Roman Odermatt
Der Chronist
der Wikinger
1995 Originaltitel der Gesammelten Werke: Quetzalcoatl (Band 5)
I
m Jah...
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Roman Odermatt
Der Chronist
der Wikinger
1995 Originaltitel der Gesammelten Werke: Quetzalcoatl (Band 5)
I
m Jahr 968 n. Chr. setzten hochgewachsene, blonde und zottige
Männer ihre Schiffe auf der kleinsten Insel der Inneren Hebriden westlich von Schottland auf Sand. Wie Hornissen schwärmten sie danach über die grünen Hügel aus und drangen in das Kloster Iona ein. Die Eindringlinge waren Wikinger aus der irischen Provinz Munster. Die Iren hatten sie von dort vertrieben. Nun wollten sie dahin zurücksegeln, woher ihre Vorfahren einst gekommen waren – In den heidnischen Norden! Die Wikinger wollten Irland aber nicht mit leeren Händen verlassen. Sie trachteten nach den Schätzen, die sie in dem Mönchskloster auf der grünen Insel vermuteten. Also stürmten sie mit ihren blanken Schwertern in die Kapellen der Abtei, um die goldenen Kruzifixe, Monstranzen und silbernen Sakramentshäuschen von den Altären zu nehmen, um aus den Reliquiaren und Schreinen kostbare Edelsteine zu brechen, um heilige Schriften aus ihren Gold- und Silbereinbänden zu reissen und um sich die feinen, aus Seiden- und Leinenfäden gewirkten Wandbehänge umzuhängen. Sie plünderten die Kapellen so gründlich aus, als wären sie gehalten, das Kloster in eine andere Gegend zu verlegen. Dass sie dabei das Haus Gottes entweihten, schien sie nicht zu bekümmern. Dem Gott der Christen, dessen Zeichen in den klösterlichen Refugien allgegenwärtig waren, schenkten sie keine besondere Beachtung. Auch das Leben eines Menschen galt ihnen wenig. Sie machten keinen Unterschied, ob sie die Mönche nun vor dem Altar, im Schlafsaal oder in der Werkstatt töteten. Einige führten sie als Sklaven davon. Die Plünderer schleppten die Schätze zum Strand hinunter und beluden damit ihre auf sie wartenden Schiffe. Dann hissten sie die rot-weissen Segel, die sich sofort im Wind blähten. Ehe die Mönche des Klosters um Hilfe schicken konnten, waren die flachen schwarzen Langschiffe der Wikinger so plötzlich, wie sie
gekommen waren, im kalten, undurchdringlichen Nebel der Nordsee wieder verschwunden. In Haithabu, einer dänischen Handelsstadt an der Ostküste der schmalen Halbinsel Jütland, löschten die Wikinger ihr Diebesgut. Auch die Sklaven wurden zum Kauf angeboten. Bis auf drei Mönche und zwei sechszehnjährige Novizen wurden alle Gefangenen verkauft. Nachdem die Wikinger aus Munster ihre Schiffe an einem kleinen Strand im Haddebyer Noor ausgebessert hatten, verliessen sie Haithabu wieder. Für Jahre verlor sich ihre Spur in der Weite der wikingischen Meere. Erst in unserem Jahrhundert tauchten die Nordmänner aus Munster in den Annalen eines privaten englischen Archivs wieder auf. Es waren einige verstaubte Dokumente, die sich als Seiten aus einem Tagebuch entpuppten. Der Archivar schenkte dem Fund keine grosse Beachtung. So kam es, dass ich im Zustand heftiger Erregung in den Besitz dieser Schriftstücke gelangte. Sie bilden die Grundlage für die vorliegende Erzählung. Es sind die Aufzeichnungen eines Mannes namens Patrick, der berichtet, dass er im Jahr 968 von den Wikingern aus dem Kloster Iona entführt und nach Norden verschleppt worden war. Nach der Vertreibung aus ihrer irischen Heimat begleitete Patrick die Wikinger vierzehn Jahre lang auf ihren Reisen, die ihn bis ans Ende der Welt führen sollten. Auf den langen Fahrten über die Meere gewann Patrick das Vertrauen und die Freundschaft der Nordmänner und wie zufällig wurde er für die Nachwelt zum „Chronisten der Wikinger“. Im Jahr 982 betraten die Nordmänner aus Munster ein Land, das fünfhundert Jahre später ein genuesischer Seefahrer entdecken sollte. Patricks Beschreibungen über das Skrälingerland, wie er es nannte, welches er mit seinen Begleitern von den Tundren im Norden bis zum tropischen Regenwald im Süden bereiste, und die Berichte über die längst untergegangenen Kulturen der Skrälinger und das sagenhafte Toltekenreich, die er vorfand, waren so phantastisch, dass ich mich entschloss, alles niederzuschreiben und nichts zu verheimlichen als die Quelle selbst, und auch das nur, weil sie Hinweise auf Orte gibt, die bis heute das Geheimnis bewahren konnten. Viele Leser werden mir wohl die Frage nach Dichtung und Wahrheit stellen. Andere werden mich vielleicht im Verdacht haben, ich hätte es mit der Wahrheit nicht so genau genommen. Sie können es sich vielleicht nicht vorstellen, dass ich Nord- und Mesoamerika nur aufgrund jener Aufzeichnungen beschreibe. Sie meinen, dass ich mich längere Zeit in dem Land aufgehalten haben müsse. Ich gestehe ein, dass ich manches weggelassen und einiges hinzugefügt habe. Auch habe ich einige Lücken geschlossen. Sie hatten sich in dem Tagebuch, dessen Eintragungen sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, aufgetan. Im Grundsätzlichen habe ich mich an die Wahrheit gehalten. Zu keiner Zeit habe ich mich aber in dem Land aufgehalten. Meine Kenntnisse sind
mir durch nichts anderes als durch jenes Tagebuch zugefallen, das in dem englischen Archiv zutage getreten war. Der Chronist stellt alles sehr gewissenhaft dar. Es kann deshalb als sicher angenommen werden, dass die Beschreibungen der Wahrheit entsprechen. Ich habe nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen. Auch wenn es mir dabei wie Jim Bridger, einem der kühnsten Mountain Men, ergeht, der sich bei seiner Rückkehr in die Zivilisation beschwerte: „Sie haben mich als verdammtesten Lügner bezeichnet, der je gelebt hat. Das hat man davon, wenn man die Wahrheit sagt.“ 18. März 1995
Die Sklavin eines toten Wikingerhäuptlings wird geopfert, um ihn, ihren Herrn, in den grossen Heldensaal Walhall zu begleiten.
Dramatis Personae
Patrick Edmund von Meath Ethelwulf die Kranichstelze Ethelstan der Bucklige Ethelred der Fettsack Thorwald Asmund der Schädelspalter Halldor der Bärentöter Gunnar der Grimmige Aivik Ambiorix Togodumnus Cunobelinus Cúchulainn Caratacus Pratusagus Ariovist Talmach Mahsette-Kuiuab Kleine Krähe Otterkopf Wachsamer Biber Weisser Elch Yamparika Ahfitche Shawanung-nizeo (Chicomecoatl) Ce acatl topiltzin
Angelsachse, Novize, Chronist Angelsachse, Novize Angelsachse, Mönch Angelsachse, Mönch Angelsachse, Mönch Wikinger, Jarl Wikinger Wikinger Wikinger Grönland-Eskimo Kelte Kelte Kelte Kelte Kelte Kelte, Druide Kelte Cree, Sohn Cree, Vater Cree Cree Chipewyan, Häuptling Crow, Häuptling Comanche, Häuptling Zuni, Cacique Toltekin König der Tolteken
(Quetzalcoatl) Mixcoatl
Chichimeke, Häuptling
Wikinger stellen auf einem Totenschiff eine massive Grabkammer fertig.
Anmerkung
Sigun Migisupizun Miskipizun Miluskamin Aligipizun Nipin Sagipukawipizun Megwanipiu Opaskwuwipizun Opunhopizun
Tukwagun Weweopizun Migiskau Opinahamowipizun Pichipipun Kaskatinopizun Megwapipun Papiwatiginashispizun Gishepapiwatekimumpizun Cepizun
Frühjahr, bevor das Eis bricht Adlermond (März) Graugansmond (April) Frühjahr, die Gewässer sind eisfrei, Vorsommer Froschmond (Mai) Frühsommer Der Mond, in dem die Blätter hervorkommen (Juni) Mittelsommer Der Mond, in dem die Enten mit der Mauser anfangen (Juli) Der Mond, in dem die jungen Enten zu fliegen beginnen (August) Frühherbst Schneegansmond (September) Spätherbst Der Mond, in dem die Vögel nach dem Süden fliegen (Oktober) Frühwinter, gerade vor dem Frost Der Mond, in dem die Flüsse zufrieren (November) Spätwinter Der Mond, in dem der junge Gesell das Reisig ausbreitet (Dezember) Der Mond, in dem der alte Gesell das Reisig ausbreitet (Januar) Alter Mond (Februar)
D
ie Wikinger waren auf ihrem langen Marsch von der Tundra ins
Tal der Tolteken durch unbekannte Gebiete gekommen, sie hatten namenlose Flüsse durchquert, und sie waren Menschen begegnet, von denen der Chronist keine Namen weitergab. Es ist wohl überflüssig zu sagen, dass die Territorien, Flüsse, Seen und Ureinwohner erst Jahrhunderte später von ihren „Entdeckern“ Namen erhalten sollten. Nach sorgfältigen Vergleichen der Reisebeschreibungen des Chronisten mit den topographischen, geographischen und klimatischen Gegebenheiten im heutigen Nord- und Mesoamerika habe ich versucht, einige Gemarkungen, Wasserläufe und Seen zu lokalisieren. Auch habe ich mich bemüht, unter Berücksichtigung der Wanderungsbewegungen der nomadischen Eingeborenen deren Ethnika festzustellen. Ich habe mir sowohl auf dem Gebiet der Geographie als auch auf dem der Ethnologie meine Kenntnisse nur angelernt. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass sich der eine oder andere Fehler eingeschlichen hat. Der geneigte Leser mag mir das nachsehen!
Das Schiff eines toten Wikingerhäuptlings steht bereits in einem riesigen Grab. Der Tote liegt auf einem mit Schnitzereien verzierten grossen Bett aufgebahrt. Er ist von Dingen umgeben, die er im Jenseits zum Kämpfen brauchen wird: Schwert, Axt und Schild.
Prolog
Wie es Gott gefiel, unsere Schneeziege an ein fremdes Gestade zu werfen und mich vor dem Tode zu erretten.
E
s war an einem klaren Nachmittag gegen Ende Juli, als sich die
kalte Seeluft aus heiterem Himmel unter die warme schob und diese nach oben drängte. Es dauerte dann nicht lange, bis der Wind über die 1[1] ölig glatte Dünung heranbrauste, vor dem sich unsere drei Knorre wie wilde Pferde aufbäumten, gerade, als am Horizont ein flaches, von spärlichen und kümmerlichen Wäldern bedecktes Land auftauchte, das wir zum erstenmal sahen. Nicht das fremde Land beunruhigte uns, wir hatten in den letzten Jahren viele unbekannte Gestade angesteuert, der Grund war vielmehr, als erste von Grönland aus so weit nach Südwesten gesegelt zu sein. „Es ist kaum zu glauben, Angelsachse, aber unsere Schneeziege hüpft noch immer munter über die Wellen und liegt nicht auf dem Grund des Meeres“, rief der hünenhafte Wikinger neben mir an der Ruderpinne. Wir standen auf dem erhöhten Achterdeck und blickten unter dem Segel hindurch auf eine Ebene. Aus der Ferne wirkte die Küste öd und düster auf uns. „Das muss das Land der Skrälinger sein, von dem Bjarni Herjolfsson erzählt hat, Thorwald“, sagte ich. „Ja, das muss das Land sein, das Bjarni Herjolfsson gesehen hat“, wiederholte Thorwald und übergab die Ruderpinne einem seiner Männer. „Komm, schauen wir es uns an, Angelsachse!“ Wir gingen zum Bug hinüber. Beim Anblick der dunklen Ufer wurde ich von einer seltsamen Unruhe und einer leisen Furcht ergriffen. Doch für lange Betrachtungen blieb mir keine Zeit, denn der Südwestwind trug uns so weit nach Norden, bis wir am Eingang einer Wasserstrasse standen, wo eine starke Strömung Turbulenzen erzeugte. 2[2] Thorwald liess die Knorre in diese Strasse einfahren . Später segelten wir zwischen zwei hohen, von grünem Gras bedeckten Vorgebirgen 1[1]
Der Knorr war das einzige Wikingerschiff, das sich in erster Linie zum Segeln eignete. Er war das ideale Schiff für Handels- und Entdeckungsfahrten. Der kurze (16,50 Meter) und breite (4,50 Meter) Schiffsrumpf fasste 15 Tonnen Fracht. Der tiefe Kiel erleichterte genaues Kurshalten. 2[2] Die Eintragungen im Tagebuch über die geografische Lage der Küste sind recht dürftig. Doch aufgrund späterer Ortsbeschreibungen kommt man zum Schluss, dass sich die Wikingerschiffe am Eingang zur heutigen HudsonStrasse befunden haben müssen.
hindurch. Weiter im Süden erhoben sich stufenförmige, orangerot leuchtende Felsklippen, welche von Schwärmen kreischender Seevögel umflogen wurden. Die Kaltfront, welche sich in diesen Tagen erhoben hatte, sollte uns zum Verhängnis werden. Kaum waren wir nämlich an einer Insel vorübergeglitten, als der Wind umsprang. Mächtige Böen fegten über uns hinweg und bliesen uns Schaum ins Gesicht. Die Schneeziege neigte sich nach der Seite, und uns blieb keine andere Wahl, als sie zum Wind hinzudrehen. Bevor wir aber wieder in den Wind kamen, wurde unser Deck von einer mächtigen Woge überflutet. Wir versuchten nun, einen anderen Kurs zu steuern. Doch die schwere See stemmte sich mit der ganzen Kraft dagegen. In regelmässigen Abständen verschlangen uns fürchterliche Abgründe und spuckten uns hinterher wieder aus. Der Sturm wurde nun so stark, dass wir alle Hände voll zu tun hatten, um von den Brechern nicht über Bord gespült zu werden. Plötzlich stürzte der Pfahlmast krachend herab, und wir wurden unter der groben Wolle des Segels, den Rahen, Sprietbäumen und Tauen begraben. Durch den Verlust des Mastes verlor die Schneeziege schnell an Fahrt. Der Sturm wurde nun immer heftiger. Die See ging höher und höher. Mit einem furchtbaren Grollen, das wie ein unterirdisches Donnern das Meer aus den Fugen zu reissen drohte, rollte Woge um Woge heran. Einige Fässer mit frischem Wasser, getrockneten Fischen und gepökeltem 3[3] Fleisch, die wir in Snaefellsnes an Bord genommen hatten, wurden aus ihrem Halt gerissen und rollten auf dem Deck hin und her. Wir kämpften verzweifelt um unser Leben. Ein Mann stürzte mit einer Pütz zur Mitte der Schneeziege, um das über die Bordwände schlagende Wasser auszuschöpfen; andere versuchten, die scheu gewordenen Tiere zu beruhigen, welche wir mittschiffs an Querbalken angebunden hatten und dort auf dem offenen Deck dem fürchterlichen Sturm ausgesetzt waren. Wir hatten alle Hände voll zu tun, losgerissene Gegenstände einzusammeln und wieder festzumachen. Das war keineswegs eine leichte Aufgabe, denn es war ein ständiger Kampf, das Gleichgewicht auf der Knorr zu halten, der ziellos durch den Orkan stampfte und schlingerte. Die wütenden Naturgewalten machten uns das Leben auf der Schneeziege zur Hölle. Als die Sturmböen endlich etwas nachliessen, war das Donnern und Rauschen einer Brandung zu hören. Der heulende Sturm hob eine zerfetzte Wolkenbank und machte die Sicht auf eine steile Felsenküste frei. Ich war wie gebannt. Die tosende Brandung schlug an die Felsen, und die schäumenden Wellen stürzten sich mit einem ohrenbetäubenden 3[3]
Der Ausgangspunkt für die Fahrten nach Grönland war für gewöhnlich eine Snaefellsnes genannte, schroffe Landzunge, die von der Westküste Islands wie eine Klaue ins Meer hinausragt.
Zischen auf die heranrollende Dünung. Wir trieben direkt auf die 4[4] Steilküste zu. Mit den Riemen versuchten die keltischen Treller , die Schneeziege vom Land abzubringen. Doch es war zu spät. Berghohe Wassermassen stürzten sich auf uns. Ich klammerte mich an den Maststumpf. Von hier sah ich die Brandung und die Klippen immer näher rücken. Die donnernden Wellen, die gegen die Felsen schlugen, kündeten das bevorstehende Unglück an. Plötzlich prallte die Schneeziege mit einem lauten Krachen gegen die Felsspitze einer Klippe. Im gleichen Atemzug wurden wir von einer gewaltigen Woge in die Höhe gehoben und wie eine Feder auf ein Felsplateau geworfen. Der Knorr kippte um. In dieser Lage ging jede Welle vollständig über uns weg. Einige Männer wurden über Bord gespült. Für sie gab es keine Rettung mehr. Während den kurzen Augenblicken, in denen das Wasser von der Schneeziege zurückfloss, kletterten die Überlebenden auf die Felsen am Fuss der Klippen. Auch die Ponys und einige Schafe und Ziegen konnten auf diese Weise gerettet werden. Doch plötzlich trieb der Bug der Schneeziege im Sog der zurückströmenden Wassermassen ab. Vom Anprall einer sich überschlagenden Welle brach der Rumpf auseinander und begann sich langsam vom Felsen zu lösen. Ich befand mich noch an Bord. Thorwald, der auf den Felsen stand, bemerkte es. Geistesgegenwärtig ergriff er ein Tau, warf mir das eine Ende zu und schlang das andere Ende um einen Felsbrocken. Ich erwischte das Seil und schwang mich zu den Klippen hinüber. Als ich sah, dass die Schneeziege vom Felsplateau abtrieb, dankte ich Gott für meine Errettung. Er hatte mich mit Hilfe von Thorwald wohlbehalten an Land gebracht. Das Wetter beruhigte sich nun zusehends, und die Wogen des Meeres begannen sich zu glätten. Jetzt wurde aber auch das ganze Ausmass des Schiffbruches sichtbar. Planken, Sparren, Gabelstützen, Riemen, Segelfetzen, Fässer und Eimer lagen überall verstreut zwischen den ans Ufer geschwemmten Toten. Ich sah mich nach Überlebenden um. Einige Wikinger und Treller kauerten auf dem Felsenkliff, wo sie wie ich nass und frierend die letzten Stunden der hellen arktischen Sommernacht verbracht hatten. Als am Horizont rot die Sonne aufging und den Himmel mit einem lebendigen Licht übergoss, begannen sie durch eine enge Kluft auf eine höhergelegene Terrasse hinaufzuklettern. Ich folgte ihnen. Wie eine Eidechse legte ich mich auf die von Flechten überzogenen Steine und wärmte meinen nassen Körper in der Sonne. Unter mir schäumte unablässig die Brandung an die steile Küste. Schwärme von Seevögeln kreisten und kreischten über mir. Ich fühlte mich mehr tot als lebendig. Nach den Anstrengungen der letzten Nacht war ich kaum noch
4[4]
Sklaven
fähig, mich auf den Beinen zu halten. Ich fiel sogleich in einen tiefen Schlaf. Ich erwachte erst wieder, als ich die Stimme von Edmund hörte. Mit schläfrigen Augen blickte ich auf den Freund, der in seiner zerrissenen Kutte vor mir stand. Er wirkte müde, als er mich begrüsste: „Patrick, ich freue mich aus tiefstem Herzen, dich wohlbehalten an Land zu sehen. Ich preise Gott den Allmächtigen für deine Errettung.“ „Mein liebster Edmund, dem Himmel sei's gedankt, dass auch du dem Tod entronnen bist!“ rief ich befreit und umarmte den Leidensgenossen. Edmund von Meath, der einer angesehenen Familie entstammte, war mein Freund. Obwohl er nicht gerade mit Schönheit gesegnet war, lag auf seinem Gesicht doch ein gewinnender Ausdruck von Ehrlichkeit und Lauterkeit. Wir hatten uns im Kloster Iona kennengelernt, wo wir uns als Novizen auf das Gelübde vorbereitet hatten. Es war uns aber nicht beschieden gewesen, in den Orden einzutreten. Die Vorsehung hatte uns zu etwas anderem berufen als der Welt zu entsagen, und davon habe ich nun zu berichten. „Was weisst du über das Schicksal unserer Brüder, die auf den anderen Knorren in die Bucht segelten, Edmund?“ fragte ich. „Ich weiss nichts von ihnen, Patrick, ich habe die Knorre seit gestern abend nicht mehr gesehen. Sie müssen weiter nördlich von hier gelandet sein. Ich bete zu Gott, dass er unsere Brüder gnädiger als uns hierher geführt hat.“ „Wer konnte sich denn von der Schneeziege ans Ufer retten?“ fragte ich bang. „Der Allmächtige hat nur wenige vom Tode errettet“, bestätigte er. 5[5] „Auch Thorwald der Jarl , Asmund der Schädelspalter, Gunnar der Grimmige und Halldor der Bärentöter, dieser schreckliche Mensch, der sich unentwegt taufen lässt, ohne dabei seine Götter aufzugeben, befinden sich unter den Überlebenden. Viele aber haben ihr Grab in den Wellen gefunden. Mein Gott, wie bin ich froh, dass du noch lebst, Patrick. Was hätte ich allein unter diesen unbekehrbaren Menschen gemacht, die sich jetzt da unten streiten, ob letzte Nacht das Seeungeheuer Midgard oder Ägirs Töchter unseren Knorr versenkt haben! Sie sind wie Kinder, die sich den ganzen Tag in den Haaren liegen.“ „Wir müssen Geduld mit ihnen haben, Edmund.“ „Ich habe die Hoffnung aufgegeben, Patrick, dass sie ihre heidnischen Gebräuche eines Tages ablegen könnten. Sie vergöttern Odin, Thor und Freyr zu sehr. Was habe ich nicht alles versucht, damit sie ihren Göttern abschwören! Aber es war alles umsonst! Sie halten trotzig an den rauhen Burschen fest und begründen es allein damit, dass weder der 5[5]
Grossgrundbesitzer, Edelmann
einäugige Odin noch der rothaarige Thor gegen sie Groll hegen würden, wenn sie ihresgleichen den Schädel einschlagen. Und du verlangst Geduld von mir, Patrick! Ich bete zu Gott, dass er sie mir gibt.“ „Lass uns zu ihnen hinuntergehen, Edmund. Unser aller Schicksal liegt jetzt in Gottes Hand. Er allein bestimmt, ob wir eines Tages unser geliebtes Kloster Iona auf den grünen Hügeln wieder sehen.“ „Ich bin froh und dankbar, dass ich dich gefunden habe, Patrick“, sagte der Freund. „Die Nordleute haben mich übrigens heraufgeschickt, um dich zu suchen. Hast du die Kraft, um mit mir von den Felsen herunterzusteigen?“ „Ja, ich fühle mich besser“, antwortete ich.
Ein Pferdeknecht führt ein Pferd an Bord des Totenschiffes, denn es wäre ungehörig, den Wikingerhäuptling im Jenseits zu Fuss gehen zu lassen.
1. Kapitel
In der Tundra
Wie es Gott gefiel, dass die keltischen Treller die wikingischen Knorre verbrannten, wodurch uns die Heimkehr verwehrt wurde, und dass wir in die Tundra zogen, wo wir auf Polarhirsche stiessen.
A
ls wir das Felsenkliff landwärts hinunterstiegen, wurde ich von
Myriaden roter, weisser, gelber Farbtupfer verzaubert, die in einem grünen Meer schwammen. Die kräftigen Farben und das Grün hätte ich nie in dieser Öde erwartet. Ich konnte den Blick nicht mehr abwenden. Ich war wie gebannt. Die zauberhafte Landschaft belebte mich, sie tat mir wohl. Das war die Tundra, die arktische Wüste, die rings um die Nordhalbkugel das Eismeer begrenzt. Die meiste Zeit des Jahres ist sie eine eintönige Wildnis. Doch jetzt im Sommer lag etwas Faszinierendes in ihr. Am Fuss des felsigen Steilhanges schimmerte das Gras wie Gold; es war das tote Gras des Vorjahres. Kalkweiss bleichte ein RentierSchädel unter der warmen Julisonne. Auf der Suche nach neuen Futterstellen mussten die Tiere im Jahr zuvor hier über die Tundra gewandert und das Tier, dessen Schädel wir sahen, den Wölfen zum Opfer gefallen sein. Edmund und ich schritten durch ein Meer von Weidenröschen, Bärentrauben, Moosbeeren und silbern glänzendem Wollgras. Einige Schritte vom Kliff entfernt hatte der enorme Druck des Frostes riesige Felsplatten hochgehoben. Zwischen diesen mächtigen Monolithen brannte ein Feuer, vor dem die Gestrandeten sassen. Ich erschrak. Ich zählte nur noch acht Wikinger und drei Kelten, die mit Edmund und mir den Schiffbruch überlebt hatten. Unter ihnen sah ich Thorwald den Jarl, Asmund den Schädelspalter, Gunnar den Grimmigen und Halldor den Bärentöter. Als Thorwald uns sah, stand er auf und kam uns entgegen. „Angelsachsen, kommt zu uns ans Feuer und esst mit uns von den Schneehühnern, die wir in der Tundra gefangen haben!“ rief er uns zu. Es gab kaum ein prächtigeres Bild von einem Wikinger als den Jarl. Er mass sechs Fuss vier Zoll der Länge nach, und seine Muskeln liessen auf eine aussergewöhnliche Körperkraft schliessen. Aus dem bärtigen Gesicht sprach derbe Aufrichtigkeit, die jedem sogleich Vertrauen einflössen musste. Mit seinen dreissig Jahren war er im besten Mannesalter und somit gleich alt wie Edmund und ich. Seine Kleidung war aus Seehundfellen gefertigt, und man erkannte darin seinen Ehrgeiz und seine Eitelkeit, den Mitmenschen zu imponieren. Auch was seine Ausrüstung anging, konnte man einen gewissen Geltungsdrang feststellen. So war die Streitaxt ordentlich gepflegt, der Holzgriff seines
Schwertes kunstvoll geschnitzt, und ein mit Silberdraht angefertigtes Ornament zierte seinen hölzernen Schild. Nur unscheinbare Merkmale in seinem Gesicht verrieten, dass sowohl Wikinger- als auch Inuit-Blut in ihm floss. Es sei von der Seite seiner Mutter her, die eine Grönländerin sei, hatte er mir verraten. Und tatsächlich! Seine Haut war um einen Hauch dunkler. Seine Backenknochen zeigten sich ein wenig betonter. Die Lippen waren eine Spur üppiger. Aber nicht nur die äusserlichen Vorzüge der beiden Erbteile hatten sich in ihm vereint; auch Eigenschaften wie Mut, innere Stärke, Kameradschaft, Aufrichtigkeit, Wortgewandtheit, ein unbändiger Lebenswille, aber auch die Bereitschaft, dem Tod ins Auge zu sehen, trug er in sich. Thorwald war mir in all den Jahren, in denen wir zusammen über die Meere gesegelt waren, ans Herz gewachsen. Wir hatten gerade an der Feuerstelle Platz genommen, als ich vier Reiter sah, die sich uns näherten. An der Spitze des Zuges ritt eine Gestalt, die nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien. Jetzt erkannte ich den Reiter. Es war Bruder Ethelwulf. Die Wikinger nannten ihn die „Kranichstelze“. Seine zerbrechlichen Rippen waren mit einem Parka bedeckt, einer Jacke aus gegerbten und rotgefärbten Seehundfellen. Es war ein Anorak, wie er von Grönland-Eskimos getragen wurde: mit Kapuze und Hundsfellkragen. Er hatte sich auf den Kopf einen kegelförmigen Hut aus dünnem geschweiftem Holz gestülpt, dessen Rückseite mit Seelöwenbarthaaren verziert war. Seine Beine steckten in Hosen aus Robbenfell. Ich glaubte, seine Knochen klappern zu hören. Es waren aber jene hübschen Zauberamulette, welche an seinem Halsband klingelten, Muscheln, Knochensplitter und Perlen, zerbrechlich wie ihr Träger. Ein Gürtel, an dem eine Messerscheide baumelte, sowie Mukluk, Stiefel aus feinem Leder und mit Bändern verschnürt, hielten ihn zusammen. Hinter Bruder Ethelwulf ritt der kleinwüchsige Bruder Ethelstan, von den Nordmännern der „Bucklige“ genannt. Er hatte seinen Kopf durch den Schlitz eines wikingischen Kettenhemdes gesteckt. Dadurch war sein missgebildeter Körper vollkommen verdeckt. Nur ein Paar Schnürstiefel baumelten links und rechts seines Ponys hin- und her. Auf den Kopf hatte er sich einen Rundhelm gesetzt. Quer über den buckligen Rücken hatte er sich einen Bogen umgehängt, in der Hand hielt er ein Holzschild und an der Seite trug er Schwert und Axt. Dem Dritten im Bunde sah man es an seiner Mönchskutte an, in welcher Mission er unterwegs war. Es war Bruder Ethelred. Im Gegensatz zu den andern zwei Mönchen war er ausgesprochen dick, weshalb ihn die Wikinger auch den „Fettsack“ nannten. Seine Fettleibigkeit liess darauf schliessen, dass er den irdischen Genüssen
nicht abgeneigt war. Ein Umstand, der etwas im Widerspruch zu seiner Kutte stand. Der Vierte war ein Skrälinger. Wie ich später erfuhr, gehörte er zu den Eskimos, die in Grönland lebten. Er war ähnlich wie Bruder Ethelwulf mit einem Parka gekleidet. An seinem Gürtel hingen eine hölzerne Speerschleuder, ein Messer, eine grosse Felltasche und eine Harpunenspitze, die an einer Lederleine befestigt war. In der Hand hielt er einen Vogelspeer, ein Holz mit mehrfachen Knochenspitzen. Die vier Ankömmlinge ritten jene Ponys, die wir in Island an Bord der Knorre genommen hatten. Die drei Mönche waren mit uns von den Wikingern aus dem Kloster Iona entführt worden. Von Grönland waren sie auf einem der anderen Knorre mitgesegelt. Aber wo waren diese Schiffe? Warum waren die vier allein gekommen? Ich sah, dass den Ponys der Schaum vom Maul flog. Sie hätten einen scharfen Ritt hinter sich, teilten sie uns mit. „Wo seid ihr gelandet?“ fragte Thorwald voller Ungeduld. „Die beiden Knorre liegen einen halben Tag von hier auf dem Strand“, sagte Bruder Ethelstan. „Warum seid ihr Angelsachsen und der Eskimo allein gekommen?“ „Die Kelten haben uns fortgeschickt.“ „Die Treller?“ „Ja.“ „Was ist geschehen?“ „Der Sturm hatte viele Tote gefordert. Nachdem wir die beschädigten Knorre an Land gezogen hatten, schmiedeten die Kelten ein Komplott gegen die eurigen. Es kam zum Kampf. Die Kelten waren den eurigen zahlenmässig überlegen und überwältigten sie kurzerhand.“ „Haben die Treller Gefangene gemacht?“ „Fünf oder sechs der eurigen wurden auf den Strand gezerrt und dort gefesselt. Was sie mit ihnen machten, konnten wir nicht in Erfahrung bringen, denn die Kelten schickten uns fort. Sie sagten, wir seien frei, da wir keine Wikinger seien. Wir verliessen den Ort, kehrten aber nochmals an den Strand zurück, wo die Knorre lagen, um die vier besten Ponys 6[1] herauszusuchen. Aivik , der Eskimo, führte uns dann hierher.“ Ein eisiges Schweigen folgte. Die Nachricht war so ungeheuerlich, dass die Wikinger zunächst unfähig schienen, einen Entschluss zu fassen. Thorwalds Blick wanderte zum Feuer hinüber. Er war tief getroffen. Die Besatzungen von zwei Knorren waren von seinen Sklaven niedergemacht worden. Heiss und kalt lief es mir den Rücken herunter. Niemand sprach ein Wort. Thorwald wusste: Jetzt durfte er keine Zeit mehr verlieren. Ohne viel Federlesen zu machen liess er Ambiorix, Togodumnus und Cunobelinus, die drei keltischen Treller, welche den 6[1]
Aivik ist ein Wort aus dem Inuit-Inupiaq und bedeutet Walross.
Untergang der Schneeziege überlebt hatten, fesseln. Dann setzte er uns seinen Plan auseinander: „Halldor der Bärentöter, Patrick der Angelsachse, Aivik der Eskimo und zwei meiner Männer werden mich begleiten. Die anderen bleiben hier. Wir nehmen die Ponys und brechen sofort auf.“ Es war alles gesagt, was es zu sagen gab. Niemand stellte Fragen. Die Entschlossenheit, welche die Wikinger an den Tag legten, machte grossen Eindruck auf mich. Wir jagten über die Tundra der Küste entlang. Der Eskimo führte uns. Tausend Fragen liessen mich bange werden. Kurz vor dem Ziel liessen wir die Ponys zurück und hasteten über die Tundra. Uns brannte der Boden unter den Füssen. Eine innere Stimme sagte uns: Verliert keine Zeit! Wir waren in Hetze. Je näher wir dem Ort kamen, wo die Knorre auf dem Strand liegen mussten, desto stiller wurde es. Kein Lüftchen regte sich. Es war eine Stille zum Fürchten. Wir schöpften Luft, hasteten weiter, keuchten einen Hang hinauf, stoben auf der anderen Seite wieder hinunter und rannten weiter, immer weiter. Ich musste wieder zu Atem kommen. Doch die Tundra heischte Stille. Ich wagte kaum zu atmen. Und doch musste ich Luft schöpfen. Verstohlen pumpte ich sie in die Lunge. Thorwald war schon voraus. Ich hetzte ihm nach. Da! Er war aus dem Schatten eines Findlingsblocks in das Licht der Sonne hinausgetreten. Als ich zu dem Wikinger trat, lachte mich eine weite Wasserfläche an. Es war das Meer. Noch ganz ausser Atem, lachte auch ich. Aber was war das! Der Jarl stand wie versteinert da. Nur das Sonnenlicht spielte in seinem Haar. Er schien zu einer Säule erstarrt. Ich folgte seinem Blick. Noch immer regte sich kein Lüftchen. Ich blickte zum Strand hinüber. Zwei dünne Rauchsäulen stiegen dort zum Himmel empor. Wo waren die Knorre? Meine Augen hasteten dem Ufer entlang. Sie suchten die Knorre. Sie waren verschwunden! Nur diese dünnen Rauchsäulen waren zu sehen. Ich blickte in das versteinerte Gesicht des Freundes: Und sofort wusste ich Bescheid. Die dünnen Rauchsäulen waren die letzten Lebenszeichen der Knorre! Ein kalter Stahl fuhr mir ins Herz. Ein jäher Schreck umschnürte meinen Hals. Ich fühlte, wie die Rauchsäulen meine Brust umklammerten. Mir wurde plötzlich schwindlig. „Die Treller haben die Knorre verbrannt!“ sagte Thorwald. Das waren seine einzigen Worte. Dann ging er mit schweren Schritten zum Strand hinüber. Ich folgte ihm. Verstohlen blickte ich zur Sonne hinauf. Sie blinzelte mir müde zu. Was hatte sie gesehen? Ich stapfte durch den Sand weiter. Er knisterte unter meinen Schuhen. Plötzlich verdüsterte sich der Strand. Der Jarl kniete am Boden. Vor ihm lag etwas im Sand. Ich konnte nur die Beine erkennen. Ausgestreckt lagen sie im Sand. Und ich erkannte, dass sie nie mehr durch den knisternden Sand gehen würden. Es war ein Wikinger. Ein Speer hatte sein Herz durchbohrt. Stumm schritt Thorwald zu den niedergebrannten Knorren
hinüber. Verkohlte Planken ragten: wie Skelette. Es roch nach Rauch und Tod. Dann sah ich sie, überall zwischen die Trümmer geknickt, auf den aschenen Sand gebrochen, von der Julisonne durchtränkt. Auch eine Ziege sah ich. Sie streckte alle viere von sich. Sie alle waren erbarmungslos in den Tod gerissen worden. Thorwald sass im Sand und weinte. Ich ging umher. Nirgends hauchte noch Leben. Kein Seufzen, kein Jammern. Ein Bild des Grauens bot sich uns überall, wo der grimmige Tod zugepackt hatte. In der Luft kräuselte sich der Rauch. Ich sah keinen Sinn, hier umherzugehen. Thorwald sass immer noch im Sand. Er trauerte. Ich ging zu ihm. „Thorwald“, sagte ich, „verzage nicht. Gott wird uns beschützen.“ Er nickte nur.
A
ivik führte uns zu einer Fährte, die im Tundraboden deutlich zu
erkennen war. Wir zählten die Hufabdrücke von einigen Ponys, Ziegen und Schafen, von Tieren also, die auch wir an Bord der Schneeziege gehabt hatten. Bei genauer Betrachtung waren neben den Tierspuren auch noch menschliche Fussabdrücke zu erkennen. „Was meinst du, Aivik, wie viele Treller haben diese Fährte hinterlassen?“ fragte Thorwald den Eskimo, der die Spuren untersucht hatte. „Achtzehn“, gab Aivik mit einer Sicherheit zur Antwort, als könne er sich nicht irren. „Neun sassen auf den Ponys und neun gingen zu Fuss.“ „Wir sind auch neun, wenn wir Aivik mitzählen“, rechnete Halldor der Bärentöter, indem er sein Schwert kraftvoll in den Boden rammte, „auf jeden von uns fallen also zwei Treller.“ „Aber zuerst reitest du zurück, Halldor, um Asmund, Gunnar und die anderen zu holen. Und vergiss die vier Angelsachsen und die drei Kelten nicht!“ sagte Thorwald. „Wir werden unterdessen der Fährte folgen.“ Die Wikinger schienen ihren Mut wieder gefunden zu haben. Sie begannen sich jedenfalls der neuen Situation anzupassen. Wir brachen sofort auf. Halldor der Bärentöter ritt zu den Freunden zurück, wir folgten der Fährte, die nach Süden führte. Jetzt im Polarsommer standen der Mohn und das Wollgras in voller Blüte; roter Mohn und silbern glänzendes Wollgras. Arktisches Wollgras mit silbern glänzenden Schöpfen über den schlanken grünen Stengeln. Das Rot des Mohns und das Silber und das Grün des Wollgrases verzauberten das Land, durch das sich wie Narben die schlammigen Ufer der Seen und Flüsse zogen, welche mit Gold und dunklem Grün geschmückt waren. Legionen von Pflanzen grünten, blühten und
dufteten auf den Sümpfen und Mooren, deren gelblichgraues Moos in üppigstem Grün prangte. Torfmoore, tiefbraun wie Schokolade, tönten mit ihren dunklen Sepiafarben die Flüsse und Teiche, um deren Ufer sich breite, leuchtendgrüne Streifen aus Ried und hohem Gras zogen; darüber standen in dunkel glänzendem Grün die Dickichte der Zwergbirken und bildeten eine düstere Kulisse. Selbst an den zerrissenen Höhen der toten Felsen an der Küste hatten die kriechenden Moose das Grau der Steine mit zarten Pastelltönen gefärbt, vom tiefen Scharlachrot zum samtigen Schwarz. Tag und Nacht war es nun hell. Das Land, das so viele Monate in tiefem Schweigen gelegen hatte, war jetzt von tausenderlei Rufen erfüllt; von jedem See tönte das Wuu-huu des Singschwans, das Schmettern der Kraniche, das Hupen der Gänse. Ungezählte Enten und Schneehühner brüteten auf ungezählten Nestern, die im Pflanzengewirr auf der blanken Erde lagen; Nestlinge erprobten ihre Flügel; junge Rauhfuss-Bussarde erhoben sich das erste Mal in die Luft; Schneeammern flatterten über den Boden, an allen Ufern wimmelte es von Regenpfeifern, Strandläufern und Wasserläufern. Die Backentaschen der Erdhörnchen waren vollgepfropft mit Sämereien; Myriadenschwärme von Stechmücken sirrten in der Luft, und Moschusochsen ästen Purpur-Steinbrech. Als die Sonne für kurze Zeit rot am Horizont unterging, streckte ich die Nase neugierig in die Luft. Der Himmel blieb von einem lebendigen Licht übergossen, und die Polarnacht flackerte gespenstisch. Was würde uns hier in der Tundra erwarten? Noch kein Wikinger hatte dieses Land bisher betreten, dessen Weite sich nur erahnen liess. Halldor der Bärentöter, Asmund der Schädelspalter, Gunnar der Grimmige, Bruder Ethelwulf, Bruder Ethelstan, Bruder Ethelred, Edmund sowie zwei Wikinger und die drei keltischen Treller hatten uns am Vormittag wieder eingeholt. Mit Thorwald, Aivik dem Eskimo, zwei Wikingern und mir zählte unsere Gruppe siebzehn Mann. Wie einst Moses die Israeliten aus Ägypten durch die Wüste geführt hatte, so führte uns Aivik von der Küste durch die Tundra, im Gefolge elf Ponys, vier Ziegen und drei Schafe. Die Fährte vor uns zog sich schnurgerade nach Süden. Die Kelten hatten es sehr eilig gehabt, denn sie waren die ganze Nacht geritten. Am Mittag des dritten Tages kreuzte ein grösserer Fluss unseren Weg. An seinem Ufer war das Gras niedergetreten. Die Kelten hatten hier wohl gerastet. Unsere Ponys suchten eine Furt durch den Fluss. Auf der anderen Seite fanden wir die Spur wieder. Sie führte nun in südwestlicher Richtung zu einem anderen Wasserlauf hinüber. Die Wikinger nannten ihn „Schneehasenfluss“, weil hier eine Schar dieser braunen Tiere vor uns die Flucht ergriffen hatte.
Nachdem wir den „Schneehasenfluss“ durchquert hatten, zügelte der vorausreitende Eskimo plötzlich sein Pony. Er richtete sich auf und spähte in die Ferne. Wir wurden neugierig. Und tatsächlich! Am Horizont sahen wir viele dunkle Punkte, die grösser wurden. Zuerst hatten sie die Grösse von Lemmingen, dann waren sie Hasen ähnlich. Schliesslich erkannten wir, dass es Polarhirsche waren, die in langen Reihen aus dem hohen Norden zurückkehrten. Es schien mir, als ob sie aus den Hügeln herauswuchsen. Ich versuchte sie zu zählen. Zehn – fünfzig – hundert – dreihundert. Dann gab ich es auf. In gewundenen, aufgerissenen Reihen, zusammengeballt, einzeln und in breiter Front strömten die Rener, wie Aivik sie nannte, heran, bis sie sich in einer breiten Front nach Süden wälzten. Aus der Entfernung schienen sie sich kaum zu bewegen, aber es dauerte nicht lange, bis sie als Einzelwesen zu erkennen waren. Die langen Strähnen lösten sich auf in endlose Reihen von einzelnen Tieren, die sich so genau hintereinander hielten wie auf eine Schnur gereihte Perlen. Nicht eine einzige Kuh mit ihrem Jungen war in dem Strom der Rener auszumachen. Die Lawine aus Tierleibern, die sich über die Tundra wälzte, wuchs immer noch. Nach Norden war die Tundra zu einem welligen Meer von Tierleibern geworden, ohne dass ein Ende abzusehen gewesen wäre. Langsam kamen sie im Passgang daher, mit eigenartig knisternden Fussgelenken und mit nickenden Geweihen und ästen Flechten, Moos und Gras. Ihre Seiten waren von zahllosen Fliegen zerstochen und zerbissen, die ihre Opfer bis zur Tollheit peinigen; am schlimmsten treiben es die Dasselfliegen, die ihre Eier in die Haut legen. Die Geweihe der Hirsche waren schon vollständig ausgebildet; nach der Brunft im Herbst würden sie abgeworfen. Die Kühe, welche ihre Jungen im Norden gesetzt hatten, sollten im Kielwasser der Hirsche folgen – in Richtung auf die Wälder im Süden. Einige der Wikinger griffen zu den Speeren und Wurfschlingen. Sie waren Meister in der Handhabung dieser Waffen. „Ich werde mich auch an der Jagd beteiligen?“ teilte ich Thorwald mit. „Angelsachse, du bist mutig. Ich werde an deiner Seite sein.“ An der bevorstehenden Jagd konnte nur teilnehmen, wer ein Pony besass. Die anderen sollten sich abseits halten. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Das Jagdfieber hatte mich ergriffen. Auch die Wikinger begannen ihre Speere und Wurfschlingen über den Köpfen zu schwingen. Es verriet ihre Anspannung. Ich war ebenfalls mit einer Wurfschlinge ausgerüstet. Besass ich aber die Geschicklichkeit, sie über das Geweih eines Hirsches zu werfen? Ich muss gestehen, dass ich mich zu der Zeit noch besser mit der Heiligen Schrift auskannte als mit Wurfschlingen. Allein ich war lernbegierig und nicht ungeschickt. Wir trabten also den Polarhirschen entgegen und trieben uns dabei wie einen Keil in die Herde, die sich teilte. Die Rener brachen nach beiden Seiten aus. Die Jagd konnte beginnen! Wir jagten den
davonrasenden Hirschen nach, die nun nach allen Seiten auseinanderstoben. Thorwald und ich hatten einige Tiere von der Herde ausgesondert. Diesen setzten wir jetzt nach. Welch einen Anblick boten diese Polarhirsche! Unter ihnen befand sich auch ein weisses Ren. Es war ein prachtvolles Tier. Auf ihn hatte ich es abgesehen. Es musste meine Absicht wohl gespürt haben, denn es brach plötzlich nach der Seite aus. Geistesgegenwärtig riss ich mein Pony herum. Durch die Kehrtwendung hatte der weisse Hirsch einen kleinen Vorsprung herausgeholt. Im gestreckten Galopp ging es über die Tundra. Meine Sinne waren aufs äusserste gespannt. Ich holte auf, da das Ren schon bald erste Anzeichen von Schwäche zeigte. Mein Pony dagegen war noch frisch. Ich kam dem Rentier also näher. Es bemerkte das und nahm seine ganzen Kräfte zusammen. Es gelang ihm, wieder Boden gutzumachen. Sein Vorsprung wuchs. Ich trieb mein Pony erneut an, drückte ihm die Schuhe fest in die Weichen. Das Tier quälte sich fast zu Tode. Wer würde die grösseren Kraftreserven haben? Wir jagten in ein Wellental hinunter. Auf der anderen Seite ging es im Galopp wieder hinauf, über einen Bach, um einen Hügel herum. Von der Herde war weit und breit nichts mehr zu sehen. Wir waren allein. Nur das Schnauben und das stumpfe Stampfen der beiden Tiere war zu hören. Schweiss drang in die Nase. Die wehenden Haare der Mähne streiften meine Hand. Ich wagte einen Blick zurück. Tundra, so weit ich sehen konnte. Mutterseelenallein! Die Kräfte meines Ponys liessen allmählich nach. Und doch wollte die Jagd durch die Einsamkeit kein Ende mehr nehmen. Wo mochte das Ende sein, wo der Anfang? Wer hatte uns in dieser Einsamkeit losgelassen? Anfang und Ende schienen zu verschmelzen. Anfang und Ende hatten ihre Bedeutung verloren. Alles hier war Anfang und Ende. Auch Zeit und Raum bedeuteten nichts mehr. Das endlose Land erschien mir raum- und zeitlos, unvergänglich und unsterblich, ewig und unendlich. Und doch lag in der Luft der bittere Geschmack von Vergänglichkeit, Sterblichkeit und Endlichkeit. Mein Jagderfolg stand auf des Messers Schneide. Der weisse Polarhirsch musste keinen Reiter tragen. Hierin lag seine Chance, zu entkommen. Ich durfte keine Zeit mehr verlieren! Ich nahm deshalb die Wurfschlinge von der Schulter. Der erste Wurf musste gelingen. Der Vorsprung des Rentiers war bedenklich angewachsen. Endlich schwang ich das Seil über dem Kopf, und mit einem Ruck warf ich es nach vorne. Die Schlinge legte sich über das Geweih um den Hals des Rens. Ich stiess einen Freudenschrei aus. Wenn ich geglaubt hatte, dass ich nun Herr der Lage war, so hatte ich mich geirrt. Als der Hirsch nämlich die Schlinge am Hals spürte, die sich langsam zusammenzog und ihm die Luft nahm, blieb er stehen und bäumte sich auf. Mit den Vorderfüssen schlug er aus. Es war ein kraftvolles Tier. Ich hatte das Seil um meine Hand gewickelt und versuchte damit die Hufschläge zu parieren. Mein Pony wich verängstigt
zurück. Ich war zwischen Scylla und Charybdis geraten, denn einerseits musste ich das Ren in Schach halten, andererseits mein Pony beruhigen. Das letztere wollte mir nicht gelingen. Mit lautem Wiehern nahm es Reissaus. Ich flog, von der Wurfschlinge festgehalten, auf die harte Erde nieder. Der Hirsch schreckte zurück und jagte weiter, mich im Schlepptau mitschleifend. Doch die Tortur dauerte nicht lange. Die Schlinge des Seils schnürte nämlich dem Tier den Hals zu. Durch das Würgen erschöpft, stürzte es zu Boden. Darauf hatte ich gewartet. Mit fliegender Hast stürzte ich mich auf mein Opfer und fesselte ihm mit einem Strick die Vorderfüsse. Nun konnte ich die Halsschlinge lockern. Das Tier kam wieder zu Atem und richtete sich auf. Nun war ich Herr der Lage. Ich schaute mich um. Mein Pony stand in einiger Entfernung auf der Tundra. Der weisse Hirsch widersetzte sich mir mit aller Kraft. Doch diesmal war ich im Vorteil. Seine gefesselten Vorderfüsse machten eine Flucht unmöglich. Er schnaubte und schlug mit den Hinterfüssen aus. Doch ich liess nicht locker. Der Stolz, ein Ren in der Tundra gefangen zu haben, verlieh mir ungeahnte Kräfte. Es war ein Zerren und Ziehen, ein Stossen und Drücken, ein Quetschen und Klemmen. Ich begann aus allen Poren zu schwitzen. Doch auch dem Hirsch troff der Schaum in grossen Flocken vom Maul. Nach einer Stunde war ich wie gerädert, zerschlagen. Ich begann zu fluchen. Ich zweifelte, ob sich die Bestie überhaupt bändigen liess. Schliesslich liess ich alle Hoffnung fahren. Ich war am Ende. Ich wollte gerade den Strick zerschneiden, mit dem ich die Vorderfüsse des weissen Rentieres gefesselt hatte, um es in die Freiheit zu entlassen, als ich einen Pfiff hörte. Ich blickte mich um. Ein Reiter näherte sich. „Angelsachse!“ rief dieser. „Halte durch, ich komme dir zu Hilfe!“ Es war Thorwald, der mir zu Hilfe kam. Als er dem weissen Polarhirsch mit der Speerspitze den Todesstoss versetzen wollte, hielt ich ihn zurück. „Lass dem Tier das Leben, Thorwald. Ich will versuchen, es zu zähmen.“ „Hast du den Hirsch gefragt, ob er sich überhaupt zähmen lässt?“ spöttelte der Jarl. „Ich habe in Grönland gesehen, wie die Eskimos ihre Rentiere halten. Aivik wird mir helfen, das Tier zu zähmen“, hielt ich dagegen. „Du hast den Hirsch gefangen, also bist du sein Herr.“ Mit der Hilfe von Thorwald gelang es mir, dem Ren einen halfterähnlichen Zügel anzulegen. Dadurch bekamen wir es in unsere Gewalt. Durch festes Ziehen am Zügel konnten wir ihm nämlich die Luft abschnüren und somit seinen Willen beugen. Ich war sehr stolz. Jetzt besass ich ein Ren, einen weissen Polarhirsch! Hätte mich der Abt von Iona, der wie ein Vater zu mir gewesen war, doch gesehen! Er wäre
sicher stolz auf mich gewesen. Eine leise Sehnsucht schlich sich in mein Herz! Thorwald und ich ritten zurück. Wir fanden die Freunde am „Schneehasenfluss“. Die Jagd war erfolgreich gewesen. Sie hatten mehrere Hirsche erlegt, welche sie jetzt ausweideten. Sie waren etwas verblüfft, als sie mich mit einem lebenden Ren sahen. Sie schrieben es schliesslich meiner Unerfahrenheit in der Jagd zu, dass ich das Tier nicht getötet hatte. Allein ich war meiner Sache sicher, dass die Zähmung und das Zureiten jetzt nur noch eine Frage der Zeit war. Aivik ermutigte mich und stand mir mit Rat und Tat bei. Er verriet mir, dass die Eskimos ihre gefangenen Rener zu Boden werfen und ihnen den Atem in die Nüstern blasen würden. Sie gäben damit den Tieren zu verstehen, wer von jetzt an die neuen Herren seien. Der Boden am Fluss war von ungezählten Rentierhufen zerstampft worden. Es waren Trampelpfade entstanden, die in zahllosen Strahlen auseinander- und wieder zusammenliefen, bis sie zum Schluss zu einer einzigen ungeheuren Heerstrasse in der grünen Weite der Tundra zusammenwuchsen. Die Herde hatte die Spuren der Kelten in Grund und Boden gestampft. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als der breiten Heerstrasse zu folgen. Aivik riet mir, den Polarhirsch mit meinem Pony zusammenzuspannen. Ich befolgte seinen Ratschlag, und siehe da: Langsam begann sich das Ren an die neue Umgebung zu gewöhnen. Auch an mich sollte es sich gewöhnen, und es sollte Vertrauen zu mir gewinnen. Die meiste Zeit verbrachte ich deshalb auf dem Marsch und während den Rasten bei ihm. Nach zwei Tagen, während einer längeren Rast, band ich das Ren vom Pony los. Ich glaubte zu beobachten, dass der Polarhirsch seine Bockbeinigkeit abgelegt hatte. Jetzt galt es, ihn einzureiten. Ich führte ihn in das tiefere Wasser eines Baches. Aivik hatte mir vorher den Platz gezeigt. Hier konnte das Ren nicht so leicht bocken. Zudem waren die unvermeidlichen Stürze weniger schmerzhaft. Und es waren nicht wenige Stürze, nach denen ich mich wieder im Wasser fand. Doch gegen Abend jenes Tages hatte ich das Spiel gewonnen. Ob sich das Tier meiner erbarmte oder ob es einfach genug hatte, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall gab es den Widerstand auf. Von jenem Tag an nannte ich den weissen Polarhirsch „Bockbein“.
