob Carberry abwehrend die Hände. „Oh, ich weiß, ich weiß. Gleich kocht unseren Herren Söhnchen die Galle über. Aber glaubt nur nicht, daß ihr uns so einfach los werdet.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Luke Morgan und Old Donegal Daniel O'Flynn, die neben ihm standen. „Wir hatten Order, uns die Füße zu vertreten. Damit sind wir noch nicht fertig.“ „Aber Mister Carberry, ich muß doch sehr bitten“, säuselte Philip junior gespielt vorwurfsvoll. „Sie denken doch nicht etwa, daß wir Sie anschwärzen würden?“ Einige der Männer begannen zu lachen, verstummten aber sofort, als sie das grimmige Gesicht ihres Profos' sahen. „Reißt euch zusammen, ihr Grünspechte“, knurrte Carberry, „jetzt geht's ja wohl erst mal darum, was wir mit diesem Kläffer anfangen.“ „Das ist kein Kläffer!“ sagte der junge Hasard erbost. „Bislang hat er keinen Ton von sich gegeben.“ „Der bellt nur, wenn's wirklich was zu bellen gibt“, fügte Philip im Brustton der Überzeugung hinzu. „Ihr scheint ihn ja schon sehr genau zu kennen“, sagte Ben Brighton mit einem milden Lächeln. „Ja, Sir, so ist es“, antworteten die Jungen. Nach einem ermunternden Nicken des Ersten Offiziers berichteten sie abwechselnd, was sie an Land erlebt hatten. „Eine Schweinerei so was!“ schimpfte Old O'Flynn. „Wer sich an wehrlosen Tieren vergreift, hat einen schlechten Charakter. Schlimm, wenn sich schon Kinder von so einer miesen Seite zeigen.“
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„Auf alle Fälle braucht der arme Kerl was zu fressen“, sagte Luke Morgan. „Oder ist jemand anderer Meinung?“ „Ist wohl unsere Pflicht“, brummte Ferris Tucker, „nachdem die Junioren dem Vieh schon das Leben gerettet haben.“ Philip und Hasard sahen sich in plötzlichem Stolz an. Von dieser Seite hatten sie die Geschichte noch nicht einmal betrachtet. Aber es stimmte wohl, was der rothaarige Schiffszimmermann sagte. Wenn das Hundchen der Finnenmeute in die Hände gefallen wäre, dann hätte es ein schreckliches Ende gegeben. Hasard ergriff die Gelegenheit beim Schopf. So viel unerwartete Zustimmung seitens der Crew war schon einen Vorstoß wert. „Eine Frage, Sir“, wandte er sich an den Ersten, und seine Augen sprühten dabei voller Eifer. „Könnten wir den Kleinen nicht ganz an Bord behalten?“ „Na klar, als Bordhund!“ rief Philip begeistert. „Der fehlt uns doch noch.“ Die Männer grinsten sich eins, und auch Ben Brighton setzte ein Lächeln auf. „Richtig, richtig!“ polterte Ed Carberry los. „So was fehlt uns gerade noch.“ „Sachte, sachte“, wandte Ben Brighton mahnend ein. „Von der Hand zu weisen ist die Idee wohl nicht. Aber erstens können wir nicht mein entscheiden, und zweitens dürfen wir nicht vergessen, daß wir schon zwei Tiere an Bord haben.“ .Die werden sich bestimmt gut vertragen, Sir“, sagte Philip hoffnungsvoll. Ben Brighton wiegte den Kopf. „Da bin ich nicht so sicher. Es könnte gut sein, daß Arwenack eifersüchtig wird, und bei Sir John Inn man sowieso nichts vorhersagen.“ „Ich sehe unsere schöne ‚Isabella' schon als neue Arche Noah“, stöhnte Ed Carberry. „Einen Affen, einen Vogel und einen Köter haben wir schon. Wie wär's denn noch mit einem Elch, da wir grad im hohen Norden sind? Ein Eisbär könnte auch nicht schaden. Dann eine fette Ziege aus Polen, eine Kuh aus Pommern... „Mister Carberry, halt die Luke!“ fauchte Old O'Flynn. „Kapierst du nicht, daß die
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beiden Jungs eine gute hat vollbracht haben? Sie haben es weiß Gott nicht verdient, daß man sich über sie lustig macht.“ „Ach nein? Und was ist mit den Flöhen, die sich hier an Bord einnisten werden?“ „Flöhe?“ fragte der alte O'Flynn erbost. „Dann sieh erst mal nach, ob dein süßer Sir John nicht vielleicht Milben hat!“ „Das mit den Flöhen ist nicht so schlimm“, sagte Big Old Shane, der riesenhafte Schmied von der Feste Arwenack. „Arwenack ist doch Spezialist für so was. Der kann dem Hundchen die Viecher rauspulen, falls welche vorhanden sind.“ Die Zwillinge klatschten begeistert Beifall. „Können wir nicht abstimmen?“ rief Philip. Sein Bruder hieb geistesgegenwärtig in dieselbe Kerbe. „Dann wissen wir wenigstens, was wir wollen, wenn Dad und die anderen zurückkehren!“ „Wir wissen, was ihr wollt.“ Ben Brighton lachte. Dann wurde er wieder ernst. „Aber euer Vorschlag ist nicht schlecht. Jeder soll sagen, ob ihm der Hund an Bord paßt oder nicht. Die endgültige Entscheidung liegt dann beim Kapitän.“ „Und dem schmieren unsere Rübenschweinchen Honig um den Bart“, sagte Ed Carberry. „Hör auf, du alte Miesmuschel!“ fuhr ihn Old O'Flynn an. „Schluß mit dem Hin und Her“, sagte Roger Brighton, der Bruder des Ersten Offiziers. „Ich bin auch für eine Abstimmung. Das ist fair.“ „Eigentlich überflüssig“, sagte Matt Davies, der Mann mit der Hakenprothese. „Ich sehe keinen, der gegen einen Bordhund ist.“ „An mich denkst du wohl überhaupt nicht, was, wie?“ Der Profos schüttelte in gespielter Drohung die Faust. „Tu doch nicht so, Ed!“ rief Al Conroy. „Du hast das Hundchen längst ins Herz geschlossen. Du willst es bloß nicht zugeben.“ Ed Carberry klappte das Rammkinn hoch, preßte die Lippen aufeinander und sagte nichts mehr.
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„Also zur Sache“, sagte Ben Brighton mit einer energischen Handbewegung. „Wer für den Hund an Bord ist, soll den Arm heben.“ Fast alle Hände flogen augenblicklich in die Höhe. Nur der Kutscher und Ed Carberry zögerten einen Moment. Old O'Flynn versetzte dem Profos einen aufmunternden Stoß, und nach ihm entschloß sich dann auch der Kutscher zur Zustimmung. „Na also.“ Der alte O'Flynn nickte zufrieden. „Einstimmiger geht's wohl nicht.“ Die Zwillinge begannen einen Freudentanz um ihren zottigen grauen Schützling, und dieser drehte den Kopf von einem zum anderen, wobei er aufgeregt mit dem Schwanz wedelte. „Ich habe nur an die Konsequenzen gedacht“, sagte der Kutscher entschuldigend, nachdem sich die erste Begeisterungswelle gelegt hatte. „So ein Hund bedeutet schließlich eine Menge Arbeit.“ „Das erledigen wir alles“, erklärte Hasard junior. „Ist ja unser Hund“, sagte Philip. „Dann fangt mal gleich an“, sagte Ben Brighton. „Gebt ihm zu fressen und zu saufen.“ „Aye, aye, Sir!“ schrien die Jungen begeistert, warteten auf ein zustimmendes Nicken des Kutschers und rannten los in Richtung Kombüse. Das Hundchen stutzte, spitzte die Ohren und setzte sich dann gleichfalls in Bewegung. Auf drei Beinen entwickelte es eine beachtliche Geschwindigkeit. Der Kutscher folgte ihm achselzuckend, denn immerhin war es seine Aufgabe, die Zuteilung der Hundeverpflegung zu überwachen. Zu seiner Freude gehorchte der Graue, als er ihn mit drohendem Zeigefinger ermahnte, draußen vor dem Kombüsenschott zu warten. Gelehrig schien das Tier zu sein. Man mußte also nicht ständig mit unverhofften Plünderungen der Kombüse rechnen. Damit, daß das Abstimmungsergebnis durch den Seewolf und die anderen
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Männer noch aufgehoben wurde, rechnete der Kutscher nicht. Schon nach wenigen Minuten kehrten die Zwillinge mit zwei Pützen zurück. In der einen schwappte frisches Wasser, in die andere hatten sie alles gepackt, was der Kutscher an Leckerbissen herausgerückt hatte: einige Brocken Pökelfleisch, Wurstscheiben, Speck, kaltgewordene Bohnen und auch etliche Reste der berühmten Bornholmer Räucherheringe, die Philip und Hasard sorgfältig entgrätet hatten. Der kleine Graue hob abrupt den Kopf, als die Jungen mit den Pützen auf ihn zustrebten. Seine Ohren richteten sich steil auf, und nur einen Moment schnupperte er in den Wind. Dann schnellte er mit einem Sprung los und erreichte die Pützen, noch bevor die Jungen sie auf die Planken sinken ließen. Lachend wichen sie zurück. „Gute Manieren hat er jedenfalls noch nicht“, bemerkte der Kutscher, der den Kopf durch das offene Kombüsenschott geschoben hatte. Das Hundchen grub seine Schnauze währenddessen tief in die wohlriechende Pütz und tauchte mit einem dicken Happen Pökelfleisch wieder auf. Seine Kiefer bewegten sich ruckartig, das schon gut entwickelte Gebiß zerkleinerte das Fleisch mühelos. Im Handumdrehen hatte der Graue den Brocken mit vernehmlichem Schmatzen hinuntergeschlungen. Noch während er schluckte, tauchte sein schmaler Kopf erneut in die fleischgefüllte Pütz. Beinahe andächtig verharrten Ben Brighton und die anderen Männer, die sich vorsichtig genähert hatten. „Das arme Vieh ist ja total ausgehungert“, flüsterte Old O'Flynn fassungslos. „Hoffentlich verdirbt sich der liebe Kleine nicht den Magen, was, wie?“ Carberry grinste breit, doch als er in die Runde blickte, mußte er feststellen, daß niemand von ihm Notiz nahm. Alle sahen dem Hund zu, als handelte es sich hier um ein einmaliges
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Naturschauspiel, wie sie es nie wieder erleben würden. Für den kleinen Grauen entwickelte sich das Ereignis unterdessen zu einer wahren Freßorgie. Immer schneller schlang er Brocken um Brocken hinunter, egal, ob es sich um Fleisch, Speck oder Fisch handelte. Ja, mit jedem Bissen schien er zunehmende Kräfte zu gewinnen und seine Freßgeschwindigkeit ständig zu steigern. Das Schmatzen, das er dabei entwickelte, war das einzige Geräusch an Bord der „Isabella“. Und er schien sich nicht im geringsten daran zu stören, daß er von einer schweigenden und staunenden Zuschauerschar umgeben war. Erst als sich der Inhalt der Pütz seinem Ende näherte, wurde der kleine Schützling der Zwillinge langsamer. Sein Bauch hatte an Umfang beträchtlich zugenommen, und schnaufend hielt er einen Moment inne. Dann bewegte er sich breitbeinig auf die Pütz mit Wasser zu und schlabberte ausgiebig von dem kühlen Naß. Ebenso behäbig kehrte er zur Fleischpütz zurück, um sie endgültig zu leeren. Die Mühe, die er nun dabei hatte, war ihm anzusehen. „Der platzt gleich“, sagte Ed Carberry leise, wie er meinte, doch es klang überlaut in der Stille. Der kleine Graue hielt inne, drehte sich nach der Quelle dieser menschlichen Reibeisenstimme um und leckte sich die Schnauze an allen Seiten. Seine Ohren, eben noch gespitzt, senkten sich wieder, und er wandte sich dem Rest seiner wahrhaft fürstlichen Mahlzeit zu. „Ich werd' verrückt!“ Der alte O'Flynn kicherte. „Das Tierchen hat doch tatsächlich nichts gegen unseren Profos einzuwenden!“ Die Männer grinsten. „Umgekehrt wird ein Schuh draus“, dröhnte Ed Carberry. „Wenn hier einer was einzuwenden hat, dann bin ich es. Sieht so aus, als ob das Vieh begriffen hat, daß ich mich der Mehrheit beuge. Ist ja wohl ein kluges Hundchen, wie mir scheint.“ Carberry schob sein Rammkinn vor, was in diesem Fall soviel bedeutete wie „Punktum“.
