Hivar Kelasker, Earl Warren, Roy Palmer, Roy Palmer & Ernst Vlcek
Der Geist aus dem Totenschiff Dorian Hunter Klassike...
79 downloads
891 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Hivar Kelasker, Earl Warren, Roy Palmer, Roy Palmer & Ernst Vlcek
Der Geist aus dem Totenschiff Dorian Hunter Klassiker Band 12
ZAUBERMOND VERLAG
DAS BUCH Olivaro, das selbsternannte Oberhaupt der Schwarzen Familie, ist gescheitert. Die Macht der Oppositionsdämonen, die sich schließlich sogar mit Dorian Hunter, dem Dämonenkiller, verbündeten, um Olivaro zu stürzen, war zu groß. Mit der Abdankung des Fürsten ist aber auch das Bündnis aufgekündigt. Dorian Hunter und Coco Zamis muss es nun vordringlich darum gehen, ihren neugeborenen Sohn Martin Zamis vor dem Zugriff der Dämonen zu schützen. Coco hat Martin deshalb an einem geheimen Ort untergebracht, den nicht einmal Dorian kennt. Aber den Dämonenkiller befallen Zweifel, ob Coco mit dieser Entscheidung richtig gehandelt hat. Was, wenn es den Dämonen gelingt, das Versteck ausfindig zu machen? Wäre es nicht besser, wenn zumindest er selbst wüsste, wo sich sein Sohn befindet? Doch die Dämonen lassen Coco und ihm keine Zeit, die Entscheidung zu revidieren. Dorian bekommt es auf dem Gehöft eines Weingutbesitzers mit den Sklaven des Vampirs zu tun, und Coco macht in Ägypten Bekanntschaft mit der Mumie des Hohepriesters Nefer-Amun. Ob Martin derweil ohne den Schutz seiner Eltern in seinem Versteck überleben kann …?
Was bisher geschah … Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen. Unterstützung in seinem Kampf erhält er durch den englischen Secret Service, den er von der Wichtigkeit seiner Mission überzeugen konnte. Der Service gründete die Inquisitionsabteilung, deren Leiter Trevor Sullivan seitdem auch Dorians Vorgesetzter im Kampf gegen die Dämonen ist. Ihr Hauptquartier ist die Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road, die durch Dämonenbanner gegen einen Angriff der Schwarzen Familie gesichert ist. Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Teufel, der ihm daraufhin die Unsterblichkeit gewährte. Um seine Sünden zu büßen, verfasste de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, ging seine Seele in den nächsten Körper über. Dorian Hunter begreift, dass er die Wiedergeburt de Condes ist. Als die Inquisitionsabteilung wegen Erfolglosigkeit aufgelöst wird, setzt er den Kampf auf eigene Faust fort – zusammen mit den engsten Gefährten: der jungen Hexe Coco Zamis, die früher selbst ein Mitglied der Schwarzen Familie war, bis sie aus Liebe zu Dorian die Sei ten wechselte, dem Hermaphroditen Phillip, dem Puppenmann Don Chapman und dem Ex-Leiter der Inquisitionsabteilung, Trevor Sullivan. Hunter gelingt es, Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, zu vernichten. Doch mit Olivaro steht schon ein Nachfolger bereit. Zwar ist seine Position innerhalb der Familie nicht unumstritten, aber das lässt ihn nur umso gewissenloser agieren … Der Kampf gegen die Dämonen, der niemals zu enden scheint, beginnt für Dorian mit Olivaros Inthronisierung von Neuem …
Vorwort Der Dämonenkiller Dorian Hunter ist in diesen Tagen wahrlich nicht zu beneiden. Kaum ist Coco den Fängen Olivaros entrissen, gibt es neue Geheimnisse zu lüften – und neue Dämonen, die Dorian und Coco nach dem Leben trachten. Während die junge Hexe es mit der Mumie des Hohepriesters Nefer-Amun zu tun bekommt, setzt sich Dorian Hunter unter anderem auf die Spur des Gastes aus dem Totenreich … Alle fünf Abenteuer aus diesem Band sind wieder einmal von hochklassigen Autoren verfasst, die mit der Serie DORIAN HUNTER – damals im Heftroman firmierte sie bekanntlich noch unter dem Namen DÄMONENKILLER – etwas Neues wagten, dessen Erfolg und Konsequenzen zu Beginn nicht abzusehen waren. Und beides folgte, denn Dorian Hunter war und ist anders als andere Serienhelden. Menschlicher. Schwächer. Und gleichzeitig wiederum auch stärker. Diese widersprüchlichen Züge spiegeln sich auch in anderen Charakteren – und selbst in der Handlung, die (man denke nur an die aufwändig recherchierten Vergangenheitsabenteuer aus der Feder Neal Davenports) oft verschlungene Wege ging und dort, wo es notwendig war, auch vor expliziten Schilderungen nicht zurückschreckte. Es waren diese Elemente der Gewalt, die, obwohl dosiert und nie zum Selbstzweck eingesetzt, der Serie im Heftroman das Rückgrat brachen. Ernst Vlcek hat nun seine Archive durchstöbert und Teile der Begründung zutage gefördert, mit der die Beauftragten der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften insgesamt drei Hefte der Dämonenkiller-Serie auf den »Index« setzten. Den Bestimmungen folgend, musste der DÄMONENKILLER damit für mindestens ein Jahr vom Markt verschwinden, was in der Praxis das Ende einer fortlaufenden Serie bedeutet. Die Begründung liest sich – und das nicht nur aus heutiger Sicht – abenteuerlich und mithin gruseliger als so mancher Dämonenkiller-Roman. So wurden die Hefte u. a. nicht nur wegen des Romaninhalts, sondern auch auf-
grund einer Werbung für den »Sexversand Gronau« indiziert, dessen Anzeigen (»Heißer Sex für scharfe Leute – Gronau schickt es dir noch heute«) den Autor dieser Zeilen schon damals eher erheiterten als inspirierten. »Eine weitere jugendgefährdende Komponente«, schreibt der Beauftragte der BPjS in seiner Beanstandung des Romans Die Braut der Bestie von Roy Palmer, »ist die Verquickung phantastischer Handlungsabläufe mit realitätsbezogenen Geschehnissen sowie die Ausstattung der Dämonen und Monster mit menschlichen Empfindungen und Reaktionen … Nur am Rande sei erwähnt, dass auch von dem Einschub DÄMONENKILLER INFORMIERT (der Leserseite der Romane, D. V.) eine nicht zu unterschätzende Jugendgefährdung ausgeht. In dieser Fortsetzungsserie dienen historisch äußerst vereinfache Darstellungen über Hexenverfolgungen in früheren Jahrhunderten dazu, weitere Brutalitäten und Sadismen zu schildern.« Mit Neal Davenports Roman Amoklauf (enthalten in Band 2 der Dorian Hunter-Serie, Der Hexenkreis) geht derselbe Prüfer ähnlich schonungslos ins Gericht: »Die Rechtfertigung des Dämonenkillers, er töte nur Dämonen … ist geeignet, Kinder und Jugendliche sozialethisch zu verwirren.« Kein Wort über die Mühe, die die Autoren auf ihre Recherche der geschichtlichen Hintergründe verwendet haben, kein Wort davon, dass nach den Maßstäben des Beauftragten offenbar jegliche phantastische Literatur (und welches belletristische Werk ist dies im Wortsinn nicht?) auf den Abfallhaufen der Büchergeschichte gehört. Die Autoren lieferten eine Stellungnahme zu den Vorwürfen ab, in der sie genau auf diese Punkte eingingen. Die BPjS kümmerte sich jedoch offenbar nicht darum, und so wurde – quasi als Treppenwitz der Heftromangeschichte – gerade der vergleichsweise anspruchsvolle und vielschichtige DÄMONENKILLER zusammen mit so illustren Werken wie »Stossparade«, »Ficken, bis die Vorhaut platzt« und der »Bravo«-Nr. 46/77 aus den Zeitschriftenläden verbannt. Leider fehlt mir an dieser Stelle der Platz, um den kompletten Text des Plädoyers der Prüfstelle abzudrucken. Ich werde jedoch in den folgenden Bänden hin und wieder ein paar weitere Auszüge preis-
geben – erleichtert, mir über soviel Amtseifer nicht allein den Bauch halten zu müssen … Viel Spaß beim Genießen wünscht Dario Vandis
Erstes Buch
Die Sklavin des Vampirs von Hivar Kelasker
Eine herrliche Nacht, dachte Pierre, eine herrliche, kalte Novembernacht. Über den Hügeln standen starr und riesig die Sterne. Die Sichel des zunehmenden Mondes schob sich über die Weinberge. Die wenigen Lichter in den verstreut liegenden Häusern und Weingütern leuchteten gelb und anheimelnd. Der Wind hatte sich gelegt. Als Pierre die Hand ausstreckte, um den schweren, rostigen Riegel zurückzuschieben, wehte ihm warme Luft entgegen; sie roch gut, leicht säuerlich und nach Wein. Pierre schob den ersten, dann den zweiten Riegel zur Seite. Das Eisen kreischte wie eine verdammte Seele. Jedem anderen wäre es nicht einmal im Vollrausch eingefallen, diesen Ort in der Nacht zu besuchen, aber Pierre fürchtete sich nicht vor den riesigen, bemoosten Quadern, den Ruinen der einstigen Mühle und den riesigen Kellerräumen, die als Spitzbogen-Labyrinth unter dem langgestreckten Hügel seines Weinberges lagen; sie waren älter als zwölfhundert Jahre. Pierre öffnete das Vorhängeschloss und ließ den Schlüsselbund stecken. Wer sollte hier in Poitou-Re schon in einen Weinkeller eindringen? Eine Lampe, mit Fliegendreck überkrustet, flackerte auf. Pierre zog die schwere Tür wieder zu, sicherte sie und drehte an einem zweiten Schalter. An zwanzig verschiedenen Stellen erhellten matte Birnen einen Teil der großen Halle mit ihrem gotischen Kreuzgewölbe. Spinnennetze und die ledernen Mumien von kleinen Fledermäusen hingen vor den Lampen. Pierre ging zwischen Fässern und Flaschenbatterien, Holztischen und Flaschengestellen in die Tiefen der dämmerigen Halle. Der Geruch wurde stärker. Er vermischte sich mit dem Modergeruch und dem Geruch faulenden Holzes. Unter der kleinen Pumpe hatte sich eine Weinlache gebildet, und auch aus dem Ende des Schlauches war Wein rausgelaufen. Er kicherte leise, grinste den Tank an. Was in diesem Tank war,
ging nur ihn etwas an; und vielleicht noch Ingrid, seine Frau. Auf keinen Fall aber die Winzergenossenschaft oder gar die Steuer. Es war billigster italienischer Rotwein, allerdings Wein aus Trauben, nicht aus irgendwelchen chemischen Absonderlichkeiten. Er blieb stehen und überlegte, wie viel er von dem Wein mischen sollte. Er war kein großer Winzer. Aber seine Rotweine hatten viele Freunde, hauptsächlich in den Vereinigten Staaten. Es waren gute Weine, ohne berühmte, klingende Namen, aber nicht billig und wohlbekannt in Kreisen, die einen guten Preis zahlen konnten. In einer Woche muss ich nach Clermont-Ferrand, dachte er und fing an, seinen Rotwein mit dem billigen aus Italien zu verschneiden. Er probierte, mischte in verschiedenen Verhältnissen, fügte unbestimmbare Flüssigkeiten hinzu und bekam langsam einen aromatischen Wein. Die Flaschen und die Etiketten waren schon fertig. Morgen oder übermorgen würde er abfüllen können. Auf einmal wurde er unruhig. Er hob den Kopf, lauschte und ging schließlich, die große Lampe in der Hand, zum Tor zurück, stieß es auf und leuchtete die Umgebung des kleinen Platzes ab; aber er sah nur die zerborstenen Mühlräder zwischen den Brennnesseln, die alten Balken und die schwarzen, dürren Äste der alten Bäume, die sich wie Greisenfinger gen Himmel reckten. In der Ferne, wahrscheinlich bei Clarente, heulte schauerlich ein Hund und schwieg dann plötzlich. »Ich sehe schon Gespenster«, brummelte er und ging wieder zurück. Aber seine Unruhe nahm zu, je länger er in dem altbekannten Gewölbe war. Schließlich, eine Stunde später, hielt er es nicht mehr aus. »Hier ist etwas«, knurrte er, schaltete die Lampe wieder ein, ging tiefer in das Kreuzgewölbe hinein, leuchtete unter die Tische, hinter die Tische, stieß eine Eisenstange in den Scherbenhaufen, rüttelte an den Säcken mit den Korken. Nichts. Nur ein paar Mäuse rannten pfeifend davon. »Verdammt!« Natürlich kannte er seine Gewölbe. Und es gab auch keinen unbekannten zweiten Eingang. Er ging weiter, leuchtete sorgfältig die
Wände ab und versprach sich selbst zum tausendsten Mal, irgendwann vor der nächsten Lese das Gemäuer weiß anstreichen oder kalken zu lassen; es war zu finster und zu schmutzig hier. Er kam an das Ende des ersten Nebengebäudes, das wie der Zinken einer Gabel vom großen Gewölbe abzweigte. Hier war aller Verputz abgefallen, Schwamm wucherte an den Steinfugen, und plötzlich wusste er, was ihn gestört hatte. Er erkannte die Blume und das Aroma eines Weins. Und hier roch es nach einem Jahrhundertwein. Blödsinn! Es gibt keinen solchen Wein hier bei Pierre Lacroix, sagte er sich und ging weiter. Vor ihm war jetzt die Wand aus roten Ziegeln. Sie war wohl zur Zeit seines Vaters zugemauert worden. Und dann sah er es. Blut? Nein. Rotwein. Zwischen den Ziegeln sickerte in Brusthöhe eine dunkelrote Flüssigkeit heraus. In einzelnen dünnen Rinnsalen tropfte und lief sie durch die Fugen, sammelte sich unter einer Kante und tropfte in einen Eimer, der seit einem Jahrzehnt oder seit Kriegsende hier stehen mochte. Der Eimer war voll. Ein haarfeiner Strahl lief über den Rand und versickerte im Lehm und Steinboden des Gewölbes. Pierre leckte seinen Zeigefinger ab, steckte ihn in den Eimer und wurde von dem Geruch überwältigt, als er sich bückte. Als er den ersten Tropfen dieses Gebräus auf der Zunge spürte, wusste der Winzer eines ganz genau: Er hatte noch niemals einen solchen Wein gekostet. Und ganz sicher war, dass er diesen Wein – einen solchen dicken, berauschenden Wunderwein – nicht hergestellt hatte. Er musste von seinem Vater stammen. Vor einigen Monaten hatte er in der Verbandszeitung gelesen, welche horrenden Preise für Weine aus diesen Jahren – allerdings mit einem besseren Namen als seinem – bei Versteigerungen erzielt worden waren. Da muss ein Fass undicht geworden sein, sagte er sich. Er rannte zurück in das Hauptgewölbe, kam mit einem sauberen Probierglas zurück, schöpfte es vorsichtig halb voll, hob es gegen die Lampe, roch daran, kostete den Wein und ließ einen kleinen Schluck in seinem Mund herumrollen. Der Jahrhundertwein musste alt sein, alt und hervorragend. Ver-
gessen war das Weinpanschen. Vergessen war die Summe, die er sich ausgerechnet hatte. Jetzt musste er herausfinden, was hinter dieser Ziegelwand war. Er trank – diesen Moment gönnte er sich noch – das Probierglas langsam aus und atmete gierig und bewundernd das Aroma des Weines ein. Dann lief er, die Lampe in der Hand, hinaus und den gewundenen Weg entlang, zwischen den nackten Reben, den struppigen Büschen, in denen verlassene Vogelnester wie dicke Klumpen saßen, hindurch, bis hinauf in den Hof. Mit einem dumpfen Knall fiel die Tür hinter ihm zu. In seiner Aufregung vergaß er, die Lampe auszuschalten. »Ingrid!«, schrie er. »Cherie! Komm schnell! Ich habe eine verrückte Sache entdeckt!« Er hörte ihre Schritte auf der Treppe, die ins Schlafzimmer hinaufführte. Pierre wartete ungeduldig.
Mit einem Brecheisen schlug er einen Ziegel nach dem anderen aus der Wand. Ein Teil fiel leise polternd nach hinten, in den anderen Raum des Gewölbes. Rechts und links neben der hohen, schmalen Öffnung lagen zerbrochene Ziegel und roter Staub, der mit dem verschütteten Wein eine grau-blutige Paste bildete. Aus dem Loch in der Ziegelwand wehte ein eiskalter Hauch, der ihm den Duft dieses verteufelten Weines zutrug. »Er muss von deinem Vater gemauert worden sein«, sagte Ingrid. »Warum hat er dir nichts von diesem Keller gesagt?« »Keine Ahnung«, keuchte Pierre und hieb auf einen Stein ein, der sich knirschend lockerte und auf den Haufen krachte. »Vielleicht hat er es vergessen. Er war ja ein bisschen eigenartig zum Schluss.« Ingrid trug ihren weißen Pullover und den dunkelroten Rock. Sie sah noch immer wie siebenundzwanzig aus. Jetzt, in der Aufregung, glühte ihr Gesicht, von schulterlangem, schwarzem Haar eingerahmt, wie das eines aufgeregten jungen Mädchens. Noch war die Öffnung nicht groß genug, um Pierre hindurchzulassen. Er kam ins Schwitzen, wurde wütender und ungeduldiger und schlug sich die Knöchel der Hand auf. Ingrid bückte sich, hob eine der beiden Lam-
pen hoch und leuchtete die Kanten des Durchbruchs ab. »Verdammt kalt dahinter«, bemerkte Pierre und sah, dass er sich hindurchzwängen konnte. »Gib mir die andere Lampe!« Er schlug noch einige Steine ab, dann hob er den zweiten Scheinwerfer hoch und fasste Ingrid an der Schulter. »Wenn wir diesen Wein verkaufen – Tausende, sag ich dir«, murmelte er. »Es muss ein Fass sein.« Er leuchtete in den Raum dahinter. Der weiße Lichtkreis huschte über den staubigen Boden, erfasste Böcke, in denen uralte Fässer standen. Undeutlich sah Ingrid, die sich schwer auf Pierre lehnte, über seine Schultern in einen Gang, der in Kopfhöhe ein lang gestrecktes Gewölbe umlief. Auch dort standen alte Fässer. Eines davon musste undicht geworden sein. »Wein! Alles voller Wein!«, stöhnte Pierre auf und drehte sich um. Seine Augen leuchteten. Er fasste nach seiner Frau. Sie presste sich kurz an ihn, aber dann sagte sie: »Lass das! Sehen wir nach! Da scheint ein wahrer Schatz versteckt worden zu sein.« Zuerst drängte und schob sich Pierre durch den Spalt, dann streckte er eine Hand aus und packte Ingrids Finger. Er zog die Frau hinter sich her. Als sie die Lampe in die Höhe hielt, sahen sie erst die Ausdehnung des unbekannten Gewölbes. »Ich verstehe das nicht«, sagte Pierre düster. Er begann zu zittern, nicht nur aus Aufregung, sondern auch aus Furcht. »Was verstehst du nicht?« »Dieses Gewölbe. Säulen, darüber ein umlaufender Gang und lauter Weinfässer. Keiner aus unserer Familie wusste etwas davon.« Sie kicherte und antwortete gut gelaunt: »Das ist noch lange kein Grund zum Zittern, Pierre. Dort steht ein Fünfhundert-Liter-Fass. Wenn das voll ist …« Sie gingen zögernd ein paar Schritte weiter. Ihre Schritte waren unhörbar auf der dicken Staubschicht. Sie atmeten schwer. Die Luft war kalt und stickig. Es war ein unheimliches Gewölbe. Plötzlich schrie Ingrid kreischend auf: »Ein Gerippe, Pierre!« Sie leuchtete nach rechts. An einem dicken Strick hing ein Skelett zwischen den Vorderseiten zweier ovaler Fässer. Daneben lag ein
Haufen Knochen. Der Schädel war nur zwei Meter von ihren Schuhen entfernt, und auf einem Fass sahen sie ein drittes Skelett. »Es wird immer verrückter«, sagte Pierre leise. Seine Stimme klang rau. Er hustete, aber es war nicht nur der Staub, der ihn dazu zwang. Die Skelette selbst jagten ihm keine Angst ein, aber ihr Vorhandensein war rätselhaft. Niemand durfte etwas davon erfahren. Eine Untersuchung würde ihn ruinieren, ins Gefängnis bringen. Und erst die Steuerstrafen! Er durfte gar nicht daran denken. »Ich habe Angst«, flüsterte sie. Er zog sie an sich. »Du brauchst keine Angst zu haben. Die Skelette tun dir nichts mehr.« Eine winzige Erschütterung ließ das morsche Seil zu Staub zerfallen. Klappernd fiel das Skelett in sich zusammen. Die langen, weißen Knochen fielen zu Boden. Der Kopf rollte in Schlangenlinien auf Ingrid zu. Sie sprang in die Höhe. Auch Pierre machte einen schnellen Schritt vorwärts und zog sie mit sich. Der Schädel schlug gegen einen Holzbock und zerbrach in zwei Teile. Ingrid schüttelte sich und kreuzte die Arme vor der Brust. Langsam ging Pierre weiter. »Und was soll das sein? Ein Sarg?«, fragte er nach einigen Sekunden. Die schwarzen Wände schienen seine Worte zu verschlucken. »Ein Sarkophag«, erklärte Ingrid. »Ein alter, kostbarer Sarg.« Eine längliche Kiste stand auf zwei breiten, schwarzen Steinsockeln. Als Pierre die Vorderkante berührte, merkte er, dass auch der Deckel aus Stein war, eine zwei Quadratmeter große Platte mit Scharnieren und kreuzförmigen Zeichen. Pierre war entschlossen, das Geheimnis zu lüften, trotz seiner Angst und des Grauens, das ihn schüttelte. Er lief zurück zum Loch in der Wand, holte die Brechstange, setzte sie in der Mitte an der Längsseite des Deckels an, fand einen Spalt, stellte die Lampe auf den Sargdeckel und benutzte die Stange als Hebel. Mit einem Geräusch, das das Blut in den Adern gefrieren ließ, bewegte sich die Platte. Als der Deckel halb über die Kanten gerutscht war, stellte Pierre die Lampe auf den Boden.
Ingrid stand fünf Meter vom Kopfende des Sarkophags entfernt. Pierre fasste noch einmal zu. Die Platte kippte langsam und schlug dann krachend auf den Steinboden. Pierres Augen traten hervor, als er erkannte, was in dem Sarg lag. Zwischen den Füßen eines Mannes stand eine dicke, schwarze Kerze. »Nein – Ingrid! Das ist …«, stöhnte Pierre. Seine Stimme versagte ihm. Die schwarze Kerze brannte. Sie brannte! Und es war kein Mann, der jetzt die Augen öffnete und sich zu bewegen begann. Es war ein haariges Ungeheuer, groß wie ein – wie ein Gorilla, mit einem Reptilschädel und großen, leuchtend roten Augen, zwei lang gezogenen, spitzen Ohren und einem Horn auf der Stirn. Pierres Gedanken wirbelten durcheinander. Durch die Staubwolke kam Ingrid näher heran. Sie sah nur die Kerze und schlug die Hände vor den Mund. Pierre würgte hervor: »Ein Ungeheuer. Das muss ein Scherz …« Es war kein Scherz. Vor Schreck erstarrt, sahen Pierre und Ingrid, wie sich das riesige, breitschultrige Ungeheuer bewegte. Ein Totenschädel, winzig wie der eines Kindes, baumelte an einer dicken Kette vor der Brust. Das Ungeheuer streckte seine Krallen aus, umklammerte den Rand des Sarkophags und zog sich in die Höhe. Die Kerze erlosch, als es sich aus dem Sarg schwang. Das Ungeheuer stöhnte wohlig auf – wie ein Mensch nach langem Schlaf. Dann lachte es laut und mit rostiger Stimme. Es breitete die Arme aus und ging schwankend auf Ingrid zu. Mit einem gierigen Grunzen stürzte es sich auf sie. Ingrid warf die Lampe nach dem Ungeheuer, das das schwere Geschoss mit einem Prankenhieb zur Seite schleuderte. Das Licht erlosch augenblicklich. Ingrids Schreie erstickten. Pierre hob die Stahlstange auf, rannte durch den aufwirbelnden Staub und holte aus. Er zielte auf das riesige Horn. Aber die schwarzhaarige Bestie ahnte den Angriff und drehte sich, die bewusstlose Frau im Arm, halb herum. Ein furchtbarer Schlag traf Pierre und schleuderte ihn mit dem Rücken gegen ein leeres Fass. Pi-
erre rutschte langsam am Fass herunter und fiel zur Seite, mitten in den Knochenhaufen. Das gierige, lustvolle Schmatzen der schwarzhaarigen Bestie hörte er nicht mehr.
Dorian fühlte sich – nach langer Zeit wieder einmal – entspannt, ausgeschlafen und ausgeruht. Seine Gedanken kreisten nicht mehr um die Bedrohung der Welt durch Dämonen, Ungeheuer und Hexen; er hatte die Gefahren verdrängt; auch diejenigen, die ihn selbst bedrohten. Entspannt saß er in einem weichen Ledersessel vor dem reich gedeckten Frühstückstisch. Er überlegte, die Kaffeetasse in der Hand, ob er den Tag mit einem Kognak beginnen sollte. Die Tür öffnete sich, und Trevor Sullivan kam herein. »Morgen«, knurrte er. Sullivan setzte sich Dorian gegenüber und nickte, als er das Arrangement auf dem Tisch sah. Er legte einen schmalen Ordner neben sich auf den Beistelltisch. »Ebenfalls guten Morgen«, erklärte Dorian gut gelaunt und grinste. Er beschloss, sich doch einen kräftigen Schluck Alkohol einzuschenken. Der Morgen – in Wirklichkeit war es fast Mittag – war dann noch besser. »Auch ein Glas?«, fragte er. »Mit Vergnügen«, erwiderte Sullivan, aber er sah gar nicht so vergnügt aus. Er lehnte sich zurück, hob das Glas, wartete und blätterte in dem Ordner, bis Hunter sein Frühstück beendet hatte und die zerknüllte Serviette auf den Tisch warf. »Sie scheinen Sorgen zu haben, Trevor?«, erkundigte sich Hunter und goss beide Gläser erneut voll. »Nicht gerade Sorgen«, meinte Trevor, »aber Mystery Press scheint eine wichtige Entdeckung gemacht zu haben. Hier, ich habe verschiedene Nachrichten gesammelt.« Hunter winkte ab und blickte den kleinen Mann mit den verschiedenfarbigen Gesichtshälften an. Sullivan sammelte seit langer Zeit alle erdenklichen Meldungen und Berichte über unerklärliche Vor-
fälle. Dass er Hunter einen solchen Bericht ausgerechnet heute vorlegte, bewies Dorian, dass etwas daran sein musste. »Interessant?«, erkundigte sich Dorian und bemerkte, dass sich die helle Gesichtshälfte Sullivans leicht rötete; ein sicheres Zeichen also. »Ja, ich denke schon. Lesen Sie selbst!« Er nahm aus der Mappe einen Zeitungsartikel, schob ihn über den Tisch, und Hunter las. Beträchtliches Erstaunen rief die Aussage eines Insassen des Irrenhauses von Clermont-Ferrand hervor, der seit elf Monaten einsitzt. Der Mann behauptet ernsthaft, er habe seine Freundin töten müssen, weil sie ein Vampir war und ihn zu überwältigen drohte. Gaston C. sagte aus, er habe einen Holzpfahl in ihr Herz geschlagen, ehe sie ihn umarmen und mit ihren Fangzähnen beißen konnte. Nach diesem verblüffenden Akt mittelalterlicher Hexentötung wäre der Körper des Mädchens zu Asche zerfallen. Nachforschungen der dortigen Polizeibehörden ergaben, dass ein Mädchen dieses Namens tatsächlich seit knapp einem Jahr verschwunden ist. Dorian Hunter runzelte die Stirn und sah auf den Kalender, der zwischen den Bildern der Jugendstileinrichtung hing. »Nicht uninteressant«, murmelte er. »Das muss irgendwann vorigen November gewesen sein.« »Das ist nicht der einzige Hinweis. Ich habe eine ganze Reihe von Meldungen, die sich gegenseitig ergänzen und logisch zusammenhängen«, sagte Sullivan. »Was mich an dieser Geschichte stutzig machte, ist der Hinweis, dass die Leiche nach der Pfählung zerfallen ist. Das kann kaum die Erfindung eines kranken Verstandes sein.« »Haben Sie weiter recherchiert und nachgeforscht?« »Natürlich!« Das klang fast vorwurfsvoll. »Ich hätte Sie sonst doch nicht mit solchen Kleinigkeiten belästigt.« »Gut. Also weiter!« Dorian erfuhr, dass ein Weingutbesitzer aus Poitou-Re, einem Dorf in der Nähe Clermont-Ferrands, uralte und seltene Weine von einmaliger Köstlichkeit anbot, allerdings zu einem Preis, der erstaunlich hoch war. Eine zweite Zeitungsmeldung bestätigte, dass Laura Monton, die angeblich verschwundene Freundin des Gaston Chabrol, eine Angestellte des Weinhändlers gewesen war. Die Ver-
bindung war hergestellt. »Außerdem hat vor einigen Wochen Tim Morton gemeldet, dass in New York etwas sehr Merkwürdiges passiert ist. Eine Weinsendung aus Frankreich wurde ausgeladen. Eine Kiste fiel vom Gabelstapler, krachte zu Boden und ging auf. Die Hälfte der Flaschen zerbrach. Zuerst dachten alle Arbeiter, es wäre Rotwein, aber dann stellte sich heraus, dass es Blut war.« Mit einem harten Ruck stellte Dorian den Kognakschwenker auf den Tisch. »Blut? Wirklich? Ist das bewiesen?« Trevor erhob sich halb aus dem Sessel, stemmte seine Arme auf den Tisch und sagte laut und rechthaberisch: »Verdammt, glauben Sie, dass ich Sie einfach nur so nach Frankreich hetzen will, in ein gottverlassenes Nest voller Rotweintrinker?« »Ist klar bewiesen worden, dass es sich um Blut handelte?«, fragte Dorian, sich zur Ruhe zwingend. »Ja. Die Behörden haben den Fall untersucht. Der Absender des Weines war natürlich Pierre Lacroix.« Jetzt war Dorian interessiert. Die Ruhe des Tages war dahin. Er atmete tief ein und aus. Mit leiser Stimme fragte er: »Was ist sonst noch darüber zu erfahren gewesen? Die Mystery Press scheint ja hervorragend zu funktionieren.« Sullivan reichte Dorian die Mappe, und Dorian blätterte in den Kopien und Ausschnitten. »Bis vor etwa einem Jahr war Lacroix ein ziemlich unbekannter Händler. Seine Weine waren nicht schlecht, nicht besonders gut, nicht besonders teuer. Aber ich selbst habe gehört, dass seit dieser Zeit seine Weine unter Kennern berühmt geworden sind. Sammler reißen sich um seine Flaschen, obwohl sie einen Haufen Geld hinblättern müssen.« »Ich verstehe noch nicht. Was macht seine Weine so wertvoll?« »Vermutlich sind sie wirklich hervorragend, aber ich glaube, sie machen in bestimmter Weise süchtig. Hier, lesen Sie!« Die Anzahl der Flaschen, die an einzelne Interessenten abgegeben wurden, waren limitiert. Ebenso schien Lacroix seine Weinfreunde nach strengen, aber merkwürdigen Maßstäben auszusuchen.
»Lacroix prüft also seine Interessenten sehr sorgfältig. Wie das im Einzelnen vor sich geht, können wir nur herausfinden, wenn wir einen dieser Weinkenner kennen lernen. Nicht viele scheinen seine Bedingungen zu erfüllen.« »Ich habe mich umgehört und eine Menge herumtelefoniert«, sagte Sullivan. »Lacroix scheint seine Kunden tatsächlich genau auszusuchen, und die Bedingungen sollen recht merkwürdig sein. Seit rund einem Jahr hat niemand mehr Lacroix im Tageslicht gesehen. Alle kommen zu ihm in seinen Keller. Viele von seinen Kunden sollen niemals wieder aufgetaucht sein. Das sagen jedenfalls die Dorfbewohner. Aber niemand weiß, ob an der Geschichte etwas Wahres dran ist.« »Es kann ein Zufall sein«, meinte Dorian, »oder der Weinpanscher scheut das Tageslicht deshalb, weil er ein Vampir geworden ist.« »Was sehr wahrscheinlich ist, nach allem, was wir wissen. Und noch etwas. Ich habe die Adresse eines älteren Herrn, eines würdigen, grauhaarigen Gentleman, eines bekannten Weinkenners. Er hat in seinem Klub erzählt, dass er zu den Auserwählten gehört, die in der nächsten Zeit zu Lacroix reisen dürfen.« Sullivan streckte eine Hand aus und reichte Dorian ein Blatt Papier. Dorian stand auf, nahm das Glas in die eine und die Adresse in die andere Hand. Er ging unruhig im Salon auf und ab, warf einen Blick durch das hohe Fenster, und plötzlich blieb er stehen. Widersprüchliche Empfindungen erfüllten ihn. Seine Ruhe war dahin. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt. »Sie müssen den Fall untersuchen, Dorian. Wir beide wissen, dass die Hinweise eindeutig sind.« Sie sahen sich an, nickten sich zu. »Einverstanden. Ich werde diesen merkwürdigen Weingutbesitzer aufsuchen. Und zwar vorsichtig, mit entsprechender Tarnung.« Sullivan stand ebenfalls auf und klappte seine Mappe zu. »Ich war sicher, dass Sie sich für dieses Weingut interessieren würden.« Dorian besprach mit Sullivan die Einzelheiten, dann verließ Sullivan das Zimmer. Dorian schenkte sich noch einen Kognak ein und
las noch einmal sämtliche Artikel und Berichte, die er in der Mappe fand, genau durch. Überall waren die Dämonen. Niemand schien vor ihnen sicher zu sein.
Susan Dale versuchte, sich kühl zu geben, trotzdem klang ihre Stimme etwas belegt, als sie erwiderte: »Ich bin nicht sicher, ob Mr. Cooper Sie empfangen kann.« Der hochgewachsene Mann mit dem charakteristischen Oberlippenbart beugte sich über ihren Schreibtisch und sagte verbindlich, mit ruhiger Stimme und einem eigentümlichen Ausdruck in den Augen: »Wenn Sie ihm sagen, ich wäre ein Freund von Pierre Lacroix, bin ich sicher, dass er mich empfangen wird.« Susan stand auf. Sie war eine schlanke braunhaarige Frau von knapp dreißig Jahren und bewegte sich wie ein geschultes Fotomodell. Mr. Reed, wie sich der Besucher mit dem dämonischen Blick nannte, faszinierte sie. »Einen Augenblick!«, sagte sie und verschwand in Coopers Zimmer. Das alte Haus in Regents Park passte zu Dorians düsterer Stimmung. Er wartete ungeduldig, bis Susan zurückkam und ihn anstrahlte. »Er erwartet Sie, Mr. Reed.« »Danke«, entgegnete Dorian kurz. Er schlüpfte an ihr vorbei in ein hohes, bis zur Decke mit Bücherregalen ausgestattetes Zimmer. Ein Feuer loderte im Kamin. Alexander Cooper entpuppte sich als mittelgroßer, sehniger Mann mit buschigem Schnurrbart, straff anliegendem, weißem Haar und einem glänzenden Monokel in einem Auge. Er deutete auf einen Kaminsessel. »Nehmen Sie Platz, Sir! Daniel Reed war Ihr Name?« Dorian nickte und holte die gnostische Gemme hervor. Er spielte damit und begann mit leiser Stimme zu sprechen, berichtete, dass durch Unachtsamkeit eine Ladung Wein in New York vernichtet worden wäre.
»Und deswegen schickt mich Lacroix«, fuhr er fort. »Wir müssen noch vorsichtiger sein.« Das Monokel fiel aus Coopers Auge. Mit dem Pendeln der Gemme und seiner leisen, eindringlichen Stimme hatte Dorian ihn innerhalb kurzer Zeit hypnotisiert. Als Cooper in seinem Sessel lag und zu schlafen schien, begann Dorian mit seinen Fragen. »Wie lange beziehen Sie schon Wein von Lacroix?« »Seit zwanzig Jahren. Es sind keine schlechten Weine, aber diesen teuren Wein verschickt Pierre Lacroix erst seit Weihnachten vergangenen Jahres.« »Was ist an dem Wein so hervorragend?« »Einfach alles. Es ist ein Spitzenwein.« »Was unterscheidet ihn von den anderen?« »Wenn man einmal von ihm ein Glas getrunken hat, kann man nicht mehr aufhören. Es wird ein harter Schlag sein, wenn die Vorräte zu Ende sind. Deswegen ist der Kreis der Empfänger auch bewusst klein gehalten.« »Sie sind eingeladen worden?« »Ja, als einer von wenigen. Wir versammeln uns alle am einundzwanzigsten, wenn ein neues altes Fass geöffnet wird.« »Wo findet das statt?« »Im Weinkeller von Pierre Lacroix, im Dörfchen Poitou-Re, nahe Clermont-Ferrand. Ich habe bereits Zimmer bestellt.« »Warum gerade im Weinkeller?« »Die Zeremonie lohnt sich bei einem solchen Spitzenwein. Aber nicht jeder darf teilnehmen. Wir müssen uns ausweisen.« »Wie geht das vor sich?« Der Mann war zweifellos kein Dämon. Er war ein harmloser reicher Mann, der sich teuren Wein und eine aufregende Sekretärin leisten konnte, die Dorian schöne Augen machte. Der Wein von Lacroix aber schien magische Eigenschaften zu haben, denn er machte süchtig. Auf diese Weise konnte sich ein Dämon eine treue Anhängerschaft sichern und sie zu sich locken. Dorian wusste jetzt, dass er auf dem richtigen Weg war. »Ich habe ein Siegel zugeschickt bekommen.«
»Zeigen Sie es mir!« Cooper stand auf, ging mit langsamen Schritten zu einem uralten Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Er kam mit einer Kassette zurück, aus der er ein Stück Pergament nahm. »Dieses Siegel muss ich vorweisen, sonst werde ich von der Teilnahme ausgeschlossen.« Dorian nahm vorsichtig das Pergament in die Finger. Es war etwas größer als seine Hand und trug in der Mitte ein Stück Siegellack von blutroter Farbe. Im Lack war der Abdruck eines Stempels zu sehen. Das plastische Bild zeigte den Gott des Weines – Bacchus –, der von magischen Symbolen umgeben war. Dorian zog die Kleinstkamera heraus und machte drei Aufnahmen von verschiedenen Seiten. Dann gab er Cooper das Siegel zurück. »Sonst sind keinerlei Maßnahmen getroffen worden?« »Nein. Ich habe meinen Flug bereits gebucht. Wir müssen im Chez Simon übernachten, dem einzigen Gasthof des Ortes. Es wird sicher ein einmaliges Erlebnis.« Im wahrsten Sinne des Wortes, dachte Dorian sarkastisch und wartete, bis Cooper das Siegel verstaut hatte. Als der Mann wieder im Sessel saß, beendete Dorian die Befragung. Cooper würde sich an ihn nicht mehr erinnern. Dorian sorgte dafür, dass er nach dem Aufwachen mit niemandem über seinen Besuch sprechen würde. Eine einzige unbedachte Äußerung konnte alles verderben. Dorian ging hinaus und schloss die Tür leise hinter sich. Er bedankte sich bei Susan, die ihm begeistert nachblickte, aber sich gleichzeitig bemühte, diese Begeisterung nicht zu deutlich zu zeigen.
Nur drei Tage später rumpelte das Taxi über die schlechte Straße, an der das Haus der Chabrols lag. Dorian starrte schweigsam aus dem Fenster. Der Vorort von Clermont-Ferrand gehörte offensichtlich zu den ärmsten Vierteln der Stadt. Die Bäume wirkten abgestorben, die Hausmauern waren stumpf und schwarz. Ein Hund lief mit eingezogenem Schwanz vor dem Taxi über die schmutzige, nasse Straße.
»Da drüben ist es, Monsieur!«, sagte der Fahrer und deutete auf ein kleines, lang gestrecktes Haus. »Schön«, sagte Dorian und schlug den Kragen seines Trenchcoats hoch. »Können Sie warten? Ich brauche Sie nachher noch.« »Ja, natürlich. Wie lange wird es dauern?« »Eine halbe Stunde, vielleicht etwas länger.« »Schon gut, Monsieur.« Dorian stieg aus, ging durch einen morastigen Garten und klopfte an die verwitterte Tür. Es roch nach Abfällen und Kohl. Hinter der Tür schleiften Schritte näher. Ein gebückter Mann öffnete. »Ja?« Dorian erklärte, wer er war und was er wollte. Misstrauisch blickten ihn die beiden alten Leute an. Schließlich öffnete der Mann die Tür und bat ihn ins Zimmer. Auch hier war die Armut deutlich spürbar, aber es war überraschend sauber und nicht ungemütlich. Dorian zündete sich eine Zigarette an und erklärte, warum er gekommen war. Er brauchte nicht sehr lange, um das Misstrauen abzubauen. »Und Sie versprechen, dass Sie einen Anwalt bezahlen?«, fragte die Frau, die ihm nicht glaubte. »Was würde es denn kosten?« Der Mann nannte eine Summe, die ihm von einem Anwalt in der Stadt genannt worden war. Niemand glaubte, dass Gaston wirklich verrückt war, aber immer wieder beteuerte er, dass seine Geschichte wahr sei. Deswegen war er noch in der Anstalt. »Ein fürchterliches Haus, Monsieur Reed«, schluchzte die Frau. Dorian zog seine Brieftasche heraus und zählte einige große Scheine ab. Er legte sie auf den Tisch und sagte etwas verlegen: »Bitte, bezahlen Sie damit einen guten Anwalt! Ich bin fremd hier und kenne natürlich niemanden. Versuchen Sie, Gaston damit aus dem Irrenhaus herauszuholen. Ich brauche von Ihnen eine Vollmacht, um mit Gaston sprechen zu können. Ich habe sie vorbereiten lassen.« Er hatte die Vollmacht bereits in London aufgesetzt und übersetzen lassen. Jetzt holte er sie aus der Brieftasche, faltete das Blatt aus-
einander und strich es auf dem Tischtuch glatt. Vater Chabrol nahm das Dokument entgegen, schob die Brille auf die Nase und las. Dann ergriff er den Füllfederhalter und setzte einen zittrigen Schriftzug unter den Text. »Zufrieden, Monsieur Reed?« »Ja, danke.« »Warum«, fragte der alte Mann unruhig und unsicher, »tun Sie das für uns? Sie sind doch aus England. Was geht Sie diese verrückte Geschichte an?« Dorian holte tief Luft und rang sich eine Erklärung ab. »Wissen Sie«, sagte er nachdenklich, »ich habe die Meldung über Ihren Sohn in einer englischen Zeitung gelesen. Ich interessiere mich für diesen Fall. Ich schreibe ein Buch über solche Vorfälle.« »Glauben Sie mir, Monsieur«, schluchzte die Frau plötzlich, »Gaston ist wirklich nicht verrückt. Er hat dieses Mädchen nicht umgebracht.« »Ich glaube Ihnen«, versicherte Dorian. »Aber jetzt entschuldigen Sie mich, bitte. Ich habe draußen ein Taxi warten.« Er stand auf, steckte die Brieftasche ein und ging zur Tür. Die beiden Leute, die viel zu abgehärmt für ihr Alter aussahen, begleiteten ihn und winkten, während er in den Wagen stieg und die neue Adresse angab. Der Taxifahrer schien zu wissen, um wen und um was es sich handelte, aber er warf Dorian nur einen langen Seitenblick zu.