Ein Wikinger trägt in einem Eimer eine Grabbeigabe auf das Totenschiff.
2. Kapitel
Der Bär
Wie es Gott gefiel, dass ich einen Skrälinger aus den Klauen eines Bären befreite und dass er mir dafür eine Felltasche mit Zähnen, Krallen und Knochen schenkte.
E
s war der Mond, in dem die jungen Enten zu fliegen beginnen,
und der erste kalte Wind blies aus Norden. Das Grün der Tundra hatte sich verfärbt; nun leuchtete sie gelb und rot. Die Rentier-Herde hatte uns an einen grossen Fluss geführt, der sich, aus südwestlicher Richtung kommend, dem Nordmeer entgegenschlängelte. Zaghaft wagten sich die ersten kümmerlichen Bäume in die arktische Tundra vor. Sie waren die Vorboten der riesigen Nadelwälder, die im Süden an die baumlose Kältesteppe grenzen. Zwei Tage später, wir folgten immer noch dem grossen Fluss, befanden wir uns in bewaldetem Gebiet, wo wir die ersten Skrälinger dieses Landes zu Gesicht bekommen sollten. Plötzlich standen sie wie aus dem Boden gewachsen vor uns – fremdartige Menschen, unheimlich fast! Eine kindliche Neugier spiegelte sich in ihren Gesichtern. Die Männer hatten sich prächtig hergerichtet. 7[1] Sie trugen Kapuzenmäntel aus Karibufell , die eine gewisse Ähnlichkeit 8[2] mit den Parkas der Eskimos zeigten, verzierte Leggings , Lederhemden 9[3] aus Elch- oder Karibuhaut und pelz- oder grasgefütterte Mokassins . In ihre langen Haare hatten sie sich Hirschhaare gesteckt. Die Skrälinger nannten sich Chipewyan. Ihr Dorf, dessen kegelförmigen Behausungen wir im Hintergrund sahen, lag unmittelbar am Fluss. Wir wurden mit einer Herzlichkeit empfangen, die ich nicht erwartet hatte. Die Chipewyan zeigten keinerlei Feindseligkeit; ihr Wesen war ausgesprochen liebenswert. Sie stahlen sich sofort in mein Herz. Sie führten uns zu ihren Behausungen. Dort kam uns der Häuptling zur Begrüssung entgegen. Es war ein Mann mit zerfurchtem Gesicht, breiten Backenknochen und buschigen Augenbrauen. Obwohl wir die Sprache der Skrälinger nicht verstanden, sahen wir, dass sie unsere Tiere 7[1]
Die Skrälinger nannten die Rentiere Karibus.
Strumpfartige Hosen aus Karibuleder, die wie Röhren die Beine ganz
bedeckten und an ihren oberen Enden Gürtel- oder Riemenschlaufen
besassen, so dass sie um die Hüfte mit einem Gürtel befestigt werden
konnten.
9[3] Schuhe aus Karibuleder, zum Teil auch an den Leggings vernäht, häufig
mit Perlen, Borsten, Klauen und Zähnen verziert. 8[2]
bestaunten. Am meisten Eindruck schienen die Islandponys auf sie zu machen. Im Dorf sahen wir nur Hunde, welche Lasten auf dem Rücken 10[4] zogen. Die Chipewyan besassen weder trugen oder mit Travois Ponys noch Pferde. Sie zeigten sich gastfreundlich, indem sie uns zum Essen einluden. Zwei Frauen trugen eine angenehm duftende Brühe aus Karibuknochen und gebratene Fische auf. Schweigsam schlürften wir die Brühe und futterten die Fische. Es war ein richtiger Festschmaus. Nach dem Essen versuchte Aivik beim Häuptling in Erfahrung zu bringen, ob die Kelten hier im Dorf abgestiegen seien. Doch es war verlorene Liebesmühe. Das Eskimo-Alëutische und das Na-Dene der Chipewyan waren zu verschieden. Einzig der Gebärdensprache des Häuptlings konnten wir entnehmen, dass wir weiter im Süden einen grossen See, den er Winnipeg nannte, finden würden, an dem die Cree ihr Sommerlager aufgeschlagen hätten. Wir brachen also wieder auf, aber nicht ohne den Chipewyan einige Geschenke zu überreichen, welche sie dankbar entgegennahmen. Der August neigte sich bereits seinem Ende zu, als wir am Ufer eines grossen Sees standen. Wir hofften, den Winnipeg vor uns zu haben, von dem die Chipewyan gesprochen hatten. Aber wo waren die Cree, von denen sie auch gesprochen hatten? Wir sahen keine Menschenseele. Auch nicht den Hauch eines Fusstapfens hatten wir bisher von den Kelten gefunden, seit dem wir ihre Fährte am „Schneehasenfluss“ verloren hatten. Vielleicht wussten diese Cree etwas über den Aufenthaltsort der Treller. Thorwald, Asmund und ich hatten uns von der Gruppe getrennt; wir wollten eine Bucht des Sees abklappern, wo wir die Skrälinger vermuteten. Am späten Nachmittag versperrte uns dorniges Dickicht den Weg. Thorwald wollte aber durchaus noch einen Seeabfluss am Ende der Bucht erkunden. Ich blieb also mit den Ponys und meinem Karibu an Ort und Stelle. Die beiden Wikinger hängten ihre Waffen um und machten sich auf den Weg. Sie wollten vor Sonnenuntergang wieder zurück sein. Ich führte derweil die Tiere auf eine Lichtung, wo ich sie anband. Dann setzte ich mich auf den Waldboden und blickte meinen Gefährten nach, die im Dunkel des Waldes verschwanden. Das Gefühl, auf mich selbst gestellt zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit, begeisterte und ängstigte mich zugleich. Ich spürte Bockbein in meinem Rücken. Der weisse Polarhirsch knabberte unbekümmert an dem Strauch, an dem ich mit dem Rücken lehnte. Ich schüttelte meine Beklommenheit ab. 10[4]
Travois waren nichts anderes als zwei Stangen, die über die Schultern eines Hundes gebunden wurden und über dem schleifenden Ende die Last trugen. Um das Gestell zusammenzuhalten, wurden Streifen aus Rohhautleder um die Stangen gewickelt und mit den Querstäben verknotet.
Ich verharrte vielleicht zehn Minuten in meiner Stellung. Dann entschloss ich mich, an den See hinunterzugehen. Dieser lag hinter einem Waldriegel. Von der Lichtung aus konnte ich ihn nicht sehen. Ich nahm meinen Bogen auf, hängte den Pfeilköcher um und lenkte die Schritte zum Wald hinüber. Die Tiere grasten unbekümmert weiter. Hier unter den Tannen schlummerte ein gedämpftes Licht. Schon nach wenigen Schritten erblickte ich die Sonne wieder. Sie badete im Wasser des Sees, der wie ein Bergkristall eingebettet zwischen den Wäldern lag. Ich setzte mich auf einen Baumstrunk. Genüsslich sog ich die würzige Luft ein. Dann liess ich meine Gedanken zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und her wandern. Bilder tauchten aus dem See auf und trieben über das Wasser. Wie mochte es hier wohl vor hundert Jahren ausgesehen haben? Ich horchte auf. War da nicht ein Brummen? Ich fuhr zusammen. Die Tiere! Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen! Stehenden Fusses machte ich mich auf den Rückweg. Ich suchte eine Abkürzung und arbeitete mich eine Strecke am Ufer entlang durch das verschlungene Dickicht. Plötzlich hörte ich in der Nähe einen grässlichen Schrei, der mir durch Mark und Bein ging. Was war das? Es wurde wieder still. Ich ging weiter und kam an den sumpfigen Rand einer Lichtung. Wieder hörte ich das Brummen. „Ein Bär!“ schoss es mir durch den Kopf. Und wieder der gellende Schrei; der Schrei eines Menschen! Mit zitternden Händen umklammerte ich meinen Bogen. Dann schob ich mich behutsam durchs Dickicht. Ein strenger, salziger Wildgeruch drang mir in die Nase. Endlich gab das Gestrüpp den Ausblick auf die Lichtung frei. Kalter Schweiss lief mir über den Rücken, als ich einen ausgewachsenen Grizzlybären erblickte. Das Tier stand aufrecht vor mir. Mit den Vorderpranken hielt es wie in einer Folterschraube den leblosen Körper eines Menschen umschlungen. Die fürchterlichen Zähne des Bären waren tief in die Brust des Unglücklichen vergraben. Ich konnte beobachten, wie ein junger Skrälinger mit einer Speerschleuder auf das Tier eindrang und die Speerspitze dem Grizzly ins Fell stiess. Fauchend und zähnefletschend liess dieser von seinem Opfer ab und richtete seine Aufmerksamkeit nun auf den Angreifer. Mit einer Gewandtheit, die dem schweren Tier niemand zugetraut hätte, stürzte es sich auf den Skrälinger und schleuderte ihn mit einem einzigen wütenden Tatzenschlag zu Boden. Ich hatte einen Pfeil aus dem Köcher genommen und spannte den Bogen. Als der Bär gerade zum Sprung ansetzen wollte, liess ich den Pfeil von der Sehne schnellen. Mit einem wilden Fauchen bäumte sich der Grizzly auf, fletschte laut stöhnend die Zähne und – brach zusammen. Als ich sah, dass von dem Bären keine Gefahr mehr zu erwarten war, erhob ich mich und trat auf die Lichtung. Der Gerettete, welcher den
Bären mit der Speerschleuder angegriffen hatte, war ein leichter, schlanker Bursche, makellos gewachsen. Von seinem Mut und seiner Gewandtheit hatte ich mich bereits überzeugen können. Er mochte sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahre alt sein. Auf seinem schönen Gesicht lag ein Ausdruck von Offenheit und Weitblick. Seine Augen strahlten eine funkelnde Ruhe aus. Nase und Mund waren ebenmässig geformt. Die Haut glänzte bronzefarben wie eine Legierung aus Kupfer und Zinn. Sein langes glattes Haar hatte einen blauschwarzen Glanz. So standen wir uns gegenüber und blickten uns fragend in die Augen. Er hatte wohl noch nie einen Menschen meiner Hautfarbe gesehen. Ich musste ihm wie ein Geist erschienen sein. Aus seinen Gebärden entnahm ich, dass er mir seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen wollte. Obwohl er knapp dem Tod entronnen war, strahlte er eine grosse Ruhe und Gefasstheit aus. Er machte einen grossen Eindruck auf mich. Nun konnte ich auch seine Kleidung betrachten. Er trug ein Karibufell, Leggings mit Stachelschweinborsten verziert, bestickte Mokassins und eine Halskette aus Bärenklauen. Ich hörte aus seinem Mund einige Male die Worte Talmach und Cree und schloss daraus, dass Talmach sein Name sei und er zum Stamm der Cree gehöre. Ich sah, dass Talmach an der Schulter blutete. Die Wunde war die Folge des Prankenhiebes, die ihn aber offensichtlich nicht störte. Er untersuchte den Bären, um festzustellen, ob der Gesell sein zähes Leben auch wirklich ausgehaucht habe. Dann wandte er sich dem Unglücklichen zu, der die grausige Umarmung des wilden Tieres hatte erleiden müssen. Noch flackerte etwas Leben in ihm. Doch die Verletzungen waren so schwer, dass es keine Hoffnung mehr gab. Der Sterbende schlug die Augen auf. Als er seinen Stammesgenossen erkannte, kamen einige erstickte Worte über seine Lippen. Der Junge nahm aus einem Wollbeutel einen Lederbehälter, der eine Flüssigkeit enthielt. Diese flösste er dem Verwundeten ein. Als dieser zu röcheln begann, wussten wir, dass es mit ihm zu Ende ging. Der Junge legte den Kopf des Sterbenden in seinen Schoss und sprach ihm Trost zu. Welch eine Barmherzigkeit lag in seinen Gesten! Ich sollte die Welt dieser Skrälinger noch kennenlernen. Es war eine Welt, in der der Mensch Teil der Natur war. Wie oft hatte er mir später durch sein Vorbild zu verstehen gegeben, dass wir nur ein Stück des Gewebes der natürlichen Welt seien. Der Sterbende hauchte etwas ins Ohr des Jungen, richtete sich noch einmal auf und sank dann in sich zusammen. Er war tot. Nun kniete sich Talmach bei dem Toten nieder, presste seine Stirn auf dessen Brust und begann gleichförmig zu singen. Immer wieder hörte ich aus seinem Mund das Wort Manitu. Er betete offenbar zu seinem Gott. Es gab aber auch noch andere Mächte, die er anrief. So vernahm ich, wie er sich in seinem Singgebet an Nikapi-hun-nizeo, Wipanung-nizeo
und Shawanung-nizeo wandte. Ich glaubte, dies seien noch andere Götter. Erst viel später habe ich erfahren, dass er seine Brüder, die Winde, beschwört hatte, sie mögen ihm beistehen. Nachdem der junge Cree seinen toten Gefährten aufrecht mit dem Rücken gegen einen Baumstamm gelehnt hatte, verschwand er ohne ein Wort des Abschieds zwischen den Bäumen. Ich kehrte auf die Lichtung zurück, wo ich die Tiere angebunden hatte. Thorwald und Asmund erwarteten mich bereits. Ich erzählte ihnen, was ich erlebt hatte. Als die Sonne sich auf die Tannenwipfel senkte, kehrten wir zu unseren Gefährten zurück. Wir trafen die Gefährten am Seeufer, wo sie zwei kleine Feuer entfacht hatten und das Abendessen kochten. Wir waren also gerade rechtzeitig zurückgekehrt. Ich musste natürlich von meiner Begegnung mit dem Grizzlybären und den beiden Cree berichten. Niemand unterbrach mich, bevor ich fertig war. „Jetzt wissen wir wenigsten, dass wir am richtigen See sitzen“, sagte Asmund der Schädelspalter lakonisch, nachdem ich mit meinem Bericht zu Ende war. „Warum hat sich dieser Talmach, dem du das Leben gerettet hast, so mir nichts, dir nichts aus dem Staub gemacht ?“ fragte mich Halldor. „Ich kann es mir auch nicht erklären“, sagte ich, „ich weiss aber, dass wir uns wiedersehen werden.“ „Hoffentlich behältst du recht, Angelsachse“, sagte Thorwald. „Diese Cree müssen uns nämlich aus diesen Wäldern führen, wo wir allein leicht in die Irre gehen können.“ Nach und nach sank die Nacht herab. Die hellen Julinächte der Tundra waren längst den dunklen Augustnächten der Wälder gewichen. Später ging der Mond auf. Er spiegelte sich im Winnipeg, und sein silbriges Licht überflutete das Seeufer. Fichten, Espen und Birken warfen lange Schatten, die von den Silberstreifen des Mondes gekreuzt wurden. Nach den Anstrengungen des Tages übermannte mich eine bleierne Müdigkeit. Das Knacken eines Zweiges unter einem Mokassin liess die Wikinger aufspringen. Sie griffen zu ihren Waffen. Auch ich war erschrocken aufgefahren. Unheimliche Gestalten traten unter den Bäumen hervor. Es waren Skrälinger. Sie trugen wie die Chipewyan, die wir am Rande der Tundra gesehen hatten, Kapuzenmäntel aus Karibufell, bei dem das Haar belassen wurde. Die Fellroben waren inseitig bemalt mit den Umrissen der Augen und dem Maul des Karibus und sollten symbolisieren, dass sich dessen Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer und Schlauheit in der Kleidung erhalten hatte und auf ihren Träger übertragbar war. Alle hatten lang herabhängendes Haar. Darin steckten die Federn der Graugans. Ihre mit einem Tierfett eingeriebenen Gesichter glänzten gespenstisch im Feuerschein. Mir wollte es die Kehle zuschnüren. Meine Hände wurden ganz nass. Ein Schauer lief mir über
den Rücken. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass wir es versäumt hatten, vor dem Nachtlager Wachen zu postieren. Welch eine Unvorsichtigkeit! Aivik der Eskimo liess sich nichts anmerken. Wie schon so oft bewunderte ich seine Selbstbeherrschung. Würdevoll trat er zu den Ankömmlingen, die ihn mit einem seltsamen Schweigen empfingen. Der Grönländer streckte die rechte Hand in die Höhe und legte die linke auf die Brust. Er bekundete damit seine friedliche Absicht. Ein junger Krieger, der eine lederne Kappe trug, welche mit weissem Hermelinpelz besetzt und von Hörnern gekrönt war, erwiderte seinen Gruss. Jetzt erkannte ich ihn – es war Talmach! Ich schritt ebenfalls zu ihm hinüber und blickte in sein Gesicht. Es war freundlich. Wir grüssten uns. Dann reichte er mir eine mit Perlen besetzte und mit roten Seidenfäden bestickte Felltasche. Sie enthielt allerlei Knochen. Auch entdeckte ich die Zähne von Karibus und Elchen, die Krallen und den Schädel eines Bären, welcher sorgfältig gereinigt, getrocknet und mit zinnoberroten Punkten bemalt war. Wie ich später erfahren sollte, hatten die Knochen, Zähne und Krallen der erlegten Tiere eine grosse Bedeutung bei den Cree. Sie gingen davon aus, dass jedes Tier einen Geist besitze, dessen Gunst und göttliche Kraft gesucht werden musste. Doch als ich die Felltasche von Talmach entgegennahm, ahnte ich natürlich nichts von dieser Bedeutung.
Während die Bestattungsvorbereitungen für den Wikingerhäuptling im Gange sind, wird eine gewaltige Ausrüstung an Bord des Langschiffs gebracht. Diener schieben und ziehen einen Ponykarren über die Landgangstelling. Die grobgezimmerte Grabkammer ist jetzt rundherum verschlossen, damit der Häuptling und seine Sklavin auf der bevorstehenden Reise vor Nässe und Kälte geschützt sind.
3. Kapitel
Götter und Geister
Wie es Gott gefiel, uns ins Sommerlager der Cree zu führen, wo ich ihre Sprache erlernte, und dass sich Thorwald Gedanken über sich und sein Verhältnis zu den Göttern machte.
T
almach, der junge Häuptlingssohn, hatte uns in das Jagdlager der
Cree geführt, das an der Mündung eines Flusses lag, wo wir einen gewissen Schutz vor den grossen Moskitound Kriebelmückenschwärmen hatten. Das Sommerlager bestand aus einigen mit Häuten bedeckten kegelförmigen Wigwams, die von den Jägern bewohnt wurden. Für uns begann eine Zeit der Ruhe. Die Wikinger kosteten die Gastfreundschaft der Cree gebührend aus. Auch mir wurde schnell bewusst, dass ich unter dem besonderen Schutz der Skrälinger stand. Das war natürlich vor allem das Verdienst von Talmach. Während dieser schönen Zeit legten wir uns aber nicht auf die Bärenhaut. Von dem jungen Häuptlingssohn lernte ich nämlich die Sprache der Cree, und ich lehrte Talmach die Sprache der Angelsachsen. Er war ein gelehriger Schüler. Seine Neugier war unstillbar. Er wollte alles wissen. Ich gab ihm mein ganzes Wissen weiter. Der Cree lernte ausserordentlich schnell. Manch ein Novize im Kloster Iona hätte ihn wohl um seine Geistesgaben beneidet. Bald konnte er einen angelsächsischen Text mühelos lesen. Aber er wollte mehr wissen. Er stellte mir viele Fragen. Fragen über die Menschen in meiner Heimat. Fragen über ihr Leben und ihr Sterben. Fragen über ihr Verständnis von der Mutter Erde, von Gott und über meine Träume. Wir nutzten jede freie Minute. So zeigte mir Talmach am Tag die Schönheit der Wildnis, aber auch deren Tücken, und am Abend versenkten wir uns dann bis tief in die Nacht hinein am Lagerfeuer in mein Tagebuch. Nach den grauen, vermoorten Tagen an der Küste des Meeres, wo wir so viel Unglück erlebt hatten, konnte ich meine Seele wieder in klarem Wasser baden. An einem dieser Tage suchte auch Thorwald das Gespräch mit mir. Ich glaubte, in seinem Gesicht einen Anflug von Verlegenheit zu erkennen, als er mir offenbarte: „Angelsachse, ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Es ist mir eine Menge durch den Kopf gegangen. Das viele Nachdenken hat mich ganz schwindlig gemacht, weil ich es nicht gewöhnt bin.“ „Über was hast du denn nachgedacht, Thorwald?“ fragte ich den Wikinger.
„Die Cree haben mir vom Pahkuk-kar-nemichik erzählt“, öffnete er mir die Augen. „Das Pahkuk-kar-nemichik ist der Tanz der Geister, wenn das Nordlicht am Himmel steht.“ „Über diesen Geistertanz hast du nachgedacht?“ „Ja. Stell dir vor, Angelsachse, von diesem Tanz hat mir auch meine Mutter erzählt. Wie du weisst, ist sie eine Inuit. Die Cree beten wie die Inuit in Grönland zu den Waldgeistern, zu den vier Brüdern des Windes, zu den Bären- und Walrossgeistern und zur Sonne. Als Kind hatte ich auch zu den Geistern meiner Mutter gebetet. Erst später, als ich mit meinem Vater über die Meere segelte, verehrte ich wie die anderen Wikinger auf der Knorr die Götter Odin, Thor und Freyr. Vater sagte, dass die Wikinger nach ihrem Tod in das goldene Himmelreich Asgard berufen würden, um im Kreis der Helden im Walhall zu feiern.“ Thorwald stand als Halbblut zwischen diesen Welten. Die Cree hatten ihn an die Geister seiner frühen Kindheit erinnert, welche mit den Göttern der Wikinger im Widerstreit lagen. Er war zweierlei Sinnes, und das verwirrte und zerriss ihn. Man kann sich nämlich fast keinen grösseren Antagonismus vorstellen als den zwischen den kampfesfreudigen, trinkfesten, sinnenfrohen, schlauen und tapferen Göttern der Wikinger, die aus demselben rauhen Holz geschnitzt sind wie die Nordmänner selbst, und den verletzbaren Geistern der Inuit, welche mit den Winden durch den Kosmos ziehen und leicht zu verwirren sind. Ist das Gleichgewicht aber einmal gestört, folgen Krankheiten, fehlendes Jagdglück oder stürmisches Wetter auf dem Fuss. Ein Wikinger konnte sich weder die sichtbare noch die unsichtbare Welt der Skrälinger denken. Auch konnte er sich kein Bild von einer Grenze im Universum machen, welche zwischen diesen Welten liegen sollte und die bei der Geburt oder beim Tod zu überschreiten sei. Für einen Wikinger war der Tod meist frei von Schrecken. Wenn er tapfer kämpfte, würde Odin ihn in den Walhall berufen und damit war die Sache erledigt. Böswillige Geister, die bei jeder unbedachten Handlung beleidigt waren und den Menschen Schaden zufügten, wollte er sich nicht vorstellen. Thorwald war zwischen diesen Welten hin- und hergerissen. Er hatte weder den stoischen Gleichmut seiner Mutter noch die hartnäckige Gelassenheit seines Vaters. Sein ungleiches Blut war in seinen Adern ins Stocken geraten und fieberte durch seinen Kopf. Zwischen seinem Kosmos und dem Walhall waltete sein Hader. „Vater und Mutter hatten immer ihren festen Glauben“, fuhr er fort, „und nie habe ich sie zweifeln gesehen. Sie hielten ihren Göttern und Geistern stets die Treue. Ich weiss nicht, Angelsachse, ob du mich verstehst. Du hast deinen Christus. Er gibt dir die Kraft. Er lässt dich niemals allein. Du stehst fest mit deinem Glauben. Nun sieh mich an! Ich bin wankelmütig und unbeständig. Zerrissen und einsam stehe ich zwischen den Götterwelten meiner Eltern.“
„Thorwald, du täuscht dich. Auch ich bin wankelmütig und unbeständig. Auch mein Herz ist oft zerrissen und einsam, und mein Glaube ist nicht so fest, wie du meinst. Gibt es überhaupt einen Menschen, der keine Zweifel hat? Ich habe auf unseren Fahrten über die Meere viele Wikinger kennengelernt, die ihre Zweifel hatten. Selbst Asmund der Schädelspalter bezweifelt ernsthaft, dass Thor während einer einzigen Mahlzeit einen Ochsen, acht Lachse und drei Becher Met verschlingt. Und warum lässt sich Halldor der Bärentöter unentwegt taufen? Ein glaubensstarker Mensch würde das wohl nicht tun. Auch die Skrälinger hier in diesem Land haben verschiedene Götter. Talmach hat mir erzählt, dass Manitu der Gott der Cree sei. Aber Manitu sei nicht der Gott aller Stämme. Im Osten nennen ihn die Skrälinger Orenda und im Süden Wakonda. Eines ist gewiss: Es muss ein guter Gott sein, der dieses Land und diese Menschen erschaffen hat. War es ein Gott der Skrälinger, ein Gott der Wikinger oder mein Gott? Wer kann das sagen? War es am Ende ein und derselbe Gott? Ein Gott, dem die Menschen verschiedene Namen gegeben haben? Du siehst, Thorwald, viele Fragen lassen auch mich zweifeln und verzweifeln.“
Sobald die Opferzeremonie beendet ist, beginnen die Männer, das Totenschiff einzugraben. Es wird in Sand und blaue Tonerde eingebettet.
4. Kapitel
Glitzernde Steine
Wie es Gott gefiel, dass ein Bär uns narrte, dass Talmach mir anvertraute, er wolle ins Winterdorf ziehen, und dass ich Gold fand.
D
er Schneegansmond und der Mond, in dem die Vögel nach dem
Süden fliegen, hatten die Espen und Birken am grossen See vergoldet, und der Ahorn war so rot geworden, als wäre er mit Blut übergossen. Niemand von uns ahnte etwas von dem, was in jenen Tagen seinen Schatten vorauswarf. Talmach und ich waren in eine Schlucht hinuntergeklettert. Wir hatten in dem Talkessel die Spuren eines Bären entdeckt, dem wir auf den Zahn fühlen wollten. Doch Meister Petz hatte uns genarrt und war uns schliesslich entkommen. Wir kehrten also zum Ausgang zurück. Doch bevor wir den Talkessel verliessen, machten wir an einem Bach halt. Wir entfachten ein Feuer. Darüber brieten wir einige Stücke Fleisch. Wir waren guter Dinge. Den Bären hatten wir längst vergessen. Talmach vertraute mir an, dass er beabsichtige, das Lager am Winnipeg aufzulösen, um ins Winterdorf am Bärensee zu ziehen. Er wolle aber mit mir in einem Kanu vorauspaddeln. Seine Jäger sollten mit den Wikingern, den Mönchen und den Tieren auf dem Landweg folgen. Ich bewunderte den jungen Häuptlingssohn. Er strahlte eine grosse Wärme und Ruhe aus. Ich betrachtete ihn durch das Feuer, so wie man ein Bild betrachtet. Und es war ein prächtiges Bild. Ich war sehr stolz, einen Cree zum Freund zu haben. Später kauerte ich auf einer Kiesbank, stocherte mit dem Messer im Bachbett herum, schwenkte meinen Lederbecher im Wasser und wusch einige Handvoll Sand aus. Plötzlich hielt ich einen Goldklumpen in der Hand. Ich setzte die beschriebene Prozedur mit dem Becher fort und gewann auf diese Weise noch eine Menge der winzigen, aber schweren gelben Flocken und mehrere haselnussgrosse Goldklumpen. Ich hatte in den Sand- und Kiesablagerungen des Bachbettes Seifengold entdeckt! Der Cree beobachtete mein Tun. „Talmach hat gehört, dass die Wikinger die glitzernden Steine sammeln“, sagte er. „In meiner Heimat nennen wir die glitzernden Steine Gold“, klärte ich ihn auf. „Meine Landsleute giessen aus dem Metall Königskronen. Sie sagen, es besitze magische Kräfte und verleihe Macht. Aber nicht selten verwandelt sich das Gold in ein Teufelswerk, dem viele Menschen zum Opfer fallen. Die Könige führen auch Kriege, um in den Besitz des Goldes zu kommen. Sie opfern diesem Teufelszeug fast alles.“
„Talmach versteht das nicht. Deine Leute töten einander wegen den glitzernden Steinen?“ Ich erzählte nun vom Überfall der Wikinger auf das Kloster Iona und dass nicht zuletzt das Gold der Anlass für den Raubzug gewesen war. „Es ist die Gier nach diesem gelben Metall, welche die Menschen zu reissenden Wölfen werden lässt“, sagte ich. „Ich für meinen Teil glaube, dass der Teufel das Gold geschaffen hat, um uns Menschen zu versuchen. Die Gier ist eine schlimme Leidenschaft. Sie bringt unsere Seele aus dem Gleichgewicht. Die Gier ist auch ein Zeichen der menschlichen Unvernunft, und wer gierig ist, lästert Gott.“ „Vieles, was die Wikinger schön finden, wollen sie besitzen“, unterbrach mich der Häuptlingssohn. „Ist es das, was du Gier nennst?“ „Wir streben nach Besitz, der die Gier schürt, so wie der Wind das Feuer schürt, Talmach,“ versuchte ich ihm zu erklären. „Die Gier ist wie ein Auswuchs, der das gesunde Gewebe zerstört. Die Gier ist eine Strafe Gottes. Wer von der Gier befallen ist, kann sich am Schönen nicht erfreuen. Und wer sich am Schönen nicht erfreuen kann, dessen Seele ist krank.“ Wie um meine Behauptung zu unterstreichen, warf ich das gelbe Metall zurück in den Bach.
Sobald die Opferzeremonie beendet ist, beginnen die Männer, das hier vom Heck aus gesehene Totenschiff einzugraben. Es wird in Sand und blaue Tonerde eingebettet.
5. Kapitel
Am Heiligen Ort der Cree
Wie es Gott gefiel, dass wir bei den grossen Stromschnellen in die Hände der Kelten fielen, dass uns am Saskatchewan der erste Schnee überraschte, dass Caratacus Mahsette-Kuiuab tötete und dass wir unsere Freunde wieder fanden.
S
chon lösten sich die ersten bunten Blätter von den Baumkronen.
Sie kreiselten leise auf die Erde nieder. Vor der Abfahrt hatten wir die Hände voll zu tun. Alle undichten Stellen an der Rindenhaut des Kanus mussten abgedichtet werden. Mit Watap, den dünnen Fichtenwurzeln, nähten wir Risse in den Aussenwänden zu. Fett und Baumharz wurden zum Schmelzen gebracht. Dann klebten wir zugeschnittene Rindenstücke über die Nahtstellen. Dies geschah natürlich alles unter den kundigen Augen der Cree. Endlich lag das Boot frisch kalfatert und mit Proviant, Pelzen und Waffen beladen am Ufer. Unsere Freunde fanden sich am Einschiffungsplatz ein. Das Kanu war bereits zu Wasser gelassen. Nach einem kurzen Abschied stiegen Talmach und ich ins Boot, tauchten die Paddel ins kalte Wasser und paddelten auf den Winnipeg hinaus, an dessen Ufer die Cree ihre Wigwams aufgeschlagen hatten. Talmach erklärte mir, dass der See zu einem hundertfach verästelten Wasserweg gehöre, auf dem wir zu dem entfernten Dorf am Bärensee gelangen würden. Auf der Fahrt über den seichten Winnipeg konnte ich das Rindenkanu bewundern. Die Cree hatten es aus zähem und keineswegs leicht bearbeitbarem Material, wie es in der Wildnis zu finden ist, gebaut. Ich konnte mich überzeugen, mit welch gewissenhafter Genauigkeit die Spanten zurechtgebogen und geschnitzt, die Rindenstücke eingepasst, die Säume zwischen den Rindenstücken vernäht und gepicht waren. Das Boot bewährte sich, ob es nun fast geräuschlos über den See glitt oder sich in unberechenbarem Wildwasser bewegte. 11[1] Als wir grosse Stromschnellen vor uns sahen, steuerten wir das Kanu auf ein Kliff zu, das in den Winnipeg hinausragte. Ich hatte aufgehört zu paddeln. Ruhig trieb das Boot an Land. In der Nähe des steilen Abfalls stemmten wir die Paddel ins Wasser. Das Rindenkanu kam zum Stillstand. Vom Bug aus stiegen wir ins flache Wasser. Ich beobachtete aufmerksam den mit Gebüsch bestandenen Uferhang. Dann hoben wir den Bug des Bootes auf die schilfige Uferkante und zogen es vorsichtig aus dem Wasser. Talmach sagte, dass das Kanu auf 11[1]
heute: Grand Rapids
dem Landweg um die Schnellen herumgetragen werden müsse. Ein steiniger Pfad führte einen zerklüfteten Steilhang hinauf, den die Skrälinger vermutlich schon seit Generationen benutzt hatten. Mit einiger Kraftanstrengung bugsierten wir das Boot den Hang hinauf. Endlich erreichten wir eine Stelle oberhalb der Stromschnellen, wo wir das Rindenkanu von den schmerzenden Schultern nehmen und in den Ufersand betten konnten. Wir waren beide in Schweiss gebadet. Plötzlich kam ein Reitertrupp dem Ufer entlang herangaloppiert, gerade auf uns zu. Ich erkannte sie sofort: Es waren die Kelten, die entflohenen Treller der Wikinger. Wenige Schritte vor uns riss der Anführer sein Pony herum, warf uns einen wilden verächtlichen Blick zu und winkte seinen Leuten, abzusteigen. Wir fanden keine Zeit mehr, unser Boot ins Wasser zu schieben. Die Ponys schnaubten und scharrten mit den Hufen. Schaum flockte von den Mäulern, und Schweiss glänzte auf den Hälsen. Die Kelten waren finstere Gesellen. Mit ihren Bärten sahen sie Teufeln ähnlicher als Menschen. Bewaffnet waren sie mit Schwertern, Äxten, Speeren, Pfeil und Bogen. Es waren die Waffen der ermordeten Wikinger. Auch die Kettenhemden und die Rundhelme, die sie trugen, waren von den Nordmännern. Ich kannte die Treller von Island her, wo sie an unserem Knorr gearbeitet hatten. Cúchulainn, ein abstossender Kerl mit einem roten Walrossschnurbart, zerrte uns vom Kanu weg. Mit seinem Schwert fuchtelte er vor unseren Gesichtern herum. Er hatte den Teufel im Leib. Man musste verdammt auf der Hut vor ihm sein. Als er mich erkannte, las ich Hass in seinem Gesicht. Hass und Härte, auf der rauchgrauen Stirn und in den schiefergrauen Augen. Es musste ein tiefer und harter Hass sein, der die Runzeln auf seine Stirn gefurcht hatte. Die tiefen Furchen und das Schiefergrau sprangen mich an wie ein wildes Tier, sprangen mir in die Augen, krallten sich fest. Bohrender, stechender, beissender, brennender Hass. Ich musste meine Augen zwingen, wegzublicken. „Wo kommst du her, Angelsachse?“ fuhr er mich an. „Was wollt ihr von uns?“ fragte ich und zitterte vor Angst. Cúchulainn drückte mir das kalte Eisen seines Schwertes an die Kehle. Mir brach der Angstschweiss aus. Er hätte zugestossen, wäre nicht ein anderer eingeschritten. „Cúchulainn, was hast du mit ihm vor?“ Es war Caratacus, ein hochgewachsener, kräftiger und nussbrauner Kerl mit einer schwarzen Augenklappe. Er war aufbrausend und hitzköpfig. Schnell gingen ihm die Pferde durch. Ein unbedachtes Wort, eine unachtsame Geste konnten schon seinen Jähzorn hervorrufen, der aber auch schnell wieder verrauchte. „Ich traue ihm nicht, denn er ist einer von den Christen.“ „Aber er ist auch von den Wikingern verschleppt worden.“ „Ersäufen wir den Christen hier im Fluss, Caratacus.“
„Wen willst du ersäufen, Cúchulainn?“ fragte ein dritter. Es war Pratusagus der Druide. Der Kelte mit dem weissen Haar war ein mauseriger und elender Tropf, der mit der ganzen Welt zerfallen war und den nichts von seinem Schwermut befreien konnte. „Ich meine, es wäre dumm, Druide, wenn wir den Christen laufen liessen.“ „Ich habe heute den Kranich gesehen, Cúchulainn. Wenn du den Christen tötest, wird es uns Unglück bringen.“ „Soll ich wenigstens diesem Kannibalen den Bauch aufschlitzen, Druide?“ fragte ein vierter den Weisshaarigen und setzte Talmach seine Speerspitze auf die Brust. Es war Ariovist, ein traniger und stumpfsinniger Kerl mit einer hässlichen Schramme auf der Wange, dessen Trägheit nur noch durch seine Stumpfheit übertroffen wurde und mit dem nicht viel anzufangen war. Aber eines hatten die vier Treller gemeinsam: Sie traten durch eine Grausamkeit sondergleichen hervor. Sie glaubten daran, dass weder Tod noch Teufel sie aufhalten könne, ihre Mitmenschen zu quälen. „Nein, lass sie laufen, Ariovist!“ schwenkte Cúchulainn plötzlich um. Widerwillig stiess uns der Kelte mit der hässlichen Schramme ins Kanu. Dann bedeutete er uns, weiterzupaddeln. Wir liessen uns das nicht zweimal sagen, sprangen ins Boot und legten uns mächtig ins Zeug. Wir waren froh, den schrecklichen Kelten entkommen zu sein.
D
as für die Jahreszeit ungewöhnlich milde Wetter setzte sich bis in
die Mitte des Mondes durch, in dem die Flüsse zufrieren. Dann aber klarte es eines Nachts auf. Ein eiskalter Wind wehte den Saskatchewan herunter. An den Bäumen und Sträuchern setzte sich bereits der Frost fest. In den Nächten hörten wir das lange, durchdringende Heulen der Wölfe. Es erfüllte die klare Luft des Nadelwaldes und ging mir durch Mark und Bein. Frierend schälte ich mich am Morgen aus dem steifgefrorenen Pelz und blickte besorgt zum Himmel empor. Wann würde der erste Schnee fallen? Ein orgelnder und johlender Wind peitschte das Wasser des Saskatchewan, und eine schneidende Kälte fiel vom hohen Himmel ein. In den ruhigen Uferbereichen bildete sich hartes Eis und wuchs ins offene Flusswasser hinaus. Talmach wusste, dass ein Wintereinbruch in der Wildnis für uns gefährlich werden konnte. Schon mancher Skrälinger war im Frühling unter seinem umgestülpten Kanu, auf der blanken Erde liegend, tot aufgefunden worden. Die eisige Kälte hatte den Unglücklichen in ihre Klauen genommen. Der Schnee
hatte ihn bei lebendigem Leib begraben. Der Sturm hatte vielleicht drei oder vier Tage getobt. Während dieser Zeit hatte er kein Feuer entfachen und kein warmes Essen zubereiten können. Schauernd vor Kälte, Nässe und Hunger und zitternd vor Ungeduld hatte er ausgeharrt, bis es schliesslich keine Hoffnung mehr gab, als endlich vom Tod erlöst zu werden. „Hier in der Nähe liegt ein kleines Dorf der Ojibwa“, teilte mir der Häuptlingssohn mit. „Sie gehören zum Volk der Algonkin wie die Cree. Dort werden wir Unterschlupf finden, bis der Schneesturm vorüber und das Land wieder passierbar geworden ist.“ Mein Bruder sollte recht behalten. Wir fanden die Tipis der Ojibwa tatsächlich in der Nähe des Flusses. Die Skrälinger waren uns ausserordentlich freundlich gesinnt. Sie stellten uns sogar eines ihrer Zelte zur Verfügung. In der Nacht schlug dann das Wetter endgültig um. Mit einem rauschenden Windstoss kündete sich der Winter an. Ich war erwacht. Mit offenen Augen lag ich in unserem Tipi und starrte zur Rauchklappe hinauf. Ein müder Lichtkegel fiel ins Innere. Der Wind wogte und rauschte in den Tannen. Leise begann er auch an der Zeltbespannung zu rütteln. Ich zog mein Bärenfell bis zum Kinn hinauf und lauschte in die Nacht hinaus. Es war ein kalter Wind, der da am Tipi schüttelte. Doch unter dem Bärenfell war es kuchenwarm. Auf leisen Sohlen stahl sich der Winter ins Land. Aus grauem Himmel rieselte es weiss und wattig auf die noch schwarze Erde nieder. Dann drehte der Wind von West auf Nord und wirbelte die feinkörnigen Schneeflocken an die Tipis, wo sie festbackten. Plötzlich wurde die trockene Kälte wie mit einem Besen aus dem Lager gefegt, und es begann in dichten Flocken und aus allen Wolken zu schneien. Am Morgen war auch das Eis am Ufer des Saskatchewan mit Schnee bedeckt. Im Laufe des Tages sackten die Verwehungen zusammen und eine neue grosse Kälte überfiel das Land. Ungebändigt tobte der Sturm drei Tage. Der Schnee türmte sich höher und höher. Der Winter, der sich über Nacht des Landes bemächtigt hatte, hielt es nun fest in seinem klammen, frostklirrenden Griff. Erst nachdem der stürmische Schneefall nachgelassen hatte, konnten wir darangehen, die Wege zwischen den Tipis von den Schneewehen freizuschaufeln. Nach den Sturmtagen, an denen wir zur Untätigkeit verurteilt gewesen waren, war das Schneeschippen für uns eine willkommene Abwechslung. 12[2] „Wir werden unser Kanu bei den Ojibwa gegen ein Topoggan tauschen“, sagte Talmach. Und so machten wir es auch. Über eine Woche nach der Ankunft bei den gastfreundlichen Ojibwa packten wir unsere Siebensachen auf den 12[2]
Hundeschlitten
Schlitten, welchen wir gegen unser Kanu eingehandelt hatten. Dann begleiteten die Skrälinger uns zum vereisten Flussufer. Wir schirrten die Hunde an und banden mit Lederriemen Schneeschuhe unter unsere Füsse. Breitbeinig, wie es die Rahmenschneeschuhe erzwangen, stapften wir vom Dorf zum vereisten Fluss. Talmach sollte den Toboggan lenken. Er wusste mit dem Schlitten und den Hunden umzugehen. Für den Marsch wollten wir nur das Nötigste an Proviant und Hundefutter mitnehmen, um die Last des Schlittens so gering wie möglich zu halten. Wir hofften, die Wegzehrung für uns und die Tiere unterwegs ergänzen zu können. Auf der Flussaue brachte der Schlittenführer die ungebärdigen Hunde in die richtige Zugordnung. Dann watete ich vor dem Leithund auf das schneeverwehte Fluss-Eis hinaus, um dem Schlitten den Weg vorzubahnen. Der Cree liess die kurzstielige Peitsche mit der langen Lederschnur durch die eiskalte Luft sausen und rief den Hunden das anspornende „Vorwärts!“ zu. Mit wilder Freude trabten die Hunde über die weisse Fläche des Saskatchewan. Der Vorwärtsdrang der Tiere war so gross, dass wir uns schnell warm gelaufen hatten. Obwohl der Schnee auf dem Eis nicht so hoch lag wie in der Uferregion, hemmte er den Schlitten erheblich. Die unermüdlich voranstrebenden Zugtiere begannen bald zu hecheln und zu jachtern. Talmach brachte die Hunde gegen Mittag zum Stehen. Sie liessen sich sofort und mit hechelnden Zungen lang ausgestreckt in den aufstiebenden Schnee fallen. „Wir müssen den Hunden etwas Ruhe gönnen“, sagte der Schlittenführer, „sonst halten sie nicht durch.“ „Auch wir müssen unsere Kräfte einteilen“, liess ich durchblicken. „Du hast recht, Patrick“, stimmte mir der Cree zu. „Der Schnee behindert uns sehr.“ Für die Weiterreise schlugen wir einen massvolleren Marschtakt an. Stromaufwärts breitete sich zu unserer rechten Hand eine kleine Ebene aus. Der voranschreitende Cree blieb plötzlich stehen und zeigte auf die Ebene hinaus. „Bisons!“ sagte er. Ich wandte meinen Blick in die angedeutete Richtung. Tatsächlich! Vor einem Waldstück erblickte ich einige der herrlichen Tiere. Talmach erklärte mir, dass die riesigen Büffelherden im Winter zwar nach Süden zogen, dass aber vereinzelte Tiere auch in den Wäldern zurückblieben. Doch da! Was war das? Skrälinger trieben die Tiere auf ihren Schneeschuhen ins offene Gelände, wo der tiefe Schnee ihre Flucht hinderte. Dort mussten sie ihren Pfeilen und Lanzen zum Opfer fallen. Jeder Büffel würde zehnmal soviel Fleisch wie ein Hirsch erbringen. Gedörrt und zerstampft, mit Fett, Beeren und Wurzeln gemischt, würde dieser nahrhafte Pemmikan das harte Leben der Skrälinger des Waldes im Winter etwas erleichtern. Erst nachdem die Büffel erlegt waren,
lenkten wir unseren Toboggan auf die Ebene hinaus. Als die Jäger uns erblickten, kamen sie heran. Es waren Cree! Sie waren natürlich überrascht, als sie den Häuptlingssohn erkannten. Doch für lange Erklärungen blieb keine Zeit, denn ein eisiger Wind wehte über die Ebene. Die Cree liessen die erlegten Bisons liegen und führten uns in das Waldstück hinein. Dort, im Schutze des Gehölzes, hatten sie einige Tipis aufgeschlagen, in die wir uns verkrochen, bis sich die Eiseskälte verflüchtigt hatte. Am Nachmittag begann es wieder zu schneien. „Bis zum Bärensee ist es nicht mehr weit“, sagte Talmach, „wir werden heute nacht aufbrechen. Es ist Vollmond. Ich kenne den Weg; er führt über diese Ebene. Morgen werden wir bei meinem Stamm sein.“ Am Abend brachen wir also wieder auf. Die Jäger wollten uns später mit den zerlegten Büffeln folgen. Es hatte aufgehört zu schneien. Der Mond und die Sterne dieser prachtvollen Winternacht schauten auf uns herunter. Der Polarstern, der Gürtel des Orion und viele andere glitzernde Punkte am Firmament wiesen uns die Richtung, die wir einzuhalten hatten. Gegen Mitternacht erhoben sich links und rechts von uns bewaldete Höhen. Diese traten aber bald wieder auseinander, und wir befanden uns am Eingang eines grossen Tales. Das Mondlicht überflutete eine grosse weisse Fläche: Der Bärensee! Mein Herz pochte stark. Ich glaubte seine Schläge zu hören. Wir befanden uns im Stammesgebiet der Cree! Meine liebsten Träume waren aus diesem Land gestiegen. In meinen liebsten Träumen hatte ich es mir nicht so schön vorgestellt. Der Mond, die Sterne, die verschneiten Wälder ringsum und der weisse See schienen wie von Geisterhand in dieses Tal gezaubert, das wir nun endlich betraten. „Dort drüben liegt das Dorf“, weckte mich mein Gefährte aus den Träumen auf. Die Hunde drängten zum See hinunter. Sie ahnten wohl, dass die Reise bald zu Ende sein würde. Vielleicht war auch nur unsere eigenartige Unruhe auf die Tiere übergesprungen. Durch meinen Polarhirsch Bockbein hatte ich erfahren, wie Mensch und Tier in der Wildnis durch eine unerklärliche Weise miteinander verknüpft sein können. Der See lag unter festem, dickem Eis, auf das wir die Hunde lenkten. Nach dem Kälteeinbruch hatten wir keine Bedenken, schnurstracks auf das andere Ufer zuzuhalten. Als es im Osten zu dämmern begann und sich die harten Konturen der Nacht glätteten, erblickten wir die Hütten der Cree am Ufer. Einige Gestalten standen dort und erwarteten uns. Talmach wechselte einige Worte mit ihnen. Unsere Ankunft verbreitete sich in dem Dorf wie ein Lauffeuer. Überall tauchten neugierige Krieger, Frauen und Kinder auf. Ich sah Wigwams aus Rinden. Dazwischen entdeckte ich aber auch Erdhütten. Von weitem ähnelten sie mit ihrer halbkugeligen Form den Wigwams. Die Erdhütten waren jedoch grösser und solider gebaut. Über dem etwas ausgetieften
Boden trug ein starkes Pfostengerüst Dachsparren, die zugleich Dach und Wand bildeten. Darüber waren Lagen von Zweigen, Gras, Rasenplatten und Erde gedeckt. Die Hütten schienen recht stabil zu sein, denn ich sah Leute auf den Dächern stehen. Das ganze Dorf war mit einem Zaun von Pfählen umgeben, der als eine Art Befestigungsanlage dienen musste. Ausserhalb des Dorfzaunes erblickte ich sonderbare Gerüste, von denen jedes aus vier hohen Pfählen bestand. Ich erfuhr, dass dort oben, zwischen Himmel und Erde, die Toten der Cree lagen. Sie waren fest in Felle eingeschnürt und auf Querstangen gelegt worden, einerseits um auszutrocknen, andererseits aber auch, um vor den wilden Tieren des Waldes sicher zu sein. Nach der vorgeschriebenen Zeit würden dann die übriggebliebenen Knochen von den Leichengerüsten heruntergeholt und in Felsspalten gelegt werden. Währenddem ich das Dorf und die Menschen bewunderte, trat Talmach zu mir. „Die Kelten waren gestern hier im Dorf“, teilte er mir mit. „Sie haben sich das Vertrauen meiner Brüder erschlichen.“ „Was ist geschehen? Wo sind die Kelten jetzt?“ „Sie sind mit meinem Vater und einigen Kriegern zum ‘Heiligen Ort der Cree’ gegangen.“ „Wir müssen deinen Vater warnen, mein Bruder.“ „Ja. Die Kelten glauben wohl, dass sie an dem ‘Heiligen Ort der Cree’ Gold finden werden. Doch unser Stamm bewahrt an dem geheimen Ort die Gebeine unserer Vorfahren auf.“ „Aber dein Vater wird den Ort doch nicht verraten!“ „Fremde haben das Vertrauen aller Cree. Mein Vater wird die Kelten also zu dem ‘Heiligen Ort’ führen.“ Ich blickte Talmach an. Er erwiderte meinen fragenden Blick. Die Cree hatten in der Zwischenzeit frische Hunde vor drei Toboggans geschirrt und Proviant für zwei Tage aufgeladen. „Wird mein Bruder mich zum ‘Heiligen Ort der Cree’ begleiten?“ fragte mich der Häuptlingssohn. „Darf ein Weisser den Ort betreten?“ „Du gehörst zu uns. Du hast unser Vertrauen und darfst den ‘Heiligen Ort’ betreten.“ Ich gehörte also zu den Cree! Alles Gold der Welt hätte diesen Gunstbeweis nicht aufgewogen! Selbst der Eintritt in den Mönchsorden hätte mir diese Ehre nicht erwiesen. Wir brachen sofort wieder auf. Einige der Cree begleiteten Talmach und mich. Durch einen Seitenausgang verliessen wir das Tal wieder. Nach drei Stunden kamen wir in einen engen Talkessel. „Das ist der ‘Heilige Ort der Cree’“, erklärte Talmach.