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Die Männer tauschten verstohlene Blicke. Eindeutig, daß ihr Profos seine ersten Sympathien für das neue vierbeinige Crewmitglied entwickelte. Letzteres hatte mittlerweile seine Freßorgie beendet. Träge nahm der kleine Graue noch einen Schluck Wasser zu sich, trottete auf die Zwillinge zu und streckte sich vor ihren Füßen auf den Planken aus. Abermals wurden Philip und Hasard von Stolz erfaßt. Vor aller Augen bewies ihr bedauernswerter kleiner Schützling, welche freundschaftlichen Gefühle er bereits für sie empfand. Voller Rührung gingen die Jungen in die Knie und kraulten dem Hundchen das Fell, dessen Strähnen an vielen Stellen verklebt und schmutzverkrustet waren. Behaglich schloß der Kleine die Augen, drehte sich auf den Rücken und streckte die Beine in die Luft. Deutlich erkannten die Männer nun, daß seine Pfoten im Vergleich zum Körper übergroß entwickelt waren. Ein Anzeichen dafür, daß er noch beträchtlich wachsen würde. Und eine weitere Tatsache blieb nicht länger unbemerkt. „Er ist eine ‚Sie' „, stellte O'Flynn andächtig fest. „O Mann, eine Hündin!“ Die Zwillinge blickten erschrocken auf. „Spielt das eine Rolle?“ fragte Philip. „Klar“, sagte Ed Carberry grinsend. „Seefahrt ist Männersache.“ „Unsinn!“ Der alte O'Flynn sah den Profos mit funkelnden Augen an. „Laß das bloß nicht Siri-Tong hören. Die zieht dir die Hammelbeine lang.“ Ed Carberry schluckte trocken. Eine weitere Erörterung des Themas blieb ihm jedoch erspart, denn von der Back ertönte unvermittelt ein helles Keckern. Die Männer hielten den Atem an. Der kleine Graue war mit einem Ruck auf den Beinen. Seine Haltung versteifte sich, seine Ohren bildeten spitze Dreiecke, und mit vorgerecktem Kopf witterte er in die Richtung, aus der er den seltsamen Laut vernommen hatte. Arwenack mußte das Geschehen unbemerkt und aus sicherer Entfernung beobachtet haben. Denn so, wie er jetzt geschickt über das Vorspill turnte und
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dann mit einem elegant federnden Satz auf der vorderen Grätingsluke landete, war sein Auftritt durchaus wirkungsvoll. Auf der Gräting richtete er sich zu voller Größe auf und ließ die langen Arme kreuzweise vor seinem Körper pendeln. Dabei entblößte er sein mächtiges Gebiß und betrachtete den vierbeinigen Eindringling von oben herab. Der Graue schien eher erstaunt als beeindruckt. Er rührte sich jedenfalls nicht vom Fleck. Kein angriffslustiges Knurren, kein Zähnefletschen. Nur seine Nackenund Rückenhaare richteten sich borstenartig auf, und der buschige Schwanz bewegte sich nur noch langsam, eher ruckartig hin und her. Behutsam wichen die Zwillinge einen Schritt zurück. Beide begriffen, daß sie den Hund jetzt nicht streicheln durften, wollten sie nicht Arwenacks Eifersucht herausfordern. 4 Immerhin war es schon ein gutes Zeichen, daß die beiden nicht wie Kampfhähne aufeinander losgingen. „Arwenack“, sagte Hasard junior leise und lockend. „Komm her und sei ein braver Kerl. Du hast jetzt einen neuen Freund. Du wirst dich doch mit ihm vertragen?“ „Bestimmt wirst du das“, sagte Philip im gleichen Tonfall. „Wahrscheinlich wird er nämlich unser Bordhund. Und auf der ‚Isabella' vertragen sich nun mal alle gut, stimmt's?“ Arwenack hüpfte zweimal hintereinander auf der Stelle und blickte dann zu den Männern, die ihn anstarrten, als wollte er sich vergewissern, daß er weiterhin im Mittelpunkt des Interesses stand. Keiner aus der Crew wagte, einen Ton von sich zu geben. Der Kutscher stand auf dem Sprung, um notfalls die Pütz mit Wasser zu schleudern, falls gleich die Fetzen fliegen sollten. Doch im nächsten Moment war die allgemeine Anspannung dahin, als hätte es sie nie gegeben. Arwenack ging mit gezierten, halbkreisförmigen Schritten auf den sauen Vierbeiner zu, und dessen Fell glättete sich im selben Moment. Die Ursache dafür war den Männern unerklärlich. Gab es etwa
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eine geheimnisvolle Sprache oder Zeichen, mit denen sich Tiere untereinander verständigen konnten? Hatten sich diese beiden so unterschiedlichen Viecher darauf geeinigt, keinen Kampf vom Zaun zu brechen? Fasziniert beobachteten die Männer, wie Arwenack vor dem Hundchen in die ecke ging und ihn auf ebenjene Weise streichelte, die er nur von den Zwillingen abgeguckt haben konnte. Der kleine Graue revanchierte sich, indem er mit seiner langen Zunge Arwenacks prächtiges schwarzes Teil leckte. „Himmel, Arsch und Spiegelei!“ entfuhr es Ed Carberry. „Wenn das einer von uns geahnt hätte, will ich Moses heißen.“ Ein langgezogener, schriller Schrei ertönte. Wie ein rotgefiederter Blitz stürzte sich Sir John im Sturzflug vom Fockmars hinunter. Arwenack und sein neuer vierbeiniger Freund wichen erschrocken voneinander weg. Flügelklatschend bremste Sir John seinen Sturzflug ab, und wie ein Greifvogel rauschte er mit vorgereckten Krallen auf den kleinen Grauen zu. Ehe sich's dieser versah, saß der Arara-Papagei ihm zeternd im Nacken. Wild klatschten Sir Johns Flügel. „Affenarsch! Rübenschwein. Stink ...“ Die letzten Silben brachte er nicht mehr heraus. Mit einem wütenden Fauchen stürzte sich Arwenack auf ihn. Nur durch blitzschnelle Flucht konnte sich Sir John davor retten, ein Bündel seiner prächtigen Schwanzfedern zu verlieren. Kreischend flatterte er davon, verfehlte in der Aufregung nur knapp das offenstehende Kombüsenschott und gewann dann gerade noch rechtzeitig an Höhe. Arwenack, der sich mit einem gewaltigen Satz auf die Back geschwungen hatte, verfehlte den karmesinroten Schreihals nur um Haaresbreite. Der Schimpanse dachte nicht daran, schon aufzugeben. In Windeseile hastete er zum Schanzkleid an Backbord, schwang sich in die Wanten des Fockmasts und enterte mit einer im wahrsten Sinne des Wortes affenartigen Geschwindigkeit auf. Sir John hatte unterdessen den Mars erreicht, trat
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dort aufgeregt von einem Bein auf das andere und beäugte seinen Verfolger, der sich bedrohlich schnell näherte. Erst in letzter Sekunde verließ Sir John seinen unsicher werdenden Platz und schwang sich in steilem Steigflug zur Fockmarsrah hinauf. Abermals lief die Verfolgung nach der gleichen Manier ab, diesmal jedoch segelte der Papagei in elegantem Schwung zum Großmars hinüber. Für Arwenack war das noch lange kein Grund, klein beizugeben. In Sekundenschnelle erreichte er das Großstengestag, und augenblicklich begann er, zum Großmast hinüberzuhangeln. „In Ordnung, die beiden sind wir für eine Weile los!“ rief Roger Brighton lachend. Jeder an Bord kannte solche Spiele. Schimpanse und Papagei waren in ihrem Element, jeder auf seine Weise. Die wilde Verfolgungsjagd kreuz und quer durch die Takelage würde sich noch geraume Zeit fortsetzen. Der kleine Graue beobachtete mit großen Augen, was sich dort hoch oben abspielte. Eine Art Wehmut schien in seinen Augen zu liegen. Verstand er, daß es ihm niemals gelingen würde, sich in solche Höhen. hinaufzuschwingen? „Schluß der Vorstellung“, sagte Ben Brighton in die Stille hinein. „Ich denke, wir werden den Rest des Tages nicht damit verbringen, einen Hund zu bestaunen.“ Old Donegal Daniel O'Flynn räusperte sich. „Da gibt es nur noch eine Frage. Hat denn noch keiner von euch daran gedacht? Das Kind muß doch wohl einen Namen kriegen, oder?“ Die Zwillinge sahen den Alten verblüfft an. Ihnen erging es nicht anders als den übrigen Männern. An dieses Problem hatten sie in all der Aufregung noch nicht gedacht. „Immer das gleiche“, brummte Old O'Flynn. „Wenn nicht wenigstens einer einen klaren Kopf behält, wird das Wichtigste glatt vergessen. Also, dann mal los. Um Vorschläge wird gebeten.“ Er sah
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die Zwillinge an. „Von euch beiden sollte man das am ehesten erwarten.“ Die Söhne des Seewolfs dachten angestrengt nach. „Wenn er groß ist, sieht er bestimmt aus wie ein Wolf“, sagte Hasard nach einer Weile. „Also ein See-Wolf!“ rief Philip aufgeregt. „Das ist er doch dann, wenn er Bordhund wird.“ Die Männer brachen in schallendes Gelächter aus. „Diesen Vorschlag solltet ihr schnell wieder vergessen“, sagte Ben Brighton und lächelte. „Euer Vater könnte sich vielleicht auf den Arm genommen fühlen.“ Die beiden Jungen schwiegen betroffen. „Wie wär's, wenn wir ihn einfach ,Hund' nennen?“ schlug Will Thorne vor, der Segelmacher. „Geht nicht“, widersprach Pete Ballie, seines Zeichens Rudergänger an Bord der „Isabella“. „Der Hund ist eine Hündin.“ Wieder entstand Schweigen. Dann war es Ed Carberry, der schon grinste, bevor er zu reden anfing. „Ich will euch mal was sagen. Je länger ich mir das Vieh ansehe, desto mehr erinnert mich sein verlaustes Fell an eine bestimmte Sache.“ „Dafür kann er doch nichts“, entgegnete Hasard junior aufgebracht. „Er ist doch von irgendwelchen Menschen verstoßen worden und mußte sich ganz allein durchschlagen.“ „Reg dich ab, Rübenschweinchen.“ Ed Carberry grinste noch breiter. „Ich will nur sagen, daß mich dieses Hundefell ganz verteufelt an die wunderschönen Perücken unseres alten Freundes Plymson erinnert.“ Die Männer starrten abwechselnd den Profos und den kleinen Grauen verblüfft an. Ja, zum Teufel, es stimmte! Was Nathaniel Plymson, der Wirt der „Bloody Mary“ in Plymouth, als falsche Haarpracht zu benutzen pflegte, sah meist genauso struppig aus wie das Fell des bedauernswerten Hundchens. „Deshalb“, spann der Profos seinen Faden weiter, „sollte das Hundevieh Plymmie heißen, wenn ihr mich fragt. Plymmie und
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nicht anders.“ Beifällige Rufe wurden laut, und selbst Old O'Flynn war zufrieden. „Ausnahmsweise eine gute Idee von dir, Edwin. Was meinen unsere Junioren dazu?“ Philip und Hasard strahlten. „Plymmie ist toll!“ riefen sie wie einem Mund. „Irgendwie paßt das aber doch nicht“, sagte Pete Ballie zweifelnd. „Jeder weiß, daß ,Plymmie` ein Mann ist. Aber dieser Hund ist eine Hündin.“ „Dieser Hund ist eine Hündin“, äffte, Carberry ihn nach. „Mach einen Vers draus, Pete, und sing ihn uns vor.“ Der Profos wartete, bis sich das Gelächter gelegt hatte. „Ich verlange sofortige Abstimmung. Wer ist für ‚Plymmie`?“ Pete Ballie sah sich unvermittelt :n hochgereckten Armen umgeben, und so entschloß er sich zögernd, sich dem einhelligen Votum anzuschließen. „Jetzt fehlt nur noch die Taufe!“ rief Mac Pellew begeistert. Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in der Kombüse und kehrte im Handumdrehen mit einer Muck voll Bier zurück. Vorsichtig eng er damit in die Knie. „Hier, Plymmie, dein Tauftrunk. Nun laß es dir schmecken, kleine Lady.“ Nur einen kurzen Moment schnupperte Plymmie den Duft, der aus der Muck aufstieg. Dann schlabberte sie eifrig los. Und die Männer hieben sich vor vergnügen auf die Schultern. 4. Ein mächtiger gußeiserner Ofen reichte bis knapp unter die Balkendecke. Das Feuer bullerte behaglich, und bisweilen prasselten und knackten die Holzscheite in den Flammen. Heikki Lahtinen war ein weißhaariger Mann, den der Seewolf auf Anhieb sympathisch fand. Die unauffällige, doch gepflegte Kleidung des Kaufmanns und sein einfach eingerichtetes Kontor zeigten, daß er ein Mensch war, der von Äußerlichkeiten nicht viel hielt. Seine Sprache war leise und gedämpft, und obwohl Hasard ihn nicht verstand, spürte
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er doch, daß Lahtinen in seinem Wesen dem in aller Welt gültigen Bild des ehrbaren Kaufmanns entsprach. Heikki Lahtinen war sofort bereit gewesen, die Besucher aus England zu einem Gespräch zu empfangen. Hasard und Stenmark werteten es als ein wohltuendes Zeichen dafür, daß es in der weltoffenen Hafenstadt Abo weniger Antipathien gab als auf den Inseln vor der Südwestküste Finnlands. So erfuhr der Seewolf, daß Lahtinen Inhaber eines Handelshauses war, das sich auf Holzexporte spezialisiert hatte. Für die Verschiffung setzte das Kontor eigene Handelsfahrer ein. Dazu hatte auch die „Katkorapu“ gehört. Unter Kapitän Matti Hakulinen hatte sie Eichenholz, das bereits zu Planken geschnitten war, an eine Lübecker Werft liefern sollen. Während Stenmark übersetzte, was Hasard über das Geschehen um die „Katkorapu“ und ihren verbrecherischen Kapitän berichtete, spiegelte sich in der feinsinnigen Miene Lahtinens zunehmendes Entsetzen. „Den Verlust der Galeone und ihrer Ladung werde ich verschmerzen müssen“, sagte er, nachdem der Seewolf geendet hatte. „Viel schlimmer sind die Unannehmlichkeiten, die Sie und Ihre Mannschaft durch Matti Hakulinen erlitten haben, Sir Hasard.“ Von Stenmark wußte Lahtinen, daß der Seewolf von Königin Elisabeth I. zum Ritter geschlagen worden war. Der Kaufmann bestand darauf, die entsprechende Anrede zu verwenden, obwohl Hasard ihm erklärt hatte, daß er darauf keinen Wert lege. „Die Versuchung, ein Piratenleben in Wohlstand zu führen, muß für Hakulinen übermächtig gewesen sein“, sagte Hasard achselzuckend. „Ich kann es mir vorstellen“, erwiderte Lahtinen mit einem betrübten Nicken. „Der Mann neigte schon immer zu Gewalttätigkeiten. Es gab deswegen häufig Schwierigkeiten mit ihm. Wenn er nicht so ein hervorragender Seemann gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich schon vor langer Zeit auf seine Dienste verzichtet.“
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„Lassen wir die Vergangenheit auf sich beruhen“, sagte der Seewolf. „Ich deutete schon den eigentlichen Grund meines Besuchs an.“ „Richtig.“ Heikki Lahtinen lehnte sich zurück und preßte die Fingerspitzen gegeneinander. „Die englische Regierung ist also am Ankauf von Holz für den Schiffbau interessiert. Ich nehme an, daß für Sie nur gut abgelagertes, bestes Eichenholz in Frage kommt.“ „So ist es, Mister Lahtinen. Ich bin von der Königin beauftragt, Handelsbeziehungen im Ostseeraum anzuknüpfen. Was das Holz betrifft, so habe ich die Vollmacht, auch bereits einzukaufen, sofern sich ein vernünftiger Preis erzielen läßt.“ Heikki Lahtinen beugte sich vor. „Ich bin sicher, Sir Hasard, daß wir in dieser Beziehung eine gemeinsame Basis finden werden. Wissen Sie, hier treffen anscheinend günstige Zufälle zusammen. Ich habe selbst schon seit einiger Zeit die Möglichkeit ins Auge gefaßt, mit England Kontakt aufzunehmen. Diese Mühe haben Sie mir gewissermaßen abgenommen. Es wurde mir nämlich berichtet, daß England nach seinem Sieg über die spanische Armada verstärkt den Ausbau seiner Flotte betreibe.“ „Das entspricht den Tatsachen.“ „Nun gut, dann sollten Sie sich selbst von der Qualität des finnischen Holzes überzeugen, Sir Hasard. Ich denke, die finanziellen Modalitäten werden wir in gutem Einvernehmen regeln können. Nennen Sie mir einen Zeitpunkt, an dem Sie mein Holzlager besichtigen möchten.“ „Am besten gleich morgen vormittag. Ferris Tucker, unseren Schiffszimmermann, hätte ich gern als Fachmann dabei.“ „Selbstverständlich. Treffen wir uns also morgen früh hier im Kontor.“ Lahtinen schwieg einen Moment und sah den Seewolf forschend an. Dann gab er sich einen innerlichen Ruck. „Verzeihen Sie, Sir Hasard, es gibt da eine Frage. die mich bewegt, seit Sie mein Kontor betreten haben. Sie haben verblüffende Ähnlichkeit mit den Herren einer pommerschen
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Adelsfamilie, die ein Handelshaus in Kolberg besitzt.“ „Die Manteuffels“, erwiderte der Seewolf lächelnd. „Sie kennen die Familie also?“ „Oh, wir pflegen seit Jahrzehnten hervorragende geschäftliche Beziehungen. Aber - wie soll ich es ausdrücken? - reicht denn ein Zweig der Familie bis nach England?“ „So kann man es nicht nennen“, sagte Hasard. „Meine persönliche Geschichte muß für einen Außenstehenden ziemlich verworren klingen. Mein Vater war Godefroy von Manteuffel.“ „Nein!“ rief Heikki Lahtinen voller Überraschung. „Ist das wahr? Aber natürlich, jetzt ist mir diese Ähnlichkeit erklärlich. Wissen Sie, daß ich Ihren Vater gekannt habe? Bis er dann auf rätselhafte Weise verschollen ist. Ich muß gestehen, es drängten sich eine Unmenge von Fragen in mir auf. Sie müssen meine Fassungslosigkeit entschuldigen. Ist es vermessen, wenn ich Ihnen diese Fragen stelle? Haben Sie jemals etwas über das Schicksal Ihres Vaters erfahren? Und welche Wirrungen führten dazu, daß Sie nicht seinen Namen tragen und Engländer geworden sind?“ „Ich habe erst vor kurzem darüber berichtet“, erwiderte Hasard. „In Wisby auf Gotland gab es nämlich ein überraschendes Zusammentreffen mit meinem Cousin Arne von Manteuffel. Wir hatten uns nie zuvor gesehen...“ „Aber Ihre Ähnlichkeit ist frappierend! Das müssen Sie doch festgestellt haben, nicht wahr?“ „Ja, so war es.“ „Arne von Manteuffel ist ein würdiger Vertreter seiner Familie. Er hat alle Tugenden und Fähigkeiten, die den Manteuffels schon seit Generationen zu eigen sind. Und nun, da wir uns kennengelernt haben, bin ich sicher, daß auch Sie dieser Linie entsprechen.“ Für den Seewolf war es wohltuend, zu hören, mit welcher Hochachtung Heikki Lahtinen von der Familie seines Vaters sprach. Überdies war eine gute Vertrauensbasis für die geschäftlichen
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Dinge hergestellt, die es mit dem finnischen Kaufmann noch zu regeln galt. Geschwunden war das Gefühl, mit der zwischen Fremden gebotenen Distanz zu verhandeln. Hasard berichtete über seine Vergangenheit, die auch für ihn selbst während der Ostseereise unverhofft wieder in den Vordergrund seines Bewußtseins gerückt war. Es waren keineswegs nur glückliche Erinnerungen, die den Seewolf mit seiner Kindheit und Jugendzeit auf der Feste Arwenack in Cornwall verbanden. Erst sehr spät hatte er erfahren, daß er nicht der leibliche Sohn von Lady Anne Killigrew sein konnte. Jener Lady, die er bis zum Erwachsenwerden für seine Mutter gehalten hatte - ebenso, wie er in Sir John Killigrew den Vater gesehen hatte, bis ihm die Augen geöffnet worden waren. Die Zeit in Cornwall schien für Hasard eine Ewigkeit zurückzuliegen und zu einem Abschnitt zu gehören, der sich vor seinem eigentlichen Leben abgespielt hatte. Trotzdem hatte er nichts vergessen, alles war wie unauslöschlich in sein Bewußtsein eingebrannt. So berichtete er auch von jener Hansekogge, die Lady Anne Killigrew nachts im Hafen von Falmouth hatte kapern lassen. Nur das Baby, das die räuberische Lady an Bord gefunden hatte, war auf ihren Befehl am Leben geblieben - der kleine Junge, den sie als ihr eigen angenommen und dem sie den Namen Philip Hasard gegeben hatte. Hasard schilderte die Zeit, in der er sich von den Killigrews losgesagt hatte, nachdem ihm die gehörigen Seebeine gewachsen waren. Mehr durch einen Zufall hatte er die Spur seiner Vergangenheit aufnehmen können, und diese Spur hatte auf einer irischen Werft begonnen. Dort hatte Hasard das Wrack der alten Hansekogge entdeckt, die viele Jahre zuvor von Lady Annes Schergen gekapert worden war. Und nach dieser Entdeckung war es noch ein weiter Weg gewesen, der mit vielen Wirrungen dazu führte, daß Hasard vom traurigen Schicksal seiner spanischen Mutter und seines deutschen Vaters erfuhr.