Endlich, nach langen Verhandlungen und einem Marsch von Zimmer zu Zimmer, von Arzt zu Arzt, befand er sich in dem kleinen Raum. Die Wände waren mit hässlicher abblätternder Ölfarbe angestrichen, und es standen nur ein Tisch und zwei Stühle im Raum. Dorian wartete nervös, zupfte immer wieder an seinem Bart und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Als er wieder eine Zigarette ausdrückte, näherten sich Schritte. Zwei Wärter in weißen Mänteln führten einen Mann von etwa vierzig Jahren herein. Er wirkte mutlos, aber er war rasiert und trug
saubere Anstaltskleidung. »Das ist Gaston Chabrol, Monsieur«, sagte einer der Pfleger. »Keine Angst, er ist nicht gewalttätig. Wenn Sie uns brauchen, läuten Sie einfach.« Er deutete auf einen großen Knopf neben der massiven Tür. »Geht in Ordnung.« Dorian nickte und blickte Gaston an. Gaston war ein breitschultriger Mann, nicht besonders groß, mit kurzem, schwarzem Haar und dunkelbraunen Augen. Er blieb zunächst zögernd neben der Tür stehen, bis sie sich geschlossen hatte, dann bewegte er sich unbeholfen auf den Stuhl zu. Auch er war alles andere als ein Dämon. Er war eines ihrer zahlreichen unschuldigen Opfer. Dorian wies auf den Stuhl, schob Zigaretten und Feuerzeug über den Tisch und sagte: »Sie wissen nicht, wer ich bin und was ich will. Lassen Sie mich erklären, Gaston …« Gaston schwieg, ließ sich Feuer geben und hustete lange. Der Aufenthalt in der Irrenanstalt hatte ihn mitgenommen. Dorian erklärte, was ihn hergeführt hatte. Schließlich zeigte er das unterschriebene Dokument vor. »Ich glaube Ihnen«, sagte Gaston und warf die Zigarette zu Boden. »Aber glauben Sie mir auch?« »Sonst wäre ich nicht hier«, sagte Dorian leise. »Erzählen Sie mir zuerst einmal alles! Von Anfang an, ja?« Gaston hob seine breiten Schultern und kratzte sich im Genick. »Das ist eine alte Geschichte«, murmelte er. »Sie erzählen sie in Poitou-Re schon seit meiner Schulzeit. Ich meine, da habe ich die Geschichte zum ersten Mal gehört. Glauben Sie mir wirklich?« Dorian nickte. »Ich kann verstehen, dass Ihnen niemand glaubt. Aber ich bin Fachmann für solche Geschichten. Ich schreibe ein Buch. Manchmal weiß ich selbst nicht, ob es Wahrheit ist oder nur eine Geschichte. Fangen Sie an, Gaston! Wenn Sie wollen, sind Sie bald wieder draußen.« »Meinen Sie wirklich?« »Im Augenblick sind Sie hier allerdings meiner Meinung nach gut aufgehoben. Dämonen schrecken vor den Ausstrahlungen Geistes-
kranker zurück.« »Vor mir?« »Nein. Nicht vor Ihnen. Vor den anderen Insassen. Wie war die alte Geschichte? Hat sie etwas mit dem Weingut zu tun?« »Ja. Hören Sie zu: Schon immer, so ging die alte Legende, waren die Bewohner der Gegend um Poitou-Re von einem mächtigen Dämon gepeinigt worden. Es fing mit den Reben in den Weinbergen – mit den vollen roten Trauben – an. Die Weinberge rund um die Mühle besaßen besonders gute und süße Trauben. Viele Menschen gingen in diese Weinberge, um ein paar Trauben zu essen oder eine größere Menge zu stehlen. Aber im Weinberg und in der Mühle überfiel sie ein Vampir, saugte ihr Blut aus und machte sie zu seinen Opfern, die immer wiederkamen und andere Menschen mit ihrer Sucht ansteckten. Die Zahl der Opfer wuchs, und aus den Gerüchten wurden Tatsachen. Da taten sich eines Tages einige besonders mutige Männer zusammen und sprachen mit dem Pfarrer des Dorfes. Er beschloss, ihnen zu helfen und den Dämon zu bannen. Sie rüsteten sich mit allem aus, was gegen Dämonen und Vampire helfen konnte, und umstellten den Weinberg. Mit Gebeten und Litaneien, mit erhobenen Kreuzen und heiligen Reliquien gingen sie dem Dämon und seinen Vampiren zu Leibe. Die mutigen Dorfbewohner schafften es, die Vampire in ein Gewölbe hineinzutreiben. Dort hatte der Dämon seinen satanischen Wein aufbewahrt, mit dem die Vampire ihre wüsten Orgien feierten. Der Geistliche und seine Helfer erschlugen und pfählten die Vampire und verbrannten sie mit dem Holz alter Rebstöcke. Der Dämon aber – es soll ein riesiges menschenähnliches Ungeheuer gewesen sein, mit einem Horn auf der Stirn – flüchtete in seinen Sarkophag. Die wütenden Vampirjäger verschlossen den Sarkophag mit kreuzförmigen Zwingen, Silber und Bannsprüchen, so dass er sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien konnte. Bei ihm waren noch einige Vampire, die sich in das Gemäuer hatten flüchten können. Sie wurden von den Dorfbewohnern eingemauert. Der Mörtel der Mauer war mit geweihtem Wasser angemischt worden. Und diese Geschichte habe ich meiner Freundin erzählt – damals,
als sie noch …« Gaston brach verlegen ab, hob die Schultern und sah zu Boden. »Ich verstehe. Sie hatten Ihre Treffen also irgendwo im Weinkeller?« »Ja. Sie besaß den Schlüssel zum Gewölbe. Es war auch im Winter warm dort. Das ging ein halbes Jahr so. Eines Abends aber war sie anders. Irgendwann im letzten Winter – ich glaube, im November.« Dorian nickte ihm aufmunternd zu. Er befand sich auf einer heißen Spur. Die Legende von einem Dämon stellte sich in vielen Fällen als wahr heraus. Der Dämonenjäger war sicher, dem Geheimnis ganz nahe zu sein. »Ja – weiter! Ich bin gespannt«, murmelte er und nahm sich eine neue Zigarette. »Ja – beim letzten Mal war sie so merkwürdig. Ich wusste, dass im Keller Werkzeug lag. Ich habe mich an die Geschichte erinnert und einen Stock mitgenommen und ihn zugespitzt. Wir haben uns wie immer getroffen, mitten in der Nacht. Laura packte mich und zog mich durch das ganze Gewölbe bis nach hinten. Da war ein frisches Loch in der Mauer. Ein paar Kerzen standen herum, aber es war sehr dunkel und staubig. Sie zerrte mich zu dem offenen Sarg, so ein riesiges Ding aus Stein, und ist dann auch hineingeklettert. Komm, Gaston! Leg dich zu mir!, hat sie gesagt und mich angelächelt. Und ich habe ihre Zähne gesehen. Hier – diese beiden Zähne.« Gaston zog eine Grimasse und zeigte auf die Stellen, wo bei seiner Freundin die Vampirzähne gewachsen waren. »Ich bin in den Keller zurückgerannt, habe den Hammer geholt und ihr den Pfahl in die Brust geschlagen. Sie hat gedacht, ich bringe Wein, und hat noch immer in dem schwarzen Steinsarg gelegen. Sie hat grässlich geschrien. Und dann ist sie zu Staub zerfallen. Ich kann heute noch hören, wie der Pflock geklappert hat, als er umfiel, weil ihr Körper plötzlich nicht mehr da war.« »Ich glaube Ihnen, Gaston«, versicherte Dorian noch einmal. Diese Bemerkung und der Tonfall der verständnisvollen Stimme brachten den erschütterten und verwirrten Mann dazu, weiterzusprechen.
»Ich bin wie ein Wahnsinniger ins Dorf gerannt. Nur noch bei Simon brannte Licht. Ich habe gegen die Tür gehämmert und allen erzählt, was passiert ist. Sie versuchten mich zu beruhigen. Aber die Geschichte stimmte doch! Keiner ging in den Keller. Keiner hat mir geglaubt. Und am Schluss hat man mir eine Spritze gegeben. Als ich wieder aufwachte, war ich hier.« Einige Minuten lang herrschte Schweigen. Dann sagte Dorian: »Der Taxifahrer erzählte mir, dass angeblich seit dem Einmauern des Dämons auf den Weinbergen von Lacroix kein guter Wein mehr gewachsen sei. Stimmt das?« »Na ja, kein guter Wein kann man nicht sagen. Aber auf keinen Fall ein Spitzenwein. Niemand kann sich im Dorf erinnern, dass jemals dort ein Spitzenwein gewachsen ist. Natürlich weiß aber niemand, wie gut die Weine vor hundert Jahren oder davor gewesen sind.« »Ich habe gehört, dass die letzte Ernte von Lacroix über alle Maßen gut ausgefallen sein soll. Viel Trauben und ein sehr hoher Zuckergehalt im Most. Kann das zutreffen?« »Das weiß ich nicht. Woher auch? Die Wärter und Ärzte reden nicht mit mir darüber.« Mit einiger Wahrscheinlichkeit schien Lacroix den Dämon geweckt zu haben, dachte Dorian und stand auf. Er nickte Gaston aufmunternd zu. »Ich glaube Ihnen, doch Sie sollten nicht versuchen, zu schnell hier hinauskommen zu wollen, Gaston.« »Wie? Ich bin froh, dass Sie den Anwalt …« Dorian winkte ab. »Sie wissen, dass es Dämonen und Vampire gibt. Ich weiß, dass Dämonen vor den Ausstrahlungen Geisteskranker zurückschrecken. Im Irrenhaus von Clermont-Ferrand sind Sie sicher. Lassen Sie sich erst dann entlassen, wenn der Dämon wirklich tot ist.« Gaston Chabrol verstand nichts mehr. Er sprang auf und schüttelte den Kopf. »Und wer sagt mir, wann der Dämon vernichtet ist?« Dorian lächelte rätselhaft und entgegnete leise: »Vielleicht komme ich und sage es Ihnen. Jedenfalls haben Sie jetzt einen Anwalt, der alles für Sie tun wird. Halten Sie sich an meinen Rat!«
Er drehte sich um und drückte auf den Knopf. Dorian konnte den Blick des Mannes nicht mehr ertragen. Wut und glühender Hass erfüllten ihn, Hass auf die Scheusale, die unschuldige Menschen zu ihren Opfern machten. Die Tür öffnete sich. Schweigend gingen die Männer auseinander.
Poitou-Re schien das Ende der Welt zu sein. Entlang einer schmutzigen Straße voller Schlaglöcher duckten sich ungefähr hundert Häuser, eines älter als das andere. Knollige Platanen stachen mit rutenförmigen Ästen in den nebligen Novemberhimmel. Ein Schwarm Krähen flog immer wieder im Kreis um das Dorf, als würde sie ein geheimnisvoller Zauber bannen. Verfallene Brücken, kaum lesbare Schilder, ein paar Wände, die neu gekalkt waren, ein Postbote, der auf einem kreischenden Fahrrad vorbeikam, eine alte Frau mit absonderlich gekrümmtem Rücken, einen schweren Korb mit sich schleppend. »Dort vorn ist das Grandhotel, Monsieur!«, sagte der Taxifahrer, kurbelte die Scheibe halb herunter und spuckte die Gauloise aus. »Soll ich vorfahren?« Dorian lachte kurz. Der Gasthof Chez Simon war das größte Gebäude der rechten Straßenzeile, und es stand sogar ein Auto davor, ein klappriger Citroën-Lieferwagen. »Ja, bitte. Aber fahren Sie nicht in jedes Schlagloch!« Ein grauer Novembernebel lag über der Landschaft. Im Sommer mochte sie reizvoll sein, mit den Weinbergen und den Baumreihen, jetzt konnte man sich kaum eine trostlosere Gegend vorstellen. Das Taxi ruckte an und näherte sich dem Gasthof: Ein massives Haus mit vorspringendem Dach, die Wände voll uralter Reklametafeln, daneben die Zapfsäule einer kaum bekannten Treibstoffmarke. Der Wagen hielt direkt vor der Tür. »Danke«, sagte Dorian. »Wie viel?« Der Fahrer las vom Taxameter die Summe ab. Dorian gab ihm ein gutes Trinkgeld und ließ sich vom Fahrer den Koffer in die Halle schleppen. Die kleinere Hebammentasche mit den kräftigen Ver-
schlüssen trug er selbst. Ein dicker, rotgesichtiger Mann kam aus der Gaststube und schob sich hinter die Theke. Er hatte zusammengekniffene Augen und eine dicke Nase, die ihn in eine lebende Reklame für französischen Landwein verwandelte. Der Gastwirt musterte Dorian und knurrte dann: »Willkommen bei Simon! Ich bin Simon. Maurice Simon. Sind Sie einer der Herren, die bei mir Zimmer bestellt haben?« »Ja. Von London aus. Ich bin Daniel Reed. Hoffentlich haben Sie ein nettes Zimmer für mich.« Simon lachte. Er hatte eine Grabesstimme, aber er verwandelte sich, wenn er lachte, in den gemütlichen Typ des dicken Wirtes, der bester Gast seiner Küche und des Kellers war. »Oben, im ersten Stock. Geht auf die Straße hinaus. Das Wetter ist ja niederschmetternd, aber ich habe den Kamin schon angezündet. Es wird Ihnen gefallen, Monsieur.« »Ich bin ganz sicher«, antwortete Dorian und trug sich ein. Die Hebammentasche stellte er zwischen seine Beine und hielt sie fest. Simon rief laut: »Irene! Hierher!« Der Eingang des Hotels war mit einem schäbigen, aber sauberen Teppich ausgelegt. Dorian sah sich um, aber er entdeckte nichts, was ihn störte. Eine große Glas-Doppeltür führte in den Gastraum, der offensichtlich sehr geräumig war. Aus dieser Richtung kam auch der Duft brennender Buchenscheite. Die Treppenstufen knarrten, und ein etwa zwanzigjähriges Mädchen in einem viel zu großen Pullover und zu engen Jeans kam herunter. »Nimm den Koffer! Zeige dem Herrn sein Zimmer!«, sagte Simon. Und zu Dorian gewandt erklärte er: »Eine Verwandte. Sie lernt bei mir, wie man ein Hotel führt.« Irene war nicht hässlich, aber sie machte nicht das Geringste aus sich. Entweder hatte es ihr niemand gezeigt, oder es war ihr gleichgültig. Ehe sie den Koffer anfassen konnte, hob ihn Dorian lächelnd hoch und sagte: »Danke. Bemühen Sie sich nicht! Ich möchte nur kurz auf
mein Zimmer gehen. Ansonsten habe ich einen gewaltigen Hunger.« »Kommen Sie! Zimmer 12.« Sie ging vor ihm die Treppe hinauf. Dorian folgte über die knarrenden, durchgebogenen Stufen. Es ging links ab auf einen langen Gang mit vielen Nischen. Dort war es die vierte Tür links. Sie schwang geräuschlos auf, was Dorian wunderte. Er sah schon an der Tür, dass das Zimmer nicht vernachlässigt war; klein, aber gemütlich; sehr einfach, mit alten, massiv aussehenden Möbeln; sie schienen so alt wie das Haus zu sein. »Das ist sehr hübsch«, sagte er und stellte den Koffer ab. »Hier ist das Bad«, erklärte Irene und öffnete eine zweite Tür. Der Raum war warm, aber die Mauern atmeten muffige Dünste aus. »Tadellos!«, lobte er und drückte ihr einen Geldschein in die Hand. »Kann ich jetzt etwas essen?« Es war früher Nachmittag. »Selbstverständlich«, sagte Irene und zeigte beim Lächeln bemerkenswert schöne Zähne. »Für Gäste von Pierre Lacroix lässt sich immer etwas arrangieren. Ich bin ganz sicher.« Dorian nickte ihr zu und schloss die Tür. Er öffnete das Fenster hinter den langen, rot karierten Leinenvorhängen etwas, und ein wenig von dem muffigen Geruch zog ab. Dann duschte er ausgiebig, zog sich um und sah auf die Uhr, bevor er seinen Koffer auspackte. Er hatte gesehen, dass zwei Schlüssel am Schlüsselbrett fehlten. Waren schon andere Weinkenner eingetroffen? Den Koffer mit einem Teil seiner Ausrüstung stellte er in den Schrank und schloss ihn ab. Dann ging er hinunter und betrat die Gaststube. Die Gaststube war mehr als gemütlich. Sie war ausgesprochen anheimelnd. Sofort entspannte er sich und ging auf den riesigen offenen Kamin zu, der die Längswand unterbrach. Ein Feuer loderte darin, schwere Scheite verbrannten. Die Tische, die Sitzbänke und die Stühle waren mit kariertem Stoff überzogen, schwere Messinglampen hingen von der Decke, und die lange Theke war blitzblank geputzt. Drei Personen saßen in der Nähe des Feuers.
»Guten Abend!«, sagte Dorian höflich. »Sie gestatten, dass ich Platz nehme?« Die Gäste – zwei Männer und eine Frau – drehten sich herum. Dorian registrierte Alexander Cooper und einen anderen Herrn, offensichtlich ein Amerikaner; aber voller Überraschung sah er, dass Cooper seine Sekretärin mitgenommen hatte, die hübsche junge Susan Dale. »Natürlich«, sagte Cooper, der ihn nicht mehr erkannte. »Setzen Sie sich! Auch ein Gast von Lacroix?« »Eingeladen und mit Siegel ausgestattet«, murmelte Dorian, setzte sich und drehte seinen Stuhl halb in die Richtung des wärmenden Feuers. Aus der Küche tauchten Simon und Irene auf. Simon strahlte. Offensichtlich hatte Irene ihm gesagt, dass auch Dorian von Lacroix eingeladen war. Dorian bestellte ein leichtes Essen und einen Krug Wein; dann zündete er sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. »Wissen Sie, wie viele Gäste wir sein werden?«, erkundigte er sich. Natürlich erinnerte sich Susan an ihn. Das konnte gefährlich werden. Er hatte vergessen, auch sie zu hypnotisieren. Verdammt! Er lächelte ihr zerstreut zu, als Cooper erwiderte: »Keine Ahnung. Aber sicherlich nicht sehr viele. Der Gasthof hat nur neun Zimmer, wie mir gesagt wurde. Übrigens – Cooper ist mein Name.« Der Dämonenkiller stellte sich mit seinem falschen Namen vor. Der andere Mann war tatsächlich Amerikaner – aus Boston. Fred Wilson hieß er. Er besaß eine kleine Firma, die Computerfertigteile herstellte. »Bis zum einundzwanzigsten haben wir noch drei Tage. Die anderen Herren werden sicher bald eintreffen«, meinte Wilson. »Mir gefällt es hier. Außerdem hat Simon zugegeben, auch einige Flaschen von Lacroix zu besitzen. Vielleicht ziehen wir die Weinprobe schon vor.« »Vielleicht. Keine schlechte Idee«, gab Dorian zu. Irene kam mit einem großen Tablett. Ob sich die Berühmtheit der französischen Küche schon bis hierher herumgesprochen hatte?, fragte sich Dorian. Und als er die Köstlichkeiten auf den Tellern und
Schüsseln sah, musste er grinsen. Zumindest würde er sich hier nicht vergiften. Er aß langsam und entspannte noch mehr. Aber immer wieder schoben sich die Gedanken an den Dämon dazwischen, an die seltsame Rolle des Weinhändlers, an die Einsamkeit dieses Dörfchens und das, was er wusste.
»Wie ich das so sehe«, sagte Dorian etwa eine Stunde später und warf einen Zigarettenstummel ins Feuer, »sind wir die Jüngsten in dieser Runde.« Er lächelte zuerst Susan Dale, dann Irene an und fügte hinzu: »Irene natürlich ausgenommen. Ich möchte etwas frische Luft schnappen. Darf ich Sie einladen, Susan? Gummistiefel sind allerdings angebracht.« Sie stand sofort auf. Etwas zu schnell, fand Dorian. Er fing einen erstaunten Blick Coopers auf und gab ihn zurück. Cooper hob kaum merklich die Brauen und schwieg. »Ich ziehe mich nur wärmer an. Fragen Sie inzwischen Simon, welcher Weg einigermaßen originell ist, ja?« »Das hatte ich vor.« Auch Dorian musste sich umziehen. Draußen war es nicht nur kalt, sondern es fiel dünner Regen. Simon ließ sich die Frage übersetzen und erklärte dann gestenreich und zuvorkommend, womit Poitou-Re an landschaftlichen Schönheiten aufwarten konnte. »Vielleicht sollten Sie hinunter zum Bach gehen. Gleich hinter dem Haus den Feldweg entlang, über die beiden Hügel, und dann am Waldrand wieder abwärts. Sie kommen dabei auch an der alten Mühle vorbei – und natürlich an Lacroix' Weingut. Aber Sie werden ihn nicht sehen. Er ist – nun, mon dieu, ein wenig eigentümlich, seit sein Wein so teuer geworden ist.« Simon lachte dröhnend, und Dorian dankte ihm. Er musste hier für einige Stunden heraus. Die beiden ahnungslosen alten Käuze taten ihm Leid, doch dass Cooper das Mädchen mitgebracht hatte, störte ihn. Sie war indessen sehr reizvoll und schien unter ihrer britischen Kühle so heiß zu brennen wie das Kaminfeuer.
Er trank im Stehen sein Glas leer, ging nach oben und zog sich Gummistiefel, Handschuhe und einen Mantel an. Dann hörte er Susan auf dem Gang und folgte ihr nach unten. Sie wartete in der Halle. »Das war eine hervorragende Idee, Mr. Reed«, erklärte sie, als er die Tür öffnete und in den trüben, feuchten nebligen Nachmittag hinausging. »Die beiden alten Herren sind ja ganz nett, aber auf die Dauer wohl nicht die richtige Gesellschaft.« Er vermied es, sie darauf hinzuweisen, dass sie sich bereits kannten. »Sie haben Recht. Außerdem bekomme ich neben dem Feuer leicht Kopfschmerzen. Der Nebel ist übrigens gut für den Teint. Wussten Sie das?« »Aber sicher!«, antwortete Susan, hängte sich bei ihm ein und zog ihn mit sich. Sie gingen über einen morastigen Hof, stiegen über einen zerfallenen Zaun und erreichten den schlammigen Feldweg, spazierten durch das dürre, nasse Gras neben den Spuren von Traktorreifen und folgten genau dem Weg, den Simon ihnen beschrieben hatte. »Eine unheimliche Landschaft, nicht wahr?«, fragte Susan nach einer Weile. Ihr Atem bildete Dampfwolken in der Kälte. Wusste sie etwas? Ahnte sie etwas? »So ist es«, sagte Dorian leichthin. »In dieser Zeit ist fast jede Landschaft unheimlich und spukhaft. Warum sind Sie eigentlich hier?« »Ach«, sagte sie lachend, »Mr. Cooper ist ein netter alter Herr, der seiner unterbezahlten Sekretärin auch einmal so etwas wie Urlaub gönnt. Ich darf zwar an der Weinprobe nicht teilnehmen, das hat er schon in London gesagt, aber ich sollte ihn begleiten. Er bewegt sich etwas ungeschickt auf den modernen Flughäfen und Bahnhöfen. Er ist schon über sechzig.« »Ich verstehe. Ein Kindermädchen also.« »Richtig.« Dorian blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, dann
stapften sie schweigend weiter. Er prägte sich jede Einzelheit der gottverlassenen Gegend ein. Noch wusste er zu wenig über die Legende und ihre moderne Fortsetzung. Er nahm sich vor, dieses Thema heute Abend neben dem Kamin zur Sprache zu bringen. »Sie sind also auch Weinliebhaber? Rotweinspezialist?«, erkundigte sich Susan einen Kilometer weiter. »So kann man es nennen. Ich bin Teilhaber einer Presseagentur, und diese Weinprobe ist eine willkommene Abwechslung nach all den Morden und Diebstählen, die sonst in mein Fach fallen«, erklärte er. Susan gab sich mit der Antwort zufrieden. Es begann bereits zu dunkeln, als sie am Bachufer entlang auf die grauen Steine zugingen, bei denen es sich um die Ruinen der Mühle handeln musste. Die Krähen, die immer wieder aufflogen, ließen Susan zusammenschauern. Sie klammerte sich fester an seinen Arm. Dorian war ein normaler Mann; er erwiderte ihren Druck. »Huch!«, sagte Susan, als sie vor den Ruinen standen. »Im Sommer ist es sicher wahnsinnig romantisch hier, aber jetzt – gespenstisch. Jeden Augenblick kann sich ein Vampir auf uns stürzen.« Sie sagte es im Scherz, aber Dorian wusste es besser. Er sah den Eingang zu den Kellereien, die Spuren, die verrotteten Überbleibsel. Dies also war der Keller, in dem der weibliche Vampir den armen Gaston hatte verführen und in sein grässliches Leichenreich hinabziehen wollen. Der Dämonenkiller betrachtete die schweren, uralten Riegel und Schlösser, dann zog er Susan weiter. »Vampire, Romantik, Nebel im Herbst – das sind die Zutaten, aus denen schlimme Träume entstehen. Sie sollten an positivere Dinge denken.« Sie sagte kokett, aber mit wahrhaft britischer Haltung: »Ich denke positiv. Schon seit drei Kilometern. Ich denke daran, wie ich es genießen werde, heute Abend neben Ihnen am Feuer zu sitzen und den guten Wein unseres dicken Wirtes zu trinken.« Das Aufheulen eines Motorrads schreckte sie auf. Jemand fuhr auf der Hauptstraße in Richtung Dorf. Nach einigen Sekunden sagte Dorian: »Ich muss gestehen, dass
auch ich mich darauf freue.« Susan schien vergessen zu haben, dass sie selbst Dorian angemeldet hatte. Sie hatte sich jedenfalls nicht dazu geäußert, dass Cooper in der Gaststube so getan hatte, als würde er den Mann mit dem dämonischen Blick und dem Schnauzbart nicht kennen. Sie verließen nach kurzer Zeit die schlammigen Wege und kamen auf der Hauptstraße zurück zum Gasthof. Jetzt stand ein kleiner Wagen dort, eindeutig ein Mietauto aus der benachbarten Stadt Clermont-Ferrand. »Offensichtlich ein neuer Gast«, sagte Dorian und deutete auf den Wagen. »Ich bin in einer Stunde wieder da. Der Spaziergang hat mich hungrig gemacht.« »Merkwürdig«, erklärte Susan, »ich wollte gerade dasselbe sagen.« Sie gingen hinauf und erfrischten sich ein wenig. Dorian warf sich quer über das Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte über alles nach. Er wusste, dass dies kein vergeblicher Einsatz sein würde, aber er konnte das Ausmaß des Schreckens noch nicht abschätzen.
Als er gegen acht Uhr den Gastraum betrat, hatte sich alles verändert. Der große Raum war bis auf wenige leere Plätze voller Menschen. Es waren zwei deutlich getrennte Gruppen. In der Nähe des Kamins saßen fünf Personen an einem langen Tisch. Das waren die eingeladenen Gäste des Weinhändlers. Zwischen ihnen und den Dorfbewohnern, die entlang der Theke saßen und sich leise unterhielten, gab es eine deutliche Trennungslinie. Die Dorfbewohner rückten von der kleinen Gruppe ab und kehrten den Gästen den Rücken zu. Cooper, Miss Dale und Wilson saßen nebeneinander, ihnen gegenüber hatten zwei Männer Platz genommen. Dorian stellte sich mit seinem falschen Namen vor und erfuhr, dass es sich um einen deutschen Fabrikanten – von Schallfeldt – und um einen Pariser Bankier – Herrn Pascal – handelte. Sie glichen irgendwie den beiden anderen Männern – über fünfzig, weißhaarig oder fast kahl, sorgfältig und
teuer gekleidet. Sie fühlten sich, bis auf die junge Frau, unbehaglich und ausgeschlossen. »Zwei neue Auserwählte also«, stellte Dorian fest. Viel mehr würden es nicht werden. Simon, der sich dem Tisch näherte, hörte seine Bemerkung und sagte, unbehaglich dreinblickend: »Es kommen noch zwei Herren. Zwei Zimmer sind noch bestellt. Ein Herr aus Italien und einer aus Belgien.« »Was kann Ihre Küche anbieten, Simon?«, fragte Dorian. Die Männer an diesem Tisch dachten offenbar nur an die bevorstehende Weinprobe. Sie waren unsicher und merkten, dass die hier vertretene Dorfbevölkerung sie nicht mochte und als Eindringlinge betrachtete. Der Wirt hingegen behandelte sie wie hohen Staatsbesuch. »Hier!«, sagte Simon. »Irene hat eine Karte geschrieben. Sie ist nicht lang, aber wir kochen gut.« »Das weiß ich«, erklärte Dorian mit sparsamem Lächeln. Die Spannung im Raum wurde immer spürbarer. Dorian suchte aus, die anderen hatten schon ihre Bestellung aufgegeben. Von Schallfeldt beugte sich zu Simon hinüber und sagte in hartem Schulfranzösisch: »Haben Sie nicht zufällig eine Flasche Lacroix-Wein?« Maurice Simon grinste breit und rieb sich die Nase. »Sie kennen doch die Bedingungen von Pierre. Selbst wenn ich eine Flasche haben würde … Sie verstehen?« Enttäuscht wandte sich von Schallfeldt wieder seinem Rotwein zu. Wilson unterhielt sich mit Cooper. Mit halbem Ohr hörte der Dämonenkiller dem Gespräch zu. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die etwa fünfundzwanzig anderen Gäste. Es waren ausschließlich Männer mit den verwitterten Gesichtern von Landarbeitern, feuchter Kleidung, großen und rissigen Händen und langsamen Bewegungen. Immer wieder starrte einer von ihnen hinüber zu der anderen Gruppe. Kurz darauf stand das Essen auf dem Tisch. Dorian hatte aus der Unterhaltung zwischen Cooper und Wilson heraushören können,
dass sie im Grund nichts über Lacroix wussten; das galt auch für die anderen, schloss er daraus. Mitten im Essen hob er den Kopf, warf Susan einen Blick zu und fragte: »Geht es Ihnen eigentlich auch so wie mir? Die Bedingungen, die Lacroix uns gestellt hat …« Wilson nickte und erklärte mit Nachdruck: »Das sind natürlich gute Verkaufstricks. Reine Reklamegags, aber wirkungsvoll. Wir dürfen nicht einmal unseren besten Freunden sagen, dass wir hier eingeladen sind.« »Er erreicht damit«, fuhr Cooper fort und trank missmutig einen Schluck von dem gewöhnlichen Rotwein, »dass wir dem großen Augenblick förmlich entgegenzittern. Er kennt seine Weinliebhaber genau, dieser schlaue Fuchs.« Dorian hütete sich, etwas zu sagen. Sie waren alle todgeweiht, ohne es im Geringsten zu ahnen. Die Blicke der Dorfbewohner sagten ihm genug. »Es ist eindeutig ein Gunstbeweis«, stellte Pascal fest. »Ich als Franzose muss sagen, dass wir mit unseren Weinen normalerweise keinen solchen Wirbel machen.« Das heulende Motorrad kam näher. Der Fahrer bremste vor dem Gasthaus. Die Unterhaltung der Männer wurde etwas lauter. Bei Dorian spannten sich alle Muskeln an. Er witterte irgendwelche außergewöhnlichen Vorgänge. »Gunstbeweis?«, echote von Schallfeldt vorwurfsvoll und schüttelte seinen schmalen Kopf. »Für diesen Preis pro Flasche könnte ich gut auf solche Gunstbeweise verzichten und anderen Wein trinken – wenn er nicht so hervorragend wäre!« Er schloss verzückt die Augen. Dorian registrierte, dass Susan Dale schwieg und zuhörte. Sie fühlte sich in der Gesellschaft der vier älteren Herren, die sie kaum zur Kenntnis nahmen und all ihr Interesse nur dem geheimnisvollen Weinfest widmeten, eindeutig nicht wohl. Die Tür wurde aufgestoßen, und ein junger Mann kam herein. Dorian beobachtete, wie sich der Junge umblickte und dann geringschätzig grinste, den Motorradhelm abnahm und ihn unter die
Achsel klemmte. Die lange Lederjacke war nass und glänzte im flackernden Licht des Kaminfeuers. »Jedenfalls werden die Herren in meinem Klub mehr als verblüfft sein«, sagte Cooper plötzlich, das Glas in der Hand. »Worüber, Mr. Cooper?«, fragte Susan. Es war das erste Mal, dass sie seit einer halben Stunde sprach. Sie wirkte plötzlich etwas niedergedrückt. Dorian spürte den stechenden Blick des langhaarigen, bärtigen jungen Mannes im Rücken. Cooper lachte hoch und meckernd. »Eifersüchtig werden sie sein – wenn ich zurückkomme, ihnen das Diplom vorweise und ihnen die Flasche zeige. Oder vielleicht sogar mehrere Flaschen.« »Ist das wirklich so wichtig für Sie?«, erkundigte sich Dorian und spürte, dass sich jetzt drei Gruppen in diesem Raum gebildet hatten: Die Dorfbewohner, die Fremden und der leicht verwahrlost aussehende Jüngling, der sich mit Irene unterhielt, die gerade Gläser polierte. Der Junge schüttete ein Glas klaren Schnaps in sich hinein, als sei es Mineralwasser. Cooper starrte ihn an, als hätte Dorian etwas gänzlich Unpassendes gesagt. »Wichtig?«, fragte er gedehnt. Dorian begegnete seinem aufgebrachten Blick mit unerschütterlicher Ruhe. »Sie fragen das? Warum sind Sie dann hier?« Dorian lachte kurz und versicherte glaubwürdig: »Ich bin ebenso ein Weinnarr und Weinkenner wie Sie, meine Herren, aber ich habe im Gegensatz zu Ihnen beispielsweise bemerkt, dass wir eine schöne junge Frau am Tisch sitzen haben. Ihre Gespräche drehen sich ständig nur um den Wein. Warum lassen Sie sich von diesen – wie sagten Sie eben, Monsieur Pascal? – Reklamegags so beeindrucken?« Der junge Mann stützte, an der Theke lehnend, die Ellbogen auf und betrachtete die Fremden mit zusammengekniffenen Augen. »Sie haben sicher bemerkt, dass meine Sekretärin hübsch ist«, knurrte Cooper und spießte einen Champignon in der weißen Soße auf. »Aber unser Interesse konzentriert sich mehr auf den Wein. Lacroix' Zeremonien wirken. Wir können es kaum erwarten.«
Der Wein machte sie süchtig. Diese Männer und die beiden, die noch fehlten, waren verhext, gierig, so viel wie möglich und so lange wie möglich von diesem unbezahlbaren Tropfen zu trinken. Obwohl die Mengen, die sie zur Verfügung hatten, geradezu lächerlich gering waren, hatte der Dämon es geschafft, sie zu manipulieren. Der Wein zog sie an wie der Honig die Bienen, aber es würde tödlicher Wein sein. Eine helle, vorwurfsvolle und trotzige Stimme übertönte die gedämpfte Unterhaltung und die vielen Geräusche der Essenden und Trinkenden. »Sie sind die Fremden, die Lacroix eingeladen hat, ja?« Langsam drehte sich Dorian um. Die Köpfe der anderen ruckten in die Höhe. Sie alle starrten den jungen Mann an, der ein halb volles Glas in der Rechten hielt und sich schwankend von der Theke löste. »Das ist richtig«, erklärte Cooper würdevoll. »Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht«, sagte Herr von Schallfeldt steif und förmlich. Er sah den Jungen mit deutlicher Missbilligung an. Die Dorfbewohner hörten schlagartig zu reden auf. »Claude, sei ruhig!«, rief Irene scharf. Simon war nicht zu sehen. Claude trank einen großen Schluck und kam drei Schritte näher. Er hielt sich an einem der verräucherten Deckenbalken fest und rief stockend: »Sie wollen zu Lacroix? Sie sind von ihm eingeladen worden?« »So ist es«, antwortete Dorian ruhig. Er wusste, dass die Situation einem Höhepunkt zustrebte. Vielleicht geschah schon heute Nacht etwas. Er war gerüstet und bereit. »Sie glauben, es wird roter Wein fließen, dort in dem verwünschten Keller?«, rief Claude. »Durand, hören Sie auf! Er ist ein nichtsnutziger Raufbold«, sagte ein weißhaariger Mann mit einem unglaublich zerfurchten Gesicht. Er zog entschuldigend seine Mütze. »Wir haben Grund zu der Annahme«, sagte Dorian, »dass sich in einem Weinkeller auch Wein befindet.«
Claude Durand lachte meckernd. »Claude! Du bist betrunken! Belästige die Herren nicht!« Irene schlug wütend mit einem Handtuch nach ihm. »Betrunken, aber ehrlich. Ich sage die Wahrheit. Es wird kein Wein fließen. Es wird Blut fließen. Erinnert ihr euch nicht an den armen Gaston Chabrol? Er ist im Irrenhaus, aber ich weiß, was er erlebt hat.« Indigniert zog Pascal die Brauen hoch, hob die Schultern und widmete sich wieder seinem Essen. Mit leichtem Widerwillen, aber mit ebenso starkem Interesse blickte Susan den Jungen an. Sie schien langsam zu begreifen, dass dies keine lustige Weinreise werden würde. »Was ist mit Chabrol passiert?«, erkundigte sich der Dämonenkiller scheinheilig. »Lassen Sie sich die Geschichte erzählen«, schrie Claude. Irene rannte durch die Tür in die Küche und rief dort etwas. Sekunden später schob sich der Wirt ins Gastzimmer. Die Dorfbewohner waren aufgeregt. Die Gäste waren peinlich berührt. Dieser langhaarige und betrunkene Raufbold mit dem schmutzigen Kinnbart störte sie. Sie waren verärgert. Simon schob sich schnell zwischen Claude und den Tisch neben dem Kamin. Er versperrte den Fremden die Sicht auf Durand, den er mit dem linken Arm zurück zur Theke schob. »Er ist betrunken«, sagte er und grinste verlegen. Auf seiner Stirn erschienen dicke Schweißtropfen. »Sie müssen entschuldigen. Ich werde Ihnen nachher die Wahrheit erzählen. Bei einer guten Flasche Wein.« Von Schallfeldt erhob sich halb aus seinem Sessel. »Einer Flasche Lacroix-Wein etwa?« Der dicke Wirt war ein hervorragender Psychologe. Er strahlte geheimnisvoll und flüsterte viel versprechend: »Vielleicht finde ich doch noch eine Flasche. Lassen Sie sich überraschen, meine Dame, meine Herren.« Zwei Dorfbewohner zahlten und verließen die Gaststube. Die anderen blieben und wandten sich langsam wieder ihren Beschäfti-
gungen zu. Ein Kartenspiel erschien auf einem Tisch und wurde verteilt. Dorian lehnte sich zurück, nickte Simon wohlwollend zu und deutete auf seinen leeren Vorspeisenteller. »Ihr Essen ist mehr als ausgezeichnet. Ich habe seit Monaten nicht mehr so gut gegessen.« Auch dieser Satz trug dazu bei, die Situation zu entspannen. Irene, die sich über die Theke lehnte, sprach leise auf Claude Durand ein. Der Junge hob die Schultern und deutete auf die Fremden. Susan blickte Dorian fragend an, aber der Dämonenkiller machte eine Geste des Nichtverstehens. Ein perfektes Arrangement des Dämonen oder der Vampire, dachte Dorian Hunter. Die sechs Männer – das heißt sieben, wenn er sich dazurechnete – hatten weder Freunde noch Verwandte verständigt und waren hier in dieses abgeschiedene Kaff gekommen. Susan Dale war eine Panne. Sie konnte verraten, was geschehen war. Der Dämon würde auch sie zu töten versuchen. Der Platz war hervorragend gewählt: der tiefe, unergründliche Weinkeller außerhalb des Dorfes. Die Männer waren Einzelgänger, die vermutlich niemand vermissen würde. Und selbst wenn – wem konnte etwas bewiesen werden? Und irgendwie gehörte auch Simon, der Wirt, zur Verschwörung. Er wusste es selbst sicher nicht, aber dadurch, dass auch er diesen teuflischen Wein besaß, machte er sich zum Werkzeug des Dämonen. Und in höchster Gefahr war der Junge. Nicht nur deswegen, weil er betrunken mit seinem knatternden Motorrad durch die Gegend raste, sondern weil er offen aussprechen wollte, was die Opfer unter Umständen aufgehalten hätte. Susan tauschte mit Pascal den Platz und setzte sich rechts von Dorian an den Kamin. Sie beugte sich zu ihm hinüber und fragte so leise, dass es kein anderer verstand: »Was meint der Betrunkene? Er sprach davon, dass Blut fließen würde? Und er hat es nicht nur so dahingesagt.« Dorian schüttelte den Kopf und flüsterte: »Ich erkläre es Ihnen später, Susan. Freuen Sie sich über das Essen. Und wenn tatsächlich der berühmte Wein …« Er brach ab. Irene und der Wirt kamen mit dem nächsten Gang.