Ein Bach wand sich durch die Schlucht. Bizarre Eisgebilde hatten sich in dem Bachbett geformt. Unter dem Eis murmelte ein Rinnsal. Wir folgten dem Bach einen Hügel hinauf. Der Weg wurde steil und unwegsam. Wir hielten an. Ich nahm Pfeil und Bogen vom Schlitten und hängte sie über den Rücken. Dann liessen wir Hunde und Schlitten zurück und marschierten auf unseren Schneeschuhen weiter. Weiter oben stiessen wir auf einen Toboggan der Kelten. Zwei Cree bewachten ihn. Sie berichteten uns, dass vor kurzer Zeit der Häuptling mit drei Kriegern und den Blassgesichtern an den „Heiligen Ort“ gegangen sei. Wir schnallten die Schneeschuhe ab. Eine Tallehne führte auf eine Anhöhe hinauf. Fussstapfen waren im Schnee zu sehen. Ich war zu allem entschlossen. Würden wir da oben auf die Kelten stossen? Gnade ihnen Gott, wenn sie den Cree ein Leid zugefügt hatten! Es begann wieder leicht zu schneien, als ich als erster dem Bach entlang hinaufstieg. Talmach folgte mir mit drei Kriegern. Es roch hier nach Tannenharz. Die Schneeflocken wehten schräg durch das Geäst der Tannen. Sie legten sich wie Federn auf meine Stirn, die Nase, die Wangen und kühlten diese. Mit festen Schritten und unverdrossen arbeitete ich mich den Hang empor. Ich begann zu schwitzen. Wir mussten den Bach überqueren. Dann stapften wir am Rande einer eisigen Rinne entlang. Die Steigung wurde immer schroffer und schwieriger. Plötzlich versperrten spitze Pyramiden und schlanke Säulen aus Eis den Weg. Das Wasser des Baches, das jäh über eine Felsklippe herabstürzte, hatte diese herrlichen Gebilde geschaffen. Das Wasser sprudelte, plätscherte, gurgelte und klatschte über das Eis. Am Fusse dieser Eiskaskaden erkannte ich den Eingang zu einer Höhle. „Das ist der Eingang zum ‘Heiligen Ort’“, sagte der Cree. Wir stiegen zum Eingang der Höhle hinauf. Talmach holte aus einer Nische zwei Kienspäne. Einen davon gab er mir. Wir steckten diese an und traten in die Höhle. Die Krieger, welche uns begleitet hatten, blieben draussen. Im Schein der Feuer konnte ich eine grosse Kalksteinhöhle erkennen. Neben dem Wasserfall bildete sie ein vortreffliches Versteck. Tropfwasser hatte Ablagerungen ausgeschieden. Kalksteinzapfen wuchsen von der Decke nach unten und vom Boden nach oben. Dabei vereinigten sie sich zu majestätischen Säulen und geschwungenen Bogengängen in den merkwürdigsten Formen. Herrliche Farben von Ocker bis Braun waren zu sehen. An manchen Stellen war das Wasser des Baches in die Höhle getreten. Wir kletterten in einen höhergelegenen und trockenen Gang. Die Natur hatte hier im Kalkstein ein Labyrinth von Gängen, Tunnels, Schächten und Hallen hervorgebracht. Wir befanden uns gerade in einem dieser Gänge, da hörten wir einen Schrei. Das Echo vervielfachte sich in der Höhle und war grässlich. Der
Schrei ging mir durch Mark und Bein. Es war der Todesschrei eines Menschen. „Vater ist in Gefahr!“ rief der Cree. Wir rannten vorwärts. Da! Wieder dieser Schrei! Gott! Was war geschehen? Vor uns öffnete sich eine Grotte! Am Eingang lag ein lebloser Körper. Es war ein Cree! Wir stürmten in die Grotte. In der Mitte lagen weitere vier Skrälinger. Talmach stiess einen Schrei aus. Dann beugte er sich über seinen Vater, um zu sehen, ob noch Leben in ihm war. Als ich in die Grotte getreten war, sah ich Cúchulainn und Caratacus durch einen der Gänge verschwinden. Ich folgte ihnen. Für kurze Zeit sah ich sie vor mir. Ich hielt im Laufen inne, spannte meinen Bogen und liess einen Pfeil von der Sehne schnellen. Er klatschte über den Köpfen der Kelten in den Kalkstein. Fast im gleichen Augenblick hatte auch der Kelte mit der schwarzen Augenklappe einen Pfeil abgeschossen. Er streifte meinen Arm. Erst jetzt kam mir die Gefahr zum Bewusstsein, in der ich schwebte. Durch den Fackelschein bot ich den Kelten ein leichtes Ziel! Ich schleuderte den Kienspan weg und warf mich flach auf den Boden. Es war keine Sekunde zu früh, denn ein zweiter Pfeil sirrte über mir hinweg. Ich presste das Kinn fest gegen die Erde. Die Schritte der beiden Mörder entfernten sich. Eine kalte Wut packte mich. Ich kehrte in die Grotte zurück. Talmach kniete bei seinem Vater, der im Sterben lag. Ein Pfeil war ihm durch das Brustbein in die Lunge eingedrungen. Der Sohn hatte den Schwerverwundeten mit einer weichen Unterlage versehen. „Warum tötet der Weisse Mann, was wir lieben?“ fragte mich Talmach, als ich zu ihm trat. Aus seinen Augen sprach der Schmerz. Was sollte ich auch antworten? „Ist es das Gold, was den Weissen Mann zum Töten treibt, mein Bruder?“ fragte er. „Ich werde sie alle rächen!“ brachte ich mit erstickter Stimme hervor. Mahsette-Kuiuab war wieder bei Bewusstsein. „Talmach, du bist aus dem Land im Süden zurückgekehrt“, flüsterte er und nahm die Hand seines Sohnes. „Ja, Vater.“ „Die Zeit ist gekommen, mein Sohn, mein Leben der Erde zurückzugeben.“ „Ja, Vater.“ „Du bist nicht allein zurückgekehrt?“ „Das ist mein weisser Bruder Patrick, Vater. Er ist aus einem fernen Land zu uns gekommen. Er hat mir das Leben gerettet.“ „Ich danke dir, mein weisser Freund“, sagte Mahsette-Kuiuab und nahm auch meine Hand. „Ihr seid Brüder geworden. Das ist gut. Folgt
zusammen dem heiligen Weg. Erweist einander Liebe und Respekt. Alle Menschen haben das Recht auf Leben. Nehmt niemals etwas von der Erde, ohne zuerst ein Gebet dafür gesprochen zu haben. Alles ist mit allem verbunden. Seid dessen immer bewusst – – .“ Seine Stimme wurde immer schwächer. Er hatte schon viel Blut verloren. Er richtete sich auf. „Talmach, mein Sohn! Ich werde aus dieser Welt gehen. Ich habe keine Zeit mehr.“ Er atmete schwer. Schmerzerfüllt schloss er die Augen. Nach einer Weile sagte er: „Talmach!“ „Vater!“ „Höre meine Worte, mein Sohn! Du wirst dem Volk der Cree ein weiser und mutiger Häuptling sein. Halte den Stamm zusammen.“ „Ich verspreche es dir, mein Vater!“ „Talmach und mein weisser Freund! An diesem ‘Heiligen Ort der Cree’ sollt ihr geloben, einander beizustehen. Ihr sollt fortan Brüder sein!“ Mahsette-Kuiuab stiess einen tiefen, röchelnden Seufzer aus. Unaufhörlich floss Blut aus seiner Brustwunde. Ein letztes Mal bäumte er sich auf. „Talmach, mein Sohn!“ „Vater!“ „Mein weisser Bruder! Du hast dich als wahrer Freund der Cree erwiesen. Talmach und du, mein Freund! Ihr – sollt – fortan – die – Hüter – – unseres – – ‘Heiligen Ortes’ – – sein –“ Mahsette-Kuiuab kehrte zu seinem Schöpfer zurück. Talmach und ich gingen zum Eingang der Höhle zurück und brachten den Kriegern die traurige Nachricht vom Tod ihres Häuptlings. Ein eisiges Schweigen war die Antwort. Was musste in ihnen vorgehen! Sie konnten nicht verstehen, weshalb Mahsette-Kuiuab hatte sterben müssen. Dass ein Mensch eine solche Freveltat am „Heiligen Ort der Cree“ hätte verüben können, war für sie unvorstellbar. Sie glaubten, dass nur böse Geister dazu imstande wären. Auch schienen sie ausserstande, Hass für die Fremden zu empfinden; nur Schmerz und Trauer erfasste ihre sonst so heiteren Gemüter. „Die Mörder von Mahsette-Kuiuab sind noch in der Höhle“, sagte ich, vom schrecklichen Geschehen erschüttert. „Ich werde sie suchen.“ „Es gibt einen zweiten Ausgang am anderen Ende der Höhle“, teilte mir einer der Cree mit. Wie der Erzengel Gabriel eilte ich durch die Gänge zu dem Ort des Todes zurück. Keine Menschenseele zeigte sich. Nur die Toten lagen noch unverändert in der Grotte. Ich hastete weiter. Der Gang verengte sich. Plötzlich schimmerte mir das Tageslicht entgegen, und ich kroch ins Freie. Draussen fand ich Spuren im Schnee. Die Kelten waren also
durch diesen Ausgang geflohen! Ich stieg einen bewaldeten Abhang hinunter. Der Schnee behinderte mein Vorwärtskommen. Dafür waren die Spuren deutlich zu sehen. Es war fast windstill. Ausser meinen knirschenden Schritten war kein Geräusch zu vernehmen. Einige Male musste ich über umgestürzte Bäume klettern. Schliesslich erreichte ich einen Hügel. Über den Tannenwipfeln kräuselte sich eine dünne Rauchsäule. Ich knirschte weiter. Die Spuren führten zu dem flachen Uferstück eines Flusses, wo ich mir einen Weg durch das verharschte Gestrüpp bahnen musste. Bald kam ich zu einer baumfreien Stelle. Am Rand waren grosse Felsblöcke aufeinandergetürmt. Ich hörte Stimmen. Auf allen vieren kroch ich zu den Felsen hinüber. Die Stimmen wurden lauter. Dann lag ich hinter einem der Felsblöcke. Vorsichtig hob ich den Kopf. Vielleicht fünf Schritte von mir entfernt sah ich die Kelten. Sie wärmten sich am Feuer. Ich konnte Cúchulainn deutlich hören, wie er zu dem Mann mit der hässlichen Schramme auf der Wange sagte: „Die Triaden sollen mich holen, Ariovist, wenn ich in der Höhle nicht diesen Angelsachsen gesehen habe.“ „Er bringt uns Unglück, Cúchulainn. Ich hätte ihm bei den Stromschnellen doch den Bauch aufschlitzen sollen. Aber der Druide hatte mich davon abgehalten. Nun sitzen wir hier im Dreck.“ „Es war ein Fehler, dass du den Häuptling getötet hast, Caratacus“, sagte Cúchulainn, „dein Jähzorn hat uns alles verdorben.“ „Als uns dieser Heuochse voller Stolz die Knochen seiner Vorfahren zeigte, habe ich die Beherrschung verloren“, sagte der Einäugige. „Ich habe den langen Weg von der Tundra bis hierher nicht wegen ein paar bleichen Knochen gemacht!“ „Ich auch nicht“, sagte der Kelte mit dem roten Walrossschnurbart, „aber jetzt können wir sehen, wie wir zu dem Gold kommen. Den Hundeschlitten sind wir auch los. Die Skrälinger warten doch nur darauf, dass wir in ihrem Dorf auftauchen, um ihn zu holen. Es ist wohl am besten, wir verschwinden von hier. Ich will nicht die Bekanntschaft mit ihren Pfeilen und Speeren machen.“ Ich war zu den Cree vor der Höhle zurückgekehrt, um ihnen zu berichten. Sie hatten den ersten Schock überwunden. Weder die Toten zu betrauern noch sie zu begraben blieb uns aber die Zeit. Wir mussten der grässlichen Blutspur folgen, die sich in den verschneiten Wäldern zu verlieren drohte. Mit zwei Toboggans machten wir uns auf den Weg. Wir kamen zu dem Uferstück des Flusses, wo die Kelten gelagert hatten. Die Feuer waren erloschen, die Mörder verschwunden! Die Abdrücke im Schnee waren noch frisch, vielleicht eine halbe Stunde alt. Sie stammten von neun Ponys und einigen Schlittenhunden. Als wir der Fährte folgten, die zum Saskatchewan hinüberführte, sass der Schauder noch tief in unseren Gedanken und Herzen. Die Spuren führten schliesslich auf das Fluss-Eis, das uns mühelos trug. Wir trieben unsere Schlittenhunde den
Fluss hinunter. Die Kelten mussten jeden Augenblick in Sicht kommen. Endlich sahen wir die Schar vor uns. Auch die Kelten hatten uns ausgemacht. Sie trieben ihre Tiere zur Eile an. Sie wollten uns entkommen. Als sie sich einem zugefrorenen Katarakt näherten, sanken die Temperaturen plötzlich unter vierzig Grad Celsius ab; die Kälte war tödlich hart geworden. Wir umwickelten uns die Gesichter und Hände mit Tuch und Pelzen. Mit diesem Katarakt hatten die Kelten nicht gerechnet! Wollten sie nicht mit uns zusammenstossen, mussten die Schlitten einen groben, zerfurchten Steilhang hinuntergeschafft und über eine spiegelglatte Tallehne bugsiert werden. Auch für die Ponys war das kein leichtes Unterfangen. Die Kelten hatten alle Hände voll zu tun, dass die Toboggans nicht abrutschten und die Ponys nicht ausrissen. Die tiefen Temperaturen sanken von Minute zu Minute unter dem Gefrierpunkt ab. Als die Kelten die beladenen Schlitten den zerklüfteten und vereisten Hang hinunterschafften, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Ein eisiger Wind wehte von Norden. Er trieb die Kälte in den Körper, bis dieser vor Ermattung zitterte. Drei Kelten arbeiteten sich als erste über die Eiskrusten. Sie waren den anderen schon weit voraus. Der Eiswind wurde heftiger. Der Frost drang durch die Kleidung und die Haut bis ins Mark. Er brannte wie Feuer. Der Atem ging tief und schnell. Die scharfen Kanten zerschnitten die gefrorenen Schuhe. Es war heller Wahnsinn, über diesen Katarakt hinunterzusteigen! Wir waren inzwischen oberhalb des Katarakts angekommen und beobachteten die Kelten unter uns auf dem Eishang. Einer von ihnen hatte sein Gesicht nicht geschützt. Das sollte sich bitter rächen! Die tödliche Kälte sickerte nämlich in die Lunge und gefror dort zu Eis. Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er sich an den Hals. Dann begann er zu husten und spuckte blutigen Schleim aus dem Schlund. Seine Kräfte liessen schnell nach. Eine tiefe Verzweiflung kam über ihn. Er stolperte, kam zu Fall und rutschte mit dem Schlitten den Hang hinunter. Unten blieb er regungslos liegen. Vergeblich hatten die andern versucht, den Toboggan zurückzuhalten. Sie folgten dem Unglücklichen. Die Cree und ich kehrten mit unseren Schlitten um. Wir suchten Schutz in einer windgeschützten Erdhöhle oberhalb des Steilhangs. Bald begannen die Temperaturen wieder zu klettern. Wir krochen aus der Höhle und kehrten zum gefrorenen Wasserkatarakt zurück. Vorsichtig stiegen wir hinunter. Plötzlich hielt ich meine Schritte an. Ich hatte die drei Kelten als erster gesehen. Sie lagen mit wächsernen Gesichtern auf dem vereisten Schneehang. Sie boten einen schauerlichen Anblick. Sie mussten unter unsäglichen Schmerzen erstickt sein! Dann waren sie in sich zusammengesunken. Die Eiseskälte hatte sie auf der Stelle steifgefroren. Ein Blick in die blutleeren Antlitze der Unglücklichen genügte, um zu wissen, dass kein Leben mehr in ihnen war. Am Fusse des Steilhanges lagen grosse Quadersteine verstreut. An einer Stelle
waren sie zu einem bizarren Steingebilde aufgetürmt. Zwischen diesen Felsbrocken lungerten die Hunde herum. Sie hatten hier Schutz vor dem Eiswind gefunden. Durch den knietiefen Schnee stapften wir zum Steinturm hinüber. In einer Hohlkehle hockte ein weiterer Kelte. Es war Ariovist. Ich erschrak, als ich ihn sah. Er lehnte aufrecht mit dem Rücken an dem Felsen. Ein leises Stöhnen verriet, dass er noch am Leben war. Sein sonst gebräuntes Gesicht war unter der Pelzmütze, deren Ohrklappen lustig flatterten, weiss wie Wachs und von hässlichen Eiterpusteln verunstaltet. Jede Bewegung schien ihm Schmerzen zu verursachen. Er hatte sein Kinn auf die Brust gestützt. Er musste sehr geschwächt sein. „Wir müssen weiter, Patrick“, sagte Talmach, „es wird bald dunkel, und heute nacht gibt es Schnee. Wenn wir die Kelten vor der Nacht nicht mehr einholen, werden sie uns entwischen.“ Er hatte recht. Es wurde nun schnell dunkel. In aller Eile bugsierten wir den Schlitten zu dem verletzten Kelten hinüber, fingen die herumlungernden Hunde ein und schirrten sie an den Schlitten, auf den wir Ariovist packten. Dann stapften wir mit den Schneeschuhen breitbeinig vom vereisten Ufer auf das verschneite Fluss-Eis hinaus, um den Schlitten den Weg zu ebnen, brachten die Hunde in die richtige Zugordnung und liessen die langschnurigen Peitschen über die Köpfe der Tiere sausen. Krachend schurrten die Kufen der Toboggans über das Eis. In der Nacht hockten wir in einer Erdhöhle und wurden gewahr, wie Schneeflocken die Fährte auf dem Fluss-Eis verwischten, und wir wussten, dass die Kelten uns entkommen würden. Am anderen Morgen sassen wir mit verdriesslichen Mienen vor dem Kochfeuer. Einer der Cree, der so am Feuer sass, dass er den verschneiten Fluss hinabblicken konnte, richtete sich plötzlich auf und sprang auf die Füsse. „Es kommt jemand den Saskatchewan herauf!“ rief er. Auch wir waren aufgesprungen und sahen auf dem weissen Strom einige dunkle Punkte, die sich uns näherten. Bald konnten wir Ponys, Menschen und Hunde erkennen. Die letzteren zogen Schlitten. Wir postierten uns am Ufer so, dass wir den Fluss übersehen konnten. An der Spitze des Zuges ritt ein grosser, stämmiger und bärtiger Mann. Er führte eine Streitaxt, ein Schwert und ein Schild mit. Obwohl die Entfernung noch zu gross war, um sein Gesicht zu erkennen, wusste ich sofort, wen wir vor uns hatten. „Thorwald!“ rief ich ausser mir vor Freude. Talmach und ich traten auf das Fluss-Eis. Der Wikinger zügelte sein Pony. „Angelsachse!“ rief der Jarl, als er mich erkannt hatte. „Schneit so mir nichts, dir nichts aus dem Wald heraus und erschreckt dabei brave Wikinger!“
Inzwischen waren auch die anderen Freunde und die Cree vom Winnipeg herangekommen. Edmund und ich lagen uns in den Armen. Tränen der Freude über das Wiedersehen kullerten uns über die Wangen. Auch Bruder Ethelwulf, Bruder Ethelstan und Bruder Ethelred schloss ich in die Arme. Wir hatten uns alle wieder gefunden, hier in der Wildnis. Wir hatten uns viel zu erzählen.
Sobald die Opferzeremonie beendet ist, beginnen die Männer, das Totenschiff einzugraben. Es wird in Sand und blaue Tonerde eingebettet.
6. Kapitel
Tauschhandel am Bärensee
Wie es Gott gefiel, dass Halldor die Kleine Krähe betrunken machte und dass Otterkopf den Wert einer alten Wassertrommel höher einschätzte als den geweihten Benedikt.
W
ir waren ins Dorf der Cree am Bärensee zurückgekehrt. Wir
fragten uns, ob wir den Kelten, die leider Gottes ihrer gerechten Strafe entkommen waren, jemals wieder auf die Spur kommen würden. Es war Dezember geworden. Die Cree sagten, dass dies der Mond sei, in dem der junge Gesell das Reisig ausbreite. Wir hatten uns entschlossen, den Winter bei den Cree am Bärensee zu verbringen. Es war an einem sonnigen Wintertag. Asmund der Schädelspalter, ein Kerl wie ein Baum, und ich schlenderten durch das Dorf. Aus den schneebedeckten Wigwams und Erdhütten stieg hier und dort der Rauch eines in ihrem Innern unterhaltenen Feuers. Einige Dorfbewohner standen, in Grüppchen sich unterhaltend, vor oder auf den Hütten und genossen die schwache Wintersonne. Andere hatten für die Wikinger allerhand Tauschwaren herangeschleppt. Sie boten sowohl Fischotterpelze und Biberfelle als auch die Pelze der Fischmarder und Kitfüchse feil. Auch Ledertaschen, Kellen, Löffel und Schaufeln aus Holz, Birkenrindenbehälter und -schalen, Biberfangnetze, bemalte Bärenschädel, ausgestopfte Gänseköpfe, Bogenbohrer zum Feuermachen, Angelhaken und Rhythmusrasseln befanden sich im Angebot. Einige Schritte von uns entfernt sahen wir Halldor den Bärentöter. Er kam zwischen den Wigwams hervor. Der Wikinger war mit einem heftigen, ungestümen Naturell gesegnet und mit einer angeborenen Redseligkeit ausgestattet. Er schien aufgeräumt zu sein, als er sich Asmund und mir näherte. Unter dem Arm trug er ein 13[1] Fässchen Bier . Was hatte er vor? Ich sah es seinen schalkhaften Augen an, dass er etwas im Schilde führte. „Wollt ihr sehen, wie ein Wikinger sein Schäfchen ins trockene bringt?“ fragte er uns grinsend. Halldor barattierte für sein Leben gern. Das Feilschen und Schachern war ihm in die Wiege gelegt worden. Er verrenkte sich also den Hals nach einem geeigneten Geschäftspartner, den er schliesslich in einem 13[1]
Den Grossteil der Getreideernte hatten die Wikinger in Skandinavien für das Bierbrauen verwendet. Das die Geselligkeit fördernde Getränk war äusserst nahrhaft und kaum weniger wichtig als Milch, aber sicher nicht nur aus diesem Grunde bei den trinkfreudigen Wikingern beliebt.
Cree mit einer stark gebogenen Nase und lebhaften Augen gefunden zu haben schien. Dieser trug einen auffallenden Kopfputz, der aus zwei Gabelbockhörnern bestand, von deren Spitzen Büschel von rotgefärbten Hirschhaaren herabhingen. Halldor stellte das Fässchen mit einer vielsagenden Geste dem Skrälinger vor die Nase. „Das ist bestes Getreidebier, Kleine Krähe“, sagte er. „Hast du schon einmal davon getrunken?“ Er zeigte auf das Fässchen. Seine Augen leuchteten. Der Cree betrachtete es aufmerksam, betastete es mit den Fingern. „Wasser!“ rief er. „Wasser!? Das ist Bier! Trink davon, Kleine Krähe, und du wirst geheimnisvolle Kräfte erhalten.“ „Bier!“ schwärmte der Mann mit der Adlernase. „Willst du probieren?“ „Ja, Kleine Krähe will Bier trinken.“ Halldor zog einen ledernen Becher aus seiner Tasche. Er füllte diesen mit dem Bier. Der Cree nahm einen Schluck. „Gutes Bier!“ sagte er und schnalzte mit der Zunge. „Willst du noch mehr haben?“ „Ja, Kleine Krähe will mehr Bier haben.“ „Du kannst das ganze Fässchen haben, Kleine Krähe. Gib mir dafür aber einige deiner Felle.“ „Kleine Krähe hat Biberpelze.“ „Gut! Zeig sie mal her!“ „Warte Wikinger!“ Der Skrälinger trat in sein Wigwam und holte ein gutes Dutzend Biberpelze heraus. „Kleine Krähe will Bier haben“, forderte er Halldor auf, den Becher erneut zu füllen. Der geschäftstüchtige Wikinger tat dies auch. Der Becher ging einige Male hin und her. Das Fässchen leerte sich langsam. Halldor ermunterte seinen Geschäftspartner, noch einige Pelze draufzulegen. Betroffen blickte der Cree auf. Er sammelte seine verwirrten Sinne. Die Skrälinger vertrugen im Gegensatz zu den Wikingern nicht viel Alkohol. „Wenn du die Macht deiner Geister spüren willst, dann musst du schon noch einige Pelze rausrücken.“ „Nein“, sagte Kleine Krähe und schüttelte energisch den Kopf. „Dann kannst du leider auch kein Bier mehr haben, Kleine Krähe.“ Sich die Haare aus der Stirn streichend, starrte er auf den Wikinger. Seine Augen hatten von ihrer Lebhaftigkeit verloren. Sie schienen vom Alkohol zu glühen. „Kleine Krähe will aber Bier haben!“ rief er zornig. Er verschwand nochmals im Zelt, holte weitere Pelze. Halldor reichte dem Cree einen neuen Becher. Gierig schlürfte er ihn aus. Seine wilden
Züge verwandelten sich in ein einfältiges Lachen. Der Alkohol hatte ihn willenlos gemacht. Schliesslich hatte Halldor für das Fässchen Bier drei Dutzend Biberpelze sowie einige Häute von Fischottern, Kitfüchsen und Wildkatzen eingehandelt. Mit einem zufriedenen Lächeln band er sein Beutegut zusammen. Die Kleine Krähe torkelte in ihr Zelt, um den Rausch auszuschlafen . . . Asmund und ich schlenderten weiter. Sollte ich es auch mal versuchen, mit den Cree ins Geschäft zu kommen? Halldor würde bestimmt nach Abzug seiner Auslagen einen erklecklichen Gewinn machen. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn mir nicht auch ein Geschäft gelingen sollte. Aber was sollte ich tauschen? Ich hatte kein Bier bei mir. Ich grübelte nach. Was konnte ich von meinen Habseligkeiten entbehren? Unterdessen näherten wir uns einem der Erdhütten, vor dem ein ganzes Sammelsurium an Kleidern, Werkzeugen, Waffen und Haushaltsgeräten herumlag. Asmund stiess mir mit einem vielsagenden Blick seinen Ellbogen in die Seite. „Willst du es auch mal versuchen, Angelsachse?“ sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Was soll ich versuchen?“ „Na, tauschen natürlich.“ „Mir gefällt die Sache nicht.“ „Sei kein Holzkopf, Angelsachse, und zeig mir mal, was du in deiner Tasche hast!“ Ausser meinem Tagebuch, einigen Walnüssen und einer winzigen Heiligenfigur aus vergoldeter Bronze, einem Geschenk des Abts vom Kloster Iona, hatte ich nichts dabei. „Das ist gut“, sagte der Hüne und betrachtete andächtig die Heiligenfigur , „damit können wir etwas anfangen.“ „Aber die Figur stellt den heiligen Benedikt von Nursia dar; sie ist geweiht“, protestierte ich. „Sehr gut. Das werden wir uns bestimmt zunutze machen können. Na los! Auf was wartest du noch?“ Ich gab mir schliesslich einen Ruck, nahm den heiligen Benedikt in die Hand und lenkte meine Schritte zu der besagten Hütte hinüber. Dort lag eine Wassertrommel. Sie gefiel mir. Das Fass dieses Schlaginstrumentes bestand aus Sassafrasholz. Das Trommelfell war mit der Haut des Waldmurmeltiers bespannt. Ich fragte den Besitzer, einen alten Mann, nach dem Preis. „Was hast du Otterkopf für die Trommel anzubieten?“ fragte mich der Alte mit seiner sonoren Stimme. „Ich habe hier den heiligen Benedikt“, sagte ich und reichte dem Alten die Heiligenfigur zur Begutachtung. „Die Trommel hat den grösseren Wert als dieser kleine Mann“, sagte der Alte, nachdem er die Bronzefigur von allen Seiten betrachtet hatte.
„Dieses Amulett besitzt Zauberkräfte, Otterkopf“, mischte sich nun Asmund in den Handel ein, „es macht den Besitzer unverletzlich. Kannst du das auch von deiner alten Trommel sagen? Sei nicht dumm, Otterkopf, und nimm das Amulett, bevor es sich der Angelsachse anders überlegt!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm der Schädelspalter die Trommel an sich und entfernte sich. „Das kannst du nicht machen!“ rief ich dem Wikinger nach und beobachtete dabei den alten Mann, dessen Miene sich verfinsterte. Ich lief dem Schädelspalter hinterher. „Du bist ein hundsgemeiner Kerl, Asmund!“ zog ich vom Leder. „Du hast einen alten Mann bestohlen! In meinen Augen bist du ein Dieb! Was soll ich überhaupt mit einer Trommel anfangen?“ „Trommeln, was denn sonst!“ „Ohne Trommelstock?“ „Also geh' zurück, Angelsachse, und hole dir den Trommelstock! Ich hab' dir's ja vorgemacht, wie man mit den Cree ins Geschäft kommt. „ Ich eilte zu dem Alten zurück, entschlossen, die Verfehlung des Schädelspalters wieder gutzumachen. „Was führt meinen jungen Freund zu Otterkopf zurück?“ fragte mich der Cree. „Ich biete dir diese Walnüsse gegen deinen Trommelstock“, sagte ich. „Der Trommelstock hat weniger Wert als die Walnüsse“, sagte der Alte, „Otterkopf gibt seinem jungen Freund den Trommelstock, zwei Mokassins, Leggings und einen Wintermantel aus Karibufell für die Walnüsse. Das ist ein gerechter Tausch.“ Es mag sonderbar scheinen, dass der Alte den Wert der Trommel höher einschätzte als den geweihten und heiligen Benedikt, gleichzeitig aber die minderwertigen Walnüsse bevorzugte. Doch das zu erfassen, das war es, woran es mir zu jener Zeit noch gebrach. Ich beeilte mich, Asmund einzuholen.
Sobald die Opferzeremonie beendet ist, beginnen die Männer, das Totenschiff einzugraben. Es wird in Sand und blaue Tonerde eingebettet.
7. Kapitel
Talmach
Wie es Gott gefiel, dass Talmach mich fragte, ob ich ihm das Schreiben beibringen würde, damit er unser Denken begreifen könne.
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raussen war es Stein und Bein gefroren. Die Cree sprachen vom
Mond, in dem der alte Gesell das Reisig ausbreitet. Der Himmel hatte aufgeklart, und ein grün und purpurnes Nordlicht liess seine Geisterfahnen wehen. Das Feuer in unserem Wigwam, das ich mit meinen angelsächsischen Brüdern teilte, war zusammengesunken. Der Haufen rotglühender Asche spendete aber noch genug Wärme. Trotzdem legte ich einige Fichtenscheite nach, die sofort die weissen Seiten meines Tagebuches erhellten, in das ich meine Eintragungen machte. In dieser Nacht gesellte sich Talmach zu mir. Er setzte sich an meine Seite und schaute mir schweigend zu. Nach einer Weile legte ich den Federkiel beiseite und klappte das Tagebuch zu. „Talmach möchte seinen Bruder Patrick bei der Arbeit nicht stören“, sagte der Cree. „Du störst mich nicht, Talmach“, sagte ich. „Was schreibst du in dein Buch?“ „Ich schreibe auf, was ich während des Tages gesehen und erlebt habe“, antwortete ich. „Warum machst du das?“ „Ich schreibe das auf, damit ich es später wieder lesen kann und nichts vergesse.“ „Werden auch andere in dem Buch lesen?“ „Das kann sein. Vielleicht werde ich ihnen vorlesen.“ „Dann werden sie in dem Buch auch über die Cree erfahren, die Manitu zu sich in die ewigen Jagdgründe geholt hat?“ „Ja, ich habe auch von ihnen geschrieben.“ „Und von den Kelten, die uns am Saskatchewan entkommen sind?“ „Auch von ihnen habe ich geschrieben.“ „Du bist sehr weise, mein Bruder.“ „Viele der Mönche im Kloster können schreiben. Bei uns ist das nichts besonderes, Talmach.“ „Glaubst du, dass auch ich in dein Buch schreiben könnte, Patrick?“ „Ich bin sicher, dass du das Schreiben lernen kannst, Talmach“, sagte ich. „Ich würde es dir gerne beibringen, wenn du es willst.“ „Ich würde gerne in dein Buch schreiben, Patrick.“ Der Häuptling schwieg eine Zeitlang. Er heftete dabei seinen Blick auf mein Tagebuch, als suchte er dort Antworten auf seine Fragen.
„Warum tötet der Weisse Mann so grausam?“ fragte er endlich. „Warum hat er den Heiligen Pfad verlassen? Weshalb vergeudet er sinnlos Leben? Ist es sein Hochmut? Ich weiss, Patrick, dass nicht alle Weissen gleich sind. Aber trotzdem verstehe ich vieles nicht. Doch ich möchte euer Denken begreifen und alles in dein Buch schreiben. Du, mein Bruder, kannst mir helfen.“
Sobald die Opferzeremonie beendet ist, beginnen die Männer, das Totenschiff einzugraben. Es wird in Sand und blaue Tonerde eingebettet.
8. Kapitel
Shawanung-nizeo
Wie es Gott gefiel, dass uns die Chipewyan für einige Zeilen aus der Heiligen Schrift ein Toltekenmädchen verkauften, dass uns zu seinem Stamm im Süden führen sollte.
D
er Winter wollte kein Ende nehmen. Obwohl sich die Tage schon
merklich verlängerten, hielt die frostklirrende Kälte an. Nur für kurze Zeit wagten wir uns in diesen Tagen des Alten Mondes ins Freie. Die Eiskristalle, die sich dann an den Augenbrauen, um die Nase und im Bart festsetzten und zu dichten weissen Wülsten anwuchsen, trieben uns schnell wieder ans wärmende Feuer. Einzig einige vermummte Gestalten schurrten Löcher ins Eis des Bärensees, um ihre Angelhaken an langen Leinen ins Wasser lassen zu können. Der See war nämlich reich an Barschen, Forellen, Hechten und Fechten, die unsere Nahrungsvorräte ergänzten. Es war also an einem dieser frostigen Wintertage. Nichts kündete jene folgenreiche Begegnung an, die schicksalhaft für unsere weiteren Unternehmungen sein sollte. Talmach übte gerade das Abc. Er hatte sich über mein Tagebuch gebeugt und malte Buchstabe um Buchstabe auf das Pergamentpapier. Immer wieder verglich er die unter seinem Federkiel entstandenen Schriftzeichen mit jenen auf der Vorlage, die ich ihm vorgezeichnet hatte. In unserem Eifer überhörten wir die Rufe draussen. Erst das geräuschvolle Zurückschlagen der Felldecke am Eingang von Bruder Ethelwulf brachte uns auf den Boden der Wirklichkeit zurück. „Was ist los, Bruder Ethelwulf?“ fragte ich brummig. „Skrälinger kommen mit Hundeschlitten über den See“, teilte er uns mit. Wir traten vor das Wigwam und blickten auf die weisse Fläche des Bärensees hinaus. Zehn Toboggans zogen über das gefrorene Gewässer, eine glänzende Kufenspur hinter sich herziehend. Die Männer, welche die Schlitten begleiteten, hatten die Parkakapuzen bis auf einen schmalen Schlitz über das Gesicht gezogen. Die gefährliche Kälte sollte ihrer Haut nichts anhaben. Die Kleidung und die Verhaltensweise dieser Menschen widerspiegelten ihre Fähigkeit, sich den Erfordernissen des Lebens in der Wildnis anzupassen. Die Toboggans hatten inzwischen unser Dorf erreicht. Talmach und ich schritten zum Ufer hinüber, um die Ankömmlinge zu begrüssen. Es waren Chipewyan, die gleichen Chipewyan, die uns zu Karibuknochenbrühe und gebratenen Fischen eingeladen hatten. Es war ein freudiges Wiedersehen. Die Chipewyan wussten natürlich, dass wir
hier bei den Cree zu finden waren. Wir waren denn auch der Grund, dass sie den langen Weg von der Tundra an den Bärensee auf sich genommen hatten. Sie hätten uns eine wichtige Mitteilung zu machen, kündeten sie an. Doch sie durften auf gar keinen Fall mit der Tür ins Haus fallen. Sie mussten warten, bis der Häuptling sie in sein Wigwam geführt hatte. Das Gespräch konnte aber erst dann beginnen, wenn es zuvor durch das gemeinsame Rauchen mit der Pfeife „geheiligt“ worden war. Talmach führte also eine Delegation der Chipewyan in sein Wigwam. Ich sollte die Abordnung der Wikinger anführen, die aus Thorwald dem Jarl, Asmund dem Schädelspalter, Halldor dem Bärentöter, Aivik dem Eskimo und mir bestand. Der Brauch wollte es, dass wir das Zelt als letzte betraten. Drinnen umhüllte uns ein düsteres Dämmerlicht, denn nur ein kleines Feuer brannte. Die Delegationen der Chipewyan und Cree hatten sich bereits im Halbkreis um das Beratungsfeuer gruppiert und erwarteten uns. Erwartungsvolle Würde spiegelte sich in ihren Gesichtern. Eine feierliche Stille sah mit verschränkten Armen zu, und nur das leise Knistern des Feuers war zu hören. Langsam gewöhnte sich das Auge an das Halbdunkel. Asmund stiess mich in die Seite und zwinkerte mir zu. Unter den Cree hatte er Otterkopf ausgemacht, dem er grobschlächtig die Trommel abgeschwindelt hatte. Endlich wies uns Talmach einen Platz am Feuer zu und löste eine mit Hirschhaar verzierte Pfeife von der Schnur, die er 14[1] um seinen Hals trug. Dann tat er ein wenig Kinnikinnick in den steinernen Pfeifenkopf. Mit einem brennenden Stäbchen zündete er den Tabak an und sog an dem Mundstück des Pfeifenstiels. Beschwörend blies er den Rauch gegen den Himmel, gegen die Erde und in die vier Himmelsrichtungen. Dann erst begann er zu sprechen: „Die Chipewyan, unsere Brüder vom Volk der Athapasken, sind in das Dorf der Cree gekommen. Sie sind uns willkommen. Wachsamer Biber möge uns sagen, was die Chipewyan an den Bärensee führt.“ Talmach reichte seine Pfeife einem bejahrten Mann mit breiten Backenknochen, der mit grosser Geste das Wort ergriff: „Die Cree und die Blassgesichter mögen hören, was Wachsamer Biber 15[2] zu sagen hat. Vor vielen Monden kamen die Assiniboin in die Jagdgründe der Chipewyan. Die Assiniboin brachten den Chipewyan 16[3] aus der Prärie. Doch die Assiniboin Bisonfelle und Pemmikan 14[1]
Algonkin-Bezeichnung des Tabaks, der aus verschiedenen Bestandteilen
gemischt wurde. Hauptbestandteil war wildwachsender oder von den
Skrälingern angebauter, sehr starker Tabak, der mit Sumachblättern, dem
Bast des Roten Hartriegels und aromatischen Kräutern angereichert wurde.
15[2] Assiniboin ist ein Ojibwa-Wort, das soviel wie „die mit Steinen kochen“
bedeutet.
16[3] An der Luft getrocknete und gemahlene, mit Talg und Beeren vermischte
brachten den Chipewyan nicht nur Bisonfelle und Pemmikan. Sie brachten auch ein Kind mit, das sie von den Cheyenne im Süden eingehandelt hatten. Das Kind der Cheyenne wuchs bei den Chipewyan auf und sprach schnell die Sprache der Chipewyan. Aus dem Kind der Cheyenne ist eine junge Frau geworden. Die Chipewyan haben der 17[4] gegeben. jungen Frau der Cheyenne den Namen Shawanung-nizeo Obwohl Shawanung-nizeo die Sprache der Chipewyan spricht, ist Shawanung-nizeo in ihrem Herzen keine Chipewyan geworden. Shawanung-nizeo spricht viel von ihrem Stamm im Süden, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. Shawanung-nizeo spricht davon, dass sie zu ihrem Stamm zurückkehren möchte. Die Chipewyan wollen Shawanung nizeo nicht halten, denn Shawanung-nizeo ist wie der süsse Sommerwind, der auch nicht im Wigwam eingesperrt werden kann.“ „Wachsamer Biber möge Talmach sagen, wie die Cree Shawanung nizeo helfen können, dass sie zu ihrem Stamm im Süden zurückkehren kann.“ „Blassgesichter aus dem Norden sind zu den Cree gekommen“, sagte der Häuptling. „Im Frühjahr, wenn das Eis bricht, werden sie wohl nach Süden ziehen. Shawanung-nizeo kann die Blassgesichter zu dem grossen Volk der Tolteca im Süden führen, von dem Shawanung-nizeo spricht. Die Blassgesichter werden die Wigwams der Tolteca sehen, die aus Perlen gebaut sind. Wachsamer Biber will wissen, wie viele Felle und Pelze die Blassgesichter den Chipewyan für Shawanung-nizeo geben.“ Als Sprecher der Blassgesichter war ich nun an der Reihe, das Ritual mit der Pfeife fortzusetzen. Allerdings war ich im Rauchen nicht so geübt wie meine Vorraucher. Trotzdem tat ich einen kräftigen Zug. Ungehindert strömte der Rauch durch Mund und Nase und Lunge und begann zu kribbeln und zu jucken, zu kratzen und zu brennen, zu beissen und zu stechen. Der heilige Gebetshauch verwandelte sich in meinem Innern zu einem würgenden Rauch und erstickenden Qualm. Wollte ich mir mein Elend zuerst verbeissen, musste ich doch schnell einsehen, dass es keine Rettung mehr gab. Ich würde mein Gesicht unweigerlich verlieren. Der Rauch drängte nämlich unbeirrt von innen nach aussen. Dabei fing ich an zu prusten und zu husten und schnappte wie ein Fisch nach Luft. Asmund der Schädelspalter hämmerte mit seiner Hand wie ein Schmied auf meinem Rücken herum, als wolle er ein Stück Eisen in seine Form bringen. Nachdem der gröbste Husten- und Niesreiz vorbei war, musste Fleischpastete mit besonders hohem Proteingehalt, die als Winternahrung diente, da sie, richtig gelagert, monatelang geniessbar blieb. 17[4] In der Sprache der Cree ist eigentlich mit diesem Namen der Südwind oder der Sommerwind gemeint, den sie mit „Gibt Essen im Sommer und hat es in Verwahrung. Er gibt die Beeren“ umschreiben.
ich mich zuerst erholen. Wenn ich geglaubt hatte, die Skrälinger würden mich belächeln oder gar ein langes Gesicht machen, dann hatte ich mich geirrt. Sie verzogen keine Miene, liessen mich nicht aus den Augen und warteten geduldig auf meine Rede. „Ihr habt eure Wigwams in der Tundra verlassen und seid in der kältesten Jahreszeit zu uns an den Bärensee gekommen, um uns eine junge Frau anzuvertrauen. Das zeugt von grosser Nächstenliebe. Es ist unsere Christenpflicht, Shawanung-nizeo bei uns aufzunehmen.“ Meine Worte schienen grossen Eindruck auf die Chipewyan gemacht zu haben. Ihre bewundernden Blicke und zustimmenden Gebärden waren beredter als tausend Worte. Gespannt warteten sie auf die Angabe des Preises, den ich für Shawanung-nizeo zu zahlen bereit wäre. Talmach war der einzige, der meine Verlegenheit durchschaut hatte. Sogleich ergriff er das Wort wieder: „Patrick gehört dem grossen Volk der Angelsachsen an, die ihre Wigwams weit im Norden haben. Obwohl Patrick erst kurze Zeit in unserem Land ist, spricht er schon unsere Sprache. Sein Herz ist mutig und seine Zunge aufrichtig. Die Angelsachsen handeln nicht mit Fellen und Pelzen. Die Angelsachsen besitzen einen Zauber, dessen Wert grösser ist als alle Felle und Pelze, welche die Chipewyan in einem Winter erbeuten. Patrick wird den Preis für Shawanung-nizeo auf ein Papier schreiben.“ Dieser Fuchs! Er wollte die Chipewyan mit einem einzigen Federstrich um den Finger wickeln, was ihm auch zu gelingen schien, denn seine Ankündigung brachte sie völlig aus der Fassung. Ich konnte nun auch nicht mehr zurück. Talmach hätte sonst sein Gesicht verloren. Ich trennte also ein Blatt aus meinem Tagebuch, kritzelte einige Zeilen aus der Heiligen Schrift darauf und reichte es dem Häuptling der Chipewyan, den ich mit meinem Gekritzel in Erstaunen gesetzt hatte. Lange betrachtete Wachsamer Biber die Schrift auf dem Papier, ehe er das Blatt seinem Nachbarn weiterreichte. „Das ist ein guter Preis“, hörte ich ihn in feierlichem Ton sagen. Die Chipewyan zogen sich zur Beratung zurück. Schon kurze Zeit danach traten sie wieder ans Feuer. Wachsamer Biber teilte den Beschluss der Seinen mit: „Shawanung-nizeo wird die Angelsachsen nach Süden begleiten. Wachsamer Biber hat gesprochen, howgh!“ Mit stoischer Ruhe hatte Talmach den Entscheid abgewartet und begleitete dann seine Gäste aus dem Wigwam.
Hinter der steilen Landspitze eines Fjords taucht plötzlich eine Wikingerflotte auf. Auf ihr befinden sich die Angreifer, die zum Teil bereits die Segel eingezogen haben und in die Schlacht rudern. Im Hagel der Speere und Pfeile versucht das erste Langschiff der Angreifer, die Verteidigungslinie zu durchstossen. Links holt ein Speerwerfer der Verteidiger zum Wurf aus, während ein Kamerad neben ihm gerade einen schweren Stein in die Reihen der Feinde schleudern will. Vom Bug ihres Schiffes aus versuchen die Angreifer, auf das feindliche Boot zu drängen.
9. Kapitel
Sommerwind
Wie es Gott gefiel, dass meine Liebe für Shawanung-nizeo entflammte.
D
ie Tage bei den gastfreundlichen Cree vergingen mir wie im
Fluge. Es war ein sonniger Wintertag, als ich mich mit meinem weissen Polarhirsch am Ufer des Bärensees aufhielt, der durch die Tannen schimmerte. Ich wanderte zu einer Fichte und setzte mich auf ihre Wurzeln. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Nur ein Pony wieherte in der Nähe. Es war wirklich ein kleines Paradies, dieses Tal am Bärensee. Ich liess meinen Blick vom See zum Dorf hinüberschweifen. Ringsum standen wie Wälle die grünen Fichten und Tannen, der Hort der Waldbewohner, das Zuhause der Bisons und Bären, der Panther und Pumas, der Wölfe und Hirsche. Vom Dorf her näherte sich eine weibliche Gestalt. Ich erkannte sie sofort: Es war Shawanung-nizeo. Mir war das hübsche und zierlich gewachsene Mädchen schon im Februar aufgefallen, als es mit den Chipewyan in unser Dorf gekommen war. Mit Achtung hatte ich ihre stoische Gefasstheit bemerkt, als die Chipewyan in die Tundra zurückgekehrt waren, sie bei uns zurücklassend. Gemessenen Schrittes kam sie am Ufer entlang geschritten. Der Polarhirsch kam heran und beschnupperte sie. Vor der Fichte, an dessen Stamm ich lehnte, blieb sie stehen. Die schöne Toltekin trug eine lange, bemalte Kariburobe, die an den Hüften von einem geflochtenen Gürtel gerafft und zusammengehalten wurde. Tiefschwarzes Haar quoll unter einem weissen Stirnband hervor. Es umrahmte ihr hübsches bronzenes Gesicht. Über ihren ebenmässig gezeichneten Mund mit den vollen Lippen huschte ein freundliches Lächeln, als sie mich begrüsste. Wir hatten uns in den letzten Wochen täglich gesehen. Unsere Zuneigung zueinander war wie eine zarte Blüte gewachsen und schliesslich aufgegangen. Mein Herz schlug ein paar Sekunden lang wie rasend, bevor wir uns in die Arme schlossen. „Patrick, mein Liebster!“ hauchte sie mir ins Ohr. „Sommerwind!“ flüsterte ich. Unsere heissen Lippen fanden sich. Eine Woge des Verlangens umbrandete uns. Niemand störte uns.
Die Angreifer wehren mit ihren Schilden die Schläge der Verteidiger ab. Ungeachtet der Toten, die sich auf dem Deck seines Schiffs um ihn häufen, wirft inzwischen ein Wikinger einen vierarmigen Enterdraggen aus, um sein Schiff so fest wie möglich an das des Feindes zu binden.
10. Kapitel
Gunnar der Grimmige
Wie es Gott gefiel, dass die Kelten Gunnar den Grimmigen töteten und dadurch Zwietracht zwischen den Cree und den Wikingern säten.