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Heikki Lahtinen antwortete nicht sofort. Der freundliche, weißhaarige Mann, der über sechzig Jahre alt sein mußte, wirkte ergriffen. Wie gut er Godefroy von Manteuffel auch gekannt haben mochte, es mußte schmerzlich für ihn sein, von dessen tragischem Tod zu erfahren. Während Hasard sein Gegenüber ansah, schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß sein Vater ungefähr so alt sein würde wie Lahtinen, sofern er heute noch gelebt hätte. „Kein Außenstehender kann nachempfinden, was diese Lebensgeschichte an persönlichem Schmerz für Sie gebracht hat“, sagte der Kaufmann schließlich. „Deshalb will ich nicht nach schönen Worten suchen, die jetzt sowieso unangebracht wären.“ „Keine Sorge“, entgegnete Hasard lächelnd, „die Vergangenheit bringt mich nicht mehr aus der Fassung.“ „Seien Sie froh darüber. Ich kenne Menschen, die ständig nur in der Wahnvorstellung leben, das zurechtrücken zu müssen, was hinter ihnen liegt. Nein, wer nicht Gegenwart und Zukunft als das Wichtigste betrachtet, der hat geringere Chancen im Leben. Aber“, Lahtinen winkte ab, „ich will Sie nicht mit tiefschürfenden Betrachtungen langweilen. Ihr Schiff ist heute in Abo eingelaufen. Vielleicht gibt es Dinge, die noch zu regeln sind. Ich könnte Ihnen behilflich sein.“ „Danke. Fürs erste sind wir bestens versorgt. Aber eins wäre wichtig, Mister Lahtinen: Bevor wir Abo wieder verlassen, brauchen wir Kartenmaterial vom südwestlichen Küstengebiet Finnlands.“ „Selbstverständlich“. sagte Lahtinen bereitwillig. „Ich lasse Ihnen das Material gleich morgen zusammenstellen. Bestimmt hatten Sie Schwierigkeiten auf der Fahrt durch die Inselregion.“ „Und ob.“ Hasard berichtete von den Geschehnissen mit den kauzigen Inselbewohnern. von der Welle der Abneigung, die ihnen entgegengeschlagen war, und von den Auseinandersetzungen mit dem Bärtigen, der nach seiner
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Niederlage als Zwangslotse der „Isabella“ fungiert hatte. Heikki Lahtinen beugte sich überrascht vor und bat den Seewolf, diesen Bärtigen näher zu beschreiben. Mit Stenmarks Hilfe gelang es Hasard, ein ziemlich genaues Bild von dem Mann zu liefern. Lahtinen nickte mehrmals besorgt. „Es gibt keinen Zweifel“, sagte er dann, „dieser Mann ist Paavo Korsumäki. Ein gefürchteter Bursche, vor dem Sie sich auch weiterhin in acht nehmen sollten. Die Inselbewohner, mit denen Sie da aneinandergeraten sind, haben sich bislang jeder Christianisierung mit Erfolg widersetzt. Korsumäki ist für sie eine Art Häuptling. Sie leben noch so, wie es ihre Vorfahren vor Jahrhunderten taten, und sie hassen alles Fremde. Durch die Lage der Inseln bleiben sie ohnehin isoliert. Außerdem sind sie berüchtigt für Strandraub und Piraterie.“ „Dadurch wird vieles erklärlich“, sagte Hasard und nickte. „Unser größter Fehler war es wohl, diesen verdammten Runenstein für eine Felsnadel zu halten.“ „Gerade deshalb sollten Sie vorsichtig sein, wenn Sie weiter ostwärts in den Finnischen Meerbusen segeln. Diese Inselbewohner und vor allem Paavo Korsumäki sind ein rachsüchtiges Volk. Begehen Sie nicht den Fehler, Korsumäki zu unterschätzen. Meiner Meinung nach war es verkehrt, den Kerl laufenzulassen. Unser Stadtkommandant wäre froh gewesen, ihn hinter Schloß und Riegel zu haben.“ Hasard dachte an Ben Brighton, der mit seiner Vermutung also recht gehabt hatte. Doch ein Selbstvorwurf war in diesem Fall nicht angebracht. Von all diesen Hintergründen, die Heikki Lahtinen ihm soeben schildert hatte, hatte er nichts wissen können. Hasard bedankte sich bei Lahtinen nur das ausführliche Gespräch. Sie vereinbarten, sich am nächsten Morgen um zehn Uhr zu treffen. Auf dem Rückweg zum Hafen sah Stenmark den Seewolf mehrmals
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überraschend von der Seite an, sagte aber nichts. Hasard war ungewohnt schweigsam. Die Ursache seiner Nachdenklichkeit waren Lahtinens Worte über Paavo Korsumäki. Hasard hatte das Gefühl, sich selbst dafür in den Hintern treten zu müssen, daß er diesem Halunken auch noch einen Beutel voller Silbermünzen mit auf den Weg gegeben hatte. 5. Ungewohnte Geräusche empfingen Hasard und Stenmark, als sie den Liegeplatz der „Isabella“ erreichten. Ein seltsames Plätschern war es, das sie bereits hörten, während sie noch auf die Stelling zustrebten. Begleitet wurde dieses Plätschern vom hellen Lachen der Zwillinge und von weiteren merkwürdigen Geräuschen, die zeitweise wie ein Jauchzen klangen. Hasard und Stenmark wechselten einen Blick. „Muß wohl seine Richtigkeit haben, Sir“, sagte Stenmark und lächelte. „Ben Brighton und die anderen würden es doch nicht zulassen, daß die beiden an Bord irgendwelche Dummheiten verzapfen.“ Dennoch waren die Junioren wie vom Donner gerührt, als sie ihren Vater und seinen Begleiter durch die Pforte im Schanzkleid treten sahen. Im ersten Moment verschlug es dem Seewolf die Sprache. Er blieb stehen, legte die Hände in die Hüften und blinzelte. Stenmark reagierte so, wie es die meisten anderen an Bord getan hatten. „Ich werd' verrückt!“ entfuhr es ihm. „Noch ein Vieh!“ Hasard schwankte zwischen Verblüffung und Heiterkeit. Das Bild, das er vor sich sah, reizte eher zum Lachen. Die Zwillinge hockten neben einem Waschzuber. über dessen hölzernen Rand lugte ein klatschnasser grauer Hundekopf. Die Augen des kleinen Vierbeiners waren groß und traurig, als spüre er, daß von diesem hochgewachsenen, schwarzhaarigen Mann die endgültige
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Entscheidung über sein Schicksal abhinge. Rings um den Waschzuber verharrten zehn ausgewachsene Männer in andächtigem Schweigen, als erlebten sie eine Szene, die alles Außergewöhnliche in ihrem bisherigen Leben noch übertraf einschließlich Ed Carberry, Old O'Flynn und Luke Morgan, die sich offenbar sehr ausgiebig dem Füßevertreten widmeten. Hoch oben in der Takelage verfolgte Arwenack mit halsbrecherischen Turnübungen einen wildflatternden Sir John. Das Schweigen auf der Kuhl war beklemmend. Der Kutscher brach es, indem er zögernd auf den Zuber zuging. Er sprach hastiger als gewohnt. „Das arme Tier wurde mit Steinen beworfen“, sagte er und hob das triefende Hundchen ein Stück aus dem warmen Wasser hoch. „Gebrochen ist aber nichts, es handelt sich lediglich um einige Prellungen. Positiv ist im übrigen zu vermerken, daß er -hm - sie sich bereitwillig baden läßt. Das ist bei Hunden durchaus nicht selbstverständlich.“ „Sicher.“ Hasard nickte und lächelte. „Es soll auch Menschen mit solchen Eigenschaften geben. Würde jemand die Freundlichkeit haben, mir zu erklären, was sich vor diesem offenbar hochinteressanten Hundebad abgespielt hat?“ Die Zwillinge erkannten ihre Chance. Bis eben noch hatten sie verlegen auf die Planken geblickt, wie Hühnerdiebe, die auf frischer Tat ertappt worden waren. „Dad, das war so“, haspelte Hasard junior los. „Als wir allein in der Stadt waren ...“ „Wir haben uns wirklich in nichts eingemischt und waren auch zu niemandem unfreundlich“, redete Philip junior dazwischen, „es war einfach so, daß wir nicht mit ansehen konnten ...“ Der Seewolf bremste den Wortschwall seiner Söhne mit einer beschwichtigenden Handbewegung. „Wie wäre .es, wenn nur einer zur Zeit spricht?“ Die Jungen schluckten, sahen aber, daß ihr Vater offenbar nicht so erbost war, wie sie
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befürchtet hatten. Während sie nun abwechselnd berichteten, was sich in der Stadt abgespielt hatte, leckte ihnen der junge Wolfshund zutraulich die Hände. Nachdem die Zwillinge geendet hatten, konnte Ben Brighton nicht umhin, gleichfalls eine Erklärung abzugeben. „Uns hat fast der Schlag getroffen, als sie mit dem Hundevieh an Bord auftauchten“, berichtete er, „aber wir haben darüber diskutiert und dann einen einstimmigen Beschluß gefaßt. Alle Anwesenden sind dafür, daß der Kleine als Bordhund bei uns bleibt.“ „Da ist noch was“, meldete sich Ed Carberry dröhnend zu Wort. „Auch die Taufe hat bereits stattgefunden. Das Vieh heißt ab sofort Plymmie, nach unserem ehrenwerten Freund Plymson, auch wenn's eine Hündin ist.“ „Und da ist noch was!“ rief Old O'Flynn grinsend. „Die Idee für diesen Namen hatte kein Geringerer als unser Profos.“ Er wich einem Seitenhieb aus, den Carberry ihm in aller Bescheidenheit verpassen wollte. „Plymmie“, wiederholte Hasard mit einem Nicken. „Gar nicht schlecht, Ed. Wenn ich unseren vierbeinigen Zuwachs ansehe und an Nathaniels falsche Haarpracht denke, drängen sich Vergleiche auf. Liege ich richtig?“ „Haargenau, Sir.“ Der Profos faltete seine mächtigen Pranken vor der Gürtelschnalle und wiegte verlegen seinen turbangekrönten Kopf. „Natürlich wollten wir deiner endgültigen Entscheidung nicht vorgreifen, Sir”, sagte Ben Brighton, „mit unserer Abstimmung wollten wir nur eine grundsätzliche Meinungsbildung erreichen. Vielleicht hältst du es für richtig, wenn Smoky und die anderen auch noch abstimmen.“ Der Seewolf schüttelte lächelnd den Kopf. „Nicht nötig, Ben. Erstens weiß ich sowieso, wie die Abstimmung ausfallen würde, und zweitens habe ich gegen einen Bordhund absolut nichts einzuwenden, weil ...“
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Die Zwillinge stießen einen Jubelschrei aus. Plymmie spitzte erschrocken die Ohren. „Weil“, fuhr Hasard mit erhobener Stimme fort, „gerade ein Wolfshund, der er ja zu sein scheint, besonders gut als Wachhund geeignet ist. Voraussetzung ist natürlich, daß er gut erzogen wird. Ich denke nur an die Inselfinnen, die uns die Jollen gestohlen haben. Mit einem Bordhund wäre uns das wahrscheinlich nicht passiert.“ „Und wegen der anderen Sache“, fragte Hasard junior vorsichtig, „bist du uns deswegen auch nicht böse, Dad?“ „Du meinst eure Prügelei in der Stadt? Nein, ihr habt euch sehr richtig verhalten. Tierquälerei ist etwas, was kein ordentlicher Mensch untätig mit ansehen darf. Allerdings ist es ab sofort eure Aufgabe, euch um Plymmie zu kümmern. Vor allem ...“ Er brach ab. Plymmie, die während des Gesprächs niemand weiter beachtet hatte, hielt ihr Bad für beendet und sprang mit einem Satz aus dem Zuber. Energisch schüttelte sie das Wasser aus ihrem Fell, verließ eilends den Halbkreis der Männer und hockte sich an das Steuerbordschanzkleid. Die Zwillinge sperrten den Mund auf, als sie sahen, wie unter Plymmies hoch erhobenem buschigen Wolfsschwanz ein kleiner See entstand, der sich mehr und mehr vergrößerte. Die Männer grinsten. „Vor allem“, fuhr Hasard fort, „habt ihr darauf zu achten, daß die Decks nicht verunreinigt werden. Ist das klar?“ Plymmie schüttelte sich abermals und eilte schwanzwedelnd zu den beiden Jungen, um ihnen wieder die Hände zu lecken. „Mac, du Lump“, sagte der Kutscher, „du hast ihr zuviel Bier gegeben, sonst wäre das nicht passiert.“ „Ein Bordhund“, Mac Pellew grinste, „muß an so was gewöhnt sein. Was soll denn zum Beispiel aus Plymmie werden, wenn wir irgendwann in einer Flaute festliegen und die Wasservorräte zur Neige gehen?“
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„Wie dem auch sei“, erklärte der Seewolf, „sie muß noch eine Menge lernen. Wenn wir auf See sind, hat sie ihr Geschäft nach außenbords zu erledigen. Bei Liegezeiten in Häfen führt ihr, Hasard und Philip, sie regelmäßig an Land. Und jetzt scheuert ihr das Deck.“ Die Zwillinge hasteten los, um sich mit Wasser und Schrubber zu versorgen. „Die Gentlemen Carberry, O'Flynn und Morgan beenden jetzt ihr Füßevertreten und begeben sich schleunigst zurück in die Krankenkammer“, sagte Hasard energisch. „Für die anderen ist es Zeit zum Abendessen, denke ich. Ferris und Ben, ich brauche euch beide noch für ein kurzes Gespräch.“ Während die anderen sich ins Mannschaftslogis verzogen und die drei „Kranken“ ausnahmsweise keine Widerrede fanden, folgten der Erste Offizier und der Schiffszimmermann dem Seewolf in den Kapitänssalon. Dort berichtete Hasard über das Gespräch mit Lahtinen und die bevorstehende Holzbesichtigung am nächsten Morgen. Die Zwillinge scheuerten unterdessen mit Feuereifer die Stelle, an der sich der frischgebackene Bordhund unerlaubterweise erleichtert hatte. Plymmie schaute ihnen mit anhaltendem Schwanzwedeln interessiert zu. Nachdem sie den Waschzuber und alle anderen Utensilien weggeräumt hatten, hinterließen die Jungen ein blitzsauberes Deck. Für das Abendessen gönnten sie sich nur wenig Zeit. Eilends kehrten sie mit Plymmie, die ihnen bereitwillig überallhin folgte, auf die Kuhl zurück. Es war dunkel geworden. Die Wolkendecke über der abendlichen Hafenstadt ließ keinen Sternenglanz durchscheinen. An den Piers und in den Hafengassen loderten die Pechfeuer in hohen Stangenkörben. „Sollten wir ihr nicht erst beibringen, wie sie ihr Geschäft von dem Galion aus erledigt?“ fragte Hasard junior. Sein Bruder tippte sich an die Stirn. „Unsinn. Völlig falsch. Wie du vielleicht bemerkt hast, liegen wir in einem Hafen.“