Während sie servierten, verabschiedeten sich drei jüngere Männer. Sie warfen Durand böse Blicke zu und grüßten den Wirt nur kurz. Die Stimmung auf der anderen Seite des Raumes war den ganzen Abend lang nicht besonders gut gewesen, jetzt wurde sie von Minute zu Minute frostiger. Trotzdem ließ sich Dorian den Appetit nicht verderben. Er achtete allerdings darauf, was Durand tat. Im Augenblick lehnte er über der Theke und beschäftigte sich mit seinem Glas und der qualmenden Zigarette. »Sagen Sie, Simon, was meinte der Kerl damit, dass Blut fließen würde?« Simon schmunzelte und erweckte den Eindruck, als wusste er es besser und – anders. »Der Weinkeller, müssen Sie wissen, ist uralt. Vielleicht ein Jahrtausend, man weiß es nicht genau.« Während er erzählte, deckte er. Dorian beobachtete fast bewundernd die dicken, aber ungeheuer flinken und geschickten Finger. Es war ein Vergnügen, Simon zuzusehen. Er schien seinen Beruf zu lieben. »Sehr interessant. Ich ahnte so etwas«, kommentierte Victor von Schallfeldt. Er besaß Sinn für Tradition. »Natürlich gibt es eine Menge Legenden und Erzählungen rund um die verfallene Mühle. Dort sollen einmal Geister gehaust haben. Sie verwandelten den Wein in Blut und machten die Menschen hier im Umkreis rasend. Schließlich beendete ein Priester den Spuk. Seitdem ist Ruhe.« »Das ist alles?«, fragte Wilson, der Bostoner. »Enttäuschend wenig«, kommentierte Mr. Cooper trocken. »Ich bin neugierig, wie es im Keller wirklich aussieht. Vermutlich nicht halb so romantisch. Sie müssen wissen, Simon, wir Briten haben eine längere Tradition – was Gespenster und das Übernatürliche angeht – als Sie hier in Frankreich.« Er kicherte wieder und machte sich über sein Essen her, aß es, als wäre es Porridge, ohne jede Begeisterung. Etwas mehr Andacht widmete er dem Landwein, der auch Dorian immer besser schmeckte. Er war herb und dunkelrot. Als Weinkenner wäre der Dämonen-
killer nicht sehr erfolgreich gewesen. »Das ist alles? Und warum soll ich nicht von dem Wein trinken?«, fragte Susan, als die Unterhaltung wieder lauter wurde. »Später. Bitte, gehorchen Sie mir! So alte Weine haben nicht ungefährliche Eigenschaften.« »Fürchten Sie, dass ich mich betrinken und Ihnen an den Hals werfen könnte?«, erkundigte sie sich anscheinend beleidigt. »Das wäre eine Eigenschaft des Weines, die ich voll akzeptieren würde«, erwiderte Dorian ruhig, ohne zu lachen. »Aber nur bei Mädchen wie Ihnen.« »Oh – danke«, murmelte sie. »Ein charmanter Engländer.« »Man trifft sie ausschließlich in Frankreich«, gab er zurück. »Morgen werden wohl die beiden anderen Herren kommen?« Die Frage galt dem Wirt, der einen vollen Weinkrug brachte und sich auf die Lehnen der Stühle Susans und Daniels stützte. »Ja. Sie sind für morgen angesagt. Ein Herr de Baeve aus Belgien und ein gewisser Gianni Arruzzu aus Sardinien.« »Übrigens …« Der adelige Deutsche erhob die Stimme. »Ich habe mir in der Stadt einen kleinen Mietwagen genommen. Falls ich den einen oder anderen Herren für morgen zu einem kleinen Ausflug einladen darf?« Er blickte beifallheischend von einem zum anderen. »Ausgezeichnete Idee, Monsieur!«, stimmte Pascal ohne rechte Begeisterung zu. Sie waren wirklich alle etwas merkwürdig. Irene unterhielt sich leise mit dem Motorradfahrer, der immer ruhiger zu werden schien. Das Mädchen polierte Gläser und warf ab und zu Blicke in die Richtung der fremden Gäste. Schließlich kam Simon mit dem Kaffee. Die anderen Herren lehnten ab, aber Susan und Dorian ließen sich Kaffee eingießen. »Ich habe für Sie alle eine Überraschung. Ich hoffe, sie wird Sie für die unschöne Szene von vorhin entschädigen. Sie müssen wissen, Durand ist eine Art schwarzes Schaf in unserem Dorf. Arbeitsscheu, ungepflegt, arme Eltern.« »Von der heutigen Jugend ist auch bei uns nicht viel zu halten«, tröstete ihn Cooper.
Von Schallfeldt nickte mehrmals bekräftigend. Dorian roch den Kaffee, schüttelte eine filterlose Players aus der flachen Packung und brannte sie an. Er fühlte sich gestärkt, aber seine Wachsamkeit ließ nicht nach.
Maurice Simon wartete mit feierlicher Miene, leicht schwitzend, bis Irene den Tisch abgeräumt hatte. Eine recht gut bestückte Käseplatte wurde mitten auf die karierte Decke gestellt, dann fünf oder sechs kleine Weingläser. Dorian hatte gesehen, wie der Wirt unauffällig auch dem Jungen ein Glas Wein aus der bewussten Flasche eingeschenkt hatte. Ein großer Geldschein wechselte daraufhin seinen Besitzer. Susan sah ihn fragend an, und Dorian kniff das rechte Auge verschwörerisch zu. Simon kam, eine frische Schürze umgebunden, an den Tisch. Er trug, als sei es ein Heiligtum, eine verstaubte Flasche mit altertümlichem Etikett vor sich her. Die Flasche war versiegelt und verkorkt. Also war der Wein für Durand aus einer anderen Flasche gekommen. Dorians Argwohn wuchs. »Lacroix hat mich ermächtigt, Ihnen einen kleinen Vorgeschmack von dem zu geben, was Sie alle übermorgen Abend erwartet. Er schickte mir eine Flasche seines unvergleichlichen Weines.« Er holte den Korkenzieher heraus, reichte die Flasche herum. Die Herren lasen hingerissen und in schweigender Ehrfurcht die Schrift auf dem Etikett. Als sich mit leisem Geräusch der Korken löste, zog ein berauschender Duft durch diesen Teil des Raumes. Dorian musste zugeben, dass er noch niemals in seinem Leben eine so schöne Blume gerochen hatte. Trotzdem legte er die Hand über sein Glas. Susan folgte verwundert, aber gehorsam seinem Ratschlag. Die vier Männer kümmerten sich um nichts anderes mehr. Sie sahen gebannt zu, wie Simon den ersten Schluck in sein Glas schüttete, probierte, das gesamte Ritual des Weinkenners durchmachte und schließlich verzückt den Blick zur Decke emporrichtete. »Hervorragend! Es müsste nicht auf dem Etikett stehen«, flüsterte
er. Dann goss er andachtsvoll nacheinander die vier Gläser voll. Als er sich Dorian näherte, schüttelte der Dämonenkiller den Kopf. »Sie nicht? Ist das Ihr Ernst?«, fragte Simon beunruhigt. Aufmerksam, aber doch mit seinem kleinen Glas beschäftigt, blickte der Junge herüber. Er verschlang Susan förmlich mit den Blicken. Sein Gesicht nahm einen verstörten Ausdruck an. »Es ist mein Ernst«, sagte Dorian, obwohl ihn das Aroma und das Funkeln des Weines begeisterten. »Ich warte bis übermorgen. Ich will mir die Illusion ganz erhalten. Ich halte nicht sehr viel von vorgezogenen Handlungen dieser Art.« Der Wirt sah ihn völlig entgeistert an und drehte sich zu den vier Männern um, die ihre Gläser zwischen den Fingern hielten und an dem leuchtenden Wein rochen, verzückt und mit geschlossenen Augen. Die Welt war für sie vergessen; sie sahen nur noch den roten Wein. »Meinen Sie das im Ernst, Monsieur Reed?«, fragte Simon leise. »Und die Dame auch nicht?« »Nein, danke«, lehnte Susan ab. »Ich bin von Lacroix nicht eingeladen worden.« »Bringen Sie mir noch einen Kaffee, ja?«, bat Dorian. Der Junge hatte sein Glas geleert und sprach wieder eindringlich mit Irene, die mehrmals den Kopf schüttelte und Simon hilflose Blicke zuwarf. Wieder verließen einige Dorfbewohner den Gastraum. Draußen fiel die Tür krachend zu. »Mir auch!« Kopfschüttelnd stampfte der Wirt zurück zur Theke. Die Lacroix-Flasche stand halb voll in der Mitte des Tisches. Die vier Weinliebhaber flüsterten miteinander. »Was ist hier los?«, fragte Susan leise. Sie begriff nichts mehr. »Die Stimmung ist auf einmal so eigenartig.« »Sie wird noch viel eigenartiger werden«, versprach Dorian grimmig und nickte Simon dankend zu, als er den Kaffee vor ihnen abstellte. Claude Durand verhandelte mit dem Wirt. Es war deutlich: Er wollte noch etwas von dem Wein. Auch er war, auf eine andere
Weise als die vier alten Männer, süchtig nach dem duftenden Rotwein. Der Dämonenkiller ahnte, was kommen würde. Die Gaststube hatte sich fast völlig geleert. Die Fremden saßen da, in sich versunken und in winzigen Schlucken den Wein kostend. Der Wirt schob dem jungen Mann ein großes Glas hellen Schnapses über die Theke. »Und jetzt musst du gehen, sonst fällst du von der Maschine«, brummte Simon wütend. »Du verdirbst mir das Geschäft, du besoffener Strolch.« »Ich glaube«, sagte Dorian ganz plötzlich in einem Ton, der Widerspruch unmöglich machte, »wir sollten auch gehen. Der reizende Abend ist vorbei.« »Schade«, antwortete Susan leichthin. »Ich hatte mich eben auf einen langen Kaminabend mit Ihnen vorbereitet. Wissen Sie, dass Sie einen dämonischen Blick haben?« Beunruhigt stand Dorian auf. »Sie tun besser daran, auf Ihr Zimmer zu gehen«, sagte er und streckte ihr eine Hand entgegen. »Gehen Sie auch auf Ihr Zimmer?« »Ja.« Sie gingen gerade in dem Augenblick an Durand vorbei, als der Junge von der Theke wegstolperte, in Richtung Tür. Er fiel beinahe um, ruderte mit den Armen in der Luft und ließ sein Glas fallen. Es zersplitterte, und der Inhalt spritzte an Dorians Hosenbein. Durand wollte sich festhalten und griff nach Susans Arm, aber Dorian zog das Mädchen mit einer schnellen Bewegung zur Seite. Durand stolperte weiter und riss ein Tuch vom nächsten Tisch. Dann hatten Susan und Dorian die Treppe erreicht. Dorian schob das Mädchen die Treppe hinauf und in den Gang zu den Zimmern. Plötzlich wusste er, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Er blieb vor seiner Zimmertür stehen und sagte drängend: »Gehen Sie in Ihr Zimmer und verschließen Sie es gut! Wir sehen uns morgen.« Er riss die Tür auf und ließ sie verwirrt stehen. Langsam und kopfschüttelnd ging Susan weiter. Kaum war Dorian in seinem Zimmer, handelte er. Er riss den
Schrank auf, öffnete mit schnellen Griffen seinen Hebammenkoffer und zog seine Spezialpistole heraus. Mit zwei Sprüngen war er am Fenster und öffnete es. Rechts neben dem Gasthof brannte eine einzelne Birne und beleuchtete schwach den Platz, den regennassen Wagen und das Motorrad, das an der Hausmauer lehnte. Noch immer nieselte es. Dorian beugte sich aus dem Fenster und sah den Jungen, der quer über die Straße schwankte. Er versuchte, sich den Helm aufzusetzen. Dorian blickte nach links und nach rechts. Aus dem undurchdringlichen Dunkel der gegenüberliegenden Straßenseite löste sich jetzt eine Gestalt. Dorian versuchte die Finsternis zu durchdringen. Der Junge war zehn Schritte von seinem glänzenden Vehikel entfernt. Die Gestalt wurde deutlicher. Es schien eine Frau zu sein; das erkannte Dorian an der Art der Bewegungen. Er schwang sich geräuschlos auf das glatte Vordach über dem Eingang und hielt sich am Fensterrahmen fest. Dann vergewisserte er sich kurz, ob er im Raum das Licht ausgeknipst hatte. Der Junge war stehen geblieben und fragte etwas. Dorian verstand ihn nicht. Der Junge war betrunken, sprach undeutlich und außerdem Dialekt. Dann hörte Dorian die zischende, heisere Stimme einer Frau. Sie ging schleppend auf Durand zu und breitete die Arme aus. Dorian glaubte, im schwachen Lichtschein gebogene Krallen sehen zu können. Er wartete noch. Vielleicht war sein Verdacht lächerlich. »Nein!«, sagte der junge Mann da und sprang zur Seite. Dorian sah eine halbe Sekunde lang das Oval des bleichen Gesichts, und jetzt war er sicher. Er sah die blitzenden Vampirzähne. Der Vampir glitt über die Straße und auf den Jungen zu, der entsetzt zur Seite sprang und seine Maschine zu erreichen versuchte. Er schrie kurz auf. »Nein! Weg!« Dorian ließ den Fensterrahmen los, setzte sich und rutschte langsam über die uralten Ziegel. Er erreichte, in einer Hand die Waffe, den Rand des Daches und ließ sich nach unten gleiten. Fast ge-
räuschlos landete er in einer flachen Pfütze. Durand torkelte hin und her. Der Vampir hatte ihn jetzt erreicht und schlang die langen Arme um seinen Hals. Der Junge ließ sich fallen, und der Vampir warf sich auf ihn. Dorian startete über die Straße. Die Waffe klickte. »Loslassen!«, schrie Durand. Er schien trotz seiner Trunkenheit zu begreifen, dass er in Lebensgefahr war. Dorian lief an der dunklen Hausmauer entlang. Nicht ein einziges Fenster der Hausreihe war erleuchtet. Der Vampir und der junge Mann wälzten sich über die nasse Straße. Es war ein lautloser Kampf. Der Dämonenkiller erreichte die Kämpfenden. Durand rutschte zur Seite, als der Kopf des Vampirs nach unten zuckte und sich in den Hals des Opfers bohren wollte. Er machte sich frei, kam auf die Knie und stemmte sich hoch. Dann rannte er rutschend und stolpernd in die Mitte der Straße. Dorian zielte und feuerte. Der Eichenbolzen traf den Vampir in den Rücken, gerade als er sich wieder aufrichten wollte. Mit einem Schrei sackte der Dämon zu Boden. Dorian steckte sofort die Waffe in die Brusttasche zurück. »Durand!«, rief er leise. Der junge Mann blieb stehen, drehte sich um. Dorian hatte den Vampir ins Herz getroffen. Die Bestie begann sich aufzulösen. Durand war schlagartig nüchtern geworden und kam mit steifen Schritten näher. Er keuchte, als er sah, wie sich die Formen des Vampirs zu verändern begannen, wie die Bestie sich mit einer letzten wilden Zuckung hochwarf und herumdrehte. Durand kam näher und zwang sich, hinzusehen. Er stammelte: »Das – das ist keiner aus dem Dorf. Ich habe sie noch nie gesehen.« Dann begriff er erst, dass Dorian vor ihm stand. Der Vampir schrumpfte. Er wurde zu Asche und Staub, auf den der dünne Regen fiel, der die Asche zu Brei machte.
»Ja. Sie sind knapp mit dem Leben davongekommen, junger Mann. Wie wäre es, wenn Sie mir mehr über die Dämonen von Poitou-Re erzählen würden. Möglichst schnell und umfassend, dann werden wir nicht so nass.« »Sie – Sie – glauben an Dämonen und Vampire?«, fragte Durand leise und blieb dicht vor Dorian stehen. »Ja«, sagte Dorian mit Bestimmtheit. »Ich glaube an Dämonen. Deswegen bin ich hier.« »Haben Sie etwa diesen Vampir umgebracht?« Der Junge hob seinen Helm auf. »Er ist zu Asche und Staub zerfallen«, sagte Dorian hart. »Gibt es noch mehr Vampire in diesem Dorf?« »Das war niemand aus dem Dorf«, erwiderte der Bursche und spielte nervös am Griff der Maschine. »Ich weiß. Was wissen Sie noch?« »Der Dämon«, flüsterte Durand scheu und zitternd, »lässt die Dorfbewohner in Ruhe.« »Keine Morde, keine verschwundenen Personen?« »Nein. Nicht im Dorf. Der Dämon holt sich seine Opfer von weit her. Die Männer und die hübsche Frau. Sie sind die nächsten Opfer.« »Sind es viele Opfer?«, erkundigte sich der Dämonenkiller. Von Minute zu Minute sah er klarer, was es mit diesem teuflischen Wein auf sich hatte. »Der Dämon lockt seine Opfer immer in das Gewölbe von Lacroix. Der Weinhändler ist sein Knecht.« »Das habe ich vermutet«, murmelte Dorian. »Warum hat der Vampir Sie angefallen? Was vermuten Sie?« »Ist doch klar!«, antwortete der Junge und schüttelte sich. Regenwasser perlte aus seinem langen Haar. »Ich habe Sie gewarnt. Das hat ihn zornig gemacht.« »Begreiflich.« Der Junge hatte nicht sehen können, dass Dorian den Vampir mit einem Eichenbolzen erledigt hatte; er wusste nicht, ob ihn Dorian gerettet hatte; aber er war unendlich erleichtert, und die Worte spru-
delten nur so aus ihm heraus. Dorian fragte weiter: »Dieser Dämon – wissen Sie, wie er aussieht? Wie lange er schon seine Opfer holt?« »Es müssen schon Dutzende von Opfern sein. Er hält sie eingesperrt, im Weinkeller. Ich weiß es. Ich kenne einen Geheimgang zum Gewölbe. Niemand kennt ihn außer mir, auch nicht Lacroix. Der Dämon sperrt sie ein und trinkt ihr Blut, wenn es ihm danach gelüstet. Aber niemals Einheimische. Das Mädchen damals, die Freundin von dem irren Chabrol, das war eine Ausnahme.« »Warum zeigen Sie diese Sache nicht an, wenn Sie so gut Bescheid wissen?«, erkundigte sich Dorian. Er fühlte sich unbehaglich, aber er konnte mit dem Jungen nicht zurück in die Gaststube. Also blieb er hier und hoffte, dass ihn Susan nicht durch das Fenster ihres Zimmers beobachtete. »Anzeigen? Sind Sie verrückt? Dann würden sie mich einsperren wie den armen Gaston Chabrol.« »Das sehe ich ein. Sie sind in Gefahr, mein Junge. Warum verlassen Sie diese Gegend nicht einfach und ziehen woanders hin?« Der Nebel wurde immer dichter. Der Regen, der auf die einsame Dorfstraße fiel, war fast zu Eis gefroren. Dorian begann zu frösteln. »Das ist unmöglich«, sagte Durand. »Warum ist das unmöglich?« »Weil – weil ich so wie Sie diesem verfluchten Wein verfallen bin. Der Dämon hat den lächerlichen gepanschten Wein von Lacroix verhext. Sie wissen ja selbst, wie gut der Wein ist. Damit lockt er seine Opfer an. Ich kann nicht weg. Ich muss diesen Wein haben. Simon gibt mir hin und wieder einen Schluck. Heute Abend habe ich ihn wieder bezahlen müssen.« »Sie haben die Aufmerksamkeit des Dämons auf sich gelenkt. Das heute war der erste Angriff. Er wird Sie verfolgen, Junge. Ununterbrochen. Sie werden niemals Ruhe haben. Nicht in diesem Dorf.« »Ich weiß. Aber ich schaffe es nicht, Monsieur. Sie aber sollten Ihre Koffer packen und abhauen. Möglichst schnell. Übermorgen Abend werden die anderen Fremden die Opfer des Dämons.« »Ich kann Ihnen nicht recht glauben«, murmelte Dorian. »Und ich
kann auch nicht einfach abreisen. Ich habe hier eine bestimmte Aufgabe zu erledigen.« Der Junge schien inzwischen durch den Schreck und die Kälte stocknüchtern geworden zu sein. Er wischte über den Sitz seiner Maschine und schwang ein Bein darüber. »Sie haben mir irgendwie das Leben gerettet. Ich will Sie warnen, weil ich in Ihrer Schuld stehe, Monsieur. Glauben Sie mir, hauen Sie ab! So schnell wie möglich. Soll ich Sie irgendwo hinbringen? Nach Clermont-Ferrand? Wir könnten jetzt gleich losfahren. Habe noch genügend Sprit im Tank.« »Nein, danke«, wehrte der Dämonenkiller ab. »Ich bleibe hier. Noch eine letzte Frage: Ist Lacroix der Dämon? Lebt der Winzer noch?« Der Junge schaltete die Zündung ein. Ein rotes Lämpchen glühte auf. »Ich glaube, er ist nicht der Dämon des Dorfes, aber ein Werkzeug des Dämonen.« »Danke«, sagte Dorian. »Ich denke über alles nach, was Sie mir erzählt haben. Wir sehen uns sicher morgen noch im Wirtshaus.« »Wenn wir noch leben«, schränkte Claude Durand ein und trat auf den Anlasser. Die Maschine knatterte, und als Durand das Licht einschaltete, stach der Scheinwerferstrahl über die Straße und entriss die Hausmauern, die verriegelten Fensterläden und die verschlossenen Türen der Dunkelheit. Die Maschine heulte auf. Durand hob eine Hand und knatterte davon. Der Scheinwerferstrahl hatte gezeigt, dass wenigstens rund um den Gasthof keine Gefahren mehr lauerten. Dorian schüttelte sich, überquerte schnell die Straße und öffnete die knarrende Tür des Gasthofes. In der Halle war niemand. Dorian blickte kurz in die Ecke neben dem Kamin. Dort saßen noch Cooper und Wilson, der Wirt in der weißen Schürze, von Schallfeldt und Pascal am Tisch. Sie sprachen leise miteinander. Auf der anderen Seite war die Wirtsstube noch von ein paar Dorfbewohnern besetzt, zwischen denen Irene saß. Susan war hoffentlich auf ihrem Zimmer geblieben.
Dorian schlich leise die Treppe hinauf, fand sein Zimmer unversperrt und trat ein. Die nächste Überraschung erwartete ihn. Das Fenster war geschlossen. Es war warm im Raum. Aus einem Taschenradio kam leise Musik. Nur noch die Stehlampe auf dem Nachttisch verbreitete mildes Licht. In einem der beiden Sessel lag Susan Dale ausgestreckt. Sie hatte die langen Beine auf das Bett gelegt. Ein Weinkrug und zwei gefüllte Gläser standen auf dem niedrigen Tisch. Nicht sehr überrascht blieb Dorian in der Tür stehen. Er sah die junge Frau an, die in einen langen modischen Morgenmantel gekleidet war. »Es ist ein Uhr vorbei. Sie sollten längst schlafen und etwas Nettes träumen«, sagte er und zog sich das triefend nasse Jackett aus. Er hängte es sorgfältig auf einen Bügel und diesen über die Rippen des Heizkörpers. »Ich habe über alle merkwürdigen Augenblicke an diesem Abend nachgedacht. Über Ihr seltsames Benehmen und Ihre Bemerkungen. Sie wären sicher nicht zu mir gekommen, um mir alles zu erklären?« Der Dämonenkiller zog ein Handtuch aus einem Fach und trocknete sich das Haar und das Gesicht ab. »Sie haben Recht. Ich hätte es wohl nicht getan.« »Also bin ich zu Ihnen gekommen. Sie sind nass und frieren – also waren Sie dort draußen. Über das Dach und auf die Straße. Sie scheinen aufregende nächtliche Beschäftigungen zu haben.« Susan war der klassische Unsicherheitsfaktor, dachte Dorian. Sie war nicht Claude Durand, den er mit halben Wahrheiten abspeisen konnte. Wie viel konnte er ihr sagen, ohne dass sie glaubte, auch er wäre ein Verrückter? »Ich bin aus dem Fenster gesprungen«, erklärte er und zündete sich eine Zigarette an, »weil der betrunkene Junge in Gefahr war.« Dorian zog seine Schuhe aus, setzte sich in den zweiten Sessel und griff nach dem Weinglas. Seine Finger und Zehen waren eiskalt. Die Haut des Gesichts begann zu prickeln. Dorian warf einen sehnsüchtigen Blick nach dem Bett. »Und warum haben Sie mir sozusagen befohlen, in meinem Zim-
mer zu bleiben und es zu verriegeln?« »Ich hielt es für sicherer. Wir befinden uns nicht in einem Londoner Apartmenthaus, sondern in einer der finstersten Gegenden Europas. Weit und breit kein Mensch, der Sie hätte schützen können.« Sie lachte kurz auf und deutete zu Boden. »Dort unten sitzen jetzt noch ungefähr zehn Personen. Sie alle hätten mich beschützt. Und natürlich nicht zu vergessen Sie.« Dorian trank einen großen Schluck Wein. Es war der Tischwein, der unten ausgeschenkt wurde. Susan starrte ihn an und fragte: »Halten Sie mich für sehr dumm, Mr. Reed oder wie immer Sie heißen mögen?« Dorian blickte sie durch den Rauchschleier hindurch an und antwortete leise: »Ich heiße Reed. Und ich weiß nicht recht, was ich Ihnen sagen soll.« »Fangen Sie ruhig von vorn an!« meinte sie trocken. »Ich stelle schon die richtigen Fragen, wenn ich etwas nicht verstehe. Was soll das Ganze? Wie sehen die Gefahren aus? Welche Gefahren?« »Was wissen Sie über Dämonen?«, fragte er ruhig und hob das Weinglas. »Nicht viel. Nur das, was man als Normalbürger darüber weiß. Scheusale, Ungeheuer der Fantasie, schauerliche Geschichten und Ähnliches.« Das war die Antwort, die Dorian erwartet hatte. »Ich arbeite in einer Agentur, die Berichte über angebliche Dämonie sammelt und untersucht. Es ist mehr als nur das Gerede von Fantasten. Die Dämonen machen die Menschen von Leidenschaften abhängig und von ihren Ideen. Sie haben ja selbst erlebt, wie ausschließlich sich unsere vier Weinkenner mit diesem Wein beschäftigten. Der Junge, der dort draußen eben überfallen wurde, ist auch diesem Wein von Lacroix verfallen. Er ist süchtig. Ich habe ihm geholfen. Sie konnten hören, dass er mit seiner Maschine wegfuhr.« Er leerte sein Glas und drückte die Zigarette aus. »Und was hat das alles mit mir zu tun? Warum bin ich in Gefahr?« »Weil Sie eine sehr hübsche Frau sind. Hier, in dem kleinen Dorf, eine Sensation. Haben Sie nicht gesehen, wie die Männer Sie angest-
arrt haben, ganz besonders der betrunkene Junge? Sie fordern durch Ihre Gegenwart heraus. Deswegen habe ich Sie gebeten, kein Risiko einzugehen.« Sie blinzelte ihn an und lächelte; sie flirtete noch immer mit ihm. Susan war außerordentlich anziehend, wie sie da so im Sessel lag, völlig gelockert das Glas hielt, eine Zigarette rauchte und ihn ansah. »Wissen Sie, dass Ihr Blick nicht nur dämonisch, sondern auch sehr vertrauenerweckend ist?« »Brauchen Sie mein Vertrauen?«, fragte er zurück. »Vielleicht brauchen Sie meines.« »Daran kann etwas sein«, meinte der Dämonenkiller und ließ es zu, dass sie nach seiner Hand griff. »Diese Stimmung hier, das, was Sie erzählt haben, die Einsamkeit und die Dämonen des Weines … Ich fürchte mich. Ich brauche Schutz, Daniel. Ihren Schutz.« Sie stand auf und kam auf ihn zu. Dorian wollte sie zuerst wegschieben; er hatte andere Pläne. Aber dann hielt ihn etwas davon ab. Er fühlte sich wie verzaubert. Sie schmiegte sich in seine Arme und küsste ihn. Dorian fühlte, wie sich der Druck ihrer Lippen verstärkte. Er zog sie an sich und spürte ihre Finger, die in seinem Haar zu wühlen begannen. »Du bist die einzige Gefahr«, flüsterte sie an seinem Ohr und knabberte daran. »Aber dieser Gefahr erliege ich gern, Daniel.« »Ich werde sehen«, murmelte er zurück, »ob ich deine Dämonen besiegen kann.« Er hob sie auf seine Arme und trug sie die wenigen Schritte bis zum Bett. Vielleicht war es das letzte Mal, dass er eine Frau in dem Armen hielt.
Dorian erwachte und sah als Erstes auf die Uhr. Neun. Er schloss die Augen wieder, spürte neben sich den Körper Susans, lächelte bei dem Gedanken an die vergangene Nacht. Sie war süß und voller Leidenschaft gewesen. Im Haus war es verdächtig still. Durch den Vorhang fiel blasses
Sonnenlicht. Dorian stand auf, zog den Bademantel an und blieb auf der anderen Seite des Bettes stehen. Er blickte das Gesicht der schlafenden Frau an. Dann, einem plötzlichen Impuls folgend, bückte er sich und küsste sie. Sie lächelte im Schlaf, murmelte etwas Unverständliches und drehte den Kopf herum. Lautlos ging Dorian ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Eine halbe Stunde später kam er rasiert und angezogen wieder heraus und überlegte. Morgen Abend ist die kritische Zeit, sagte er sich. Wenn der Belgier und der Sarde noch kamen, würde er Schwierigkeiten haben, den Weinkeller zu betreten. Eventuell würde er sich für de Baeve oder für Arruzzu ausgeben können, aber er vertraute auf sein Improvisationstalent. Er ging zum Bett und weckte Susan. »Ich glaube, du solltest in dein Zimmer gehen. Ich erwarte dich in einer halben Stunde unten beim Frühstück, ja?« Sie schlang die Atme um seinen Hals und zog ihn zu sich herunter. »Seltsam. Ich fürchte mich nicht mehr«, flüsterte sie. »Machen wir einen Spaziergang?« »Wäre unter Umständen keine schlechte Idee. Ich warte unten, ja? Kaffee oder Tee?« »Kaffee für mich«, sagte Susan und setzte sich auf. »Bis später, mein kleiner Dämon!« »Bis gleich!« Er schloss seine kleine Tasche ab und steckte den Schlüssel ein, dann verließ er, noch immer die Waffe in der Jackentasche, das Zimmer. Er ging hinunter und fand nur von Schallfeldt und Pascal am gedeckten Tisch. »Warum haben Sie gestern nichts getrunken?«, erkundigte sich Pascal, nachdem sie sich begrüßt hatten. »Ich war nicht in Laune«, erklärte Dorian. »Ich freue mich aber schon auf morgen. Die Stimmung hier im Raum, der junge Betrunkene, das alles hat mir die Laune ein wenig verdorben. Außerdem hatte ich Kopfschmerzen.« »Eine Tablette? Ich habe da ein vorzügliches Mittel«, sagte der
Deutsche hilfsbereit und griff in die Tasche. Dorian legte ihm eine Hand auf den Arm. »Danke. Schon fast vorbei. Ich mache anschließend einen Spaziergang. Das lüftet das Hirn.« »Richtig«, bestätigte Victor von Schallfeldt. Der Wirt erschien, noch unrasiert, aber anscheinend in bester Laune. Er nahm die Bestellung entgegen und warf Dorian, als dieser auch für Susan Dale bestellte, einen fragenden Blick zu. Dorian ignorierte die unausgesprochene Frage, ging zum Fenster und blickte hinaus. Auf den Dächern der gegenüberliegenden Häuser sah er eine leichte Schneedecke. Die Straße war matschig und nass. Eben fuhr ein Lieferwagen vorbei, der hinter sich Dreck hochwarf. In sechsunddreißig Stunden würde der Dämon mit seinen Knechten, den blutgierigen Vampiren, eine höllische Weinprobe veranstalten. Nach dem reichhaltigen Frühstück – die anderen Männer erschienen später und waren unausgeschlafen – wandte sich von Schallfeldt an Dorian. »Auf alle Fälle ist Ihnen gestern eine größere Ausgabe erspart geblieben.« Dorian sah ihn interessiert an. »Wie das?« »Wir waren der Meinung« – der deutsche Weinliebhaber deutete auf die Herren der Runde – »dass Lacroix uns die Flasche zur Begrüßung geschickt hatte. Geschenkt hat, sollte ich besser sagen. Der Wirt kassierte aber für diese eine Flasche einen Betrag, der starken Unwillen hervorrief.« Der Dämonenkiller musste grinsen. »Viel?« »Wir sind nicht gerade arm, aber der Preis überraschte uns doch. Der Wein war makellos, wie alle Weine Lacroix', aber dieser Wirt scheint ein geldgieriger Kerl zu sein.« »Das ist sein Beruf«, meinte Susan. Die Männer sahen sie überrascht an, als wollten sie andeuten, dass sie diese Bemerkung aus weiblichem Munde zu dieser frühen Stunde für mehr als unpassend empfanden.
Wieder musste Dorian lachen. Diese vier Männer waren auf eine ganz besondere Art weltfremd. Sie ahnten nichts. Die Figur Simons erschien jetzt für Dorian Hunter in einem deutlicheren Licht. Der Wirt war kein Vampir; und er schien auch kein Dämonenopfer zu sein; aber er war ein geldgieriger Teufel. Er selbst schien gestern nicht einen Tropfen des dämonischen Weins getrunken zu haben. Seine Nichte Irene sicher noch weniger. »Was tun Sie heute?«, erkundigte sich Dorian später. »Wir werden vermutlich ein wenig herumfahren, später, wenn der Schnee von der Straße weggetaut ist«, erwiderte Pascal. »Und Sie?« Als er jetzt grinste, hatte Dorian den unverkennbar dämonischen Blick. Er sagte ironisch: »Da sich von Ihnen niemand um diese bezaubernde junge Dame kümmert, werde ich mit größtem Vergnügen einen Spaziergang mit ihr machen. Kommen Sie, Susan! Ziehen wir uns um.« Zwanzig Minuten später stapften sie wieder in den Gummistiefeln, dick angezogen, durch den Schnee. Dieses Mal nahmen sie einen anderen Weg. Aber wieder endete ihr Spaziergang unterhalb des Weinberges, an den Ruinen der alten Mühle und vor dem verschlossenen Doppeltor der Weinkellerei.
Der Belgier und der Sarde waren gekommen. De Baeve, ein etwa sechzigjähriger Mann, wirkte auf den ersten Blick anziehend, auf den zweiten zweifelhaft, auf den dritten abstoßend. Er schien sehr reich zu sein, denn er war hervorragend gekleidet. Die Ringe, die Uhr, die Manschettenknöpfe und sein Auftreten verrieten guten, teuren Geschmack. Auf seinem haarlosen Schädel spiegelten sich die Flammen des Kaminfeuers. Das Gesicht war fett und verquollen. Rote und blaue Äderchen durchzogen die Haut. Die Augen waren ausdruckslos und von einem faden Blau, winzig und wässrig. Die Finger, mit kostbaren Ringen geschmückt, sahen wie fette Würstchen im weißen Darm aus. Er warf Susan einen lüsternen Blick zu und lächelte sie wie ein Hai an.
»Die charmanteste Weintrinkerin, die ich je gesehen habe!«, sagte er heiser. »Nicht wahr, Signore?« Gianni Arruzzu war ein Fremdkörper, ein kleiner düsterer Mann mit wildem, schwarzem Haarwuchs, der über den Schläfen fast weiß war. Er schien sich eben erst rasiert zu haben, aber die Gegend zwischen Ohren und Kinn war immer schwarz. Auch seine Kleidung wirkte düster und unmodern; schwarz und weiß, mit einem etwas altmodischen Zuschnitt. Seine Hände waren gepflegt, aber sie erinnerten an die eines unsicheren Bauern. Unruhig bewegten sich die Finger immer in der Nähe des Weinglases. »Una bella ragazza«, knurrte der Sarde und entblößte sein großes, weißes Gebiss. Susan entzog sich einer Antwort und legte stattdessen ihre Finger auf Dorians Hand. »Ich bin müde. Ich gehe hinauf«, sagte sie. Das Abendessen war wieder lang und hervorragend gewesen. »Ich komme gleich nach, Susan«, antwortete er und stand auf, um ihren Stuhl zurechtzurücken. Gleich würde wieder die übertriebene Zeremonie der vorgezogenen Weinprobe stattfinden. Dorian musste sich indessen etwas einfallen lassen, um in zweiundzwanzig Stunden in den Weinkeller hineinzukommen. Er besaß zwar ein meisterhaft gefälschtes Siegel, aber keinen Namen. Keinen, an den Lacroix Wein geschickt hatte. Nun, er würde etwas erfinden. Fantasie genug hatte er. Er schob die dunklen Gedanken weg und erinnerte sich daran, dass Susan wieder zu ihm kommen würde. »Simon«, rief er leise, als er sich verabschiedet hatte und an der Theke vorbeikam. Der Wirt tauchte hinter der Barriere auf. Er hatte in den untersten Fächern etwas gesucht. »Ich möchte einen Krug Wein. Dieselbe Marke wie vorhin. Und zwei Gläser, ja?« Simon nickte verständnisvoll und überreichte Dorian das Gewünschte auf einem Tablett. Er tat es mit einer übertrieben höflichen Geste. Dorian dankte kurz und verließ die halb volle Gaststube. Die
Dorfbewohner starrten ihm nach. In seinem Zimmer rückte er Tisch und Sessel zurecht, warf die Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche auf den Tisch und stieß dabei an die Waffe. Er überlegte gerade, ob er sie zurückstecken oder in seine alte Hebammentasche einschließen sollte, als ihn eine Ahnung überfiel. Susan! Er war gewohnt, schnell zu handeln. Mit zwei Sprüngen war er an der Tür zum Gang und riss sie auf. Er lauschte angestrengt. Deutlich hörte er die Geräusche von fallenden Gegenständen, dann ein würgendes Stöhnen. Er zögerte nicht und rannte los. Einige schnelle Schritte brachten ihn zur Tür von Susans Zimmer. Er riss sie auf und erkannte an der linken Wand die Schatten von kämpfenden Gestalten. Das Fenster stand offen. Die langen Vorhänge flatterten im Windzug. Schmutzspuren, die wie geronnenes Blut aussahen, liefen vom Fensterbrett auf den Boden. Susan hing halb über dem Bett und wehrte sich verzweifelt. Halb auf ihr, halb über dem rutschenden Tisch lag eine große, schwarz gekleidete Gestalt. Dorian streckte den Arm aus, rutschte auf dem Läufer aus und packte den Angreifer im Genick. Mit einem wütenden Ruck schleuderte er ihn nach hinten. Als er den Griff löste, sah er in das weiße, fratzenhafte Gesicht eines Vampirs. Die nadelfeinen Vampirzähne ragten deutlich zwischen den blutleeren Lippen hervor. Dorian rutschte aus, krümmte sich zusammen und rollte auf dem Boden ab. Der Vampir stieß einen lang gezogenen, gurgelnden Schrei aus und stürzte sich auf Dorian. Der Dämonenkiller hob die Waffe und drückte ab. Aber nur ein scharfes Klicken war die Reaktion. Er hatte vergessen, die Waffe zu entsichern. Fieberhaft bewegte er die Finger. Der Vampir hing drohend über ihm, streckte die Arme mit den spitzen Krallen aus und grunzte angriffslustig. Endlich schnappte der Hebel herum. Der Dämon landete auf Dorian. Die Hand des Mannes wurde gegen seine Brust gepresst, aber Dorian bewegte das Handgelenk nicht, er krümmte nur
den Finger. Der Einschlag des Spezialgeschosses warf den Vampir zwei Handbreit in die Höhe. Dorian spürte den Rückstoß und befreite sich von der schweren, nach Moder und Feuchtigkeit stinkenden Gestalt. Der Vampir glitt neben ihm zu Boden. Dorian zielte genau und schoss ein zweites Mal. Diesmal jagte er seinen Schuss in die Gegend, wo das Herz saß. Der peitschende Knall der Waffe musste sich im Haus wie ein Kanonenschuss anhören. Susan schrie leise auf. Sie versuchte vom Bett herunterzurollen. Dorian stand keuchend da und sah, wie sich die Gesichtszüge des Vampirs zu verändern begannen. Ich habe getroffen, dachte er, aber sein Blick wurde abgelenkt. In der schwarzen Öffnung des Fensters bewegte sich etwas. Eine zweite Gestalt. Sie kam vom Dach und sprang jetzt mit einem mächtigen Sprung, wie eine große, schwarze Raubkatze, auf Susan zu. Der Dämonenkiller drehte sich herum und schoss zum dritten Mal. Der Vampir, der mit aufgerissenem Maul und vorgestreckten Krallen auf das Fußende des Bettes springen wollte, wurde mitten im Sprung getroffen. Er fiel senkrecht herunter und begann sich aufzulösen. Susans Körper schlug hart gegen den Schrank, der heftig zu wackeln begann. Sie hielt die Hände vor den Mund und starrte mit schneeweißem Gesicht auf das Bild, das sich ihr bot. Die zwei Wesen, die hier eingedrungen waren, begannen sich aufzulösen. Ihre Körper schrumpften zusammen und zerfielen zu Staub. Dorian packte den ersten Vampir, riss ihn wie ein Bündel hoch und stemmte ihn aus dem Fenster hinaus in die Nacht. Es schneite schon wieder; dicke weiße Flocken tanzten ins Zimmer. Dann wirbelte er herum, ohne Susan zu beachten, zog den zweiten Vampir an den Beinen herum und schleppte ihn ebenfalls zum Fenster. Die Reste der Bestie landeten auf den Dachziegeln und im Schnee. Dorian schloss das Fenster, drehte den Riegel herum und wartete, bis sich die Scheiben beschlugen. Dann zeichnete er mit dem Finger jeweils ein Kreuz auf jede Glasfläche und steckte die entsicherte
Waffe ein. Er zwang sich zur Ruhe, ging um das zerwühlte Bett herum auf Susan zu und sagte beruhigend: »Es war alles nur ein Spuk, Susan. Vergiss es!« Sie schüttelte tonlos den Kopf und nahm langsam die Hände herunter. Dorian nahm sie bei den Schultern und sah ihr zuerst in die Augen, dann musterte er ihren glatten Hals. Es waren keine Spuren eines Vampirbisses zu erkennen. »Komm!« Er suchte und fand den Morgenmantel und legte ihn um ihre Schultern. »Es ist nichts geschehen.« »W-was war das, Daniel?«, wimmerte sie, am ganzen Körper zitternd. »Das war eine Mischung aus dem, was ich dir erzählte, und deiner aufgeputschten Fantasie.« »Aber – die Zähne! Dieser Geruch! Sie wollten mich beißen: Das habe ich deutlich …« Dorian half ihr in den Mantel. Sie zog ihn mit mechanischen Bewegungen an und erklärte: »Ich wollte mich gerade umziehen. Es war zu warm. Ich machte das Fenster auf und – da war dieses Wesen. War es ein Mensch?« Mit sanftem Nachdruck schob Dorian sie aus dem Zimmer. Er wunderte sich, dass niemand die Schüsse gehört zu haben schien. Oder kümmerte man sich nicht darum, weil so etwas an der Tagesordnung war? Er versicherte wahrheitsgemäß: »Das war ein Mensch. Ja, es war einmal ein Mensch. Was du heute gesehen hast, war ein entarteter Mensch. Eine Spukgestalt.« Sie gingen in sein Zimmer, und er flößte ihr ein halbes Glas Wein ein. Als er ihr eine Players anbot, nahm sie dankend an. »Was bist du wirklich, Daniel Reed?«, fragte sie nach einer Weile. »Ich bin der Mann, der hier sitzt und aufpasst, dass dir nichts passiert. Frage mich nicht weiter! Ich müsste dich anlügen. Versuche es zu vergessen!« »Das kann ich nicht«, meinte sie und setzte sich auf seinen Schoß. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und schluchzte. »Und du
hast sie beide einfach erschossen.« »Ich habe nicht einmal ein Tier getötet«, versicherte er. »Ich habe nur Fantasiegestalten dorthin zurückgeschickt, woher sie gekommen sind – in ihr finsteres Reich. Sie sind nicht wirklich. Du würdest sie nicht mehr finden, wenn du nachsehen gingest. Sie sind verschwunden.« Susan wusste später, als sie nebeneinander im Bett lagen und rauchten, nicht mehr genau, was Wahrheit und was Fantasie gewesen war. Dorian hatte sie verwirrt, ohne die Wahrheit verraten zu müssen. In dieser Nacht würden die Vampire nicht mehr versuchen, hier einzudringen. Trotzdem schlief er mit der entsicherten Pistole unter dem Kopfkissen.