D
er Graugansmond hatte begonnen. Edmund und ich kehrten mit
einigen Fischen vom Bärensee ins Dorf zurück, das bereits im Dunkeln lag. Durch die Ritzen der Wigwams und Erdhütten schimmerte Licht. Keiner der Dorfbewohner befand sich draussen. Wir schritten zu einem der Wigwams hinüber, wo Nahrungsvorräte eingelagert waren. Wir hatten unsere Fische gerade auf Schnüre aufgezogen, als vier Gestalten über den Dorfplatz geschritten kamen. Im Schein einer Fackel erkannte ich Ambiorix, Togodumnus und Cunobelinus, die drei Kelten von der Schneeziege sowie Ariovist, den wir am Saskatchewan gefangengenommen hatten. Der Mond stand auf der anderen Seite des Wigwams, so dass dessen Schatten auf uns fiel. Edmund und ich konnten also nicht gesehen werden. Die Kelten näherten sich uns. Wir hatten eine gehörige Portion Respekt vor den grobschlächtigen Kerlen und zogen es deshalb vor, unter einige Häute und Felle zu kriechen, die am Eingang des Wigwams zu einem Haufen aufgeschichtet worden waren. „Ich habe gehört, dass die Wikinger bald nach Süden weiterziehen wollen“, hörte ich Ambiorix sagen. „Sie werden uns bestimmt in den Süden mitschleppen.“ Ich lugte unter den Fellen hervor. Die Kelten blieben dicht bei unserem Wigwam stehen. Deutlich hörte ich die Stimme von Togodumnus: „Es darf nicht so weit kommen, Ambiorix. Dagda wird uns davor bewahren. Er ist ein guter Gott. Er ist mächtiger als dieser einäugige Odin oder der rothaarige Thor der Wikinger.“ „Willst du von hier fliehen, Togodumnus?“ fragte Cunobelinus, der dritte Kelte. „Wir würden in der Wildnis den Tod finden. Nein, wir müssen eine List anwenden. Ich habe da auch schon eine Idee.“ „Da bin ich aber neugierig“, sagte Cunobelinus. Mir stockte der Puls. Edmund, der neben mir unter den Häuten und Fellen steckte, begann sich plötzlich zu räuspern. „Was war das?“ hörte ich Ambiorix fragen. Der Angstschweiss brach mir aus. In diesem Moment kam ein Cree über den Dorfplatz. Er war unsere Rettung. „Gehen wir zurück in unser Zelt“, sagte Togodumnus. „Dort sind wir ungestört.“
Die Kelten wechselten mit dem Eingeborenen noch einige Worte und gingen dann zu ihrem Wigwam hinüber. Nachdem wir sahen, dass die Luft rein war, schälten wir uns unter den Fellen hervor. „Was für eine Teufelei führen die Kelten wohl im Schild?“ fragte Edmund. „Was weiss ich! Wir müssen sie im Auge behalten, aber so, dass sie nichts merken“, sagte ich. Es war gegen Mitternacht. Vier grossgewachsene, kräftige Gestalten tauchten vor der kuppelförmigen Unterkunft von Gunnar dem Grimmigen auf. Die vier Gestalten huschten bis zum Eingang der Birkenrindenhütte und machten sich dort bemerkbar. Nach einigen Sekunden fiel ein Lichtstrahl durch die Ritzen. Edmund und ich steckten in der Nähe hinter einem Moosbeerenstrauch. Mit angehaltenem Atem überschauten wir den Platz vor der Erdhütte. Wir waren den vier Kelten von ihrem Wigwam bis hierher gefolgt, von Hütte zu Hütte und von Baumstamm zu Baumstamm hastend. Obwohl wir vor Angst mehr tot als lebendig waren, hatte sich unsere Neugier als stärker erwiesen. Zudem konnten wir uns in gebührender Entfernung halten. In meinem Kopf spukte immer noch die Andeutung von Togodumnus herum. Was hatten die vier vor? Was hatten sie bei Gunnar zu suchen? Mir wurde angst und bange um den Wikinger. Kaum hatten wir also unseren Beobachtungsposten hinter dem Moosbeerenstrauch eingenommen, sahen wir, dass Gunnar am Eingang erschien. Wir konnten nun beobachten, wie er beim Anblick der nächtlichen Besucher erschrocken zurückwich. Dann drängten die Kelten den Wikinger, ihm auf dem Fuss folgend, in die Hütte zurück. Eine lastende Stille folgte. Ein Käutzchen schrie irgendwo. Wir warteten. Es schien uns eine Ewigkeit. Ein Wolf heulte in der Ferne. Dann wieder Totenstille. Auch von der Erdhütte drang kein Laut zu uns herüber. Da! Jemand hatte das Licht in der Hütte gelöscht. Das blasse Mondlicht beleuchtete den Platz und das Birkenrindendach der Hütte; der Eingang selbst lag im Schatten. Vier Gestalten huschten aus der Hütte. Mehr konnte ich nicht erkennen. Wir verharrten noch eine ganze Weile in unserem Versteck, ehe wir uns zu rühren wagten. Was war in der Hütte geschehen? Hatten die Kelten dem Wikinger ein Leid zugefügt? Ich machte mir die grössten Vorwürfe, dass ich nichts unternommen hatte, Gunnar zu helfen. „Edmund, was meinst du, sollen wir nachsehen, was passiert ist?“ flüsterte ich meinem Gefährten zu. Trotz der Dunkelheit konnte ich beobachten, wie er mit sich rang. Die Sache war ihm wohl auch nicht ganz geheuer. Schliesslich überwand er sich. „Hinter der Hütte gibt es einen Schuppen für die Schlittenhunde, der jetzt aber leer steht“, sagte er. „Von dieser Seite her können wir es vielleicht wagen, Patrick.“
Ich wollte meinen Ruf nicht aufs Spiel setzen und stimmte seinem Vorschlag zu, uns der Hütte von der Rückseite zu nähern. Wir schlüpften also aus dem Moosbeerenstrauch in den Schatten eines Baumes. Hier mussten wir uns mehr auf das Gehör als auf unsere Augen verlassen. Nur das Rauschen des Windes in den Tannen war zu hören. Schliesslich langten wir beim Schuppen hinter der Erdhütte an. Dort gab es einen Einlass. Vorsichtig schob ich eine Felldecke zur Seite. Als der Wolf wieder heulte, zuckte ich zusammen. Beim Eintreten hörte ich ein gleichmässiges Schnarchen. Edmund drängte sich an mir vorbei. Nach kurzer Zeit erhellte der Schein eines Kienspans das Innere des Schuppens. Mein Komplize hatte den Kienspan neben dem Eingang gefunden und entzündet. „Wer ist da?“ hörten wir eine Stimme aus einer Ecke des Schuppens. Edmund leuchtete in die Richtung, aus der die Stimme kam. Dort erhob sich eine Gestalt von einer Pritsche. „Das ist die Kleine Krähe“, meinte Edmund fast beiläufig. Ich musste mich vom ersten Schreck erholen. Es war tatsächlich der Cree mit der stark gebogenen Nase. Wir hatten ihn etwas brüsk aus dem Schlaf gerissen. Im Fackelschein sahen wir nur den Umriss seiner Figur sowie das Weiss seiner Augen und Zähne. Vor dem Skrälinger mussten wir keine Angst haben. Als er uns erkannt hatte, schien auch ihm ein Stein vom Herzen zu fallen. Wir erzählten ihm von den vier Kelten, denen wir gefolgt waren. Er schnitt dabei eine Grimasse, die wohl seine Entschlossenheit ausdrücken sollte. Dazu ballte er seine Fäuste. „Die Blassgesichter waren in der Hütte von Gunnar?“ fragte er. „Gunnar ist der Vater von Kleiner Krähe. Was wollten die Blassgesichter bei Gunnar?“ „Das wissen wir eben nicht!“ sagte ich. „Kleine Krähe wird Gunnar fragen.“ „Wir müssen aber vorsichtig sein“, warnte Edmund, „wenn die Kelten zurückkehren, sind wir dran. Wir müssen uns zuerst vergewissern, ob sie wirklich weg sind.“ Edmund löschte den Kienspan, und mit unterdrückten Stimmen hielten wir in der Dunkelheit des Schuppens Kriegsrat. Jemand von uns musste nach draussen, um nachzusehen, ob die Luft rein war. Wir entschlossen uns, Kleine Krähe diesen Gang machen zu lassen. Der Skrälinger stöberte einige Zeit draussen herum. Dann kehrte er zu uns in den Schuppen zurück. „Kleine Krähe hat die Blassgesichter nicht gesehen.“ „Also, gehen wir in die Hütte von Gunnar!“ bestimmte Edmund. Wir verliessen den Schuppen und schlichen zu Gunnars Unterkunft. Durch einen Spalt spähten wir ins Innere. Dort war es stockdunkel. Mit klopfenden Herzen und auf Zehenspitzen traten wir ein und lauschten angespannt in die Dunkelheit hinein. In jedem unserer Gesichter
spiegelte sich die nackte Angst. Da sich aber nichts regte, wurden wir mutiger. Edmund zündete den Kienspan an. Plötzlich stiess ich mit meinem Fuss an etwas Weiches, und der Schein der Fackel fiel auf den leblosen Körper des Wikingers! Fassungslos starrten wir auf die gefiederten Pfeile, die in seinem Körper steckten. Edmund kniete nieder und untersuchte Gunnar. „Er lebt“, stellte er fest. „Angelsachse!“ hörten wir den Verletzten stöhnen. „Gunnar, was ist geschehen?“ „Die Treller!“ stiess er hervor. „Wir sind ihnen hierher gefolgt“, machte ich meinem Herzen Luft. „Angelsachse!“ sagte Gunnar der Grimmige, als er mich erkannt hatte. „Geh zu Thorwald und berichte ihm.“ Ein heftiger Krampf schüttelte den Wikinger. Ich bemerkte, wie seine Augen rot unterliefen. „Die Kelten wollen Zwietracht säen zwischen uns und den Cree. Es darf aber nicht zur Feindschaft kommen“, stammelte er und erhob unter Anspannung all seiner Kräfte sein Haupt von Edmunds Schoss. „Angelsachsen! Die Walküren werden mich heute nach Asgard und Walhall, der Halle Odins, geleiten! Dort werde ich bis in alle Ewigkeit mit den Helden feiern und kämpfen“, hauchte er, und ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Ein heftiges Zittern überfiel nun den Wikinger, und seine Augen weiteten sich. Der Schmerz musste grauenvoll sein. Wie gebannt starrten wir auf sein Antlitz. Wollte er uns noch etwas mitteilen? Jedes seiner Worte erstarb sofort auf seinen Lippen. Er fiel in den Schoss von Edmund zurück. Seine Kraft war verbraucht. Nach und nach beruhigte sich auch sein bebender Körper. Sein Pulsschlag erlosch langsam, das Gesicht erbleichte und die offenen Augen verglasten. Gunnar der Grimmige war tot! Draussen waren Stimmen zu hören. „Nichts wie weg hier!“ flüsterte ich Edmund zu. Er löschte den Kienspan, dann tasteten wir uns verängstigt aus der Hütte. Edmund hatte bereits die Richtung zum Wald hinüber eingeschlagen. Ich folgte ihm. Die grausige Nachricht von Gunnars Tod traf die Wikinger und die Cree wie ein Blitz aus heiterem Himmel und verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Der eilends herbeigerufene Thorwald hatte mehrere mit Distelwolle gefiederte Pfeile im Körper des Ermordeten gefunden. Die Wikinger zweifelten keinen Augenblick daran, dass Gunnar von den Skrälingern ermordet worden war. Halldor der Bärentöter liess unverzüglich die Wikinger am Ufer des Bärensees zusammentrommeln. Er hielt eine flammende Rede gegen die Skrälinger. Gegen Mittag
marschierte er mit seiner Korona ins Dorf hinüber, um dem Getöteten Gerechtigkeit zu verschaffen. Die Unbarmherzigkeit der Kelten hatte uns in der Nacht entsetzt, und Edmund und ich hatten unser Heil in der Flucht gesucht. Die Kleine Krähe war bei dem toten Wikinger zurückgeblieben. In einer Erdhöhle am Waldrand verkrochen wir uns für den Rest der Nacht. Die üble Geschichte raubte mir natürlich den Schlaf. Schwer lastete das Erlebnis auf meiner Seele. Das schreckliche Bild des Toten stand mir noch immer vor Augen. Der arme Gunnar! Kaltblütig hatten ihn die Kelten umgebracht! Ich durfte nicht daran denken, wenn sie davon Wind bekämen, dass wir sie beobachtet hatten. Mir brach der Angstschweiss aus. Die ganze Nacht quälten mich grässliche Gedanken, die imstande waren, noch grauenerregendere auszumalen. Doch dann geschah es! Ich stand an einem Baum, festgebunden. Ich wehrte mich mit dem Stock einer Wassertrommel. Vier Kelten bedrängten mich auf das heftigste von rechts und links. Sie fletschten mit ihren Zähnen und rollten die Augen so wild, dass es mir kalt über den Rücken lief. Ich begann zu trommeln. Hinter den Wigwams tauchten Skrälinger auf. Einer von ihnen hatte eine stark gebogene Nase und lebhafte Augen. Er trug einen Kopfputz, der aus zwei Gabelbockhörnern bestand, von deren Spitzen Büschel von Hirschhaaren herabhingen. Die Skrälinger wollten mich vom Baum losbinden, doch die Treller hinderten sie daran. In das Gerangel auf dem Platz mischte sich nun auch Edmund. „Bindet mich endlich los!“ brüllte ich. Es war ein Stossen und Stampfen, Drücken und Strampeln, Quetschen und Klemmen. Der Lärm war unerträglich. Endlich befreite mich Edmund. Er musste dafür den heiligen Benedikt opfern. Ich entkam, begann zu rennen. Die Kelten folgten mir. Ich war in Schweiss gebadet. Die Kraft liess nach. Noch immer schlug ich die Trommel. Auch die Skrälinger folgten mir, wollten mich retten. Aber der Alkohol des Biers setzte ihnen zu. Der Abstand zwischen ihnen und mir wurde immer grösser. Die Kelten holten auf. Ich war verzweifelt. Ich brüllte auf und – erwachte. Es war ein böser Traum. Edmund stand vor mir, weil ich geschrien hätte. Noch einige Zeit war ich benommen. Der Lärm kam aus dem Dorf, wo die Wikinger herumbrüllten. Was war geschehen? Edmund und ich verliessen die Erdhöhle und rannten ins Dorf hinüber. Wikinger und Skrälinger befanden sich vor Gunnars Unterkunft. Ein grosses Palaver war im Gange. Niemand schien so recht Bescheid zu wissen. Thorwald heischte mehrere Male Ruhe. Es herrschte dicke Luft. Die Wikinger waren empört, die Skrälinger beleidigt. Beschimpfungen machten die Runde. Das Blut begann zu kochen. Die Situation wurde brenzlig. Ich sah, dass die vier Kelten noch Öl ins Feuer gossen. Sie forderten Talmach auf, einen Schuldigen herbeizuschaffen. Sie stellten ein Ultimatum. Die Wellen schlugen höher. Plötzlich: Geschrei zwischen den
Wigwams! Die Nordmänner schleppten Kleine Krähe zu einem Kastanienbaum hinüber. Was wollten sie mit ihm? Einer der Wikinger schwenkte ein Seil. „Halt, Männer!“ rief ich und zwängte mich durch die Menge. „Lasst ab von der Kleinen Krähe!“ Halldor der Bärentöter stand vor mir. Seine Haltung war herausfordernd. Hinter ihm waren die Kelten und die Wikinger postiert. Sie waren aufgebracht. Ich sah es ihren Gesichtern an. Die Lage war bedrückend. Halldor packte mich am Ärmel meines Mantels. „Was ist, Angelsachse?“ „Die Kelten!“ stammelte ich. „Was ist mit den Trellern?“ „Sie haben Gunnar getötet!“ Mir war wohler! Sollten die Kelten jetzt mit mir machen, was sie wollten. Es mag sonderbar scheinen, aber während ich das Ungeheuerliche aussprach, wurde es bedeutungslos für mich. Bedeutungslos wie der Tod, der hier im Land der Skrälinger zur Gewohnheit geworden war. Auch die Angst war verflogen. Ich fügte mich in mein Schicksal und harrte unverdrossen der Dinge, die da kommen sollten. Edmund hatte inzwischen begonnen, den Wikingern die Ereignisse der letzten Nacht zu erzählen. Diese hörten aufmerksam zu. Mein Landsmann gefiel sich in der Rolle des Hauptzeugen derart, dass er nichts ausliess, was uns noch hätte retten können. Ich bewunderte ihn. Er verstand es wie kein zweiter, seine Geschichten an den Mann zu bringen. Die Wikinger waren tief beeindruckt von meinem Gefährten. Als dieser mit seiner Erzählung zu Ende war, zweifelten sie keinen Augenblick daran, dass nicht die Cree, sondern die Kelten dem Wikinger das Lebenslicht ausgeblasen hatten. Wiederum machte sich Empörung breit, und wiederum begann das Blut zu kochen. Erst jetzt bemerkten die Wikinger aber, dass sich die wirklichen Mörder aus dem Staub gemacht hatten . . .
I
n der Nacht hatte es nochmals geschneit, und der Boden war
gefroren. Ein leichter Schimmer über dem Dorf der Cree kündete endlich den nahen Tagesanbruch an. Ich war bereits wach. Geschlafen hatte ich nur wenig. Zu viele Gedanken waren mir durch den Kopf gegangen. Am Abend zuvor hatten wir beschlossen, Sommerwind in ihre Heimat im Süden zu bringen. Talmach, der junge Häuptling, wollte uns begleiten. Während seiner Abwesenheit sollte Otterkopf den Stamm führen. Als wir um die Mittagszeit unsere Ponys für die Abreise sattelten, schien die
Sonne wieder. Das Wasser der Schneeschmelze wusste nicht recht, wohin es fliessen sollte, da der Boden gefroren war. Wir standen deshalb bis zu den Knöcheln im Schneebrei, währenddem wir Pemmikan, geräuchertes Karibu-, Biber- und Elchfleisch, getrocknete Fische, Tabak und Salz in den Satteltaschen verpackten, Biberfangnetze, Angelhaken, Netznadeln, Schaber, Holzlöffel und -kellen in den Tragtaschen verstauten und Schneeschuhe, Schneeschaufeln und Felle mit Lederriemen an den Sätteln befestigten. Die Messer, Schwerter, Speere und Streitäxte machten wir an den Gürteln fest, die auch noch unsere Wintermäntel zusammenhielten. Begleitet von Wikingern und Skrälingern gingen wir dann zum Bärensee hinüber, wo aus Steinen ein einfacher, schmuckloser Altar aufgebaut worden war. Bruder Ethelred hielt die Ansprache. Doch schon nach seinen ersten düsteren Worten durchfuhr mich ein Schauer, als er von den heidnischen Skrälingern sprach, die ohne festen Glauben dem Teufel und der Hölle ausgeliefert seien. Auch hätten sie keinen Begriff von Sünde. Es sei die heilige Pflicht der Christen, die primitiven Religionen einzudämmen und die Herrschaft über die Skrälinger zu gewinnen, damit sich der wahre Glaube durchsetzen könne. Kein Mensch dürfe die Gewalt über die Kräfte der Welt besitzen. Jene Heiden, die von der Gotteslästerung nicht abliessen, seien sitzend auf einen Pfahl zu binden und tief ins Wasser zu tauchen, bis diese Besserung geloben würden. Otterkopf gab zur Antwort: „Der Weisse Mann bringt uns die frohe Botschaft in der einen Hand, um uns von den Sünden zu erlösen, die er in der anderen hält.“ Wieviel verständiger und weitherziger erschienen mir doch diese Cree als Bruder Ethelred! Ich mochte kaum das Ende des Gottesdienstes abwarten. Ins Dorf zurückgekehrt, galt es Abschied zu nehmen von den Cree. Als ich in ihre fröhlichen Gesichter blickte, gab es mir einen Stich. Ich wandte mich ab. Ich konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Talmach und Aivik hatten sich inzwischen auf ihre Ponys gesetzt und ritten an uns vorüber aus dem Dorf, um die Führung zu übernehmen. Ich schwang mich ebenfalls auf meinen Polarhirsch, der freudig seine Nüstern blähte. Er ahnte wohl, dass wir uns zu einer langen Reise aufmachten. Ich sagte den Cree nochmals Lebewohl, drückte dem Karibu meine Mokassins in die Weichen und schwenkte meinen Biberhut. Es war ein Abschied für lange Zeit. Mit gemischten Gefühlen ritt ich mit Sommerwind und Edmund in den sonnigen Nachmittag hinein, unseren Führern im Trab folgend. „Da vorne steht Otterkopf“, sagte Edmund und zeigte mit seinem ausgestreckten Arm zum Ufer des Sees hinüber. Tatsächlich erblickte ich den Alten. Er schien auf uns zu warten. Wir zügelten unsere Tiere. Der Cree trat an meine Seite. Ich blickte in sein
Gesicht. Es war freundlich. Wir grüssten uns. Dann band er seinen Gürtel los und reichte ihn mir. 18[1] wird euch Schutz gewähren“, sagte er. „Der Wampum Ich war gerührt. Es war ein mit weissen Muschelperlen, ovalen Formen, weissen Linien und Karos gefertigter Gürtel. Bei den Zeremonien der Skrälinger spielte der Muschelschmuck eine besonders wichtige Rolle. Die weissen Perlen bedeuteten Frieden, die ovalen Formen wiesen auf die Lagerfeuer des Stammes hin, eine weisse Linie stellte einen Weg dar, und die Karos drückten die Bande der Freundschaft aus. Aus der Sicht der Skrälinger wohnte den weissen Muschelperlen eine göttliche Kraft inne. Sie massen dem Wampum eine hohe Bedeutung bei.
A
m anderen Morgen wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Es war
ein kurzer Schlaf gewesen. Ich hatte mich erst spät in der Nacht schlafen gelegt. Talmach hatte mir aus dem Tagebuch vorgelesen. Nun hörte ich also dieses Krachen durch meine Felldecke, in die ich mich eingemummt hatte. Ich war vom Schlaf noch wie betäubt. Ich streckte meine Nase unter der Felldecke hervor ins Freie. Draussen begann es gerade hell zu werden. Ein warmer Wind wehte den Saskatchewan herunter, an dem wir unser Nachtlager aufgeschlagen hatten. Ich kroch unter der Felldecke hervor. Schon am Abend hatte ich beobachtet, dass der Fluss Hochwasser führte, hervorgerufen durch Regenfälle und die Schneeschmelze. Nun aber zerbrachen die Eisschollen unter lautem Krachen. Das hatte mich geweckt. Eine endlose braune Flut wogte durch das Tal des Saskatchewan. Entwurzelte Bäume, die im Herbst auf Sandbänken im flachen Wasser hängengeblieben waren, schossen den Fluss hinunter. Ich stand mit einigen anderen am Ufer und blickte fasziniert auf den Strom hinaus, der über und über mit Treibholz bedeckt war. Die Stämme hatten vom Saskatchewan Besitz ergriffen. Für die Kanus war jetzt kein Durchkommen mehr. Es würde jetzt nicht mehr lange dauern, bis die Kanurouten für die Skrälinger durch die Wildnis wieder frei waren. Auch wir machten uns wieder auf den Weg. Dieser Weg sollte uns in eine Welt führen, die zur Zeit unserer Geschichte noch nie ein Weisser gesehen hatte. Ich gehörte zu den ersten Weissen, die diese Welt zu 18[1]
Wampums nahmen den Charakter von Urkunden an, also auch von Ausweisen, welche Verträge, Sippenzugehörigkeiten, Übereinkünfte bestätigten.
Gesicht bekommen sollten, diese so unvergleichlich schöne Welt. Eine Welt so unberührt, deren Wesen – Steine, Pflanzen, Tiere, Geister – dasselbe Recht auf Dasein und Leben hatten wie der Mensch. Alles lebte dort im Gleichklang mit der Natur. Niemand vergeudete sinnlos Leben. Bevor die Menschen in diesem Land ein Tier töteten, sagten sie: „Ich muss dir das Leben nehmen, kleiner Bruder, kleine Schwester, damit ich selbst am Leben bleibe. Du stirbst, doch auch für mich wird die Zeit kommen, mein Leben der Erde zurückzugeben. Und so nehme auch ich am Zyklus des Lebens teil. Mein Körper wird Nahrung für Pflanzen, Tiere und Insekten sein. So wird aus meinem Weiheopfer neues Leben entspringen.“ Wenn die Menschen eine Pflanze brachen, nahmen sie niemals die erste, auf die sie stiessen. Für sie war die Pflanze ein Vorfahr. Sie sprachen zu ihr: „Wir kommen zu deinem Pflanzenvolk, um uns davon zu ernähren und um daraus Heilmedizin zu bereiten. Wir weihen dir ein Opfer und bitten, dass ihr, du und deinesgleichen, immer auf der Erde leben werdet.“ Nach diesem Gebet nahmen sie von den umstehenden Pflanzen ihrer Art einige, aber nur so viele, wie sie brauchten. Wir machten uns also auf zu der Reise in ein Land, das niemandem gehörte, in ein Niemandsland. Doch überall lebten Menschen. An den Flüssen, auf den Prärien, in den Bergen, überall war Skrälingerland, Skrälingererde. Sie nannten sie Mutter Erde . . .
Wikinger werden vom Deck eines isolierten Langschiffs gejagt, erbarmungslos niedergemetzelt und über Bord geworfen.
11. Kapitel
Bisons
Wie es Gott gefiel, dass wir in dem weiten Grasland auf Bisons stiessen und dass mir einer der Bullen zum Verhängnis wurde.
D
er Graugansmond war zu Ende gegangen, und der Froschmond
hatte seine Herrschaft angetreten. Wir waren dem Saskatchewan entlang zum Winnipeg geritten, an dessen Ufer im letzten Jahr die Cree ihr Sommerlager aufgeschlagen hatten. Nun standen wir am Südende des Sees, in den der Assiniboine mündet. Er war von Treibholz übersät. Die Schneeschmelze trüge das Holz aus dem Grasland heran, erklärte uns Talmach. Wir sahen einige Skrälinger, die mit ihren Kanus vom See den Fluss hinaufpaddelten. Sie mussten auf der Hut sein. Viele der Bäume hatten sich mit Wasser vollgesogen. Sie waren mit den Wurzeln nach unten auf den Grund gesunken, und die Äste neigten sich jetzt in den Fluss. Einige ragten wie Skelette in den Himmel. Andere hoben und senkten sich in der Strömung. Die Stämme konnten sich jederzeit losreissen und die Kanus rammen. Immer wieder mussten die Skrälinger ihre Boote zum Stehen bringen, um den Bäumen auszuweichen. Überall lauerte Gefahr. Der Tod paddelte mit. Der Strom quirlte und gurgelte dazu die Todesmelodie. Die Sinne der Skrälinger mussten aufs äusserste gespannt sein, denn auch sie waren zu Treibholz geworden, Treibholz allerdings, das sich gegen den Strom stemmte. Auf unserem Weg durch die Wälder sahen wir viele Rothirsche mit ihren Kühen und Kälbern. Überall entdeckten wir Eichkätzchen, welche die Baumstämme auf und ab rannten und mehrere Meter von Ast zu Ast sprangen. Wir konnten aber auch eine Schwarzbärin beobachten, die zwischen den Zweigen von Büschen und Sträuchern nach Nahrung suchte. Ihre beiden Jungen kletterten auf einen Baumstamm und rutschten an ihm wie auf einer Rutschbahn wieder hinunter, sie schlugen Purzelbäume auf dem Boden und versuchten, ihre Mutter in ihr Spiel einzubeziehen. Vorsichtshalber machten wir uns aber aus dem Staub, denn es gibt nichts gefährlicheres als eine Bärin, die ihre Jungen verteidigt. Auf dem schwankenden Ast eines Baumes bekamen wir eines der herrlichsten Tiere des Waldes zu Gesicht – den Panther! Mit einem gewaltigen Satz sprang die Wildkatze vom Ast herunter und verschwand zwischen den Büschen. Gefährlich für uns wurden vor allem die Schlangen, die zusammengerollt im knietiefen Gebüsch auf Beute lauerten. Und schliesslich hörten wir das lange, durchdringende Heulen der Wölfe, das die Luft des Nadelwaldes erfüllte. Das Geheul galt wohl weniger uns als den anderen Rudeln, denen klargemacht wurde, dass sie sich
fernzuhalten hatten. Der Wald, der uns bisher begleitet hatte, war uns vertraut geworden. Doch nun erzählte uns Talmach, dass der Wald bald einem anderen Land weichen würde, einem Land, in dem Gras wüchse. Grünes Gras. Gras so weit man sehen könne. Büffelgras. Gras für die Wölfe und Coyoten. Gras für die Gabelantilopen. Savannengras. Gras für die Grizzly- und Schwarzbären. Steppengras. Gras für die Bisons. Ich starb fast vor Neugier. Was würde uns in diesem Land erwarten? Nur wenige Cree waren bisher in das Grasland vorgedrungen. Eine bange Frage stellte sich uns: Wie würden uns die Menschen dort empfangen? Nur wenige Begegnungen hatte es bisher zwischen den Skrälingern des Waldes und jenen des Graslandes gegeben. Ich war gespannt auf das erste Treffen mit ihnen. Dann, es war um die Mittagszeit in diesem jungen Sommer, tauchte es in der Sonne vor uns auf, grandios und erhaben und ruhig – das Grasland! Das Herz pochte mit starken Schlägen. Es war wunderschön! Eine wahre Prachtfülle! Das Gebiet schien wie gemalt. Es trug sein Festgewand. Mir war fast feierlich zumute. Gerade jetzt, um die Zeit des Sommeranfangs, stand das Land in voller Blüte. Ich hatte nie mehr ein anderes Land unter der Sonne gesehen, das sich mit diesem vergleichen liesse. Selbst in meinen schönsten Träumen war mir das Land nicht so herrlich und wunderbar erschienen. Hier sah ich die hellgrünen Ahornbäume, hier schimmerte vertraut das Weiss und Silber der Birken, hier kräuselten sich die Pappeln, Espen und Weiden. Das Dunkelgrün der Tannen und Fichten bildete dazu den Kontrast. Ein Meer von Blüten – rot und gelb, weiss und blau, in tausend Schattierungen, fein und zart, aromatisch und wohlriechend. Beerenkräuter, Preiselbeeren, Heidelbeeren. Blumen in Polstern, Lilien, Veilchen. Eine Lust war es, all das Prächtige, das Verborgene, das Blühende zu entdecken. Klare Bäche kreuzten unseren Weg. Die Luft war frisch, und es wehte ein leichter Wind über die Wiesen. Wir ritten im Gänsemarsch dem Assiniboine entlang. Gesprochen wurde fast nichts. Meine Begleiter richteten ihr Augenmerk auf Spuren im Gras. Doch nur vereinzelte Wildfährten trafen mit unserer zusammen. Wir schlugen unser erstes Nachtlager auf der Grasebene auf. Am nächsten Morgen ging es weiter. Wir erreichten das offene Grasland. Wir bekamen eine Wiesenlandschaft zu Gesicht, so erfrischend grün, gelbgrün, blaugrün, mattgrün, tiefgrün, moosgrün, tannengrün, apfelgrün. Land, das aus einem Meer von Gräsern bestand. Gräser, durch die der Wind strich, wogend, wallend, Meereswellen gleich. Meereswellen, die an flache Hügel brandeten, Flut und Ebbe mimend. Der Assiniboine, dem wir folgten, wechselte mehrere Male die Richtung. An seinen Ufern fanden wir saftiges Gras für die Tiere und Holz zum Feuern, geeignete Plätze für unsere Nachtlager. Bockbein, mein weisses Karibu, strotzte vor Kraft und Ausdauer. Oft ritt ich mit geschwellter Brust an der Spitze des Zuges. Als wir den
Assiniboine verlassen hatten, waren auch die Bäume verschwunden. Nie mehr sollte ich in meinem Leben ein grandioseres Land sehen wie dieses, welches sich nun vor uns ausbreitete. Es war ein Land der Sonne, des Windes und des Grases. Grünes Büffelgras bot Nahrung für viele Tiere. Wir bekamen hirschähnliche Gabelböcke, Füchse, Coyoten und die Könige des Graslandes zu Gesicht – die Bisons! Die Bisons! Zur Zeit unserer Geschichte zogen sie in riesigen Herden über die Ebenen, die sich im Norden vom Saskatchewan bis zu den Jagdgründen der Jumano und Concho im Süden und vom Mississippi und Missouri im 19[1] Osten bis zu den Vorbergen der grossen Berge im Westen erstreckten. Niemand hatte sie je gezählt. Aber es waren bestimmt viele Millionen Tiere. Majestätische Tiere! Ein Bisonbulle erreicht fast zwei Meter Schulterhöhe und wiegt um die neunhundert Kilogramm. Da der Büffel im Unterschied zur Antilope schlecht sieht, ist dafür sein Geruchsund Gehörsinn umso besser entwickelt. Die Weite des Landes beflügelte die Phantasie und liess einen mit der Natur eins werden. Die Vorstellungskraft wurde durch die Gleichförmigkeit des Geländes noch angeregt. Es waren heilige Gedanken, die einen erfüllten und die auch das Herz und die Seele mit einschlossen. Ich kam mit mir ins reine. Nichts zwischen Himmel und Erde stand im Wege. Noch stärker als die Tage wirkten die Nächte auf mich. Die Gestirne am Nachthimmel fanden den direkten Zugang in mein Herz und in meine Seele. Mond und Sterne badeten darin wie in einem See. Die Kühle der Nächte brachten aber auch die Erquickung für den Körper. In jenen Nächten kam auch die Sehnsucht wieder, die Sehnsucht nach Shawanung-nizeo. Wo waren ihre Gedanken? Sehnte sie sich auch nach mir? Verzehrende Sehnsucht und wohlige Kühle rauschten ans Ufer der Seele. Wellen des Hoffens fluteten heran und ebbten wieder ab. Wogen des Bangens kreiselten und strudelten im Kopf. In einer jener Nächte schüttete mir Talmach sein Herz aus: „Ich bin von Sorge erfüllt. Ich frage mich, wohin uns der Weg noch führen wird. Was wird uns am Ende des Weges erwarten?“ „Wir haben Sommerwind bei uns“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Sie spricht die Sprache der Stämme im Süden, und sie kennt dort auch den Weg.“ Vier Tage, nachdem wir den Assiniboine verlassen hatten, kamen wir an ein Flüsschen, das an vielen Stellen nur knöcheltief und schlammig war. Das spärliche Gras auf beiden Seiten des Wasserlaufes wies auf einen harten, widerspenstigen Boden hin. Die Tiere verschmähten das welke, verbrannte Gras. Einige kümmerliche Büsche und Stauden wuchsen auf den Sandbänken. Weit und breit war kein Baum zu sehen. Aber wir sahen in dieser kargen und dürren Gegend Antilopen, Coyoten, 19[1]
Rocky Mountains
Schwarzbären und unzählige Hunde. Wir folgten dem schmutzigen Flüsschen, welches in einen sanften Hang überging. Hinter der Kuppe des Hügels fiel eine Klippe steil ab. Darunter lag eine flache Schlucht. Dort war das Gras etwas grüner und saftiger. Wir ritten hinunter. Schon von weitem sahen wir am Fuss der Klippe die Skelette von Bisons. Die Tiere waren über den Rand der Klippe gestürzt. Nun bleichten ihre Knochen im Gras. Wir zählten gegen dreihundert Skelette. Alle Tiere waren abgehäutet und ausgeweidet. Nur noch einige Geier hockten auf den weissen Knochen, die aus dem grünen Gras lugten. Warum hatten diese herrlichen Kreaturen hier ihren Tod gefunden? Jemand musste die Tiere in Panik versetzt und auf die Bergkuppe getrieben haben. Stumm gingen wir zwischen den Skeletten umher. Wir wussten, kein Skrälinger würde einen Bison töten, nur um des Mordens willen. Er tötete, der Nahrung und der Kleidung wegen. Wir wussten auch, dass jedes Stück des Büffels verwertet worden war. Die Jäger hatten die Felle, Hörner, Knochen, Hufe und den grössten Teil des Fleisches in ihr Dorf gebracht, wo die Frauen das Fleisch in Streifen geschnitten und es zum Dörren an Leinen in die Sonne gehängt hatten. Die frischen Bisonhäute hatten sie mit der Fellseite nach unten auf dem Erdboden ausgespannt und mit Holzpflöcken festgeschlagen. Dann hatten sie von der Oberseite Fleisch und Fett abgeschabt. Dazu hatten sie breitklingige Schaber mit Hirschhorngriffen und Abziehklingen aus Stein benutzt. Auf diese Weise hatten sie ihre Winterbekleidung angefertigt. Für die Sommerkleidung 20[2] oder die Bespannung des Tipis hatten sie die Haare auf der Fellseite abgeschabt und die Häute durch Walken, Strecken und Drücken weichgemacht. Nachdem das Leder getrocknet war, wurde es über einem Feuer geräuchert, um es regendicht zu machen. Die Frauen hatten für fast jede Haut eine Verwendung gefunden. Das Rohleder vom Nacken alter Bullen war für Schilde, Gürtel und die Sohlen von Mokassins gebraucht worden. Das dünne Kalbsleder hatte seine Anwendung in Beuteln für Beeren, Ballüberzügen und Tabaksbeuteln gefunden. Aus Rohhautleder hatten die Frauen eine ganze Reihe von Gegenständen angefertigt wie Mokassins, Leggings, Hemden, Lendenschurze, Leichentücher, Traglastgurte, Lassos, Stricke, verschiedene dünne Lederriemen, Wassertröge, Schneeschuhe und Griffe für Fleischklopfer. Aber nicht nur Häute waren verarbeitet worden. Aus Horn hatten die Frauen Ringe, Schöpflöffel, Becher und Federglätter hergestellt; aus Knochen hatten sie Würfel, Pfeilspitzen, Messer, Nähnadeln und Hautschaber geschnitzt, aus Rippen Eisschlitten-Kufen; 20[2]
Zelt der Grasland-Skrälinger. Über ein Gestell aus langen Stangen wurde eine Plane gedeckt, die nach einem wohldurchdachten Entwurf aus Bisonhäuten genäht war. Ein Tipi konnte bis zu 4,50 Meter hoch sein. Es liess sich leicht aufbauen und im Notfall sehr schnell wieder abbauen.
aus Haaren hatten sie Ballfüllungen geknetet; Bisonschädel hatten sie zu einem Sonnentanz-Altar aufgeschichtet; aus den Sehnen der Bullen hatten sie Befestigungen für Pfeilspitzen, Bogensehnen und Nähfaden gearbeitet, und selbst aus den Mägen der Büffel hatten sie Kochtöpfe und Wassereimer verfertigt. Aus den Schulterblättern der Bisons hatten die Frauen Hacken, aus den Zungen Haarbürsten und aus den Schwänzen Fliegenklatschen gefertigt. Eines Tages – wir hatten die Bisonklippe verlassen und durchquerten noch immer das endlose Grasland – stiessen wir auf eine breite Spur, welche Bisons zurückgelassen hatten. Wir folgten dieser „Heerstrasse“. Talmach meinte, dass uns nur noch wenige Stunden von der Bisonherde trennen würden und dass wir sie bald zu Gesicht bekämen. Als wir einen grossen Fluss erreichten, den die Skrälinger Missouri nennen sollten, sichteten wir sie endlich – die Bisonherde! Ich hatte schon einige Büffel gesehen, aber noch nie eine so grosse Herde. Hunderttausende von Tieren zogen hier auf ihrer Wanderung durch das Grasland. Die Herde erstreckte sich bis über den Horizont des Wiesenlandes, welches uns aus der Ferne schwarz schien. Wir wollten uns eine Wegzehrung holen. Aus diesem Grunde beschlossen wir, eines der Tiere zu erlegen. Der Bison sieht schlecht und ist nicht sonderlich intelligent. Wir glaubten deshalb, leichte Beute zu machen. Wir sollten uns aber bitter täuschen. Der Wind stand günstig. Er wehte uns entgegen. Wir untersuchten unsere Waffen und trieben die Ponys an. Als Talmach sah, dass Bruder Ethelwulf, Bruder Ethelstan und Bruder Ethelred unserem Beispiel folgten, zügelte er sein Tier und fragte sie: „Wollt ihr euch an der Jagd beteiligen?“ „Natürlich“, war die Antwort von Bruder Ethelstan. „Es ist besser, ihr bleibt zurück.“ „Warum?“ fragte Bruder Ethelwulf. „Es ist gefährlich, in die Nähe der Bisons zu kommen.“ Bruder Ethelwulf spielte den Beleidigten und warf sich in die Brust: „Talmach, glaubst du, wir fürchten uns vor dieser Kuhherde?“ Bruder Ethelwulf zupfte beleidigt an seinem Hundsfellkragen, liess sich von Bruder Ethelstan das Schwert geben und pikste in die Luft. Bruder Ethelred fuchtelte mit einem roten Tuch herum. Mir wurde angst und bange. Was hatten sie vor? Wollten die drei einen Stierkampf veranstalten? „Es wird nicht zum Kampf mit den Bisons kommen“, sagte der Cree zu mir, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie werden nur den Staub schlucken. Mein Bruder mag mir folgen, wir werden vorausreiten.“ Das war Talmach. Er liess sich von Menschen nicht so schnell beeindrucken. Er war sich seiner Sache sicher. Ich bewunderte seine Entschlossenheit und seine Haltung. Noch nie hatte ich diesen Gleichmut bei einem Menschen wahrgenommen. Erst heute beginne ich
zu begreifen: Die Skrälinger besassen ein Wissen, das uns unbekannt war. Sie wussten, dass die Erde nicht dem Menschen gehört. Sie wussten, dass alle Dinge miteinander verwoben sind. Sie wussten, dass der Mensch nicht das Netz des Lebens gewoben hat. Sie wussten, dass er nur ein Faden ist, aus dem das Netz des Lebens geknüpft ist. Die Bisons trotteten in südlicher Richtung davon. Dieser grosse, braune und langsam dahinziehende Strom von Büffeln überwältigte mich. Ich konnte den Blick nicht mehr abwenden. Dem Cree und mir gelang es, ziemlich nahe an die letzten Tiere der Herde heranzukommen. Alte Bullen, Kühe und Kälber zogen Seite an Seite durch das Gras. Wir ordneten uns schweigend in dem Zug ein. Nur das dumpfe Stampfen der Hufe war zu hören. Ich spannte meinen Bogen. Der Büffel hat ein ausgesprochen gutes Gehör. Das leiseste Knacken 21[3] hätte eine Stampede auslösen können. Wir holten die Herde ein. Die letzten Büffel waren nur noch wenige Schritte von uns entfernt. Wir begannen, einige junge Bisonkühe von den anderen Tieren auszusondern. Noch roch die Herde den Braten nicht. Bockbein, mein Karibu, zeigte keine Furcht. Es verhielt sich vorbildlich. Ich blickte zu Talmach hinüber. Er befand sich auf gleicher Höhe wie ich. Er gab mir zu verstehen, dass die Jagd beginnen konnte, und er wollte gerade seinen Bogen spannen, als einige Tiere vor uns unruhig wurden. Den Grund dafür bekamen wir auch sofort zu Gesicht. Es waren die drei Mönche, die einen Bogen um uns geschlagen hatten und jetzt von der Seite auf die Herde zugaloppierten. Bruder Ethelwulf hatte zwei Ponylängen Vorsprung. Verzweifelt hielt er sich mit einer Hand auf dem Rücken seines Tieres fest. Mit der anderen Hand fuchtelte er mit seinem Schwert in der Luft herum. Dahinter folgten Bruder Ethelstan und Bruder Ethelred. Auch sie gestikulierten wie wild. Sie würden eine Panik unter den Büffeln auslösen! Einige der zottigen Tiere an der Flanke stemmten ihre Vorderbeine in den Boden und senkten ihre gewölbten Schädel. Es war eine Drohgebärde. Sie führte deutlich vor Augen, dass sie im schlimmsten Fall bereit waren, die Angreifer mit den zwar kurzen, aber starken und aufwärts gekrümmten Hörnern aufzuspiessen. Bruder Ethelwulf hatte Glück: Sein Pony machte vor der Barriere eine elegante Kurbette und jagte im gestreckten Galopp zurück. Das Tier von Bruder Ethelstan war weniger geistesgegenwärtig. Es schwebte mit allen vier Füssen in der Luft direkt auf die Hörner zu. Bruder Ethelstan senkte im letzten Augenblick seine Lanze und stiess einem alten Bullen die Eisenspitze in den hohen Widerrist. Dabei wurde er wie ein Stabhochspringer in die Höhe katapultiert. Hinter den Büffelrücken landete er unsanft auf dem harten Grasboden. Durch den Stoss warf der alte Bulle den Kopf brüllend nach hinten, und das Pony prallte an der 21[3]
Wilde Flucht einer in Panik geratenen Herde
dichten, zottigen Mähne um Hals und Brust ab. Es blieb dadurch unverletzt. Mit Entsetzen hatte ich die Jagdszene verfolgt. Bruder Ethelstan lag bewegungslos hinter den Büffeln auf dem Boden. Die Bisons stierten noch immer mit gesenkten Schädeln auf die Angreifer. Ich musste zu dem buckligen Mönch hinüber. Einige Büffel versperrten mir den Weg. Ich musste mit Bedacht vorgehen. Es durfte keine Panik unter den Tieren ausbrechen! Aufgeschreckte Bisons konnten Bruder Ethelstan zu Tode trampeln. Ich lenkte also meinen Polarhirsch zwischen den Tieren hindurch, die unruhig geworden waren und mit den Hörnern um sich stiessen. Endlich erreichte ich die Stelle, wo der Mönch lag. Ich sah sofort, dass er ohne Bewusstsein war. Keine fünf Schritte neben ihm wälzte sich der verletzte Bulle auf der Erde. Er wollte die Lanze abstreifen, die immer noch in seinem Widerrist steckte. Die Situation war bedrohlich. Jeden Augenblick konnte uns der Bulle angreifen. Und tatsächlich! Als ich aus dem Sattel stieg, hörte er mich. Er wendete sich nach mir um. Mit einer Gewandtheit, die ich dem Bullen nicht zugetraut hätte, sprang er auf die Beine. Die Lanze hatte ihn an einer schmerzlichen Stelle getroffen, aber er war nicht ernstlich verletzt. Er war gereizt, und er fühlte sich in die Enge getrieben. Das machte ihn äusserst gefährlich. Es blieb mir gerade noch soviel Zeit, Bruder Ethelstan auf den Rücken meines Karibus zu legen. Dann blickte ich mit Herzklopfen zu dem Bison hinüber. Dieser ausgewachsene Bulle mit fast zwei Metern Schulterhöhe erschreckte mich zu Tode. Er senkte gerade seinen Kopf und setzte zum Angriff auf mich an. In den Sattel kam ich nicht mehr. Schon preschte der zottige Koloss mit der breiten Stirn heran. Den Ruf von Talmach hörte ich nicht mehr. Ich schnellte zur Seite. Doch es war schon zu spät. Ein Horn des Bisons fuhr mir in die Schulter, und mehrere Zentner Büffelfleisch begruben mich unter sich. Es wurde Nacht um mich . . .
Menschen und Tiere drängen sich in Haithabu durch eine enge Strasse; ein Brettersteg verhindert, dass die Passanten in der von der Frühjahrsschmelze aufgeweichten Erde versinken.
12. Kapitel
Bei den Mandan am Missouri
Wie es Gott gefiel, dass mich die Freunde zu den Mandan am Missouri brachten.
A
ls ich wieder zu mir kam, hörte ich Wasser rauschen. Ich musste
an einem Fluss liegen. Nebelschwaden stiegen vom Wasser auf. Wo waren die Bisons? Schattenhaft kamen die Erinnerungen zurück. Leise Stimmen drangen durch den Nebel. Waren die Bisons weitergezogen? Ein Schatten beugte sich über mich: Es war Talmach. „Mein Bruder“, hörte ich ihn sagen. Das Wasser schwemmte mich vom Ufer weg. Ich tauchte ein in einen Wildbach. Ein Strudel riss mich auf den Grund. Ich klammerte mich an einen Baumstrunk, kam wieder hoch. Es gurgelte, gluckste und plätscherte an meinem Kopf, in meinem Kopf. Ich begann mich zu drehen und zu drehen und driftete wieder auf den Grund des Baches. Das Wasser pulste durch meinen Mund, die Nase, die Lunge, ich würgte, würgte nach Luft, prustete, drohte zu ersticken, drehte mich einige Male um die eigene Achse, prustete, würgte, erstickte. Eine Drift wirbelte mich nach oben. Ich begann wieder zu atmen. Die Strömung trug mich weiter. Links und rechts stiess ich an die Felsen. Die Schulter schmerzte höllisch. Ich klammerte mich noch immer an den Baumstrunk. Die Höllenfahrt den Wildbach hinunter nahm kein Ende. Einige Male wurde ich zwischen den Felsen und dem Strunk eingeklemmt. Dann rauschte das Wasser über mich hinweg. Als ich das zweite Mal erwachte, wurde ich hin und her bewegt. Über mir wölbte sich ein blauer Himmel. Ich hörte das Stampfen und Schnauben von Ponys. Man hatte mich auf ein Travois gebunden, das von einem Pony gezogen wurde. Die Stangen, die über den Grasboden schleiften, verursachten das leise Rütteln. Die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich hatte Durst. Ich wollte rufen, brachte aber nur ein klägliches Röcheln über die Lippen. Was war mit mir geschehen? Die Erinnerung wurde wieder wach. Ich sah die Bisons. Ich sah den alten Bullen auf mich stürzen. Warum war ich angebunden. Wie stand es um mich? Meine Brust schmerzte, auch die Schulter, sie brannte höllisch, brannte wie Feuer. Und dann dieser Durst. Über mir tauchte der Kopf eines Mädchens auf. Es war Sommerwind. Das Pony wurde angehalten. Shawanung-nizeo trat an das Travois. Sie träufelte mir eine Flüssigkeit in den Mund. Danach brachte ich einige Worte über die Lippen. Ich hätte lange geschlafen, sagte die Toltekin. Das Horn des Bullen hätte in meiner Schulter eine hässliche Wunde hinterlassen. Auch hätte ich einige Rippen gebrochen. Wir seien dem Missouri entlang
geritten. Dort hoffte man ein Skrälingerdorf zu finden. Das Pony zog wieder an. Es ging weiter. Der Schmerz marterte mich. Über den gebrochenen Rippen verfärbte sich die Haut und schwellte auf. Der Brustkorb bereitete mir dermassen Schmerzen, als stochere jemand darin herum. Ich stand mit einem Fuss im Grab. Sommerwind hatte mir am Missouri die Wunde ausgewaschen. Sie hatte aber keine Kräuter gefunden, die sie mir hätte auf die Wunde legen können. Das Wundfieber begann langsam um sich zu greifen. So gut es ging, kühlte sie mir während des Rittes die Wunde und die geschwollene Brust mit Wasser. Man kann sich leicht denken, in welcher Gemütsverfassung ich mich befand. Ich war in der Weite des Graslandes versunken. Fragen um Fragen quälten mich: Warum hatte mich der Allmächtige in diese Wildnis geschickt? Allein meine Freunde machten mir etwas Mut. Der zweite Tag nach dem Unfall ist mir nur dunkel in Erinnerung geblieben. Mein körperlicher Zustand hatte sich nämlich verschlechtert. Meine Schulter brannte entsetzlich. Ich war in Schweiss gebadet. Mein ganzer Körper glühte. Fürchterliche Träume jagten mich über das Grasland. Ich kämpfte mit Bisons, Grizzlybären und Skrälingern. Ganze Horden fielen über mich her. Ich floh in alle Himmelsrichtungen. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. In Wirklichkeit war es das Wundfieber, mit dem ich kämpfte. Das Horn des Büffels hatte meine Wunde vergiftet. Sie war brandrot aufgeschwollen bis in den Oberarm und den Halsansatz. Es war höchste Zeit, das Gift aus der Wunde zu ziehen. Es war höchste Zeit, einige heilende Kräuter auf die Wunde zu legen. Heftiges Fieber trachtete mir nach dem Leben; ich war bereits vom Tod gezeichnet. Sommerwind litt mit mir. Sie wich nicht mehr von meiner Seite. Der Verband musste erneuert und geronnenes Blut und Wundeiter entfernt werden. Auch Bruder Ethelwulf, Bruder Ethelstan und Bruder Ethelred kümmerten sich in rührender Weise um mich. Sie hatten natürlich erfahren, dass ich mein Leben für sie eingesetzt hatte. Wir mussten noch einen ganzen Tag reiten, bis wir endlich ein Dorf der Mandan am Missouri erreichten. Ich wurde in eine der Erdhütten gebracht. Diese lagen über einem Steilufer. Ich wurde auf ein Bärenfell gebettet. War es meine Bestimmung, hier am Missouri mein frühes Grab zu finden? Sollte mich der Tod aus dieser Hütte heimholen? Würde ich meine Seele im Grasland aushauchen? Alles schien entschieden: Das Gesicht verkrampfte sich zu einem Grinsen. Der Nacken verrenkte sich. Der Rücken erstarrte. Die Kehle wurde mir zugeschnürt. Ich begann langsam zu ersticken. Drei Tage lag ich wie ein Brett auf dem Bärenfell. Dann lösten sich Muskelstarre und Starrkrampf. Ich konnte mich endlich wieder aufrichten – ich war dem Tod von der Schippe gehopst! Als ich erwachte, krümmte sich mir eine unsägliche Geiernase entgegen, eine kahle Froschphysiognomie backte mich an, und darunter buckelte ein
Hasenschlappohrengesicht. Es waren die drei Mönche. Sie freuten sich wie Kinder, dass ich von den Toten auferstanden war. Bruder Ethelred drückte mir das kalte Eisen seines Kruzifix' auf Stirn und Wange, berieselte mich mit Weihwasser, einem Paternoster und einigen Ave Marias. Bruder Ethelwulf fächelte mit einem Tuch vor meiner Nase. Bruder Ethelstan akklamierte ein Halleluja nach dem anderen. Doch nun überkam mich eine bleierne Müdigkeit. Ich wollte nur noch schlafen. Die Genesung begann mich zu umschlummern. Der Sommer zog ins Land, und ich schlief.