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„Ja, und? Was hat das damit zu tun?“ „Eine ganze Menge. Plymmie ist ein kluger Hund. Sie muß wissen, daß wir unter diesen Umständen mit ihr von Bord gehen, damit sie sich entleeren kann. An das Galion darf sie folglich nur denken, wenn wir auf See sind.“ „Meinst du, daß sie das unterscheiden kann?“ „Und ob! Sag mal, für wie blöd hältst du eigentlich einen Hund?“ „Besserwisser“, knurrte Hasard junior. „Also los, auf zum Landgang mit Plymmie!“ Wie groß Plymmies Vertrauen zu den beiden Jungen bereits war, zeigte sich, als sie ihnen ohne Zögern auch über die Stelling zur Pier hinunterfolgte. Philip und Hasard folgten den Lichtpunkten der Stangenfeuer. Jeder Seemann konnte sich daran orientieren, wenn er den Gassen mit ihrer Vielzahl von Hafens schenken und anderen Vergnügungsstätten entgegenstrebte. Für die Jungen diente die Lichterkette indessen nur dem Zweck, daß sie als folgsame Söhne des Seewolfs dunkle Ecken zu meiden hatten. Anfangs wandten sie sich nach jedem Schritt um, denn immerhin bestand die Möglichkeit, daß Plymmie sich doch noch eines anderen besann und plötzlich verschwand. „Vielleicht sollten wir doch besser eine Leine holen“, sagte Philip zweifelnd. Plymmie war schwanzwedelnd zur Stelle, reckte den Jungen auffordernd den Kopf entgegen und war erst zufrieden, als sie ausgiebig gestreichelt wurde. „Siehst du!“ sagte Hasard lachend. „Deine Leine brauchst du nun wirklich nicht. Hunde sind die treuesten Freunde des Menschen, nicht wahr? Sie wird immer zu uns zurückkehren, weil sie weiß, daß auch wir ihre Freunde sind.“ „Hm.” Philip nickte versonnen. „Ich denke, du hast recht. Wenn sie wollte, hätte sie längst abhauen können.“ Die Jungen setzten ihren Weg fort. An den Liegeplätzen der Schiffe war es still geworden. Die meisten Seeleute befanden sich an Land, um diese seltene Gelegenheit in vollen Zügen auszukosten. Auf den
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Handelsseglern waren die Wachen aufgezogen, und vereinzelt schimmerte Licht aus den kleinen Fenstern der Achterdeckskammern, wo sich vermutlich Kapitäne und Offiziere zu einer abendlichen Plauderstunde zusammengefunden hatten. Plymmie blieb ständig in der Nähe ihrer beiden jungen Herrchen. Eifrig schnuppernd erforschte sie die Umgebung, wobei sie zeitweise hinter den Jungen blieb, dann neben ihnen, aber auch vorauslief. Leere Pökelfleischfässer, die vor mehreren Schiffen aufgereiht waren, erweckten jedesmal ihr besonderes Interesse. „Hoffentlich kommt sie bald zur Sache“, sagte Hasard, als sie schon. gut hundert Yards von der „Isabella“ entfernt waren. Denn Plymmie zeigte bislang nicht die geringste Bereitschaft, den erwünschten See und das fällige Häufchen zu produzieren. „Man muß es ihr beibringen“, sagte Philip kurz entschlossen, „sonst laufen wir noch morgen früh hier herum.“ „Da bin ich mal gespannt.“ Hasard grinste. „Willst du es ihr etwa vorführen?“ Philip blieb stehen und schoß einen zornigen Seitenblick auf seinen Bruder ab. Dann drehte er sich zu Plymmie um, die freudig hechelnd auf sie zutrottete. Und wieder die unmißverständliche Aufforderung, gestreichelt zu werden. „Nein“, sagte Philip energisch, „erst haben wir was zu erledigen, Lady. Komm, sei ein braves Hundchen!“ Plymmie stellte die Ohren steil auf, und mit offenkundigem Erstaunen beobachtete sie Philip, der sich rückwärts gehend und mit lockenden Gesten auf einen Kistenstapel zubewegte. Hasard mußte sich die Hand vor den Mund halten, um sein Kichern zu unterdrücken. Philip blieb vor einer halbdunklen Ecke des Kistenstapels stehen und wies mit dem Zeigefinger auf den Boden. „Hier, Plymmie, hierher!“ Folgsam lief der Bordhund der „Isabella“ los, wobei er bewies, daß sein verletztes Hinterbein schon wieder halbwegs in
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Ordnung war. Vor Philips Füßen verharrte Plymmie und begann, aufgeregt an der Stelle zu schnuppern, auf die sein Zeigefinger wies. Hasard konnte sein Lachen nicht länger zurückhalten. „Die Verständigung klappt noch nicht, Bruderherz! Hast du die Hundesprache nicht richtig gelernt?“ „Halt den Rand!“ fauchte Philip. „Wir fangen ja gerade erst an mit der Ausbildung.“ Als er sich abermals Plymmie zuwenden wollte, vollzog sich mit ihr eine jähe Verwandlung, wie sie die Zwillinge bislang noch nicht erlebt hatten. Das eben noch freundliche Hundchen verharrte stocksteif, die Ohren steil aufgerichtet. Plymmies schon beachtliche Reißzähne schimmerten, als sie ein tiefes Knurren hören ließ. Philip, der unwillkürlich zurückwich, begriff erst im zweiten Moment. daß das Knurren nicht ihm galt. „Ein klarer Fehler“, sagte Hasard, „du darfst einem Hund niemals zeigen, daß du Angst hast.“ „Habe ich nicht.“ „Was denn sonst?“ „Ich habe mich nur erschrocken.“ „Na und? Ist das etwa keine Angst?“ Die beiden Jungen wurden schlagartig still, denn in diesem Augenblick zeigte sich der Grund für Plymmies plötzlich geänderte Verhaltensweise. Ohne Anlauf schnellte Plymmie los, an dem etwa mannshohen Kistenstapel hoch, bis zur Oberkante. Dort tauchte ein braun-weiß getigertes Etwas auf und hieb blitzschnell mit der Pfote zu. Mit Wutgeheul ließ sich Plymmie zurücksinken. Doch nur, um jetzt einen richtigen Anlauf zu nehmen. Die Katze zeigte sich jetzt in voller Größe auf ihrem Platz in vermeintlich sicherer Höhe. Ein wohlgenährter kleiner Tiger, dessen Kopf- und Rückenhaare zu einer regelrechten Borste gesträubt waren. Plymmie setzte zu ihrem zweiten Ansturm an, bevor Philip und Hasard sich
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entschließen konnten, ob sie eingreifen sollten oder nicht. Zum Entsetzen der Katze schaffte es ihr knurrender Erzfeind diesmal mit rasantem Sprung, den Kistenstapel zu erklimmen. Buchstäblich in letzter Sekunde wich der Kleintiger vor den zuschnappenden Reißzähnen zurück und ergriff die Flucht in die Dunkelheit auf der anderen Seite des Stapels. „Plymmie!“ rief Hasard junior reaktionsschnell. „Plymmie, hierher!“ Zu spät. Wie ein geölter Blitz sauste der kleine Graue in die Richtung davon, in die die Katze verschwunden war. „Verdammter Mist“, knurrte Philip, „man kann sich also doch noch nicht auf sie verlassen.“ „Bei einer Katze vergißt sie alle guten Manieren. Das ist der Ur-Instinkt oder so was.“ Den Jungen blieb nichts anderes übrig, als weiter nach Plymmie zu rufen. Eine kleine Ewigkeit schien zu vergehen, während sie sich fast die Kehlen heiser schrien. Dann, als sie schon nahe daran waren, aufzugeben, tauchte ein grauer Schatten rechts neben dem Kistenstapel auf. „Plymmie!“ riefen die Zwillinge freudestrahlend. „Braves Hundchen!“ Plymmie hechelte mit heraushängender Zunge und ließ sich im Halbdunkel nieder. Als sie sich nach einer Weile wieder aufrichtete, hinterließ sie jenen See und jenes Häufchen, auf das die Jungen zuvor vergeblich gehofft hatten. Philip und Hasard liefen ihr entgegen, als sie sich ihnen mit heftig wedelndem Schwanz näherte, streichelten sie und lobten sie überschwänglich für die gute Tat. „Vielleicht hat sie die Katze erwischt“, meinte Hasard, „und jetzt denkt sie, wir loben sie deshalb.“ „Glaube ich nicht“, entgegnete Philip, „ein Hund kann bestimmt nicht, so weit zurückdenken. Der erinnert sich wahrscheinlich immer nur an das, was er zuletzt ge ...“ Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Jäh wurden hastige Schritte laut. Stiefelsohlen verursachten einen harten
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Klang auf dem Steinpflaster. Schatten jagten aus der nahen Einmündung einer düsteren Gasse heran. Vier Kerle waren es, dunkel gekleidet und fast eins mit der Nacht, bis auf die hellen Flecke ihrer Gesichter. „Weg hier!“ schrie Hasard junior noch und wollte nach rechts davon. Doch er hatte den Augenblick des Erschreckens nicht schnell genug überwunden. Nur zwei oder drei Schritte schaffte er. Dann waren zwei der Kerle bei ihm. Plymmie stieß ein heiseres Knurren aus. Aus dem Stand schoß sie mit einem federnden Sprung auf die beiden anderen Männer zu, die Philip zu überwältigen suchten. Hasard wurde durch einen gemeinen Stoß zu Boden geschleudert. Im nächsten Moment packten ihn derbe Fäuste und rissen ihn wieder auf die Beine. Die matte Helligkeit genügte ihm, um zu sehen, was sich abspielte. Mit Todesverachtung attackierte Plymmie einen der Kerle, die es auf Philip abgesehen hatten. Die blitzenden Reißzähne schnappten zu. Der Angreifer schrie auf, torkelte zurück und starrte entsetzt auf seine blutende Hand. Bevor der andere sich's versah, hatte Plymmie ihn am Hosenbein gepackt und zerrte mit aller Kraft daran, indem sie ihre Beine standhaft in die Fugen des Steinpflasters stemmte. Der Mann brüllte vor Wut, ruderte mit den Armen und bemühte sich krampfhaft, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Fortwährend war Plymmies zorniges, heiseres Knurren zu hören. Vergeblich versuchte Hasard junior unterdessen, sich dem Griff seiner Bezwinger zu entwinden. Und geistesgegenwärtig erkannte er, daß sein Bruder dank Plymmies Hilfe Luft hatte nur für den Moment noch. Und diesen Moment galt es zu nutzen. „Philip!“ brüllte er daher. „Hau ab! Schlag Alarm auf der ,Isabella`! Los, hau ab!“ Philip, eben noch bereit, sich gegen die heimtückischen Kerle zur Wehr zu setzen, erkannte, daß sein Bruder recht hatte. Sie
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konnten es nicht schaffen. Die Übermacht war zu groß. Kurz entschlossen warf sich Philip herum und rannte los. Sosehr es schmerzte, seinen Bruder den gewalttätigen Halunken zu überlassen, war dies doch die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen. Plymmie ließ von dem Kerl ab, dessen Hosenstoff bereits zu reißen begann. Mit langen Sätzen folgte sie Philip. Die beiden Angreifer, die Plymmie auf Distanz gehalten hatte, setzten noch zur Verfolgung an, gaben aber nach wenigen Schritten auf. Sie mußten erkennen, daß sie es an Schnelligkeit nicht mit Philip aufnehmen konnten. Überdies konnten sie es nicht riskieren, sich zu nahe an die „Isabella“ heranzuwagen. Hasard versuchte immer noch, sich zur Wehr zu setzen. Doch die Kerle packten ihn zu zweit und schleiften ihn von der Pier weg in die Dunkelheit der Gasse. 6. Der Seewolf handelte sofort. Keine zwei Minuten waren vergangen, seit Philip junior und Plymmie mit Getöse an Bord gestürmt waren. Gemeinsam mit Roger Brighton, Ferris Tucker, Stenmark, Matt Davies und Sam Roskill eilte der Seewolf sofort los. Philip junior und Plymmie führten die Männer zu der Stelle, an der sich der heimtückische Überfall ereignet hatte. Nirgendwo war eine Menschenseele zu sehen, weder an der Pier noch in der nahen Gasse. „Dorthin sind sie verschwunden“, sagte Philip junior atemlos. Mit ausgestrecktem Arm wies er in die Dunkelheit. „Das habe ich noch gesehen.“ Bevor der Seewolf oder einer der anderen Männer antworten konnten, drängte sich Plymmie plötzlich in den Vordergrund. Minutenlang schnüffelte sie dort, wo Hasard junior von den Unbekannten überwältigt worden war. Im nächsten Moment strebte Plymmie davon, weiterhin schnüffelnd, in die Gasse,