Der Dämonenkiller drehte sich um und sah Susan neben dem Kaminfeuer sitzen, umgeben von einigen Dorfbewohnern. Sie sprach ein wenig Französisch und würde sich mit ihnen verständigen können. Hier in der Gaststube war sie am sichersten. Die Dämonen waren abgelenkt, der Winzer hatte zu seinem grausigen Fest eingeladen. Von draußen ertönte die Hupe des kleinen Mietwagens. »Kommen Sie, Reed!«, rief Pascal ungeduldig. Zwei Wagen standen vor dem Gasthof. Bisher hatten sich die sechs Weinkenner willig dem merkwürdigen Zeremoniell unterworfen, das Lacroix gefordert hatte; jetzt war ihre Ungeduld auf dem Höhepunkt. Dorian hob eine Hand und winkte zu Susan hinüber. Sie winkte zurück und hob das Glas. Dorian schloss die Tür und lief durch die Halle. »Hier bin ich!«, sagte er und setzte sich neben von Schallfeldt, der den Wagen mit laufendem Motor vor der Eingangstür angehalten hatte. Der Sarde, der Belgier und Cooper saßen bereits im klapprigen Citroën des Wirts. »Fahren wir! Worauf warten wir noch?«, sagte er mit mühsam erzwungener Heiterkeit und schlug die Tür zu.
Von Schallfeldt startete, blinkte mit den Scheinwerfern, und beide Wagen setzten sich in Bewegung. Ihr Ziel war der Weinkeller von Lacroix. Zwischen seinen Beinen spürte Dorian die kleine Tasche, die voll Gegenstände seiner Dämonenausrüstung war. Die Waffe steckte in der Jackentasche. Wie würde der Winzer reagieren, wenn er Dorian sah? Die große Stunde rückte näher. Die sechs Männer schwiegen, als die Wagen die nasse Straße entlang rollten, dann abbogen und über den morastigen Weg, der zum Weinberg führte, holperten. Sie kamen am Haus des Winzers vorbei. Nicht ein einziges Fenster war erhellt. Geisterhaft schwenkten die Scheinwerfer hin und her, leuchteten die Ränder des Baches an und machten aus dem Gesträuch am Weg abstrakte Spukgestalten. Der Himmel war von merkwürdig leuchtenden, dahintreibenden Wolken bedeckt, zwischen denen für kurze Augenblicke ein Stern oder der bleiche Vollmond aufleuchteten. Der Wind schüttelte die schwarzen Bäume und schmolz den pappigen Schnee auf den Äckern und den Weinbergen. Dorian starrte aus dem Fenster und schwieg ebenfalls. Der vorausfahrende Wagen wurde kurz abgebremst, dann leuchtete ein Blinker auf, und schließlich standen beide Wagen nebeneinander vor dem Doppeltor des Weinkellers, neben der geisterhaften Ruine der alten Mühle. Die vier Scheinwerfer beleuchteten die beiden dunklen Torflügel mit ihren alten rostigen Beschlägen. Ein Tor war einen Spalt breit geöffnet, und als der Wirt auf die Hupe drückte, öffnete sich der Torflügel einen halben Meter weiter. Eine untersetzte Gestalt erschien und schirmte die Augen gegen das grelle Licht ab. Die Türen der Autos wurden geöffnet, dann winkte die Gestalt. Die Stimme des Wirtes drang an Dorians Ohren. Der Wind fing sich einen Augenblick lang zwischen den Mauern. Er brachte einen Schauer von Wassertropfen mit sich und ließ sie trommelnd auf die Dächer der Automobile und die Schultern der Männer fallen, die ausgestiegen waren und eine unschlüssige Gruppe bildeten. »Hierher, meine Herren!«, rief Pierre Lacroix. Wachsam sah sich Dorian um. Er konnte nichts Verdächtiges fest-
stellen. Alles würde sich auf die Räume hinter der massiven Tür konzentrieren. Die Scheinwerfer des Mietwagens erloschen. »Ich hole Sie alle nach Mitternacht ab. Ich muss mich um meine Gäste kümmern«, rief der Wirt leutselig und hielt sich am Dach seines Wagens fest. Er schien nicht das Geringste von der beunruhigenden und gespenstischen Stimmung zu spüren. Die sechs Männer stapften durch Schneereste und Schlamm auf die Türen zu, durch die gespenstisch fahles Licht fiel. »Bis bald!«, rief Cooper mit aufgeregt zitternder Stimme dem Wirt zu. »Wir kommen schon, Mr. Lacroix!« Dorian griff in den Wagen hinein, holte seine Tasche, zögerte kurz, entschloss sich aber dann doch, sie mitzunehmen. Dieses Risiko musste er eingehen. Er folgte der Gruppe, während Simon den Wagen nach mehreren Versuchen mit im Schlamm durchdrehenden Rädern wendete und langsam davonfuhr. Cooper war der Erste, der die Türöffnung erreichte. Dorian beobachtete scharf die Männer und besonders Lacroix, der in einer frischen Küferschürze neben dem Eingang stand. Das Aussehen und die übrige Kleidung passten nicht recht zu den Bügelfalten der Schürze. Aus dem Weinkeller strömte ein eigentümlicher Geruch ins Freie: es roch nach abgestandenen Flüssigkeiten, dem Moder von Jahrhunderten und der Nässe uralter Steinmauern. Und darüber schwebte deutlich, wie ein warmer Nebel des Unheils, der starke Geruch dieses Dämonenweines. Cooper wurde von Lacroix als Erster begrüßt. Der Winzer schüttelte ihm mit übertriebener Herzlichkeit die Hand, umarmte ihn, deutete den typisch südländischen Freundschaftskuss an und schob ihn behutsam ins Innere des Gewölbes. Danach nannte der deutsche Besucher seinen Namen. Er wurde ebenfalls liebevoll begrüßt, wie ein uralter Freund. Die anderen folgten, verschwanden im Inneren, ohne dass sie nach dem Siegel gefragt worden wären. Als Dorian dem Winzer gegenüberstand, bemerkte er, dass Lacroix sich bemühte, möglichst mit geschlossenen Lippen zu sprechen. Pierre sah ihn an. Der Schatten von Unsicherheit und Misstrauen
huschte über sein Gesicht. Dorian schüttelte die eiskalte Hand des Winzers und sagte einschmeichelnd: »Hoffentlich bin ich ebenso willkommen, Pierre.« Dorian wandte einen Trick an und hoffte, dass er wirkte. Er klemmte die Tasche unter den Arm, behandelte sie wie einen völlig nebensächlichen, lästigen Gegenstand und lockerte Schal, Jackenkragen und Hemd, so dass sein Hals deutlich sichtbar wurde. Mit einer einladenden Bewegung, die Lacroix natürlich missdeuten musste, weil er von anderen Voraussetzungen ausging, strich Dorian sich über den Hals. »Ich kenne Sie nicht, Monsieur!«, sagte Lacroix, aber für einen Sekundenbruchteil flackerte unverhohlene Gier in seinen Augen. Dorian lächelte strahlend. »Ich habe einen sehr guten Freund, ohne seinen Namen genau zu kennen. Wir treffen uns alle zwei Wochen in einem sehr exklusiven Londoner Klub. Er hat mich in alles eingeweiht. Ich gestehe, ich bin süchtig nach Ihrem Wein. Er ist kränklich, im Augenblick. Ich bin seine Vertretung.« Er schob sich langsam durch den Spalt in der Tür und stieß einen bewundernden Ruf aus. »Haben Sie das Siegel dabei? Sie müssen verstehen, ich muss in gewisser Hinsicht misstrauisch sein.« »Aber selbstverständlich. Hier, einen Moment!« Dorian befand sich inzwischen im Inneren des riesigen, halbdunklen Gewölbes. Der Winzer war etwas verwirrt und überrumpelt, schloss aber die Tür. Dies war ein sicheres Zeichen, dass er diesen siebenten Gast akzeptiert hatte. Jetzt befand sich Dorian im Bannkreis des Bösen. Er merkte es. Unruhe ergriff ihn ganz plötzlich, aber er beherrschte sich meisterhaft. Aus der Jackentasche zog er das Etui mit dem Pergament. Das Pergament war tatsächlich uralt, das Siegel hatten sie fälschen lassen. »Ist das als Beweis genug? Mann, Sie haben einen unbezahlbar romantischen Keller«, erklärte Dorian überschwänglich. Die anderen Männer gingen von einem Fass zum anderen, betasteten ehrfurchtsvoll die uralten Geräte und näherten sich einem gewaltigen, runden Tisch. Ein schwarzsamtenes Tuch lag darauf, in al-
ten Leuchtern brannten dunkle Kerzen, Weingläser standen da und Flaschen und einige Krüge Wein. »Sicher, Sie sind willkommen. Entschuldigen Sie, aber ich bin schon so oft betrogen worden. Ich erzähle Ihnen die Geschichte dieses Weines, dann werden Sie alles verstehen.« »Natürlich. Sie haben hier einen Schatz. Jetzt weiß ich erst diesen Wein zu würdigen.« Dorian wusste, was geschehen würde; natürlich nicht im Einzelnen. Auch mit ihm hatte der Winzer, dessen rundes Gesicht auf übertriebene Art gesund und frisch wirkte, mit fast völlig geschlossenem Mund gesprochen. Er war etwas schwer zu verstehen, aber die anderen Männer schienen es für eine Eigenart zu halten oder für den Dialekt der Gegend. Dorian wusste es besser. »Der Abend ist erst angebrochen. Eine Menge interessanter, nie gesehener Abwechslungen erwarten Sie, meine Herren«, erklärte Lacroix mit verbindlicher Liebenswürdigkeit. Als er auf die Gruppe der sechs Weinliebhaber zuging – er drehte Dorian den Rücken zu – griff der Dämonenkiller blitzschnell in seine Tasche und zog einige Gegenstände hervor. Er verstaute sie in den Innentaschen der Jacke und stellte die Tasche an einen Platz, an dem sie nicht auffiel, von ihm aber jederzeit erreicht werden konnte. Dann schlenderte er langsam auf den runden Tisch zu. Es war ein uraltes, mit schwefelgelbem und schwarzem Moos bewachsenes Mühlenrad aus Stein. Breite Sprünge unterbrachen die seitliche Rundung. Alte Stühle und Hocker aus Holz standen rund um den Tisch. Als sich Lacroix dieser Stelle näherte, begannen die etwa zwanzig Kerzen aufgeregt zu flackern. Dorian blieb hinter Pascal stehen und sah sich gegenüber den Sarden, diesen zurückhaltenden, schweigsamen Menschen, dessen fast schwarze Augen ununterbrochen unruhig und irgendwie flackernd die Szenerie betrachteten, ohne länger als eine Sekunde an einem Punkt zu verweilen. Dorian wusste genau, in welche Gefahr er sich begeben hatte. Er hatte nur dann eine gute Chance – denn diese Männer würden mühelos überwältigt werden können –, wenn es ihm gelang, den Dämon dieser ausgedehnten Höhlen zu erledigen.
Wieder sprach Lacroix. »Diese Anlage, meine Herren, die Sie zum ersten Mal sehen, ist der ehemalige Lagerraum einer mittelalterlichen Wassermühle. Aber sie diente bis zum heutigen Tag den verschiedensten Zwecken.« Er war leutselig und spielte seine Rolle hervorragend. Während er redete, hielt er den Kopf gesenkt und füllte sieben oder mehr Gläser. Verschiedene Weine standen rund um die uralten Eisenleuchter. Er verteilte die Gläser und schaffte es irgendwie, trotz seiner Ansprache den Mund nicht zu öffnen. Dorian wusste, was er sehen würde, wenn der Winzer seinen Rachen aufriss: Spitze, gekrümmte Vampirzähne. Und ebenso sicher war er, dass rund um sie in den dunklen Gewölben, deren Eingänge man deutlich sah, eine Horde von Vampiren lauerte, hechelnd und blutdürstig, vor Gier nicht mehr zu zügeln, rasend vor Durst nach frischem Blut und neuen Opfern. Sie würden das Blut der Männer saugen, neues Leben in sich aufnehmen und die Zahl der Opfer vergrößern. Und irgendwann würden wieder neue Gäste kommen, hier bleiben oder in ihre Heimatstädte zurückkehren und dort ihr Unwesen treiben. Dorian Hunter wünschte sich, eine Bombe mitgenommen zu haben, die dieses Gewölbe in eine flammende Hölle verwandelte. Aber mit dem verzückten Lächeln eines Mannes, der völlig im Bann dieser Stunde und des Anlasses stand, nahm er aus den schmutzigen Fingern des ehemaligen Winzers ein Weinglas entgegen. Konnte er es wagen, diesen ersten Begrüßungsschluck zu trinken, ohne sich neuen unbekannten Gefahren auszusetzen? Er beschloss, lieber etwas zu vorsichtig zu sein als eine Spur zu leichtsinnig, und hob das Glas. »Auf das Wohl unseres Gastgebers!«, sagte er laut. Die anderen stimmten in diesen Trinkspruch mit ein. Wenn Dorian einen Verbündeten in dem bevorstehenden Kampf haben würde, dann war es Arruzzu, der finstere Sarde. Der Winzer-Vampir bebte innerlich vor Erregung, das erkannte Dorian, während er vorsichtig am Wein roch, einen winzigen Schluck probierte und dann einen Teil des Inhalts unbemerkt in eine
dunkle Ecke laufen ließ. Der Winzer blickte von einem seiner hingerissenen Opfer zum anderen und trank selbst ein ganzes Glas leer. »Meine Herren, sehen Sie sich selbst um! Später diente dieses Gewölbe im großen Krieg als Pulvermagazin, dann als Versteck für Verwundete. Bei den Kämpfen wurde die Mühle beschossen und brannte ab. Niemand hat sie jemals wieder aufgebaut. Einer meiner Ahnen begann hier in der Gegend Weinstöcke zu pflanzen. Das war vor zweihundertdreißig Jahren.« Die insgesamt acht Männer – sieben Gäste und Lacroix – schienen in eine immer bessere Stimmung zu geraten. Der Vampir beantwortete Fragen, erklärte, wozu welche Geräte dienten, verteilte Proben von anderen Weinen und nahm Dorian das Glas aus der Hand, als er sah, dass es leer war. »Nicht so schnell, Pierre!«, sagte der Dämonenkiller mit schwerer Zunge. »Ich bin schon jetzt überwältigt. Ich bin kein Säufer, müssen Sie wissen.« »Simon wird Sie heimbringen. Sie können an diesem denkwürdigen Tag ruhig etwas berauscht sein«, widersprach Lacroix und brachte das Kunststück fertig, trotz zusammengekniffener Lippen lustig und charmant zu sein. De Baeve und Pascal gingen auf einen der gotischen Nebenstollen zu. »Dort finden Sie nichts Aufregendes!«, rief ihnen Pierre nach. Eine Reihe total verschmutzter Glühbirnen erhellte, abgesehen von den Kerzen, das Gewölbe nur unvollständig. »Macht nichts. Hier ist alles interessant und aufregend. War noch niemals in einem solchen Keller. Wäre das nichts für Ihre Freundin, Reed? Sie würde zittern, und Sie könnten sie trösten.« Er lachte schrill und meckernd. Einen Augenblick lang wünschte Dorian ihm die Hölle an den Hals, dann bereute er diese Aufwallung. Er erwiderte lachend: »Sie stellen sich das alles zu einfach vor, de Baeve. Die englischen Mädchen sind schwer zu erobern.« »Sie müssen es ja wissen.« Lacroix lenkte ab, indem er einen Krug hochhob und ausrief: »Das ist ein Wein, der zwischen unserem einfachen Trunk und dem Wein
liegt, den Sie anbieten.« »Kommen Sie, Pascal!«, rief von Schallfeldt laut. Er war nicht betrunken, aber von der gelösten Atmosphäre angesteckt. Der Dämon arbeitete raffiniert, dachte Dorian Hunter. »Sofort.« Während er wieder einen Schluck Wein an die Wand schüttete und dabei fast fürchtete, dass das Geräusch ihn verraten würde, versuchte Dorian die Anordnung und Ausdehnung dieser Gemäuer auszumachen. Fünf Querstollen gingen vom großen Keller ab, in dem sie sich befanden; alle auf der linken Seite; rechts schien kein einziger Ausgang zu sein. Er riskierte es, nahm sein Glas hoch und wanderte langsam nach hinten. Er ging von dem großen Fass zu der alten Kelter, von einem riesigen Flaschenregal zu einem Turm aus verschieden großen Bottichen, bis er das Ende des großen Gewölbes vor sich sah. Das Licht und die Stimmen der Männer wurden undeutlicher und schwächer. Dorian drehte sich um und hatte nach fünf Schritten den ersten Querstollen an seiner rechten Seite erreicht. Grabesluft wehte ihm entgegen. Er blieb stehen und glaubte einen schwachen Lichtschein zu erkennen. In der gleichen Sekunde hörte er aus einer anderen Richtung einen schwachen Schrei. Aber es konnte auch ein Geräusch gewesen sein, das von einem der Besucher verursacht worden war. Er wagte es noch nicht, weiter vorzudringen und sich abzusondern; noch nicht. Er musste noch warten, denn er wusste zu wenig. Bisher hatte er nur Lacroix als Vampir identifizieren können. Aber er ahnte, dass sie hier lauerten, rechts von ihm und womöglich noch an anderen Stellen. Langsam ging er weiter, schüttete den Wein aus und blieb vor dem zweiten Querstollen stehen. Er starrte schweigend und konzentriert hinein. Das Grauen schlug ihm aus der gewaltigen schwarzen Höhle entgegen. Die Stimmen der Männer waren wie Zeichen aus einer anderen Welt. Dorian sah am Ende des Stollens eine Art gezackter Öffnung. Dahinter war ein rotes, flackerndes Licht; mehr erkannte er nicht, aber er glaubte, dort Schatten umherhuschen zu sehen.
Wieder ging er weiter. Zwanzig Meter vor ihm hoben sich die Umrisse und Silhouetten der todgeweihten Männer gegen das sanfte Licht der brennenden Kerzen ab. Ein Verdacht kam in Dorian auf. Er begann zu zählen. »Einer fehlt!«, stieß er hervor, blieb am dritten Nebengewölbe stehen und sah im schwachen Schein einiger Birnen eine riesige Weinpresse stehen, eine veraltete Maschine, die aber erstaunlicherweise benutzt und brauchbar wirkte. Er stellte das Glas ab, um beide Hände frei zu haben, und ging auf die Gruppe zu. Lacroix berichtete gerade eine Geschichte, die offensichtlich starkes Interesse hervorrief. »… und entdeckte, dass dieser Teil vermauert worden war. Es muss mein Vater gewesen sein – oder vielleicht mein Großvater. Ich weiß es nicht. Es gibt keine Aufzeichnungen.« Die Herren hörten gebannt zu. Alles, was mit diesem wunderbaren Wein zusammenhing, schien sie mehr zu interessieren als ihr eigenes Leben. »Wie viel ist es eigentlich?«, fragte Cooper mit verzücktem Gesichtsausdruck. »Es sind zwanzig Fässer mit jeweils vielleicht vierhundert Litern«, erklärte der dämonische Winzer. Der Belgier fehlte noch immer. Er war in den zweiten Querstollen hineingegangen. »Und wie viel ist noch übrig?« Lacroix wollte die Urteilskraft der Männer ausschalten. Es war sein Plan, sie betrunken zu machen und dann dem Dämonen zu überlassen. Dorian tastete nach seiner Waffe und den langen, spitzen Pfählen, die er in seiner Jacke verbarg. Die Berührung verlieh ihm ein Gefühl der Sicherheit. »Ich weiß es nicht genau. Sie müssen auch bedenken, dass nicht jedes Fass Wein von dieser einmaligen Qualität enthält. Lassen Sie mich weiter berichten.« »Wo ist eigentlich der dicke Belgier?«, erkundigte sich unvermittelt der Sarde mit seiner dunklen, trockenen Stimme. Lacroix winkte ab. »Ach, er wird sich die Einrichtung ansehen.
Vielleicht versucht er, ein Fässchen zu stehlen. Haha! In einigen Minuten wird er wieder Durst bekommen und dann ist er wieder da.« Inzwischen hatten die Männer um den runden Mühlstein herum Platz genommen. Es war erstaunlich warm in diesen Gewölben. Dorian vergegenwärtigte sich, wie viel Erdreich über dem Gemäuer lag, aber das war keine ausreichende Erklärung für die Wärme hier. Er hörte hinter sich leichte Schritte und stand schnell auf. Der Belgier kam zurück. Dorian starrte ihn an. Der Mann wirkte völlig verändert. Ja, er war völlig verändert! Der Schrei von vorhin – die dünne Ausrede Lacroix' – und jetzt der Eindruck, den de Baeve machte. Er hatte ein kreidebleiches Gesicht und wankte. Langsam und schwankend näherte er sich, die Lippen aufeinander gepresst. »Ein bisschen beschwipst, wie?«, rief ihm von Schallfeldt entgegen. Der Belgier, dessen Gesicht wie aufgequollener Teig wirkte, lächelte gequält. Der Kragen seiner teuren Maßjacke war hochgeschlagen. Wir sollen den Vampirbiss nicht sehen, dachte Dorian. Die Zeit rückte weiter voran. Für ihn kam jetzt die Stunde, in der er zu handeln hatte. Täuschte er sich oder hörte er ganz fern leise und undeutlich das Geräusch eines hochdrehenden Motorradmotors? Im gleichen Augenblick, als er sich einerseits auf dieses Geräusch und andererseits auf das Verhalten des vampirischen Weinkenners konzentrieren wollte, unterbrach der Winzer die Stille, indem er aufsprang, einen Lobspruch auf seinen Wein vorbrachte und eine Flasche entkorkte. Die Blicke der Männer hingen an ihm, als käme von ihm das Heil ihres Lebens. Der Korken sprang aus dem Flaschenhals. Und wieder überschwemmte eine Welle von Wohlgeruch die Zone rund um den Tisch. Die Kerzen brannten noch immer flackernd. Lange Wachsspuren zogen sich an den dunklen Schäften herunter, tropften von den Auffangschalen auf das dunkle Tuch und bildeten wuchernde Muster. Widerlich, dachte Dorian, der Muskeln und Nerven anspannte, um blitzschnell handeln zu können. Im Augenblick konzentrierte sich die Aufmerksamkeit aller auf die fast sakrale Handlung des Küfers, dieses falschen Winzerdämonen, dieser
Bestie, die selbst irgendwann ein Opfer gewesen war. Entkräftet sank der Belgier auf einen knarrenden Sessel und streckte seine fetten, zitternden Finger nach einem Glas aus. Dorian, der peinlich darauf geachtet hatte, in der dunkelsten Ecke zu sitzen, stand geräuschlos auf und ging schweigend und unbemerkt rückwärts. Er war entschlossen. Der erste Zug war getan. Er würde den unsichtbaren Gegner aus der Welt des Grauens bekämpfen. Es gelang ihm, dem Lichtkreis zu entkommen. Er schlich in die Richtung des ersten Spitzbogen-Einganges. Als er zwischen den Mauern stand, hörte er die uninteressierte Frage Coopers. »Unser Freund hier ist etwas betrunken, wie mir scheint. Aber wo ist der junge Mann, dieser Bärtige mit seinem merkwürdigen Verhalten?« Lacroix lachte guttural und erwiderte schnell: »Er wird sich umsehen, denke ich.« Der Dämon wird sich ein Opfer nach dem anderen holen, denkt Lacroix, sagte sich Dorian und drehte sich um. Aus seiner Hosentasche zog er die flache Taschenlampe und die Waffe, die er entsicherte. Dann dachte er an die Geräusche und steckte sie wieder zurück. Stattdessen hielt er, als er in den ersten Stollen eindrang, einen zugespitzten Pfahl aus eisenhartem Eichenholz in der Hand. Eine einzige Bewegung, richtig geführt und gut gezielt, konnte einen Vampir töten. Dorian Hunter wusste, was er tat. Nach zwanzig Schritten hörte er links von sich ein fauchendes Geräusch. Die Lampe in seiner linken Hand flammte auf und schickte einen kalten, stechenden Lichtstrahl in die schwüle, stinkende Dunkelheit. Die Augen des Vampirs leuchteten wie rote Lampen auf. Schnell und geräuschlos glitt der Vampir aus einer finsteren Nische auf Dorian zu. Der Dämonenkiller reagierte so, wie es zu erwarten gewesen wäre, wenn es sich um einen der ahnungslosen Männer gehandelt hätte. Er schrie leise auf, stolperte rückwärts und starrte den Vampir mit einer Grimasse des Grauens an. »Nein«, wimmerte er. »Nein, nicht! Ich will leben!« Dabei vermied er es, sich selbst in den Bereich des Lichtes zu bringen.
Der Vampir stürzte sich auf ihn. Er hatte die Arme seitlich ausgestreckt und griff nach den Schultern des Dämonenkillers. Dorian wartete scheinbar gelähmt, bis das Untier dicht vor ihm stand, dann handelte er blitzschnell. Er sprang zur Seite, trat nach den Knien des Vampirs und holte mit der Rechten weit aus. Der Vampir fuhr herum, wurde geblendet, und in derselben Sekunde fuhr mit Wucht der spitze Pfahl ins Herz des Ungeheuers. Dorian rettete sich mit einem schnellen Satz vor den Krallen. Er prallte mit der Schulter gegen die Mauer, richtete die Lampe rasch nach unten und sah, dass er gut getroffen hatte. Der Körper des Vampirs krümmte sich in letzten Zuckungen. Die Krallen seiner Finger fuhren kratzend über den staubbedeckten Boden und hinterließen tiefe Spuren. Dann lag der Vampir still und begann sich aufzulösen. Dorian hob die Lampe und ließ den Strahl wandern. Das Licht glitt über Fässer und große Haufen von Dauben und Unrat, über unbekannte Geräte und Flaschen. Nirgendwo gab es Bewegungen, nirgendwo sah der Dämonenkiller die Augen von Vampiren. Er ging langsam weiter, suchte nach einem verborgenen Eingang, nach einer Verbindung zwischen den Gewölben. Er schien in diesem ersten Nebengang allein zu sein. Nicht einmal Ratten gab es hier. Er erreichte das Ende des Gewölbes, drehte sich um und sah geradeaus den hellen Ausschnitt. Dort saßen die anderen Opfer. Er beschloss, Lacroix zu täuschen, riss sein Hemd auf und schlug den Kragen der Jacke hoch. Dorian blieb genau unter dem Spitzbogen stehen und lehnte sich wartend gegen die nasskalte Wand. Er blickte hinüber zu der Gruppe um den Tisch. Sie war noch vollzählig, aber der Belgier und der Winzer waren Vampiropfer. »Wo ist eigentlich unser junger Freund?«, fragte von Schallfeldt, ein kleines Weinglas in der Hand, in dem der feuerrote Wein funkelte. Das Kerzenlicht machte aus der unheimlichen Szene eine Idylle. »Er wird sich umsehen. Keine Sorge, es gibt keine Fallgruben oder Löcher. Alles ist solides Bauwerk. Vielleicht sucht er ein Gespenst.« Dröhnendes Gelächter war die Antwort. Die Männer waren bereits
etwas betrunken. Dorian lächelte grimmig und wankte langsam auf den Tisch zu. »Da ist er ja!«, sagte der Winzer beruhigt, als er das eigentümliche Verhalten Dorians erkannte. »Hier! Ein Glas von unserem Spitzenwein.« Dorian nickte und nahm das kleine Glas entgegen. Er wartete einen günstigen Augenblick ab und verzog sich mit dem Glas, das er irgendwo abstellte. Von hier aus beobachtete er weiter und näherte sich dann Schritt für Schritt dem Eingang des zweiten Stollens. Der Belgier fasste jetzt den deutschen Besucher am Arm, wandte sich kurz an den Winzer und erkundigte sich: »Ich darf Ihnen doch von Schallfeldt entführen. Ich habe etwas entdeckt, was ihn faszinieren wird.« »Selbstverständlich. Betrachten Sie sich als meine Gäste«, gab Lacroix zurück. Beide hatten mit fast geschlossenen Lippen gesprochen. Der deutsche Gast folgte dem Belgier, der sich noch immer unbeholfen und schwerfällig bewegte. Sie gingen auf den zweiten Gewölbeeingang zu. Dorian folgte ihnen unbemerkt. Er befand sich in der Zone der Dunkelheit, abseits von dem Lichtkreis um den Tisch und den helleren Stellen unter den matten Birnen. Der dicke Belgier und der schlanke Deutsche drangen in die Dunkelheit des zweiten Stollens ein. Dorian schlich ihnen nach. Am Ende des Querstollens sah man Licht und einen weiteren Verbindungsgang, der wohl in die dritte Abzweigung führte. »Was wollen Sie mir zeigen, de Baeve?«, erkundigte sich von Schallfeldt. Er war unruhig und schien Unheil zu ahnen. »Etwas sehr Merkwürdiges. Ich habe einen uralten Sarkophag entdeckt. Nicht einmal der Winzer weiß, was das zu bedeuten hat.« »Ein Sarkophag im Weinberg? Haben Sie sich nicht geirrt?« Der Belgier schleppte den anderen Mann mit sich. Dorian hielt in der rechten Hand seine Waffe und in der anderen seinen wirkungsvollsten Dämonenbanner. Er blickte nach links und rechts, aber es zeigten sich weder der Dämon noch ein Vampir.
»Deswegen habe ich Sie mitgenommen, lieber Freund.« Jetzt waren die Worte besser zu verstehen. Der Vampir sprach mit offenem Mund in der Finsternis. Als die beiden Männer, gefolgt von Dorian, um die nächste Ecke bogen, geschah das, was Dorian erwartet hatte. Der Deutsche keuchte erschrocken, machte sich frei und sprang zur Seite. Aus dem heileren Teil des niedrigen Verbindungsganges tauchte ein Ungeheuer auf. Eine riesenhafte Bestie mit breiten Schultern, dunkler Behaarung und langen, spitzen Ohren. Riesige Augen starrten den Deutschen an, der sich an die Mauer presste und langsam seitwärts wegrutschte. Er stammelte wirres Zeug. Der Arm der Bestie schob sich nach vorn und packte den Weinliebhaber an der Schulter. Demütig stand der dicke Vampir daneben und sah zu. »Halt!«, schrie Dorian und sprang vor. Seine Waffe krachte, und er hob die Hand mit dem leuchtenden Dämonenbanner. Das haarige Untier, auf dessen Brust ein winziger Totenschädel an klirrender Kette baumelte, stieß einen lauten Schrei aus. Der dicke Vampir war getroffen worden, aber nicht tödlich. Er war nicht vernichtet und rannte davon, an Dorian vorbei, der zur Seite sprang und sich auf den aufheulenden Dämon stürzte. Das Ungeheuer, dessen Horn auf der Stirn eben zustoßen wollte, wandte sich zur Flucht und ließ den Deutschen los. Dorian hielt dem Dämon das magische Zeichen entgegen, und als sich die Bestie durch den kurzen Gang entfernte, brach rundherum die Hölle los. »Was ist das? Was war los?«, schrie der Deutsche. »Wir sind in der Falle des Dämonen. Kommen Sie!«, schrie Dorian zurück und sah, wie der haarige Dämon mit großen Schritten in ein anderes Gewölbe flüchtete. Ringsherum schrien und heulten die Vampire. »Was haben Sie vor?« Von Schallfeldt begriff nicht, was geschehen war, aber er fürchtete sich. Er folgte Dorian, der seine Waffe wegsteckte und die Lampe
hervorholte. Die beiden Männer gingen dem Belgier nach, der in das Hauptgewölbe zurückrannte. Die Vampire hatten sich bisher versteckt gehalten, um ihren dämonischen Meister nicht zu stören, aber jetzt kannten sie keine Rücksicht mehr. Der Belgier rannte vor Dorian davon, aber die dunklen Schatten, die von allen Seiten herankamen, machten dem neuen Vampir Mut. Er drehte sich um und griff die fliehenden Männer an. Die Schritte der Vampire schlurften über den Steinboden. Kichern und spitze Schreie hallten von den riesigen Steinquadern zurück. Dorian sagte hastig: »Halten Sie die Lampe, Schallfeldt!« Er drängte dem zitternden Mann das Gerät auf, dann zog er seine Spezialwaffe und schoss. Er traf den Vampir, der noch vor einer Stunde ein Mensch gewesen war, ins Herz. Schreiend und kreischend brach der Blutsauger fast auf der Stelle zusammen und überschlug sich. Er fiel vor die Füße der Männer, die auseinander sprangen und weiterrannten. Hinter ihnen kamen die anderen Vampire. Vor ihnen lag der Lichtkreis rund um den Tisch. Die anderen Gäste, unter ihnen der Winzer, standen ratlos da und wussten nicht, was plötzlich los war. Aus allen Stollen hallten die schauerlichen Geräusche. Sie marterten die Nerven der Männer, die unter dem Einfluss des berauschenden Weines standen und aufschrien, als Dorian und Schallfeldt aus dem Gewölbe stoben. »Lacroix, Sie sind an allem Schuld! Zeigen Sie Ihr wahres Gesicht! Sie sind ein Vampir!« Der Deutsche keuchte, als der Strahl der Lampe auf das Gesicht des Winzers fiel. Der Mann, der eben noch herzlich und jovial gewesen war, hatte eine schreckliche Veränderung durchgemacht. Er ließ seine mühsam aufgebaute Maske fallen und schrie in rasender Wut auf, wobei seine Vampirzähne sichtbar wurden. Dann spreizte er die Finger und stürzte sich auf Dorian, der neben Schallfeldt stand. »Blut!«, geiferte der Vampir. »Blut wie Wein.« Dorian hob den Arm, zielte genau und schoss.
Die Männer waren wie versteinert. Zwischen ihnen heulte Pierre Lacroix auf, griff mit beiden Händen an seine Brust und brach in die Knie. Dann fiel er aufs Gesicht und fing an, seine Gestalt zu verändern und sich aufzulösen. Regungslos starrten die Männer das sterbende Ungeheuer an. Aus den fünf Gängen drang eine Schar von Vampiren. Noch wagten sie nicht, anzugreifen, aber es konnte nur noch Minuten dauern. Der Dämonenkiller ahnte, dass die einzige Rettung die Flucht war. Schweigend und starr vor Entsetzen sahen Cooper und Pascal, Arruzzu und Wilson zu, wie sich der Winzer in Staub verwandelte.
Die Überlebenden begriffen jetzt wohl, dass sie in eine tödliche Falle gelockt worden waren. Diese Falle war mit großer Meisterschaft vorbereitet worden. Die Männer waren keineswegs dumm oder begriffsstutzig, aber sie waren Opfer ihrer eigenen Gier geworden. Der Beweis lag vor ihnen; zwischen ihnen auf dem staubigen, feuchten Boden löste er sich in graue Asche auf. Von Schallfeldt fasste sich als Erster. Seit dem Augenblick, da ihn der Dämon mit den leuchtenden Augen angefallen hatte, waren vielleicht zwei Minuten vergangen. Noch immer heulten und kreischten die Vampire außerhalb des Lichtkreises. Dorian hatte seine Waffe. Er griff in die Innentaschen seiner Jacke und holte einige der Eichenholzpfähle heraus. Im gleichen Augenblick packte Arruzzu, der Sarde, einen alten hölzernen Hocker und schrie wütend auf: »Verdammt! Kann man nichts machen? Wir müssen hier heraus, Leute!« Als Antwort deutete Dorian Hunter auf den Ausgang. Auch dort standen und rannten Vampire herum. Er sagte hastig: »Sie müssen versuchen, diese Stäbe mit aller Kraft ins Herz der Vampire zu rammen. Das ist die einzige Rettung.« »Mann!«, sagte der deutsche Besucher und hielt den Stab umklammert. »Was geht hier eigentlich vor? Ich begreife nur die Hälfte.« »Wir sollen die Opfer des Dämons werden, der Sie angefallen hat!«, schrie Dorian gegen das Gurgeln, Heulen und Winseln an.
»Und wenn wir uns nicht wehren, dann sind wir es in ein paar Minuten.« »Mamma mia!«, knurrte der Sarde. Er schwang den Schemel durch die Luft und sah sich streitlustig um. »Das ist doch völlig unmöglich!«, schrie Pascal. »Nichts ist unmöglich«, knurrte Dorian und erläuterte in einigen Sätzen, was ihnen drohte. Er ließ die Lampe kreisen und leuchtete die Wände und die Eingänge ab. Überall schwankten die schwarzen Gestalten der Vampire hin und her, zeigten ihre Gebisse und ihre Krallen. Der Dämon ließ sich nicht blicken. Er lauerte wahrscheinlich in einem der seitlichen Gewölbe. »Und was sollen wir unternehmen?« Die Männer waren schlagartig nüchtern geworden. Dorian versuchte, die wenigen Chancen auszurechnen, die ihnen noch blieben. »Dorthin! Wir müssen raus.« Er hob seinen Dämonenbanner hoch und mit der anderen Hand die Waffe. Aber die Vampire ließen sich jetzt nicht mehr einschüchtern. Sie kamen von allen Seiten auf die kleine Gruppe zu. Es waren zwanzig oder mehr. Sie bildeten eine Kette und bedrängten die sechs Männer. Dorian versuchte zu zielen, aber die Bewegungen waren zu schnell, und es war zu dunkel. Die Fremden wichen zurück. »Sie treiben uns in den hinteren Bereich!«, keuchte Arruzzu und schleuderte mit aller Kraft seinen Schemel nach den Vampiren. Grell kichernd wichen die Untoten auseinander. Der Schemel krachte schmetternd gegen das Tor. »Wehren Sie sich doch!«, schrie Pascal und drang mit seinem Pfahl auf einen Vampir ein. Aber die Bestie sprang zurück und kicherte schrill. Dorian wartete, dass der Dämon aus dem rückwärtigen Teil auftauchte. Der Gestank nach aufgewirbeltem Staub und Schwefel verdrängte den aromatischen Duft des Weines. »Das werde ich auch tun«, rief Dorian zurück. Die Männer versuchten sich zu wehren, aber immer wieder
schreckten sie vor den Vampiren und Blutsaugern zurück. Schritt um Schritt näherten sie sich dem Eingang, hinter dem das flackernde Licht und der ausgezackte Riss in der Mauer zu sehen waren. Dorian schwieg und konzentrierte sich. Und dann spie seine Waffe einen Bolzen aus. Das Geschoss traf einen der Vampire, die sich zu nahe herangewagt hatten, ins Herz. Der Untote starb und verendete unter grässlichen Schreien und dem Wutgeheul seiner Artgenossen. Die Füße der Vampire zertrampelten den Staub, zu dem der Körper zerfiel. Die Untoten drangen plötzlich mit überraschender Wildheit vor, ergriffen mit zahllosen weißen Händen und langen Krallen den weißhaarigen Engländer und schleppten ihn mit sich in das erleuchtete Gewölbe. Obwohl Dorian versuchte, ihnen die Beute wieder zu entreißen, konnte er nichts ausrichten. Die verzweifelten Schreie des alten Mannes erstarben, als sich die Fangzähne in seinen Hals bohrten. Auch er war zum Opfer und Blutsauger geworden. Dorian aber brachte es fertig, dem Letzten der heulenden Vampire einen Pfahl von hinten ins Herz zu schießen. »Sie haben ihn erwischt, die Bestien!«, schrie Pascal. »Warum tun Sie nichts?«, fragte Wilson vorwurfsvoll, aber sie hatten bereits die Trennlinie zwischen den beiden Gewölben überwunden. Die Männer wurden jetzt in die noch größere Dunkelheit des Querganges getrieben. Dorians Lampe konnte nicht viel ausrichten. »Ich kann nicht mehr tun«, gab Dorian zurück. »Wir müssen einen Ausgang finden.« Um sie herum herrschte das Chaos. Überall lauerten schwarze Gestalten in der Dunkelheit. Zahllose Augen leuchteten sie gierig an. Als man die kleine Gruppe zehn Meter weit in das Gewölbe hineingetrieben hatte, genau auf den Mauerdurchbruch zu, verschluckte ein wahnsinniger Schrei die übrigen Geräusche. Dorian wirbelte herum. »Der Dämon!«, schrie er auf. Dort, wo die anscheinend massive Mauer endete, flammte flackerndes, rotes Licht auf. Die massige Gestalt des Dämons versperrte einen Augenblick lang den zackigen Eingang, dann wankte das Ungeheuer auf die Männer zu.