Ein arabischer Sklavenhändler befindet sich mit einem Häuflein Unglückseliger, darunter auch ein junges Mädchen und ein Mönch, in Haithabu. Um diese Zeit steigt die Einwohnerzahl von etwa tausend sprunghaft an, weil vielleicht doppelt so viele Händler auf dem See- und Landweg herbeiströmen, um in Haithabu Handel zu treiben und Geschäfte zu machen.
13. Kapitel
Heilung
Wie es Gott gefiel, dass ich nach dem Wundfieber begann, meine nähere Umgebung wieder wahrzunehmen.
D
ie Hütte, in der ich meine Verletzungen ausheilte, war geräumig,
hell und sauber. Durch eine Öffnung im Dach fiel ein Lichtkegel ins Innere. Der Raum war angefüllt mit verschiedenen Kleidungsstücken, allerlei Gerätschaften und Waffen, welche mir vertraut geworden waren. Noch heute stehen mir diese Utensilien klar vor Augen: das Bandelier aus Lehmröhrchen und mit dem Nerzfell, die perlen- und borstenverzierten Mokassins, welche innen mit feinem Leder ausgeschlagen und aussen mit Troddeln aus Antilopenhaar behängt waren, der Lendenschurz, die Kniebänder mit den bunten Fransen, der Fächer aus den Schwungfedern eines Adlers, mit einem Behang aus Fischotterpelz, das enge Halsband aus Muschelschalen und Röhrenknochen, das Paar Armreifen mit dem eingeritzten Bärenmotiv, die sternförmige Halstuchbrosche, der Kopfputz in Form einer „Haartolle“ aus Hirsch- und Stachelschweinhaar, die Kriegshaube aus Adlerfedern mit der langen Schleppe, von der Art, wie sie beim Reiten getragen wurde, der Kopfschmuck aus Bisonhörnern, das Kopfband aus Fischotterfell, das Halsband aus Bärenkrallen, die farbigen Beutel aus Schildkrötenhaut, das mit Otterfell und Hermelinstreifen besetzte Kampfhemd, das bemalte Wildlederhemd mit den menschlichen Haarbüscheln, die weissgegerbte Bisonrobe, die Federturnüre für den Geistertanz, die Medizinbeutel, die Wildledertaschen, die mit Wollfäden, Bändern und Antilopenhaar verzierte Häuptlingspfeife, der Pfeifenreiniger mit der bunten Quaste, der Zeremonialstab aus Ebenholz in der Art eines Bogenstabes, mit Fischotterfell und Perlstickereien und dem schlauchförmigen Futteral, die Kalebassenrassel mit dem perlenbesetzten Griff, der Steinhammer zum Aufbrechen von Knochen und zum Zerquetschen wilder Pflaumen, der Fellschaber und das Querbeil mit dem Knochenschaft, die Reitpeitsche, die Trommel, die Holzschale zum Mischen von heiligem Tabak, die mit Stachelschweinborsten verzierten Täschchen, welche Feuersteine, Zunder und Wetzsteine zum Feuermachen enthielten, die Harke aus Eschenholz und mit den Geweihsprossen, die Hacke mit dem Ulmenholzgriff und dem Blatt eines Bisons, der Frauensattel, die Schachtel aus bemaltem Rohleder zur Aufbewahrung von Kleidern und anderen Sachen, der Frauentragkorb aus Weiden- und Holunderrinde, um geernteten Mais, Kürbisse und Bohnen zu transportieren, die
Lehmgefässe auf den kreisförmigen Untersätzen aus Weidenzweigen, die als Wasserbehälter und zum Kochen verwendet wurden, die Schöpflöffel aus dem Horn der Bergschafe, die Paddel jener Bullboote, die aus schirmartigen Holzgestellen und darübergespannten Büffelhäuten bestanden und die zum Übersetzen über den Missouri benutzt wurden, die Speere, die Streitkolben, die Bogen mit den Pfeilköchern, die Brustschilde aus Röhrenknochen und der Tomahawk, dessen Schaft mit Otterfell überzogen und mit einem Behang aus Adlerfedern geschmückt war.
An einem Sommertag liegen in Snaefellsnes, Island, zwei ozeantüchtige Knorre bei Ebbe am Strand, während ihre Besatzungen sie für die am nächsten Morgen bevorstehende Grönlandfahrt rüsten. Auf diesem Schiff wird der Mast mit Hilfe eines Vorstags in seiner Mastspur aufgerichtet.
14. Kapitel
Sonnentanz
Wie es Gott gefiel, dass die Mandan die Sonne anbeteten, was Bruder Ethelred sehr missfiel, und dass ich Sommerwind verführte.
A
ls ich mich zum ersten Mal vom Krankenlager erheben konnte,
war es bereits Anfang August. Ich kann mich gut erinnern: Es war ein wunderschöner Tag. Der Missouri gleisste in der Sonne. Ein blauer Himmel wölbte sich über dem Dorf. Talmach, Edmund und Sommerwind halfen mir beim Aufstehen. Wir traten vor die Hütte. Wir gingen zum Corral hinüber. Eines der Tiere hob den Kopf. Es war Bockbein. Der weisse Polarhirsch erkannte mich. Er trabte heran und rieb seinen Kopf an mir. Tränen der Freude kullerten mir über die Wangen. Freundliche Menschen kamen von den Hütten zum Corral herüber. Es waren die Bewohner des Dorfes. Sie waren vom Stamm der Mandan. Das Dorf mochte ungefähr hundert Erdhütten umfassen. Es lag über einem Steilufer. Die halbkugeligen Hütten waren solid gebaut. Starke Pfostengerüste trugen Dachsparren, die zugleich Dach und Wand bildeten. Darüber waren Lagen von Zweigen, Grasplatten und Erde gedeckt. Meine Genesung schritt schnell voran. Mit jedem Tag schöpfte ich neue Kräfte. Talmach berichtete mir, dass wir vor über sechs Wochen in dieses Dorf gekommen waren. Die Wikinger waren die ganze Zeit am Missouri geblieben und waren mit den Mandan auf die Jagd gegangen. Nie hatte ich treuere Freunde gehabt. Auch Bruder Ethelwulf, Bruder Ethelstan und Bruder Ethelred waren im Dorf geblieben. Sie hatten mich jeden Tag in meiner Unterkunft besucht. Trotz ihrer schrulligen Art hatte ich Gefallen an ihnen gefunden. Mit jedem Tag waren sie mir mehr ans Herz gewachsen. Als sie einmal mit auf die Jagd gegangen waren, hatte ich sie schon vermisst. Zufrieden beobachtete Sommerwind meinen zunehmenden Hunger. Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass mir die Kochkunst der Mandan zusagte. Und es gab reichlich Nahrung. Ich futterte täglich drei Mahlzeiten. Die Frauen verkochten das Bisonfleisch meist zu Eintopf, wobei sie eine raffinierte Kochmethode verwendeten. Sie banden einen Bisonmagen oder ein entsprechend grosses Hautstück an vier Stangen und füllten diesen Beutel mit Wasser, Fleisch und Gemüse, wie wilden Erbsen, Rüben, Mais und Bohnen. Um das Wasser zum Kochen zu bringen, warfen sie erhitzte Steine in den Beutel. Für Abwechslung auf der Speisekarte war gesorgt, indem die Mandan Wapitis, Hirsche, Antilopen, Wachteln und Kaninchen jagten. Auch fingen sie mit Speeren und Netzen Fische im Missouri. Als Nachspeise
gab es Melonen, Kürbisse, Wolfsmilchknospen, Hagebutten und wildwachsende Früchte wie Dattelpflaumen und Wildkirschen. Der August bräunte sich in der Sonne. Ich tappte unten am Fluss umher. Bockbein war bei mir. Oberhalb der Tallehne entdeckte ich Bruder Ethelred. Schwerfällig kletterte er zu mir herunter. Was führte ihn hierher? Wo waren Bruder Ethelwulf und Bruder Ethelstan? Er schien irgendwie zerstreut. Ich begrüsste ihn. „Du kannst dir nicht vorstellen, Patrick, was heute morgen vorgefallen ist“, rief er mir schon von weitem zu, schwer atmend, weil er erschöpft von dem kurzen Abstieg war. „Ist etwas mit Bruder Ethelwulf und Bruder Ethelstan?“ fragte ich besorgt. „Das kann man wohl sagen!“ sagte Bruder Ethelred und schnitt dabei ein bizarres Gesicht. „Stell dir vor, Patrick, Bruder Ethelwulf hat es sich in den Kopf gesetzt, mit den Skrälingern den Sonnentanz zu tanzen.“ „Den Sonnentanz?“ fragte ich, nichts Böses ahnend. „Ein Christenmensch will zusammen mit den Heiden den Sonnentanz tanzen! Unmöglich!“ Ich musste mir das Lachen verbeissen. „Wieso?“ „Wieso wieso?“ „Wieso findest du das unmöglich, Bruder Ethelred?“ „Stell dir vor, Patrick, diese Menschen beten die Sonne an!“ „Ich verstehe dich nicht, Bruder Ethelred.“ „Das ist doch nicht schwer zu verstehen. Wie sollen wir diese Menschen zu unserem Glauben bekehren, wie sollen wir ihre Seelen retten, wenn sie die Sonne anbeten?“ „Du musst das verstehen, Bruder Ethelred: Die Mandan verehren diese Erde. Sie ist ihnen heilig. Sie nennen sie ihre Mutter Erde. Sie beschwören den Regen, den Blitz, den Donner und eben auch die Sonne. Sie erhoffen sich dadurch eine gute Jagd oder eine gute Ernte. Sie sind wie Kinder. Sie sind dankbar für alles, was ihnen die Natur gibt. Wenn sie die Sonne beschwören, dann wollen sie nichts Böses.“ „Wie kannst du so sprechen, Patrick? Du scheinst ganz und gar von Gott verlassen! Diese Menschen leben in Sünde, und du sagst, ich müsse das verstehen. Niemals! Wie sollen wir die Herrschaft über sie gewinnen, wie kann sich unser Glauben durchsetzen, wenn wir es dulden, dass sie die Sonne anbeten?“ Ich kannte Bruder Ethelred. Er war ein Eiferer. Ihm war der christliche Glaube heilig. Im Grunde war er ein gutmütiger Kerl. Aber manchmal konnte er einem mit seiner Besessenheit ganz schön lästig werden. Grossmut war nicht seine Stärke. Zudem war ich es müde, in diesen Streitgesprächen immer auf der Stelle zu treten. Ich schweifte also ab und sprach von der bevorstehenden Weiterreise.
Ins Dorf zurückgekehrt, suchte ich Bruder Ethelwulf auf. Und tatsächlich: Bruder Ethelwulf und Bruder Ethelstan hielten sich in der Hütte mit dem Sonnenpfahl auf, die eigens für das O-kee-pa errichtet worden war. Die Vorbereitungen für das Fest waren bereits in vollem Gange. Mit Händen und Füssen unterhielten sich die beiden Mönche mit den Tänzern, die ihnen Ratschläge erteilten, wie die Farbe auf der Haut aufzutragen sei. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Ohne Zweifel: Bruder Ethelwulf und Bruder Ethelstan schickten sich an, ihre Körper zu bemalen. „Ah, Patrick!“ begrüsste mich Bruder Ethelwulf, als er mich sah. „Hast du schon davon gehört, dass hier ein Sonnentanz stattfinden soll?“ „Bruder Ethelred hat es mir mitgeteilt“, antwortete ich, Ahnungslosigkeit vortäuschend. „Bruder Ethelred ist durchaus dagegen, dass wir mittun. Doch wir lassen uns den Spass nicht verderben.“ „Aber für die Mandan ist es kein Spass“, gab ich zu bedenken. „Das Okee-pa ist eine festliche Zeremonie, bei der sie die Wassergeister versöhnen wollen.“ „Du verkennst diese Skrälinger, Patrick. Sie verstehen es, ein Fest zu machen. Zudem lassen sie uns mittun. Zum Kuckuck mit Bruder Ethelred! Er versteht keinen Spass und will uns diesen auch noch vergällen. Aber ich will unbedingt dabeisein. Man kann schliesslich nicht jeden Tag Regen und Sonne herbeitanzen. Du hast richtig gehört, Patrick. Die Sache ist aussergewöhnlich. Die Skrälinger schwören auf den Sonnentanz. Sie sagen, dass sie abwechselnd Sonne und Regen herbeizaubern können. Erstaunlich, nicht? Wir mussten auch noch die Kostümierung durchsprechen. Jetzt ist die Sache klar: Ich bin ein Schlangengeist, Bruder Ethelstan ein Biber . . . „ Am Nachmittag schlugen die Mandan die Trommeln. Dumpfer Hall schwängerte dabei die Luft. Jetzt wusste ich: Der Sonnentanz hatte begonnen. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Die Bisons begannen zu tanzen, die Mutter Erde stimmte Gesänge an, und das Leben lachte. Ich sah einen Schlangengeist, welcher wie der Lumpen am Stecken zu den Trommeln und Gesängen hin und her zockelte. Auch ein Biber buckelte über den Platz. Der ganze Stamm war in Aufruhr. Talmach und ich bahnten uns einen Weg durch die Menge. Die Mandan begegneten uns freundlich und respektvoll. Sie hatten eigens für den Sonnentanz eine Hütte errichtet. Diese war nach Osten offen. Wir traten ein. In der Mitte stand ein gegabelter Pfosten. In dieser Gabel sah ich eine Bisonhaut und ein Bündel Zweige – das Nest des Donnervogels. Auch der Heilige Mann des Stammes befand sich in der Hütte. Er begrüsste uns und forderte uns auf, an seiner Seite Platz zu nehmen. Kurz vor Sonnenuntergang traten drei junge Krieger in den Tanzkreis. Mit einem Schlag verstummte das fröhliche Lachen. Die Gesichter
wurden ernst. Was bahnte sich hier an? Ich hatte davon gehört, dass sich junge Krieger während des O-kee-pa schweren Prüfungen unterziehen würden. Mir wurde angst und bange um die drei. „Der Körper eines Mannes gehört ihm allein, und wenn er seinen Körper gibt, gibt er das einzige, was ihm wirklich gehört“, erklärte uns der Heilige Mann. Meine Ahnung war also richtig: Die drei jungen Krieger wollten ihre Körper den Geistern opfern. Die Kasteiungen sollten den qualvollen Höhepunkt des Festes bilden. Im Rhythmus der Trommeln begannen sie um den Sonnenpfahl zu tanzen. Ich verliess die Hütte. Ich wollte allein sein. Ich ging zum Corral hinüber, um nach Bockbein zu sehen. Das Karibu brachte mich auf andere Gedanken. Später stiess auch der Cree zu mir. Als der Mond aufgegangen war, ritten wir zum Fluss hinunter. Aus der Ferne hörten wir die Trommeln. Sie würden die ganze Nacht über den Missouri hallen. Er zog gemächlich an uns vorüber und kümmerte sich nicht um die Trommeln. Talmach brach das Schweigen: „Was bedrückt meinen Bruder?“ „Ich frage mich, wer diese Opfer von den drei jungen Mandan fordert“, sagte ich. „Die jungen Krieger hatten im Traum den Befehl erhalten, beim O-keepa zu tanzen“, sagte der Cree. „Kein Krieger würde sich zwingen lassen. Sie haben das Gelübde aus freiem Willen abgelegt. Sie bringen das Opfer für den Stamm, sie leiden für den Stamm. Ihr Opfer bringt dem Stamm Gesundheit, Fruchtbarkeit und Nahrung. Die Welt wird durch den Sonnentanz erneuert. Die Harmonien werden wiederhergestellt. Die übernatürlichen Kräfte leben wieder auf.“ Talmach und ich ritten in jener Nacht viele Kilometer flussabwärts. Gegen Mitternacht kamen wir in eine bewaldete Gegend. Es gab hier Wild: Wir sahen im Mondschein viele Wapitis, Hirsche und Antilopen. Da wir für die Weiterreise Proviant benötigten, entschlossen wir uns, im Morgengrauen auf die Jagd zu gehen. Gegen Mittag kehrten wir in das Dorf der Mandan zurück. Noch immer dröhnten die Trommeln über den Missouri. Das O-kee-pa war also noch nicht zu seinem Ende gekommen. Ich ritt mit Talmach zu der Hütte hinüber, die für den Sonnentanz errichtet worden war. Bange blickte ich ins Innere. Dort sah ich die drei jungen Krieger. Sie baumelten an Seilen, welche oben am Sonnenpfahl befestigt waren. Sie schienen bewusstlos zu sein. Der Heilige Mann hatte ihnen auf beiden Seiten der Brust Löcher durch die Haut und ins Fleisch geschnitten. Durch diese Löcher hatte er Holzpflöcke gestossen, und daran waren die langen Lederriemen festgebunden, an denen die Gemarterten baumelten. An ihren Beinen hingen schwere Bisonschädel. Wie lange mochten sie schon da oben hängen? Es war ein grausiger Anblick. Mir drehte sich
der Magen um. Endlich, der Heilige Mann trat zu den Gemarterten. Er schnitt sie vom Pfahl ab. Sie kugelten auf die Erde, wälzten sich dort. Nach einiger Zeit hatten sie ihr Bewusstsein wiedererlangt. Dass die Qualen nun ein Ende finden würden, das hoffte ich. Doch die Hoffnung wurde enttäuscht. Im Dämmerlicht der Hütte sah ich eine Maske. Wie von magischen Kräften getrieben, schleppten sich die jungen Krieger zu dieser Maske hinüber. Dann sah ich im Lichtkegel der Dachöffnung ein Messer aufblitzen. Erstickte Schreie der Gequälten drangen nach draussen. Was war geschehen? Talmach klärte mich auf: Ein Maskierter hätte ihnen einen Finger abgehackt. Mich schauderte. O-kee-pa schlugen die Trommeln. Fand denn dieser Wahnsinn kein Ende! Die verstümmelten jungen Krieger verliessen die Hütte. Der Sonnenpfahl blitzte in der Mittagssonne. O-kee-pa! O-kee-pa! Sie mussten noch eine letzte Prüfung, eine letzte Mutprobe hinter sich bringen. Der ganze Stamm hatte sich versammelt. Die Verstümmelten quälten sich in eine kreisförmige Arena. Zwei von ihnen brachen zusammen. Sie wurden über den Boden geschleift. Die Riemen, an denen noch die Bisonschädel hingen, rissen das Fleisch aus ihren Beinen. O-kee-pa! Okee-pa! O-kee-pa! Wann fand dieses grausame Ritual sein Ende! Noch schlugen die Trommeln. Noch säumten die Zuschauer den Platz. Wer konnte die Schmerzen am besten ertragen? Ich begann zu begreifen: Dieser qualvolle Höhepunkt spiegelte das qualvolle Leben der Mandan. Schmerzen gehörten zu ihrem Leben. Welcher dieser jungen Männer würde seine Schmerzen am tapfersten ertragen können. Er würde ihr zukünftiger Stammesführer werden. O-kee-pa! O-kee-pa! O-kee-pa! Okee-pa!
M
itte August verliessen wir das Dorf der Mandan. Schon bald
lagen sich Bruder Ethelstan und Halldor der Bärentöter in den Haaren. Ihre Ansichten darüber, wie unsere Marschordnung einzurichten sei, waren zu verschieden. Sowohl der Wikinger als auch der Angelsachse machten nämlich ihr Recht geltend, an der Spitze reiten zu dürfen. „Was redest du da für dummes Zeug, Angelsachse“, hörte ich Halldor schimpfen. „Willst du es mit mir unbedingt verderben? Zu einem Pfadfinder gehört mehr, als wie eine traurige Gestalt durch die Gegend zu reiten. Du als Führer würdest bei der nächsten Gelegenheit unweigerlich vom Weg abkommen.“ „Was erlaubst du dir, Halldor!“ bot Bruder Ethelstan Paroli. „Ich habe den Weg von Wessex zum Kloster Iona gefunden. Es wird für mich ein leichtes sein, das Land der Tolteken zu finden.“
„Ich traue dir zu, dass du die Spur einer Bisonherde findest. Auf keinen Fall aber wirst du uns zum Stamm von Sommerwind führen.“ Das Gezänk zwischen den beiden zog sich den ganzen Vormittag hin. Unterdessen führten uns Talmach und Aivik den Missouri hinauf. Den Häuptling und den Eskimo sah ich oft zusammen. Der Grönländer fühlte sich stärker zu den Skrälingern hingezogen als zu den Wikingern. Nordwestlich des Dorfes der Mandan öffnete sich uns eine parkähnliche Landschaft. Es gab hier Rudel von Gabelböcken. Nach dem langen Aufenthalt bei den Mandan war ich froh, endlich wieder auf meinem Karibu zu sitzen. Wir kamen nun in Gebiete, die nie zuvor ein Weisser gesehen hatte. Aber es gab zwei unter uns, die keine Augen dafür hatten. „Bilde dir nichts ein, Angelsachse, nur weil du diese Gabelböcke erkannt hast“, hörte ich Halldor mit Bruder Ethelstan zanken. „Eisbären sind hier nämlich nicht zu finden, das kannst du mir glauben. Hast du überhaupt schon einen Eisbären gesehen?“ „Wir haben auf unserer langen Reise von der Tundra bis hierher keinen einzigen Eisbären gesehen. Eisbären scheint es nur in deiner regen Phantasie zu geben, mein lieber Bärentöter.“ „Was redest du da für dummes Zeug, Angelsachse! Ich habe selbst einem Eisbären sein weisses Fell abgezogen. Da sieht man, wie ungebildet du bist!“ „Was fällt dir ein, Halldor, mich als ungebildet zu benennen, nur weil ich keinen Eisbären gesehen habe. Oder hast du schon einen ausgewachsenen Ameisenbären zu Gesicht bekommen?“ „Willst du mir einen Bären aufbinden? Den Ameisenbären hast du dir ausgedacht, um mich für dumm zu verkaufen.“ „Keineswegs, im Kloster Iona haben wir den Ameisenbären 'Stinker des Waldes' genannt. Er steckt seine Nase auch in alles.“ Die Erwiderung von Halldor hörte ich nicht mehr. Ich trieb nämlich mein Karibu an, die beiden Streithähne hinter mir zurücklassend. Am zweiten Tag stellte sich uns ein Höhenzug in den Weg. Auf dem Flachhang darunter, im Schutze eines Gehölzes, sahen wir einige Hütten. Hier lebten die Minitari, ein kleiner Stamm der Sioux. Die Skrälinger führten ein armseliges Dasein. Sie besassen keine Hunde, die ihre Lasten schleppten. Ihr Leben war ein ständiger Kampf ums Überleben. Wir ritten weiter und erreichten einen kleinen Nebenfluss des Missouri. Hier begegneten wir einem der nördlichsten Stämme der Sioux. Es waren Assiniboin. Sie hatten Shawanung-nizeo zu den Chipewyan gebracht. Widerstrebend beobachtete das Mädchen das lebhafte Treiben zwischen den Tipis, wo Frauen Felle gerbten, Männer die Hunde beluden und nackte Kinder spielten. Wir verliessen die Assiniboin und lenkten unsere Ponys zum Missouri hinüber. Es sollte das letzte Mal sein, dass wir diesen Strom sehen sollten. Am nächsten
Tag erreichten wir nämlich die Mündung eines anderen Flusses, dem wir 22[1] nun folgten . An der Mündung gab es nur wenige Bäume. Sie krümmten sich kümmerlich in den Himmel. Wir ritten weiter flussauf. Mit jedem Tag wurde das Flusstal schöner. Weiden säumten das Ufer. Wir sahen Pappeln. Das Grasland wurde flach, die Pappeln riesig. Wir sahen Bisonherden. Scharen von Elchen und Antilopen versammelten sich am Wasser. Der neue Fluss zeigte sich in diesen Augusttagen von seiner schönsten Seite. Die Niederungen waren übersät mit wilden Pflaumen, Kirschen und Beeren. Mitten im Fluss zeigten sich bewaldete Inseln. Während einer längeren Rast schwammen Sommerwind und ich hinüber. Es gab da eine weisse Sandbank. Hier aalten wir uns. Die Sonne perlte durch dichtes Blattwerk auf unsere Haut. Der Fluss quirlte vor unseren Füssen. Sonst war ringsum Stille. Ein paar Schmetterlinge flatterten zwischen Strauchwerk und Sand hin und her. Sie konnten sich wohl nicht entscheiden. Ich spürte den Sand auf meiner Haut. Ich grub mit den Händen nach Kühle. Es war ein wohliges Gefühl. Dann schlief ich ein. Ein Specht begann irgendwo zu hämmern. Ich wachte wieder auf. Ich blinzelte zu dem Mädchen hinüber. Die Freunde waren nicht auf die Insel gekommen. Sie sassen drüben am Ufer. Wir konnten sie aber nicht sehen. Einige waren auf die Jagd gegangen. Sommerwind war nackt. Das Hämmern hatte auch sie geweckt. Sie lächelte zu mir herüber. Mein Herz pochte. Mein Puls ging schneller. Sie war betörend. Ich rückte näher, schmiegte mich an ihren Körper. Sie tastete nach meiner Hand. Ich streute ihr Sand auf die Brüste, wischte ihn wieder ab. Sie zuckte zusammen. Ihre feuchten, halb geschlossenen Augen musterten mich. Sie schwammen wie in einem See. Ihre Lippen brannten. Wir küssten uns. Im Gebüsch bewegte sich etwas. Ein winziger Kopf erschien, der uns beobachtete. Es war eine Eidechse. Sie zog sich blitzschnell wieder zurück. Sommerwind streichelte mich. Dabei schlängelte ihre Zunge durch meinen Mund, befeuchtete meinen Hals, grub sich in den Nacken, kitzelte in der Achselgrube und krabbelte über die Brust. Ihre Hände berührten, befühlten. Ich streichelte ihre Brüste. Sie zitterten. Meine Hände befühlten ihren Bauch, betasteten ihre Hüfte, berührten ihren Nabel. Der Sinnestaumel beugte mich in ihre Schenkel. Das Verlangen wogte hin und zurück. Die Erregung brandete hoch. Die Sonne brannte, und ich fror. Nur der Augenblick zählte. Die Zeit stand still. Das Wasser zu unseren Füssen quirlte. Der Sand störte, und wir glitten ins Wasser . . .
22[1]
Die Wikinger hatten wohl den Yellowstone River erreicht.
Zwei Wikinger bringen ein Pony an Bord einer Knorre, das während der Fahrt mittschiffs an Querbalken angebunden sein wird.
15. Kapitel
Grizzlybären und Pumas
Wie es Gott gefiel, dass uns die Crow in die Berge führten, dass wir einen Grizzly erlegten, dass uns die Kelten über den Weg liefen und dass ich einen kleinen Puma aufnahm.
D
er August ging zur Neige. Der Wettergott meinte es am Tage
noch gut mit uns. In den Nächten spürten wir aber den nahen Herbst. Viele Flüsse kreuzten unseren Weg. In ihrem Wasser wimmelte es von Bibern. Ihre Pelze waren bei den Skrälingern sehr begehrt. An einem der ersten Septembertage, kurz vor Sonnenuntergang, machten wir an 23[1] einem Fluss halt, den die Skrälinger Fettes-Gras-Fluss nannten. Er führte zu der Zeit Hochwasser. Wir nahmen den Ponys das Sattelzeug ab und rieben sie mit Gras trocken. Sie hatten einen kräftezehrenden Weg hinter sich. Zwischen den Pappeln, Eschen und Ahornbäumen am Ufer entfachten wir zwei kleine Feuer und brieten darüber unser Abendessen. Als der Mond aufging, spiegelte er sich im Fettes-GrasFluss. Davor schwebten Leuchtkäfer und Eulen, die sich ihre nächtliche Beute griffen. Plötzlich standen die Skrälinger vor uns. Sie trugen buntbemalte Bisonroben, Leggings mit Skalptrophäen, borsten- und perlenverzierte Mokassins und – Kriegsbemalung! Alle hatten lang herabhängendes Haar. Darin steckten Adlerfedern. Ihre Lanzen und Skalpiermesser glänzten gespenstisch im Feuerschein. Ein älterer Krieger, der einen langen Kopfschmuck aus Bärenfell und Adlerfedern trug, sprach uns an: „Weisser Elch sieht Krieger vor sich, die er noch nie in den Jagdgründen der Crow gesehen hat.“ „Die Geister der vier Winde haben uns hierhergeführt. Morgen werden wir dem Fettes-Gras-Fluss folgen, um nach Süden zu reiten“, sagte Talmach. „Weshalb habt ihr euch von den Geistern der vier Winde den Weg an den Fluss mit dem fetten Gras zeigen lassen?“ „Wir sind auf dem Weg zum Stamm der Tolteca, die weit im Süden ihre Jagdgründe haben.“ Ich hatte es im Gefühl: Von den Crow hatten wir nichts zu befürchten. Talmach lud Weisser Elch ein, am Feuer Platz zu nehmen, um das Gespräch mit der Pfeife zu heiligen. Der Crow willigte ein. Er stopfte Kinnikinnick in den Steinkopf seiner prachtvollen Pfeife und zündete sie an. Sie war aus einem dunklen Stein geschnitten und mit Bisonfett 23[1]
heute: Bighorn River
poliert. Der lange Stiel war mit Wollfäden und Seidenbändern überzogen, dazwischen waren Haarbüschel und Adlerfedern festgebunden. Thorwald, Halldor, Asmund, Aivik und ich nahmen an der Zeremonie ebenfalls teil. Das Rauchen strahlte tatsächlich ein heiliges Fluidum aus. Rauchen war beten. Mit dem Gebetshauch wurde auch die Geisterwelt einbezogen. Bei allen Skrälingern war das Pfeifenrauchen der Einleitungsschritt zu allen wichtigen Angelegenheiten. Erst als das Rauchen beendet war, sagte der Crow: „Die Blassgesichter sind nicht die ersten, welche in die Jagdgründe der Crow kommen.“ „Was bedeuten die Worte von Weisser Elch?“ fragte der überraschte Cree. „Die Blassgesichter besitzen auch diese Gotthunde“, sagte er und zeigte auf unsere Ponys. Wie Schuppen fiel es uns von den Augen. „Die Treller müssen hier gewesen sein!“ rief Thorwald. „Wann waren die Blassgesichter bei den Crow?“ fragte Talmach den Häuptling. Weisser Elch streckte alle seine Finger in die Höhe. Er meinte wohl „vor zehn Tagen“. „Wohin sind die Blassgesichter gegangen?“ „Die Blassgesichter fragten die Crow nach den gelben Steinen, welche sie Gold nennen. Weisser Elch sagte den Blassgesichtern, dass sie das Gold in den Bergen finden werden.“ Die Kelten waren also hier! Woher waren sie gekommen? Wo hatten sie den Winter verbracht? Wir erfuhren vom Weissen Elch, dass sie dem Fettes-Gras-Fluss gefolgt waren, der in die Berge führte. Sollten wir ihnen folgen? Wir hielten Kriegsrat. Schliesslich beschlossen wir, ebenfalls in die Berge zu reiten. Die Crow erboten sich, uns zu begleiten. „Sein Gutes hat nun die Sache, Angelsachse“, sagte Halldor zu Bruder Ethelstan, als wir gemütlich am Feuer sassen „jetzt kannst du den Crow von deinen Ameisenbären erzählen. So wie ich die Skrälinger kenne, werden sie dir geduldig zuhören.“ Der Horizont begann sich im Osten zu röten. Wir setzten an einer Furt über den Fettes-Gras-Fluss zum Westufer hinüber. Dort wuchs üppiges, grünes Gras. Auf den marschähnlichen Grünflächen kamen wir schnell vorwärts; die östliche Seite dagegen war von Weidendickichten und Wildrosenbüschen gesäumt. Das Wasser strömte klar und grün über den Kiesgrund. Hechte und Welse vagabundierten dort herum. Inseln, Biegungen und felsige Untiefen begannen sich flussaufwärts zu häufen. Ein langer Weg lag vor uns. Er sollte uns vom hügeligen Grasland hinauf ins Gebirge führen. Bereits am zweiten Tag stieg das Gelände an; das Gefälle des Flusses wurde stärker. Die Crow schlugen ein mörderisches Tempo an. Wir mussten einen grossen Rückstand einholen. Ich
bewunderte die Ausdauer der Crow, die zu Fuss waren. Sie zeigten noch keine Spur von Ermattung. Doch jetzt wurde der Weg immer beschwerlicher. Wir hatten die ersten Ausläufer der Berge erreicht. Die Hufe der Ponys wirbelten pudrigen Alkalistaub auf. Er brannte in den Augen. Er brannte im Schlund. An einigen Stellen des Flusses schwärmten Moskitos durch die Wildrosenbüsche und Gänsefussgewächse und quälten uns. Bremsen marterten unsere Tiere. Doch je höher wir kamen, desto seltener wurden die Quälgeister, bis sie endlich ganz verschwunden waren. Doch auch die fruchtbaren Weiden wurden seltener. Schliesslich führte nur noch ein schmaler Pfad das Flusstal hinauf. Die Wände links und rechts stiegen immer höher an. Die Berge begannen uns einzuschliessen. Endlich senkte sich der schmale Pfad abwärts, und wir standen am Eingang zu einer Schlucht. Die Crow marschierten zielstrebig hinein. Wir folgten ihnen. Als wir die Schlucht wieder verliessen, blickten wir auf ein bewaldetes, wildreiches Tal hinunter. Seit zwei Tagen plagte ich mich. Das Herz hämmerte mir bis zum Hals. Rasende Kopfschmerzen wollten mich lähmen. Mein Körper war die Anstrengung noch nicht gewöhnt, obwohl ich die meiste Zeit auf dem Rücken von Bockbein sass. Ich hatte meine Genesung zu sehr vorangetrieben. Das rächte sich jetzt bitter. Abgezehrt und überanstrengt liess ich mich von meinem treuen Karibu ins Tal hinuntertragen. Mein erbärmlicher Zustand war meinen Freunden natürlich nicht entgangen. Sie machten halt. Ich hielt sie auf. Seit dem Unfall am Missouri war ich ein Klotz an ihrem Bein. Ich fiel ihnen zur Last. Ich machte mir Vorwürfe. Ich hatte schuld, wenn sich die Kelten ihrer Strafe durch Flucht entzogen. Weisser Elch drängte zum Aufbruch. Ich wollte wieder in den Sattel steigen. Doch Talmach hielt mich zurück. „Mein Bruder braucht Ruhe“, sagte er. „Wir werden hier rasten. Die Crow gehen alleine voraus.“ Ich sträubte mich. Ich war verzweifelt. Meine Kräfte versagten. Ausgelaugt hockte ich auf dem Waldboden, stützte den Kopf in die Hände. Die Freunde trösteten mich. Ich legte mich unter einen Blauen Holunder. Dann übermannte mich der Schlaf. Ich weiss nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Als ich erwachte, fühlte ich mich besser. Weisser Elch war mit seinen Kriegern weitermarschiert. Er hatte eine merkwürdige Unruhe gezeigt. Talmach erklärte mir den Grund dafür. Wir 24[2] befanden uns nämlich in den Jagdgründen der Shoshoni , die seit Menschengedenken mit den Crow auf Kriegsfuss waren. Die Schlangen hatten vormals am Fettes-Gras-Fluss gelebt. Sie waren aber von den Crow in die Berge getrieben worden. Seither unternahmen die Hochland-
24[2]
Schlangen
Stämme regelmässig Kriegszüge ins Büffelland. Die Crow suchten also das Weite. 25[3] und Talmach und Sommerwind machten sich auf, Kiefernnüsse 26[4] „Kartoffeln“ zu sammeln. Ich begleitete sie. Die grünen Kiefernzapfen würden über einem Feuer geröstet, wodurch sie sich öffneten. Durch leichtes Schlagen würden die Samen freigelegt und dann zu Mehl zerstampft, aus dem man einen Brei zubereitete. Nüsse und Kartoffeln sollten mich wieder auf die Beine bringen. Wir liessen die Tiere zurück und machten uns zu Fuss auf zum Nüsse- und Kartoffelnsammeln. Anfangs führte unser Weg eine Tallehne hinunter. Dann wanderten wir etwa eine halbe Meile über eine Schotterterrasse und kamen an einen kleinen Bach, der klares Wasser führte. Von hier aus konnten wir auf das Tal hinausschauen. Ich weidete mich an dieser Hochlandidylle. Allein die frische Luft belebte mich wieder. Ich hatte meinen Schwächeanfall überwunden. In der Nähe des Baches entdeckten wir ausgedehnte Flächen, auf denen Sonnenblumen wuchsen. Wir sahen auch Johannisbeeren, Würgkirschen und Mahonien. Wir überschritten den Bach und stiegen eine kleine Anhöhe hinauf. Hier fanden wir Amaranthen, wilden Kümmel, Zwiebeln und Gänsefussgewächse. Der Weg führte über eine Wiese, die mit Gras und Blumen bewachsen war, in felsiges Gelände. Da! Am Fuss einer flachen Felskuppe standen die Nusskiefern! Wir wanderten hinüber. Die Nüsse waren reif. Mit Stangen, die wir im Wald zugeschnitten hatten, sammelten wir die Kiefernzapfen ein. Plötzlich hörten wir das Bellen eines Hundes. Die Shoshoni! schoss es mir durch den Kopf. Der erste Griff galt unseren Waffen, die wir natürlich mitführten. Vorsichtig traten wir unter den Kiefern hervor. Tatsächlich! Auf einem baumlosen Hang, unterhalb der Felskuppe, sahen wir drei Skrälinger. Doch was war das! Zwei mächtige Grizzlybären kamen zwischen den Felsen zum Vorschein. Was hatte sie veranlasst, ihr Versteck zu verlassen, das unterhalb der flachen Kuppe liegen musste? Die Tiere waren wütend und angriffslustig. Aber warum? Wir ahnten den Grund: Jemand musste sie aus ihrem Versteck herausgetrieben haben. Und tatsächlich! Über der Felskuppe tauchten einige Skrälinger auf. Doch das Geschehen spielte sich auf dem Hang unterhalb der Felskuppe ab, wo Skrälinger und Grizzlybären aufeinandertrafen. Ein schauerliches Fauchen der Bären erhob sich, gefolgt vom ängstlichen Bellen der Hunde und dem Rufen der Jäger. Der Lärm hallte durch das weite Tal. Aufgescheuchte Vögel erhoben sich von ihren Schlafplätzen in die Lüfte, wo sie sich verwundert über die Störenfriede die Augen rieben. 25[3]
auch Piñon-Nüsse genannt Bezeichnung für verschiedene nordamerikanische Pflanzen mit essbaren knollenartigen Wurzeln. 26[4]
Der Kampf wurde ernst: Die Klauen eines Bären gruben sich in den Körper eines Hundes. Dieser überschlug sich und gab dabei seine Kehle den Vorderpranken und scharfen Zähnen des Raubtieres preis. Gleichzeitig bohrte sich eine Lanzenspitze in den dicken Bärenspeck. Der zweite Bär verfolgte einen Jäger den Hang hinauf – geraden Wegs auf unsere Nusskiefern zu! Der Skrälinger quälte sich den Hang hinauf. Der Abstand zwischen ihm und dem Bären verringerte sich zusehends. Nie hätte ich dem patschigen und massigen Grizzly diese Schnelligkeit zugetraut. Vor unseren Augen packte er den Jäger und schleuderte ihn zu Boden. Dieser kullerte bewusstlos den Hang hinunter. Ich hatte meinen Bogen gespannt. Talmach war auch bereit. Wir sahen, dass mit dem Bären nicht zu spassen war. Mit grossen Sätzen folgte der Cree dem Grizzly. Ich lief hinterher. Bei mir rief die Jagd Erinnerungen an jenen Bären wach, den ich am Winnipeg erlegt hatte. Aber welch ein Unterschied! Jener Bär schien mir riesenhaft gewesen zu sein. Aber dieser Grizzly war ungleich grösser. Er konnte einem den ganzen Mut nehmen. Trotzdem blieb ich ruhig. Talmach liess einen Pfeil von der Sehne schnellen. Der Pfeil bohrte sich in seine Pranke. Der Grizzly zuckte zusammen. Er wandte sich von dem gestürzten Skrälinger ab. Dann richtete er sich auf und fixierte den Cree. Das hatte dieser gewollt. Er warf Pfeil und Bogen weg und zog sein Messer aus dem Gürtel. Ich erschrak. Das wurde für ihn lebensgefährlich. Einem Grizzly war mit dem blossen Messer nicht beizukommen! Aber nun geschah etwas, das dem Häuptling eine Galgenfrist gewährte. Der Pfeil in seiner Pranke zeitigte beim Grizzly nämlich Wirkung. Er begann seine Wunde zu lecken. Wieselflink sprang der Cree an die Seite des zottigen Geschöpfes, holte aus und stach ihm zwei- oder dreimal mit dem Messer in die empfindliche Schnauze. Der Bär schnaubte und fletschte die Zähne. Der Angriff brachte ihn in Rage. Er drehte sich um die eigene Achse, suchte nach dem dreisten Angreifer. Ich hatte die Zeit genützt, um mich dem Grizzly unbemerkt zu nähern. Ich spannte die Sehne meines Bogens und zielte auf sein Herz. Aber es war schon zu spät! Der Bär stürzte sich in diesem Augenblick auf den Cree. Ein Kampf auf Leben und Tod begann. Jetzt hatte ich keine Zeit mehr zu verlieren. Ich sprang an das Raubtier heran, welches mir den Rücken zukehrte, zielte auf sein Ohr und liess den Pfeil losschnellen. Mit einem wilden Fauchen liess dieses von seinem Opfer ab und warf sich nach der Stelle, wo es mich vermutete. Aber ich hatte mich bereits mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit gebracht. Der Bär fuhr sich fauchend mit der Vordertatze über das Ohr. Der Cree packte die Gelegenheit beim Schopfe. Er schnellte hoch, stiess dem Grizzly sein Messer zwischen die Rippen und sprang zur Seite. Der riesenhafte Grizzly bäumte sich auf. Hatte Talmach das Herz verfehlt? Dann gnade uns Gott! Mir war die Kehle wie zugeschnürt. Gebannt starrte ich auf das Raubtier. In diesem Moment wäre ich
unfähig gewesen, mich auch nur zu rühren. Ein Ruck ging durch den Körper des Bären. Er taumelte einige Schritte vorwärts und knickte dann ein. Er versuchte, sich nochmals aufzurichten. Doch er hatte nicht mehr die Kraft dazu. Es ging zu Ende mit ihm. Talmach sprach noch einige Worte mit dem Tier, das sich langsam auf dem Boden ausstreckte und sein Leben aushauchte. Die beiden Grizzlybären waren tot. Die Mutter Erde trank ihr Blut. Traurigkeit lag über dem Tal. Die grossen Brüder waren in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Die Jäger wussten: die Zeit würde auch für sie kommen. Der Tod hatte noch niemandem einen Freibrief ausgestellt. Auch die Skrälinger fürchteten den Tod. Es waren Kiowa, keine Shoshoni, die den Hang heraufkamen. Es waren freundliche Menschen. Sie begrüssten uns. Bewunderung strömte uns entgegen, als sie die tödliche Wunde des Grizzlybären sahen. Die Skrälinger fürchteten und respektierten den Bären. Das Volk der Paiute behauptete von sich, Nachkommen der Tochter des grossen Geistes und eines Grizzlybären zu sein. Die Kiowa kamen vom Büffelland herauf. Auf ihrem Heimweg hätten sie das Versteck der Grizzlybären ausgemacht. Die Verständigung mit ihnen war recht schwierig. Sie sprachen Kiowa, ein Idiom, das mein Bruder nicht verstand. Wir palaverten also mit Händen und Füssen. Schliesslich kriegten wir doch mit, dass wir den gleichen Weg hatten wie sie. Ich erinnerte mich, vom Weissen Elch gehört zu haben, dass der Weg durch die Jagdgründe der Kiowa ginge und dass die Crow mit diesen verbündet seien. War das, was man Zufall nennt, ein gewöhnliches Zusammentreffen oder verdankte er sich einer höheren Macht? Was war das, das für uns in die Schranken trat? Ich glaubte es zu wissen: Es war der grosse Geist der Skrälinger! Mochte er bei den Sioux Wakonda heissen, bei den Irokesen Orenda oder bei den Algonkin Manitu: Er hielt unser Schicksal in den Händen. Als Novize im Kloster Iona hatte ich nie den rechten Rank zur Frömmigkeit gefunden. Meinen Glauben hatte ich immer grämlich zur Beichte getragen. Es war mir nichts anderes übrig geblieben. Hier im Land der Skrälinger erteilte niemand die Absolution. Hier riefen keine Glocken zum Messopfer, und kein Sakrament mahnte zur Busse. Und obwohl nur die eisigen Berggipfel in der Ferne leuchteten, war er allgegenwärtig, und eine Vision erstarkte: Ich erfuhr zum ersten Mal, was mir heilig ist. Gemeinsam mit den Kiowa weideten wir die Grizzlybären aus, teilten das Fleisch in Portionen und füllten es in Falttaschen aus Büffelhaut ab. Wir hatten nun genügend Wegzehrung. Über dem Feuer gebraten, schmeichelt Bärenfleisch dem Gaumen. Talmach, Shawanung-nizeo und ich kehrten zu unseren Freunden zurück. Die Kiowa begleiteten uns. „Was bist du doch für ein verrückter Kerl, Angelsachse! Keinen Moment darf man dich aus den Augen lassen“, las mir Thorwald die Leviten, nachdem ich ihm unser Abenteuer bei den Nusskiefern erzählt
hatte. „Musst du dich gleich mit einem Grizzlybären anlegen! Hat dir der Zusammenstoss mit dem Bisonbullen nicht genügt?“ „Was für Ungeheuer!“ rief Bruder Ethelstan und schlug seine Hände über dem Kopf zusammen, als die Kiowa die zottigen Pelze auf dem Boden ausbreiteten. „Was weisst du schon von Bären, Angelsachse!“ rief Halldor der Bärentöter. „Ich kenne mich mit Bären aus!“ „Wie kannst du dich mit Bären auskennen, wenn du noch nie einen gesehen hast?“ „Oh! Oh! Ein Bär hat sogar Zucker aus meiner Hand gefressen. Ich wurde böse und jagte den Bären fort.“ „Du willst einen Bären vertrieben haben, Angelsachse? Jetzt kohlst du mich aber an.“ „Ich sage die Wahrheit.“ „Jetzt reicht es mir! Halldor der Bärentöter lässt sich nicht zum Narren halten! Einen Grizzlybären verscheucht man nicht so mir nichts, dir nichts.“ „Es war kein Grizzlybär.“ „Aber soeben hast du doch gesagt, du hättest einen Grizzlybären fortgejagt, weil er sich an deinen Zucker herangemacht hatte?“ „Es war kein Grizzlybär.“ „Was zum Teufel hast du dann vertrieben?“ „Ich habe einen Ameisenbären fortgejagt“, lachte Bruder Ethelstan verschmitzt. Dem Wikinger blieb die Sprache weg. Diese Gelegenheit fasste ich gleich beim Schopfe und stahl mich davon. Noch lange hörte ich die beiden streiten. Inzwischen hatte es zu dämmern begonnen. Wir trafen Vorbereitungen, um hier die Nacht zu verbringen. Zum Abendbrot liessen wir uns an einem Feuer nieder. Wir brieten das Bärenfleisch. Es schmeckte vorzüglich. Später schaute ich nach Bockbein. Er graste mit den Ponys etwas abseits von der Feuerstelle. Matt schimmerte das rote, warme Licht des Lagerfeuers durch die Bäume. Die Skrälinger nährten ihre Feuer umsichtig. Keine wabernde Glut sollte ihren Lagerplatz unnötig verraten. An diesem Abend kam ich ins Grübeln. Wohin würde uns der Weg führen? Ich hatte ein Vorgefühl von der Weite dieses Gebirges bekommen, als wir das Flusstal hinaufgehetzt waren. Kein Weisser war bisher in diese Berge eingedrungen. Nur die Skrälinger, die Shoshoni, die Paiute, die Kiowa, kannten das Gebiet. Konnten wir mit ihrer Hilfe rechnen? Die Bärenjäger begegneten uns jedenfalls freundlich und mit grossem Respekt. Aber wie würden uns die Shoshoni empfangen? Und die Kelten? Waren sie wirklich in diese Berge geritten? Meine Verletzungen hatten mich mehrere Wochen bei den Mandan am
Missouri ans Krankenlager gefesselt. Sicher waren die Kelten mit dem Gold längst über alle Berge. Am anderen Morgen brachen wir frühzeitig auf. Wir ritten das Tal hinauf. Als wir dieses verliessen, veränderte sich die Landschaft abrupt. Wir kamen durch eine trostlose Senke, die von Geröll bedeckt war. Wir mussten absteigen und die Tiere am Zügel führen. Langsam stieg das Gelände an, und wir erreichten einen Wald. Espenlaub zitterte. Vögel schwärmten aus. Sie waren hungrig auf die Millionen und aber Millionen von Raupen, welche ebenfalls ausgerückt waren, die Blätter der Espen zu vertilgen. Jeder Stamm war übersät von ihnen. Auch ein Schwarzbär war hinter den madigen Delikatessen her wie der Teufel hinter der armen Seele. „Es gab eine Zeit, in der es keine Vögel gab“, erzählte mir Sommerwind, als sie die Vogelschwärme sah. „Als der Herbst kam und die Blätter herabzufallen begannen, entschied sich der Geist, die Blätter in Vögel zu verwandeln. Er gab jedem Vogel eine andere Farbe. Einzig den blauen Vogel vergass er. Bitterlich enttäuscht flog dieser zum Himmel auf, um zu protestieren und durchbrach das Himmelszelt. Kleine Himmelsfetzen blieben dabei an seinem Körper hängen, und er behielt diese Farbe bis zum heutigen Tag.“ Immer mehr Kiefern säumten unseren Weg, deren zuckerhaltiges Harz eine verlässliche Nahrungsquelle für den emsigen Feuerkopfsaftlecker ist. Auch beobachteten wir Rothörnchen, die Zapfen für Zapfen der Nadelbäume in geheime Lager trugen. Sie legten Nahrungsvorräte für den langen Winter an. Ein ahnungsvolles Gefühl beschlich uns. Es war um die Zeit der Tagundnachtgleiche. Die Dickhornschafe und Schneeziegen beeindruckten mich besonders, die sich mit grosser Geschicklichkeit in dem steilen Gelände zu bewegen wussten. Als die Sonne im Westen zu verglühen begann, erreichten wir einen kleinen Fluss, in dem es von Bibern und Fischottern wimmelte. Eines Tages tauchten Bergkuppen aus der Versenkung auf. Fast unmerklich stieg das Gelände an. Auch Bäume traten wieder auf. Hier gruppierten sich einige Espen um eine Hangquelle, dort zogen sich Kiefern eine Berglehne hinauf. Der Wind war hier oben stärker zu spüren als unten in der Ebene. Besonders auf den Hochwiesen blies er ganz schön und liess uns frösteln. Schliesslich senkte sich das Gelände wieder ab. Wir erreichten ein Labyrinth von Schluchten und Tälern. Die Pfade der Jäger führten uns über steile Hänge, karge Felssohlen und Schutthalden, vorbei an Abrissnischen und Einsturztrichter. Wir stiegen in ein enges, beidseitig von Felswänden umgebenes Tal hinunter. Von dort rückten wir in eine Schlucht vor. Die Kiowa marschierten voraus. Sie kannten den Weg. Wir folgten ihnen. Links und rechts strebten die Felswände in die Höhe. Diese starrten uns an. Sie beengten uns. Sie machten uns zu Zwergen. Die Ponys schnaubten ängstlich. Sie
fürchteten sich wohl. Die Stille, welche vor uns gähnte, schreckte auch uns. Es war unheimlich. Jedes leise gesprochene Wort, jeder vorsichtig aufgesetzte Schritt hallte tausendfach durch diese Unterwelt. Leise murmelte ein Bach. Gerade zwei Reiter fanden neben dem dunklen Wasser Platz. Es gab kein Zurück. Mit jedem Schritt wurde die Luft kälter und schwerer. Feuchtigkeit tropfte von den Felsen. Diese wölbten sich über unseren Köpfen. Manchmal war ein Fetzen Himmel in dem Gewölbe zu sehen. Gab es hier überhaupt einen Ausgang? Hatten wir uns verirrt? Angst krallte sich in das Herz. Ich hätte schreien mögen. Wir ritten eine Ewigkeit. Endlich traten die Wände auseinander. Der Blick schweifte in die Höhe. Der Mond stand am Himmel. Vor uns ragten einige Tannen aus dem Steinschutt, und am Bach gab es etwas Gras. Die Kiowa hielten an. Hier war die Luft wärmer und leichter. Man konnte wieder freier atmen. Wir liessen die Tiere grasen. Bald brannte ein Feuer, über dem wir das Bärenfleisch brieten. Am anderen Tag stiegen wir das Tal hinauf. Bewaldete Hügel und weite, ineinander verschlungene, mit Lorbeerbäumen und Rhododendren bewachsene Flächen, welche die hochaufragenden Gebirgszüge säumten, traten von rechts und links heran. Je weiter wir kamen und je mehr wir an Höhe gewannen, desto faltiger und karstiger wurden die Berge, die sich in der klaren durchsichtigen Luft erhoben. 27[5] Schliesslich kamen wir zu einem breiten, sanft ansteigenden Pass . Als wir auf dem sandigen Sattel standen, gelangten wir zu der Erkenntnis, dass die Bergkette eine Wasserscheide darstellte. Jeder Bach und jeder Fluss auf der einen Seite floss ostwärts zum Missouri, jeder Wasserlauf auf der anderen Seite auf das Hochplateau hinunter. Wir waren auf dem Dach dieses gewaltigen Gebirges angekommen! Doch zum Verweilen blieb uns keine Zeit. Wir stiegen zu einem Grasstreifen hinunter, der ganz von Wald eingeschlossen war. Ich liess meine Gedanken, die von dem herrlichen Frühherbsttag noch beflügelt wurden, über die Wiese wandern. Die wunderbare Natur liess mich die Strapazen des langen Ritts vergessen. Die mächtigen Fichten und Helmlockstannen standen am Rande des Graslandes Spalier. Bestimmt standen sie schon eine Ewigkeit hier; sie schienen überhaupt für die Ewigkeit bestimmt zu sein. Ein blauer Himmel wölbte sich über dem Grün von Gras und Wald, und es duftete nach Erde. Niemand durfte die Ruhe stören. Wie Zwerge marschierten und ritten wir durch das majestätische Land. Gegen Ende des Schneegansmondes standen wir an einem grossen 28[6] Fluss . Die Kiowa hatten uns über ein Hochbecken geführt, über das sich weite Grasflächen hinziehen. Es war das Land der Shoshoni. Nun 27[5] 28[6]
heute: South Pass Es handelt sich vermutlich um den Green River.