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die die Entführer des jungen Hasard als Fluchtweg benutzt hatten. „Hinterher!“ entschied der Seewolf kurzerhand, und er folgte dem Bordhund als erster, bevor sie den Anschluß verlieren konnten. Sofort begriffen auch die Männer aus der Crew. Sie mußten ihre Schritte beschleunigen, denn Plymmie entwickelte ein beträchtliches Tempo bei der Fährtensuche. Allen wurde jetzt klar, und dies registrierte besonders Philip junior mit Stolz, daß sie einen guten Griff bei ihrer Entscheidung in Sachen Bordhund getan hatten. Plymmie war nicht nur überaus intelligent, sie hatte überdies noch das Zeug zu einem erstklassigen Jagdhund. Zielstrebig führte sie die Männer von der „Isabella“ kreuz und quer durch das Gewirr der Hafengassen. Die Entführer mußten diesen scheinbar planlosen Weg genommen haben, weil sie offenbar vermuteten, daß sie ihre Verfolger auf diese Weise besser abschütteln konnten. Plymmies Fährtensuche führte nach einer guten halben Stunde zurück in den Hafen, allerdings in eine Bucht, die drei bis vier Kabellängen von der „Isabella“ entfernt war. An einem breiten Steg lagen dort mehrere Kähne vertäut, die zweifellos Schiffsausrüstern, Lotsen oder anderen Hafenbetrieben gehörten. Plymmie lief auf den Steg hinaus, verharrte dort unmittelbar am Wasser und bellte in die Dunkelheit. Hasard wandte sich zu seinen Männern um. „Was das bedeutet, ist klar“, sagte er niedergeschlagen. „Die Kerle sind mit dem Jungen in einem Boot geflüchtet.“ „Und sie wissen genau“, sagte Ferris Tucker, „daß wir sie da draußen im Dunkeln nie und nimmer aufspüren können.“ Der Seewolf preßte die Lippen aufeinander, und auch die anderen schwiegen bedrückt. Ferris hatte recht, so deprimierend es auch war. Während der Nachtstunden noch eine Suche einzuleiten war völlig sinnlos. Überdies hatten die Entführer alle Vorteile auf ihrer Seite, denn sie kannten sich in dem Inselgewirr vor
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dem Hafen von Abo bestens aus. Hasard schickte seinen Sohn auf den Steg hinaus, damit er Plymmie beruhigte und zurückholte. Auf ein Zeichen des Seewolfs begaben sie sich dann gemeinsam auf den Rückweg zur „Isabella“. Kein Wort wurde unterwegs gesprochen, alle waren von den gleichen bitteren Gedanken erfüllt. Für den Seewolf gab es indessen keinen Zweifel daran, wem er diesen hinterhältigen Anschlag zu verdanken hatte. Kein anderer als Paavo Korsumäki konnte der Kopf der Entführerbande sein. Ratlosigkeit stand in ihren Mienen, als sie an Bord zurückgekehrt waren. Und nachdem sie berichtet hatten, erging es auch Ben Brighton und den anderen nicht besser. Ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt. Jeder von ihnen verspürte den Drang, etwas zu unternehmen, statt tatenlos herumzusitzen. Doch die traurige Gewißheit, daß es nichts gab, was man tun konnte, drückte jeglichen Tatendrang mit bleierner Schwere nieder. Hasard blieb bei seinen Männern auf der Kuhl. Er konnte sich nicht zurückziehen, denn keiner wollte den anderen jetzt mit seinen quälenden Gedanken allein lassen. Wieder einmal zeigte sich ihrer aller Bewußtsein, eine zusammen geschmiedete Gemeinschaft zu sein. Der junge Hasard war, ebenso wie sein Bruder, ein vollwertiges Mitglied dieser Gemeinschaft. „Wir müssen uns mit der Lage der Dinge abfinden“, sagte der Seewolf zähneknirschend. „Das bedeutet, daß dieser Korsumäki in Kürze mit Forderungen aufwarten wird.“ „Du meinst Lösegeld?“ fragte Ben Brighton gedämpft. Hasard sah ihn an. „Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie sonst ausgerechnet den Jungen entführt haben. Im übrigen brauchst du nichts zu sagen, Ben. Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich Korsumäki habe laufenlassen. Wir hätten ihn in die Piek sperren sollen.“ „Als Lotse wäre er bestimmt nicht mehr viel wert gewesen.“ Ben Brighton wiegte den Kopf. „Garantiert hätte er die ‚Isabella'
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bei erstbester Gelegenheit auf ein Riff brummen lassen,“ „Wie auch immer“, meldete sich Ed Carberry grimmig zu Wort, „wir werden diesen Mistkerl finden, und dann kriegt er Feuer unter seinen Affenarsch, daß er sich wünscht, nie ein verdammter Inselaffe geworden zu sein.“ „An Plymmie denkt ihr überhaupt nicht!“ rief Philip junior enttäuscht. „Wenn sie nicht so gut aufgepaßt hätte, dann wären Hasard und ich gemeinsam verschwunden, und keiner wüßte überhaupt, was sich abgespielt hat.“ „Natürlich hast du recht“, sagte der Seewolf mit einem matten Lächeln. Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter und bückte sich, um den Wolfshund zu streicheln. „Brave Plymmie, guter Hund. Dafür gibt's morgen eine Extraration vom Kutscher.“ Plymmie legte den Kopf schief, und ihre Wolfsrute peitschte freudig die Decksplanken. Jeder der Männer war fest überzeugt, daß sie verstand, wofür sie gelobt wurde. . Auf der Pier näherte sich lautstarkes Stimmengewirr. Heisere Stimmen, ausgelassen und überschwenglich, wie sie nur Seeleute nach einem ausgiebigen Landgang hervorbringen konnten. Kurz darauf polterten Schritte die Stelling herauf. Und dann, als Smoky und seine Landgänger im Schein der Bordlaternen die Kuhl erreichten, versiegte das fröhliche Gejohle sehr bald. „Himmel noch mal, ihr seht aus wie drei Tage Regenwetter“, entfuhr es Piet Straaten, der wie Jan Ranse und Nils Larsen aus der Crew Jean Ribaults stammte. Unter dem Kommando des Wikingers Thorfin Njal waren sie vor der bretonischen Küste zu den Seewölfen gestoßen. Später in Plymouth hatte Thorfin die drei Männer auf Hasards Wunsch an die „Isabella“ abgegeben. Dafür hatte Hasard allerdings die letzte gemeinsame Zeche in Nathaniel Plymsons „Bloody Mary“ zahlen müssen, ehe der Wikinger mit dem Schwarzen Segler auf Nordkurs
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gegangen war, um das legendenumwobene Thule zu suchen. Smoky bedachte den Holländer mit einem ärgerlichen Blick und schüttelte tadelnd den Kopf. Piet Straaten hatte eindeutig zuviel von den kristallklaren „Wässerchen“ genossen, die in den Hafenkneipen von Abo ausgeschenkt wurden. Die anderen hielten den Mund und begriffen sehr wohl, daß man angesichts der bedrückten Stimmung nicht unbedingt ins Fettnäpfchen treten mußte. Smokys Blick fiel auf Philip junior und auf den Wolfshund. Daß die Geschehnisse damit zusammenhängen mußten, war augenscheinlich. „Was ist passiert, Sir?“ fragte der Decksälteste halblaut, während er auf Hasard zuging. Der Seewolf wandte sich ihm und den anderen Männern zu, die nach ihrem vergnüglichen Aufenthalt in der Stadt eine jähe Ernüchterung erlebten. In knappen Worten schilderte Hasard die Lage, und dabei blieb auch die Geschichte des frischgebackenen Bordhundes Plymmie nicht unerwähnt. „Donnerwetter“, sagte Smoky beeindruckt, „wirklich ein brauchbares Vieh. So gute Fährtenarbeit bringen nur wenige Hunde zustande.“ „Nicht nur das“, sagte Philip junior stolz, „Plymmie ist auch eine mächtig gute Kämpferin. Sie wird auch dafür sorgen, daß wir Hasard sehr schnell befreien werden.“ Der Seewolf dämpfte die Zuversicht seines Sohnes. „So weit ist es noch lange nicht, und auf alle Fälle wird es kein Sonntagsspaziergang.“ „Unser größtes Problem sind doch die vielen Inseln“, sagte Smoky, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte. „Ich nehme an, daß wir gleich morgen früh eine Suchaktion starten werden. Wie wäre es, wenn wir außer unseren beiden Jollen ein paar Boote zusätzlich chartern? Dann könnten wir jedes Boot etwa mit drei Mann besetzen und die Inseln viel besser abklappern.“
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„Ein guter Vorschlag“, sagte Hasard und nickte. „Wir werden gleich morgen früh den Termin bei Heikki Lahtinen absagen. Aber wir brauchen von ihm das Kartenmaterial, das er uns versprochen hat - hauptsächlich von den Inseln unmittelbar vor Abo.“ „Ich werde das erledigen“, sagte Stenmark bereitwillig, „und außerdem: Sollten wir nicht den Stadtkommandanten einschalten? Lahtinen hat doch gesagt, daß Korsumäki sowieso gesucht wird und hinter Gitter gebracht werden soll.“ Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Wenn es nicht um das Leben des Jungen ginge, würde ich dir zustimmen, Sten. Aber die Stadtgarde würde in erster Linie das Ziel verfolgen, Korsumäki zu fangen. Auf Hasard dürften sie kaum große Rücksicht nehmen, das heißt, er würde unnötig in Gefahr geraten. Und überhaupt verläßt man sich besser auf sich selbst.“ Nur noch wenige Einzelheiten für den morgendlichen Einsatz wurden besprochen: Dann schickte der Seewolf die Männer in die Kojen. Für die Nachtstunden ließ er doppelte Wachen aufziehen. * „Das geht zu weit“, sagte Dan O'Flynn. „Landgang nicht mehr erlaubt“, fügte Batuti hinzu. Die beiden waren zur ersten Wache eingeteilt. Kopfschüttelnd sahen sie dem Jungen entgegen. der mit dem Hund im Halbdunkel an Deck aufgetaucht war. „Ich weiß nicht, woran es liegt“, sagte Philip entschuldigend, „aber Plymmie findet einfach keine Ruhe. Vielleicht muß sie sich erst daran gewöhnen, neben meiner Koje zu schlafen. Oder sie muß noch mal von Bord, eben ein Geschäft erledigen.“ „Ist gegen Order des Kapitäns“, widersprach Batuti energisch, „zurück unter Deck, Junior.“ „Aber Dad hat ausdrücklich gesagt, daß Plymmie das Schiff nicht verunreinigen darf.“ „Das bedeutet nicht, daß du zu jeder Tages- und Nachtzeit mit ihr von Bord
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schleichen darfst“, sagte Dan O'Flynn. „Reicht es dir noch nicht, daß dein Bruder entführt worden ist?“ „Das hat doch nichts damit zu tun. Ich werde auch ganz in der Nähe bleiben, so daß ihr mich sehen könnt.“ Noch während Philip sprach, hob Plymmie plötzlich den Kopf, schnupperte einmal kurz in die Abendluft und fegte los. Die beiden Männer sahen sie nur noch als einen huschenden Schatten durch die Pforte im Schanzkleid verschwinden. Schon im nächsten Moment war von der Pier wütendes Gebell zu hören. Abrupt endete es. Ein scharfer Knurrlaut folgte. Dann eine fluchende Männerstimme. Finnisch, ohne Zweifel. Dan O'Flynn und Batuti wirbelten herum und stürmten an Land. Philip folgte ihnen, ohne lange zu überlegen. Plymmies Knurren und die anhaltenden Flüche erübrigten eine Suche. Hinter einem Schuppen, der von den Pechlichtern an der Pier nur noch schwach erhellt wurde, stießen sie auf einen Kerl, der vergeblich versuchte, Plymmies immer wieder zupackenden Reißzähnen zu entgehen. Das linke Hosenbein des Mannes war bereits von den Knien abwärts zerfetzt. Plymmie sprang höher, schnappte abermals zu, und der Kerl brüllte jetzt, denn für die Wolfshündin spielte es keine Rolle, ob sie Stoff oder menschliche Haut erwischte. Dan und Batuti waren blitzschnell zur Stelle und nagelten den Unbekannten mit wenigen Fausthieben an der Schuppenwand fest. „Zurück, Plymmie!“ rief Philip, der keuchend stehengeblieben war. Und die Bordhündin der „Isabella“ gehorchte aufs Wort. Mit dem Rücken an der Bretterwand, sackte der Mann stöhnend zu Boden. Dan und Batuti packten ihn an den Armen und schleiften ihn zur Pier. Philip brauchte ihn im Lichtkreis eines der Pechfeuer nur kurz zu betrachten. „Ganz klar“, sagte er dann, „das ist einer von den vier Strolchen, die Hasard entführt
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haben! Moment mal - das müßte der sein, den Plymmie in die Hand gebissen hat.“ Während Batuti den halb Bewußtlosen festhielt, hob Dan dessen Arme hoch. Die blutigen Schrammen auf dem rechten Handrücken, kaum verkrustet, waren ein eindeutiger Beweis. „An Bord mit ihm“, entschied Dan O'Flynn, „ich denke, er wird uns interessante Sachen erzählen können.“ Wenige Minuten später waren der Seewolf und die gesamte Mannschaft in der Messe versammelt. Sie bildeten einen dichten Kreis um den Gefangenen, der eine verkniffene Miene aufgesetzt hatte und krampfhaft zu Boden starrte. Mehrere Öllampen waren angezündet worden. An Schlaf dachte jetzt keiner der Männer mehr. „Sten“, sagte Hasard, nachdem Dan und Batuti kurz berichtet hatten, „verklare dem Kerl, daß wir wissen, wer er ist. Er tut gut daran, uns alles zu sagen, was er über Korsumäki und die Entführung weiß.“ „Sten wird schon die richtigen Worte finden“, sagte Edwin Carberry grimmig. Er zog das Entermesser aus dem Gurt und ließ den Daumen prüfend über die Klinge gleiten - eine Geste, die auf allen Weltmeeren verstanden wurde. „Und wenn dieser verlauste Hundesohn nicht die Zähne auseinanderkriegt, werden wir ein bißchen nachhelfen.“ Nur einen verstohlenen Seitenblick hatte der Gefangene riskiert, und doch zeichnete sich deutliches Erschrecken in seinen tückischen kleinen Augen ab. Vielleicht lag es an dem turbanähnlichen Kopfverband des Profos', daß dieser noch furchterregender aussah als unter normalen Umständen. Stenmark trat auf den Finnen zu und erklärte ihm in barschem Tonfall, um was es ging. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Seewolf, während er hinzufügte, daß dies der Kapitän der „Isabella“ und der Vater des entführten Jungen sei. Zur Unterstreichung seiner Worte zog Stenmark gleichfalls sein Entermesser und ließ die breite Klinge im Lampenlicht funkeln.