Dorian zielte auf die leuchtenden Augen und schoss. Das Ungeheuer kreischte schrill und lang gezogen, aber in der gleichen Sekunde züngelte eine winzige Flamme auf. Eine nasse längliche Fläche wurde sichtbar. Das Feuer breitete sich schlagartig über eine Strecke von zehn Metern aus. In den roten prasselnden Flammen erkannte Dorian den jungen Motorradfahrer. »Hierher!«, schrie der Junge. »Ein Geheimgang!« Er stand einen Augenblick deutlich sichtbar in einer schmalen Öffnung der riesigen Mauer. Vor ihm lag eine morsche Tür. Er hielt einen Benzinkanister in der Hand. »Los!«, sagte Dorian und gab Pascal, der ihm am nächsten stand, einen Stoß in den Rücken. Die mächtigste Stichflamme brannte in der Nähe des Dämons, der in die Höhe sprang und mit den Händen an sich herumwischte. Seine langen, zotteligen Haare hatten Feuer gefangen. Die Vampire heulten und bildeten einen Halbkreis, um den anderen Männern den Weg abzuschneiden. Aber der junge Mann schien einen an Wahnsinn grenzenden Mut zu haben. Er schwenkte den Kanister und spritzte Benzin über die Vampire. Dann entfachte er sein Feuerzeug, und die Flammen sprangen von einem Untoten zum anderen. Die Vampire rannten durcheinander. Die Flammen beleuchteten das schauerliche Drama in dem nachtschwarzen Gewölbe. Der Dämon sprang zurück und rettete sich zum Mauerdurchbruch. Dorian packte von Schallfeldt an der Schulter und schrie ihm ins Ohr: »Rennen Sie Pascal nach! Versuchen Sie zum Tor zu kommen! Öffnen Sie es! Schnell! Es geht um unser Leben!« Der Deutsche sprang im Zickzack durch die Flammen, die immer nur kurze Zeit hoch loderten und dann wieder erloschen. Auch die Vampire, die wie aufgescheuchte Tiere herumsprangen, konnten ihn nicht aufhalten. Er erreichte den schmalen Durchstieg und rannte außerhalb des Blickfeldes die Treppenstufen hoch. Wieder griff der Junge an. Er schüttete einen kräftigen Strahl Benzin in die Richtung des Dämons, der wild um sich schlug, aufschrie
und weiter zurückwich. Und wieder flammte das Feuerzeug auf. Mit dem Mut der Verzweiflung stürzte sich der Sarde, einen Holzpflock schwingend, auf einen der nächsten Vampire und rammte ihm den Pfahl wie einen Degen in die Brust. Eine Flammenspur raste quer durch das Gewölbe. Zwei Vampire, die mitten im Weg gestanden hatten, begannen zu brennen. Es war, als ob sie aus Papier gewesen wären. Sie bildeten lodernde Fackeln, die kreischend und jaulend durch die Halle rannten und sich gegen die Mauern warfen. Dorian streckte einen weiteren Vampir mit einem gut gezielten Schuss nieder und sah, dass der Junge vor dem rasenden Dämon stand und ihn mit Benzin bespritzte. »Zurück! Arruzzu! Los, zum Geheimgang!« Wilson und Arruzzu drangen mit neuen Pfählen auf die Vampire ein. Die Taschenlampe klirrte gegen einen Stein, das Glas zersplitterte. Die Flammen des Feuers wurden niedriger, zuckten noch ein paar Mal auf und erloschen dann endgültig. Es stank durchdringend nach verdampftem Treibstoff. Abermals flackerte das Feuerzeug auf. Der Dämon sprang durch den Mauerdurchbruch und flüchtete. Polternd fiel der Kanister zu Boden. Schlagartig herrschte wieder Dunkelheit. Schreie und Schritte umgaben sie von allen Seiten. »Helfen Sie mir, Mr. Reed!«, schrie der Junge. Dorian spürte Hände und Finger rund um sich. Klauen zerfetzten seine Jacke und rissen an ihm. Er hörte die harten Absätze von Arruzzus Schuhen auf der rechten Seite, zog den Kopf zwischen die Schultern und feuerte dreimal nach verschiedenen Richtungen. Dann war das Magazin leer. Er warf sich vorwärts und rannte auf die einzige Lichtquelle zu: auf den Durchbruch. Als er dicht davor war, erkannte er, dass der Junge die Verfolgung des riesigen Dämons aufgenommen hatte. Claude Durand bückte sich. Sein Feuerzeug flammte wieder auf, und dann verwandelte sich die Fläche hinter Dorian in ein Feuermeer. Der Kanister war voll gewesen; viel Benzin war nach allen Seiten ausgeflossen. Die Vampire hatten ihre Kleidung mit Benzin getränkt, waren herumgerannt und standen schließlich in einer riesi-
gen Benzinlache. Als die Flüssigkeit blitzschnell zu brennen begann, als sich die Flammen nach allen Seiten mit rasender Geschwindigkeit ausbreiteten, entstand eine Art Hölle für die Untoten. Die Vampire standen in den Flammen, brannten, sprangen auseinander und waren sich gegenseitig im Weg. Wilson erreichte gerade, als die Flammen aufzuckten, den Ausgang. Ihm folgte Arruzzu, der wütend um sich trat, weil Benzinspritzer seine Hose und Schuhe in Brand gesetzt hatten. Der Dämon raste in die Tiefen der Halle hinein. Der Junge folgte ihm, und Dorian blieb neben dem Durchbruch stehen und lud seine Waffe nach. Der Dämon wurde von dem Jungen verfolgt, aber in Wirklichkeit lockte er den Jungen hinter sich her. Dorian schob das Magazin in den Schaft der Waffe und folgte langsam den beiden Kämpfenden. Hinter ihm schrien und heulten die brennenden Vampire. Dann explodierte das Benzin-Luft-Gemisch im Kanister und schleuderte Metallstücke in alle Richtungen. In dem Gewölbe fingen die Bretter und der herumliegende Unrat wie Zunder zu brennen an. Dorian war verzweifelt. Es konnte sein, dass das Feuer ihnen den Fluchtweg abschnitt. Noch immer hörte er das Fluchen und die Schritte des Dämons und des Jungen vor sich. Sie rannten beide in den Hintergrund des Gewölbes, vorbei am Sarkophag, an dessen Rand Kerzen brannten. Dorians Augen gewöhnten sich wieder an das Halbdunkel, und er unterschied mehr und mehr Einzelheiten. Der Dämon rannte mit gewaltigen Sätzen eine Steintreppe hinauf, die zu einer Empore führte. Wie ein vorgeschichtliches Ungeheuer ragte eine mächtige Maschine vor ihm auf. Dann, ganz plötzlich, begriff Dorian. Sie hatten sich im Kreis bewegt. Dies hier war die Weinpresse, die er bereits einmal gesehen hatte. Der schwarze, riesenhafte Herr des Weinkellers hatte jetzt das obere Ende der Treppe erreicht und lief nach links. Durand hastete hinter ihm her. Er hatte irgendwo einen von Dorians Pfählen gefunden und schwenkte ihn wie einen langen Dolch. Dann, nach einer Weile, verklangen die Schritte. Dorian, der auf
halber Höhe der Treppe stand, hörte ein gezischtes Flüstern von oben. »Suchen Sie den Schalter! Schnell!« Den Schalter wofür? Dorians Augen durchbohrten das Halbdunkel. Er sah die beiden Gestalten miteinander verschmelzen. Sie standen in der Mitte des umlaufenden Stegs. Neben dem riesigen Bottich, in den sich der Stempel der Weinpresse senkte, gab es eine steinerne Plattform. Jetzt begriff der Dämonenkiller. Er drehte sich um, lief die ausgetretenen Stufen wieder hinunter und auf die Säulen zu, die sich neben der Maschine befanden. Dort tasteten seine Finger über den Stein, über Metallgegenstände, über Drähte und erwischten endlich einen Schalter. Von oben kamen schmatzende und stöhnende Geräusche. Dorian drehte am Schalter. Plötzlich durchflutete Licht den Raum. Überall befanden sich Leuchtkörper, die gleichzeitig aufflammten. Der Raum hatte drei Eingänge. Dorian blickte nach oben. Auf der Plattform, von der aus die Traubensammler ihre Körbe entleerten, standen der Junge und der Dämon, eng aneinander gepresst. Sie wirkten wie ein Liebespaar, aber Dorian sah, wie sich der rechte Arm des Jungen aus der Umklammerung löste und nach hinten drehte. In der Faust befand sich der lange Pfahl. Dorian senkte den Kopf und suchte. Er las schnell die wenigen Bezeichnungen, dann klappte er einen schweren Hebel nach unten. Ein Elektromotor heulte auf. Ein altes Getriebe begann zu rumpeln. Der Stempel begann sich zu senken. Dorian wartete einige Sekunden, dann rief er scharf: »Jetzt!« Mit einem wilden Ruck löste sich Durand aus der Umarmung des Dämons. Seine Hand schnellte vor, rammte den Pfahl in die Brust des Dämons; und gleichzeitig warf Durand mit der Schulter den riesigen, vor Erregung bebenden Körper um. Der Dämon fiel zu Boden, rollte schreiend über die Plattform, von den wütenden Tritten und Stößen des Jungen verfolgt, bis er in den Bottich stürzte. Ununterbrochen senkte sich die Presse auf ihn herab. Die Finger an dem rissigen Hartgummihebel, drehte sich Dorian langsam um.
Er war bereit, auf alles zu feuern, was sich zeigte. Aber kein Vampir drängte mehr in den Raum hinein. Aus der Öffnung kamen dicke, weißgraue Rauchschwaden. Das Stöhnen und Wimmern draußen wurde schwächer. Dafür begannen Vibrationen das Gewölbe zu erschüttern. Der getroffene Dämon heulte schauerlich. Die Wände des eisernen Bottichs warfen seine Schreie zurück. Die tonnenschwere Platte berührte den Rand des Bottichs, schob sich unaufhaltsam tiefer. Die Gewindestangen drehten sich schneller und schneller. Der Junge rannte von der Brüstung herunter, stolperte über die Treppe und raste auf Dorian zu. Die Vibrationen wurden stärker. Der Motor begann lauter zu winseln. Die Zahnräder des Getriebes knackten und ratterten. Von der Decke rieselte Staub aus den Quadern des Kreuzgewölbes. »Es ist alles vorbei!«, schrie Durand und sprang in die Höhe. »Sehen Sie, Reed!« Er deutete auf das Loch im Bottich, an das sich eine eiserne Rinne anschloss. Der Dämon schrie noch immer unmenschlich, wurde aber immer leiser. In der Öffnung des Bottichs erschien eine dunkle, zähe Flüssigkeit. Sie sah wie gerinnendes Blut aus. Es war das Blut des sterbenden Dämonen. Dickes, schwarzes Blut, das jetzt langsam zu laufen begann und am Ende der Rinne einen großen, dicken Tropfen bildete. Keuchend stand Durand neben Dorian. An vier Stellen zugleich fielen jetzt Mörtel und Steinbrocken von der Decke. Aus den Vibrationen waren starke Erschütterungen geworden. »Kommen Sie! Wir müssen hier raus!« Dorian ließ den Handgriff los. Plötzlich, nach einem letzten grauenvollen Ächzen, verstummte der Dämon. Der Strom der satanischen Flüssigkeit war dicker geworden und bildete unterhalb der Rinne einen riesigen Fleck im Staub. Mit einem harten Ruck kuppelte das Getriebe aus. »Sie haben Recht!«, rief Dorian. Neben ihm fiel ein kopfgroßer Steinbrocken zu Boden und zersprang in tausend Splitter. Die Lampen begannen zu flackern. Der Junge schien den Weg zu kennen. Er spurtete los, der Dämo-
nenkiller folgte ihm. Sie rannten durch ein Gewölbe, das wie ein alter Kreuzgang aussah, und kamen unter den fallenden Steinbrocken und dem Regen aus Mörtel und Staub hindurch ins große Gewölbe. Noch brannten einige Kerzen auf dem Tisch. »Sie sind da! Sie haben es geschafft!«, schrie der Junge, packte Dorian am Ärmel und zog ihn mit sich. Die Erschütterungen wurden mit jedem Schritt stärker. Dorian rannte auf den breiten Spalt zwischen den zwei Torflügeln zu, erinnerte sich und hielt an. Er zog seine Tasche aus dem Versteck und sauste weiter, hinein in das helle, rettende Licht der aufgeblendeten Scheinwerfer des Wagens. Zuerst Durand, dann er, so sprangen sie hinaus ins Freie, in die kalte Luft der Novembernacht. »Wir hatten Sie schon aufgegeben«, sagte der Franzose. »Was ist das für ein Geräusch?« »Schnell!«, schrie Durand und stürzte auf den Wagen zu. »Das Gewölbe bebt wie verrückt. Es kann nur noch Minuten dauern.« »Sekunden höchstens«, knurrte Wilson und schwang sich hinter das Lenkrad. Arruzzu und Dorian setzten sich, und mit aufheulendem Motor wendete der Wagen auf dem kleinen Platz und brauste los. In sicherer Entfernung hielt der Amerikaner den Wagen an. Die sechs Überlebenden sahen die schwankenden Lichtbahnen eines zweiten näher kommenden Autos. Die hellgelben Strahlen huschten über die Bäume am Wegrand, dann irrten sie ab und strahlten einen Teil des Weinbergs an, kehrten wieder zurück und schaukelten auf und ab. »Maurice Simon, der Wirt. Er scheint etwas geahnt zu haben.« Dorian sah auf seine Uhr. Es war drei Uhr nachts. »Nein«, widersprach er. »Simon holt uns ab, wie er es versprochen hat.« »Er ist kein Dämon, kein Blutsauger«, sagte Durand leise. »Aber er ist ein geldgieriger fetter Satan.« Unter ihren Sohlen schien der Boden zu beben. Dann folgte ein lautes und krachendes Geräusch. Die beiden Tore wirbelten in Trümmern davon, als hätte im Gewölbe eine furchtbare Explosion
stattgefunden. »Der Weinkeller stürzt ein!« Dorian widersprach nicht, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es mit natürlichen Dingen zuging. Weder das Feuer noch die Vibrationen konnten das Gewölbe so erschüttert haben, dass sich die Mauerverbände gelockert hatten. Sie standen seit Jahrhunderten, wenn nicht seit einem Jahrtausend. Der Citroën kam näher. Das Licht seiner Scheinwerfer lag jetzt auf dem schrägen Hang mit den dürren, blattlosen Rebstöcken. Plötzlich bildete sich im Erdreich ein Trichter. Felsen, Steine, die abgrenzenden Sonnenmauern und die Erde sackten nach unten. Ein donnerndes Krachen kam aus der gähnenden, von Rauch und aufwallendem Staub verschleierten Öffnung. Die Flammen waren erloschen. Wieder sackte an anderer Stelle in einer Breite von mindestens zwanzig Metern der Weinberg nach unten. Der Stollen darunter war eingebrochen, und was immer sich dort verborgen hatte – es war unter Tonnen von Fels und Erdreich zerquetscht worden. Neben der Gruppe von Männern, die schweigend zum Weinberg und in die Richtung des Kellers blickten, hielt der große, schmutzige Wagen. Simon stieg aus. »Was ist passiert? Mon dieu, jetzt sehe ich es! Der Weinkeller! Er stürzt ein! Wo sind die anderen?« Dorian holte tief Luft und füllte seine Lungen mit der feuchten, stechend kalten, aber frischen Luft. »Wir sind die einzigen Überlebenden. Alle anderen liegen dort unten, Simon.« Tonlos murmelte der dicke Wirt: »Alles hin. Alles kaputt. Lacroix? Auch tot?« Als Antwort entstand über dem Hauptgewölbe eine Erdspalte, in die Geröll, Erde und Weinstöcke stürzten. Steine flogen wie abgeschossen aus der Öffnung, dann rollte und rutschte die Erde auf den Platz neben den geschwärzten Mauern der Mühlenruine. »Alles tot. Und dieser verdammte Wein – auch er gehört der Vergangenheit an.« Dorian griff in die Tasche und fand das Siegel. Er schleuderte die Fälschung achtlos davon, räusperte sich die Kehle frei, spuckte
Staub und Mörtel aus und sagte überraschend klar: »Sie werden, meine Herren, in Zukunft Ihren Wein an anderen Orten bestellen müssen. Pierre Lacroix hat jedenfalls seine Lieferungen eingestellt. Für immer.« Sie verteilten sich auf beide Wagen und fuhren schweigend zurück ins Gasthaus. Jeder dachte an andere Dinge, aber keiner sprach aus, was sie dort erlebt hatten, wo eine Säule aus Staub und pulverisierter Erde sich langsam über die dünne Schneedecke breitete.
Es war für Dorian eine Befreiung, ein halb symbolischer Akt der Reinigung. Er lag, bis zum Hals mit weißem, knisterndem Schaum bedeckt, in der großen altertümlichen Wanne seines Bades. Auf einem Schemel standen Zigaretten, ein Aschenbecher und eine halb leere Flasche Bourbon. Dorian trank und rauchte gleichzeitig und versuchte zu vergessen. »Soll ich dir den Rücken schrubben?«, fragte eine Stimme von der Tür her. Dorian sah im Spiegel, dass Susan Dale hereinkam. »Nein«, sagte er. »Aber nenne mich bitte in Zukunft Dorian. Ich habe den anderen Namen nur zur Tarnung angenommen. Schläft der Wirt noch?« Sie lächelte ihn an. »Irene war eben in meinem Zimmer. Sie sind alle unten beim Frühstück. Keiner von ihnen hat geschlafen. Ich habe gebeten, unser Frühstück aufs Zimmer zu servieren.« »Einverstanden«, sagte er, streckte ein Bein aus dem Schaum und trank das Glas leer. »Auf meinem Zimmer. Wir haben noch genügend Zeit bis zur Abfahrt. Wir müssen erst abends in Clermont-Ferrand sein. Hast du Schlafwagen bekommen können?« »Ja!« Sie kitzelte ihn an der Fußsohle. Dorian wusste, dass die vier Fremden dieses Erlebnis ihr Leben lang nicht mehr vergessen würden. Sie kannten jetzt die Wahrheit und wussten, dass es Dämonen, Vampire und Blutsauger gab. Sie
würden den Verlust des Weines verschmerzen müssen. »Ich habe schon fast alles gepackt«, berichtete Susan, räumte einen Stuhl ab und setzte sich neben die Wanne. »Wie steht es mit dir?« »Das hat Zeit«, sagte er leise. »Ausgeschlafen?« »Einigermaßen.«
Sie hatte in seinem Zimmer auf ihn gewartet. Gegen vier Uhr nachts hatten die zwei Wagen vor dem Gasthof gehalten. Niemand war in der Gaststube gewesen. Die Männer und auch Durand blieben vor der Theke stehen, und dann richtete ausgerechnet der Sarde die Frage an Dorian, die dieser erwartet oder besser befürchtet hatte. »Und wie kommt es, dass ausgerechnet Sie Werkzeuge gegen die Vampire bei sich hatten, Reed?« »Ich konnte mich vorbereiten. Und im Gegensatz zu Ihnen glaubte ich bereits an derartige unnatürliche Vorgänge. Ich habe gewisse Erfahrungen damit.« »Ich verstehe das nicht«, murmelte Wilson und verlangte vom Wirt einen Schnaps. Simon füllte sechs Gläser bis an den Rand und verteilte sie. Er vergaß sogar das Rechnen und Kassieren, als ihn Pascal darüber aufklärte, was vorgefallen war. »Das heißt, dass niemals wieder so nette Gäste wie Sie hierher kommen werden«, maulte er schließlich. Sein Gesicht war grau vor Müdigkeit und Enttäuschung. »Und so großzügige.« »Sicher haben Sie noch einen entsprechenden Vorrat von Pierre Lacroix' Weinen«, meinte Dorian verdrossen, »den Sie zu Wucherpreisen schluckweise verteilen können.« »Zufällig sind es vierundzwanzig Flaschen, ja«, bestätigte Simon. »Und jetzt entschuldigen Sie mich. Ich bin todmüde. Du kannst heute hier schlafen, Durand.« »Mit Vergnügen«, sagte Durand. »Aber nicht mit Irene!«, drohte Simon und ging durch die Küche ins andere Haus.
Sie waren allein, aber die Erschöpfung erstickte jeden Versuch einer Unterhaltung im Ansatz. Sie gingen auf ihre Zimmer. Dorian fand Susan in dem großen Bett mit den karierten Bezügen. Sie erwachte, als er sich heiß und kalt duschte.
Sämtliche Koffer standen in einer Reihe vor der Theke. Es war vier Uhr nachmittags. Auch Dorians Hebammentasche war darunter. Nun würde ihr Inhalt kein Geheimnis mehr sein. Er hatte eben Susan versprochen, ihr einen neuen Job zu besorgen. Liebenswürdig, richtiggehend verwandelt, sagte von Schallfeldt: »Dieses verspätete Mittagessen, Simon, es war ein Gedicht. Ich verspreche, irgendwann nur wegen Ihres Essens herzukommen.« »Und keine Nudeln, mamma mia«, knurrte Arruzzu mürrisch. »Endlich ein Essen ohne Pasta.« Simon ließ abräumen und verteilte dann die bekannten kleinen Weingläser. »Aber Sie tun mir doch die Ehre an, noch eine von den berüchtigten Flaschen zu leeren? Auch Sie, Monsieur Reed, ja?« »Aber gern«, meinte Dorian und lehnte sich zurück. Wilson drehte sehr nachdenklich das Glas zwischen seinen knochigen Fingern. Pascal wirkte noch immer verstört und war in sich gekehrt. Simon entkorkte die Flasche mit der langen Schrift auf dem Etikett. Der Weingeruch schwebte wie eine Wolke über dem Tisch neben dem brennenden Kaminfeuer. Blutrot leuchtete die Flüssigkeit in den Gläsern. Das letzte Sonnenlicht des Tages fiel durch die kleinen Fenster. Simon füllte die Gläser, dann setzte er sich an das Kopfende der Tafel. Sie alle hoben die Gläser und rochen den Wein, sahen seine verlockende Farbe. Dorian sah Susan über den Rand des Glases hinweg an und lächelte ihr zu. Dann nahm er einen kleinen Schluck. Er schrie gleichzeitig mit Simon auf, drehte den Kopf herum und spuckte den Wein ins aufzischende Feuer. »Merde!«, schrie der Wirt.
Der Wein hatte nur noch den Geruch und das Aussehen des alten Weines. Er hatte sich verändert. Er schmeckte bitter wie Galle. Gift konnte nicht schlimmer sein. »Das ist der letzte Beweis«, sagte Dorian und goss den Inhalt ins Feuer. »Der Wein ist unbrauchbar. Es tut mir Leid für Ihre dreiundzwanzig Flaschen, Simon.« Der dicke Wirt hockte über alle Maßen enttäuscht am Tisch. Wenn er noch einen Beweis gebraucht hätte, um an Dämonen und Blutsauger zu glauben – hier war er. Niemals wieder würde es einen solchen Wein geben. Niemals wieder würden Menschen zu Sklaven eines dämonischen Küfers werden. »Bringen Sie anderen Wein!«, sagte Dorian Hunter. »Und weniger teuren, Simon!« »Ja, sofort«, ächzte der Wirt. Susan und Dorian begannen gleichzeitig zu lachen.
Zweites Buch
Die Schlangengrube von Earl Warren
Gigi Mertzbach war es, als würde sie in eine andere Welt eintreten, als sie in den Wohnwagen kam. Nur gedämpft hörte sie die Musik und den Lärm des Oktoberfestes noch. Eine geheimnisvolle Atmosphäre herrschte hier. Schwarze und düstere rote Samtbahnen mit eingestickten kabbalistischen Zeichen und den Figuren des magischen Tarot bedeckten die Wände. Eine indirekte Beleuchtung erhellte den Raum nur schwach. Ein Tier strich wie ein Schatten in der Ecke herum. Gigi erschrak, ehe sie begriff, dass es nur eine Katze war. Sie wünschte sich plötzlich dringend, hinauslaufen zu können, aber dann schaute sie in die schwarzen Augen der uralten Frau hinter dem kleinen Tisch und trat näher. Die schwarzen Augen funkelten; man konnte glauben, dass sie wirklich mehr sahen als die normaler Menschen; Dinge vielleicht, die ein Sterblicher besser nicht sehen sollte. »Guten Abend, mein Fräulein!«, sagte die Alte mit starkem fremdartigem Akzent. »Sie wollen die Zukunft erfahren? Wollen wissen, ob Sie Liebe und Glück finden werden im Leben, schönes Fräulein? Madame Zarina kann es Ihnen sagen.« »Ich will … Können Sie mir aus der Hand lesen?«, fragte Gigi schüchtern, was sonst gar nicht ihre Art war. »Natürlich, Fräulein. Geben Sie mir Ihre Hand, bitte schön!« Gigi streckte eine Hand über den Tisch und setzte sich auf den Schemel. Die Wahrsagerin ergriff Gigis Hand. Ihre war eine alte dürre Klaue. Madame Zarina trug ein schwarzes Kopftuch mit magischen Symbolen. Schmutzig graue Haarsträhnen quollen darunter hervor und riesige, goldene Ohrringe schauten halb heraus. Ihr Gesicht war alt und verrunzelt, der Mund dünn und verkniffen. An den Fingern der klauenartigen Hand funkelten viele Ringe. Ein einäugiger Rabe saß auf der Schulter der Wahrsagerin. Der Wohnwagen war überheizt und von einem schwachen Weihrauch-
duft erfüllt. Gigi schauderte unter der Berührung der Alten. Sie war ein bildhübsches sechzehnjähriges Mädchen mit einem blonden Lockenkopf und einer schlanken Figur. Erneut bedauerte sie, einer Laune gefolgt und hier hereingekommen zu sein. Das hier war nicht lustig. Erleichtert dachte sie daran, dass ihre Freunde draußen warteten. Zarina fuhr Gigis Handlinien entlang und murmelte vor sich hin. »Sie sind sechzehn Jahre alt«, sagte sie, »und Sie stammen aus einem begüterten Haus. Im letzten Jahr ist jemand aus der Familie gestorben. Kein naher Angehöriger.« »Eine Tante in Bamberg«, sagte Gigi leise und beeindruckt. Zarina nickte. »Das sehe ich in Ihrer Hand, Fräulein. Sie haben eine Liebelei. Ein hübscher junger Mann. Aber Ihre Eltern dürfen nichts davon wissen.« »Ja, ja.« »Ich muss Sie enttäuschen. Mit ihm ist es nichts Rechtes. Er schaut viel nach anderen. Sie werden sich bald von ihm trennen.« »Nein, das glaube ich nicht! Ich habe Siegfried sehr gern. Er würde nie …« »Tut mir Leid, so steht es in Ihrer Hand. Jetzt die Lebenslinie und die Schicksalslinie. Ich will Ihnen sagen, wie alt Sie werden. Ich kann … Nanu, was ist denn das?« Die alte Zarina steckte fast ihre Nasenspitze in Gigis Handfläche. Das Mädchen spürte, wie die Alte zitterte. Ein gellender Schrei kam aus ihrer Kehle. Der schwarze Rabe krächzte und schlug mit den Flügeln. Die Katze in der dunklen Ecke fauchte, ihre Augen funkelten. »Was ist?«, fragte Gigi. Die Alte ließ ihre Hand los. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Blankes Entsetzen stand in ihnen. »Nein, nein!« »Was ist denn, um Gottes willen?« »Ich – ich kann es nicht sagen. Gehen Sie! Gehen Sie schnell!« Gigi bekam Angst, aber sie zwang sich, mit fester Stimme zu sagen: »Ich will wissen, was los ist. Ich habe ein Anrecht darauf.« »Gehen Sie schnell, Kind! Schreckliches Unheil und grausamer
Tod. Dämonen ernten, und der Wahnsinn reitet im Nachtwind. Ich – ich kann nicht mehr. Ich muss für heute schließen. Ein solcher Schock.« »Glauben Sie denn, für mich ist es keiner? Wie können Sie mir solches Zeug erzählen? Wie kommen Sie überhaupt darauf?« Plötzlich öffnete sich im Hintergrund eine Tür. Ein großer, beleibter und schwarzlockiger Mann trat in den kleinen Raum. »Was geht hier vor?«, fragte er mit befehlsgewohnter Stimme. »Es wird wieder geschehen«, sagte die Alte in einem Gigi unverständlichen Romani-Dialekt, einer Zigeunersprache. »Heute Nacht. Und sie ist das Opfer.« Der Mann trat an die Tür, die nach draußen führte und öffnete sie. »Gehen Sie!«, sagte er. »Madame Zarina hat manchmal solche Anfalle. Alle guten Wahrsager haben sie. Denken Sie sich nichts dabei! Es hat nichts zu bedeuten.« »Aber – ich habe noch nicht bezahlt.« »Sie brauchen nicht zu bezahlen.« Das eingeschüchterte Mädchen verließ den Wagen. Der Zigeuner knallte die Tür hinter ihr zu. Der Schlüssel wurde herumgedreht. Gigis Freundin Sigrid und die beiden Jungen sahen ihr gespannt entgegen. »Was war?«, fragte Sigrid. »Wer hat da drinnen so geschrien?« »Ach nichts. Es war lauter Unfug. Der Alten wurde plötzlich schlecht.« »Was hat sie denn gesagt? Erzähl!« »Blödes Zeug ohne Hand und Fuß. Es war eine dumme Idee, hierher zu gehen. Kommt! Gehen wir! Ich brauche Menschen. Weg aus dieser dunklen Ecke!« »Jetzt will ich auch hinein«, sagte Gigis Freund mit Nachdruck. »Ich will wissen, was da los ist.« »Es geht nicht. Es ist geschlossen. Was wollen wir noch hier? Die Alte spinnt. Schreit und stammelt. Los, fort!« Gigi ging einfach weg. Die anderen folgten ihr und warfen sich fragende Blicke zu.
Gigi war verstört, nicht wie üblich quirlig. Siegfried holte sie ein und nahm ihren Arm. Sie machte sich frei. Es war kurz nach zwanzig Uhr. Auf dem Oktoberfest herrschte Hochbetrieb. Musik spielte, Menschen lärmten, und in den Festzelten grölten bierselige Menschen. In einer dunklen Ecke übergab sich ein Betrunkener. Gigi sah von alledem nichts. Wie eine Schlafwandlerin ging sie durch das Menschengewimmel. Die Worte der Wahrsagerin hallten in ihr nach. »Schreckliches Unheil und grausamer Tod. Dämonen ernten.« Das Mädchen fror. War es nur Unsinn, wie der beleibte Zigeuner gesagt hatte? Andererseits hatten die ersten Angaben der Wahrsagerin gestimmt. Sie musterte Siegfried scharf. Tatsächlich – er schaute jedem hübschen Mädchen nach, zog es buchstäblich mit den Blicken aus. Bisher war ihr das nie besonders aufgefallen. Jemand packte sie am Arm – Wolfgang, der Freund Sigrids. »… frage dich jetzt noch mal«, schrie er. »Gehst du mit ins Zelt?« Sie standen vor dem großen Bavaria-Bierzelt. Gigi stellte sich die stickige, verräucherte Luft drinnen vor, den Lärm und die vielen Leute, die sich drängten und angetrunken verbrüderten, das Gedränge auf der Tanzfläche, wo alle schwitzten. Plötzlich war ihr alles zuwider, was sie sonst nie gestört hatte. Sie schluchzte, wollte fort von diesen vielen Menschen, nach Hause, wo sie sicher und geborgen war. »Ihr mit euerem blöden Bierzelt!«, rief sie. »Ich habe keine Lust, mich da drinnen von irgendwelchen Widerlingen abknutschen und mir ihre Fahne ins Gesicht blasen zu lassen. Überhaupt habe ich genug von dem ganzen Oktoberfest.« »Meinst du mit den Widerlingen etwa auch mich?«, fragte Siegfried eingeschnappt. »Gerade dich. Du willst doch immer nur eines. Dabei hast du schon längst andere Mädchen im Auge. Ich weiß Bescheid über dich. Du – du …« Es fiel ihr kein passendes Schimpfwort ein. Sie drehte sich um und stürzte davon.
Siegfried wollte ihr nachlaufen, aber Wolfgang hielt ihn am Arm fest. »Bloß nicht! Sonst hat sie Oberwasser«, sagte er altklug und fragte: »Was ist denn plötzlich los mit ihr?« »Ich weiß es nicht. Sie wird sich schon wieder beruhigen.« »Hattet ihr Streit?« »Ach wo! Überhaupt nicht. Höchstens, dass ich nicht mit ihr Achterbahn fahren wollte. Aber deshalb kann sie sich ja nicht so aufregen.« »Achterbahn? Blödmann! Du hast doch gehört, was sie dir an den Kopf geworfen hat.« Die drei diskutierten noch eine Weile Gigis Verhalten, schließlich gingen sie ins Festzelt. Das Mädchen lief über den Rummelplatz, die Augen blind von Tränen. Entsetzen krampfte ihr das Herz zusammen. Blindlings eilte sie weiter. Ein paar betrunkene Burschen bildeten eine Kette, wollten sie nicht durchlassen. »He, Puppe, willst du nicht mit mir die Liegesitze testen?«, grölte einer. Die anderen lachten. Gigi gab dem Kerl einen Stoß, dass er taumelte. »Lass mich in Ruhe, verdammter Kerl! Ich kratze, ich schreie um Hilfe!« Die jungen Burschen sahen, dass Gigi völlig aufgelöst und wütend entschlossen war. Sie ließen sie los. »War ja nur Spaß«, brummte einer. »Dann eben nicht. Gibt noch genug andere Puppen hier.« Gigi eilte weiter. Sie kam an ein großes Zelt. Amalfis Monstrositätenschau stand über der kleinen Vorbühne, hinter der sich der Eingang befand. Ein Anreißer stand draußen, ein bunt gekleideter Zigeuner. Er schrie ins Mikrofon. Eine kleinere Menschenmenge hatte sich vor dem Zelt angesammelt. Wider Willen blieb Gigi stehen, fasziniert und magisch angezogen. »Sehen Sie Hervio, den Knochenmann! Einundsiebzig Tage hat er gefastet, und heute Abend wird er seinen Glaskasten verlassen. Sehen Sie, wie er Unmengen von Nahrung in sich hineinstopft und wie ein Hefeteig aufquillt! Sehen sie Lucia, die stumme Schlangen-
beschwörerin, und Herkules, den stärksten Mann der Welt! Sehen Sie Raffael Amalfi persönlich in seinen weltberühmten Glanznummern, den Mann, der weiße Mäuse und lebende Goldfische verschluckt und lebendig wieder zutage fördert! Raffael Amalfi – der größte Feuer- und Schwertschlucker der Welt. Das müssen Sie gesehen haben. Das dürfen Sie nicht versäumen. Davon können Sie Ihren Kindern und Enkeln erzählen. Hereinspaziert, herrrreinspaziert! Werden Sie Zeuge der Sensation Ihres Lebens! Die größte Monstrositätenschau der Welt.« An dem Zelt hingen Schilder, die ebenfalls die Zugnummern ankündigten. An einem blieben Gigis Blicke hängen. Es war das kleinste. Ein Pfeil zeigte um die Ecke. Madame Zarina, Wahrsagerin stand darauf. Gigi schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Sie befand sich wieder ganz in der Nähe von Madame Zarinas Wohnwagen. Ein großer beleibter Zigeuner trat auf die kleine Bühne. Ein Tusch kündigte ihn an. »Raffael Amalfi persönlich gibt Ihnen eine kleine Gratisvorstellung seines Könnens«, rief der Anreißer. Amalfi zog einen Dolch aus der Tasche. Als er ihn gerade in den offenen Mund schieben wollte, traf sein Blick den Gigi Mertzbachs. Es war der beleibte Zigeuner, der Gigi aus dem Wohnwagen Madame Zarinas gewiesen hatte. Das Mädchen lief davon. Raffael sah ihr nach. Gigi stürzte weg vom Rummelplatz, zwischen den Wohnwagen der Schausteller hindurch auf den dunklen Teil der Theresienwiese. Die Lichter, der Lärm und der Trubel blieben hinter ihr zurück. Sie atmete auf. Die Abendluft kühlte ihr Gesicht. Sie wusste gar nicht, was in sie gefahren war. Ein wenig dummes Gerede von einer schrulligen Wahrsagerin, und schon drehte sie durch. Sie zwang sich zu einem Lachen. Was sollten Siegfried und die anderen von ihr denken? Da raschelte es im Gebüsch. Gigi wollte sich einreden, dass es ein Tier war oder ein Betrunkener, der hier seinen Rausch ausschlief,
aber ihr Herz hämmerte. Eisige Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie bebte an allen Gliedern, spürte, dass etwas näher kam, und sie konnte sich nicht von der Stelle rühren. Ihre grässliche Angst war stärker als alle Vernunft. Gellend kreischte sie los. Raffael mit drei Männern seiner Sippe hörte die Schreie. Zu viert waren sie dem Mädchen gefolgt. Der Zigeuner erbleichte unter der braunen Haut. Er winkte den anderen. Sie rannten schneller. Ein letzter furchtbarer Schrei, dann war es still. Vom Oktoberfest hallte eine Schlagermelodie herüber. Die Zigeuner blieben unter den Bäumen stehen. Einer gab Raffael Amalfi die Taschenlampe, und das Sippenoberhaupt leuchtete den Boden ab. Matteo Amalfi, Raffaels ältester Sohn, packte ihn am Arm. »Vater, hörst du es?« Die Zigeuner lauschten. Sie hörten ein Krachen und Schmatzen. Zögernd nur schritten sie in die Richtung. Raffael knipste die Taschenlampe an. Geraschel in den Büschen, als würde etwas weghuschen. Im Lichtkegel der Taschenlampe sahen die Zigeuner, dass Gras und Laub zertrampelt und blutbefleckt waren. Eine große Blutlache stand auf dem Boden und zeugte von einem entsetzlichen Geschehen. »Es ist wieder passiert«, flüsterte Matteo. »Was sollen wir jetzt tun, Vater?« Raffael starrte auf die Blutlache. »Was die Sippe angeht, muss die Sippe unter sich ausmachen«, sagte er. »Der Täter wird nach unseren Gesetzen gerichtet. Kein Außenstehender darf davon erfahren.« »Ja«, murmelten die anderen. »Das ist das Beste. Sonst kommen wir allesamt ins Gefängnis.« »Fort!«, befahl Raffael. »Niemand darf uns hier sehen. Außer der Blutlache ist nichts zurückgeblieben. Keiner kann uns mit dieser Tat in Verbindung bringen.« Die Zigeuner schlichen davon. Als ein paar Männer, die wie sie die Schreie gehört hatten, herbeieilten, waren sie schon fort. Die Männer sahen die Blutlache nicht. Sie hielten das Ganze für einen dummen Scherz und kehrten zum Oktoberfest zurück.
In der Nacht ging ein Wolkenbruch nieder und wusch das Blut fort. Gigi Mertzbach blieb spurlos verschwunden.