standen wir also an diesem Fluss. Die Kiowa hatten beschlossen, Jagd auf die hier vorkommenden Gabelantilopen und Hasen zu machen und dann in ihre Jagdgründe zurückzukehren. Es galt also Abschied zu nehmen von den freundlichen Menschen, die uns sicheres Geleit durch die Berge gegeben hatten. Wir zogen weiter, dem Lauf des Flusses folgend. Am nächsten Tag durchquerten wir einen Bach. Das Gras hier am Wasser war grün und saftig. Talmach kam als erster am anderen Bachufer an. Er stiess einen halblauten Ruf aus, als ob er etwas entdeckt habe. „Was gibt's, Talmach?“ fragte Thorwald, der hinter ihm ritt. „Hier ist schon jemand vor uns geritten“, antwortete der Häuptling. Er deutete auf eine Fährte. Asmund, Halldor und ich hatten inzwischen die Stelle auch erreicht. Wir sahen nun die Spur auch, die von Hufen stammen musste. Das Gras hatte sich noch nicht wieder erhoben. Die Fährte war also noch frisch. Talmach war abgestiegen und untersuchte die Eindrücke. „Es waren die Kelten“, setzte er uns ins Bild. „Sind es die Hufspuren von Ponys?“ fragte ich mit einem skeptischen Blick. „Ja, es waren Ponys.“ Wir folgten der Fährte. Sie führte einem Bach entlang, der sich durch ein Tal schlängelte. Im oberen Teil des Tales sprudelte der Bach zwischen Felsen hervor und plätscherte talabwärts. Wir stiegen aus den Sätteln und passierten die Felsenenge im Gänsemarsch. Dahinter bekamen wir eine kleine Wiese zu Gesicht. Da es dort auch Brennholz gab, entschlossen wir uns, das Nachtlager aufzuschlagen. Die Tiere liessen wir grasen. Später trennten sich Talmach und ich von der Gruppe. Beim Aufstieg hatten wir einige Dickhornschafe gesehen. Da unser Proviant zur Neige ging, wollten wir diese Schafe aufspüren. Dabei gelangten wir in felsiges Gelände. Am Fuss einer Geröllhalde liess uns ein Geräusch aufhorchen. Wir blickten hinauf. Sand rieselte von oben herab. Ich zuckte zusammen. Doch der Blick nach oben entschädigte mich spornstreichs für den Schreck. Zwei junge Pumas, die beim Raufen wohl den Halt verloren hatten, schlitterten nämlich geradenwegs vor unsere Füsse. Dabei wehrten sie sich mit aller Kraft gegen die unabsichtliche Rutschpartie. Belustigt beobachteten wir die beiden Racker. Diese hatten ein dunkel geflecktes Fell und geringelte Schwänzchen. Verdrossen fauchten sie uns an und trollten sich. Dort wo wir uns befanden, lagen einige Felsbrocken, hinter denen wir uns verbargen. Nicht vor den beiden Jungtieren hatten wir uns zurückgezogen, sondern vor der Pumamutter, die nicht weit sein konnte. Wir wussten um die Gefährlichkeit vor allem von Bärinnen, die ihre Jungen beschützten. Und tatsächlich! Wir hatten uns gerade in unserem Versteck niedergekauert, als Talmach nach oben
zeigte. Über der Geröllhalde tauchte der Puma auf. Es war ein herrliches Tier mit einem schlanken Körper und einem langen Schwanz. Sein dichtes, kurzes und weiches Fell war rötlichgelb. Es war die Mutter der beiden Racker. Sie hatte uns zum Glück nicht gesehen. Der Puma greift, selbst wenn er in die Enge getrieben wird, nie den Menschen an. Aber das wussten wir damals nicht. Pumas gab es fast im ganzen Land der Skrälinger: Von den Wäldern im Norden bis zu den Steppen im Süden. Sie fühlen sich im Berg- und Sumpfland genauso wohl wie in Steppenund Waldgebieten. Und ein Revier im Tiefland ist ihnen ebenso recht wie eines in Höhen bis zu viertausend Meter. Das Pumaweibchen behielt unsere beiden Helden von ihrem erhöhten Standort aus im Auge. Deren ganzes Interesse wurde im Moment durch die Erkundung der neuen Umgebung beansprucht. Den Teil unterhalb der Geröllhalde hatten sie schliesslich noch nicht ausgekundschaftet. Immerhin gab es da einige Dinge, die sie oben nicht zu sehen bekamen. So machten sie hier eine Bullennatter aus, die sich sogar bewegte. Das war hochinteressant! Aber was konnte man mit ihr anstellen? Sie waren unsicher. Offenbar hatte es ihnen Mama auch nicht gezeigt. Als die Schlange zu drohen begann, zogen sie es vor, ihre Aufmerksamkeit anderen Dingen zuzuwenden. Keck marschierten sie unter einen Rhododendron, wo sie schleunigst weiterrauften. Konnte es etwas schöneres geben? Und sie waren nicht zimperlich, denn es ging immerhin darum, in Übung zu bleiben. Es musste schliesslich der Ernstfall geprobt werden, und so konnte es schon mal etwas rauher werden. Die beiden kriegten nicht genug. Mutter Puma sass immer noch auf ihrem Hochsitz. Ich befürchtete schon, sie würde uns wittern. Zum Glück wehte der leichte Wind talabwärts, also in die entgegengesetzte Richtung. Wir wollten uns gerade zurückziehen, als oberhalb der Geröllhalde ein Ruf erscholl. Was war geschehen? Waren unsere Weggefährten auch auf die Jagd gegangen? Das Pumaweibchen hatte sich ganz auf den Boden geduckt, blickte sich um. Dann tat es einen gewaltigen Sprung, welcher es an den Fuss der Geröllhalde brachte. Die Jungtiere ahnten, dass Gefahr im Anzug war. Jetzt hiess es natürlich: nichts wie hin zur Mutter. Diese packte das eine Junge mit ihren Zähnen im Genick und trug es zu einer Felsspalte hinüber. Der kleine Racker kroch zwischen die Felsen, er war in Sicherheit. Das Pumaweibchen kehrte zurück, um das zweite Junge nachzuholen. Es hatte das Jungtier am Fusse der Geröllhalde gerade erreicht, als oben ein hochgewachsener, kräftiger und nussbrauner Jäger mit einer schwarzen Augenklappe auftauchte. Dieser spannte die Sehne seines Bogens und schoss einen Pfeil auf Mutter Puma ab. Die Wildkatze, die bereits mit ihrem Jungen die Flucht zur Felsspalte hinüber angetreten hatte, überschlug sich. Eine zweite Gestalt mit einem roten Walrossschnurbart erschien über der Geröllhalde, die einen Speer nach der verwundeten Katze warf. Leblos brach das arme Tier zusammen.
Talmach und ich kauerten noch immer in unserem Versteck. Ein Schauder lief mir über den Rücken, als ich Caratacus und Cúchulainn, die beiden Kelten, erkannte. Mit Grausen mussten wir nun mit ansehen, wie Caratacus das fauchende und hilflos herumtapsende Jungtier, welches von der Mutter fallengelassen worden war, einfing und mit seiner Axt erschlug. Mir drehte sich das Herz im Leibe herum. Warum mussten diese Männer alles töten, was ihnen über den Weg lief? Cúchulainn machte sich derweil oberhalb der Geröllhalde zu schaffen. Nach einiger Zeit gesellte er sich wieder zu seinem Komplizen. Er trug ein blutiges Fell über dem Arm. Wir erfuhren nun, dass es von dem Männchen der Pumafamilie stammte. Welch eine Tragödie! „Pumafelle sind bei den Skrälingern begehrt“, hörten wir den Kelten mit der Augenklappe sagen. „Holen wir die Ponys, damit wir die Pelze aufladen können“, sagte Cúchulainn. Erst als die Hufschläge ihrer Ponys verhallt waren, wagten wir uns aus dem Versteck hervor. Wir konnten endlich aufatmen. Doch der Geruch des Todes hing in der Luft. Drei enthäutete Kadaver lagen als stumme Zeugen auf den Felsen. Die finsteren Gesellen hatten die Pelze der prächtigen Pumas auf die Ponys gepackt. Die Frevler hatten aber eines der zwei Jungen nicht entdeckt. Es steckte immer noch in der Felsspalte. Wir zogen es hervor. Es zitterte am ganzen Körper. Konnten wir es hier zurücklassen? Mir blutete das Herz. Sollte nun auch noch dieses verwaiste Geschöpf auf erbärmliche Weise verenden? Dann war die herrliche Pumafamilie vollständig ausgerottet, und Barbarei und Bestialität würden triumphieren! In mir sträubte sich alles. Nein! Die Unbarmherzigkeit sollte diesen Sieg nicht auch noch davontragen! Ich wollte das Pumababy retten. Die Kreatur sollte erfahren, dass es nicht nur grausame Menschen gibt. Der Versuch musste gelingen! Der Cree schätzte das Alter des drolligen Rackers auf zehn bis zwölf Wochen. Wenn ihm die Mutter schon blutiges Fleisch mitgebracht hatte, dann würde ich ihn durchbringen. Als Talmach und ich mit einem wild fauchenden Pumababy zurückkehrten, staunten unsere Gefährten nicht schlecht. Noch mehr überrascht waren sie über unsere Mitteilung, dass wir zwei der Kelten gesehen hatten. „Jetzt wissen wir wenigstens mit Sicherheit, von wem die Fährte stammt, die wir am Bach unten entdeckt haben“, sagte Thorwald. Da es inzwischen dunkel geworden war, konnten wir nicht mehr daran denken, das Lager der Kelten auszukundschaften. Wir wagten auch nicht, ein Feuer anzuzünden. Sein Schein hätte uns verraten können. Nachdem ich ein Stück Pemmikan gegessen hatte, bezog ich mit Talmach und Aivik an der Felsenenge, dem einzigen Zugang zu unserer Wiese, Posten. Den kleinen Puma führte ich an einem Strick mit. Er
sträubte sich aufs heftigste. Ich postierte mich so zwischen den engen Felsen, dass das Junge in ständigem Körperkontakt mit mir war. Es sollte sich an mich, an meinen Geruch, an meine Stimme gewöhnen. Stunde um Stunde verrann. Der kleine Racker hatte seinen Widerstand inzwischen aufgegeben. Er hatte sich in meinen Mantel verkrochen. Weit nach Mitternacht wurden wir von Thorwald, Asmund und Halldor abgelöst. Sie sollten bis zum Morgen hier am Eingang ihre Stellungen einnehmen. Ich legte mich zum Schlafen nieder. Der Puma steckte immer noch unter meinem Mantel. Er hatte sich festgekrallt. Schliesslich wurden wir beide von der Müdigkeit übermannt. Als ein leichter Schimmer über dem Tal den nahen Tagesanbruch verkündete, brachen wir schon auf. Wir mussten uns nämlich vor den Kelten in acht nehmen. Es war unser Glück, dass wir ihre Anwesenheit zuerst bemerkt und dass sie uns nicht gesehen hatten. Dem kleinen Racker hatte ich in meiner Satteltasche eine Art Logensitz eingerichtet. Obwohl er anfänglich noch ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter machte, so hatte er doch etwas Vertrauen zu mir gewonnen. Talmach meinte, dass jung gefangene Pumas sehr zahm werden können. Sie würden wie Katzen schnurren, wenn sie zärtlichen Kontakt suchten. Ich war natürlich überglücklich, das Junge aus den Klauen des Todes gerissen zu haben.
Werkzeuge, Waffen und Haushaltsgeräte sind bereits vorn und achtern unter den Halbdecks der Knorre verstaut.
16. Kapitel
Die Kelten
Wie es Gott gefiel, dass Talmach und ich die Kelten belauschen konnten und dadurch von ihren teuflischen Absichten erfuhren.
W
ir hatten also das Tal der Pumas verlassen, nachdem wir die
Fährte der Kelten aufgespürt hatten. Sie führte eine Tallehne hinauf. Das Terrain machte unseren Tieren Mühe. Die Spuren, denen wir folgten, wurden immer frischer. Unsere Spannung stieg aufs höchste. Wir erreichten die Höhe des Hügels. Talmach und Aivik, die voranschritten, hielten an. Sie untersuchten die Fährte, berieten sich. Dann wandten sie sich an Thorwald. „Hier haben sie haltgemacht“, erklärte der Cree. „Eine Spur von der anderen Seite der Anhöhe führt ebenfalls hier herauf. Die Fussabdrücke stammen von vier Männern. Sie hatten keine Ponys bei sich. Sie trugen auch keine Mokassins, sondern Schuhe der Kelten.“ „Wie alt ist die Fährte?“ fragte der Jarl. „Sie waren längere Zeit hier. Vor drei oder vier Stunden sind sie aufgebrochen. Die Spuren führen da drüben den Hügel hinab, zum Fluss hinüber.“ „Wir folgen der Fährte!“ bestimmte Thorwald. Wir marschierten und ritten weiter, die Tallehne auf der anderen Seite hinunter. Unter uns breitete sich eine Ebene aus, durch die der Fluss strömte. Die Sonne lag wie Gold auf dem Wasser. Die Spuren, von neun Ponys in die Erde gedrückt, führten dem Fluss entlang nach Süden. Ein blendend blauer Himmel breitete sich über uns aus. Davor zogen die Vögel ihre Kreise. Als wir vor uns eine Salzlecke sahen, forderte uns Halldor zu einem Wettrennen auf. Asmund und ich fanden auch Geschmack daran. Auf ein Zeichen des Wikingers gaben wir unseren Tieren die Sporen und galoppierten der Lecke entgegen. Auch Berserk, mein junger Puma, schien Gefallen an dem Rennen zu finden. Er fauchte mich jedenfalls angeregt von seinem schwankenden Hochsitz an. Sein wildes Fauchen war auch der Grund, weshalb ich ihn Berserk getauft hatte. Es war ein fröhliches Galopprennen. Wir flogen über die Ebene dahin und trieben ausgelassen unsere Tiere an. Halldor erreichte als erster die Salzlecke. Er bleckte die Zähne bis zu den Ohren. Wir stiegen von den Tieren und kletterten auf einen Hügel. Von hier oben hatten wir eine herrliche Sicht in die Ferne. Wald und Wiesen auf hügeligem Gelände soweit das Auge reichte. Weit hinten blitzte ein Bach in der Sonne. Aber kein Zeichen menschlichen Lebens konnten wir ausmachen. Wo waren die Skrälinger, die Herren dieses Landes?
Würden wir bald ihre Dörfer sehen? Ich war neugierig, etwas über diese Menschen hier in den Bergen zu erfahren. Ich wusste von Talmach, dass sich die jugendlichen Cree unter grosser Gefahr und absoluter Einsamkeit auf eine Traumreise durch die Wildnis begaben. Durch Träume und Visionen erlangte der junge Träumer magische Kräfte, die Fähigkeit, die Zukunft vorherzusehen und Krankheiten zu beherrschen. In ihren Träumen wurden sie mit der Natur eins. Nachts kann ich umherziehen, gegen die Winde kann ich ziehen, nachts kann ich umherziehen, wenn die Eule schreit, kann ich umherziehen. Im Morgengrauen kann ich umherziehen, gegen die Winde kann ich ziehen, im Morgengrauen kann ich umherziehen, wenn die Krähe ruft, kann ich umherziehen. Wo der Wind bläst, der Wind brüllt, stehe ich fest. Gen Westen bläst der Wind, der Wind brüllt – ich stehe fest. Gegen Mittag wurde die Vegetation dichter und der Boden schwerer und schlammiger. Wir erreichten den Rand eines Sumpfgebietes, das mit zahlreichen Weiden und Binsen und einem dichten Gewirr von Sumpfpflanzen besetzt war. Das Moor dampfte in der Herbstsonne wie ein Wasserkessel über dem Feuer. Schwärme von Stechfliegen verbreiteten sich über dem Gestrüpp. Quakend flatterte eine Wildente durchs Röhricht. Die Spur führte um das Moor herum. Sie war hier im sumpfigen Boden besonders gut zu erkennen, aber schwer danach zu beurteilen, wann die Ponyhufe sie in die Erde gedrückt hatten. Erst als sie über eine trockenere grasbewachsene Ebene ging, konnten wir ihr Alter bestimmen. Die Entfernung zu den Kelten betrug noch zwei Stunden. Wir hatten also aufgeholt. Als wir uns einem Wäldchen näherten, machten wir halt. Talmach gesellte sich zu uns. „Ich werde die Gegend erkunden. Wird mich mein Bruder Patrick begleiten?“ Ich zögerte. Thorwald sah meinen fragenden Blick.
„Geh nur, Angelsachse!“ sagte er. „Der Häuptling hat dir ja beigebracht, wie du dich in der Wildnis zu verhalten hast. Halte dich jetzt daran, und der Wikingergott Thor wird dir beistehen.“ Ich war mächtig stolz über diesen Vertrauensbeweis. Ich zögerte nun keine Sekunde mehr mit meiner Antwort. Der Cree und ich liessen die Tiere zurück. Dann folgten wir den Spuren, die in den Wald liefen. Ich bemerkte die bewundernden Augen meiner Gefährten nicht mehr. Nach einem längeren Fussmarsch erreichten wir ein Flüsschen. Es war von einigen Hügeln und Abhängen gesäumt. Wir bestiegen eine der Anhöhen. Eichen und Nusskiefern bildeten hier ein gutes Versteck für den Ausguck. Wir hatten uns gerade auf dem Beobachtungsposten auf unsere vier Buchstaben gesetzt, als uns das Wiehern eines Ponys aufhorchen liess. Dann sahen wir sie – die Kelten! Neunzehn Mann! Das Herz wollte mir stillstehen. Drei von ihnen erkannte ich sofort: Cúchulainn, Caratacus und Pratusagus der Druide! Und – – und – – ! Tatsächlich! Es bestand kein Zweifel: Ambiorix, Togodumnus, Cunobelinus und Ariovist, die vier Kelten, die uns entflohen waren! Sie mussten uns gefolgt sein! Auf unserer Seite angekommen, durchsuchten die Kelten den Boden. Dann marschierten und ritten sie weiter. Ein Steilhang versperrte uns die Sicht. Wir konnten nicht sehen, welchen Weg sie einschlugen. Wir stiegen vom Hügel hinunter und folgten ihnen. Nach kurzer Zeit sahen wir sie wieder. Die neun Reiter waren auf einer Talsohle von ihren Ponys gestiegen. Sie schienen sich zu beraten. Dann führten sie ihre Tiere eine Hangquelle hinauf, die sich zwischen einer Bergkuppe und einem Abhang hindurchzwängte. Nachdem sie mit ihren Ponys hinter einem Kamm verschwunden waren, bahnten wir uns ebenfalls einen Weg zu der Hangquelle hinüber. Wir stiegen auf den Kamm hinauf. Oben angekommen, sahen wir, dass links ein Pfad zum Eingang eines kleinen Tales hinunterführte. Diesen Weg hatten die Kelten eingeschlagen. Rechts von uns führte eine Serpentine auf ein Felsplateau hinauf. Dieser folgten wir. Als wir die Anhöhe erreicht hatten, arbeiteten wir uns durch ein dorniges Gestrüpp bis zur Kuppe vor, von der wir bequem das Tal übersehen konnten. Unter uns brannten mehrere Feuer. Am anderen Ende des Tales sahen wir ein Skrälingerdorf. Es bestand aus kegelförmigen Tipis, die mit einander überlappenden Fellen und Baumrinden gedeckt waren. Wir konnten nun beobachten, dass sich die Bewohner des Dorfes um die weissen Ankömmlinge versammelt hatten und diese freundlich begrüssten. Nach einem längeren Palaver zerstreute sich die Menge wieder. „Wir müssen hier warten, bis es dunkel wird“, sagte Talmach, „dann steigen wir ins Tal hinunter.“ „Hier willst du hinunterklettern?“ fragte ich den Cree verwundert. „Ja. Den anderen Weg können wir nicht nehmen. Der Eingang zum Tal ist zu eng. Die Dorfbewohner werden dort ihre Wachen aufgestellt
haben. Aber da drüben auf der Tallehne führt ein Pfad auf die Terrasse hinunter. Von da werden wir auf die Felssohle und in das Dorf gelangen.“ Ich widersprach nicht. Wir warteten die Dämmerung ab. Als es endlich soweit war, begannen der Cree und ich den Abstieg. Verschlungenes Gestrüpp, das zwischen den felsigen Kanten und auf den schmalen Terrassen des Abhanges ein kärgliches Dasein fristete, bot uns etwas Halt und Schutz. Das Hinabsteigen erwies sich als überaus mühselig. Doch wir erreichten glücklich die Talsohle und schoben uns hinter einen Mahonienstrauch. Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Überall im Tal brannten Feuer. „Die Kelten!“ raunte mir Talmach zu. Ich wandte meine Aufmerksamkeit einer Stelle am Rande des Tales zu, die rechts von uns hinter einigen Schierlingstannen lag. Auch dort brannte ein mächtiges Feuer. Es strahlte ein gleichmässiges rotes Licht aus. Zuweilen glänzte das Wasser eines Baches zwischen den Bäumen. Der Cree gab mir durch einen Wink zu verstehen, dass er zu dem Feuer hinüberkriechen wollte. Ich folgte ihm. Wie Schlangen bewegten wir uns auf Händen und Knien vorwärts. Bald lagen wir im tiefen Gras hinter einem Blauen Holunder. Erst jetzt wagte ich einen Blick zum Feuer hinüber. Einige Gestalten sassen davor. Es waren tatsächlich die Kelten. Die Entfernung war aber zu weit, um ihre Gesichter zu unterscheiden oder um etwas von ihrem Gespräch aufzuschnappen. Nur das Knacken der brennenden Äste und hie und da das Schnauben der Ponys war zu hören. In diesem Augenblick löste sich einer der Männer aus dem Dunkeln am Rande der Lichtung. Er brachte einen Armvoll Reisig ans Feuer. Dann stapfte er zu uns herüber. Die Situation wurde brenzlig! Wenn er nicht bald stehen blieb, musste er über mich stolpern. Hatte er uns am Ende gar entdeckt? Ich atmete auf. Fünf Schritte von mir entfernt machte er halt. Jemand am Feuer hatte das Reisig ins Feuer geworfen. Die Flammen loderten prasselnd auf. Der Feuerschein beleuchtete sein Gesicht. Das genügte, um den Mann zu erkennen. Es war Cúchulainn! Jetzt entdeckten wir, was ihn vom Feuer weggelockt hatte. Nur wenige Schritte von uns schälte sich nämlich ein Schläfer aus seiner Decke und setzte sich auf. Er hatte im Gras gelegen. „Ist dir zu Ohren gekommen, Cúchulainn, zu welchem Stamm die Skrälinger gehören?“ Es war Caratacus, der Mörder von Mahsette-Kuiuab, der vor uns im Gras hockte. „Es sind Ute. Ambiorix und Togodumnus sind bei ihnen“, antwortete Cúchulainn und setzte sich auch nieder. „Sie möchten in Erfahrung bringen, ob die Skrälinger für einen Überfall auf die Wikinger zu gewinnen sind.“ In diesem Augenblick tauchten auf der anderen Seite der Lichtung zwei Gestalten auf.
„Wenn man vom Teufel spricht! Da kommen Ambiorix und Togodumnus!“ sagte der Kelte mit der schwarzen Augenklappe und deutete zu den Tipis hinüber. Die beiden Männer stakten wenige Schritte neben uns durch das Gras und blieben bei Cúchulainn und Caratacus stehen. „Die Skrälinger haben sich zur Beratung zurückgezogen“, teilte Ambiorix mit. „Wenn sie uns beim Überfall helfen, können sie danach die gefangenen Wikinger zusammen mit den Angelsachsen am Marterpfahl rösten. Habt ihr ihnen das gesagt?“ fragte Caratacus. „Wir wissen ja, dass du nicht zimperlich bist, Caratacus“, lachte Cúchulainn, „aber ihr könnt euch keine Vorstellung von der Grausamkeit dieser Skrälinger machen. Ich bin jedenfalls froh, dass ich nicht in der Haut der Wikinger stecke.“ Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Die Kelten trachteten uns nach dem Leben und wollten sich mit den Ute verbünden. Als ich hörte, dass wir am Marterpfahl sterben sollten, zuckte ich zusammen und griff unwillkürlich zu meinem Messer. Der Cree, der neben mir lag, durchschaute meine Absicht. Er hielt meinen Arm nieder und raunte mir zu: „Wir werden es nicht zulassen!“ „Habt ihr auch nach dem Weg zu den Tolteken gefragt?“ wollte Caratacus wissen.“ „Ja. Die Ute sagten uns, sie hätten noch nie von den Tolteken gehört“, antwortete Togodumnus. „Ich weiss nicht, ob den Skrälingern zu trauen ist. Vielleicht wollen sie uns auch nur davor zurückhalten, an das Gold der Tolteken zu kommen.“ Diese Vorstellung stachelte sie auf. Sie verstrickten sich in den wildesten Phantasien. Togodumnus und Caratacus, die zum wiederholten Male einen Bierschlauch an ihren Mund geführt hatten, strichen sich nach jedem Schluck mit einem lauten Grunzen mit dem Handrücken über das Gesicht. Diese hässlichen Schurken! Wäre die Sache nicht so gefährlich gewesen, ich hätte ihnen mein Messer in den Leib gerannt! Wenn sie geahnt hätten, dass wir nur wenige Schritte hinter ihnen im Gras lagen! „Ich bin überzeugt, dass es nicht lange dauern wird, bis dieser Cree hier auftauchen wird“, sagte Ambiorix. „Er versteht es nämlich, einer Fährte zu folgen.“ Der Kelte mit der Augenklappe strich sich die Haare aus der Stirn, als wollte er seine wirren Gedanken sammeln. Dann spülte er sich nochmals die Gurgel aus. Sein gesundes Auge glühte dabei wild vom Feuer des Alkohols. „Wir werden den Skrälingern das Gold abjagen“, lallte er.
„Höre mit dem Saufen auf, Caratacus!“ hörten wir Cúchulainn sagen. „Du wirst uns noch alles verderben!“ Talmach gab mir ein Zeichen, dass er sich zurückziehen wolle. Wir mussten äusserst vorsichtig zu Werke gehen. Das leiseste Knacken eines trockenen Zweiges hätte uns verraten können. Der Cree und ich erreichten schliesslich den Mahonienstrauch, ohne dass wir bemerkt wurden. Von da an gestaltete sich unser Rückzug etwas leichter. Endlich konnten wir uns aufrichten.
Jetzt beginnen die Männer an Land, Fässer mit frischem Wasser, getrockneten Fischen und gepökeltem Fleisch über die Landgangstelling zu rollen.
17. Kapitel
Comanche
Wie es Gott gefiel, dass Sommerwind, Bruder Ethelstan und ich in die Hände der Comanche fielen, die uns in ihr Dorf schleppten, wo Schreckliches geschah.
D
er Mond stand noch über den Felsen, als ich aufwachte. Ich rieb
mir die Augen. Auch mein Puma hob schlaftrunken den Kopf. Wer hatte uns geweckt? Die Wikinger standen drüben am Feuer. Aivik der Grönländer war zurückgekehrt. Ich hörte nur einige Gesprächsfetzen. „Was ist los, Patrick?“ fragte mich Edmund, der ebenfalls wach geworden war. „Ich weiss nicht.“ Aivik klärte uns schliesslich auf: „Skrälinger lagern am Ausgang der Schlucht. Sie tragen Kriegsbemalung und haben Gefangene bei sich.“ Wir traten auch ans Feuer. Ein Schläfer nach dem anderen gesellte sich zu uns. Gefahr war im Verzug! Was war zu tun? Ratlosigkeit machte sich breit. In der brenzligen Situation meldete sich Talmach zu Wort. Er machte uns Mut. „Wir reiten zurück und verschanzen uns in einer Nebenschlucht“, schlug er vor. „Man hat uns noch nicht entdeckt. Das ist unser Vorteil.“ Wir löschten das Feuer, verwischten die Spuren und marschierten den Weg zurück. Die Tiere führten wir am Zügel. Was war geschehen? Nachdem Talmach und ich über die Terrasse auf das Felsplateau und zu unseren Freunden zurückgekehrt waren, hatten wir Kriegsrat gehalten. Wir hatten uns gefragt, ob wir es wagen konnten, die Kelten anzugreifen? In dem Dorf der Ute hatten sich über hundert Krieger aufgehalten. Hätten wir es mit dieser erdrückenden Übermacht aufnehmen können? Wohl kaum! Wir hatten uns schliesslich zur Flucht entschlossen und waren noch in der gleichen Nacht aufgebrochen. Das war vor über drei Wochen gewesen. Der Weg hatte uns durch ein weites, rauhes Land mit hohen, zerklüfteten, schneebedeckten Bergen, fruchtbaren Flusstälern und ausgedehnten Grasweiden geführt. Nun befanden wir uns in dieser Felsenschlucht. Es war eine mondhelle Nacht. Unsere Silhouetten zeichneten sich wie die eines Geisterzuges auf den Felsen ab. Gesprochen wurde kein Wort. Nur das Klappern der Ponyhufe und hie und da das ängstliche Schnauben eines Tieres waren zu hören. Endlich verzweigte sich die Schlucht. Wir bogen in ein Nebental ein. Es war zwei oder drei Kilometer lang und ziemlich
breit. Plötzlich verengte sich das Tal. Hinter einer Schutthalde verkrochen wir uns. Bruder Ethelstan, Halldor und ich kauerten hinter einem Felsblock und lauschten in die Nacht hinein. Nichts war zu hören. Noch immer stand der Mond über uns. Die Felsen warfen lange Schatten. Sie krochen langsam durch die Schlucht. „Müssen uns diese Skrälinger ausgerechnet hier in der Schlucht über den Weg laufen“, schimpfte Halldor. „Sie werden uns nicht finden“, sagte Bruder Ethelstan. „Diese Skrälinger sind mit allen Wassern gewaschen“, widersprach der Bärentöter. „Die riechen sogar eine Fährte, wo es gar keine gibt. Ich traue der Ruhe nicht. Mein kleiner Finger sagt mir, dass wir uns mit diesen Skrälingern noch den Teufel auf den Hals laden werden, das kannst du mir glauben, Angelsachse.“ Die Ahnung des Wikingers sollte sich schon bald bewahrheiten. „Wir müssten rauskriegen, was sie vorhaben“, sagte Bruder Ethelstan. „Gehen wir hinüber und fragen sie“, meinte Halldor lakonisch. „Das wäre aber nicht klug“, hielt der Mönch in seiner arglosen Art entgegen. „Wie willst du wissen, was klug ist und was nicht, Angelsachse!“ „Die Skrälinger könnten auf dem Kriegspfad sein. Dann ist es besser, wir fragen sie nicht, was sie vorhaben.“ „Was bist du doch für ein kluges Kerlchen!“ „Streitet euch nicht schon wieder!“ legte ich den beiden Streithähnen nahe. „Eure Zankerei bringt uns nicht weiter.“ In diesem Augenblick gesellte sich Talmach zu uns. Er war gekommen, Halldor und mich zu einem Erkundungsgang mitzunehmen. Bruder Ethelstan war auch sofort Feuer und Flamme. Er wollte nicht abseits stehen. Doch die Erkundung war gefährlich. Sie war kein Kinderspiel. Der Mönch konnte uns alles verderben. Ihm fehlte das Geschick, ein feindliches Skrälingerlager auszukundschaften. Ich dagegen besass die Übung, die mir der Cree beigebracht hatte. Allein, wir konnten Bruder Ethelstan nicht abhalten, mitzukommen. Als wir Thorwald von unserem Vorhaben unterrichtet hatten, bemerkte ich Sommerwind. Sie sass mit dem Rücken an einem Baumstamm und kraulte den weichen Pelz meines Pumas. Dieser schnurrte entzückt. Heimlicher Neid beschlich mich. Sollte ich das Mädchen hier zurücklassen? Es mag sonderbar scheinen, dass ich mir schliesslich vornahm, Sommerwind auf den Erkundungsgang mitzunehmen, denn das Wagnis war gross. Doch dies zu erfassen, das war es, was mir in dem Augenblick abging. Ich redete mir ein, dass die Sache wohl nicht so schwierig sein könne. Ich handelte gegen meine eigene Überzeugung. Heute bereue ich meinen Entscheid. Wir legten unsere Waffen ab und machten uns sogleich auf den Weg. Den Puma übergab ich der Obhut von Edmund. Eile war geboten, denn die Nacht würde uns nicht mehr
lange Schutz gewähren. War es die Hast, welche uns die gebotene Vorsicht verabsäumen liess? Heute kann ich es mir nicht mehr erklären. Als wir in die Hauptschlucht einbogen, bemerkte niemand von uns, wie sich mehrere Gestalten aus den Schatten lösten und uns mit finsteren Augen nachblickten. Wir überquerten das Flüsschen, welches sich durch die Felsenschlucht zog. So kamen wir in die Nähe der Stelle, wo wir gelagert hatten. Wir hielten uns am Rande der Schlucht. Nun tauchte der Mond, der bisher den Talgrund versilbert hatte, hinter den Felsen ab. Es wurde pechschwarz um uns. Es war so dunkel, dass man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Immer wieder stolperten wir über unsere eigenen Füsse. Plötzlich gewahrten wir ein rotes, warmes Licht vor uns. Wir hatten das Lager der Skrälinger entdeckt. Nichts Gutes ahnend, blieb ich stehen. Die Nähe des Feindes machte mich bange. Ich glaubte, die Gefahr zu spüren. „Die Sache behagt mir nicht“, flüsterte ich dem Cree zu. „Geh du mit Halldor voraus. Ich bleibe mit Shawanung-nizeo und Bruder Ethelstan hier zurück.“ Der Häuptling pflichtete mir bei. Er wollte keine Zeit verlieren und verschwand mit dem Wikinger in der Dunkelheit. Bruder Ethelstan, die Toltekin und ich blieben zurück. Wir setzten uns auf die kalte, harte Erde und verhielten uns mäuschenstill. Ein leiser Wind war aufgekommen. In der Nähe hörten wir das Rauschen eines Baches. Vor uns standen einige hohe Tannen, durch die der Feuerschein des Lagers zu sehen war. So verging eine Stunde und noch eine halbe. Im Osten begann es bereits zu dämmern. Ich rieb meine steifen Glieder warm und blickte mich um. Ein jäher Schreck fuhr mir in die Knochen. Zwischen den hohen Tannen sah ich mehrere Gestalten. Sie blickten zu uns herüber. Sie hatten uns entdeckt. Ich warnte Sommerwind und Bruder Ethelstan. Erst jetzt nahm ich wahr, dass wir uns in der Dunkelheit einen unmöglichen Ort ausgesucht hatten. Man konnte uns von allen Seiten sehen. Wir sassen in der Falle! Die Gestalten kamen näher. Es waren Skrälinger. Sie trugen am ganzen Körper rote und gelbe Bemalung. Bruder Ethelstan zog sein Messer und stellte sich beherzt vor Sommerwind und mich. „Bruder Ethelstan, spiele nicht den Helden, und steck dein Messer weg!“ warnte ich den Mönch. Es waren Comanche, die uns aufgespürt hatten. Sie warfen uns verächtliche und stolze Blicke zu und führten uns in ihr Lager. Wir leisteten keinen Widerstand. Wir hätten auf verlorenem Posten gekämpft. Ein dumpfes Gemurmel ging durch die Reihen der Krieger, als sie uns erblickten. Hass las ich in ihren Gesichtern. Hassten sie uns? Wer hatte den Hass geschürt? Weshalb behandelten sie uns wie ihre Feinde? Was hatten wir ihnen getan? Wir waren Freunde der Skrälinger! Wir suchten auch die Freundschaft der Comanche!
Inzwischen war es hell geworden. Am Rande des Lagers sah ich die Gefangenen, von denen Aivik berichtet hatte. Sie waren an Bäume gebunden. Die Comanche führten uns hinüber. Ich erstarrte vor Schreck. Blutverschmierte Schädel stierten uns an. Es waren Skrälinger. Ihre Köpfe waren auf die Brust gesunken. Nur die Stricke hielten sie noch aufrecht an den Bäumen. Die Comanche hatten ihnen bei lebendigem Leib die Kopfhaut abgezogen. Ich war wie gelähmt. Welche Schmerzen mussten ihnen die Skalpiermesser zugefügt haben! Die nackte Verzweiflung packte mich. „Sie leiden nicht mehr. Sie sind alle tot“, flüsterte mir Shawanung nizeo zu, die mein Elend bemerkte. „Ich will nicht am Marterpfahl sterben!“ rief Bruder Ethelstan. „Ich habe nichts getan!“ In diesem Augenblick hörten wir Schreie aus der Schlucht. Diese versetzten das Lager in Aufruhr. Wie ich später erfuhr, hatten unsere Freunde beobachtet, wie die Comanche uns fortgeschleppt hatten. Durch die Schreie wollten sie die Skrälinger in die Schlucht locken. Tatsächlich ergriffen die Krieger ihre Waffen und eilten in die Schlucht hinein. Später hörten wir Rufe. Dann kehrten die Comanche zurück und banden Sommerwind, Bruder Ethelstan und mir die Hände auf den Rücken. Dann brachen sie in höchster Eile auf. Wir verliessen die Schlucht und stiegen zu einem Pass hinauf. Es war ein mühseliger Aufstieg. Er führte uns bis in eine Höhe von über zweitausend Metern. Das Gebirge bildete hier ein Labyrinth von zerklüfteten Felsen und ein verworrenes System einzelner Bergzüge. Ein Wildpfad führte uns mitten durch diese gewaltige Bergwelt. Hier oben streiften Pumas umher, hier jagten Wolfsrudel Dickhornschafe und Schneeziegen, und majestätische Steinadler erhoben sich in die Lüfte. Als wir einen steilen Pfad hinunterzogen, blies ein eisiger Wind über die Höhenzüge. Felsbrocken, verwachsenes Unterholz und vom Sturm entwurzelte Bäume versperrten den Weg. Wir waren froh, als wir die Bergpfade endlich hinter uns hatten. Schweigend bewegte sich der Zug durch die Bergwildnis. Ich war vor Angst mehr tot als lebendig. Die skalpierten Skrälinger begleiteten mich auf Schritt und Tritt. Was hatten die Comanche mit uns vor? Sie liessen uns im Ungewissen. Was war in der Felsenschlucht geschehen? Warum waren sie Hals über Kopf aufgebrochen? Wo waren unsere Freunde? Sie waren unsere einzige Hoffnung. Immer wieder hielt ich nach ihnen Ausschau. Doch nichts deutete darauf hin, dass sie unserer Fährte folgten. Ich verlor den Mut nicht. Ich wusste: Die Freunde würden uns nicht dem Schicksal überlassen. Ich sollte mich nicht irren. Als wir in einem Tal kampierten, hörte ich über dem Steilufer den Ruf eines Bartkauzes. Talmach und ich hatten den Vogel in den Felsschluchten beobachtet und versucht, seinen Ruf nachzuahmen. Ich erinnerte mich, dass die Imitation anfänglich nicht
gelingen wollte. Ich horchte auf. Der Ruf des Bartkauzes schien mir einen misstönenden Klang zu haben. Niemandem fiel diese Disharmonie auf. Aber ich wusste jetzt: Talmach befand sich in der Nähe. Wir verliessen das Tal und marschierten zu einem Fluss hinunter. War der Fluss das Ziel der Comanche? Ob die Skrälinger mit den Kelten unter einer Decke steckten? Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Als die Abendsonne die westlichen Höhenzüge eines kleinen Flusstales vergoldete, machten wir in einem Wäldchen halt. Bald brannten einige Feuer, über denen die Comanche Ziegenfleisch brieten. Sie banden uns die Handfesseln los und steckten uns auch einige Bissen zu. Selbstvergessen kaute ich an einem Stück Ziegenfleisch und bemerkte nicht, dass ich scharf ins Auge gefasst wurde. Es war Yamparika, der Häuptling der Comanche. Sommerwind machte mich auf ihn aufmerksam. Sein über der Stirn zu einem dicken Knoten zusammengebundene Haar und die stark gebogene Nase verliehen ihm ein düsteres adlerhaftes Aussehen. Die Stirn, die Wangen und die Kinnpartie waren geschwärzt. Die Farbe glänzte speckig. Die Nase krümmte sich bis zu den Lippen hinunter. Dahinter waren zwei lückenhafte Zahnreihen eingepflockt. Unsere Blicke trafen sich. Aber nun schweifte sein Blick zu Bruder Ethelred hinüber. Noch nie in seinem Leben hatte er einen buckligen Zwerg mit weisser Haut gesehen. Ich las Unsicherheit in seinem Blick. Was sollte er von dem Buckligen halten? War er ein böser Geist. Yamparika fürchtete sich vor bösen Geistern. Bruder Ethelstan schien ihm nichts Gutes zu verheissen. Warum war ihm dieser Gedanke nicht früher gekommen? Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Die blosse Vorstellung, dass er einen bösen Geist in seine Gewalt gebracht haben könnte, erschreckte ihn. Als sich unsere Blicke wieder trafen, konnte ich seine Gedanken lesen. Sie standen so klar auf seinem Gesicht, als seien sie dort hingeschrieben worden. Yamparika erhob sich von seinem Platz am Feuer und kam zu mir herüber. „Yamparika will mit dem Blassgesicht sprechen“, sagte er in einem holprigen Toltekisch, das er bei seinen Raubzügen in den Süden aufgeschnappt haben musste. Ich schaute dem Roten in die Augen und mimte den Ahnungslosen. „Was willst du?“ fragte ich schroff und im gleichen holprigen Toltekisch, das ich von Sommerwind gelernt hatte. Der Comanche war überrascht, dass ich ihn verstand. Er liess sich aber nichts anmerken. „Yamparika will das Blassgesicht etwas fragen.“ Ich schwieg erwartungsvoll. „Das Blassgesicht ist nicht alleine in die Jagdgründe der Comanche gekommen“, schlich er wie die Katze um den heissen Brei herum. Ich nickte vielsagend.