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Der Finne preßte in wilder Entschlossenheit die Lippen aufeinander. Trotzig warf er den Kopf in den Nacken und tat, als existierten die Männer um ihn herum nicht. Seinem Aussehen nach gehörte er zur übelsten Sorte von Galgenstricken, die eine Hafenlandschaft nur hervorbringen konnte. Die Kleidung, durch Plymmie zusätzlich zerfetzt, war ohnehin abgerissen und verdreckt. Bartstoppeln bedeckten sein grauhäutiges Gesicht, und über die linke Wange zog sich eine leuchtende Narbe. Der Seewolf war mit zwei Schritten bei dem Mann, packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran. Der Gefangene zuckte zusammen, sträubte sich und mußte erkennen, daß er der Muskelkraft des hünenhaften Engländers nicht das geringste entgegenzusetzen hatte. Und dessen eisblaue Augen waren plötzlich von einer solchen Kälte, daß dem Finnen ein Schauer über den Rücken kroch. „Ich warte nicht lange“, zischte Hasard. „Du wirst reden, Freundchen. Jetzt sofort!“ „Sonst schneiden wir dir deine dreckige Haut in Streifen!“ donnerte Ed Carberry los und trat neben den Seewolf, mit unübersehbarer Wut in seinem zernarbten Gesicht. Stenmark übersetzte beides, und als auch die übrigen Männer demonstrativ ihre Entermesser zogen, wurde der Finne aschfahl. Sein Brustkorb hob und senkte sich rascher unter Hasards eisenhartem Griff. Ein gequältes Ächzen drang tief aus der Kehle des Gefangenen. Im nächsten Moment, als seine Worte hervorsprudelten, mußte Stenmark sich auf die Übersetzertätigkeit konzentrieren. „Nicht! Bitte nicht! Nehmt die Messer weg, um Himmels willen! Ich habe doch keine Schuld an der ganzen Sache. Ich bin doch nur - ich habe doch nur getan. was Korsumäki gesagt hat. Ihr könnt mir doch nichts vorwerfen.“ Keuchend hielt er inne. „Zur Sache“, forderte der Seewolf rauh. „Wohin habt ihr den Jungen gebracht?“ „Der Lümmel ist auf einer Insel südlich von Abo. Mehr weiß ich nicht.“
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Stenmark holte blitzschnell aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, die den Mann zwei Schritte rückwärts wanken ließ. Sofort war Stenmark bei ihm, packte ihn und zog ihn wieder heran. „Das zur Warnung! Falls es dir noch mal einfallen sollte, den Sohn unseres Kapitäns einen Lümmel zu nennen, bleibt es nicht bei einer Ohrfeige.“ Die Wangenmuskeln des Finnen zuckten unkontrolliert, in seinen Augen flackerte die Furcht. Doch er wagte nicht, aus dem Gesichtskreis der Männer zurückzuweichen. „Weiter jetzt“, sagte Hasard eisig. „Paavo Korsumäki ist also verantwortlich für die Entführung?“ „Ja, das stimmt.“ „Und was will er damit bezwecken?“ „Das weiß ich nicht. Er hat mit keinem darüber gesprochen. Ich sollte nur eure Galeone beobachten. Mehr weiß ich wirklich nicht.“ „Beobachten? Wozu?“ brüllte Stenmark. „Ohne Grund beobachtet man nichts und niemanden. Heraus damit, oder ...“ Er hob die Klinge des Entermessers etwas höher ins Licht. „Ich - ich sollte - aufpassen“, stammelte der Finne, „ob ihr Engländer anfangen würdet, nach dem - hm -Jungen zu suchen. Solange das nur an Land passierte, sollte ich abwarten. Erst wenn ihr in eure Boote gestiegen wäret, hätte ich sofort zu der Insel pullen müssen, um das zu melden. Ich glaube, Korsumäki will eure Galeone für sich haben. Weil er den Jungen hat, kann er ja euren Kapitän unter Druck setzen. Natürlich hat sich Korsumäki gewaltig geärgert, daß der zweite Junge entwischt ist - wegen dieses verdammten Hundeviehs.“ Der Gefangene warf einen respektvoll-wütenden Blick auf Plymmie, die an Philips Seite im Kreis der Männer ausharrte. „Ist die Insel bewohnt?“ fragte Hasard. „Nein. Das weiß ich genau.“ „Mit wie vielen Leuten ist Korsumäki dort?“ „Wahrscheinlich nur er und die beiden anderen. Er hat da eine Hütte, ziemlich
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versteckt. Die benutzt er manchmal, wenn er in Abo ist. Kann aber auch sein, daß er inzwischen Verstärkung gekriegt hat.“ „Wie lange pullt man zu der Insel?“ „Ungefähr eine Stunde.“ „In Ordnung“, sagte der Seewolf entschlossen, „dann wird jetzt die kleine Jolle ausgesetzt. Wir werden der Korsumäki-Insel noch in dieser Nacht einen Besuch abstatten. Und du, Freundchen“, er tippte dem Gefangenen auf die Brust, „wirst uns lotsen. Falls du dich weigerst, hängen wir dich auf der Stelle an die Rah.“ Stenmark übersetzte es genüßlich. Und wie durch einen Zufall hatte Big Old Shane ein Tau zur Hand, in das er breit grinsend eine Schlinge schlug. Der Finne streckte abwehrend die Arme aus. „Nein, um Himmels willen, nein!“ wimmerte er. „Gnade! Das könnt ihr doch nicht tun! Ich werde alles befolgen, was ihr verlangt. Alles!“ „Gut“, sagte Hasard mit knappem Nicken, „dann mal los. Von unserer Zeit haben wir jetzt genug verschwendet.“ Sie brauchten weniger als eine halbe Stunde, um die kleine Jolle abzufieren und die Ausrüstung zusammenzustellen. Außer dem Gefangenen nahm der Seewolf Big Old Shane, Smoky, Stenmark und Batuti mit. Neben den Entermessern, Pistolen und Musketen fehlte auch ein kleines Arsenal von Höllenflaschen nicht, die der Stückmeister der „Isabella“, Al Conroy, sorgfältig in eine Kiste verpackt hatte. 7. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein. So empfand es Hasard junior, denn er hatte jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren. Sie hatten ihn gefesselt und geknebelt und ihm zusätzlich noch die Augen verbunden. So hockte er zwischen den Duchten einer Jolle, zur Bewegungsunfähigkeit verurteilt. Um ihn herum war nichts als Wasser, soviel wußte er durch den Geruch von Meersalz und Tang. Und daß die Männer fortwährend
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pullten, hörte er an dem rhythmischen Knarren der Riemen und am Eintauchen der Blätter ins Wasser. Gute Rudergasten waren sie nicht. Immer wieder gerieten sie aus dem Takt, und dann gab es barsche Worte. Sie redeten in der finnischen Sprache, die für Hasard immer noch fremd und merkwürdig klang. Ein Wort hatte er die ganze Zeit über immer wieder herausgehört: Korsumäki. Er hatte lange gebraucht. um festzustellen, daß sie so den Anführer anredeten. Allerdings wußte er nicht, ob es sein Vorname oder Nachname war. Unvermittelt knirschte der Kiel des Bootes auf Sand. Polternd wurden die Riemen aus den Dollen gehoben. Dann folgten Schritte, die im seichten Uferwasser klatschten. Ruckweise wurde das Boot höher an Land gezogen. Die Kerle keuchten und stießen Flüche aus. Grobe Fäuste packten den Jungen, rissen ihn hoch und zerrten ihn aus dem Boot. Ein kühler Nachtwind wehte. Hasard fröstelte, bis sie ihn in eine Hütte stießen. Jemand nestelte an seiner Augenbinde, und auch den Knebel nahmen sie ihm ab. Er blinzelte in das Licht einer blakenden Ölfunzel. Erst nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit. Den Bärtigen, Korsumäki, erkannte er sofort. Immerhin hatte der Kerl lange genug auf der „Isabella“ den Lotsen gespielt. Die beiden anderen, wüst aussehende Hafenstrolche, sah Hasard zum ersten Male bei Licht. Der eine trug noch die Hose, deren Beine Plymmie zerfetzt hatte. Korsumäki stieß den Jungen gegen die rauhe Bohlenwand und brüllte etwas, wovon Hasard naturgemäß kein Wort verstand. Weiterhin brüllend zog der Bärtige jenes Säckchen aus der Tasche, das er von dem Seewolf als Entschädigung und als Lohn für seine Lotsendienste erhalten hatte. Er hielt Hasard das Säckchen vor die Nase, ließ die Silbermünzen darin klingeln und beschrieb mit der freien Hand jene Bewegung von Daumen und Zeigefinger,
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für die man keine Sprachkenntnisse brauchte, um sie zu verstehen. Hasard begriff. Der Mistkerl wollte wissen, ob es noch mehr von dem Geld an Bord der „Isabella“ gab. Einer der beiden anderen hatte eine Flasche aus einem verstaubten Schapp gezogen. entkorkte sie und setzte sie an die Lippen. Gleich nach den ersten schmatzenden Schlucken entriß ihm sein Kumpan die Flasche. Korsumäki starrte den Jungen mit gierigem Blick an, schüttelte den Geldbeutel abermals und brüllte von neuem los. Hasard zuckte mit den Achseln. „Ich verstehe nichts“, fauchte er zurück. „Kein Wort verstehe ich von deinem Kauderwelsch, du lausiger Bastard. Aber eins kann ich dir schwören: Dich Galgenvogel werden sie auf der ‚Isabella' an die Rah baumeln, und anschließend ziehen sie dir die Haut in Streifen von deinem Affenarsch!“ Hasard atmete tief durch. Es tat gut, sich Luft zu verschaffen. Und da der Bärtige den Wortschatz nach Carberry -Art ganz bestimmt nicht verstand, bedeutete es unter den gegebenen Umständen auch kein übermäßiges Risiko. Korsumäki fixierte den Jungen sekundenlang. Urplötzlich schlug er mit der flachen Hand zu und begann erneut mit seinem Gebrüll. Hasard hob trotzig den Kopf und ließ sich nicht die geringste Wirkung anmerken, obwohl seine Wange wie Feuer brannte und sich dunkelrot färbte. Niemals würde er diesem Hundesohn auch nur den kleinsten Triumph gönnen, denn er war hart genug im Nehmen, um sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen. „Du dreckiger Ostseemolch!“ schrie er stattdessen. „Mein Vater und die anderen werden dich kielholen und anschließend drei Tage an der Rah trocknen lassen. Mit einem Rübenschwein von deiner Sorte wird bei uns an Bord kurzer Prozeß gemacht, darauf kann ich dir Brief und Siegel geben, du Wildsau!“ Korsumäki blinzelte ungläubig. Allein aus dem Tonfall des Jungen wurde deutlich, daß dieser nicht im mindesten beeindruckt
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war. Das Gesicht des Bärtigen verzerrte sich vor Wut, und abermals schlug er zu. Wieder hielt Hasard den Kopf hoch erhoben. Kein Schmerzenslaut drang über seine Lippen. Korsumäki knurrte ärgerlich. Dann wandte er sich mit einem Ruck ab. Dem Kumpan, der eben zu schlucken beginnen wollte, entriß er die Flasche und setzte sie selbst an den Mund. Anschließend ließ er ein Grunzen hören. Der Geruch des billigen Fusels breitete sich in der Hütte aus. Was nun begann, war ein heftiges Palaver. Gestikulierend redeten die Kerle aufeinander ein. Dabei kreiste die Flasche immer rascher. Schon sehr bald mußte die zweite Flasche aus dem Schapp geholt werden. Der Redeschwall zog sich zermürbend in die Länge, wozu fraglos auch der Alkohol beitrug. Dann, als sich Korsumäki schwankend aufrichtete, schienen die Entführer endlich zu einem Entschluß gelangt zu sein. Eine Wolke von Fuseldunst wehte dem Jungen entgegen, als der Bärtige ihn packte, mit dem Fuß eine Tür aufstieß und ihn in das dahinterliegende Dunkel zerrte. Nach einem derben Stoß in den Rücken sank Hasard zu Boden, und krachend fiel die Tür hinter ihm zu. Das Knirschen eines Riegels war zu hören. Minutenlang verharrte Hasard regungslos. Nebenan setzten wieder die heiseren Stimmen von Korsumäki und seinen Strolchen ein. Das Palaver ging weiter wie zuvor. Das „Wässerchen“ schien sie in ihren Zukunftsplänen zu beflügeln. Hasard konnte sich sehr gut vorstellen, daß Korsumäki seinen Vater zu erpressen gedachte. Modergeruch umgab den Jungen. Er tastete mit den gefesselten Händen über den Boden, der feucht war und aus festgestampftem Lehm bestand. Zum Glück hatten sie ihm die Hände nicht auf den Rücken gefesselt, sondern vor dem Körper lediglich an den Handgelenken zusammengeschnürt. Ihr Fehler, daß sie ihm nicht die Fähigkeiten eines Erwachsenen zutrauten und deshalb weniger Sorgfalt angewendet hatten.
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Der pausenlos plätschernde Wortwechsel, der gedämpft durch die Holzwand zu hören war, brach nicht ab. Solange das der Fall war, blieb die Gefahr gering. Dennoch achtete Hasard darauf, kein unnötiges Geräusch zu verursachen, während er begann, systematisch seine Umgebung zu erforschen. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und so stellte er fest, daß es in der Wand gegenüber der Tür ein kleines quadratisches Fenster gab. Lautlos bewegte sich Hasard auf den Knien und nahm sich zunächst die Wände vor, die er vom Fußboden aufwärts abtastete. Das Holz war alt und rissig. Durch die Ritzen der Tür fiel matter Lichtschein. Unmittelbar rechts daneben stießen Hasards suchende Finger auf Widerstand. Er hielt inne, untersuchte die Stelle genauer und war im nächsten Moment versucht, einen Freudenschrei auszustoßen. Ein rostiger Nagel war es, der aus dem Rahmenholz der Tür ragte. Mindestens zwei Inches lang! Sofort begann Hasard mit der Arbeit, hakte die Windungen seiner Fesseln hinter den Nagel und zog vorsichtig, doch kraftvoll genug. Erst beim fünften oder sechsten Versuch hatte er die richtige Lage des Stricks erwischt. Der Knoten löste sich. Fieberhaft arbeitete Hasard weiter, wobei er seine wachsende Aufregung unterdrückte. Er atmete auf und fühlte sich wie von einer Zentnerlast befreit, als der Nagel standhielt und der Knoten endgültig auseinanderfiel. Während er die Stricke von seinen Handgelenken streifte, fühlte er ein Prickeln wie von tausend winzigen Nadelstichen. Er wußte, daß dies vom Blutkreislauf herrührte, der in vollem Umfang wieder einsetzte. Vom Kutscher hatten er und sein Bruder vieles gelernt, was mit der Beschaffenheit des menschlichen Körpers zusammenhing. Das Hintergrundgeräusch des finnischen Palavers im Nebenraum war beruhigend. Nur eine winzige Pause gönnte sich Hasard, bis er seine Hände wieder
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einwandfrei bewegen konnte. Dann richtete er sich auf, schlich zum Fenster und fand den Verriegelungsmechanismus auf Anhieb. Ein einfacher Eisenhaken, den er nur aus der Öse zu heben brauchte. Vorsichtig drückte er den Fensterflügel nach außen, langsam, Stück für Stück, damit kein verräterisches Knarren entstand. Hasard konnte nur den Kopf schütteln über den mangelnden Grips seiner drei Entführer. Natürlich war das Fenster viel zu klein, als daß sich ein Erwachsener hätte hindurchzwängen können. Doch für einen Jungen seines Alters, noch dazu mit seiner geradezu katzenhaften Gewandtheit, bedeutete es keine große Mühe, lautlos hinauszuschlüpfen. Seine gesamte Befreiungsaktion hatte keine fünf Minuten gedauert, als er sich draußen aufrichtete und den Fensterflügel behutsam wieder zudrückte. Aus dem Seitenfenster der Hütte fiel das schwache Licht der Ölfunzel. Geduckt schlich Hasard daran vorbei. Schon an der vorderen Ecke des kleinen Gebäudes, hakte sein rechter Fuß hinter einen kantigen Gegenstand. Er stolperte, stützte sich mit den Händen ab und konnte verhindern, daß er der Länge nach hinschlug. Er betastete den Gegenstand, der ihn fast zu Fall gebracht hätte. Ein Holzbalken, fast so groß wie er selbst. Den Gedanken, der ihn durchzuckte, setzte er ohne Zögern in die Tat um. Nur einen Atemzug lang lauschte er, um sich zu vergewissern, daß Korsumäki und seine Kumpane nach wie vor eifrig diskutierten. Dann schnappte er sich den Balken und wuchtete ihn schräg gegen die Eingangstür. Direkt unter der Klinke stemmte er das obere Ende fest, wiederum leise genug, daß die Kerle drinnen keinen Verdacht schöpfen konnten. Hasard wandte sich ab und stellte sich vor, was für Gesichter die Halunken ziehen würden, wenn sie feststellten, daß sie eingesperrt waren. Und er mußte sich höllisch bezwingen, um darüber nicht schon im voraus in Gelächter auszubrechen.