Dorian Hunter und Coco Zamis bummelten über den Rummelplatz in Hampstead. Coco war munter und ausgelassen. Sie wollte Unsinn treiben, sich entspannen und ablenken. Aus einer Laune heraus hatte sie den Dämonenkiller gebeten, mit ihr nach Hampstead zu gehen. Das Fest des Schutzpatrons von Hampstead wurde wie jedes Jahr festlich begangen. Es war November. Der Wind blies kalt, und am Abend kroch der Londoner Nebel durch die Straßen. Geschneit hatte es bisher noch nicht. »Sieh mal, Dorian, die Schießbude dort! Meinst du, dass du etwas triffst?« »Das wird sich gleich herausstellen.« Dorian zahlte und legte das Gewehr an. Die Röhrchen von ein paar roten Papierrosen platzten. Dorian überreichte die Rosen Coco mit großer Geste und tiefer Verbeugung. Lachend hängte sie sich bei ihm ein. Wer sie so sah, hätte sie für ein unbeschwertes Liebespaar gehalten. »Früher als kleines Mädchen wünschte ich mir nichts sehnlicher, als einmal genug Geld zu haben, um auf dem Prater in Wien alles kaufen zu können, was ich wollte. Das wäre ein Fest gewesen! Jetzt habe ich genügend Geld, aber ich mache wenig Gebrauch davon, weil mir an dem Zeug nicht mehr viel liegt.« »Das ist wohl meistens so«, sagte Dorian. Sie befanden sich etwas abseits vom größten Trubel. Sein Blick fiel auf einen Wohnwagen. »Sieh mal, Coco, eine Hellseherin! Madame Zarina sagt Ihnen die Zukunft. Handlesen fünfundzwanzig Pence, Kartenlegen und Kristallkugel vierzig Pence.« »Das will ich mir ansehen, Dorian. Da gibt es bestimmt etwas zu lachen.« Coco machte ein todernstes Gesicht und sagte mit hohler Stimme: »Sie werden einen großen blonden Mann kennenlernen und sieben Kinder mit ihm haben. Hüten Sie sich an jedem Donners-
tag, an dem Ihnen eine schwarze Katze über den Weg läuft, und misstrauen Sie Leuten, die schwarze Haare, grüne Augen und Schnurrbärte haben!« Lachend gingen sie zum Wagen. Dorian klopfte. »Herein!«, rief eine krächzende Stimme. Sie traten ein. In dem Wagen war es sehr warm. Es roch nach Weihrauch, und die Wände waren in Schwarz und Rot gehalten. Kabbalistische Stickereien und Tarotfiguren bedeckten die Wandbehänge. Eine schwarze Katze und ein einäugiger Rabe vervollständigten das Interieur. An einem kleinen Tischchen saß eine uralte hässliche Frau mit Kopftuch, Ohrringen und Ringen. Sie sah wie die Großmutter aller Hexen aus. »Einer nach dem anderen«, sagte sie. »Was es hier zu hören gibt, ist nicht für fremde Ohren bestimmt.« »Wir kennen uns sehr gut«, sagte Dorian und zog Coco an der Hand herein. »Keine Sorge, Madame Zarina!« »Meinetwegen. Aber ich warne Sie! Ich sage die Dinge, wie sie sind. Und ich nehme keine Rücksicht, wenn ich etwas sehe, was Sie vielleicht geheim halten wollten.« »Das Risiko gehen wir ein«, antwortete Dorian. Er war eigenartig berührt und bedauerte, dass er keine gnostische Gemme mitgenommen hatte. Cocos Augen sagten ihm, dass auch sie angerührt war. Als frühere Hexe, die immer noch über magische Fähigkeiten verfügte, hatte sie ein feines Gespür für übernatürliche Dinge. »Ich zuerst«, sagte Coco und nahm Platz. Dorian zog einen Schemel von der Wand herbei. Er schaute den einäugigen Raben an, der missbilligend krächzte. »Ahasver mag Sie nicht«, murmelte die Alte. »Was soll es sein?« »Die Kristallkugel«, sagte Coco. Die Alte nahm die Kristallkugel und schaute hinein. »Ich brauche absolute Ruhe, um mich konzentrieren zu können. Geben Sie mir Ihre Hand, junge Frau! Ich brauche den körperlichen Kontakt mit Ihnen.«
Zarinas Augen wurden starr. Sie verfiel in Trance. Dorian glaubte nicht, dass es ein Schwindel war, aber er war sich nicht sicher. »Sie haben ein Kind«, sagte die Alte zu Coco. »Es ist erst vor wenigen Wochen zur Welt gekommen. Ihr Begleiter ist der Vater. Ihre Familie … hm, ich kann nichts sehen. Alles verschwimmt. Aber es waren keine gewöhnlichen Leute.« Das konnte man wohl sagen. Coco Zamis war in einer Dämonenfamilie geboren und aufgewachsen. »Sagen Sie mir etwas über meine Zukunft, Madame Zarina! Meine Vergangenheit kenne ich.« »Ihre Zukunft ist eng mit der Ihres Begleiters verknüpft. Er lebt sehr gefährlich, denn er hat mächtige Feinde. Schwarze Magie …« Die Worte Zarinas kamen nun abgehackt, jede Silbe bereitete ihr Mühe. »Dämonen trachten euch nach dem Leben. Das Kind … Schwarze Schatten liegen über der Zukunft. Eine Schlange nähert sich dem Kind. Sie ist das Symbol der Bedrohung. Die Schlange will das Kind auffressen. Verschlingt sie es wirklich? Ich kann es nicht erkennen. Glas birst, ohne wirklich in Scherben zu zerbrechen. Blut, viel Blut fließt. Lautlose Worte aus einem stummen Mund vereinen sich zu einem Fluch.« Zarina zuckte konvulsivisch. Der Rabe krächzte und flatterte. Die Katze in der Ecke fauchte und machte einen Buckel. »Was ist mit meinem Kind?«, schrie Coco. »Sagen Sie es mir! Was ist mit meinem Kind?« Madame Zarina röchelte und stöhnte. Sie war nicht mehr bei Bewusstsein, saß aber aufrecht auf ihrem Stuhl. »Wehe den Verfluchten!«, kreischte sie. Dorian wollte dem grausamen Spiel ein Ende machen. Er riss Cocos Hand aus der der Alten, deckte die Kristallkugel mit dem Tischtuch zu und warf eine Pfundnote auf den Tisch. »Komm, Coco! Wir gehen. Das hier ist nichts für dich.« »Ob sie etwas weiß?« »Keine Ahnung. Nichts Genaues auf jeden Fall. Und tun kann sie schon gar nichts. Gehen wir!« Da flog die Tür im Hintergrund auf. Ein großer, beleibter Zigeuner stürzte herein. Seine dunklen Augen funkelten. Anklagend deutete
er auf Dorian und brüllte: »Was haben Sie mit Zarina gemacht?« »Nichts. Sie wollte uns weissagen.« »Sie lügen, Sie elender Schuft! So habe ich sie noch nie gesehen.« Er rüttelte die Alte an der Schulter. »Zarina! Zarina!« Der Blick Zarinas wurde langsam wieder klar. Schlaff sank sie auf dem Stuhl zusammen. »Wasser!«, röchelte sie. »Es war furchtbar. Schick die beiden weg, Raffael! Ich will sie nicht mehr sehen.« Raffael drohte Dorian mit der Faust. »Raus! Aber schnell! Sonst kriegen Sie einen Tritt in den Hintern.« »Von wem? Von Ihnen? Sie haben überhaupt keinen Grund, hier so herumzuschreien. Wir sind zur Wahrsagerin gekommen, haben gefragt und bezahlt.« Coco war geschockt von dem, was sie gehört hatte. Sie stützte sich auf den Arm des Dämonenkillers. In ihren Augen flackerte die Angst. »Madame Zarina«, rief sie, »was haben Sie gesehen? Sagen Sie es mir! Sie sollen gut bezahlt werden.« »Jetzt reicht es aber!«, schimpfte Raffael. Er nahm eine Trillerpfeife aus der Tasche und stieß einen schrillen Pfiff aus. »Ihr glaubt wohl, ihr könnt euch hier alles erlauben?« Als er drohend die Faust vor Dorians Gesicht schüttelte, packte der sie mit der linken Hand und drückte sie herunter. »Kommen Sie mir nicht so, Mann!« Beide Türen flogen auf. Drei kräftige Männer drängten in den Wohnwagen. Ihre Ähnlichkeit mit dem beleibten Raffael Amalfi war nicht zu verkennen. Es waren krausköpfige, dunkelhäutige Zigeuner mit blitzenden Augen. »Was machst du mit unserem Vater, du Schurke?« Einer packte Dorian am Kragen. Der ließ Raffaels Hand los, ergriff die Hand des jungen Mannes und verdrehte sie im Gelenk, bis der Junge mit einem kurzen Aufschrei in die Knie ging. Dorian gab ihm einen Stoß, und der Junge taumelte zurück. Sofort blitzten Messer in den Händen der drei Amalfi-Söhne. Der Dämonenkiller ballte die Fäuste und ging in Kampfstellung. Lang-
sam und katzenhaft schlichen die drei Amalfis näher. Raffael Amalfi, der Vater und Sippenhäuptling, ging dazwischen. »Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden? Die Messer weg!« Er schlug seinem Ältesten ins Gesicht, als ihm nicht gehorcht wurde. Die drei Zigeuner ließen die Messer verschwinden. »Wir sind wohl alle etwas erregt und voreilig gewesen«, sagte Raffael in dem Bemühen zu schlichten. »Was ist geschehen, Zarina?« Die Alte hatte sich wieder etwas erholt. »Nichts«, sagte sie. »Ungünstige Einflüsse beim Wahrsagen. Die beiden können nichts dazu. Sie haben sich ihr Schicksal nicht ausgesucht. Lasst sie gehen! Ich kann ihnen ohnehin nichts mehr sagen.« Aber Dorian wollte nicht einfach wie ein begossener Pudel abziehen. Draußen waren Stimmen zu hören. Das Geschrei im Wohnwagen hatte Neugierige angelockt. Ein älterer Mann steckte den Kopf in den Wagen. Raffael scheuchte ihn mit einem Wink weg. »Das sind ja schöne Sitten«, sagte Dorian. »Mein Name ist Dorian Hunter. Ich bin Reporter. Wer sind Sie eigentlich?« Dorian sah das Erschrecken in ihren Augen. Mit der Presse wollten sie sich nicht anlegen. »Ich bin Raffael Amalfi«, sagte der große beleibte Mann, »und der Führer einer achtundzwanzigköpfigen Zigeunersippe. Wir haben eine Monstrositätenschau und sind schon durch die ganze Welt gezogen. Zarina gehört zu uns. Sie ist unser Mütterchen.« Es wurde nicht ersichtlich, ob das eine Verwandtschaftsbezeichnung war oder ein Ehren- oder Beiname. »Eine Sideshow also«, meinte Dorian. »Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mir die einmal anschaue?« Raffael schluckte. »Warum sollte ich? Kommen Sie nur! Sie haben freien Eintritt. Wir haben nichts zu verbergen.« Er grinste jovial. »Vielleicht können Sie einen interessanten Artikel über uns in Ihre Zeitung bringen? Nehmen Sie uns den Auftritt vorhin nicht übel! Wir sind ein wenig heißblütig. Jemand hat einmal versucht, Zarina zu berauben, unser Mütterchen, das über hundert Jahre alt ist.« Dorian warf der Alten einen skeptischen Blick zu. »Ich bin kein
nachtragender Mann«, sagte er, »wenigstens nicht, was Kleinigkeiten angeht. Vergessen wir die Sache. Ihre Schau werde ich mir gerne ansehen.« Er nickte den Amalfis zu und verließ mit Coco den Wagen. Die drei Amalfi-Söhne runzelten die Stirn und machten alles andere als freundliche Gesichter. Vor dem Wagen hatten sich ein paar Neugierige angesammelt. Als Dorian und Coco ganz friedlich und harmlos herauskamen, waren sie sichtlich enttäuscht. Dorian führte Coco durch die Menge. Er sah ein Zelt mit der Aufschrift Amalfis Sideshow, blieb mit Coco bei einer Bude stehen und sah und hörte dem Ausrufer zu. »Herrrrreinspaziert – herrrreinspaziert! Das dürfen Sie nicht versäumen. Das müssen Sie gesehen haben. Ihre Nachkommen werden Sie tadeln, wenn Sie ihnen nicht von der Amalfi-Monstrositätenschau berichten können. Sehen Sie Gunter, den Wolfsmenschen, Sheila, die Bauchtänzerin ohne Unterleib, und Mangus, den Glasfresser! Sehen Sie Herkules, wie er daumendicke Ketten zerreißt, und den Knochenmann Hervio!« In diesem Stil ging es weiter. »Das werde ich mir ansehen«, sagte Dorian. »Aber wenn dir nicht danach ist, ein andermal. Wollen wir uns irgendwo in ein Pub setzen, oder soll ich dich nach Hause bringen?« »Es geht mir schon besser.« Coco lächelte. »Es war nur der Schock, weißt du? Ich mache mir immer wieder Sorgen wegen des Kindes.« »Das ist wohl nur natürlich«, murmelte Dorian. »Gehen wir ruhig in diese Monstrositätenschau. Vielleicht ist sie ganz interessant. Es ist ewig her, seit ich so etwas zum letzten Mal gesehen habe.« Dorian hatte einen Hintergedanken. Er hatte so eine Ahnung, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuginge, als könnten dämonische Kräfte mit im Spiel sein. Zunächst wurde Hervio Masto gezeigt, der Knochenmensch. Er war so dürr, dass er wie ein Skelett aussah, und lag in einem Glaskasten, der an einen Sarg erinnerte. Dorian schätzte, dass er nicht
mehr als dreißig Kilo wog. »Seit achtundsechzig Tagen hat Hervio Masto keine flüssige oder feste Nahrung mehr zu sich genommen«, verkündete der Ansager auf der Bühne. »Sehen Sie die Bestätigungen eines Arztes und eines vereidigten Notars!« Er schwenkte zwei Papiere. »Für drei Pence können Sie in diese Papiere Einblick nehmen. Hervio Mastos Hungerkur nähert sich seinem Ende. Sein Rekord steht auf einundsiebzig Tagen. Wird er ihn diesmal überbieten? Wenn Hervio Mastos Hungerkur endet, holt er in Stunden alles nach, was er in Wochen versäumte. Wir werden Sie rechtzeitig informieren. Sie können Zeuge werden, wie er sein Gewicht verdoppelt und verdreifacht, wie seine Gliedmaßen aufquellen.« Die Zuschauer auf den Bänken starrten. Geraune wurde laut, Dorian und Coco saßen vorn an der Bühne. Hervio Masto begann, sich in seinem Glaskasten zu verrenken. Er war nicht nur ein Hungerkünstler, sondern auch ein Schlangenmensch. Die Verrenkungen waren unbeschreiblich. Er konnte den Kopf zwischen den Beinen hindurch stecken und hinten wieder über die Schulter schauen. »Wie seine Wirbelsäule das aushält, ist mir unbegreiflich«, sagte Coco. Dorian hob nur die Schultern. Hervio Masto verflocht seine Arme und Beine so, dass es aussah, als hätte er einen Knoten hineingebracht. Dazu streckte er die Zunge spiralenförmig gewunden aus dem Mund. Coco schauderte. »Igitt, igitt!« Nach Hervio Masto kam Gunter, der Wolfsmensch. Er war über und über behaart und zerriss dem Ansager knurrend die Hose. Mangus, der Glasfresser, verspeiste einen halben Gläserschrank und einen Gutteil eines Porzellanladens dazu. »Auf dem College kannte ich einen Burschen, der tatsächlich Biergläser aß«, sagte Dorian. Die drei Amalfis traten mit einer Messernummer auf. Es waren die jungen Männer, die Dorian im Wagen der Wahrsagerin mit dem Messer bedroht hatten. Als er jetzt sah, wie sie damit umgehen
konnten, überlief es ihn nachträglich noch kalt. Der Auftritt von Lucia Amalfi, der Schwester der drei, bildete einen Höhepunkt. Lucia, ein bildhübsches Mädchen von achtzehn Jahren, war von Geburt an stumm. Mit den Schlangen verstand sie sich aber, als sei sie eine von ihnen. Die geschuppten Reptilien reagierten auf jeden Blick und jeden Wink. Ein besonders schönes Exemplar einer Schwarzen Mamba war um Lucias Hals gewunden. Die Schlange hieß Sartana. Sie konnte Zähl- und Rechenkunststücke vollführen und in einem einfachen Morsecode klappern. »Lucia gibt ihr Zeichen. Das ist ganz klar«, sagte Dorian. »Wahrscheinlich«, antwortete Coco. »Aber es ist faszinierend. Ich hätte nie geglaubt, dass man eine Schlange derart abrichten kann.« Der Ansager fragte: »Wieviel ist fünf mal sechs, Sartana?« Die Schwarze Mamba züngelte dreißig Mal. Die Zuschauer zählten mit. Lauter Beifall erscholl. Zum Schluss wiegten alle sieben Schlangen zu den Klängen eines Wiener Walzers die Oberkörper. »Dass diese Schlangen ihre Giftzähne noch haben, glaube ich nicht«, sagte Dorian. »Da kann mir der Ansager viel erzählen.« Als hätte er diesen Einwand gehört, rief der Ansager mit Stentorstimme: »Und nun der Beweis, dass Lucias Schützlinge tatsächlich hochgiftig sind. Nur einmal in der Woche treten wir diesen Beweis an, aus naheliegenden Gründen, denn trotz unserer Vorliebe für Hammelfleisch wollen wir uns nicht ausschließlich davon ernähren. Hahahaha!« Ein blökender Hammel wurde von zwei jungen Zigeunern auf die Bühne gezerrt. Lucia deutete auf ihn. Ihre Augen loderten. Die Schlangen glitten auf den Hammel zu, richteten sich auf und ließen die Köpfe hin und her pendeln. Lucias Hand schlug nach unten. Die Schlangen stießen zu. Der Hammel blökte jämmerlich. Er begann zu zucken und fiel um. Tosender Beifall verabschiedete Lucia. »Na?«, fragte Coco. »Der Hammel war schon vorher vergiftet. Oder er wurde mit einer giftigen Nadel gestochen oder etwas Ähnliches«, sagte Dorian überzeugt.
Der bärtige Muskelmann Herkules zerriss brüllend dicke Ketten und stemmte Zentnergewichte. Er hob zwei Männer aus dem Publikum hoch und trug sie ein paar Mal über die Bühne. Dann kamen Pancho Seguila und seine Liliputaner. Pancho Seguila war ein Nadelkopf. Auch seine Hände und Füße waren verkümmert; er konnte sich nur an Krücken fortbewegen. Sein Rumpf und die Arme und Beine waren normal entwickelt wie die eines durchschnittlichen Mannes. Der Kopf aber war nicht größer als ein Apfel, und an den sich verdünnenden Handgelenken saßen die Füßchen und Händchen eines dreijährigen Kindes. »Das ist ja ein Freak!«, sagte Coco erstaunt. Sie hatte Recht. Es war einer der furchtbar bestraften Ausgestoßenen der Schwarzen Familie, die es überall in der Welt gab. Sie waren früher Dämonen gewesen, die wegen eines Vergehens aus den Reihen der Schwarzblütigen verbannt und mit extremen körperlichen Mängeln bestraft worden waren. Der Freak ließ die Liliputaner tanzen und Späße machen. Nach diesem Auftritt kam der absolute Höhepunkt des Abends: Raffael Amalfi. Mehrere Tuschs begleiteten seinen Einzug. Er nahm den Applaus mit würdevollem Nicken entgegen. »Raffael Amalfi!«, rief der Ansager immer wieder. Amalfi ließ sich von ein paar Zuschauern mit Ketten und Lederriemen fesseln. Zwanzig Pfund sollten die Zuschauer erhalten, wenn es ihm nicht gelang, sich innerhalb von zehn Minuten zu befreien. Nach sieben Minuten hatte sich der Künstler befreit. »Will es noch jemand versuchen?«, rief Raffael Amalfi und sah sich im Publikum um. »Wollen mal sehen, ob er auch mit einem guten doppelten Seemannsknoten fertig wird«, sagte Dorian und erhob sich. Er trat auf die Bühne und ließ eine Zehn-Pfund-Note sehen. Lächelnd hielt ihm Raffael Amalfi die Hände hin. Er verriet mit keinem Zeichen, dass er Dorian bereits kannte. Dorian überzeugte sich zunächst einmal davon, dass der Strick nicht präpariert war. Dann fesselte er Raffaels Hände und Füße mit mehreren komplizierten Knoten.
»Wollen Sie nicht meinen Körper auch noch verschnüren?«, fragte Amalfi. »Nicht nötig. Wenn Sie diese Fesseln innerhalb zehn Minuten abstreifen, können Sie die zehn Pfund haben.« Raffael Amalfi kam ins Schwitzen. Er schaffte es buchstäblich in letzter Sekunde. Jovial klopfte er Dorian Hunter auf die Schulter. »Mein Kompliment, Sir! So schwer hat es mir noch keiner gemacht. Wo haben Sie denn den Bertoni-Knoten gelernt?« »Ich komme viel herum«, sagte Dorian und kehrte auf seinen Platz zurück. Er hatte nicht geglaubt, dass Raffael Amalfi es schaffen würde. Coco betrachtete ihn amüsiert. »Mir scheint, dein Gesicht ist irgendwie länger geworden.« »Ja, um genau zehn Pfund.« Raffael stieß sich nun ein scharfes Schwert durch den Schlund bis in den Magen. Zuvor hatte die Klinge ein Stück Stoff zerteilt. Er verzehrte eine Handvoll Nägel, eine Schale mit Rasierklingen und als Krönung zwei Hufeisen. Den Zuschauern traten die Augen aus dem Kopf, aber das war noch gar nichts. Amalfi schluckte ein halbes Dutzend weißer Mäuse und einen lebenden Goldhamster. Sie hatten einen Faden am Bein; nach ein paar Minuten zog er sie lebend wieder aus seinem Magen. Der Aufenthalt dort schien ihnen nicht geschadet zu haben. »Unglaublich!«, staunte Coco. »Und nun kommt Raffael Amalfis Goldfischnummer!«, verkündete der Ansager. Amalfi schluckte das Wasser aus einem Dreißig-Liter-Goldfischglas mitsamt vierundzwanzig lebenden Goldfischen. Sein ohnehin schon dicker Bauch schwoll wie eine Kugel an. Jetzt staunte auch Dorian. Allein schon die Flüssigkeitsmenge, die Amalfi in sich aufnahm, war enorm. Raffael Amalfi ging auf der Bühne umher. Der Ansager machte ein paar Späßchen. »Jetzt sehen Sie Raffael Amalfi als lebende Goldfischfontäne!«, verkündete er. »Interessenten können Goldfische für achtzig Pence das
Stück kaufen. Das ist wirklich spottbillig für einen Goldfisch, der im Bauch des großen Raffael Amalfi war.« Amalfi spie das Wasser samt Goldfischen in einer hohen Fontäne bis ans Zeltdach hinauf. Amalfi bekam einen Sonderapplaus, als er mit den letzten vier Litern den Ansager tropfnass spritzte. Das Publikum raste. Helfer lasen die zappelnden Goldfische von der Bühne auf. »Donnerwetter!«, sagte Dorian anerkennend. Der Ansager zog sich eilends um. »Jetzt erleben Sie Raffael Amalfi als Flammenwerfer!«, rief er dann. Amalfis Söhne brachten eine Gasflasche. Seitlich von der Bühne wurde die Zeltplane entfernt, damit die Hitze entweichen konnte. Amalfi hängte sich an die Gasflasche und drehte den Verschluss auf. Wieder schwoll sein Bauch gewaltig an und sein Kopf wurde feuerrot. »Gleich fliegt er wie ein Luftballon davon!«, rief ein Zuschauer, und einige Leute lachten. Amalfi stand auf der einen Seite der Bühne. Er gab ein Zeichen. Sein Sohn Matteo knipste das Gasfeuerzeug an. Ein Trommelwirbel schwoll an, brach abrupt ab. Raffael machte ein weiteres Zeichen. Er begann das Gas auszublasen, und Matteo entzündete es. Amalfi spie Feuer, manchmal war es nur eine kleine Flammenzunge, dann schoss ein mächtiger Feuerstoß bis zu drei Metern Länge aus seinem Mund hervor. Zuletzt wandte Raffael den Kopf nach oben und spie eine wahre Feuerwolke aus. Sein Gesicht war erhitzt und rot. Die Narbe auf der rechten Wange, die man sonst kaum sah, trat wie ein weißes gezacktes Band hervor. Die Zuschauer rasten und trampelten. Es regnete Münzen. Raffael nickte der Menge zu und winkte. Ein Tusch noch, dann trat er ab. Die Zeltwand wurde geschlossen. Die letzte Nummer folgte: Sheila, die Bauchtänzerin ohne Unterleib. Es stellte sich heraus, dass Sheila sogar einen sehr gut geformten und spärlich bekleideten Unterleib hatte; sie vermochte lediglich, die Bauchdecke einzuziehen und die Hüftgelenke hochzuschieben, dass es von vorn tatsächlich so aussah, als begannen ihre Beine
am Magen. Mit der schwatzenden, lachenden Menge gingen Dorian und Coco hinaus. Raffael Amalfi sah ihnen hinter dem Bühnenvorhang nach. Matteo, sein ältester Sohn, stand neben ihm. Sein schnurrbärtiges Gesicht hatte einen wilden Ausdruck. »Sollen wir uns um ihn kümmern?«, fragte er. »Sollen wir ihm vielleicht ein paar Knochen brechen?« Raffael winkte ab. »Nein, Matteo. Wenn ich es haben will, werde ich es sagen.« Dorian und Coco hatten den Ausgang erreicht. Tief atmeten der große Mann und die schöne schwarzhaarige Frau die kalte Luft ein. Im Zelt war es recht stickig gewesen. »Es war eine sehr interessante Schau«, sagte Coco. »Das Eintrittsgeld reut mich wirklich nicht. Aber was jetzt?« »Eine Monstrositätenschau wie die der Amalfis muss bekannt sein«, antwortete Dorian. »Wir werden den Computer der Mystery Press befragen.«
In der Jugendstilvilla in der Baring Road brannte nur im ersten Obergeschoss in zwei Fenstern Licht. Dorian fuhr den Rover in die Garage und ging mit Coco nach oben. Es war mittlerweile kurz nach neunzehn Uhr und schon dunkel. Trevor Sullivan und Miss Martha Pickford saßen vor dem Fernseher. Miss Pickfords Stricknadeln klapperten. »Dieses Fernsehprogramm ist eine Zumutung«, schimpfte Sullivan. »Und dafür zahlt man nun Gebühren!« »Weshalb sehen Sie es sich denn dann an, Trevor?«, fragte Coco. »Was soll ich denn sonst tun? Den ganzen Tag arbeitet man hart, und wenn man am Abend ein wenig Entspannung und Abwechslung sucht, wird einem so ein Käse vorgesetzt. Eine Schande ist das!« Trevor Sullivan, ein älterer Mann mit einem Geiergesicht, der frühere Leiter der inzwischen aufgelösten Inquisitionsabteilung, hatte
ein cholerisches Temperament. »Wenn das Fernsehen Sie nicht interessiert, werden Sie sicher gern bereit sein, über den Computer ein paar Daten aus unserem Archiv abzufragen«, sagte Dorian. »Es geht um eine Zigeunersippe namens Amalfi. Das Oberhaupt ist ein gewisser Raffael Amalfi. Er reist mit einer Monstrositätenschau durch die Lande.« Sullivan wollte schon ablehnen, da stutzte er. Ihm fiel etwas ein. »Amalfi, Amalfi … Den Namen habe ich doch schon irgendwo einmal gehört. Haben Sie etwas Bestimmtes im Auge, Dorian?« Mit einem Seitenblick auf Miss Pickford, zu der er nicht gerade ein ungetrübtes Verhältnis hatte, sagte Dorian: »Das besprechen wir besser draußen oder gleich in den Räumen der Mystery Press.« Trevor Sullivan brummelte noch etwas wegen des Fernsehprogramms, dann stand er auf und folgte Dorian Hunter. Miss Pickford blieb mit ihrem Strickzeug allein vor dem Fernseher zurück. Dorian ging mit Trevor Sullivan nach unten. Im zweiten großen Keller war eine Presseagentur eingerichtet worden, die Mystery Press. Sie war nichts Großartiges, mehr eine Art Beschäftigungstherapie für Trevor Sullivan, wie Dorian einmal im Spott zu Coco gesagt hatte. Die Wände bedeckten Regale mit Karteikästen voller Akten und Schnellhefter. In der Mitte des Raumes stand ein großer Vielzwecktisch mit Zeichengeräten, einem Film- und einem Diaprojektor. Dem Eingang gegenüber hing eine große Weltkarte von vier mal acht Metern. Einige Nadeln in verschiedenen Farben bezeichneten die Orte, an denen sich Fälle abspielten oder abgespielt hatten, die mit dämonischem Wirken zu tun hatten. Links vom Eingang stand Trevor Sullivans Arbeitstisch mit einem Rechner, daneben Telefon- und Faxanlage. Trevor Sullivan und der Zwergmann Donald Chapman erledigten die bei der Mystery Press anfallenden Aufgaben größtenteils allein. Sullivan hatte sich mit der Mystery Press einen alten Wunsch erfüllt. Im Grunde seines Wesens war er ein Schreibtischmensch, dem die praktische Dämonenbekämpfung nicht sehr lag. »Raffael Amalfi«, murmelte Trevor Sullivan und tippte den Namen ein.
Der Computer arbeitete, nach einigen Sekunden schon erschienen Angaben auf dem Monitor. Sullivan überflog sie. »Gar nicht so wenig. Es liegt einiges Material vor. Ich wusste es doch!« »Soll ich Ihnen helfen, die Sachen herauszusuchen?«, fragte Dorian. »Bloß nicht! Sie haben mir das letzte Mal die Akten durcheinander gebracht. Ich werde etwa zwei Stunden brauchen. Sehen Sie fern, oder lesen Sie ein Buch!« Dorian ließ Sullivan allein und schaute sich mal wieder seine Reliquien- und Dokumentensammlung im Nebenraum an. Folterinstrumente und andere Dinge, die Dorian von allen Orten der Welt mitgebracht hatte, hingen an der Wand oder waren in Vitrinen untergebracht. Auch Marvin Cohens Pistole befand sich bei der Sammlung. Dorian nahm sie aus der Vitrine, betrachtete sie, strich über das kühle Metall. Wie oft hatte er sich über Marvin Cohen geärgert, diesen groben und brutalen, polternden Kerl, der innerlich auch seine weichen Seiten gehabt hatte. Jetzt, nachdem er tot war, gestorben im Kampf gegen die Dämonen, zusammen mit Dorian Hunters Frau Lilian, die er geliebt hatte, trauerte Dorian um ihn. Die Zeit verging schnell. Als Trevor Sullivan die Tür öffnete, wollte Dorian kaum glauben, dass schon zwei Stunden vergangen waren. Er ging hinüber in den anderen Raum. »Gar nicht so wenig Material«, sagte Sullivan. »Ich will das Wichtigste zusammenfassen.« Dorian steckte sich eine Players an und wartete. »Die Amalfis sind im letzten Jahr von Spanien nach Deutschland gereist und haben sich von Calais aus mit ihren Wagen nach England schiffen lassen. Aus früheren Jahren existieren keine Berichte, aber in diesem Jahr hat es vier eigenartige Vorfälle gegeben. Jedes Mal verschwanden eine oder auch mehrere Personen. In einem Dorf in der Nähe von Madrid verschwand eine Frau unter mysteriösen Umständen, nachdem sie die Monstrositätenschau der Amalfis besichtigt hatte. Man hörte ihre Schreie, aber als beherzte Männer hinzueilten, fanden sie nur ein wenig Blut abseits vom Weg. Die Amal-
fis bestritten, dass sie etwas von dieser Frau wüssten, die im Übrigen nie mehr auftauchte. In Nantes verschwanden zwei Geschwister, ein Junge und ein Mädchen, dreizehn und vierzehn Jahre alt. Sie hatten von ihrem älteren Bruder das Geld erbettelt, um die Amalfi-Schau besuchen zu dürfen. Sie betraten sie am hellen Nachmittag und wurden nie mehr gesehen. Es gab damals einen ziemlichen Auflauf, doch den Amalfis war nichts nachzuweisen, obwohl ihre Wagen und alles durchsucht wurden. Sie hatten es daraufhin ziemlich eilig, Frankreich zu verlassen.« Sullivan sah Dorian an, doch der sagte noch nichts. »In München verschwand eine gewisse Gigi Mertzbach vom Oktoberfest. Sie hatte eine Wahrsagerin besucht, die zu den Amalfis gehört. Ihre Freunde sagten, sie sei hinterher völlig verstört gewesen. Wieder spurloses Verschwinden und keine Anhaltspunkte.« »War die Wahrsagerin Madame Zarina?« Trevor Sullivan schlug nach. »Ja. Nun weiter im Text! In Calais ging eine vierköpfige Familie auf die Fähre und kam nie in England an. Der Wagen blieb auf der Fähre zurück. Ein Zeuge meldete sich, der einen Streit zwischen der Familie und den Amalfis beobachtet haben wollte. Einer der Zigeuner hatte mit dem Wohnwagen eine Delle in den Wagen der Familie gefahren. Ein anderer Zeuge behauptete, gesehen zu haben, dass der kleine Sohn der Familie kurz vor dem Anlegen in Dover mit einer von den Schlangen Lucia Amalfis gespielt hatte. Dieser Zeuge ist aber nicht sehr glaubwürdig. Er war nämlich stockbetrunken und redete krauses Zeug. Die Schlange sei gewachsen und geschrumpft, habe sogar einmal ein Pferdegebiß gefletscht. Die Polizei meinte, der Zeuge sei nicht nur betrunken, sondern auch seekrank gewesen.« »Die Polizei hat meistens solche Erklärungen, wenn übernatürliche Dinge im Spiel sind«, sagte Dorian. »Das klingt ganz nach dem Wirken von Dämonen. Die Amalfis sollten wir uns näher ansehen.« Er trat zu der Weltkarte, nahm eine rote Stecknadel aus einem Kasten und steckte sie in Hampstead ein. Rot – das bedeutete Vorfälle, die ziemlich sicher mit Dämonen zu tun hatten. »Heute ist es zu spät«, sagte Dorian, »aber morgen werde ich mich
bei den Amalfis umtun.«
Die Amalfis hausten in zwei Wohnwagen und einem umgebauten Bus. In einem vierten Wagen wurden das Zelt und die Gerätschaften mitgeführt. Die alte Zarina bewohnte den kleinsten Wohnwagen allein; im anderen und im Bus drängten sich siebenundzwanzig Personen, Erwachsene und Kinder, ferner zwei Ziegen, drei Hammel und vier Hunde, wenn es draußen zu kalt war oder während der Fahrt. Ständig herrschte Lärm und Trubel; Kinder schrien, und Erwachsene redeten durcheinander. Von einigen Mitgliedern der Monstrositätenschau abgesehen, standen alle in irgendeinem verwandtschaftlichen Verhältnis zum Sippenführer Raffael. An diesem Donnerstag war am Abend auf dem Rummelplatz nicht viel los. Die Amalfi-Sideshow schloss früh. Raffael Amalfi schlurfte in den abgeteilten Raum des Wohnwagens, den er mit seiner Frau Louretta zusammen bewohnte. Sie hatte das Radio überlaut aufgedreht und stopfte Pralinen in sich hinein. Zudem lief noch ein tragbarer Fernseher. Amalfi schaltete das Licht ein. Anklagend deutete er auf seine rote Jacke und das weiße Hemd. »Du hast den verdammten Knopf schon wieder nicht angenäht, Louretta«, legte er los. »Und das Hemd ist auch nicht gewaschen. Seit drei Wochen fehlt der Knopf an der Jacke. Ein Dutzend Mal habe ich es dir jeden Tag gesagt. Das Hemd hat Flecken und ist am Kragen und den Manschetten so dreckig, dass es einem Schwein grausen könnte.« »Heilige Mutter!«, keifte Louretta in schrillem Diskant. »Machst du schon wieder Theater wegen dieser Kleinigkeiten? Als ob wir keine anderen Sorgen hätten!« »Was treibst du denn eigentlich den ganzen Tag? In der Schau trittst du nicht auf, nicht einmal an der Kasse sitzt du, und selbst das bisschen, was hier im Wohnwagen zu tun ist, scheint dir noch zu viel. Wo ist mein Essen, verdammt noch eins?«
»Du hast doch heute Abend vor der Vorstellung schon gegessen.« »Du weißt genau, dass ich vorher nicht viel zu mir nehmen kann und hinterher wieder Hunger habe. Also, wo ist es?« »Wo soll es schon sein? In der Dose im Kühlschrank natürlich. Du brauchst es dir nur warm zu machen.« Raffael schlug mit der Faust auf den Tisch. »Das schlägt dem Fass den Boden aus. Du faule Schlampe! Immer der gleiche Zirkus. Wenn nicht in zehn Minuten der Fraß auf dem Tisch ist, setzt es was.« »Du Taugenichts! So gehst du mit deinem angetrauten Weib um? Meine Mutter hat mich immer vor dir gewarnt, Raffael Amalfi. Ich hätte auf sie hören sollen. Mit dem erlebst du keine frohen Tage, hat sie gesagt. Ignaz, den Teppichhändler, hätte ich nehmen sollen. Dann könnte ich jetzt in Vaduz in einer feinen Villa leben.« »Dieser impotente Lump ist wegen seiner Habgier und seines Geizes sogar unter den Zigeunern verschrien. Seine älteste Tochter ist ins Wasser gegangen, nur weil er die Aussteuer nicht zahlen wollte und alle Bewerber weggeekelt hat. Und so einen ziehst du mir vor, mir, Raffael?« Louretta lachte. Es klang schrill und blechern. »Raffael Amalfi! Raffael Amalfi! Wenn ich das schon höre! Wer bist du denn schon groß? Ein Allesfresser und Feuerspucker mit einem drittklassigen Wanderzirkus. Ein vollgefressener Popanz!« Raffael wurde blass vor Wut. Louretta sah, dass sie zu weit gegangen war, und lenkte ein. Die anderen Sippenmitglieder, dergleichen Auftritte gewohnt, kümmerten sich nicht weiter darum. »In zehn Minuten will ich mein Essen, sonst tanzt hier der Teufel!«, schrie er. Louretta schaffte es in zwölf, dafür war das Kotelett auch angebrannt. Sie drehte die weniger verkohlte Seite nach oben, aber Raffael achtete gar nicht darauf. Er presste die Hand auf sein Herz. »Mein Herz! Mir ist so übel, Louretta! Die Aufregung!« »Huch!«, kreischte Louretta, stellte das Essen hin und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Mein geliebter Gatte ist schwer krank! Vielleicht muss er sogar sterben. Zarina muss herbei. Mütterchen, Mütterchen, wo bist du?«
Sie stürzte hinaus. Wenig später kam sie mit der alten Zarina zurück. Die Alte trug Morgenmantel und Nachthaube. Die drei Amalfi-Söhne lugten zur Tür herein. Hinter ihnen drängten sich ein paar neugierige Kinder. Zarina untersuchte den ächzenden Raffael. Es dauerte eine Weile. Louretta verzehrte inzwischen das Kotelett. »Nichts Ernstes«, sagte die Alte schließlich. »Das Zwerchfell ist gebläht und drückt auf das Herz. Kein Wunder bei all dem Zeug, das er frisst. Gib ihm seine Herztropfen, Louretta, und mein Magenelixier! Dann wird es ihm bald wieder besser gehen.« Sie schlurfte hinaus. Raffael schluckte die Herztropfen und dann etwas Magenelixier. Zarina ging murmelnd zu ihrem Wohnwagen. Als sie ihn betreten wollte, hörte sie ein Weinen. Jetzt schlossen auch die letzten Buden. Der Rummelplatz war nebelverhangen; keine Besucher waren mehr zu sehen. Zarina folgte dem Weinen. Zwischen zwei Wohnwagen stand ein Junge von etwa sieben Jahren. Er schrie erschrocken auf, als Zarina ihn am Arm nahm, und wollte weglaufen. Doch die Alte hielt ihn fest. Sie hatte mehr Kraft, als man erwartet hätte. »Na, na, wer wird denn noch weinen, wenn er schon so groß ist? Was ist denn passiert, junger Mann? Kann ich dir helfen? Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich bin die gute alte Zarina und habe Kinder sehr gern. Erzähle mir, was geschehen ist!« Der Junge fasste tatsächlich etwas Zutrauen. Von Weinen und Geschniefe unterbrochen, erzählte er Zarina, dass er seine Eltern verloren hatte. Vorhin waren sie noch bei ihm gewesen, und plötzlich waren sie verschwunden. Zarina strich ihm über den Kopf. »Aber, aber! Das ist doch nicht so schlimm. Sieh mal, ich bin Hellseherin. Komm mit in meinen Wohnwagen. Dort werde ich aus der Kristallkugel lesen, wo deine Eltern sind. Und dann bringe ich dich gleich zu ihnen. Ich habe viele schöne Sachen in meinem Wohnwagen, und du bekommst auch ein Bonbon. Du magst doch Bonbons?« Welcher Junge hätte keine gemocht? Zarina redete noch eine Weile
beruhigend auf den Jungen ein, dann zog sie ihn zum Wohnwagen. Gerade öffnete sie die Tür, als eine schlanke Gestalt vom Wohnwagen der Amalfis her über den Platz lief und sie am Arm fasste. Es war Lucia Amalfi. Sie trug eine Klapperschlange um den Hals, die Schlange zischte und züngelte, und Lucia funkelte die Alte wütend an. Das stumme Mädchen machte schnelle Zeichen. Ich werde nicht zulassen, dass dem Jungen ein Leid geschieht, übermittelte sie Zarina. Warum willst du ihn in deinen Wohnwagen verschleppen? Der Junge weinte aus Angst vor der Klapperschlange. Die Schwanzklapper rasselte. »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dem Jungen etwas antun wollte?«, rief die alte Zarina empört. »Er hat seine Eltern verloren. Ich wollte herausfinden, wo sie sind.« Das kannst du jemand anderem erzählen. Es ist schon genug passiert. Dieser Junge wird nicht spurlos verschwinden und nur eine Blutlache zurücklassen. »Also, da hört sich doch alles auf!«, empörte sich Zarina. »Mit diesen Sachen habe ich ganz gewiß nichts zu tun. Eine Unverschämtheit ist es, so etwas zu behaupten. Man sollte besser einmal dich überprüfen, Lucia. In einem meiner Wahnträume habe ich gesehen, wie eine von deinen Schlangen ein fremdes Kind verschlingt. Es könnte auch dieser Junge gewesen sein. Vielleicht hast du ihn hergelockt und wolltest ihn dir holen, aber ich habe ihn zum Glück vorher gefunden.« Lucia machte ein paar Zeichen mit den Fingern. Die Klapperschlange stieß zu und verfehlte die Alte nur um Haaresbreite. »Martin!«, rief eine helle Frauenstimme in diesem Augenblick. »Martin, wir haben uns solche Sorgen gemacht!« Ein junger Mann und eine junge Frau kamen über den Rummelplatz. Der Junge riss sich aus Zarinas Griff. Er lief weinend zu seinen Eltern und warf sich in die Arme seiner Mutter. Sie hob ihn hoch, obwohl er mit seinen sieben Jahren schon recht schwer war. »Martin«, schluchzte sie immer wieder. »Martin.«
Der Vater kam näher heran, ein einfacher Mann mit einem Trenchcoat und einem schmalen Gesicht. »Was habt ihr mit meinem Jungen gemacht?«, fragte er die alte Frau und das junge Mädchen. Voller Abscheu musterte er die Schlange, die um Lucias Hals geringelt war. Matteo Amalfi trat hinzu. Er hatte auf der Treppe des Amalfi-Wohnwagens gestanden und den letzten Teil der Szene beobachtet. »Was hat das Kind um diese Zeit noch auf dem Rummelplatz zu suchen?«, fragte er in hartem Ton. »Sind Sie nicht recht bei Trost?« Der Mann mit dem Trenchcoat begann eine weitschweifige Erklärung. Er war mit seiner Frau und seinem Sohn zu Besuch bei Verwandten in Hampstead. Sie hatten andere Verwandte besucht. Es war später geworden, als beabsichtigt, und auf dem Heimweg waren sie quer über den Rummelplatz gelaufen. Dabei hatte der Junge sich davongemacht. Sie hatten geglaubt, er sei schon zum Haus der Verwandten vorausgelaufen. »Passen Sie nächstens besser auf Ihr Kind auf!«, sagte Matteo finster. »Seien Sie froh, dass Zarina ihn unter ihre Obhut genommen hat!« »Ich wollte in meiner Kristallkugel nachsehen, wo die Eltern des Jungen sind«, verteidigte sich die Alte. »Ich habe nur das Beste gewollt.« »Und die da mit der Schlange?«, fragte der Mann. »Wenn das Vieh nun den Jungen gebissen hätte? Die sollte man einsperren und die Schlange totschlagen.« »Hüten Sie Ihre Zunge!«, brauste Matteo auf. »Dieses Mädchen ist meine Schwester. Die Schlange ist absolut harmlos. Es ist eins ihrer Lieblingstiere.« Einer von Matteos Brüdern trat hinzu. Der Mann mit dem Trenchcoat wollte noch etwas sagen, aber seine Frau zog ihn am Ärmel weg. Sie redete halblaut auf ihn ein. »Das sind Zigeuner«, hörten die vier bei Zarinas Wohnwagen. »Mit denen legt man sich besser nicht an. Denen sitzen die Messer locker.«
»Rabeneltern!«, sagte Matteo laut und spuckte auf den Boden. Die Eltern verschwanden mit ihrem Jungen im Nebel. Nur wenige Lampen brannten noch auf dem Rummelplatz. Die Buden und Vergnügungsstände waren allesamt geschlossen. Matteo musterte die alte Zarina und die schöne junge Lucia. »Ich glaube fast, dieser Junge hat großes Glück gehabt. Es ist eine Schande, was in dieser Sippe vorgeht. Nicht einmal seiner eigenen Schwester kann man mehr trauen.« Aber Matteo, du wirst doch nicht glauben, ich hätte etwas Böses gewollt?, übermittelte ihm Lucia in der Zeichensprache. Matteo winkte barsch ab und ging weg.