„Warum ist das Blassgesicht nicht allein in die Jagdgründe der Comanche gekommen?“ Ich schwieg noch immer, da ich aus ihm nicht klug wurde. „Yamparika will wissen, warum das Blassgesicht mit dem Zwerg in die Jagdgründe der Comanche gekommen ist“, wurde er etwas deutlicher. „Ich verstehe nicht. Warum willst du das wissen?“ „Yamparika hat seinen Grund, warum er das wissen will.“ Hartnäckig gab ich keine Antwort. „Yamparika kennt den Zwerg nicht“, bohrte er ebenso hartnäckig weiter. „Auch mich kennst du nicht.“ „Du bist ein Blassgesicht.“ „Das brauchst du mir nicht zu sagen.“ „Warum ist der Zwerg in die Jagdgründe der Comanche gekommen?“ „Bruder Ethelstan ist ein Mönch.“ Da ich das toltekische Wort für „Mönch“ nicht kannte, übersetzte ich es mit „geistlich“, was der Skrälinger prompt als „Geist“ auslegte. Er blickte mich entgeistert an, als hätte ich ihm eine schreckliche Mitteilung gemacht. „Ist der Zwerg ein guter oder ein böser Geist?“ fragte er. Ich roch den Braten. „Ob er gut oder böse ist, hängt ganz von eurem Verhalten ab“, lockte ich ihn in die Falle. Yamparika verschlang Bruder Ethelstan geradezu mit den Augen. Ehrfurcht und Bewunderung reckten sich gleichermassen. Der Mönch nagte indes in stoischer Ruhe die letzten Reste des Ziegenfleisches vom Knochen ab. Noch knurrte ihm der Magen. Durfte man einen Geist hungern lassen? „Bruder Ethelstan ist noch hungrig“, sagte ich. Die Nase des Skrälingers krümmte sich bis zu den Zähnen hinunter. Als wäre er bei einem Bubenstreich ertappt worden, schlich er ans Feuer, schnitt dort eine Keule vom Ziegenbraten ab und reichte sie dem Mönch. Gesättigt legten wir uns später zur Ruhe. Am anderen Morgen ging es weiter. Wir hatten die Nacht ohne Fesseln verbracht. Keiner der Comanche hatte es gewagt, sie uns wieder anzulegen. Auch während des Marsches getraute sich keiner der Krieger in unsere Nähe. Diese Erleichterung gab uns wieder etwas Mut. Wir erreichten einen grossen Fluss. Hatten wir das Ziel erreicht? Was hatten die Skrälinger mit uns vor? Die herbstlichen Wälder und der Fluss selbst hüllten sich in Schweigen. Ihnen war das Geheimnis wohl nicht zu entlocken. Im Osten erhoben sich schneebedeckte Berge. Als hätte ich es geahnt, ritten die Comanche flussaufwärts diesen Bergen entgegen. Mir wurde angst und bange. Wollten sie da hinauf? Als wir am Abend an dem grossen Fluss lagerten, schmiegte sich Sommerwind an mich. Ich
schaute sie an. Eine selige Ruhe las ich in ihrem Gesicht. Ein rätselhaftes Gefühl durchströmte mich. Was war das? War es eine Ahnung, die mich plötzlich beschlich? „Schon lange spricht die Stimme meines Körpers zu mir, Patrick“, sagte das Mädchen. „Was hat dir denn die Stimme deines Körpers gesagt?“ fragte ich kleinlaut. „Du erinnerst dich, Patrick, als wir zu der Insel im Fluss hinübergeschwommen waren.“ „Wie kann ich diesen Tag vergessen, Shawanung-nizeo?“ „Auch ich werde es nie vergessen. An jenem Tag haben wir das Feuer des Lebens entzündet.“ „Und die Stimme, was hat sie dir gesagt?“ fragte ich ungeduldig. „Die Stimme hat mir gesagt, dass bald ein kleiner Mensch in den Kreis unseres Lebens treten wird.“ „Du erwartest ein Kind?!“ rief ich aufgeregt. „Psst!“ warnte sie mich. „Die Comanche müssen es nicht erfahren.“ „Bekommst du ein Kind, Shawanung-nizeo?“ wisperte ich mit fiebriger Stimme. „Ja, lieber Patrick, du wirst Vater“, flüsterte sie mir das süsse Geheimnis zu und lächelte. Ihr Lächeln befreite mich. Wann hatte ich ihr Lächeln letztmals gesehen? Es war unendlich tief, und jedesmal versank ich darin. Ich versank gerne darin. Und nun weihte sie mich mit diesem Lächeln in das süsse Geheimnis ein. Ich war mit mir selbst uneins. Die Sorge war grösser als die Freude. Was hatten die Comanche mit uns vor? Wohin würden sie uns führen? Ich begann zu rechnen: Ende August hatten wir uns auf der Insel geliebt. Ende Mai würde Sommerwind also unser Kind bekommen. Die Verantwortung begann schwer auf mir zu lasten. Hier in den Bergen konnten wir nicht bleiben. Eingehüllt in die Dunkelheit tuschelten wir stillvergnügt wie Kinder. Die Skrälinger merkten von allem nichts. Erst lange nach Mitternacht schlief Sommerwind in meinen Armen ein. Am nächsten Morgen marschierten wir den schneebedeckten Bergen entgegen, wo wir auf eine Landschaft stiessen, wie ich sie mir in meinen schönsten Phantasien nicht auszumalen gewagt hätte. Die Szenerie war eindrucksvoll, gewaltig. Wir drangen in das Innere einer engen, tief eingeschnittenen Schlucht ein. Links und rechts von uns ragten mächtige Felsen in die Höhe, und fasziniert und gebannt zugleich entdeckte ich die griechische Akropolis über mir, mit Parthenon, Peristyl, Aetos, Krepidoma und den Propyläen, so, wie ich sie in den Büchern der Klosterbibliothek von Iona gesehen hatte. Die Jahrhunderte hatten aber auch dorische, ionische und korinthische Säulen in die Felsen gehauen, und ergriffen konnte ich Simen, Geisa, Mutuli, Triglyphen, Metopen,
Architrave, Kymatien, Abakus, Echinus, Hypotrachelien, Voluten, Blattkränze, Säulenschäfte, Kannelierungen, Tori, Trochilen, Rundplatten, Plinthen und Stylobaten unterscheiden. Es zeigten sich aber auch Stelen mit Akroterien und Hermen und eine Karyatide, welche auf dem Kopf ein Kranzgesims trug. Sogar ein Theatron mit Skene, Proskenium, Orchestra und Thymele konnte ich schauen. Zwischen all den Mauern, Torbauten, Säulen, Kapitellen und Standbildern rankten sich Perlenschnüre, Zierbänder, Ornamente, Palmetten und Mäander. Und das alles erstrahlte in einer unbeschreiblichen Farbenpracht. Durch das schräg von oben einfallende Sonnenlicht fluoreszierten die Steinmassen in tausend und aber tausend Schattierungen. Wunderschönes Schichtgestein glitzerte kupferrot und purpur neben einer Felsenkluft, deren Tönung sowohl das Smaragdgrün als auch das Türkis in sich begriff. Darunter leuchtete die Schichtstufe kobaltblau und indigo. Eine Felsterrasse darüber wies bernsteingelbe Nuancen auf. Das Auge schweifte von Gesteinsschicht zu Gesteinsschicht, von einem schimmernden Flieder zu einem funkelnden Pfefferrot, von einer anthrazit kolorierten Verwerfung zu einer ocker gefärbten Überschiebung, von einem Staffelbruch zu einer Pultscholle, von einer wasserblau spiegelnden Hangrinne zu einem grasgrün spriessenden Bergsattel und von einer feuerrot brennenden Felsschulter zu einer sonnengelb gleissenden Schutthalde. Wer mochte all diese Pracht geschaffen haben? Welcher geniale Geist hatte dieses Werk ins Leben gerufen? Gott? Es musste ein freizügiger und offener Gott sein, der hier am Werk war! War es mein Gott, der weit weg im Kloster Iona gepriesen wurde? Oder war es der Grosse Geist der Skrälinger? Die Gedanken liessen mich nicht mehr los. Wir hatten die Felsenschlucht, die mir wie das Gefilde der Seligen erschienen war, verlassen und durch Abgründe, Sturzbäche und Moraste den Weg in eine ausgedörrte Steppe gefunden, die mir als ein Ort der Verdammnis in Erinnerung geblieben ist. Heute, meinem sündigen Leben nahe, sträubt sich alles in mir, der Chronistenpflicht nachzukommen und von jener schauderhaften Begebenheit zu berichten, welche mein Leben verändert hatte. Dicht an einem schmutzigen Rinnsal hin führte der Weg in eine öde Gegend. Das welke, verbrannte Gras zeugte von einem harten, widerspenstigen Boden. In einem Gehölz lag ein kleines Dorf der Comanche, aus dem schon von weitem Gesang und Trommeln ertönten. Als wir in das Dorf geführt wurden, empfand ich ein ahnungsvolles Schaudern. Im Schutze des Gehölzes sah ich einige Tipis. Auf die Kunde von unserer Ankunft gab es einen riesigen Zulauf. Nackte Skrälinger, die hier ein armseliges Dasein fristeten, fanden sich ein, um uns zu bestaunen. Wie Hyänen, denen man einen Knochen hinwirft, stürzten sich alte Weiber auf Sommerwind, um sie als Sklavin in ihr Tipi
zu schleppen. Auch mir erging es nicht besser. Auf einen Wink von Yamparika wurden mir die Arme mit Stricken fest an den Leib gebunden und die Beine eng aneinandergeschnürt. So schleppten mich die Skrälinger an einen Baum und banden mich dort fest, dass ich weder fallen noch mich rühren konnte. Gott sei Dank wurde Bruder Ethelred von dieser Ruchlosigkeit verschont. Er konnte sich frei im Lager bewegen. Nun erfuhr ich, wem der Gesang und die Trommeln gegolten hatten. Den Comanche waren nämlich drei Zuni in die Hände gefallen, die sie auch an die Bäume gebunden hatten. Während dem ersten Schock stand ich ganz still an meinem Baum. Ich war in einer unbeschreiblichen Stimmung. Es war mir nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich hatte gehofft, die Comanche würden uns in der Steppe freilassen. Plötzlich trat Stille im Dorf ein. Ich sah die Comanche, welche uns hergeschleppt hatten, in völlig verändertem Aufzug. Sie hatten ihre Fellroben, Lederwams und Leggings abgelegt und waren nur noch mit Durchziehschurzen und einigen Kopffedern bekleidet. Am ganzen Körper trugen sie rote, gelbe und blaue Bemalung. Die Blicke wanderten zu Yamparika hinüber. In diesem Augenblick erhob sich im ganzen Lager ein grässlicher Schrei, der mir durch Mark und Bein ging. Zwei Krieger packten einen der Zuni, zerrten ihn in die Mitte eines kleinen Platzes, wo in einem Feuerkreis ein Pfahl stand, rissen ihm die Kleider vom Leibe und banden ihn an den Pfahl. Mit Holzkohle schwärzten sie ihm das Gesicht. Dann bewarfen die Peiniger den Zuni mit glühenden Kohlen und stiessen ihm brennende Stäbe ins Fleisch. Ein Schauder des Entsetzens ergriff mich. „Gott sei uns gnädig!“ flehte ich. Was musste im Kopf des jungen Zuni vor sich gehen! Er wusste natürlich, was ihm bevorstand. Er war sich auch bewusst, dass die Martern von seiner Standfestigkeit und seinem Mut abhingen. Wenn er also zeigte, dass er den Foltern standhielt und auch vor dem Tod nicht zurückschreckte, dann erwarb er die Achtung seiner Zuschauer. Einen Feigling zu martern war keine Ehre! Je standhafter er also die Schmerzen ertrug, die ihm die Folter bereitete, desto höher stieg sein Ansehen und desto unbarmherziger wurde er gequält. Unverwandten Blicks musterte er seine Peiniger und bewahrte die Fassung. Ich zweifelte nicht daran, dass er den langsamen Tod gewählt hatte. Die Marter begann damit, dass man dem Unglücklichen mit den Zähnen alle zehn Fingernägel ausriss, einen nach dem anderen. Dann steckten sie seine Finger in den Kopf einer Pfeife und rauchten sämtliche zehn Finger, alle nacheinander. Danach zündeten fünf oder sechs Krieger Fackeln an und hielten sie so lange an seine Fuss- und Handgelenke sowie an seine Schläfen, bis Nerven und Fleisch bis auf die Knochen verbrannt waren. Man könnte meinen, dass ein Mensch, der so gefoltert wird, Tränen vergiesst oder jämmerliche Schreie ausstösst. Aber der
Zuni verhöhnte seine Peiniger, nannte sie Feiglinge und Schlappschwänze, denen der Mut fehle, ihn in kleine Stücke zu schneiden. Gott ist mein Zeuge: Als eine Stelle seines Körpers noch vom Feuer verschont geblieben war, wies er selbst darauf hin und sprach zu seinen Folterknechten: „Falls ihr jemals von meinem Stamm gefangengenommen und in meinem Dorf verbrannt werdet, weint nicht und schreit nicht auf, denn ein wahrer Krieger sollte sterben, wie ich es tue.“ Es ist unvorstellbar, aber der Zuni hatte die Tortur durchgestanden. Nun bekam er ein Halsband aus rotglühenden Steinen angepasst, das ihm über die Schulter gehängt wurde. Dann schnitt sich jeder mit dem Knochenmesser ein Stück aus seinem Hinterteil heraus, grillte und ass es. Die Frauen hielten Kessel mit kochendem Wasser bereit, das sie über diese Wunden gossen. Von Zeit zu Zeit stiessen sie ihm schwelende Lanzen in den Hals und in die Achselhöhlen. Seine Genitalien brannten sie mit Baumrinde an, die besonders hell aufloderte. Am Ende zogen die Peiniger dem Opfer die Kopfhaut ab, warfen heisse Asche und Sand auf das geschundene, blutige Fleisch und schnitten ihm den Kopf ab. Das ganze Dorf stiess Schreie der Begeisterung und des Entzückens aus, als ob man einen grossen Sieg errungen hätte. Wer diese grauenhafte Schilderung liest, dem mag es vielleicht schwerfallen, zu glauben, dass ein Mensch solche Qualen erdulden kann, ohne zu sterben – sie liessen ihm keine Arterie und keinen Nerv, der nicht dem Feuer oder dem Messer ausgesetzt worden war – aber sie ist völlig wahr. Obwohl ich die Lebensweise der Skrälinger kennen und schätzen gelernt hatte und ihre Kultur in tiefster Seele bewundere, betrachte ich die Folterung des Feindes am Marterpfahl als eine Gotteslästerung. Inzwischen hatten die Comanche den zweiten Zuni an den Pfahl gebunden. „Mein Gott, lass diesen Kelch an uns vorübergehen!“ begann ich zu beten. Ich konnte den Anblick dieser Greuel nicht mehr ertragen und wandte den Kopf ab. Wie durch Zufall sah ich in diesem Augenblick einen Zweig, der am Rande des Gehölzes bewegt wurde. War es ein Vogel, der sich dort zu schaffen machte? Ich liess die Stelle nicht mehr aus den Augen. Tatsächlich! Zwischen den Bäumen bewegte sich etwas. Wer gab mir dieses Zeichen? Wer steckte dort im Gehölz? Die Folter hatte gerade wieder begonnen, als von den Tipis her das laute und klägliche Geheul eines Hundes zu hören war. Dann gellte der Kriegsruf der Cree durch das Dorf. Das war Talmach! Zugleich hörte ich vom Gehölz her ein ungewöhnliches Stampfen und Dröhnen. Wie aus dem Boden gewachsen brachen Wikinger und Skrälinger durch das Dickicht und schwärmten nach allen Seiten aus. Das Wutgeheul der Comanche, die nach ihren Waffen suchten, die Angstschreie der
fliehenden Frauen und Kinder und das Gegröle der Wikinger vermischten sich jetzt zu einem wüsten Kampfeslärm. Mit einmal ging alles drunter und drüber. Mit Ungestüm stürzten sich Wikinger und Skrälinger auf den Feind, der sich auf allen Seiten vom Rückzug abgeschnitten sah. Talmach bahnte sich einen Weg durch die Reihen der fliehenden Comanche, brachte sich als erster an meine Seite und durchschnitt meine Fesseln. „Mein Bruder“, sagte ich voller Dankbarkeit. „Mein Bruder, du lebst“, sagte der Cree. „Wer sind die Skrälinger, die mit uns kämpfen?“ fragte ich den Häuptling. „Es sind Zuni. Wir haben sie in der Felsenschlucht getroffen, als sie eurer Fährte folgten.“ Die eingekreisten Comanche leisteten verzweifelten Widerstand. Jetzt entdeckte ich auch Asmund und Halldor. Sie standen Rücken an Rücken mitten im Knäuel der Kämpfenden, drehten sich wie Kreisel um die eigene Achse und verteilten nach allen Seiten Schläge mit ihren blanken Streitäxten. Die Übermacht der Wikinger und Zuni begann die Comanche zu erdrücken! Sie hatten nichts mehr aufzubieten, um den Ring zu sprengen, der sich immer enger um sie schloss. Schliesslich machten Wikinger und Zuni ihrem verzweifelten Widerstand ein blutiges Ende.
Jetzt beginnen die Männer an Land, Heu für die Tiere zu verladen.
18. Kapitel
Der Cacique
Wie es Gott gefiel, dass mich Berserk wiedererkannte, dass uns der Cacique der Zuni in sein Lehmdorf führte, wo ich eine Töpferei bestaunen konnte, und dass uns Shawanung-nizeo von ihrem Bruder erzählte.
A
ls die Novembersonne am anderen Morgen über den Rand der
Steppe blickte, sah sie das brennende Dorf der Comanche. Die Zuni hatten den ganzen Stamm niedergemetzelt und dann das Dorf angezündet. Als das Feuer zum Himmel loderte, befanden wir uns bereits auf dem Weg zur Felsenschlucht, wo die Wikinger unter der Obhut meiner angelsächsischen Brüder ihre Tiere zurückgelassen hatten. Keine Sekunde länger als nötig wollten wir an diesem schrecklichen Ort bleiben. Die Wikinger hatten Gott sei Dank keine Toten zu beklagen, einige waren leicht verwundet worden, darunter auch Halldor der Schädelspalter, der den Arm in der Binde trug. Als ich mit Sommerwind, die sich eigenhändig aus dem Tipi der Comanche befreit hatte, am Eingang zur Felsenschlucht stand, scheuchten Vögel aus einer Baumgruppe hoch. Ich strengte meine Augen an. Ein Schatten schlängelte sich durchs Gras. Dann tauchte ein dunkel geflecktes Fell auf und legte sich auf den Schatten. Ich zuckte zusammen. Was war das dort im Gras? Ein Tier! Eine Raubkatze? Ein kleiner Puma! Ich blickte in funkelnde Augen. Jetzt erkannte ich ihn: Berserk! Kein Augenblick in meinem Leben ist mir so in Erinnerung geblieben wie dieser. Wenn ich geglaubt hatte, der kleine Racker würde mich nicht mehr erkennen, so hatte ich mich gewaltig geirrt. Mit grossen Sprüngen kam er heran. Ich kniete auf den Boden und wurde im gleichen Augenblick von der Katze stürmisch begrüsst. Dabei muss ich das Gleichgewicht verloren haben. Die Freude des Wiedersehens überwältigte den Puma. Ehe ich mich versah, lag er mit den Vorderpfoten auf mir und leckte mein Gesicht ab. Dabei schnurrte er verzückt. Ich konnte mich nicht bewegen. „Halt ein!“ rief ich gerührt. Thorwald bog sich vor Lachen über diese feuchtfröhliche Begrüssung: „Hat die Welt schon so ein Paar gesehen! Poussieren mitten in der Wildnis wie Verliebte!“ Mein Berserk! Wir hatten uns wieder. Ich streichelte sein Fell. Es war dicht, kurz und weich. Beharrlich schnurrte er. Es war ein lustvolles Schnurren. Die Katze legte sich auf den Rücken. Ich kraulte ihr dichtes, kurzes und weiches Fell. In den Wochen, seit wir das Pumababy gerettet
hatten, war es beachtlich gewachsen. Schon bald würde man den kleinen Racker von einem ausgewachsenen Puma nicht mehr auseinanderhalten können! Ich stand auf, und der Racker ging voraus, so, wie er es immer getan hatte. Wir näherten uns dem Eingang der Schlucht, wo uns die Freunde mit den Tieren erwarteten.
D
ie Zuni hatten uns in ihr Dorf geführt. Es lag an einem grossen
29[1]
Fluss , an dessen Ufer ich bewässerte Maisfelder sah. Diese Dorfbewohner waren also Feldbauern. Was mich aber noch mehr beeindruckte, als die Gegebenheit, dass sie Mais anpflanzten, war ihr Dorf selbst. Es bestand aus terrassenförmig übereinander angelegten 30[2] 31[3] gebaut waren. Lehmhäusern , die aus luftgetrockneten Lehmziegeln Die Wohnungen besassen mehrere Stockwerke, von denen die oberen immer weiter zurückgezogen waren, so dass Terrassen entstanden. Zum Schutz vor Überfällen hatten die unteren Stockwerke weder Türen noch Fenster; die Bewohner stiegen daher mit einziehbaren Leitern durch Luken im Dach ein. Wir wurden von den Dorfbewohnern freudig 32[4] begrüsst. Als sie erfuhren, dass wir die Apachu Nabahu , wie sie die Comanche nannten, vernichtend geschlagen hatten, führten sie wahre Freudentänze auf. Wir wurden eingeladen, über die Leitern in ihr Dorf zu steigen. Nun konnte ich vom Dach des untersten Hauses das Innere des Dorfes bewundern. Die Wohnungen waren im Rechteck um einen 33[5] begrüsste, offenen Platz herum angelegt, auf dem uns der Cacique der einen Fichtenzweig in der Hand hielt. Am Körper war er weiss und schwarz bemalt. Er trug einen Schurz aus dem Fell eines Bären und einen ledernen Gürtel. An den Knöcheln hatte er Bänder aus Stinktierfell um die weissen Mokassins gebunden, und ein Fuchsschwanz hing auf 34[6] seiner Rückseite herab. Der Cacique führte uns in die Kiva , einen von der Religion durchdrungenen Raum, wo die täglichen Riten stattfanden. Shawanung-nizeo verstand die Sprache der Zuni und konnte so unser
29[1]
Heute: Rio Grande Später wurden diese Dörfer von den Spaniern Pueblos genannt. 31[3] Spanischer Ausdruck: Adobe 32[4] Feind der kultivierten Felder 33[5] Häuptling 34[6] Besonderer Raum, der den architektonischen Mittelpunkt des Dorfes bildete. 30[2]
Gespräch übersetzen, das sich vor allem um die Vernichtung der Apachu Nabahu und um uns drehte. Am Nachmittag kletterten Edmund, Sommerwind und ich über eine Leiter auf das höchstgelegene Dach des Dorfes. Hier hatten wir einen herrlichen Ausblick auf den Fluss und die Maisfelder. Wir genossen die Ruhe hier oben. Auch Berserk, mein kleiner Puma, beobachtete die Gegend mit grossem Interesse. Ausser uns befand sich keine Menschenseele hier oben. Unter uns bemerkte ich einen Käfig, der aus Lehmziegeln und Holzstangen gefertigt war. Die Dorfbewohner hielten dort einen Adler gefangen. Daneben war eine Keramikwerkstatt eingerichtet worden. Über einem Kamin kräuselte sich leichter Rauch. Wir stiegen vom Dach herunter und schlenderten zu der Werkstatt hinüber. Als wir sahen, dass drinnen gearbeitet wurde, traten wir ein. Ein Keramiker modellierte gerade eine grosse Schale, und ein Maler dekorierte ein Steingefäss. Auf Holzgestellen türmten sich fertige Keramikwaren aller Art: so eine grosse Tonschale mit vier stufenförmigen „Zinnen“, die auf der Innenseite ein Libellenmotiv zeigte und auf der Aussenseite modellierte Frösche, rotwarige Behälter in Form von Mokassins zum Aufbewahren von Kleinkram, ein kleiner Topf mit Enten- und stufenförmigen Regenbogenmotiven, ein steinerner Jaguarfetisch, ein grosses Tongefäss mit Regenvogelmuster, eine grosse Keramikschale und ein ringförmiger Untersatz für heisse Töpfe, mit Yucca-Blättern umwickelt. Ich konnte meinen Blick von den vielen Kunstwerken nicht abwenden. Ich ging eifrig umher und bezeugte meine Bewunderung. Eine leise Wehmut erfasste mich dabei, denn im Kloster Iona gab es auch eine Töpferei, wo ich oft Hand angelegt hatte. Sommerwind musste mein Sehnen bemerkt haben, denn sie fragte mich: „Woran denkst du, Patrick?“ „Diese Tonwaren erinnern mich an die Töpferei im Kloster Iona, Shawanung-nizeo, wo ich oft dem Keramiker geholfen hatte“, antwortete ich. „Ich denke auch oft an meine Heimatstadt Tollán und an meinen geliebten Bruder“, schüttete mir Shawanung-nizeo ihr Herz aus und ich spürte eine leise Sehnsucht in ihrer Stimme. „Ich war noch ein Kind, als mich die Totonaken an die Pochteca verkauft hatten, die mich nach Norden brachten. Vater und Mutter hatte ich nie gekannt; Ce acatl 35[7] topiltzin , mein älterer Bruder, hatte mich bis zu meinem achten Lebensjahr grossgezogen. Wenn Mictlantecuhtli, der Herr über das Land der Toten, meinen Bruder noch nicht zu sich geholt hat, dann werde ich ihn vielleicht wiedersehen. In der Zeit, als ich bei den Chipewyan im Norden war, habe ich meinen Bruder nie vergessen. Du musst ihn unbedingt kennenlernen, Patrick. Er wird dir auch gefallen. Und dann 35[7]
Unser Herr Eins Rohr
werden wir heiraten, und Ce acatl topiltzin wird uns segnen. Im Froschmond werden wir dann unser Kind bekommen, Patrick. Wir werden viel Freude in Tollán haben. Es gibt dort schöne Tempel, Paläste, Pyramiden und einen grossen Ballspielplatz. Ich werde dir alles zeigen.“ „Die Chipewyan nannten dich Shawanung-nizeo. Wie war dein Name bei den Tolteken?“ „Ce acatl topiltzin nannte mich Chicomecoatl“, sagte Sommerwind, 36[8] „aber ich habe Tlahuizcalpantecuhtli versprochen, diesen Namen erst wieder zu tragen, wenn ich nach Tollán zurückgekehrt sein werde.“ „Ist dein Bruder eigentlich ein Krieger der Tolteken?“ wollte ich nun wissen, nachdem Sommerwind des Lobes voll über ihn war. „Ce acatl topiltzin ist der König der Tolteken!“
36[8]
Morgenstern, Gottheit
Für die Fahrt nach Grönland wird auch ein Beiboot auf der Knorre sicher verstaut.
19. Kapitel
Maistanz
Wie es Gott gefiel, dass die Zuni und Wikinger beim Maistanz und Bogenschiessen einander näherkamen, dass Thorwald dem Cacique seine navigatorischen Instrumente erklärte und dass uns ein nächtlicher Besuch zu Leibe rückte.
E
s war der Mond, in dem der alte Gesell am Bärensee das Reisig
ausbreitete. Hier im Südwesten des Skrälingerlandes war es warm. Es war die Zeit des Maistanzes. Eines Morgens war das ganze Dorf der Zuni in helle Aufregung geraten. Die Frauen hatten sich einen mit Mustern bemalten und mit Federn geschmückten tafelähnlichen Kopfschmuck aufgesetzt und trugen Fichtenzweige in den Händen. Die Männer hatten sich zusätzlich mit Kalebassenrasseln gewappnet, die den nun wild losbrechenden Maistanz untermalten sollten und trotz allem Tumult einen gewissen Rhythmus erzeugten. Vor unseren Augen wirbelten, sprangen, stampften, hüpften und krochen Frauen und Männer am Ufer des Flusses singend im Kreise herum und ahmten Sonne, Wind und Wasser nach, die die Feldfrüchte zum Keimen und Reifen bringen sollten. Auch Bruder Ethelwulf und Bruder Ethelstan hatten sich unter den kritischen Augen von Bruder Ethelred ins Gewühl geworfen. Die Rhythmen von Sonnentanz und Maistanz waren von ähnlicher Art, und schliesslich wollten sie sich den Spass nicht entgehen lassen. Es dauerte dann nicht lange, bis auch Halldor der Bärentöter Gefallen an dem Tanzfest fand und sich mit seiner Armbinde ebenfalls ins Getümmel stürzte. Am späteren Nachmittag, der Tanz wollte kein Ende nehmen, sollte auf einem Nebenschauplatz ein Bogenschiessen stattfinden. Die Wikinger wollten nicht hinter den Zuni zurückstehen und veranstalteten kurzerhand das Schiessen. Dem Sieger winkte eine Ziege. Ich hatte Pfeil und Bogen dabei, als Talmach und ich auf dem Platz erschienen, wo das Schiessen bereits im Gange war. Die Zuschauer umstanden die zum Wettkampf angetretenen Schützen. Unter diesen befanden sich auch Thorwald, Asmund der Schädelspalter und Aivik der Eskimo. Die Wikinger hatten sich schon mehrmals die Kehlen mit Bier angefeuchtet, von dem sie immer noch einige Fässchen vorrätig hielten. Trotzdem trafen sie nicht schlecht. Asmund spannte gerade seinen Bogen, visierte das Ziel an, welches eine Scheibe an einer Tanne war, und liess den Pfeil von der Sehne schnellen. „Treffer zwei Finger neben dem Auge!“ rief Halldor, der die Scheibe untersuchte.
„Willst du es auch einmal versuchen, Angelsachse?“ fragte mich Thorwald. Ich war natürlich Feuer und Flamme. Talmach zwinkerte mir zu. Er hatte mir das Bogenschiessen beigebracht. Ich war ein gelehriger Schüler gewesen. Ich spannte also den Bogen, zielte kurz und schoss. „Vier Finger am Auge!“ rief der Bärentöter an der Scheibe. „Das war natürlich Zufall“, sagte der Schädelspalter. Nachdem ich einen neuen Pfeil aus dem Köcher genommen hatte, ging ich unter den aufmerksamen Augen von Asmund und in der gleichen Entfernung von der Scheibe nochmals in Position. Ich fasste das Ziel scharf ins Auge und liess den Pfeil losschnellen. Halldor verkündete wieder das Ergebnis: „Drei Finger am Auge!“ „Ausgezeichnet, Angelsachse!“ hörte ich den Jarl rufen. Mein erster Schuss hatte einige Zuschauer angelockt. Bei meinem zweiten Schuss ging ein Raunen durch deren Reihen. Meine Bemühungen trugen jetzt offenbar Früchte. „Lasst Ahfitche auch schiessen!“ rief einer der Zuschauer und bahnte sich mit grossen Schritten einen Weg durch die Menge. Ich erkannte ihn sogleich. Es war der Cacique der Zuni. „Es gilt die zwei Finger neben dem Auge zu schlagen, die Asmund vorgelegt hat, Ahfitche!“ rief Thorwald. Mit einem Lächeln trat der Cacique vor und liess sich von Asmund Pfeil und Bogen geben. Er spannte die Sehne, zielte und schoss. „Einen Finger am Auge!“ rief der Wikinger mit der Armbinde an der Scheibe. Andere Schützen versuchten ihr Glück. Doch keiner kam näher als eine Handbreit an das Auge. Bisher hatte noch kein Schütze das Auge getroffen. Das Bier hatte wohl dazu beigetragen. Ahfitche, Asmund und ich hatten am besten geschossen. „Jetzt soll es Ernst werden“, sagte Halldor, der zu uns getreten war. „Der nächste Schuss soll die Entscheidung bringen. Wer den Pfeil am nächsten da vorne am Auge plaziert, dem soll die Ziege gehören.“ „Das ist ein Wort, wie es nur ein Wikinger gibt“, rief Asmund und rieb sich erfreut die Hände. Er fühlte sich offenbar schon wie der sichere Sieger. Die Schützen traten also nochmals an. Ein Schuss nach dem andern fiel. „Scheibe verfehlt! Zwei Handbreit neben dem Auge! Scheibe verfehlt!“ hörten wir den Bärentöter rufen. Asmund, der Cacique und ich, die Besten des ersten Schiessens, kamen als letzte an die Reihe. Ich machte den Anfang. Mit grösster Sorgfalt legte ich den Pfeil auf die gespannte Sehne. Ich war nervös. Ich wollte vermutlich zuviel. Zweimal legte ich an. Dann liess ich den Pfeil losschnellen. Dieser bohrte sich eine Handbreit neben dem aufgemalten
Ochsenauge in die Scheibe. Meine Enttäuschung war gross. Nun war die Reihe an Asmund. Er sah sich schon als sicherer Sieger vom Platz gehen. Zu schlecht hatten die anderen Schützen getroffen. Dementsprechend waren seine Gesten. Er schoss. Als der Pfeil in der Scheibe steckte, meldete sich Halldor: „Zwei Finger neben dem Auge!“ „Die Ziege gehört mir!“ rief der Wikinger etwas voreilig. „Der Cacique muss auch noch schiessen!“ setzte sich Thorwald für den Zuni ein. „Ja, der Cacique hat noch einen Schuss frei!“ reklamierten auch die Zuschauer. „Soll mir recht sein“, rief Asmund, „sein Pfeil wird zeigen, wer der Meisterschütze ist.“ Ahfitche stellte sich wieder auf. Eine unheimliche Spannung lag in der Luft. Der Cacique schoss, und ein Raunen ging durch die Zuschauer. „Treffer mitten ins Auge!“ Die Zuni stiessen Freudenschreie aus, als Ahfitche die Ziege in Empfang nehmen konnte. „Ein ausgezeichneter Schuss, Cacique. Du hast dir die Ziege verdient“, sagte Thorwald, der den Preis überreichte. Nach dem Maistanz und dem Bogenschiessen kamen Zuni und Wikinger vor den Mauern des Dorfes zusammen. Überall brannten Feuer, über denen geschlachtete Truthähne und Hunde gebraten wurden. Das ganze Dorf war zu dem Schmaus eingeladen. Die Wikinger hatten einige Fässchen Bier beigesteuert. Sommerwind, Talmach, Edmund und ich zogen uns vom Fest zurück und machten es uns bei einer Lehmhütte gemütlich, die am Fluss stand. Während bei den Dorfbewohnern und Wikingern grosses Geschrei und viel Hin und Her herrschte, plätscherte neben uns Wasser von einem hölzernen Gerinne in die Schaufelkammer eines Wasserrades. Das leise Knarren des Wasserrades und das vertraute Plätschern des Wassers zogen uns in ihren Bann. Shawanung-nizeo erzählte uns von der geheimnisvollen Stadt Tollán und ihrem Bruder Ce acatl topiltzin. Dabei mussten wir die Zeit vergessen haben. Als es dunkel wurde, gingen wir zu den Feuern hinüber. Wir wollten uns etwas Gebratenes holen. Im Feuerschein erblickte ich Thorwald. Er weihte den Cacique gerade in das Geheimnis seiner navigatorischen Instrumente ein, die von der Schneeziege gerettet worden waren und die er jetzt dem Zuni unter die Nase hielt. „Das ist ein Sonnenbrett“, hörte ich ihn sagen. „Diese Einkerbungen auf der Scheibe markieren die Himmelsrichtungen, und mit diesem Zeiger kannst du in sternklaren Nächten den Polarstern anvisieren und den Kurs bestimmen. Auch kannst du damit die Sonnenhöhe ablesen, wenn die Sonne mittags den Nord-Süd-Meridian erreicht. Bei
verhangenem Himmel oder dichtem Nebel nimmst du am besten diesen Sonnenstein. Du musst ihn so lange drehen, bis er sich dunkelblau verfärbt. Auf diese Weise kannst du dich sogar nach Sonnenuntergang noch orientieren. Am Tag nimmst du aber dieses Sonnenschattenbrett. Du siehst hier auf der Holzscheibe eingeschnittene Kreise und in der Mitte einen Stab. Du kannst ihn je nach dem Sonnenstand am Himmel nach oben oder unten schieben und auf diese Weise länger oder kürzer machen. Wenn du den Stab richtig einstellst, dann fällt der Schatten, den die Sonne im Zenit wirft, auf einen bestimmten Kreis. Du musst aber darauf achten, dass der Sonnenschatten jeden Mittag auf denselben Ring fällt; dann kannst du deine Breite beibehalten. Fällt der Schatten rechts oder links neben den Kreis, dann siehst du, wie weit du nach Norden oder nach Süden steuern musst, um wieder auf Kurs zu kommen. Das ist alles, Ahfitche. Willst du morgen die Instrumente mal ausprobieren?“ Der Cacique kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Für ihn war das Zauberei. Kein Mensch konnte den Himmel beherrschen. Diese Instrumente musste der Grosse Geist den Wikingern gegeben haben. Mit einem Schmunzeln wandte ich mich ab und beobachtete die anderen Männer. Viele von ihnen hatten dem Bier schon eifrig zugesprochen. Während der eine seinen Kopf bereits mit beiden Händen stützen musste, starrte der andere düster vor sich hin. Wir zogen uns wieder zurück, um uns am Fluss unten eine Schlafstelle zu bereiten. Inzwischen war der Mond aufgegangen. Er stand gross und silbrig am Himmel und schüttete seinen Glanz ins Wasser des Flusses. Vereinzelte Rufe der Betrunkenen drangen bis zu uns herüber. Wir hatten uns in der Lehmhütte, die in der Erntezeit als Vorratslager diente, gerade zum Schlafen niedergelegt, als wir draussen Hufgetrappel hörten. Durch eine Öffnung konnten wir beobachten, dass mehrere Gestalten ihre Ponys vorbeiführten. Zwei der Gestalten marschierten schnurstracks auf unsere Hütte zu. „Die Kelten!“ flüsterte Talmach aufgeregt. Doch es war schon zu spät. Die beiden Kelten traten in die Hütte. Der Cree, der sich an die Lehmwand gedrückt hatte, packte den ersten der Eintretenden. Doch sein Ruf warnte die anderen. Mit lautem Gebrüll stürmten sie auf die Hütte zu. Mehrere der Kerle warfen sich sofort auf Talmach, Edmund und mich. Ich umklammerte einen der Kelten mit beiden Armen und hinderten ihn auf diese Weise am Gebrauch seines Messers. Während dieses verbissenen Ringens wurden wir aus der Hütte ins Freie abgedrängt. Am Eingang strauchelte ich und fiel auf die Nase. Als ich mich erheben wollte, traf mich ein harter Gegenstand am Kopf. Es wurde Nacht vor meinen Augen . . .
Bei Wind aus Nordosten stechen die Schiffe in See. Auf dem Schiff im Vordergrund zieht man die Riemen ein und verstaut sie mittschiffs, das Segel wird gesetzt. Frauen und Kinder an Bord winken zum Abschied ihren Freunden an Land zu, während der Steuermann bereits den Steven zum offenen Meer wendet.
20. Kapitel
In Fesseln
Wie es Gott gefiel, dass ich den Marsch zu den Tolteken in Fesseln und mit einem brummenden Schädel antrat.
A
ls ich erwachte, fühlte ich, dass ich heftig hin und her bewegt
wurde. Ich hörte die Huftritte vieler Tiere. Verwundert schlug ich die Augen auf. Ich merkte, dass ich auf einem Ponyrücken lag, der unter mir das kräftige Schütteln verursachte. Ich nahm meine Kräfte zusammen und wollte mich aufrichten. Aber das gelang mir nicht. Man hatte mich auf das Tier gebunden. Ich spürte meinen Kopf. Es schien mir, als hämmerte jemand auf ihm herum. Plötzlich hörten die Bewegungen des Ponys auf. „Der Angelsachse ist aus seinen Träumen erwacht“, hörte ich jemanden sagen. Der Strick, mit dem ich auf den Ponyrücken gebunden war, wurde nun gelöst. Ich konnte mich aufrichten. Das, was ich nun sah, war nicht gerade ermutigend. Talmach, Sommerwind, Edmund und ich befanden uns nämlich in den Händen der Kelten. Unter diesen erkannte ich auch Cúchulainn, Caratacus, Pratusagus, Ariovist, Ambiorix, Togodumnus und Cunobelinus. Wir hatten jetzt inmitten der Wildnis haltgemacht. „Gott sei Dank, Patrick, du lebst!“ rief der gute Edmund, der neben mir stand und an den Händen gefesselt war. „Lasst mich Patrick untersuchen“, bat Shawanung-nizeo, die ebenso wie wir gebunden war. „Meinetwegen! Macht sie los, sie soll sich um den Angelsachsen kümmern!“ befahl Cúchulainn seinen Leuten. Das Mädchen wurde losgebunden. Sie löste meine Fussfesseln und half mir vom Pony. Neben dem Pfad setzte ich mich ins Gras. „Wo sind wir hier?“ fragte ich Sommerwind. „Wir sind auf dem Weg nach Süden“, antwortete sie. „Was macht dein Kopf?“ „Er rauscht wie ein Wasserfall.“ „Das ist die Folge des Hiebes, der dich niedergeworfen hat.“ Sie nahm mir nun den Verband ab, den mir jemand angelegt hatte. „Die Wunde wird schnell wieder verheilen“, beruhigte sie mich. „Was haben die Kelten mit uns vor?“ fragte ich. „Wir sind ihre Geiseln. Ich muss ihnen den Weg nach Süden zeigen.“ Der Mann mit dem roten Walrossschnurbart hatte schon einige Male unruhig zu uns herübergeschaut. Er wusste natürlich auch, dass er mit
einer Verfolgung der Wikinger rechnen musste und dass er den Vorsprung nicht verspielen durfte. „Macht fertig!“ rief er. „Es geht weiter!“ Man fesselte Sommerwind und mir wieder die Hände. Ein Kelte bestieg das Pony, auf dessen Rücken ich gelegen hatte. Dann ging es weiter. Den Schlag auf den Kopf überlebte ich, obwohl er noch einige Tage brummte. Wie ich später von Thorwald erfuhr, hatten die Dorfbewohner und Wikinger nichts von dem Überfall der Kelten bemerkt. Die Verfolgung nahmen sie also erst am anderen Morgen auf. So marschierten und ritten die Kelten mit uns ungehindert am Ufer des grossen Flusses entlang nach Süden . . .
Bei Einbruch der Nacht ist der Wind nach Westen umgesprungen; die Mannschaft bereitet den Sprietbaum vor, der es erlaubt, hoch am Wind zu segeln.
21. Kapitel
Durch die Wüste von Chihuahuan
Wie es Gott gefiel, dass wir uns durch eine heisse Steppenwüste quälen mussten.
D
er Adlermond der Cree war angebrochen, als wir uns an der
Mündung eines Flusses weit im Süden befanden, den Shawanung-nizeo Conchos nannte. Er schickte hier sein helleres Wasser in das dunkler erscheinende des grossen Stromes, der uns vom Dorf der Zuni bis hierher geführt hatte. So weit wir stromab sehen konnten, vermischten sich die verschieden getönten Fluten aber nicht. Die hellere zog in der dunkleren südostwärts, als wollte der Conchos sein Lebensrecht behaupten, obwohl ihn doch der grosse Strom bereits unwiderruflich und beherrschend in sich aufgenommen hatte. Der kleinere Fluss widerspiegelte genau unseren Zustand. Auch wir sträubten uns vergeblich gegen die Gewaltherrschaft der Kelten. Nun folgten wir also dem Conchos, der sich zu einer seeartigen Form verbreiterte und mit 37[1] lag, durch grosser Ruhe und einer stillen Kraft in dieser Steppenwüste die wir uns seit Tagen quälten. Die Pflanzen hatten sich hier der Trockenheit und der Kargheit des Bodens angepasst. Die Pflanzendecke war sehr kümmerlich, und an einzelnen Stellen ging sie sogar ganz zurück. Die Hitze wurde tagsüber so gross, dass wir brennenden Durst verspürten. Unser Marsch glich einem Trauerzug. Wir mussten die ganze Kraft aufbieten, um nicht hinter den Reitern zurückzubleiben. Dem schwangeren Mädchen hatten die Kelten eines der neun Ponys überlassen. Das sonnendurchglühte Land, das sich von Horizont zu Horizont hinzog, kannte kein Erbarmen mit uns, die wir uns erdreisteten, den Kampf gegen die Sonne und die Trockenheit aufzunehmen. Nach einer Woche gelangten wir in ein trockenes Buschland.
37[1]
Wüste von Chihuahuan
Im Achterschiff nehmen einige Siedler eine Mahlzeit zu sich, die aus getrockneten und mit Butter bestrichenen Fischen besteht, während sich die übrigen in ihre FellSchlafsäcke eingewickelt haben. An der Steuerbordreling peilt inzwischen der Steuermann mit einer Peilscheibe den Polarstern an, um seinen Kurs zu bestimmen.
22. Kapitel
Chichimeken
Wie es Gott gefiel, dass uns die Chichimeken überfielen und als Sklaven fortschleppten.
V
om Conchos führte ein Handelsweg ins Herzland der Tolteken:
die Türkisstrasse. Sie schlängelte sich über ein grosses Wüstenplateau, 38[1] jenseits der das zwischen zwei bedeutenden Gebirgszügen Nordgrenze des Toltekenlandes liegt. Shawanung-nizeo erzählte uns, dass hier das räuberische Volk der Chichimeken lebe. Diese Wildbeuter seien eine ständige Geisel der Tolteken. Der Weg führte uns zunächst wieder durch die Wüste, welche in eigenartig gedämpften Pastellfarben vor uns lag; je nach Tageszeit nuancierten diese vom sanften Gelbbraun zum Graugrün bis zum stumpfen Rot. Über der unerbittlichen Glut, die diese Farben hervorzauberte, wölbte sich das leuchtende Blau eines kristallisch klaren Himmels. Endlich sanken wir nicht mehr so tief im Sand ein, der Boden wurde härter und steiniger und bildete schliesslich eine ebene Fläche. Obwohl wir hie und da unscheinbare und dürftige Gewächse bemerkten, die auf dem heissen und dürren Untergrund ein kärgliches Dasein fristeten, lag die Erde ringsum bloss. Der Boden stieg nun allmählich an; Pinien- und Eichenwälder traten von rechts und links heran. Dazwischen lagen steinige Täler, durch die der Weg nun führte. Je weiter wir kamen und je mehr wir an Höhe gewannen, desto faltiger und karstiger wurden die Berge, die sich in der klaren durchsichtigen Luft erhoben. Wir kamen nun durch ein schmales Tal, das sich zwischen zwei schroffen Felswänden emporwand und erreichten schliesslich einen mauerähnlichen Grat, hinter dem gerade die Sonne versank. Von hier aus führte der Weg eine nackte Kluft zu einer Geröllhalde hinunter, die sich unterhalb einer Steilwand hinzog. Ringsum lagen kleine und grosse Felsstücke wirr verstreut, welche uns beim Gehen behinderten. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kamen wir in ein offenes Kerbtal, wo wir haltmachten. Die Kelten wiesen uns für die Nacht einen abgeschlossenen Platz in einem Einsturztrichter am Eingang des Tales zu. Dann legten sich die Schatten der Nacht über das Tal. Doch die völlige Finsternis dauerte nicht lange. Unzählige flimmernde Sterne übersäten bald die purpurne Himmelskuppe und tunkten den Talkessel in ein eigentümlich fahles Licht. Während des Marsches hatten die Kelten uns von den Fesseln befreit, um uns die notwendige 38[1]
Heute: Sierra Madre Occidental und Sierra Madre Oriental
Beweglichkeit zu gestatten. Als wir auf dem Lagerplatz angekommen waren und im genannten Einsturztrichter nur von wenigen Wächtern beaufsichtigt werden mussten, hielten es die Kelten für überflüssig, uns die Handschellen wieder anzulegen. Sie liessen uns auch Proviant und Wasser zukommen. Als ich nach Einbruch der Dunkelheit mit Erlaubnis unseres Wachtpostens ein stilles Örtchen ausserhalb des Trichters aufsuchte, sah ich vor dem hellen Nachthimmel den Kopf eines Menschen. Ich legte mich auf die Erde nieder und kroch zu der Stelle am Eingang des Tales hinüber. Dabei benutzte ich die Schatten der Felsbrocken als Deckung. Hinter einem dieser Steinblocks sassen zwei Skrälinger. Ohne ein Geräusch zu verursachen, näherte ich mich dem Versteck und blieb erst dann liegen, als ich so nahe war, dass ich die Männer sprechen hörte. Sie unterhielten sich in toltekischer Sprache, die ich mir zu eigen gemacht hatte. Einer der Skrälinger fragte: 39[2] „Warum willst du mit dem Angriff noch warten, Mixcoatl ?“ „Wir warten, bis sie sich zur Ruhe gelegt haben. Wir müssen sie im Schlaf überrumpeln und dürfen sie nicht töten. Wir werden sie in El Tajín auf dem Sklavenmarkt verkaufen.“ Ich hatte genug gehört und zog mich in den Einsturztrichter zurück. Ich berichtete meinen Freunden in kurzen Worten von den Skrälingern, die ich belauscht hatte. „Sie sprachen toltekisch?“ fragte Sommerwind. „Es war ein Dialekt, den ich jedenfalls verstanden habe“, sagte ich. „Dann waren es Chichimeken. Ich habe euch von diesem räuberischen Volk erzählt.“ „Welchen Rat gibst du uns, Shawanung-nizeo? Müssen wir die Kelten warnen?“ „Die Chichimeken sind äusserst grausam, auch wenn sie uns nicht töten und nach El Tajín bringen wollen. Der Sklavenmarkt der Totonaken in El Tajín ist berüchtigt. Nur wenige Sklaven, die dort verkauft wurden, sind wieder zurückgekehrt.“ „Was sagst du, Talmach?“ fragte ich den Cree. „Dann sollten wir die Kelten vor den Chichimeken warnen“, antwortete er. Wir machten also die Kelten auf die Anwesenheit der Wildbeuter aufmerksam. Diese schickten einige Späher los, die nach kurzer Zeit aber zurückkehrten und mitteilten, dass sie keine Skrälinger gesehen hätten. Daraufhin legten uns die Kelten die Fesseln wieder an. Unser Schicksal lag nun in Gottes Hand. Es war nach Mitternacht, als ein langgezogener Kriegsruf durch das Tal hallte. „Die Skrälinger! Die Skrälinger!“ hörten wir die Kelten rufen. 39[2]
Wolkenschlange
Sie brannten Fackeln an und warfen diese zwischen die Felsen, wo sie die Chichimeken vermuteten. Das Tal hallte wider von ihrem Kriegsgeheul. Vom Feuerschein erhellte Gestalten huschten von Felsblock zu Felsblock, und Klingen aus Obsidian blitzten hier und dort auf. Es war ein Kampf auf Leben und Tod entbrannt. Die Felswände ringsum schienen von den dämonischen Schreien zu erzittern. In dem Steingewirr entspann sich ein fürchterliches Ringen, bei dem auf einen Kelten fünf Skrälinger kamen. Die mit Schwertern, Messern und Speeren kämpfenden Kelten wurden nach und nach zurückgedrängt. Teufeln ähnlicher als Menschen stürzten sich mehrere Gestalten auf Cúchulainn, entrissen ihm sein Schwert, mit dem er wie ein Berserker gewütet hatte, und schlugen mit den Fäusten auf ihn ein, bis er sich nicht mehr rührte. Scharenweise strömten die Chichimeken die Geröllhalde herunter und gewannen schnell die Oberhand. Als die Kelten sahen, dass sie eingekreist waren, liessen sie die Waffen sinken und ergaben sich. Der Kampf war vorbei, und es wurde wieder still im Tal. Auch Talmach, Sommerwind, Edmund und ich wurden aus dem Trichter geholt und zu den gefangenen Kelten gebracht. Den Skrälingern schien unser bisheriges Los gleichgültig zu sein. Sie sahen in uns nur die Sklaven. Die Kelten waren arg ramponiert worden. Grässliche Wunden und Abrisse, schauderhafte Hautabschürfungen und Verbrennungen sowie schmerzhafte Quetschungen und Knochenbrüche waren die Folgen des Kampfes, die erst im Scheine der neu entfachten Lagerfeuer richtig sichtbar wurden. Aber keiner von ihnen war getötet worden. Mixcoatl, der Häuptling der Wildbeuter, war eine unheimliche Erscheinung mit lebhaften Augen. In seinem knochigen Gesicht paarte sich Härte mit einer wilden Entschlossenheit. Er trug verschiedene Amulette an seinem Hals. Ausser einem Messer, dessen Schneide aus Chalzedon bestand und dessen hölzerner Griff mit Türkis- und Muschelintarsien verziert war und das an einem Strick an seiner Seite hing, trug er keine Waffen auf sich. Als es zu dämmern begann, knieten die Chichimeken zum Gebet nieder. Dann trieben sie die Ponys zusammen und begannen ihnen die Reit- und Packsättel aufzulegen. Sie rüsteten zum Aufbruch. Die neuen Herren hielten für uns eine besonders grausame Transportvorrichtung bereit. Man muss sich darunter einen gabelförmigen Ast aus hartem Holz vorstellen. In diese Gabel wurde der Hals gesteckt und durch ein Querholz festgehalten. Natürlich streifte die Gabel bei jedem Schritt den nackten Hals und rieb diesen wund. An das vordere verlängerte Ende des Astes wurden die Arme gefesselt, die in dieser ungewohnten Stellung schnell einschliefen. Der traurige Zug setzte sich in Bewegung. Die Chichimeken trieben uns zu grösster Eile an. Unter ungeheuren Anstrengungen schleppten wir uns vorwärts. Vor Durst und Müdigkeit völlig erschöpft stolperten wir am Abend des ersten Tages in ein Lager,
das vorausgeeilte Krieger aufgeschlagen hatten, und sanken in das grüne Gras an einem Bachufer. Das Wasser zog die durstigen Menschen und Tiere magisch an. Nach dem langen Marsch erquickte es sowohl unsere ausgetrockneten Körper als auch unsere lethargischen Gemüter.
Ein plötzlich losbrechender Sturm aus Südost lässt die Grönlandfahrer verzweifelt um ihr Leben kämpfen. Ein Mann stürzt mit einer Pütz zur Schiffsmitte, um das über die Bordwände schlagende Wasser auszuschöpfen.
23. Kapitel
Die Stadt der Totonaken
Wie es Gott gefiel, dass uns die Chichimeken auf den Sklavenmarkt von El Tajín brachten.