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Trotz der Dunkelheit fiel es ihm nicht schwer, den Trampelpfad zu finden, der von der Hütte hinunter zum Wasser führte. Das Boot lag auf dem flachen Sandstrand. Bis zum Wasser waren es etwa fünf Yards. Hasard wußte, daß er es nicht schaffen konnte, das Boot hinunterzuziehen. Deshalb benutzte er die beiden Riemen als Hilfsmittel, indem er sie als Rollen unter den Kiel legte und abwechselnd wieder hervorholte, während er das Boot bis ins Uferwasser schob. Ein letztes Mal spähte er landeinwärts, aber dort rührte sich nichts. Erleichtert warf er die Riemen auf die Duchten, gab dem Boot einen Stoß und schwang sich hinein. Einen der Riemen legte er in die Wriggrundsel am Heck und wriggte mit zügigem Achterschlag vom Ufer weg, bis er genügend Distanz gewonnen hatte. Selbst wenn sie seine Flucht jetzt schon entdeckten, konnten sie ihn nicht mehr erwischen. Er verharrte und suchte den Nachthimmel ab. Die Wolkendecke war nur mäßig aufgerissen, und so brauchte er eine Weile, bis er den Nordstern sichtete. Keine Frage, daß er auf Nordkurs gehen mußte, wenn er Abo erreichen wollte. Denn das Wasser der Ostsee befand sich südlich der Hafenstadt. Soviel hatte er sich eingeprägt, als Korsumäki die „Isabella“ durch die Küstenzone gelotst hatte. Ohne sich eine Pause zu gönnen, wriggte der Sohn des Seewolfs das Boot seiner Entführer durch den geringen Wellengang. 8. Batuti sprang als erster aus der Jolle, als der Kiel auf Grund stieß. Ihm folgten Smoky und Stenmark, und im Handumdrehen hatten sie das Boot an Land gezogen. Korsumäkis Komplice hatte ihnen geraten, die Insel nicht von Norden her anzulaufen. Er fürchtete wahrscheinlich um seine eigene Haut, weil nicht auszuschließen war, daß der Bärtige an der Nordseite des Eilands einen Posten aufgestellt hatte - dort nämlich, wo sich auch die Hütte befand.
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Der Seewolf hatte den eigennützigen Rat des Finnen dennoch angenommen, nach Westen ausgeholt und die Insel nun von Süden her angesteuert. Sie ließen die Jolle im Schutz eines Felsvorsprungs zurück, der bis weit auf den Strand hinausragte. Die Männer versorgten sich mit ihren Waffen, und Hasard ordnete vorsorglich an, auch die Kiste mit den Höllenflaschen mitzunehmen. Dem Gefangenen hatten sie für alle Fälle die Hände auf den Rücken gebunden. Stenmark zog ihn zu sich heran. „Jetzt paß gut auf, Freundchen“, sagte er warnend. „Du wirst uns ohne Umwege zu deinen sauberen Genossen führen. Und laß dir keine Dummheiten einfallen. Es würde verdammt schlecht für dich ausgehen.“ Er hielt ihm die Mündung seiner großkalibrigen Pistole unter die Nase und ließ ihn den Duft von Pulver und Waffenfett schnuppern. Der Finne bog erschrocken den Kopf zurück. „Ich tue alles, was ihr sagt“, ächzte er, „wirklich! Warum sollte ich euch jetzt noch hereinlegen?“ „Das kann man nie wissen“, sagte Stenmark kalt. „Nur damit du Bescheid weißt: Wenn irgendwas schiefgeht, bist du der erste, der die letzte Reise antritt. Klar?“ Der Finne schluckte und nickte. Dann setzte er sich folgsam in Bewegung. Die Männer von der „Isabella“ schlossen auf, und Batuti, der die Kiste mit den Höllenflaschen trug, bildete den Schluß der kleinen Marschformation. Die Steigung landeinwärts war gering, so daß sie zügig vorangelangten. Wenig später erblickten sie bereits einen schwachen Lichtpunkt im hügeligen Gelände. Dann, als sich die Umrisse der Hütte schon deutlich vor dem Nachthimmel abzeichneten, ließ der Seewolf die Männer nach beiden Seiten ausschwärmen. Der Gefangene blieb bei Stenmark, der für seine Bewachung verantwortlich war. Unbehelligt erreichten sie die vordere Seite des windschiefen Gebäudes. Und sie
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glaubten, ihren Augen und Ohren nicht zu trauen. Im Halbdunkel war der Balken zu erkennen, der schräg vor die Tür gerammt war. Und aus dem Inneren der Hütte klangen Töne, die sich anhörten, als sei eine ganze Schiffsmannschaft damit beschäftigt, einen Großmast zu Brennholz zu zersägen. Hasard bedeutete den anderen mit einer Handbewegung, zu warten. Auf leisen Sohlen huschte er zu dem Seitenfenster, durch das der blakende Lichtschein fiel. Er blinzelte ungläubig, als sein Blick die Szenerie erfaßte. Die drei Kerle, einschließlich Korsumäki, lagen lang ausgestreckt auf wackligen Pritschen und schnarchten um die Wette. Die leeren Flaschen, achtlos auf den Boden geworfen, redeten eine deutliche Sprache. Grinsend kehrte der Seewolf zu den anderen zurück und entfernte den Balken mit einem Fußtritt von der Tür. Nicht einmal das Poltern weckte die Kerle, denn als Hasard und seine Männer in eine Wolke von Alkoholdunst vordrangen, hielt das Schnarchen unvermindert an. Hasard sah sich kurz um, nahm die Ölfunzel und öffnete die Tür zum Nebenraum. Der winzige Raum war leer. Hasards Blick fiel auf den herunterhängenden Fensterhaken, und dann sah er zu seinen Füßen die Fesseln, die noch in der Nähe des aus dem Türrahmen ragenden Nagels lagen. Einen Moment war der Seewolf fassungslos. Dann konnte er nicht anders. Er brach in schallendes Gelächter aus. Die anderen starrten ihn entgeistert an, als er sich umdrehte. „Seht euch das an!“ rief er erleichtert. „Dieses Bürschchen! Dieser kleine Teufelskerl hat es doch tatsächlich geschafft, sich ganz allein zu befreien!“ Doch bevor die Männer sich selbst ein Bild verschaffen konnten, begannen die Kerle auf den Pritschen sich zu rühren. Batuti beugte sich über einen von Korsumäkis Komplicen und starrte den Erwachenden mit entblößten Zähnen und furchterregend aufgerissenen Augen an.
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Der Mann, noch vom Alkohol benebelt, stieß einen Entsetzensschrei aus, der auch Korsumäki und die anderen endgültig weckte. Unterdessen brachte der schwarze Herkules aus Gambia sein Gegenüber mit einem einzigen trockenen Schlag zum Verstummen. Smoky übernahm den anderen, dem nur ein kurzes Erwachen vergönnt war. Die Faust des Decksältesten schickte ihn in einen neuen, tieferen Schlaf. Paavo Korsumäki fuhr kerzengerade auf seiner Pritsche hoch, als er seinen Komplicen in der Begleitung der Männer von der englischen Galeone erblickte. Zwei und zwei zusammenzuzählen, das war trotz Korsumäkis alkoholumnebelten Verstandes nicht schwer. Ein Wutschrei entrang sich seiner Kehle. Er wollte aufspringen, taumelte aber, noch bevor er richtig auf den Beinen stand. Hasards ganzer Zorn lag in dem Hieb, mit dem er den Bärtigen empfing. Korsumäki wurde quer über die Pritsche und gegen die Bretterwand katapultiert, die unter seinem Anprall bedrohlich ächzte. Ohne noch einen Laut von sich zu geben, sackte er in sich zusammen. An einem Wortwechsel mit ihm war der Seewolf ohnehin nicht mehr interessiert. Jetzt zählte einzig und allein die Tatsache, daß es seinem Sohn gelungen war, die Freiheit wiederzugewinnen. Hasard hatte das Gefühl, daß ihm Zentnerlasten von der Seele fielen. „Fesselt und knebelt die Kerle“, entschied er, „wir nehmen sie mit nach Abo.“ Er wandte sich zu Batuti um. „Wir wissen zwar, daß der Junge den Halunken entwischt ist, aber mir wäre noch wohler, wenn wir auch wüßten, wo er jetzt steckt.“ Der schwarze Herkules verstand sofort. Seine perlweißen Zähne blitzten. „Aye, aye, Sir. Suche geht sofort los.“ In einer Ecke der Hütte fand er eine noch halbwegs brauchbare Fackel, die er an der Öllampe entzündete. Während der Seewolf und die anderen die Gefangenen auf den Abmarsch vorbereiteten, untersuchte Batuti zunächst die nähere Umgebung der Hütte. Er fand die Schleifspuren, die von
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der Stelle, wo der Balken gelegen hatte, zur Eingangstür führten. Auch Fragmente von kleinen Fußabdrücken waren zu sehen, die auf den Trampelpfad in Richtung Strand zuführten. Batuti folgte dem Pfad, und dann gab es kein großes Rätselraten mehr. Die vielen kleinen Fußspuren und die quer verlaufenden Riemenabdrücke zum Wasser hin waren eindeutig. Im Laufschritt kehrte der schwarze Herkules zur Hütte zurück. Die Gefangenen standen bereits in Reih und Glied und mußten sich darauf beschränken, wütend mit den versoffenen Augen zu rollen, denn die Knebel hinderten sie an einem weiteren Palaver. „Söhnchen mit Boot getürmt!“ verkündete Batuti mit breitem Grinsen. Hasard und die anderen sahen ihn einen Atemzug lang groß an. Dann brüllten sie los vor Lachen. Es war wie ein Donner, der die Hütte erzittern ließ. Freude und Erleichterung empfanden sie nun alle gleichermaßen, der Druck der vergangenen Stunden war endgültig von ihnen gewichen. Nicht zuletzt war da auch eine gehörige Portion Stolz auf das „Rübenschweinchen“, das sich als so verdammt gerissen erwiesen hatte. Paavo Korsumäki und seine Kumpane zogen den Kopf ein Stück tiefer zwischen die Schultern. Die Blicke, mit denen sie die Männer von der „Isabella“ bedachten, waren voller Gift. Der Seewolf verlor keine Zeit mehr und ließ die Gefangenen in die Jolle verfrachten. Mit kraftvollen Riemenschlägen pullten die Männer auf die offene See hinaus. Sehr bald passierten sie die Seite des Eilands, von der Hasard junior seine unbemerkte Flucht begonnen hatte. Die Jolle ging auf Nordkurs. Hasard, der den Platz auf der Achterducht eingenommen hatte, hielt ständig Ausschau, soweit es die Dunkelheit und die immer seltener aufreißende Wolkendecke zuließen. „Eigentlich müßten wir ihn doch langsam zu sehen kriegen“, sagte er, nachdem ungefähr eine halbe Stunde vergangen war.
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Aus seiner Stimme klang Besorgnis, die die anfängliche Freude über die geglückte Befreiung des Juniors verdrängt hatte. „Fang nicht mit solchen unsinnigen Gedanken an“, sagte Big Old Shane. „Das Bürschchen hat ein Boot unter dem Hintern, und es hat Riemen zum Pullen oder zum Wriggen. Das ist wohl sicher. Außerdem ist der Wind nur mäßig. Ich sehe überhaupt keine Gefahr.“ Der Seewolf preßte die Lippen aufeinander und nickte nachdenklich. Auch während der nächsten halben Stunde blieb das Spähen nach einem einsamen Boot ohne Ergebnis. Der Hafen von Abo schälte sich mit den Masten der Schiffe bereits aus der Dunkelheit, dann tauchten die unverkennbaren Umrisse der „Isabella“ in Sichtweite auf. Unmittelbar in Höhe des Bugs der Galeone war eine in die Pier eingelassene Steintreppe. Dort wurden die Gefangenen an Land und dann über die Stelling an Bord geführt. Die Wachen hatten bereits Ben Brighton verständigt, und wenige Minuten später versammelte sich auch die übrige Mannschaft auf der Kuhl. Während Korsumäki und seine Kumpane in die Vorpiek gesperrt wurden, schilderte der Seewolf in knappen Zügen, wie die erfolgreiche Befreiung Hasard juniors vermutlich abgelaufen war. Die freudige Stimmung wich unverzüglichem Tatendrang. Der Seewolf ließ auch die große Jolle aussetzen und bemannen. Beide Jollen legten eilends ab, um nach dem Junior zu suchen, der sich irgendwo zwischen der Küste und Korsumäkis Insel befinden mußte. * „Himmel, Zwirn und Fliegendreck !“ fluchte Hasard junior in schönster Carberry-Art, und dies konnte er sich ungestraft leisten, denn er war mutterseelenallein auf der von zunehmenden Wolken verdüsterten See. Mit seiner beflügelten Stimmung war es vorbei. Die Flucht von der Insel war ein
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Kinderspiel gewesen -verglichen mit den Schwierigkeiten, mit denen er mehr und mehr zu kämpfen hatte. Der Nordstern ließ sich nicht mehr blicken, die elenden Wolken verdeckten ihn und alles andere Gestirn jetzt vollends. Da war es nur ein schwacher Trost, daß der Wind wie bisher leicht und stetig von Backbord wehte, also von Westen. Diese Art der Navigation, das wußte Hasard, war jedoch sehr fragwürdig. Nur wenn der Wind nicht gedreht hatte, befand er sich weiterhin auf nördlichem Kurs. Dabei mußte im übrigen noch berücksichtigt werden, daß der Wind ihn versetzte. So kraftvoll und stetig er auch wriggte - die Abdrift konnte er nicht verhindern. Bei nüchterner Selbsteinschätzung war er doch noch kein Erwachsener, und er konnte das Boot niemals so präzise auf Kurs halten, wie es zwei oder gar vier ausgewachsene Männer vermochten, die normalerweise auf den Duchten Platz fanden. Abermals verspürte er das quälende Gefühl, jeglichen Zeitbegriff verloren zu haben - auch ohne Augenbinde, die diese Wirkung während der Entführung noch verstärkt hatte. Er schrieb es der endlosen Weite und der Dunkelheit zu, die ihn umhüllte wie ein undurchdringliches schwarzes Tuch. Er wußte nicht, wie nahe er der Küste möglicherweise schon war. Vielleicht war er längst von seinem Kurs abgedriftet und wriggte nun ahnungslos wieder auf die Ostsee hinaus. Diese Ungewißheit und die Tatsache, daß seine Kräfte nun doch allmählich nachließen, verstärkten seine niedergeschlagene Stimmung. Er ertappte sich bei dem Gedanken, daß er nachlässig dabei geworden war, seine Umgebung zu beobachten. Die Monotonie hatte dies bewirkt. Jäh schreckte er hoch, hielt mit dem Wriggen inne und begriff plötzlich, daß sich etwas geändert hatte. Nicht auf Anhieb wußte er, was es war. Doch dann sah er die Linie, die sich vor ihm abzeichnete, im Norden, wenn sein Kurs trotz allem noch stimmte. Flach war
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diese Linie, etwas wellig und deutlich dunkler als der Nachthimmel. Land! Ein Freudentaumel erfaßte den jungen Hasard, und neue Kräfte wurden in ihm wach. Sofort packte er den Riemen fester und wriggte mit neuem Elan auf die Konturen der Küste zu, die nun rasch aus der Finsternis hervorwuchsen. Augenblicke später zeigte sich, daß es sich um einen unbewohnten Landstrich handeln mußte. Den Hafen von Abo hatte er folglich glatt verfehlt. Die Küste war hier felsig, mit vielen kleinen Einschnitten und auch größeren Buchten. Außerdem gab es unzählige vorgelagerte Klippen, die wegen des geringen Windes allerdings keine Gefahr bedeuteten. Hasard faßte einen schnellen Entschluß. Er wußte nicht, wie weit er noch von Abo entfernt war. Nur eins stand fest: Seine Kräfte reichten nicht aus, um die Hafenstadt doch noch zu erreichen. Und die Müdigkeit griff bereits mit bleierner Schwere nach ihm. Außerdem erschwerte die Dunkelheit das Lavieren durch die Klippen. So suchte er sich die nächstbeste Bucht aus, vertäute das Boot an einem Felsen, streckte sich auf den Bodenplanken aus und rollte sich in eine Persenning. In Minutenschnelle war er eingeschlafen. Seine erste Wahrnehmung beim Erwachen war Kälte, die ihm bis auf die Knochen zu dringen schien. Diese Empfindung wurde Lügen gestraft, als er die Augen aufschlug. Strahlender Sonnenschein tauchte die Küstenlandschaft in gleißendes Licht. Ausgerechnet jetzt zeigten sich Finnland und die Ostsee von der schönsten Seite, die Hasard bisher erlebt hatte. Der Eindruck von Kälte rührte von seiner Müdigkeit her, soviel war ihm klar, während er sich noch den Schlaf aus den Augen rieb. Mit einem Ruck schlug er die Persenning auseinander, richtete sich auf und bewegte Arme und Beine. Die schon recht kräftigen Sonnenstrahlen taten ein übriges, um sein Frösteln zu verscheuchen. Sein Wohlbefinden wäre rundum perfekt gewesen, hätte sich jetzt nicht sein
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knurrender Magen gemeldet, der daran gewöhnt war, um diese Tageszeit mit einem kräftigen Frühstück aus des Kutschers Kombüse besänftigt zu werden. Hasard verdrängte das Hungergefühl aus seinem Bewußtsein, denn ihm war klar, daß noch ein beträchtliches Stück Arbeit vor ihm lag. Immerhin würde dies aber leichter zu bewältigen sein als während der Nachtstunden. Der Wind hatte sich fast völlig gelegt, nur ein laues Lüftchen wehte noch. Da die Sonne erst vor kurzer Zeit aufgegangen war, vereinfachte sich auch die Navigation. Unverdrossen spuckte Hasard in die Hände, löste den Tampen und schnappte sich einen der Riemen, den er in die Wriggrundsel legte. Im Handumdrehen gewann er freies Gewässer, und mit der Sonne im Rücken wriggte er westwärts an der Küste entlang. Die Buchten brauchte er nicht mehr auszufahren, er konnte abkürzen, da ihn der Stand der Sonne mühelos auf dem richtigen Kurs hielt. Er schätzte, daß nicht mehr als eine halbe Stunde vergangen war, als sich weit voraus an Steuerbord das Landschaftsbild zu ändern begann. Kantige Umrisse, von Menschenhand geschaffen, zeichneten sich vor grünem Hintergrund ab. Einzelne Häuser, dann zunehmend dichtere Besiedelung. Nur noch Minuten vergingen, bis alle Zweifel verflogen waren. „Abo!“ brüllte Hasard auf die fast glatte Wasserfläche hinaus. Und dann schrie er sich mit dem alten Kampfruf der „Isabella“-Mannschaft seine Freude von der Seele: „Ar —we — nack! Ar — we — nack!“ Daß ihn niemand hören konnte, änderte nichts an seinem Triumphgefühl. Hölle und Teufel, er hatte es geschafft! Wie weit er dennoch vom Ziel entfernt war, wurde ihm klar, als er sich den ersten Bootsstegen am Stadtrand von Abo näherte. Johlende Jungenstimmen waren plötzlich von Land zu hören.