Dorian Hunter fuhr am nächsten Vormittag gegen zehn Uhr mit dem Rover aus der Garage der Jugendstilvilla. Er wollte zu den Amalfis. Dorian hatte unter dem Hemd eine gnostische Gemme an einer Silberkette um den Hals hängen. Sie bestand aus einem Halbedelstein und zeigte eine Schlange, die sich selber in den Schwanz biss. Gnostische Gemmen waren wichtige Hilfsmittel im Kampf gegen die Dämonen. Wunder durfte man sich allerdings auch nicht von ihnen erwarten. Dorian hatte sich in der letzten Zeit angewöhnt, die gnostische Gemme fast ständig zu tragen. Die Erfahrungen des letzten Tages hatten ihm wieder gezeigt, dass er auch bei einer anscheinend harmlosen Rummelplatztour in eine Situation geraten konnte, in der eine gnostische Gemme angebracht war. Eine Waffe hatte Dorian nicht dabei, obwohl er sich über die Messerkünste der AmalfiBrüder im Klaren war. Der Dämonenkiller mochte aber nicht bei jeder Gelegenheit mit einem Schießeisen herumlaufen; er verließ sich lieber auf seine Kraft und Gewandtheit und seinen rasch arbeitenden Verstand. Ins schmiedeeiserne Tor der Jugendstilvilla waren Dämonenbanner eingearbeitet. Dorian hupte, und Coco drückte im Haus auf einen Knopf. Das Tor schwang auf, von einem Elektromotor betrieben. Dorian trat aufs Gaspedal und gleich darauf mit einem Fluch
auf die Bremse. Eine schwarz gekleidete Gestalt war ihm vor den Kühler gelaufen, eine uralte hässliche Frau mit Kopftuch und verrunzeltem Gesicht. Dorian sprang aus dem Wagen. Jetzt erkannte er die Alte. Es war Zarina, die Wahrsagerin. »Fast wären Sie mir in den Wagen gelaufen«, sagte er. »Wollen Sie zu mir?« »Zarina war nicht in Gefahr. Zarina ist Hellseherin«, kicherte die Alte. »Ja, ich will mit dir reden, Dorian Hunter. An einem sicheren Ort, an dem uns keiner stört.« Dorian überlegte kurz und öffnete den Wagenschlag für die Alte. Sie stieg ein. »Wir fahren zu meinem Reihenhaus in der Abraham Road«, entschied der Dämonenkiller; er benutzte das Reihenhaus als Zweitwohnung. Dorian fuhr los, immer noch ergrimmt über die Alte. Sie musste direkt an der Mauer gestanden haben und plötzlich losgelaufen sein. In der Abraham Road parkte er direkt vor dem Haus. Er nahm den Hauptschlüssel aus der Tasche und schloss auf. Drinnen roch es muffig. Dorian war seit ein paar Wochen nicht mehr hier gewesen. Er führte Zarina ins Wohnzimmer. Erinnerungen wurden in ihm wach. Hier hatte er mit Lilian gelebt, seiner verstorbenen Frau. »Was gibt es, Madame Zarina? Darf ich Ihnen vielleicht einen Portwein anbieten?« »Ein Schlückchen hat noch niemandem geschadet.« Dorian holte für die Alte ein Glas Portwein aus der Hausbar; er selbst trank nichts. »Es tut mir Leid, dass ich deine Freundin Coco Zamis so erschreckt habe«, sagte die Alte. »Woher kennen Sie überhaupt unsere Namen?« »Ich bin doch Hellseherin. Ich habe mich weiter mit euch beschäftigt. Die Sache hat mich nicht losgelassen. Ich weiß jetzt, dass Coco Angst um ihr Kind hat, aber ich weiß auch, dass es nicht ihr Junge ist, den ich in der Kristallkugel gesehen habe. Nicht er wird bedroht. Du als Vater wirst dich auch freuen, das zu erfahren.«
»Ein Vater im üblichen Sinne bin ich nicht«, brummte Dorian. »Ich weiß nicht einmal, wo der Junge steckt.« »Er ist in sicherer Obhut. Es ist am besten so.« Damit trank die Alte ihren Wein aus und wollte fortgehen. Aber das ließ Dorian nicht zu. Er hatte noch eine Menge Fragen, wollte einiges über die Amalfis und die geheimnisvollen Vorgänge wissen, in die sie verwickelt waren. So nötigte er Zarina noch ein Glas Wein auf. Zunächst erzählte er ihr, was er wusste. »Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Dämonen zu bekämpfen«, schloss er. »Ich glaube, hinter dem geheimnisvollen Verschwinden der Personen, die ich aufgezählt habe, steckt ein Dämon. Wollen Sie mir nicht helfen, ihn zu entlarven und zur Strecke zu bringen, Zarina?« Wegen ihres hohen Alters redete Dorian die alte Zarina respektvoll mit Sie an, während sie ihn duzte. Nach Dorians Meinung hielt Zarina ihn wie alle Menschen, die nicht an ihr biblisches Alter heranreichen konnten, für eine Art Kind. »Du bist der Dämonenkiller«, sagte die Alte und kicherte. »Aber diesmal greifst du besser nicht ein. Das ist unsere Sache. Freilich steckt hinter diesen Vorgängen ein Dämon, aber es ist Sache der Amalfi-Sippe, ihn zu erledigen.« Dorian merkte, dass er bei der Alten nicht weiterkam. Er bot ihr an, sie ein Stück nach Hampstead zu fahren. Zarina war einverstanden, denn es war ein weiter Weg. Dorian schloss in der Abraham Road ab. Er fuhr mit Zarina durch den morgendlichen Vorortsverkehr von London. »Sie haben heute Ihren Raben Ahasver nicht dabei«, bemerkte der Dämonenkiller. »Ahasver verträgt die Kälte nicht. Er bleibt im warmen Wohnwagen und passt auf meine Sachen auf. Er ist abgerichtet. Wenn jemand in den Wohnwagen einzudringen versucht, macht er einen Höllenlärm.« Dorian stellte ein paar Fragen über die Amalfis, über die Verhältnisse, in denen sie lebten, die einzelnen Verwandtschaftsgrade und das Treiben der Sippenmitglieder.
»Raffael Amalfi, der Sippenchef, ist in Ordnung«, murmelte die Alte. »Er hat seine Fehler und ist sehr dickköpfig, aber er sorgt für die Sippe, so gut er kann. Mit seiner Frau Louretta hat er drei Söhne von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren und eine achtzehnjährige stumme Tochter, Lucia, die Schlangenbeschwörerin. Anatol Drago, Lourettas Bruder, ist ein fauler und nichtsnutziger Taugenichts. Rosario Amalfi, Raffaels Onkel, und seine Frau sind sehr ruhige alte Leute. Ihr Sohn Luis und seine Frau mit ihren fünf Kindern gehören auch zur Sippe. Luis ist ruhig und umgänglich, solange man ihn nicht reizt. Seine Frau Natalie dagegen ist ein richtiger Weibsteufel. Selbst als Mutter von fünf Kindern juckt es sie noch in den Hosen. Sie hat schon mehrmals die ganze Sippe durcheinander gebracht, aber die strengen Sippengesetze und unsere Gemeinschaft halten sie im Zaum. Dann ist da noch Ramona, die Hervio Masto, den Knochenmenschen, heiraten musste, weil er sie schwängerte. Sie war und ist ein übles Luder. Der Wolfsmensch Gunter ist mit der Bauchtänzerin Sheila verheiratet, sie stammen aus Deutschland und sind beide über zehn Ecken mit den Amalfis verwandt. Der Muskelmann Herkules ist der debile Sohn eines Onkels von Raffael. Die übrigen Mitglieder der Monstrositätenschau und die beiden Liliputaner Pit und Patty, die zwei ganz normal gewachsene Kinder haben, sind nicht mit den Amalfis verwandt.« Dorian konnte sich zwar nicht alle Personen merken, aber er hatte immerhin einen Überblick. Sie erreichten Hampstead. »Du kannst mich hier absetzen«, sagte die Alte. Dorian dachte nicht daran. Er fuhr weiter. Zarina protestierte, doch Dorian fuhr direkt zum Rummelplatz. Um diese Zeit herrschte hier noch kein Betrieb. Vor den Wagen der Amalfis hielt Dorian an. Er stieg aus und öffnete für die alte Zarina den Wagenschlag. Wütend funkelte sie ihn an. »Das hast du schon vorgehabt, als du mir angeboten hast, mich ein Stück zu fahren. Deshalb also die Rücksichtnahme.« »Seien Sie froh, dass Sie nicht zu laufen brauchten«, grinste Dori-
an. Ein paar Mitglieder der Amalfi-Sippe hatten gesehen, dass er Zarina brachte. Raffael Amalfi kam aus dem Wohnwagen. Er war spät aufgestanden, hatte noch den Rasierschaum im Gesicht, war im Unterhemd, und sein Bauch beulte es mächtig aus. Dorian sah Lucia aus dem Fenster lugen. Eine Schlange ringelte sich um ihren Hals. Kinder glotzten den Dämonenkiller neugierig an. Die alte Zarina verschwand in ihrem Wohnwagen, nachdem sie noch einen giftigen Blick auf Dorian abgeschossen hatte. Dorian trat auf den Sippenchef zu. »Ich muss mit Ihnen reden, Raffael Amalfi. Es ist sehr wichtig.« Amalfi deutete über die Schulter auf die vordere Tür des großen Wohnwagens. Dorian trat ein. Die fette Louretta war gerade mit Saubermachen beschäftigt. »Was tragt ihr mir denn schon wieder Dreck herein?«, keifte sie. »Ständig könnte man hier putzen.« Raffael Amalfi scheuchte sie hinaus. Sie ging nach nebenan in den größten Raum des Wohnwagens. Man hörte noch ein paar Schimpfworte durch die Tür. »Was gibt es?«, fragte Raffael mürrisch. Sein Englisch war gut verständlich, wenn er auch einen starken Akzent hatte. »Die alte Zarina hat Vertrauen zu mir«, sagte Dorian. »Sie ist zu mir gekommen. In eurer Sippe verbirgt sich ein Dämon, Amalfi. Er muss vernichtet werden, und ich will euch dabei helfen.« »Sie – ein Reporter? Sie suchen doch nur eine Sensation.« Dorian schüttelte den Kopf. »Ich bin kein richtiger Reporter. Ich war es früher einmal. Jetzt bekämpfe ich die Dämonen und habe schon viele zur Strecke gebracht.« Dorian öffnete sein Hemd und nahm die gnostische Gemme vom Hals. Er zeigte sie Raffael Amalfi. »Wissen Sie, was das ist?« »Keine Ahnung. Irgendein Talisman.« Dorian war auf Raffaels Reaktion beim Anblick der gnostischen Gemme gespannt. Doch der Sippenchef verzog keine Miene. Eine
gnostische Gemme bereitete den allermeisten Dämonen Schmerzen. Sie konnten wahre Zustände bekommen. »Das ist eine gnostische Gemme«, erklärte Dorian. »Eines meiner Hilfsmittel.« Amalfi schaute darauf und hob beiläufig die Schultern. Plötzlich aber presste er die Hand auf den Leib und verzog das Gesicht. »Was ist?« »Ach, nichts. Leibschmerzen. Das habe ich öfter. Bei Allesfressern, Feuerspuckern und Schwertschluckern ist es ein Berufsleiden. Es hat nichts zu bedeuten. Mein Vater ist steinalt geworden damit.« Seine Züge entspannten sich wieder. Er strich sogar mit seinem dicken Zeigefinger über die gnostische Gemme. »Ein schönes Stück. Tut mir Leid. Eine Zusammenarbeit mit Ihnen kommt nicht in Frage. Das ist einzig und allein eine Sache der Sippe.« Dorian nickte. Er hatte nichts anderes erwartet. »Sie haben aber nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig hier umsehe und mit ein paar Leuten rede? Bedenken Sie, ich könnte Ihnen eine Menge Schwierigkeiten machen, wenn ich ausplauderte, was ich weiß, oder etwas in die Presse gelangen ließe. Aber wenn Sie mir keine Schwierigkeiten machen, mache ich Ihnen auch keine.« »Das hört sich ganz nach einer Erpressung an. Seien Sie vorsichtig! Wir halten alle wie Pech und Schwefel zusammen. Sie könnten leicht mit gebrochenen Rippen oder einem Messer dazwischen im Krankenhaus landen, wenn Sie es übertreiben.« »Ich will Sie nicht erpressen, sondern Ihnen helfen.« »Wir brauchen keine Hilfe. Wir lösen unsere Probleme allein, ohne Außenstehende. Wenn Sie sich umsehen wollen, dann tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber seien Sie vorsichtig! Ich bin nicht für Sie und nicht gegen Sie. Ich trete Ihnen nicht in den Weg, aber ich schütze Sie auch nicht.« Dorian nickte. Die Unterredung war beendet. Doch an der Tür drehte Dorian sich noch einmal. »Etwas interessiert mich noch. Es hat nichts mit dem Dämon zu tun. Wie werden Sie die Rasierklingen, Nägel und all das Zeug wieder los, das sie hinunterschlucken? Auf dem natürlichen Verdauungsweg?«
»Gott bewahre mich davor! Ich würge es nach der Vorstellung wieder heraus.« Dorian verließ den Wohnwagen. Lucia stand drüben bei dem Bus. Matteo und Stefan, die beiden ältesten Amalfi-Söhne warteten neben dem Schauzelt, die linke Hand in der Tasche, mit der Rechten zwirbelten sie ihre Schnurrbärte. Feindschaft glomm in ihren dunklen Augen. Dorian ging zu Lucia. Er ließ sich von der Schlange um ihren Hals nicht beirren. Es war eine hochgiftige Buschmeisterschlange, wie sie im Amazonasurwald lebten. Sie zischte Dorian entgegen. »Ich will nichts Böses«, sagte Dorian zu Lucia. Mit ihrem lockigen, schwarzen Haar und den dunklen Augen war sie bildhübsch. Dorian nahm die gnostische Gemme vom Hals und hängte sie ihr um. Ein schneller Wink Lucias hielt die Schlange in Schach. Lucia lächelte Dorian an. Wie alle Frauen mochte sie Schmuck. Sie zeigte keine Regung, dass die Gemme ihr Unbehagen bereitete; im Gegenteil. Dorian war etwas beschämt. Es hatte eine Dämonenprobe sein sollen. Jetzt ließ er Lucia die Gemme als Geschenk. »Ich will mich hier etwas umsehen«, sagte er und lächelte. Lucia schaute zu ihren beiden Brüdern hinüber. Anatol Drago, ein stämmiger Mann Mitte Vierzig, und Gunter, der Wolfsmensch, jetzt ohne Zottelfell, hatten sich zu ihnen gesellt. Finster musterten sie Dorian. Da nickte ihm Lucia zu und hängte sich bei ihm ein. Dorian ging an den vier Männern vorbei. Er beobachtete ihre Gesichter, um genau zu sehen, ob sie beim Anblick der Gemme eine Reaktion zeigten. Lucia zeigte die gnostische Gemme stolz herum. Sie hielt das Geschenk für einen Gunstbeweis Dorian Hunters, ohne sich viel dabei zu denken. Körperlich war Lucia eine bildschöne junge Frau, aber geistig war sie in vielen Dingen noch ein Kind. Sie mochte Dorian Hunter genauso, wie sie ihre Schlangen mochte, und sie setzte voraus, dass er ihr die gleiche Zuneigung entgegenbrachte. Dorian ging durch den umgebauten Bus, in dem vier Radios lärm-
ten, und durch den großen Wohnwagen. Er schaute sich um, grüßte freundlich und redete Belangloses. Ihm kam es nur auf die Reaktion der einzelnen Sippenmitglieder und Angehörigen der Amalfi-Schau beim Anblick der gnostischen Gemme an. Zu Lucia waren alle freundlich. Die Schlange um ihren Hals hatte sich völlig zusammengerollt und den Kopf unter den Ringen verborgen. Dorian trafen feindselige und abschätzende Blicke. Er war ein Eindringling; nur weil Raffael anscheinend nichts dagegen hatte, dass er hier war, unternahm niemand etwas gegen ihn. Mit den meisten ihrer Verwandten konnte Lucia sich in der Zeichensprache unterhalten. Dorian verstand die Gesten nicht; es war eine Zigeunerzeichensprache. Zuletzt kamen sie zu Louretta, Lucias Mutter. Kaum sah sie die Gemme, da zuckte sie zusammen. »Was ist denn das für ein Firlefanz?«, keifte sie. »Du solltest dich schämen, dir von einem wildfremden Mann so etwas schenken zu lassen. Wer weiß, was der Kerl sich hinterher einbildet. Ich verstehe Raffael nicht. Sonst sieht er in jedem Fremden zuerst einmal einen Feind, und diesen Schnauzbart lässt er hier herumschnüffeln. Du gibt ihm das Schmuckstück sofort zurück, Lucia!« Lucia schüttelte den Kopf. »Was, du willst mir nicht gehorchen? Du hast schon lange keine Tracht Prügel mehr bekommen. Dafür bist du noch nicht zu alt, du Göre.« Louretta keifte im Romanidialekt. Dorian verstand die Worte nicht, aber der Sinn war ihm klar. Die anderen Sippenmitglieder und Angehörigen der Schau beobachteten die Szene. Einige wenige waren peinlich berührt, andere schadenfroh und weitere ganz einfach an der Abwechslung interessiert. Als die fette Louretta Lucia packen wollte, schnellte der Kopf der Buschmeisterschlange unter den Ringen hervor und zischte sie an. Louretta fuhr zurück. Sie hatte die größte Angst vor den Schlangen ihrer Tochter und kreischte gellend auf. Raffael riss die Tür auf und schaute herein.
»Tod und Teufel, was ist denn das für ein Zirkus? Was ist jetzt schon wieder los, Louretta?« »Sieh, das hat er deiner Tochter geschenkt! Ich mag das Ding überhaupt nicht ansehen. Der Kerl wird sie zur Hure machen, und bald hat sie auch ein uneheliches Kind im Bauch. Als ob der Ärger mit Ramona und Natalie nicht genug wäre!« »Deine Zanksucht geht wieder einmal mit dir durch. Du weißt genau, dass Lucia nicht so ist.« Er betrachtete die Gemme, wusste, dass sie zur Dämonenbekämpfung diente, und musterte Dorian. »Lass sie diese Gemme nur behalten!«, sagte er. »Wenn sie ihr gefällt und Mr. Hunter sie entbehren kann …« »Sonst hätte ich sie nicht hergegeben«, sagte Dorian. Er sah zu, dass er aus dem Wohnwagen kam. Lucia folgte ihm. Drinnen hörten sie Lourettas keifendes Organ und Raffaels Gebrüll. Zudem begannen noch ein paar Kinder zu plärren und Hunde zu bellen. Es war ein Höllenspektakel. Dorian fragte sich, ob der Grund für Lourettas heftige Reaktion wirklich nur in ihrer zänkischen Natur zu suchen war. Zuletzt gingen Dorian und Lucia ins Schauzelt, wo ein paar Mitglieder der Amalfi-Schau für die Nachmittagsvorstellung probten. Der Muskelmann Herkules hantierte stumpfsinnig mit seinen Gewichten herum. Lucia zeigte jedem die gnostische Gemme. Keiner reagierte irgendwie außergewöhnlich. Dorian sah jetzt zum ersten Mal auch Ramona, Hervio Mastos Frau. Sie war eine bildhübsche Blondine, sah blutjung und sehr reizvoll aus und passte nicht zu den meist dunkelhaarigen und dunkelhäutigen Zigeunern. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, wie zu einem Kuss. Ein Blick in ihre blauen Augen zeigte Dorian, dass sie ein Luder war. Sie lächelte ihn an und fuhr mit der Zungenspitze über die roten Lippen. »So, der kleinen Lucia haben Sie dieses Schmuckstück geschenkt, Mr. Hunter? Ich hätte auch Verwendung dafür gehabt.« Und du hättest dich erkenntlich gezeigt, dachte Dorian. Er fragte sich, wie eine Frau wie Ramona den Knochenmann und Verrenkungskünstler Hervio Masto hatte heiraten können, der alles andere als
eine Schönheit war und auch in seiner besten Zeit kaum mehr als einen Zentner wog. Der Knochenmann lag in seinem Glaskasten, auf knappe vierundvierzig Pfund abgemagert. Über seinen Backenknochen straffte sich die Haut. Schau mal, was ich da habe, Hervio!, übermittelte ihm Lucia in der Zeichensprache und zeigte ihm die gnostische Gemme. Der Knochenmann begann einen wahren Veitstanz. Seine dürren Glieder zuckten und bebten; er verrenkte sich unbeschreiblich. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Röchelnd streckte er die wie einen Korkenzieher gewundene Zunge hervor. »Er kann es vor Hunger nicht mehr aushalten. Es sind die üblichen Anzeichen«, sagte die schöne Ramona gefühllos. »Die ganze Zeit war er schon so apathisch.« Raffael wurde geholt. Er war nach dem Streit mit seinem Weib finsterer Laune. Raffael klopfte ans Glas. Hervio Masto hielt in seinen Zuckungen inne. Die Augen, von denen nur noch das Weiße zu sehen war, rollten herum, die Pupillen fixierten Raffael. Dorian glaubte eine glühende Gier in den Augen zu erkennen. Schaum stand in den Mundwinkeln des Knochenmannes. Eine widerliche Kreatur, dachte Dorian. Er stellte sich dieses abscheuliche Knochengeschöpf mit Ramona im Bett vor, und es überlief ihn kalt. »Kannst du es nicht mehr bis zum Wochenende aushalten?«, rief Raffael. »Du solltest am Sonntag in der Nachmittagsvorstellung zu essen beginnen. Es wäre ein neuer Hungerrekord gewesen. So war es ausgemacht.« Hervio Masto schüttelte den Kopf. »Ja, ja«, seufzte Amalfi resigniert. »Essen muss der Mensch, sonst geht er ein. Aber bis heute Abend musst du schon noch ausharren, Hervio, sonst haben wir keine ordentlichen Einnahmen. Wir müssen die Reklametrommel rühren. In der Nachmittagsvorstellung kommt nur ein Trinkgeld zusammen. Glaubst du, das schaffst du? Sieh mal, neunundsechzig Tage hast du jetzt gehungert. Was machen die paar Stunden?«
Der Knochenmann nickte. Erleichtert wandte Raffael sich ab. »Man hat schon seine Plage«, sagte er zu Dorian. »Ständig ist irgendetwas anderes. Vorgestern wollte Herkules alles in Trümmer schlagen, weil ihm jemand seine Mundharmonika versteckt hatte. Und gestern nun, das wissen Sie ja.« Als Herkules das Stichwort »Mundharmonika« hörte, zog er das kleine Instrument aus seinem zottigen Bärenfell hervor. Er grinste die anderen an und blies eine Tonfolge. »Die Mundharmonika ist sein Ein und Alles«, sagte Raffael. Dorian blieb nicht länger; er hatte genug erfahren und wusste, wie er weiter vorgehen musste. Er verabschiedete sich von Raffael und Lucia, grüßte die anderen im Zelt und ging hinaus. Alle sahen ihm nach. Hervio Masto in seinem Glaskäfig hatte sich beruhigt. »Ein äußerst attraktiver Mann«, sagte Ramona langsam. Die Frau von Raffaels Onkel Rosario, ein Weiblein von Fünfundsechzig, war hinzugetreten. »Ich weiß nicht, was du an ihm findest, Ramona. Der mit seinem schwarzen Haar, dem Schnurrbart und den grünen Augen, die einen so durchdringend anblicken können! Ein schöner Mann ist er nicht.« »Davon verstehst du nichts. Ich finde, Dorian Hunter hat etwas Dämonisches an sich. Mich überläuft es, wenn ich ihn nur ansehe. Ach, bei mir prickelt es richtig!« Raffael drehte sich um. »Hast du immer noch nicht genug? Scher dich weg!« Ramona schlich sich hinaus. Raffael murmelte etwas und verließ gleichfalls das Zelt. Die anderen sahen ihnen betreten nach. Dorian Hunter hatte inzwischen seinen Wagen erreicht und schloss ihn auf. Er hatte den Kragen der alten Wildlederjacke hochgestellt, denn der Wind pfiff kalt. Da hörte er hinter sich Schritte. Er drehte sich um. Matteo und Stefan standen vor ihm. »Wir haben es nicht gern, wenn hier einer herumschnüffelt«, sagte Matteo. »Du kriegst jetzt eine Abreibung, Kerl, damit du das Wie-
derkommen vergisst.« Dorian hatte den Rover seitlich hinter das Schauzelt der Amalfis gefahren. Matteo schlug nach Dorians Kinn, aber der Dämonenkiller duckte sich schnell und traf seinerseits Matteo hart in den Magen. Der Zigeuner krümmte sich. Stefan griff Dorian von der Seite an. Er traf ihn mit ein paar Schlägen, die zwar schmerzhaft, aber nicht sehr wirkungsvoll waren. Dorian versetzte ihm einen Faustschlag, dass er zurücktaumelte. Daraufhin griffen die beiden Amalfi-Brüder gemeinsam an. Doch bei dem Dämonenkiller waren sie an den Falschen geraten. Dorian schlug Matteos Deckung zur Seite und ihm die Faust noch einmal in den Magen. Als der Zigeuner zusammenknickte, hieb er ihm die Handkante ins Genick. Matteo brach bewusstlos zusammen. Stefan wich zurück und zog das Messer. »Jetzt geht es dir an den Kragen, Freundchen!«, stieß er hervor. Auf den Fußballen tänzelnd, kam er näher. Er war ein geübter Messerkämpfer und hatte die Klinge locker auf der Handfläche liegen. Dorian wusste, dass seine Chancen sich wesentlich verschlechtert hatten, denn mit dem Messer waren die Amalfi-Brüder Meister. Er wich zurück, stolperte über eine der Zeltschnüre und stürzte zu Boden. Mit einem Triumphschrei riss Stefan das Messer zum Wurf hoch. Dorian konnte dem Messerwurf unmöglich ausweichen. Eine Peitschenschnur zischte durch die Luft und wand sich um Stefans Handgelenk. Ein kräftiger Ruck, und das Messer flog in hohem Bogen davon. Der junge Zigeuner wandte den Kopf herum. Dorian stand auf. Raffael stand da, die Peitsche in der Hand. Es war eine amerikanische Bullpeitsche mit einer fünfeinhalb Meter langen Schnur. »Bist du verrückt geworden, Stefan? Haben wir nicht schon genug Schwierigkeiten?« »Ich – ich wollte ihn nur verwunden, Vater, nicht töten.« »Habe ich vielleicht den Befehl gegeben, Hunter anzugreifen? Verschwindet, ihr Dummköpfe! Mir aus den Augen!« Die alte Zarina hatte dem Sippenchef die Peitsche gegeben und ihn
hergeschickt. Sie hatte die Amalfi-Söhne bei Dorians Wagen lauern sehen und ihre Kristallkugel zu Rate gezogen. Jetzt war sie bereits wieder in ihrem Wohnwagen verschwunden. Raffael schlug wie ein Wilder mit der Peitsche auf Stefan und den am Boden liegenden Matteo ein. Die Peitschenschnur hinterließ blutige Striemen. Stefan rannte davon. »Zurück, Stefan! Trag deinen Bruder fort!« Stefan gehorchte, obwohl er noch ein paar Peitschenhiebe abbekam. Er wagte es nicht, sich gegen das Sippenoberhaupt aufzulehnen. Dorian staunte. Ein so sklavischer Gehorsam war ihm unbegreiflich, und er hätte Raffael nicht zugetraut, dass er die Sippenmitglieder derart in der Gewalt hatte. Stefan trug den ächzenden Matteo um das Schauzelt herum. Dorian klopfte sich den Schmutz von der Jacke. »Ich danke Ihnen«, sagte er zu Amalfi. »Bedanken Sie sich bei der alten Zarina! Ich wollte eigentlich nicht eingreifen, aber sie faselte von Blutvergießen und jagte mich los. Meinen Söhnen schaden die Peitschenhiebe nichts. Sie denken, der Alte lässt nach, und sie können machen, was sie wollen. Aber so weit ist es noch nicht. Mein Vater hat noch mit fünfundsiebzig Jahren den stärksten Mann der Sippe mit dem Ochsenziemer verprügelt, weil er unverschämt zu ihm gewesen war. Und ich bin gerade erst fünfundfünfzig geworden.« »Sie können gut mit der Peitsche umgehen, Amalfi.« Der beleibte Zigeuner nickte und grinste. »Ich war einmal Peitschenakrobat und Messerwerfer, ehe ich Allesfresser und Feuerspucker wurde. Die Narbe auf meiner rechten Backe rührt von einem Peitschenduell her, das ich mit einem Nebenbuhler wegen Louretta austrug. Hätte ich ihn nur gewinnen lassen.« Dorian ging zu seinem Wagen. »Seien Sie vorsichtig, Amalfi!«, sagte er. »Im Notfall benutzen Sie die gnostische Gemme, die ich Ihrer Tochter Lucia geschenkt habe, falls Sie es mit dem Dämon zu tun bekommen. Wollen wir nicht doch zusammenarbeiten? Mein Angebot gilt immer noch.«
Amalfi schüttelte den Kopf. »Ich wäre ein schlechter Sippenführer, wenn ich es zuließe, dass sich Außenstehende in unsere intimsten Angelegenheiten einmischen. Gehen Sie, Hunter! Und kommen sie möglichst nicht wieder! Vielleicht greife ich das nächste Mal nicht ein, wenn meine Söhne mit dem Messer auf Sie losgehen.« »Ich komme wieder, Amalfi. Verlassen Sie sich darauf! Ich werde diesen Dämon zur Strecke bringen – ob mit Ihrer Hilfe oder ohne.« Dorian stieg ein und fuhr davon. Raffael Amalfi sah ihm mit gerunzelter Stirn nach.
In der Jugendstilvilla angekommen, suchte Dorian Donald Chapman auf. Der Zwergmann hörte sich geduldig an, was Dorian ihm erzählte. »Hervio Masto und Louretta Amalfi sind also die Hauptverdächtigen«, sagte er. »Wie sollen wir weiter vorgehen?« »Heute Abend gehen wir wieder hin«, sagte der Dämonenkiller. »Du wirst die Wohnwagen durchsuchen, Don, und ich will Phillip mitnehmen. Von ihm verspreche ich mir allerhand. Der alten Zarina will ich auch noch einmal auf den Zahn fühlen. Und diesem Freak, an den ich bisher überhaupt noch nicht herangekommen bin.« »Was für ein Dämon verbirgt sich in der Schau? Was glaubst du?« »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Dorian wahrheitsgemäß. »Aber das werden wir bald herausfinden.« Sie gingen ins Esszimmer, wo Miss Pickford die Tafel gedeckt hatte. Der Dämonenkiller und der Puppenmann bildeten ein äußerst ungleiches Paar. Don Chapman war nur noch dreißig Zentimeter groß, seit er dem Puppenmacher Roberto Coppello in die Hände gefallen war. Er hatte sich damit abfinden müssen, für den Rest seines Lebens so klein zu bleiben. Für den ehemaligen Secret Service Top Agenten und Frauenhelden war das nicht leicht gewesen. Doch von Dorian Hunter und seinen Gefährten wurde er als vollwertig anerkannt und in der Bekämpfung der Dämonen hatte er eine Lebensaufgabe gefunden.