Ü
ber eine Hochebene, die im wesentlichen aus Savanne bestand
und Pflanzen wie Mezquite, Joshuabäume sowie verschiedene Kakteen und Agaven aufwies, erreichten wir das fruchtbare Tal der Tolteken. Das Tal streiften wir jedoch nur am Nordrand. Das Ziel der Chichimeken war El Tajín, die Stadt der Totonaken. Als wir uns kurz vor Sonnenuntergang von Westen her der Stadt näherten, erblickten wir in der Mitte eine grosse Pyramide, welche von kleineren Pyramiden, Palästen und Ballspielplätzen umgeben war. Die anderen Bauten besassen alle Flachdächer. Eine Prachtallee führte uns an der grossen Pyramide vorbei. Sie war ein bemerkenswerter Bau. Alle vier Seiten waren stufenförmig angelegt und wiesen insgesamt 365 quadratische Nischen auf; jede der Nischen enthielt eine Figur aus Jade oder Serpentin für jeden Tag des Jahres. Über den ganzen Bau zogen sich Mäanderstreifen. Als wir El Tajín erreichten, war es Mai geworden. Es war der Mond, in dem Shawanung-nizeo unser Kind gebären sollte. Ich war deshalb sehr besorgt, wohin die Chichimeken uns bringen würden. Die Prachtallee führte uns auf eine Plaza, wo der berüchtigte Sklavenmarkt von El Tajín stattfand. Die Plaza wurde von einem Säulenbau, dem Chico, überragt, der auf einem Erdhügel stand und der aus einem ganzen Gebäudekomplex bestand. In Handschellen wurden wir gruppenweise ausgestellt. Interessenten untersuchten unsere Hände und Zähne, liessen uns eine Strecke laufen, um unseren körperlichen Zustand zu überprüfen. Ein besonders sadistisch veranlagter Totonake begann uns zu verprügeln, um zu sehen, wie er sagte, ob wir Gegenwirkung zeigten. Mixcoatl gebot dem Menschenschinder Einhalt. Es zeichnete sich schnell ab, dass die Totonaken für die kräftigen Kelten, für den Cree und für Shawanung-nizeo Interesse zeigten. Schliesslich kam es zum Handel. Die Kandidaten wechselten ihre Besitzer. Mussten die Kelten nun für ihre Freveltaten büssen, die sie auf der langen Reise verübt hatten? Verzweifelt zerrte ich an meinen Handschellen. „Ihr Unmenschen! Ihr Menschenverächter! Ihr Barbaren!“ brüllte ich über den Platz, als ich mit ansehen musste, wie auch Talmach und Sommerwind gemeinsam weggeführt wurden. Einer der Chichimeken zog mir mit der Peitsche einige Schläge über den Rücken. Da sich keine
Interessenten für Edmund und mich auf dem Platz zeigten, wurden wir von den Totonaken zum Chico hinaufgeführt. An den Schildwachen vorbei gelangten wir in das Innere des Säulenbaus. Ich war ganz benommen und taumelte wie ein Trunkener. Hatte ich mich auf der Plaza noch aufgebäumt, leistete ich jetzt keinen Widerstand mehr. Die totonakischen Wärter führten uns zu einer Treppe, die in die Tiefe führte. In einem unterirdischen Gelass machte die Eskorte halt. Die Türe zu einem Kerker wurde geöffnet. Mit dem Riegelbalken der Verliestür versetzte mir einer der Wärter einen Stoss, so dass ich kopfüber in die Tiefe stürzte. Zehn Fuss unterhalb des Einstiegs landete ich auf dem steinigen Boden. Edmund folgte mir in die Tiefe. Ein höhnisches Gelächter ertönte oben an der Tür. Dann verschwand das Fackellicht hinter der in ihren Angeln kreischenden Tür. Der Sturz hatte uns glücklicherweise nichts anzuhaben vermocht. Wir befreiten uns gegenseitig von den Handschellen. Dann machten wir uns mit der düsteren Zelle vertraut. Der enge und hohe Kerkerraum war ungefähr fünfzehn Fuss lang und halb so breit. Dafür ragten die Mauern über zwanzig Fuss in die Höhe. Die Feuchtigkeit hatte sich an den nackten Wänden niedergeschlagen. Durch einen Spalt im Gewölbedach fiel ein Lichtschimmer herein. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Häufchen Stroh und einem Krug Wasser. Es war ein schauderhaftes Gelass! Später brachte der Wärter einige Maisfladen. An diesem Tag brachte ich aber keinen Bissen herunter.
Ein plötzlich losbrechender Sturm aus Südost lässt die Grönlandfahrer verzweifelt um ihr Leben kämpfen.
24. Kapitel
Quetzalcoatl
Wie es Gott gefiel, dass uns die Freunde aus dem Chico befreiten und dass wir Quetzalcoatl begegneten.
D
raussen war es Sommer geworden. Es herrschte der Mond, in
dem die Blätter am Bärensee hervorkamen. Ich sehnte mich nach dem Bärensee. Ich sehnte mich auch nach Shawanung-nizeo. Sie musste inzwischen unser Kind geboren haben, denn seit vier Wochen schmachteten Edmund und ich schon in diesem schrecklichen Verlies des Chico. Die Totonaken hatten noch keine Käufer für Edmund und mich gefunden. Dann, eines Morgens, zwängte sich der Kopf eines Knaben durch den kleinen Riss am oberen Teil der Mauer. „Das Verlies muss direkt an der Aussenmauer des Säulenbaus liegen“, mutmasste Edmund. Ich nahm eine Muschelperle von meinem Wampum, den mir Otterkopf geschenkt hatte und den ich unter meinem Mantel trug, und warf die Perle durch den Mauerriss. Nach einer Weile tauchte der Kopf des Jungen zum zweiten Mal in der Wandöffnung auf, und ich schleuderte eine weitere Perle in die Höhe. An diesem Tage bekamen wir den Knaben nicht mehr zu Gesicht. Auch der nächste verstrich, ohne das etwas geschah. In der folgenden Nacht vernahmen wir aber oben am Mauerspalt ein Geräusch. Voll Spannung horchten wir in die Dunkelheit. „Patrick! Bist du da drinnen?“ flüsterte eine Stimme. „Talmach! Bist du es?“ fragte ich mit zittriger Stimme. „Gott sei Dank, du lebst! Ist Edmund auch bei dir unten?“ fragte er. „Ja, er ist auch hier, Talmach“, flüsterte ich. „Wie hast du uns gefunden?“ „Ein Junge hat uns zwei Muschelperlen von dir gebracht. Ich muss vorsichtig sein, denn die Wärter könnten mich hier jeden Augenblick überraschen. Ich komme morgen nacht wieder!“ Nachdem der Cree gegangen war, fiel von der Maueröffnung ein Bündel in unsere Zelle herunter. Wir öffneten es und fanden darin einige Esswaren. Voller Ungeduld warteten wir auf die Nacht, die hoffentlich das Ende aus unserer Ausweglosigkeit bringen sollte.
T
almach, Thorwald, Asmund und Halldor hatten sich am Abend
Zugang in den Chico verschafft. Unbemerkt schlichen sie in eine Lehmhütte, wo die Totonaken Vorräte gelagert hatten. Diese Hütte hatte eine gemeinsame Wand mit dem Säulenbau. Sie verweilten so lange in der Lehmhütte, bis sie die Stunde für gekommen hielten. Dann zupften sie an ihren weissen Überwürfen, die von den Schultern wallten, und rückten die riesigen Federbüsche zurecht, welche ihnen die Tolteken besorgt hatten. Auf den ersten Blick waren sie nicht von totonakischen Kriegern zu unterscheiden. Die Wikinger in der Bekleidung der Skrälinger! Sie blickten einander an und – mussten lachen. Gespannt spähten sie noch eine Weile durch ein Loch in der Lehmmauer. Sie sahen weder etwas Aussergewöhnliches, noch hörten sie jemanden. Also öffneten sie sachte die Pforte. Mächtige Bäume warfen ihre Schatten auf den Rundplatz vor der Hütte. Sie huschten zu einer Treppe hinüber, die an der äusseren Wand der Hütte auf das Flachdach führte. Sie stiegen hinauf. Es war höchste Zeit! Über den mondhellen Hof sahen sie nämlich zwei Schildwachen heranschreiten. Die Totonaken schlurften nebeneinander um den runden Platz, ohne ein Wort miteinander zu sprechen, zwei- oder dreimal, bis sie plötzlich vor der Hütte haltmachten. „Bei den Vorräten muss sich jemand zu schaffen gemacht haben. Vorher war das Tor geschlossen“, sagte einer der Schildwachen. „Lass uns nachschauen!“ Die Schildwachen verschwanden hinter der knarrenden Pforte. Nach kurzer Zeit sahen unsere Freunde die Totonaken wieder ins Freie kommen. Sie setzten ihren Kontrollgang in Richtung des Säulenbaus fort. Den Eindringlingen fiel ein Stein vom Herzen. Die Gefahr war vorbei! Nun tasteten sie sich in gebückter Haltung bis zum Ende des Daches vor. Eine Mauer aus einer Mörtelmasse versperrte ihnen dann aber den Weg. Der Mörtel war spröde. Mit den blossen Händen konnten sie ein Loch in die Mauer brechen. Und tatsächlich! Dahinter lag ein Raum des Säulenbaus. Sie schlüpften durch die Öffnung und verschlossen diese hinter sich wieder. Nun befanden sie sich in einem engen Vorraum. Eine Treppe führte ins untere Stockwerk und in die unterirdischen Räume. Eine Schrecksekunde hatten sie allerdings, als ihnen auf der Treppe ein Skrälinger begegnete. Er liess sich aber von ihren weissen Überwürfen täuschen. Der Chico war auf einem felsigen Grund errichtet. In den Felsengrund hatten die Erbauer zahlreiche Kammern ausgebrochen und sie durch Gänge miteinander verbunden. Talmach und die Wikinger befanden sich nun in einem dieser düsteren Stollen. Die Luft in dem niedrigen Gang war dick und modrig. Sie brannten einen Kienspan an und schritten langsam weiter durch den Flur, der in den Felsen lief. Eine Holztüre
versperrte ihnen plötzlich den Weg. Sie entfernten einen schweren Riegel und öffneten die Pforte. Sie traten nun in einen zweiten Gang, der zum ersten einen rechten Winkel bildete. In diesem Querstollen machten sie halt. Sie hörten Stimmen. Sie löschten die Fackel. Mit tastenden Händen ging es durch den Gang weiter, der leicht aufwärts führte. Sie fühlten, dass an Stelle der Felswände Steinmauern traten. Bald sahen sie am Ende des Flurs ein kalkiges Licht. Es schimmerte durch ein tiefes, viereckiges Loch in der Mauer. Sie schlichen an diese Öffnung. Fackeln beleuchteten ein grösseres Gewölbe, in dem zwei Wärter sassen. In dem Augenblick, als die Eindringlinge durch das Loch spähten, stand einer von den Wärtern auf, ergriff seine Lanze und stieg eine Treppe hinauf, die ins Freie führen musste. Kurze Zeit danach erhob sich auch der andere Wärter und entriegelte eine der Türen. Mit einer Lampe leuchtete er ins Innere. Es war die Zelle von Edmund und mir. „Bring uns Wasser, mir klebt die Zunge am Gaumen!“ sagte mein angelsächsischer Bruder. Der Wärter ging brummend weg und holte einen Krug, den er mit einem Seil ins Innere unserer Zelle hinunterliess. Darauf hatte Asmund der Schädelspalter gewartet. Blitzschnell kam er aus dem Versteck hervor und schlug dem Wärter mit der Faust auf den Kopf. Mit einem leisen Röcheln sackte dieser am Einstieg zusammen. Talmach hatte unterdessen das Seil, an dem der Krug hing, an einer Türangel festgemacht, und Edmund und ich kletterten herauf. „Wir müssen vorsichtig sein! Der andere Wärter ist über die Treppe nach draussen gegangen“, warnte der Cree. „Er kann jeden Augenblick zurückkehren.“ „Wir werden ihn in eine Falle locken“, sagte Halldor. Wir verriegelten die Zellenpforte. Dann trugen die Wikinger den Bewusstlosen auf eine Pritsche. Dabei gaben sie ihm eine solche Natürlichkeit in der Stellung, dass man glauben konnte, er sei vor Müdigkeit eingeschlafen. Wir waren mit unserem makabren Tun gerade fertig geworden und hatten uns hinter dem Mauerloch verborgen, als der zweite Wärter die Treppe herunterkam. „Draussen ist alles ruhig“, sagte er zu seinem besinnungslosen Kameraden, nachdem er beim Eintreten offenbar der Täuschung zum Opfer gefallen war. Der Wärter stellte seine Lanze wieder an den alten Platz an der Mauer und setzte sich sorglos zu dem Bewusstlosen auf die Pritsche. Er versuchte, den vermeintlichen Schläfer zu wecken. Diese Gelegenheit packte Asmund beim Schopfe, näherte sich unbemerkt der Pritsche und machte den zweiten Wärter auf die gleiche Weise unschädlich wie den ersten. In aller Eile fesselten und knebelten wir die beiden Bewusstlosen, schleiften sie zum Kerkereinstieg und liessen sie am Seil in die Zelle hinunter. Erst jetzt fanden wir Zeit, uns mit herzlichen Worten zu
begrüssen. In kurzen Zügen erzählte mir nun Talmach, dass er und Sommerwind ihrem Sklavenhalter entflohen waren und sich nach Tollán durchgeschlagen hatten, wo auch die Wikinger eingetroffen waren. Zusammen mit einer Streitmacht der Tolteken seien sie schliesslich nach El Tajín gezogen. Diese kurze Schilderung des Cree musste genügen, denn die Wikinger waren bereits durch das Mauerloch in den unterirdischen Gang geschlüpft. Von da an war es ein leichtes, auf das Dach der Lehmhütte und an die Aussenmauer des Chico zu gelangen. Gegen Westen lag ein Wald. Er war von der Stadtmauer durch einen Gürtel freien Feldes getrennt. Doch die Dunkelheit gab uns Schutz. Am Waldrand erwarteten uns bereits einige Tolteken. Sie führten uns zu einem Damm hinüber, der sich vor einem Fluss erhob. Ein schmaler Pfad führte den Damm hinauf. Mit einiger Mühe langten wir oben an. Der Abstieg auf der steileren Seite zum Fluss hinunter gestaltete sich in der Dunkelheit etwas schwieriger. Die Tolteken führten uns. Sie hatten sich den Weg über den Damm noch am Tage eingeprägt. Die Dickung schien beinahe undurchdringlich zu sein. Wir zerkratzten uns Gesichter und Hände. Zum Glück gab es beim Abstieg eine Hangquelle, der wir folgen konnten. Das Wasser reichte uns nur bis zu den Knöcheln. Langsam wateten wir weiter. Nach wenigen Schritten tat sich eine Lücke im Gestrüpp vor uns auf. Unter uns sahen wir die Sterne im Wasser des Flusses schimmern. Das Wasser stürzte hier über eine Abrissnische. Ein schmaler Felsvorsprung führte neben der Kaskade zu einem Wandzacken. Der Sturzbach hatte den Fels gefährlich glitschig gemacht. Wir setzten einen Fuss vor den anderen. Unter uns gähnte die Finsternis. Doch unsere Flucht war gut vorbereitet. Die Tolteken hatten an dem Wandzacken ein Seil befestigt. Daran konnten wir uns hinunterlassen. Während wir im ersten Dämmer des heraufziehenden Tages ans Ufer des Flusses gelangten, sahen wir die Krieger der Tolteken. Es waren eindrucksvolle, furchteinflössende Gestalten. Auf ihren Häuptern trugen sie riesige Federbüsche, und von den Schultern wallten rote Überwürfe, welche ihre braunen Brustmuskeln frei liessen. Sie trugen strumpfartige Hosen, die wie Röhren die Beine bedeckten und an ihren oberen Enden Schlaufen besassen, so dass sie um die Hüfte mit einem Gürtel befestigt werden konnten. Die Hosen erhielten als oberen Abschluss noch einen Lendenschurz, dessen Lappen vorne und hinten herunterhingen. „Das ist die königliche Leibgarde, Angelsachse“, erklärte mir Thorwald, 40[1] „und da vorne steht Quetzalcoatl !“ „Der Bruder von Shawanung-nizeo?“ fragte ich erstaunt. „Aber ihr Bruder heisst Ce acatl topiltzin.“
40[1]
Gefiederte Schlange
„Früher hiess er so, jetzt hat er den Namen Quetzalcoatl angenommen.“ Er kam den Uferhang herauf. Es war ein Mann von sechsunddreissig Jahren, gross, schlank, mit schönen dunklen Augen und bläulichschwarzen Haaren. Sein ganzes Wesen drückte jene Ruhe und Entschlossenheit aus, die vor allem Menschen eigen ist, die seit ihrer Kindheit auf sich selbst gestellt sind. Er war gleich gekleidet wie seine Krieger. Er trat auf uns zu, erhob die Rechte mit der offenen Handfläche nach vorn zum Gruss und sagte mit klarer, sicherer Stimme: „Ich sehe, ihr habt eure Freunde aus den Händen der Totonaken befreit. Ich habe mit dem Angriff gewartet, bis das geschehen ist, denn ich wollte die Retter meiner Schwester Chicomecoatl nicht in Gefahr bringen.“ „Ich danke Quetzalcoatl, dem König der Tolteken“, sagte ich und streckte ihm meine Hand entgegen. „Du musst Patrick sein“, sagte er und drückte mich an seine Brust, „denn du sprichst unsere Sprache. Chicomecoatl hat mir viel von dir erzählt.“ „Wie geht es Shawanung-nizeo?“ fragte ich mit tränenerstickter Stimme. „Meiner Schwester geht es gut. Sie hat einer hübschen Tochter das Leben geschenkt. Sie wartet auf dich, Patrick, um dir deine Tochter zu zeigen.“ „Eine Tochter!“ rief ich erfreut. Quetzalcoatl nahm mich beim Arm, und wir schritten dem Ufer entlang. Schweigend blickten wir eine lange Zeit auf den Fluss hinaus, in dem sich das Morgenlicht spiegelte. „Wir werden uns viel zu erzählen haben, Patrick, wenn wir nach Tollán zurückgekehrt sein werden“, brach der Tolteke die Stille. „Heute werde ich meine Krieger in die Stadt El Tajín führen und die Totonaken aus meinem Reich vertreiben. Komm Patrick, ich werde dir meine Streitmacht zeigen!“ Konnte ich Quetzalcoatl von seinem Vorhaben abbringen? Ich suchte in seinen Augen nach einer Antwort. Nein! Niemand durfte ihm widersprechen! Wir schritten also dem Damm entlang, der sich im Westen um die Stadt zog und wo Quetzalcoatls Leibgarde eine Art Kampflinie gebildet hatte. Die Tolteken warteten ergeben auf das Zeichen ihres Königs. Ein schöner Sommertag kündete sich an. Die Sonne hatte soeben den flachen Damm vergoldet. Die Pinien und Eichen am Abhang lagen noch im Schatten. Doch ich war viel zu sehr mit meiner unmittelbaren Umgebung beschäftigt, den Kriegern, welche sich formierten. Die Schönheit der Natur nahm ich nur am Rande wahr. Der bevorstehende Kampf begann mir auf den Magen zu schlagen. Überhaupt war ich nachdenklich geworden. Die Wikinger, welche die
Absicht hatten, sich auch an dem Angriff zu beteiligen, liessen die düsteren Gedanken nicht aufkommen. Sie lenkten mich etwas ab. So kam durch den Schalk von Aivik sogar eine gewisse Heiterkeit auf. Dann aber wurde es doch ernst. Quetzalcoatl gab nämlich das Zeichen und setzte die Bogenschützen, Lanzenträger und Leibgardisten den Berg hinauf in Marsch. Ich hielt mich mit Talmach, Aivik dem Eskimo und Edmund an der rechten Seite der Kampflinie, bei den Wikingern. An der Spitze sah ich den König. Die Dichte des Unterholzes und die Unebenheiten des Terrains brachten die anfängliche Marschordnung bald durcheinander. Wenn mich das zuerst beunruhigt hatte, merkte ich schon bald, dass dies die Taktik der Tolteken war. Jeder von ihnen agierte selbständig. Sie wichen nur zurück, um hinter Felsen und Bäumen in Deckung zu gehen. Als ich auf dem Damm stand, war der Kampf bereits in vollem Gange. Die Lanzenträger stürmten den Abhang in die Stadt hinunter, währenddem die Bogenschützen ihre Pfeile abschossen. Doch die Totonaken erwarteten die Angreifer ebenfalls mit einem Pfeilhagel. Mit dieser zähen Verteidigung hatte Quetzalcoatl nicht gerechnet. Ein um das andere Mal wurden seine Krieger zurückgeschlagen. Auch ich hatte mittlerweile einige Pfeile abgeschossen. Danach war ich hinter einem Felsen oder Baumstamm in Deckung gegangen. Wir waren schon gefährlich nahe an die ersten Gebäude der Stadt herangerückt. Quetzalcoatl befahl nun einen grossen Teil seiner Bogenschützen und Lanzenträger auf die Seite des Abhanges, wo auch ich mich befand. Hier sollten sie sich an die Stadt heranarbeiten. Die Totonaken hatten den äussersten Verteidigungsring inzwischen aufgegeben und sich im rückwärtigen Teil der Stadt verbarrikadiert. Unterdessen begannen wir, Baumverhaue zu bauen. Diese bestanden aus Palisaden, angespitzten Pfählen, die wir mit der Spitze nach oben in die Erde rammten, damit die Totonaken sie nicht übersteigen konnten. Auf diese Weise schoben wir uns immer näher an die feindlichen Stellungen heran. Nun standen wir vor der Nischenpyramide, dem Herzen der Stadt. Der Sturmangriff stand bevor. Wir mussten die grosse Pyramide nehmen, wenn wir die Stadt in unsere Hand bringen wollten. Es musste ein Lanzenangriff sein. Unsere Spannung wuchs ins Unermessliche. Es ist wohl überflüssig zu sagen, was es bedeutet, einen Nahkampf zu führen, Mann gegen Mann. Wir empfingen die Befehle. Quetzalcoatl wandte sich persönlich an uns. Er sagte, dass der Erfolg der Belagerung von der Eroberung der grossen Pyramide abhinge. In grimmiger Entschlossenheit warfen wir uns in den Kampf. Unser Lanzenangriff forderte viele Opfer unter den Totonaken. Aber auch wir wurden bei dem Versuch, ihre Barrikaden zu übersteigen, immer wieder zurückgeworfen. Gegen Mittag befand sich schliesslich die Nischenpyramide in unserer Hand.
Nachdem das vom Sturm umhergestossene Häuflein erschöpft, aber wohlbehalten an der Westküste Grönlands angelangt ist, gehen die Siedler im ersten stillen Fjord an Land, um sich ein paar Tage auszuruhen und Kräfte zu schöpfen.
25. Kapitel
Einzug in Tollàn
Wie es Gott gefiel, dass ich mit Quetzalcoatl in Tollán einzog, wo ich meine Tochter zum ersten Mal in die Arme nehmen konnte und wo Bruder Ethelred eine Strafpredigt hielt.
A
ls der Abend in Tollán anbrach, drängten sich Hunderte von
Schaulustigen auf den Platz zwischen dem Hauptaltar und der grossen Tempelpyramide mit der Säulenhalle, um ein wichtiges Ereignis mitzuerleben. Ein Meer von Fackeln flammte auf, und es herrschte lautes Stimmengewirr, bis plötzlich Stille eintrat. Auf dem Weg, der vom Süden her zu der Hauptpyramide und weiter zum Coatepantli führte, ereignete sich etwas Ungewöhnliches. Ponys bildeten dort eine Gasse, die von den Fackeln ihrer wikingischen Reiter in strahlendes Licht getaucht wurde. Diesen Lichtkorridor entlang ritten zwei Männer. Eines der Tiere war auch ein Pony, das den siegreichen Feldherr Quetzalcoatl trug. Das andere Tier war ein weisser Polarhirsch, ein Karibu der Tundra, auf dem ich sass. Hinter uns folgten die geschlossenen Formationen der roten Königsgarden, der Bogenschützen und der Lanzenträger. Auf dem Platz, der von kolossalen Statuen gesäumt war, stiegen wir von unseren Tieren, und Quetzalcoatl fiel vor dem Altar, im grellen Schein der Fackeln, auf die Knie. Er dankte seinem Gott, dem Werjaguar, für den erfolgreichen Feldzug in El Tajín. Dieser Sieg über die Totonaken würde seine Macht in Tollán festigen. Seine Untertanen in Xilotepec, in Tepeji, in Chiapa und den anderen toltekischen Ansiedlungen sollten erfahren, dass er der unumschränkte Herrscher des Reiches war. Nach dem Gebet vor dem Altar führte mich Quetzalcoatl in die Säulenhalle des Tempels. Überall an den Wänden sah ich Reliefs, auf denen schleichende Jaguare und Kojoten, herzenfressende Adler und menschliche Skelette, die von Klapperschlangen verschlungen wurden, dargestellt waren und die mich erschaudern machten. „Patrick!“ hallte mein Name durch die Säulenhalle. Es war der Klang einer sanften Stimme, der an mein Ohr drang. Die aus Basalt geschnittenen Statuen, welche als Dachstützen dienten, versperrten mir die Sicht. „Wer ruft meinen Namen?“ fragte ich in den Säulenwald hinein. „Ich bin es, Chicomecoatl!“ „Shawanung-nizeo!“ rief ich. „Meine geliebte Shawanung-nizeo!“
„Ich bin nach Tollán heimgekehrt, Patrick. Aber für dich bleibe ich deine kleine Shawanung-nizeo!“ sagte sie, und Tränen der Freude kullerten über ihre Wangen. Sie trug in ihrem Arm ein kleines Bündel. „Das ist deine Tochter, Patrick!“ sagte sie und legte das kleine Bündel in meine Arme. Ich fand keine Worte, als ich in die schwarzen, mandelförmigen Augen meiner Tochter blickte. Ich war der stolzeste Vater von ganz Tollán. Es war, als gösse plötzlich jemand Wasser in Wein. Aus dem Dunkeln der Säulenhalle spuckte es Gift und Galle: „Diese Stadt ist heidnisch! Die Skrälinger leben hier in Sünde! Sie sitzen im Pfuhl der Hölle! Der Glaube ist es, der diesen Menschen fehlt!“ ereiferte sich Bruder Ethelred und schlug zur Bekräftigung an das Kruzifix auf seiner Brust. „Wir sind in dieses Land gekommen, Bruder Ethelwulf und Bruder Ethelstan, um die Skrälinger zu bekehren und um ihre verlorenen Seelen für Christus zu retten. Mit der Hilfe des Allmächtigen werden wir hier das Kreuz des christlichen Glaubens aufpflanzen, um den Skrälingern das Seelenheil zu bringen! Das ist eine heilige Aufgabe! Wir müssen die heidnischen Bräuche und Rituale der Skrälinger exterminieren und sie durch die Wohltaten des Christentums ersetzen.“ Ich horchte auf. Es waren neue Töne, die ich da vernahm. Ich wurde ungeduldig. Was erdreistete sich dieser Mönch! Wen wollte er bekehren? Wem wollte er das Seelenheil bringen? Den Tolteken? Diese hatten die Bekehrung nicht nötig! Sie hatten ihr Seelenheil längst gefunden! Es gab auch keine Sünde hier! Diese hatte sich einzig und allein in den Gedanken jenes Mannes eingenistet, der mit dem Kruzifix hierhergekommen war! „Was sagst du da, Bruder Ethelred“, sagte ich ungehalten zu dem dicken Mönch. „Die Tolteken, die Zuni und die Cree haben ihren eigenen Gott. Sie brauchen unseren christlichen Gott nicht! Diese Menschen sind genauso gläubig wie wir. Sie sprechen mit der Erde, und sie beten zu ihrem Gott. Sie befolgen die christlichen Gebote, ohne jemals aus der Heiligen Schrift gelesen zu haben. Ich habe viele Freunde unter ihnen gefunden. Warum beleidigst du also meine Freunde?“ „Versündige dich nicht, mein Sohn! Auch deine Seele ist in Gefahr. Du bist einem grossen Irrglauben in die Falle gegangen. Komme auf den rechten Weg zurück! Es gibt nur einen Gott auf Erden; es ist der Gott der Christen. Denke an die Strafen, die dir in der Hölle bevorstehen, wenn du nicht Einkehr hältst!“ Sommerwind, die unsere Sprache verstand, hatte dem Froschäugigen ruhig zugehört. Keine Gefühlsregung war ihr anzumerken. Doch ich kannte sie. Viele Fragen lagen auf ihren Lippen. Doch ich wusste auch, dass sie von Bruder Ethelred keine Antworten erhalten würde.
„Patrick! Geliebter Bruder!“ begrüsste mich Bruder Ethelwulf. „Shawanung-nizeo, diese toltekische Blume hat uns von deinem Schicksal erzählt. Ich bin glücklich, dich heil wieder zu finden.“ „Lass dich von deinem buckligen Freund in die Arme nehmen!“ rief Bruder Ethelstan, „und schenke den Worten von Bruder Ethelred keine Beachtung. Er tut sich noch immer schwer mit den herrlichen Menschen in diesem Land. Vielleicht müssen wir ihm doch den Sonnentanz der Mandan oder den Maistanz der Zuni beibringen . . . „
Als Brennholz zum Kochen haben Kinder Arme voll Treibholz gesammelt, das zum Teil sogar aus Russland angetrieben ist. Während die meisten Siedler in ihren Schlafsäcken am Boden schlafen werden, können die Anführer, für die man Zelte aufbaut, die Nacht in Betten verbringen.
Epilog
Wie es Gott gefiel, dass die Wikinger einen neuen Knorr bauten, dass Berserk die Mörder seiner Pumafamilie wieder erkannte und dass wir an den Bärensee zurückkehrten.
H
ier endet unsere Geschichte, obwohl sie eigentlich erst anfängt.
Meine Freunde und ich verbrachten den ganzen Sommer im Palast von Tollán. Es war eine glückliche Zeit. Auch meine angelsächsischen Brüder und die wikingischen Nordleute fühlten sich wohl bei den Tolteken. Doch auch der schönste Palast konnte die Sehnsucht der Wikinger nach einem Schiff und dem Meer nicht stillen. Eines Tages versammelten sie sich in einem geräumigen Gemach des Palastes. Nachdem sie sich auf den Bänken, welche an drei Seiten des Raumes entlangliefen, niedergelassen hatten, erhob Thorwald der Jarl seine Stimme: „Wikinger! Ihr seid mit mir von der Tundra im Norden durch das Land der Skrälinger bis hierher nach Tollán, das weit im Süden liegt, gezogen. Fast überall wurden wir von freundlichen Menschen empfangen. Wir hatten aber auch viele Gefahren zu überstehen. Hier in dieser schönen Stadt der Tolteken konnten wir uns von den Strapazen unserer langen Reise erholen. Doch nun beginnt in meiner Brust wieder das Herz eines Wikingers zu schlagen. Ich höre das Meer rauschen. Ich sage es gerade heraus: wir sollten ans Meer ziehen, das nicht weit von hier liegt, und uns dort eine Schneeziege bauen, die uns in die Heimat bringt. Der Schmerz des Abschieds wird gross sein, wenn wir diese Stadt und ihre Menschen verlassen, denn wir haben viele Freunde hier gewonnen. Also sagt mir, Wikinger, wie ihr darüber denkt.“ Der Jarl hatte den meisten aus dem Herzen gesprochen. Vor zwei Jahren waren sie an der Nordküste dieses Landes gestrandet. Seit zwei Jahren hatten sie ihre Landsleute nicht mehr gesehen. Und so hatte niemand etwas dagegen, als ihnen Thorwald vorschlug, sich aufzumachen, um von den Ihrigen und dem Lauf der Alten Welt wieder etwas zu erfahren. Nachdem die Würfel gefallen waren, beratschlagten die Wikinger, auf welchem Weg das Meer am sichersten zu erreichen sei. Quetzalcoatl anerbot den Wikingern, sie zum Pánuco zu führen, an dessen Mündung es genug Holz gab, mit dem sie ihr Schiff bauen konnten. Am Tag der Abreise war die ganze Stadt auf dem grossen Platz vor der Tempelpyramide versammelt. Viele Geschenke wurden ausgetauscht. Am Abend hatten sich Bruder Ethelwulf, Bruder Ethelstan, Bruder Ethelred und auch Edmund entschlossen, zusammen mit den
Wikingern die Heimreise anzutreten. Aivik der Eskimo und ich waren die einzigen, die sich zum Bleiben entschieden hatten. Ein grosser Tross begleitete die Wikinger und uns Angelsachsen zur Stadt hinaus und zum Fluss Pánuco, der nordöstlich von Tollán zum Meer fliesst. Ende August, nach über zwei Jahren, standen wir wieder am Meer. Die Wikinger waren vom Anblick so überwältigt, dass sie sich in den Sand knieten und ihren Göttern dafür dankten. Dann machten wir uns ans Werk. Die toltekischen Begleiter gingen uns tatkräftig zur Hand. Asmund der Schädelspalter überwachte als Hauptverantwortlicher die Materialbeschaffung und den Bau der Schneeziege. Halldor der Bärentöter führte eine Gruppe Holzfäller in den Wald, um das Holz für den Knorr, denn ein wikingischer Knorr sollte es werden, zu fällen, zu spalten und herbeizuschaffen. Aivik der Grönländer war dafür zuständig, die für den Bau erforderlichen Spanten, Streben, Balken und Planken aus den natürlich gewachsenen Stämmen, Krummhölzern und Ästen zurechtzuschneiden. Sobald das Holz bereitgestellt war, begann Thorwald mit dem Bau der Bordwand, die vom massiven Kiel, aus einer Eiche zurechtgehauen, hochgezogen wurde. Talmach und ich waren bei dieser Gruppe eingeteilt. Nach der Fertigstellung des Spantengerüstes, dem Skelett des Schiffsrumpfes, brachten wir die Aussenplanken an. Dann bauten wir an den inneren Bootsseiten die Decksbalken und Stützen ein. Sobald das Innengerüst stand, legten wir die Decksplanken und errichteten darauf eine hüttenähnliche Kajüte. Wir hievten einen starken Baumstamm, aus dem der Mast des Knorrs entstehen sollte, in die dafür vorgesehene Öffnung im Deck, setzten ihn in die Aussparung im Kiel ein und befestigten ihn mit hölzernen Bolzen und Dübel. Der Bau war zügig vorangekommen, und Ende September liessen wir den Knorr schliesslich mit Hebel und Winden vom Stapel. Als die Schneeziege im Wasser des Pánuco lag, brach ein grosser Jubel los, denn der Tiefgang des Knorrs war entgegen unseren Befürchtungen gering. Wir hatten ausgezeichnete Arbeit geleistet; vor allem war die Schneeziege durch die leichte Beplankung manövrierfähig geblieben. In den ersten Oktobertagen im Jahre des Herrn 984 waren die Vorbereitungen für die Abreise abgeschlossen. Proviant, Wasser und Waffen befanden sich bereits an Bord. Am Abend vor dem Auslaufen sass ich mit Edmund am Strand. Die feurige Sonne tauchte gerade ins Meer. Ich nahm mein Tagebuch aus der Tasche und drückte es dem Freund in die Hand. „Edmund, nimm das Buch. Ich habe in all den Monaten meine Notizen darin gemacht“, sagte ich. „Bring es ins Kloster Iona. Das Tagebuch legt Zeugnis ab von einem wunderbaren Land und seinen Menschen, und es soll euch an mich erinnern.“
Wenn ich das Tagebuch, welches Edmund tatsächlich ins Kloster gebracht hatte und bis heute erhalten geblieben ist, zu Rate ziehe, sehe ich meine Freunde so deutlich vor mir, als hätte sich alles erst gestern zugetragen. Es war die letzte Nacht, in der wir gemeinsam mit den Wikingern und den angelsächsischen Mönchen bei der Schiffslände an einem Feuer sassen. Der Mond war untergegangen und ein leichter Schimmer über dem Pánuco kündete den nahen Morgen an. Die Männer gingen an Bord. Ich begleitete sie. „Ich komme, um von euch Abschied zu nehmen“, sagte ich zu den Freunden. „Wir sind einen langen Weg zusammen gegangen. Ich werde mit Talmach und Aivik nach Tollán zurückkehren. Ich weiss, dass die Trennung von euch für lange Zeit sein wird. Ihr habt die Freundschaft der Skrälinger gewonnen. Ihr werdet immer willkommen sein, wenn ihr einst ins Tal der Tolteken zurückkehren werdet.“ Ich reichte jedem einzelnen die Hand: Bruder Ethelwulf, Bruder Ethelstan, Bruder Ethelred, Asmund dem Schädelspalter, Halldor dem Bärentöter und Thorwald dem Jarl. „Ich wäre gerne mit euch gesegelt. Aber meine Familie braucht mich. Ihr aber bleibt für immer meine Freunde.“ Wir konnten beobachten, wie die Sonne den Hügelkamm hinter uns vergoldete. Der Fluss und der Hügelhang ruhten noch im Schatten. Der eindrucksvolle Gegensatz zwischen der goldenen Hügelkuppe und dem dunkelschattigen Abhang wirkte auf mich wie ein Orakel. Als die Sonne auch auf dem Pánuco glitzerte, lichteten die Wikinger den Schleppanker der Schneeziege. Tropfend hing er über Wasser. Dann hissten sie das grosse Segel, das sich im Morgenwind zu blähen begann. Halldor und Bruder Ethelstan standen an der Brüstung und – stritten sich! Bruder Ethelred rief mir zu: „Patrick! Eines Tages werden wir zurückkehren, um den Skrälingern den wahren Glauben zu bringen!“ Langsam glitt der Knorr auf den Fluss hinaus und zur Mündung hinunter. Ich stand mit meinen Freunden am Ufer und sah der Schneeziege nach. Dann schwang ich mich auf mein Karibu. Ich blickte noch einmal zum Knorr hinüber, der inzwischen in die Strömung gebracht worden war, legte meine Hände wie ein Sprachrohr an den Mund und rief: „Gute Fahrt nach Irland!“ Ich winkte noch ein letztes Mal zu den Wikingern hinüber, die mit der wachsenden Entfernung schnell kleiner wurden. Schliesslich waren sie nicht mehr zu erkennen. Dann folgte ich Berserk, der vorausgegangen war.
A
m Pánuco lag eine toltekische Ansiedlung. Vor unserer Rückkehr
nach Tollán wollten wir uns dort mit Proviant versorgen. Talmach, Aivik und ich waren früher als die anderen am Treffpunkt, einem Wasserfall ausserhalb der Siedlung, eingetroffen. Wir hatten uns deshalb auf die warmen Felsen oberhalb des Weges gesetzt und warteten. Als ich den steilen Pfad hinunterblickte, der sich zu uns heraufwand, sah ich zwei Männer, welche sich uns näherten. Dass Reisende über diesen Uferweg die Siedlung zu erreichen suchten, war an und für sich nichts Aussergewöhnliches. Was unsere Aufmerksamkeit aber erregte, war die Bekleidung, die nämlich nicht die landläufige war. Die Männer waren auf ganz erstaunliche Weise gekleidet. Zu grell gefärbten Hemden trugen sie Hosen, und darüber hatten sie von Spangen gehaltene Umhänge mit kleinen Karos in den verschiedensten Farben gezogen. „Die Kelten!“ zischte Aivik wie eine bedrohte Schlange, als er die Männer deutlicher erkennen konnte. Diese erkannten uns erst, als sie direkt unter uns auf dem Weg standen. Es waren Cúchulainn und Caratacus! „Sieh dort, Cúchulainn! Ein Puma!“ rief der Kelte mit der schwarzen Augenklappe erschrocken. Ich folgte seinem Blick und erkannte auf einem Felsblock über ihnen meinen Berserk. Seine Augen funkelten, er war zum Sprung bereit. Mein treuer Puma! Noch nie hatte ich ihn in dieser Erregung gesehen. Was war in ihn gefahren? Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf. Aber wie war das möglich? Hatte Berserk die Mörder seiner Familie erkannt? Hatte dieses Ereignis sich im Gedächtnis des Tieres eingeprägt? War das überhaupt möglich? Mit Erschrecken sah ich, wie der Puma mit einem gewaltigen Satz von dem Felsen herunter auf den Rücken von Caratacus sprang. Der Kelte brüllte auf und überschlug sich zusammen mit meinem Berserk. Es gelang ihm aber, sich dem Angriff des Tieres zu entziehen. Er flüchtete auf die Felsen. Dieser Fluchtweg wurde ihm aber zum Verhängnis. In langen Sprüngen folgte ihm nämlich der Puma. Und dann geschah es. Caratacus verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem lauten Aufschrei in die Tiefe. Das alles geschah natürlich viel schneller, als ich es beschreiben kann. Als der Puma auf dem Felsen aufgetaucht war, nahm Cúchulainn seinen Bogen vom Rücken und legte einen Pfeil auf die Katze an. In diesem Augenblick kam Talmach zwischen den Felsen hervor und schlug dem Kelten den Bogen aus der Hand. Ohne lange zu fackeln, zog Cúchulainn aber jetzt sein langes Messer aus dem Gürtel und holte zum tödlichen Stoss gegen Talmach aus. In letzter Sekunde konnte sich dieser zur Seite werfen. Doch das kalte Eisen bohrte sich in seine Schulter. Ich erfasste die Situation sofort. Mit drei, vier Sprüngen brachte
ich mich zu dem Kelten heran und schlug ihm das Messer aus der Faust. Wie vom Blitz getroffen machte dieser ein paar Schritte rückwärts, glitt aus und stürzte auf den Weg. Mein plötzliches Auftauchen musste Cúchulainn einen Schrecken eingejagt haben. Ohne sich umzusehen, schnellte er vom Boden auf und rannte Hals über Kopf zu den Felsen hinüber. Durfte ich den Mörder entwischen lassen? Mein Bruder war verletzt. Er konnte ihm nicht nach. Während der Kelte auf einen grossen Felsblock kletterte, spannte ich meinen Bogen. Nein, er durfte nicht entwischen! Der erste Pfeil musste treffen! Ich war ganz ruhig. Ich legte an und zielte. Der Pfeil schnellte von der Sehne. Ein Ruck ging durch den Körper des Kelten, der oben auf dem Felsblock angekommen war. Er sank zusammen. Mit einer Hand umklammerte er noch einen Felsriss und hing freischwebend in der Luft. Mit angstverzerrtem Gesicht blickte der Todgeweihte zu uns herüber. Dann verliessen ihn die Kräfte. Ohne einen Laut von sich zu geben stürzte er wie Caratacus in die Tiefe und schlug am felsigen Boden auf.
V
or drei Tagen hatten Talmach, Aivik und ich den Saskatchewan
erreicht. Wir kannten uns am Fluss aus. Im Mond, in dem die Flüsse zufrieren, waren wir nämlich hier auf seinem Eis hinaufgestapft, und im Graugansmond an seinem Ufer abwärtsgeritten. In jenen Tagen hatten uns noch die wikingischen und angelsächsischen Freunde begleitet. Jetzt waren wir allein. Feuerrot und riesenhaft stand die Abendsonne über den Wipfeln der Wälder. Sie legte eine gleissende schmale Bahn über den vorbeiströmenden Fluss. Dieser Glitzerstreifen zog unsere Augen an. Wir sassen an einem knisternden Kochfeuer. Der Grönländer fischte mit dem Jagdmesser gerade ein gebratenes Fleischstück aus dem Feuer und steckte es in den Mund. „Morgen werden wir am Bärensee sein, Patrick“, brachte er vor und kaute weiter. Ich konnte beobachten, wie seine schmalen Augen aufblitzten. „Die Cree werden Augen machen, wenn wir so aus heiler Haut wieder angeschneit kommen.“ Ich gab ihm keine Antwort „Wo hast du deine Gedanken wieder, Patrick!“ rief mich Aivik in die Gegenwart zurück. „Du bist manchmal so undurchdringlich wie dieser Wald hier. Da soll sich ein geselliger Kerl wie ich es bin noch auskennen! Du würdest es glatt fertigbringen, einen ganzen Tag neben mir herzureiten, ohne auch nur ein Wort zu verlieren! Du wirst Talmach immer ähnlicher! Ein richtiger Skrälinger bist du geworden, das kannst
du mir glauben! Zum Glück ist nicht jeder Cree so. Ich habe am Bärensee einige kennengelernt, die genauso wie ich den Mund nicht halten können. Wenn du mit mir nicht reden willst, so ist das deine Sache. Ich kann jedenfalls nicht dauernd Selbstgespräche führen.“ Ich musste lachen. Er bemitleidete sich wieder einmal. Er übertrieb natürlich. Auch wenn ich das Herz nicht auf der Zunge hatte, so konnte man mich nicht als wortkarg bezeichnen. Allerdings hing ich gerne meinen Gedanken nach. Gedanken machen frei, Worte binden fest. In einem Punkt hatte mein redseliger Weggefährte recht: Talmach und ich verstanden uns, ohne viele Worte zu machen. Ich kann mich erinnern, dass wir stundenlang durch die Wälder gestreift waren, ohne dass wir ein Wort verloren hatten. Wir hatten uns einzig mit Handzeichen verständigt. Doch ich hatte auch Aivik in mein Herz geschlossen. Seine Art gefiel mir. Der Eskimo war eine ehrliche Haut. Obwohl er mir hin und wieder eine Standpauke hielt, fühlte ich mich wohl in seiner Gesellschaft. Ohne zu zögern hätte er in der gleichen Sekunde für mich sein Leben eingesetzt. Dasselbe hätte ich auch für ihn getan. In der Wildnis galt das Gesetz des gegenseitigen Beistands. Kein Skrälinger durfte dieses Gesetz verletzen. Und wer dies dennoch tat, der war dem Tode geweiht. Denn tausend Gefahren lauerten hier im Reich der wilden Tiere und in Gottes freier Natur. Viele Gedanken gingen mir an diesem Abend durch den Kopf. Würden wir die Cree noch am Bärensee antreffen? Auch Talmach war schweigsam geworden. Durch den Tod seines Vaters war ihm viel zu früh die Häuptlingsbürde auferlegt worden. Ohne Zögern hatte er die Verantwortung für den Stamm übernommen. Das war auch der Grund, weshalb wir an den Bärensee zurückgekehrt waren. Ich stemmte meine Beine gegen die Erde und ergriff mein Schwert. „Ich werde die erste Wache übernehmen“, sagte ich zu Talmach und Aivik. Dann schritt ich zum Flussufer hinüber. Es war ein milder Abend. Die Sonne war untergegangen. Weiter oben hatten Biber ein Bachtal abgedämmt. Tintenblau schimmerte ein weites Sumpfland zwischen den umdämmerten Bäumen durch. Ich liebte dieses Licht der Wälder. Jede Tageszeit hat ihr eigenes Licht. Jede Jahreszeit hat ihr eigenes Licht. Heimlich liebte ich dieses Waldlicht. Noch schöner würde das Licht am Bärensee sein, in diesem versteckten und idyllischen Tal. Im weiten Halbkreis die Wälder: die dunkelgrünen Fichten und Tannen, dazwischen das Hellgrün der Ulmen, Kastanienbäume und Pappeln. Der Wald würde nach Fichtenharz und Laub duften. Kein Wald hatte diesen Wohlgeruch wie der Wald am Bärensee. Das Licht der Sonne würde auch den See überzuckern, und das Wasser würde klar wie Kristall sein. Die schwarze Nacht zog herauf und breitete ihr Gewand über den Tannen am Fluss aus. Eine Waldnacht ist beeindruckend. Eine wohltuende Ruhe kehrt ein. Der Wald scheint für einen Augenblick
seinen Atem anzuhalten. Doch dann beginnt sich die Waldnacht zu rühren. Von überall her krabbeln und krauchen die Waldtiere aus ihren Behausungen. Vereinzelte Rufe sind schon zu hören. Die Nacht bekommt Leben. Für mich hatte eine Waldnacht nichts beängstigendes. Sie faszinierte mich und regte meine Phantasie an. Eine Waldnacht lässt den Gedanken freien Lauf. Sie belebt und schärft die Sinne. Sie ist Balsam für die Seele. Plötzlich schimmerte ein heller Schein durch die Äste. Ich trat zur Seite und blickte über den Fluss. Der Mond war auf der anderen Seite aufgegangen. Noch war sein Licht blass. Aber bald würde es sich aufhellen und den Fluss und die Baumwipfel mit seinem Glanz überfluten. Nach Mitternacht weckte ich Aivik und legte mich schlafen. Die Kühle der Nächte machte mir zu schaffen. Meist schlief ich, in meine Decke gehüllt, Rücken an Rücken mit meinem Puma. Er war jetzt zur vollen Grösse herangewachsen. Sein geflecktes Fell war längst verschwunden; aus dem kleinen Racker war ein prächtiger schwarzer Puma geworden. Ich hatte eine innige Beziehung zu dem Tier. Ich konnte mich auf ihn verlassen wie auf einen treuen Hund. Seine Sinne waren noch geschärfter als die der Cree. In seiner Nähe war ich sicher wie in Abrahams Schoss. Gegen Mittag des nächsten Tages erreichten wir eine kleine Ebene am Saskatchewan. „Ist das nicht die Büffelwiese, Patrick?“ fragte mich der Grönländer. „Ja, hier hatten wir vor drei Jahren einen Jagdtrupp der Cree getroffen“, antwortete ich. „So habe ich mich nicht geirrt. Auf meinen Spürsinn können wir uns also noch immer verlassen.“ „Wenn wir über die Ebene reiten, sind wir gegen Abend am Bärensee.“ „Auf was warten wir dann noch!“ Wir lenkten unsere Tiere auf die Büffelwiese hinaus. Im Galopp ging es dann dem Dorf der Cree entgegen. Meine Spannung wuchs mit jedem Hufschlag, der uns den Freunden näherbrachte. Vor uns schlängelte sich ein Bach durch die Wiese. Er trug sein Wasser dem Bärensee zu. Vor drei Jahren hatten wir ihn nicht wahrgenommen, da er unter Eis und Schnee verborgen gewesen war. Dann standen wir am Ufer. Die Sonne stand über uns. Der See glitzerte wie ein Kristall. Ich roch Harz. Es war Fichtenharz. Der Wald duftete hier immer nach Fichtenharz. Und auch nach Birke. Birken gab es hier nämlich auch. Und Tannen und Espen und Ahorn und Kastanienbäume. Am anderen Ufer sah ich die Hütten des Dorfes. Es war das Dorf der Cree. Die Cree waren meine Brüder. Im Winter vor drei Jahren waren wir auch von der Büffelwiese her in dieses Tal gekommen. Damals hatte der See unter festem, dickem Eis gelegen, und wir waren mit den Hundeschlitten über
den See gegangen. Jetzt standen wir mitten im Mond, in dem die Vögel nach dem Süden fliegen. Auch meine Gedanken flogen nach Süden, ins Tal der Tolteken. Shawanung-nizeo! Wie oft waren meine Gedanken in den letzten Tagen um die schöne Toltekenfrau gekreist! Sommerwind! Die Sehnsucht wollte mich zerreissen. Ich sah ihre zierliche Gestalt wieder. Ihre dunklen Augen strahlten mich an. Ich tauchte in ihr bronzenes Gesicht, glitt über ihre samtene Haut und küsste ihre zarten Lippen. Chicomecoatl! Ich strich über ihr langes Haar. Es war schwarz wie Ebenholz und duftete nach Rosen. Sie war die Aphrodite der Toltekinnen. Ich sehnte mich so nach ihrer Liebe! Wir ritten um den See herum. Eine Abordnung der Cree kam uns entgegen. An der Spitze sah ich Otterkopf. „Meine Brüder!“ sagte er und schloss uns in die Arme. „Mein Bruder!“ wiederholten wir. „Mein Herz ist froh, euch wieder am Bärensee zu sehen.“ Wir waren heimgekehrt. Und der See lachte. Und die Wälder ringsum, sie winkten uns zu. Auch mein Herz lachte. Es lachte so herzlich, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Ich war wieder zu Hause!