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Hasard, der schon auf einen der Stege zuhielt, stutzte. Im selben Moment stürmten sie aus einem Torweg hervor, auf den Steg zu. Vier Strolche waren es, zerlumpt gekleidet, und Hasard erkannte sie auf Anhieb: an erster Stelle ihren Anführer - jenes TierquälerOberhaupt mit rostrotem Haar und kantigen Schultern. Auch die drei anderen gehörten zu der Bande, die in Abo gespürt hatte, was es bedeutete, den Söhnen des Seewolfs vor die Fäuste zu geraten. Das Erkennen beruhte auf Gegenseitigkeit. Daß sie ihm allerdings aufgelauert hatten, bezweifelte Hasard. Sie mußten sich in dieser Gegend herumgetrieben und ihn zufällig bemerkt haben. Er konnte es nicht schaffen, das Boot schnell genug vom Land wegzuwriggen. Das wußte er schon, als er die Gefahr herannahen sah. Die vier auf dem Steg stimmten bereits Triumphgeschrei an. In beiden Händen trugen sie Steine, die sie noch an Land aufgesammelt hatten. In fliegender Hast betätigte Hasard den Riemen. Doch nur elend langsam schwenkte der Bug des Bootes herum. Krachend prallte der erste Stein gegen den Spiegel. Hasard duckte sich unwillkürlich, hielt jedoch keinen Moment mit dem Wriggen inne, bis das Boot zum Land hin die schmale Silhouette zeigte. Ein zweiter Stein sauste haarscharf an seinem Bein vorbei und polterte über die Duchten bis in den Bug. Eine Serie von klatschenden Einschlägen folgte, die dicht hinter dem Boot kleine Fontänen aus dem Wasser rissen. Ein weiterer Stein traf das Riemenblatt auf der Wasserlinie, ohne jedoch Schaden anzurichten. Noch grölte die Meute auf dem Steg vor Begeisterung. Doch ihr Triumph war verfrüht. Die letzten Steinwürfe lagen zu kurz. Hasard atmete auf, wriggte aber weiter, bis er genügend Distanz gewonnen hatte, um vor den feigen Kerlen sicher zu sein. Jetzt heulten sie vor Enttäuschung, während er
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Kurs auf den Hafen nahm, der bereits in Sichtweite war. Unter normalen Umständen hätte er sich nicht gescheut, es mit allen vier Gegnern auf einmal aufzunehmen. Doch Hasard wußte nur zu gut, daß sie ihn gesteinigt hätten, bevor er auch nur einen Fuß an Land setzen konnte. Zu groß war ihre Wut über die Niederlage, die sie wegen Plymmie hatten einstecken müssen. Ein Seitenblick bestätigte Hasard, was er schon bei seinem Kurswechsel vermutet hatte: Die Mistkerle liefen an Land mit in der Hoffnung, daß sie ihn über kurz oder lang doch erwischen würden. Unbeirrt behielt er dennoch seinen Kurs in Richtung Hafen bei, und schließlich lag vor ihm. nur noch die weite Mündung des Aurajoki, die ihn von den Liegeplätzen der zahlreichen Handelssegler trennte. Eine Holzbrücke führte über den Fluß. Dort waren der Rothaarige und seine drei Tierquäler-Gefährten zu sehen, wie sie gemächlich schlenderten. Prahlerisch hatten sie die Hände in die Hosentaschen geschoben, wohl wissend, daß es ihnen ein leichtes war, mit dem Boot mitzuhalten. Mühelos orientierte sich Hasard im Hafen, und dann, als er die „Isabella“ zum Greifen nahe vor sich sah, vollführte sein Herz einen Freudenhüpfer. Denn der, der dort über das Schanzkleid der Kuhl lugte, war niemand anders als sein Bruder Philip. Philip erblickte ihn im selben Moment und ruderte wild mit beiden Armen in der Luft. Hasard winkte zurück. Doch dann wriggte er weiter und hielt entschlossen auf die Pier zu. Ben Brighton und andere Mitglieder der Crew versammelten sich am Schanzkleid der „Isabella“, und Hasard bemerkte, daß sein Vater nicht unter ihnen war. Ihm blieb indessen keine Zeit, deswegen tiefschürfende Überlegungen anzustellen. Denn auf der Pier rannte jetzt die Meute des Rothaarigen heran, johlend und drohend gestikulierend. Diesmal fanden sie keine Steine, trotzdem triumphierten sie im voraus, da sie sich in der Übermacht
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fühlten. Nun, endlich, wähnten sie sich ihres Opfers sicher. Hasard grinste, während er auf die Steintreppe zuhielt, die sich in Bugnähe der „Isabella“ befand. Dort bauten sich die vier Strolche drohend auf und schrien und gestikulierten mit wilden Verwünschungen. Daß ihr Gegner auf dem Schiff beheimatet war, in dessen Nähe sie sich gewagt hatten, konnten sie nicht ahnen. In eiskalter Entschlossenheit manövrierte Hasard das Boot an die Steintreppe, legte den Riemen auf die Duchten und stieg nach vorn, um die Vorleine an einem der Eisenringe zu befestigen. Dann sprang er mit einem federnden Satz auf die Stufen hinüber, mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch. Zu guter Letzt sollten ihn die vier Halunken nicht noch daran hindern, zu seinem wohlverdienten Frühstück zu gelangen. Oben auf der Pier standen sie lauernd bereit, beugten sich vor und reckten ihm ihre Fäuste entgegen. Ihr Geschrei war jetzt verstummt. Hasards Grinsen verstärkte sich, als er zur Stelling der „Isabella“ blickte. Philip hastete dort mit langen Sätzen zur Pier hinunter, und ihm folgte ein grauer Schatten, der so schnell war, daß man ihn kaum mit den Augen verfolgen konnte. Ben Brighton und die anderen waren zum diesseitigen Schanzkleid herübergewechselt, um das Geschehen zu beobachten. Daß sie den Söhnen des Seewolfs nicht ins Handwerk zu pfuschen brauchten, verstand sich von selbst. Hasard beschleunigte seine Schritte und erklomm die Treppenstufen in Sekundenschnelle. Ohne einen Atemzug zu verschwenden, stürmte er auf den rothaarigen Tierquäler-Anführer los. Die Kerle hatten noch nicht einmal spitzgekriegt, was sich hinter ihrem Rücken anbahnte – so sehr fieberten sie dem sicheren Sieg entgegen. Mit eingezogenem Kopf unterlief Hasard die Faustabwehr des Rothaarigen. Sein Rammstoß traf ihn in die Magengrube, und
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gemeinsam gingen sie fünf Yards weiter landeinwärts zu Boden. Mit Geschrei hasteten die drei anderen heran und prallten zurück. Zornig knurrend und mit blitzenden Zähnen fegte Plymmie über die Pier und ging auf einen der Burschen los, die sie noch in allzu schlechter Erinnerung hatte. Der Junge schrie wie am Spieß und riß abwehrend die Hände hoch, obwohl Plymmie ihn mit ihrem Sprung nur umstieß und nicht einmal ihre Reißzähne zuschnappen ließ. Heiser knurrend, mit gesträubtem Nackenfell stand sie lediglich über ihm. Er zitterte am ganzen Körper und wagte nicht, sich zu rühren. Während Hasard sich bereits behende von seinem Gegner weggerollt hatte, ging Philip auf die beiden anderen los. Der Angriff traf sie überraschend, denn sie hatten noch nicht einmal Zeit gehabt, sich von ihrem Schreck zu erholen. Beifallsgebrüll und anfeuernde Rufe ertönten von Bord der „Isabella“ - und plötzlich auch von der Wasserseite. Hasard, schon im Begriff, sich auf den Rothaarigen zu stürzen, hielt inne. Sein Herz vollführte einen Freudenhüpfer. Zwei Jollen näherten sich der Pier, und in einem der Boote erhob sich der Seewolf von der Achterducht. Kein Zweifel, daß sie nach erfolgloser Suchaktion froh waren, die Junioren in trauter Zweisamkeit wiederzusehen - noch dazu in einem Schauspiel, in dem wahrhaft die Fetzen flogen! Einen Augenblick zu lange hatte sich Hasard von seiner Freude hinreißen lassen. Während sein Bruder wacker auf die beiden anderen Kerle eindrosch, bemerkte er die Gefahr zu spät. Der Rothaarige hatte sich aufgerappelt und warf sich mit einem wilden Schrei auf ihn. Hasard steckte einen Fausthieb ein, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Mit zusammengebissenen Zähnen unterdrückte er den Schmerz, der ihn jedoch zu größerem Kampfeseifer anstachelte. Blitzartig war er wieder auf den Beinen. In flachem Sprung schnellte er vor, rammte
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den erneut anstürmenden Rothaarigen mit der Schulter und riß ihn von den Füßen. Im nächsten Moment war Hasard über ihm und nagelte ihn mit einem wahren Trommelfeuer von Fausthieben auf den Pflastersteinen fest. Der Anführer der Tierquäler schrie und wand sich und versuchte vergeblich, sich mit hochgerissenen Armen zu schützen. Hasard ließ von ihm ab, wartete, bis der andere auf den Beinen war, und versetzte ihm dann einen genüßlichen Tritt in den Hintern, als er Hals über Kopf die Flucht ergriff. Sofort eilte Hasard seinem Bruder zu Hilfe, der die beiden anderen zwar auf Distanz gehalten hatte, aber nicht zu bezwingen vermochte. Hasard packte den einen an der Schulter, riß ihn herum und beförderte ihn mit einer schallenden Ohrfeige außer Reichweite. „Ar - we - nack!“ brüllte Philip begeistert. Ohne erkennbaren Ansatz schmetterte er seinem verbliebenen Gegner zwei Hiebe vor die Brust, die ihn zu Boden schickten. Unvermittelt fand er sich dort neben seinem angstzitternden TierquälerKomplicen und der gefährlich knurrenden Plymmie wieder. Mit einem schrillen Entsetzensschrei rappelte er sich sofort auf und hetzte in langen Sprüngen hinter dem Rothaarigen her, der sich nicht mehr um seine Kumpane kümmerte. „Plymmie! Hierher, zurück!“ rief Philip schneidend. Und abermals bewies die Bordhündin der „Isabella“, daß sie in der kurzen Zeit schon eine Menge gelernt hatte. Sie gehorchte aufs Wort und ließ die beiden letzten Strolche ziehen. Sekunden später waren nur noch ihre Hacken zu sehen, als sie in wilder Hast in der nächsten erreichbaren Gasse verschwanden. Als die beiden Jungen sich den Staub von der Kleidung klopften und ihre freudig mit dem Schwanz wedelnde Plymmie streichelten, hatten die beiden Jollen angelegt.
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Der Seewolf ging als erster an Land. Er strahlte ebenso wie die anderen Männer, die ihm folgten. Beide Jungen hatten Schrammen und Beulen davongetragen, doch um so mehr konnten sie sich als Sieger einer erfolgreich durchgestandenen Schlacht fühlen. Es gab keine Worte, mit denen der Seewolf das hätte ausdrücken können, was er in diesem Moment empfand. Er nahm seine Söhne an seine Seite, legte ihnen die Arme um die Schultern und ging mit ihnen zurück zur „Isabella“.
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Philip Hasard Killigrew und alle Männer aus seiner Crew hatten den einen Gedanken: Hasard junior hatte das Bravourstück geschafft, sich aus der Gewalt der Entführer zu befreien und allein den Weg zurückzufinden. Und so, wie sich Philip und er hier in Abo verhalten hatten, war es für beide ein weiterer bedeutender Schritt auf dem Weg gewesen, ganze Kerle zu werden. Allen voran trabte Plymmie, die freudig bellend über die Stelling sprang - ihrem neuen Zuhause entgegen...
ENDE