Coco Zamis, Phillip und Trevor Sullivan saßen bereits zu Tisch. Phillip war ein geheimnisvolles Wesen, ein Hermaphrodit mit blondem, schulterlangem Haar und engelhaft anmutenden Gesichtszügen. Er war kein Mensch und kein Dämon; er war überhaupt kein normales Lebewesen und verfügte über geheimnisvolle und übernatürliche Kräfte, obwohl er einem Außenstehenden eher als debil erscheinen musste. Phillip war ein lebendes Orakel; es war nicht leicht, aus ihm klug zu werden. Coco fragte Dorian nach seinen Erlebnissen auf dem Rummelplatz. Er antwortete ausweichend. Auch Trevor Sullivan wollte Näheres wissen; viel erfuhr jedoch auch er nicht. Miss Pickford saß mit zu Tisch. Sie hatte nur ein paar Brocken der Unterhaltung aufgeschnappt und wusste kaum, worum es eigentlich ging. »Da habe ich neulich in einem meiner Horrorbücher von einer tollen Methode gelesen, einen Dämon zu entlarven«, sagte sie. »Die Verdächtigen wurden einer so genannten Feuerprobe unterzogen und mit Fackeln gebrannt. Der Dämon glaubte, es ginge ihm ans Leben, nahm seine wahre Gestalt an und konnte gebannt und getötet werden.« »Eine fantastische Idee!«, sagte Dorian. »Und die Unschuldigen, die auch der Feuerprobe unterzogen wurden, waren wohl für alle Zeit entstellt oder kamen gar ums Leben?« »Nein, nein. Sie glaubten nur, dass es ganz schlimm werden würde. In Wirklichkeit wurden sie nur ein wenig angesengt.« Dorian griff zum Nachtisch, einem Schokoladepudding mit Nüssen, den Miss Pickford hervorragend zuzubereiten wusste. »Bleiben Sie lieber bei Ihren Kochtöpfen, Miss Pickford!«, sagte der Dämonenkiller. »Soll ich vielleicht alle achtundzwanzig Mitglieder der Amalfi-Schau entführen und versengen?« Am Nachmittag sprach Dorian mit Coco, Trevor Sullivan und Phillip. Das Gespräch mit Phillip war das schwerste. Wohl acht Mal erklärte Dorian Phillip, was er von ihm wollte, aber der Hermaphrodit lächelte nur unergründlich. Die meiste Zeit des Nachmittags ruhte Dorian sich dann aus. Er
schmiedete keine großen Pläne. Bei der Dämonenbekämpfung passierten ohnehin immer unvorhergesehene Sachen. Am späten Nachmittag begann es zu schneien. Dorian fuhr mit Phillip und dem Puppenmann Don Chapman los. Der Dämonenkiller hatte sich eine andere gnostische Gemme um den Hals gehängt. Außerdem trug er ein silbernes Kreuz und einen kleinen Weihwasserflakon in der Tasche. Don Chapman hatte die gleiche Ausrüstung bei sich, in Miniaturausgabe allerdings. Er hatte auch noch eine kleine Pistole, mit der er sich gegen Haustiere wie Hunde und Katzen verteidigen konnte, die für ihn sehr gefährlich waren. Auf dem Rummelplatz herrschte schon einiger Betrieb, trotz des Schnees. Dorian fuhr den Rover in die Nähe der Wohnwagen und des Schauzeltes der Amalfis. Er ließ Phillip und Don Chapman einige Minuten im Wagen sitzen und ging erst allein auf den Rummelplatz. Ein alter Mann hatte eine Würfelbude. Die Spielregeln waren einfach. Dorian verlor zweimal und gewann einmal. Der Alte strich immer eilig den Gewinn ein. Dorian legte eine Pfundnote hin. »Wollen Sie ein ganzes Pfund setzen?«, fragte der Alte. »Nein, das können Sie sich anders verdienen. Ich interessiere mich für die Amalfis.« Der Alte sah sich um. Es war gerade niemand in der Nähe. »Ein Pfund ist wenig«, sagte er. »Diese Zigeuner sind gefährliche Burschen. Denen sitzt das Messer locker.« Dorian legte eine zweite Ein-Pfund-Note dazu. »Sie gehen überhaupt kein Risiko ein. Entweder Sie erzählen mir etwas und nehmen die zwei Pfund – oder Sie lassen es bleiben.« »Nun gut. Also, mit diesen Zigeunern wollen die anderen Schausteller nicht viel zu tun haben. Die Amalfis sind verrufen. Sie sollen stehlen, heißt es, und kreuz und quer durch die Sippe Unzucht treiben. Die Natalie Amalfi hat sich mit einem jungen Burschen von Dendersons Schiffsschaukel eingelassen, obwohl sie fünf Kinder hat. Irgendwie ist der Mann dahinter gestiegen. Jedenfalls kamen am Mittwochabend statt Natalie und Luis zwei von den Söhnen Raffaels
zum Treffpunkt. Sie haben den Schiffschaukelburschen verprügelt, dass er nicht wiederzuerkennen war. Nun, das mag noch angehen, aber der Schießbudenbesitzer Hobie Dufford interessierte sich ganz harmlos für Lucia. Er hatte wirklich nichts mit ihr im Sinn. Er wollte sich eben nur mal die Schlange ansehen, die sie um den Hals trug. Sie hatte auch gar nichts dagegen. Da kam Matteo und fuhr Hobie Dufford grob an. Ein Wort ergab das andere, und schließlich zog Amalfi das Messer und verletzte Hobie Dufford am Arm. Die Messer der Amalfis sind höllisch scharf. Hobies Unterarm war vom Handgelenk bis zum Ellbogen aufgeschlitzt.« »Wurde die Polizei gerufen?« »Wo denken Sie hin, Mister? Wir Schausteller machen unsere Differenzen unter uns aus. Die Amalfis werden seither geschnitten.« Mit diesem Klatsch konnte Dorian wenig anfangen. »Gibt es sonst noch Gerüchte über die Amalfis? Vielleicht, dass bei ihnen nicht alles mit rechten Dingen zugeht?« »Wie meinen Sie das? Weil sie eine Hellseherin bei sich haben?« »Die alte Zarina sieht man kaum. Über sie kann ich nichts sagen. Auf ihre Prophezeiungen würde ich allerdings nicht mehr geben als auf die anderer Wahrsagerinnen – nämlich nichts.« Dorian nahm die Hand von den beiden Pfundnoten. Der Würfelbudenmann strich sie ein. Unbefriedigt kehrte der Dämonenkiller zum Rover zurück. Er kam an Anatol Drago vorbei. Der untersetzte, stämmige Mann kniff die Augen zusammen, sagte aber nichts. Im Rover war es kalt geworden, doch Phillip und Don Chapman waren warm angezogen und hatten sich in eine Decke gehüllt. »Du bleibst vorerst hier, Don«, sagte Dorian. »Später, während der Abendvorstellung, wirst du dich in den Wohnwagen umsehen. Es dauert noch eine Weile. Hoffentlich wird es dir nicht zu kalt und zu langweilig.« »Frieren werde ich nicht und Warten habe ich gelernt«, antwortete der Puppenmann. Dorian schloss den Wagen ab und ging mit Phillip zu den Wohnwagen und dem Schauzelt der Amalfis. Er verzichtete darauf, noch andere Schausteller zu befragen. Auch von ihnen hätte er nichts an-
deres zu hören bekommen als Vorurteile, Verleumdungen und Klatsch. Dorian und Phillip gingen zuerst in den Wohnwagen der alten Zarina. Sie hatte noch keine Kundschaft. Nicht allzu freundlich sah sie Dorian und dem Hermaphroditen entgegen. Zarina hatte Dorian noch immer nicht ganz verziehen, dass er sie hereingelegt und bis zu den Wohnwagen der Amalfis gefahren hatte. »Was willst du schon wieder hier?«, fragte sie. »Wir wollen den Dämon zur Strecke bringen, der sich in der Amalfi-Sippe verbirgt«, antwortete der Dämonenkiller. Er ließ die gnostische Gemme vor dem Gesicht der Alten baumeln. Der Rabe auf ihrer Schulter schlug mit den Flügeln und krächzte. Die Katze in der Ecke fauchte und machte einen Buckel. Die alte Zarina verzog jedoch keine Miene. Ein Wink, und die Tiere waren ruhig. Sie musterte Phillip und schüttelte den Kopf. »Bei mir seid ihr an der falschen Adresse. Ich bin ganz sicher kein Dämon. Was für ein Wesen hast du da mitgebracht, Dorian Hunter? Eine Ahnung steigt in mir auf. Wo ist meine Kristallkugel? Ich will Gewissheit haben.« Sie kramte die Kristallkugel aus einer Kiste hervor. Phillip lächelte unergründlich. Zarina starrte mit glasigen Augen in die Kristallkugel. »Er ist es«, murmelte sie, »der geheimnisvolle Hermaphrodit, von dem die Sagen künden. Nur alle paar hundert Jahre wird ein solches Geschöpf geboren. Die Dämonen fürchten es mehr als alles andere.« Ihre Augen wurden wieder klar. Sie wandte sich Phillip zu. »Heil dir, du Auserwählter des Schicksals!« Phillip lächelte nur. Er nahm die Hand der Alten und drückte sie sanft. Jetzt war Dorian überzeugt, dass die alte Zarina kein Dämon war. Für Dämonen war die Berührung des Hermaphroditen lähmend, zuweilen sogar tödlich. Dorian versuchte es auf andere Weise. »Sie sehen, dass ich einen mächtigen Verbündeten und die besten Aussichten habe, den Dämon zur Strecke zu bringen«, sagte er. »Die Amalfis müssen einfach mit mir zusammenarbeiten, Zarina. Oder
sollen noch mehr Menschen ein schreckliches Ende finden wegen des albernen Ehrenkodexes Ihrer Sippe? So nehmen Sie doch Vernunft an!« Die Tradition, in der Zarina erzogen worden war und mehr als neunzig Jahre gelebt hatte, war zu stark in ihr. »Nur das Sippenoberhaupt kann diese Entscheidung treffen«, sagte sie. »Ihr müsst zu Raffael Amalfi gehen. Er fühlt sich im Moment aber sehr schlecht und wird heute Abend vielleicht gar nicht auftreten können. Der Teufel steckt in seinen Eingeweiden. Das kommt davon, weil er Eisen, Messer, Glas, Feuer und alles Mögliche gefressen hat und das über viele Jahre hinweg. So etwas kann nicht gut gehen.« »Wo finden wir den Nadelkopf Pancho Sequila?«, fragte Dorian. »Ihn habe ich heute Vormittag nicht zu sehen bekommen.« »Er hätte eigentlich da sein müssen. Er wohnt mit den Kindern der beiden Liliputaner im umgebauten Bus. Jeder von der Sippe kann euch ihren Raum zeigen.« »Wir werden ihn uns ansehen«, sagte Dorian. »Und dann wollen wir mit Raffael Amalfi sprechen. Sie haben keinen Verdacht, wer der Dämon sein könnte, Zarina?« Die Alte schüttelte den Kopf. »Und wenn ich es wüsste, dürfte ich es nicht sagen. Es ist Sache der Sippe.« Dorian war es, als liefe er immer wieder gegen eine Mauer. Es gab eine Grenze, über die er bei den Amalfis ganz einfach nicht kam. Er ging mit Phillip zum umgebauten Bus hinüber. Anatol Drago stand bereits als Ausrufer auf der Vorbühne des Schauzeltes und machte Reklame für die Abendvorstellung. Obwohl es kalt war, stand Sheila neben dem Ausrufer, nur mit einem ganz knappen Gewand angetan. Manchmal ließ sie die Hüften kreisen und den Bauch rotieren, warf den Vorübergehenden und den neugierig Herumstehenden Blicke zu. Dorian fragte den Glasfresser Mangus nach dem Freak Pancho Seguila. »Wir müssen ihn dringend sprechen. Es ist sehr wichtig.« »Ihr könnt jetzt nicht zu Pancho«, sagte der Glasfresser, ein älterer, ausgemergelt erscheinender Zigeuner mit tiefen Falten im lederhäu-
tigen Gesicht. »Warum nicht? Wir müssen zu ihm.« »Es ist unmöglich.« Da hörten Dorian und Phillip einen gellenden Schrei aus dem Bus. Jemand brüllte um Hilfe. Dorian schob den Glasfresser Mangus zur Seite und stürmte in den Bus. Er rannte durch die mit Holzwänden abgeteilten Verschläge, hörte Poltern und Keuchen, die Geräusche eines Kampfes. Ein Mann brüllte: »Verdammter Lump! Ich schlage dir deinen Nadelkopf in Trümmer.« Eine Frau kreischte, und ein paar Kinder plärrten. Überall im Bus wurden jetzt Stimmen laut. Männer schimpften, und Frauen zeterten. Phillip kam hinter Dorian her. Sie erreichten den Verschlag, den der Freak mit den beiden Liliputanerkindern bewohnte. Matteo und Andrej, der jüngste Amalfi-Sohn, waren da. Luis Amalfi, ein großer, grobschlächtiger Mann, hatte den Freak gepackt und prügelte auf ihn ein. Die schwarzhaarige Natalie mit den üppigen Brüsten lag halb über der untersten der drei übereinander befindlichen Bettstellen und schrie Zeter und Mordio. »Du hast mich mit diesem Schandweib betrogen, Pancho Seguila!«, brüllte Luis. »Gib es zu, Lump, elender! Ich weiß ohnehin Bescheid. Ich schlage dich windelweich, und dann kommst du vor das Femegericht der Sippe.« Der Freak mit seinem apfelgroßen Kopf und den verkümmerten Gliedmaßen konnte sich gegen den Rasenden nicht wehren. Matteo und Andrej zogen die Messer, als sie Dorian und Phillip sahen. »Haut ab!«, fuhr Matteo sie an. »Das geht keinen Außenstehenden etwas an.« Dorian zögerte, aber Philipp trat ohne zu zögern auf die beiden mit Messern bewaffneten Zigeuner zu. Matteo war ein geübter Messerstecher. Er legte den Zeigefinger so an die Klinge, dass nur ein anderthalb Zentimeter langes Stück der Spitze darüber hinausragte. Damit wollte er Phillip blitzschnell und viele Male punktieren. Das verursachte keine gefährlichen Verletzungen, aber schmerzhafte und stark blutende Wunden. Die Amalfi-Söhne mit den locker sit-
zenden Messern kannten sich aus. Matteos Klinge zuckte vor. Ein gellender Schrei ertönte. Aber nicht Phillip hatte ihn ausgestoßen, sondern der Zigeuner. Es war Matteo, als hätte er einen starken Stromschlag erhalten. Das Messer war plötzlich so heiß, dass es ihm die Hand verbrannte. Er ließ es fallen. Mit hervorquellenden Augen starrten Matteo und Andrej auf das Messer. Es war völlig verformt, so als wäre es so weich wie Butter gewesen und dann erstarrt. Phillip lächelte und legte Matteo eine Hand auf eine Schulter. Wieder war es Matteo, als rase ein starker Stromstoß durch seinen Leib. Er brüllte. Andrej wollte Phillip am Arm packen, zuckte jedoch zurück. In seinen Handflächen bildeten sich Brandblasen. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu!«, stieß er hervor. »Das ist ein Zauberer oder ein Dämon!«, rief Matteo. Die beiden jungen Männer flüchteten, ohne sich weiter um Luis, Natalie, den Freak oder Dorian Hunter zu kümmern. Dorian war etwas erstaunt. Normalerweise setzte Phillip seine zeitweilig auftretenden, unerklärlichen Kräfte nicht bewusst ein, und wenn, dann nur gegen Dämonen, nicht gegen normale Menschen. Aber aus ihm wurde man eben nie klug. Dorian drängte Phillip in den engen Wohnverschlag. Er packte Luis und riss ihn von dem blutenden Freak weg. »So, das langt. Wir haben mit Seguila zu reden, und zwar allein und ungestört.« »Er ist mit meiner Frau ins Bett gegangen, hier im Bus, mitten zwischen den Mitgliedern der Sippe. Den Liliputanersprösslingen hat er Geld gegeben, dass sie nicht stören und nichts verraten. Ich schlage ihn tot und diese Hure dazu.« Wenn Luis Natalie wegen Ehebruchs hätte totschlagen wollen, wäre sie schon längst nicht mehr am Leben gewesen. Er wollte sich mit seinem Gebrüll und Getobe abreagieren. Aber er brauchte den Freak jetzt und konnte nicht warten, bis sich Luis abgeregt hatte. »Geh mit deiner Frau zu Raffael!«, sagte Dorian. »Sag ihm, was geschehen ist! Um Seguila kümmern wir uns derweil. Er wird nicht entkommen.«
Luis ließ von dem wimmernden Freak ab. Hinter seiner niedrigen Stirn arbeitete es. »Das Sippenoberhaupt erwartet dich und deine Frau!«, schrie Dorian ihn an. »Weshalb zögerst du noch?« Diese Sprache verstand Luis. Er hatte Respekt vor Raffael. Wütend packte er die zeternde Natalie, die Stein und Bein schwor, sie hätte niemals etwas mit dem Freak gehabt, und zerrte sie aus dem Verschlag. Nebenan jammerten Luis' Eltern, der alte Rosario und seine Frau, über die Schande, die sie erleben mussten. »Dieses Weib bringt uns noch ins Grab«, hörte Dorian den alten Rosario rufen. »Fünf Kinder hat sie, und sogar mit einem Freak treibt sie es«, schrie seine Frau. Dorian Hunter nahm die gnostische Gemme vom Hals und wandte sich dem Freak zu. Kaum dass der Nadelkopf die gnostische Gemme erblickt hatte, stieß er einen Schrei aus, schlug die winzigen Hände vor den apfelgroßen Kopf und jammerte. Dorian nahm noch das Silberkreuz aus der Tasche und Phillip näherte sich dem Freak von der Seite her. Seine Augen strahlten wie pures Gold, sein Gesicht war verklärt. Der Freak brach in die Knie, zuckte und wand sich. »Ich denke, da haben wir unseren Dämon«, sagte Dorian Hunter. Weihwassertropfen trafen den Freak, Brandblasen bildeten sich auf seiner Haut. Ein scheußliches Geheul kam aus dem Mund des Nadelkopfs. Dorian Hunter ließ nicht locker. Er sprach Formeln der Weißen Magie und beschrieb mit Kreuz und gnostischer Gemme einen Bannkreis um den Freak. Dieser schrie jetzt abgehackt. Nach einigen Sekunden Pause ertönte ein gellender Schrei. Schaum quoll aus seinem Mund. Er quälte sich auf die Knie, aber der auf den Boden und in die Luft gezeichnete Bannkreis hielt ihn. Da polterte es draußen an die Tür des Verschlags. Phillip trat zu dem Freak und streckte die Hände über ihm aus. Der Freak stürzte
zu Boden. Seine Arme und Beine zuckten und manchmal bäumte er sich auf. »Pass auf ihn auf, Phillip!«, sagte Dorian. »Schwarzes Blut«, sagte der Hermaphrodit, der wie immer keine zusammenhängenden Erklärungen abgab. »Fluch und Schande. Erfüllung.« Dorian hatte keine Zeit, an dem Orakelspruch herumzudeuten. Er öffnete die Tür. Raffael stand draußen, auf seinen Sohn Matteo und den Wolfsmenschen Gunter gestützt. Sein Gesicht war bleich und zu einer Grimasse des Schmerzes verzerrt. Er konnte sich allein nicht auf den Beinen halten. Hinter ihm drängten sich die anderen Mitglieder der Sippe, fast vollzählig. Auch Lucia mit zwei Schlangen um den Hals war da. »Kommen Sie herein, Amalfi!«, sagte Dorian Hunter. »Wir haben den Dämon. Die anderen sollen draußen bleiben.« »Dieser Lump von einem Freak hat mit meiner Frau geschlafen«, heulte Luis im Hintergrund. »Und nicht nur einmal. Zum Narren hat er mich gemacht. Erschlagen werde ich ihn.« »Halt den Mund, Luis!«, sagte Raffael. »Das regeln wir noch. Jetzt geht es um andere Dinge.« So groß war seine Macht über die Sippe, dass Luis verstummte. Er maulte und brummte zwar noch, wagte aber kein lautes Wort mehr. Matteo und Gunter führten Raffael in den ohnehin schon engen Verschlag, in dem sich jetzt die Menschen drängten. Dorian Hunter schloss die Tür ab. »Das ist der Dämon«, sagte er und deutete auf den Freak, der am Boden lag und zuckte. Er berührte die Stirn des Freaks mit einem silbernen Kreuz. Ein schwarzes Wundmal erschien, ein Schrei gellte durch den Wagen. »Tatsächlich.« Raffael staunte. »Das hätte ich nicht gedacht, dass Sie Erfolg haben würden, wo wir schon seit vielen Monaten vergeblich alles Mögliche versucht haben, Hunter.« Plötzlich krümmte er sich zusammen. Hätten Matteo und Gunter ihn nicht gehalten, wäre er zu Boden gestürzt. Er biss die Zähne zusammen, dass es knirschte und die Wangenmuskeln wie Stränge
hervortraten. »Mein Leib!«, ächzte er. »Diese Schmerzen sind furchtbar. Wie Ruhr und Magendurchbruch zugleich. Ich hatte schon öfter Schmerzen – aber so schlimm war es noch nie.« Er konnte die Worte nur noch stoßweise hervorbringen. Sein Gesicht war totenbleich; viele kleine Schweißtröpfchen erschienen darauf. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Anfall etwas abflaute. »Bei diesen Schmerzen möchte ich am liebsten den Beruf wechseln«, stöhnte er. »Sollen wir dich in deinen Wohnwagen zurückbringen, Vater?«, fragte Matteo besorgt. »Zuerst muss über den Dämon entschieden werden. Wer ist Ihr Freund, Hunter?« »Einer, den die Dämonen mehr fürchten als alles andere. Er heißt Phillip.« »Willkommen, Phillip!«, sagte Raffael. »Danke für deine Hilfe. Auch Ihnen danke ich, Dorian Hunter, wenn ich Ihre Hilfe auch zuerst ausgeschlagen habe. Was soll nun mit dem Dämon geschehen? Nach den Gesetzen der Sippe müsste er vors Femegericht.« »Wir dürfen kein Risiko eingehen«, sagte Dorian Hunter, »sonst entgeht er uns noch. Er muss sofort vernichtet werden. Dämonen sind heimtückisch und haben immer Überraschungen auf Lager.« »Im Sonderfall kann das Sippenoberhaupt auch ohne das Femegericht entscheiden«, stieß Raffael hervor. Wieder wüteten schlimme Schmerzen in seinen Eingeweiden. »Dies ist ein Sonderfall. Der Dämon soll auf der Stelle umgebracht werden. Das sage ich, Raffael Amalfi. Hat einer von den anwesenden Sippenangehörigen Einwände?« »Nein«, antworteten Matteo und Gunter. »Gut. Es sei! Dorian Hunter und Phillip, ich bitte euch, das Urteil zu vollstrecken. Kann man den Dämon vorher verhören? Ich will wissen, wie all das kam und wie die vielen Menschen spurlos verschwanden.« Phillip stand immer noch mit ausgebreiteten Händen über dem Freak und hielt ihn in Schach.
Der Nadelkopf stöhnte und wand sich. Auch Raffael ächzte. »Vielleicht«, sagte Dorian. »Ich will es versuchen.« Er ließ die gnostische Gemme vor den Augen des Nadelkopfes baumeln und sprach eine Beschwörungsformel der Weißen Magie. Der Freak krächzte. »Sprich, Dämon!«, sagte Dorian. »Bei dem Fürsten der Finsternis und der Hölle, sag mir, wie hast du diese Menschen zu Tode gebracht?« Die winzigen Augen des Nadelkopfs traten hervor. »Asmodis Fluch erfüllt sich«, heulte er. »Wehe, wehe, es gibt kein Entrinnen! Zu Ende ist die lange Leidensbahn. Doch auch dir ist kein Glück beschieden. Ich sehe die Schatten der Finsternis auf deinem Lebensweg.« Das galt Dorian Hunter. »Erasyn Moyn Meffias Soter …«, heulte der Nadelkopf. Bevor er die Beschwörung beenden konnte, drückte ihm Dorian die gnostische Gemme ins Gesicht. Aus den winzigen Händen und Füßen des Freaks wuchsen plötzlich lange Krallen, viel zu groß für die Extremitäten. Phillip packte den apfelgroßen Kopf mit seinen schmalen, sensiblen Händen. Aus Mund und Nase, sogar aus den Augenhöhlen des Freaks quoll schwarzer Rauch, auch zwischen Phillips Fingern hindurch; er kam aus den Ohren des Freaks. Mit einem gellenden Schrei bäumte der Freak sich auf, dann fiel er wieder zurück. Sein Körper wurde schlaff. Mund und Augen standen offen. Er war tot. Dorian nahm die Gemme von seinem Gesicht. Er und Phillip richteten sich auf. »Das war es«, sagte Dorian. »Verbrennt den Körper des Dämons, damit der Schwarzblütige ganz sicher und völlig vernichtet ist! Das Kreuz soll auf seiner Brust liegen bleiben.« Er nahm den Weihwasserflakon aus der Tasche und spritzte Weihwasser auf den Körper des Nadelkopfs. Nichts geschah. Dorian legte das Silberkreuz auf seine Brust. »Bleibt diesem Raum und dem Leichnam fern!«, sagte er. Raffael nickte. Er hatte starke Schmerzen. »Sagt es den anderen!«,
befahl er Matteo und Gunter. »Und bringt mich in meine Unterkunft zurück! Zarina soll zu mir kommen. Oh, mir ist, als müsste ich sterben. Hunter, kommen Sie morgen mit Phillip und Ihren Freunden zu einem Gastmahl zu uns!« Matteo und Gunter trugen ihn halb hinaus. Ein Stimmengewirr erhob sich. Viele Fragen wurden gestellt. Matteo gab stellvertretend für seinen Vater knapp ein paar Anordnungen. Dorian und Phillip verließen den Verschlag, in dem der tote Freak lag. Im umgebauten Bus drängten sich die Sippenmitglieder und die Angehörigen der Monstrositätenschau. Dorian sah die angespannten, fragenden Gesichter, das Entsetzen und die scheue Bewunderung in den Augen dieser Menschen. Er sagte nichts. Draußen zog er Phillip zum Rover. Ihre Arbeit war getan, so glaubte der Dämonenkiller. Doch der Hermaphrodit sträubte sich und war nicht dazu zu bewegen, einzusteigen. Er wollte in eine bestimmte Richtung. Dorian ließ ihm den Willen. Phillip führte Dorian zum Schauzelt der Amalfis. Anatol Drago hatte seinen Platz als Ausrufer wieder eingenommen. Phillip deutete auf die Kasse, hinter der der Liliputaner Pit saß. »Du willst, dass ich Karten für die Abendvorstellung kaufe, Phillip?«, fragte Dorian. »Aber weshalb? Der Dämon ist doch vernichtet?« Der Dämonenkiller wusste, dass Phillips oftmals eigenartige Handlungen ihren Grund hatten. Er kaufte zwei Karten. Dann ging er mit Phillip zum Rover und stieg ein. Don Chapman saß auf dem Beifahrersitz, eine Decke um die Schultern. »Was war?«, fragte er. »Ihr seid lange weggeblieben.« »Wir haben den Dämon entlarvt und erledigt.« Er erzählte Don, was sich zugetragen hatte. Ein Mann kam über den Platz gelaufen. Er klopfte an die Scheibe. Es war Stefan. Als Dorian die Scheibe herunterkurbelte, drückte er ihm ein paar Münzen in die Hand. »Hier. Das Eintrittsgeld für die Schau. Selbstverständlich brauchen
Sie nichts zu bezahlen, Mr. Hunter. Pit wusste noch nicht Bescheid. Entschuldigen Sie vielmals.« Er nickte Dorian zu, lächelte freundlich und ging davon. Dorian sah ihm nach. Diese Zigeuner waren schon merkwürdige Burschen. Am Vormittag war Stefan noch mit dem Messer auf ihn losgegangen, jetzt benahm er sich, als sei Dorian sein bester Freund; er hätte sich den rechten Arm für ihn abhacken lassen. Kopfschüttelnd fuhr Dorian los zur Jugendstilvilla.
Dorian hatte Don Chapman bei der Villa absetzen wollen, aber Phillip nahm den Puppenmann und drückte ihn sanft an seine Brust. Der Hermaphrodit hatte kleine weibliche Brüste. Don sträubte sich gegen die Berührung. »Sag ihm, dass er das nicht machen soll, Dorian!«, bat er. »Ich bin kein Spielzeug.« »Ich verstehe dich nicht, Phillip«, sagte der Dämonenkiller. »Was ist denn jetzt wieder?« Phillip schüttelte nur den Kopf, als Dorian zur Mauer hinsah, die das Grundstück mit der Jugendstilvilla umgab. Er wandte sich mit Don Chapman in die andere Richtung. »Er will anscheinend, dass ich mitkomme«, meinte Don. »Da hätte ich mir den Weg hierher sparen können«, sagte Dorian. »Ich verstehe nicht, weshalb Phillip sich so merkwürdig benimmt. Haben wir den Dämon nun erledigt oder nicht? Mir scheint fast, als gäbe es bei den Amalfis noch etwas zu tun.« Da er nun schon einmal zur Jugendstilvilla gefahren war, ging er auch für ein paar Minuten hinein. Coco Zamis war ausgegangen, wie er von Miss Pickford hörte; Trevor Sullivan hatte im Keller in der Agentur zu tun. Miss Pickford fragte nach Phillip. »Was, bei der Kälte wollen Sie den armen Phillip draußen herumschleppen?«, rief sie, als Dorian ihr sagte, dass er mit dem Hermaphroditen die Abendvorstellung der Amalfis besuchen wollte. »Er wird sich den Tod holen.« »Er ist schließlich nicht aus Marzipan«, antwortete Dorian mür-
risch. Phillip war der Augapfel der ältlichen Martha Pickford. Sie bemutterte ihn wie eine Glucke ihr Junges. Dorian kam nicht weg, ehe sie ihm nicht einen Wintermantel für Phillip und einen dicken Wollschal aufgedrängt hatte. »Eine Schande ist es!«, schimpfte Miss Pickford. »Erst wollten Sie nur kurz mit ihm weg, dann hat es ohnedies so lange gedauert, und jetzt soll er auch noch die halbe Nacht ausbleiben. Wenn ich nicht auf ihn aufpassen würde, wäre Phillip schon längst unter der Erde.« »Er ist ohne Sie geboren worden und aufgewachsen, stellen Sie sich vor«, sagte Dorian und ging hinaus. Phillip vertauschte die Jacke mit dem Mantel, und die Fahrt ging los. Die Abendvorstellung begann bald. Dorian holte von einem Stand ein paar heiße Würstchen für sich, Phillip und Don Chapman, denn alle drei hatten Hunger. Der Zwergmann verzehrte ein halbes Würstchen, wovon er reichlich satt war. Er wollte sich ein wenig umsehen, sobald die Abendvorstellung begonnen hatte. Dorian klopfte ihm mit zwei Fingern auf die Schulter, sagte aber nicht, dass Don auf sich aufpassen sollte; schließlich war der Zwergmann ein erwachsener Mensch und kein kleines Kind. Dorian und Phillip gingen zum Schauzelt der Amalfis. Es war fast voll. Zwar fielen Raffael und der Nadelkopf Pancho Seguila aus, doch dafür hatte Hervio seinen großen Auftritt, und die rassige Ramona sollte eine Seiltanznummer zeigen. Phillip saß teilnahmslos neben Dorian. Draußen heizte Anatol Drago die Neugierigen mächtig an. Stefan machte drinnen den Ansager. Die Abendvorstellung, für zwanzig Uhr angesetzt, begann mit ein paar Minuten Verspätung. Die Vogelfrau Kolibra und die Bauchtänzerin Sheila hatten die ersten beiden Auftritte. Dann wurde Hervio Masto auf die Bühne gebracht. »Der einzigartige, der unvergleichliche Hervio Masto beendet heute seine siebzigtägige Hungerkur«, rief der Ansager Stefan. »Sehen Sie nun, was er gleich zu sich nehmen wird!« Ein Tisch wurde hereingetragen. »Oh!«, und »Ah!«, machten die Zuschauer. Auf dem Tisch stand Essen für eine halbe Kompanie: Ein
großer Puter, ein Dutzend Hähnchen, zwanzig Steaks und ebenso viele Schnitzel, Schinken, Würstchen, Brotlaibe, zwei Riesentorten, Batterien von Wein- und Bierflaschen, Pudding und Früchte. »Das alles wird Hervio Masto in den nächsten zwei Stunden verzehren, sonst bekommen Sie Ihr Eintrittsgeld zurück, sehr verehrte Zuschauer«, verkündete Stefan. Wieder konnten Leute, die ein paar Pence dafür opfern wollten, Einsicht in die ärztlichen und notariellen Beglaubigungen für Hervio Mastos siebzigtägige Hungerkur nehmen. Ein dürrer Hintertreppennotar verkündete räuspernd und wichtigtuerisch, dass die Siegel an dem Glaskasten unversehrt seien. Dorian merkte, dass Phillip an seiner Seite unruhig wurde. »Was hast du?«, fragte er den Hermaphroditen. Aber Phillip antwortete nicht. Ein weiter Pullover verdeckte seine grazilen und mädchenhaften Formen. Im Halbdunkel des Zuschauerraumes sah er wie ein junger Mann mit langem, blondem Haar und etwas zu weichen Gesichtszügen aus. Hervio Masto wurde von Herkules und Luis Amalfi aus dem Glaskasten gehoben und durchs Publikum getragen. Er hatte nur einen Lendenschurz an und sah erschreckend aus. Sein Mund öffnete und schloss sich. Er stammelte und zuckte, und in seinen Augen flackerte die Gier. Dorian wusste nicht, ob er Mitleid oder Abscheu empfinden sollte. Hervio wurde an die Tafel gesetzt. Er fiel über die Speisen her. Leise Musik spielte, ein Walzer, was Dorian ziemlich geschmacklos fand. Was Hervio Masto machte, war mit Fressen noch sehr zurückhaltend ausgedrückt. Er schluckte, würgte, kaute und stopfte, fraß mit einer Geschwindigkeit, die auch Dorian Hunter die Augen aufreißen ließ. Der Puter war im Nu verschwunden. Der Knochenmann stopfte Hähnchen, Steaks, Würste und Brot in seinen gierigen Schlund, goss Wein und Bier in Strömen hinterher. Er saß dem Publikum gegenüber, der Tisch stand seitlich von ihm. Man konnte zusehen, wie Hervio wie ein Hefeteig aufging. Sein linkes Bein schwoll an, als pumpe jemand Wasser hinein. Hervios Hals
blähte sich wie ein Luftballon, seine Wangen wurden aufgeblasen. »Wie der frisst!«, sagte eine dicke Frau neben Dorian andächtig. Es klang fast, als beneidete sie Hervio Masto. Nach zwanzig Minuten hatte Hervio Masto eine Menge vertilgt, von der zehn Mann satt geworden wären. Sein Körper war merkwürdigerweise immer noch klapperdürr, aber sein rechtes Bein begann nun auch anzuschwellen. Mühsam erhob er sich. »Die Natur fordert ihr Recht«, rief Stefan Amalfi. »Hervio Masto wird jetzt für ein paar Minuten pausieren, denn seine Eingeweide haben ihre Arbeit wieder aufgenommen. Dann wird er seine Monstermahlzeit fortsetzen. Beifall für den einzigartigen Hervio Masto. Das bekommen Sie sonst nirgends zu sehen, meine Damen und Herren.« Die Zuschauer klatschten. Hervio Masto humpelte hinaus. Schon während des nächsten Auftritts, dem des Muskelmannes Herkules, kam Hervio Masto zurück. Seine Fresserei allein konnte letzten Endes die Zuschauer doch nicht den ganzen Abend fesseln. Deshalb liefen auf der Bühne die Nummern des Abends ab, während Hervio an der linken Bühnenseite fraß. Er verstreute Knochen, leere Flaschen und Abfälle um sich. Sein Bauch wölbte sich wie eine Kugel, während seine Beine wieder normal wurden. Es war ein widerwärtiges Bild. Der Bauch des Knochenmannes dehnte sich und dehnte sich, bis es schließlich aussah, als ginge er mit einem Elefantenjungen schwanger. Lucias Schlangennummer folgte. Dann trat die rassige Ramona als Seiltänzerin auf. Ihre Seiltanzkünste waren nicht überragend, doch darauf achteten zumindest die männlichen Zuschauer nicht. Die blonde, hellhäutige Ramona trug nämlich ein Kostüm, das lediglich aus vier schwarzen Stoffhänden bestand und eben das Notwendigste bedeckte. Sie präsentierte ihren Körper so herausfordernd, als wollte sie jeden einzelnen Mann im Publikum auffordern, sie vom Seil zu holen und auf offener Bühne zu vernaschen. Während der Messernummer der drei Amalfis machte Hervio Masto seine dritte Toilettenpause. Als er drei oder vier Minuten draußen war, zupfte Dorian etwas am Hosenbein. Er schaute herun-
ter. Don Chapman stand unter ihm. Der Dämonenkiller tat, als wollte er seinen Schnürsenkel zubinden. Die Zuschauer waren von den Messerkünsten der Amalfis gefesselt. Keiner achtete auf das, war zu Dorians Füßen vorging. Es war nicht ungefährlich für den Zwergmann gewesen, die Sitzreihe entlang zu laufen. Die plötzliche Fußbewegung eines Zuschauers hätte ihm ein paar Knochen brechen können. »Komm schnell hinaus!«, sagte er Dorian ins Ohr. »Ich habe Schreie gehört. Die Zigeuner sind schon alarmiert. Es ist etwas passiert.« »Du bleibst hier, Phillip!«, sagte Dorian. Er schob Don Chapman unter die Jacke und stand auf. Am Ausgang hob er Don hoch, so dass er hinauf unters Zeltdach klettern und sich dort auf eine Stange setzen konnte. »Bleib hier und beobachte!«, sagte der Dämonenkiller. »Ich muss genau Bescheid wissen über alles, was hier im Zelt vorgegangen ist. Es kann wichtig sein.« »Gut«, sagte Don Chapman und kletterte geschickt nach oben. Dorian verließ das Zelt. Er sah Lucia mit vier Schlangen und die alte Zarina in die Dunkelheit am Rand des Platzes laufen. Luis folgte ihnen mit einem Beil. Dorian schloss sich ihnen an. Die Wohnwagen und das Schauzelt der Amalfis standen am Rand des Rummelplatzes. Die anderen Schausteller und die Besucher hatten offenbar nichts mitbekommen. Schlagermusik dudelte aus den Verstärkern, Riesenräder und Karussells drehten sich, Tausende von Glühbirnen leuchteten, und die Leute wimmelten in Scharen über den Platz. Hinter dem Platz befand sich ein kleines Wäldchen. Hier suchten die Zigeuner mit Taschenlampen nach der Ursache der Schreie, die sie aufgestört hatten. Dorian sah den Wolfsmenschen Gunter, noch im Kostüm, mit einer Taschenlampe in der Hand und einem langen Messer bewaffnet. Herkules stapfte umher, der alte Rosario Amalfi und seine Frau, Anatol Drago und einige andere begleiteten ihn. Anatol Drago entfernte sich von den Übrigen. Plötzlich gellte wieder ein Schrei durch die Nacht.
»Zu Hilfe! Zu Hilfe!« Er taumelte aus der Dunkelheit unter den Bäumen hervor, totenbleich im Gesicht. Die anderen bestürmten ihn mit Fragen, aber er konnte nicht gleich antworten, stützte sich an einen Baum und übergab sich, bis er nichts mehr im Magen hatte. »Der Dämon hat wieder zugeschlagen«, sagte er dann. Alle redeten durcheinander, in Englisch, Romani und in anderen Sprachen und Dialekten. Anatol Drago deutete mit zitternder Hand über die Schulter. »Er ist noch dort! Er frisst seine Opfer.« Dorian entriss Gunter die Taschenlampe und eilte dorthin, wo Anatol Drago hergekommen war. Er leuchtete. Ein Bild des Grauens bot sich ihm. Da war eine kleine Bank, und vor ihr lagen zwei verstümmelte Körper. Es waren ein junger Mann und eine junge Frau, deren Geschlecht Dorian nur noch an ihrem Rock erkennen konnte. Ein Liebespaar, das hier ungestört ein paar Küsse und Zärtlichkeiten hatte austauschen wollen. Auf dem Leichnam der Frau saß ein scheußliches Monster. Es hatte eine mächtige Mähne, eine plattgedrückte Nase und ein blutiges Gebiss. Die Monsterfratze war blau, die Augen funkelten rot in den gelben Schlitzpupillen. Es bewegte sich auf stummelartigen Fortsätzen und war nicht groß; nach Dorians Schätzung maß es vielleicht einen halben Meter. Trotz seiner geringen Größe war das Monster aber ungeheuer gefräßig. Es hatte die beiden Leichen schon zur Hälfte aufgefressen und selbst Haare und Knochen nicht verschmäht. Jetzt fauchte es Dorian an. Einen Augenblick sah es so aus, als wollte es den Dämonenkiller anspringen. Da aber kamen die Mitglieder der Amalfi-Sippe. Lucia ließ zwei ihrer Schlangen los und deutete auf das Monster. Der Wolfsmensch Gunter schleuderte sein Messer. Er war kein Experte wie die Söhne Raffaels, aber er hätte das Monster zweifelsohne getroffen. Doch blitzschnell und geschmeidig wich es aus. Es wollte seine Beute jedoch nicht ohne weiteres aufgeben; es fauchte und brüllte wie ein Löwe. Man konnte kaum glauben, dass aus diesem kleinen Körper
eine so mächtige Stimme kam. Der Muskelmensch Herkules mochte einfältig sein, feige war er aber nicht. Er nahm Luis das Beil aus der Hand und ging brüllend auf das Monster los. Eine von Lucias Schlangen hatte es erreicht. Sie stieß zu, aber ihre Giftzähne erwischten nur die Mähne des Monsters. Fauchend schüttelte es die Schlange ab, wich einem Beilhieb Herkules' aus und raste in die Dunkelheit. Dorian verfolgte es. Noch einmal sah er den scheußlichen Kopf des kleinen Ungeheuers, der fast nur aus Gebiss bestand, dann war es verschwunden. »Hierher!«, rief Dorian. Die Männer und Frauen von der Amalfi-Sippe folgten dem Dämonenkiller. Sie erreichten die Wohnwagen und das Schauzelt. Dorian wusste nun, dass er sich getäuscht hatte. Das dämonische Ungeheuer war noch keineswegs unschädlich gemacht. Bei den Wohnwagen und dem Schauzelt war das Monster nirgends zu sehen. Der Dämonenkiller sah sich um. Lucia nahm eine Klapperschlange von ihrem Hals, zischte ihr etwas zu und machte ein paar Zeichen. Dann legte sie die Schlange auf den Boden. Das Reptil glitt schnell davon. Es kroch zum großen Wohnwagen, zu der Tür, die zu Raffaels Unterkunft führte. Im Schauzelt wurde gerade wieder ein Tusch gespielt. Die Vorstellung war nicht unterbrochen worden, nach dem alten Motto aller Schausteller: Die Schau muss weitergehen. Matteo und Andrej kamen aus dem Hinterausgang des Schauzeltes; die Liliputanerfrau Patty, die sie verständigt hatte, war bei ihnen. Die Amalfis hielten ihre gefährlichen Messer in den Händen. Ein Halbkreis von Zigeunern und Mitgliedern der Monstrositätenschau umgab den Eingang des großen Wohnwagens. »Das Ungeheuer ist doch nicht etwa in der Unterkunft meines Vaters?«, fragte Matteo bleich. »Wir werden es gleich wissen«, sagte Dorian. »Ich brauche ein Beil oder einen Knüppel.« Eins der älteren Zigeunerkinder, die angsterfüllt im Hintergrund standen, brachte ihm einen dicken Prügel. Hart pochte Dorian mit dem Prügel an die Tür.
Sie wurde plötzlich von innen aufgerissen. Lourettas fettes Gesicht erschien. Sie trug einen schmuddeligen Morgenmantel, der ihre Speckmassen mühsam bändigte. »Was ist los?«, keifte sie. »Was steht ihr alle hier und glotzt? Warum seid ihr nicht in der Vorstellung?« Die Klapperschlange ließ ihre Klapper ertönen, richtete sich auf und ihr Kopf pendelte hin und her. »Was soll das? Matteo, Andrej, ihr Taugenichtse, ich will jetzt wissen, was hier vorgeht?« »Der Dämon hat wieder zugeschlagen, Mutter«, sagte Andrej leise. »Wir vermuten, dass er im Wohnwagen ist. Er wurde gestört, bevor er seine Opfer ganz auffressen konnte, und ist geflüchtet.« »Im Wohnwagen?«, schrie Louretta im schrillsten Diskant. »Bei uns vielleicht? Seid ihr verrückt?« »Was haben Sie in der letzten Viertelstunde gemacht?«, fragte Dorian und trat vor. »Ist Ihnen etwas aufgefallen? Haben Sie keine Schreie gehört? Wo ist Raffael Amalfi? Was ist mit ihm? Ich will ihn sprechen!« »Hast du mir Löcher in den Bauch zu fragen, du dahergelaufener Schnauzbart? Raffael geht es nicht gut. Er kann nicht herauskommen.« »Dann kommen wir hinein.« »Das wollen wir doch mal sehen.« Aus dem Wohnwagen dröhnten wie immer Radio und Fernseher in Überlautstärke. Die fette Louretta fegte in die Unterkunft. Sekunden später war sie schon wieder da, einen Besen in der Hand. »Bei uns sind keine Ungeheuer und Dämonen«, keifte sie und drohte Dorian mit dem Besen. »Hier kommt keiner hinein, wenn Raffael es nicht ausdrücklich anders sagt.« »Mutter, so nimm doch Vernunft an!«, beschwor sie Matteo. »Nichts da!«, kreischte die Alte wie eine Furie. »Was geht da draußen vor?«, rief eine Stimme im Wohnwagen. »Louretta, geh von der Tür weg!« »Jetzt habt ihr euren Vater aufgeweckt, wo es ihm so schlecht geht. Da seht ihr es!«
»Mach keinen Ärger, Weib!« Louretta trat zur Seite. Raffael Amalfi erschien. Er trug einen Schlafanzug und wirkte noch mitgenommen, aber er hatte wieder etwas Farbe im Gesicht und stand fest auf den Beinen. Die Schlange zischte, als Raffael aus dem Wohnwagen trat. Sie glitt blitzschnell auf ihn zu und richtete sich auf. Ihre Klapper ertönte. Raffael starrte die Schlange an. Er konnte unmöglich schnell genug aus ihrer Reichweite kommen. Sie musste ihn beißen. Aber da erhielt er Hilfe von einer Seite, mit der niemand gerechnet hatte. Die schöne Ramona trat aus der Menge. Sie bewegte sich blitzschnell und geschmeidig, schlug mit einem Knüppel zu, und die Schlange krümmte sich auf dem Boden. Ihr Rückgrat war direkt hinter dem Kopf zerschmettert. »So!«, schrie Ramona wie eine Furie. Ihr schönes Gesicht war zu einer Fratze hemmungsloser Wut verzerrt. Immer noch trug sie das knappe Kostüm unter dem leichten Umhang. »Bist du wahnsinnig geworden, eine Giftschlange auf deinen eigenen Vater zu hetzen, Lucia? Dich sollte man gleich mit erschlagen.« »Ruhe jetzt!«, brüllte Raffael. »Es ist keine Zeit für Weibergezänk. Lucia hat die Schlange nicht auf mich gehetzt. Ich will jetzt endlich wissen, was hier vorgeht!« Zuerst redeten alle durcheinander, dann erzählten Dorian Hunter und Luis. Die alte Zarina hatte nahendes Unheil gespürt und war schon den ganzen Abend draußen herumgestrichen. Als sie die Schreie hörte, schickte sie die Kinder los, um alle zu alarmieren. »Also doch!«, sagte Raffael schwer. »Der Dämon ist noch nicht tot. Pancho Seguila war es nicht. Wie erklären Sie sich das, Hunter?« »Der Freak war auf jeden Fall ein Dämon oder hatte Dämonisches an sich«, antwortete Dorian. »Aber es muss noch einen weiteren Dämon geben – das Monster, das all die Menschen aufgefressen hat.« »Was – gleich zwei Dämonen in der Sippe?« Raffael konnte es nicht fassen. Dorian fasste ihn am Ärmel. »Ich habe mit Ihnen zu reden, Amalfi.
Jetzt muss es sich entscheiden. Zwei Personen kommen in Frage, ein Dämon zu sein.« »Wer?« »Das sage ich Ihnen allein.« Raffael wollte mit Dorian ein Stück weggehen. Louretta brachte ihrem Mann zeternd einen dicken Mantel, damit er sich nicht erkälte. Sie entfernten sich einige Meter von der Gruppe der anderen, die sie abwartend beobachteten. »Ich verdächtige Hervio Masto und Ihre Frau, Amalfi«, eröffnete Dorian dem Sippenchef. »Beide reagierten stark, als ich mit der gnostischen Gemme in ihre Nähe kam. Und Hervio Mastos Heißhunger und seine Gier sind ebenfalls verdächtig. Den Leichnam des Freaks will ich mir aber auch noch einmal ansehen.« »Was? Louretta?« Der Zigeuner sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. »Sind Sie sich denn klar, was Sie da behaupten, Hunter?« »Ich behaupte noch gar nichts. Ich will mir Gewissheit verschaffen.« »Nun gut, nun gut. Und wie?« »Zuerst will ich Phillip herholen. Ich brauche ihn. Keiner geht weg von hier. Die beiden Toten lasst vorerst im Wäldchen liegen und unternehmt nichts.« Amalfi verzog das Gesicht und presste eine Hand auf seinen Leib. »Die Schmerzen fangen schon wieder an«, stieß er hervor. »Ausgerechnet jetzt!« Er atmete tief durch. »Hoffentlich wird es nicht wieder so schlimm wie vorhin. Das ist die Hölle, Hunter, das sage ich Ihnen.« Lucia streichelte die tote Klapperschlange. Die drei anderen Schlangen zischten böse. In Lucias Augen standen Tränen. »War es denn wirklich nötig, die Schlange gleich totzuschlagen?«, fragte Dorian Raffael, als er den Schmerz des Mädchens sah. »Ihre Giftzähne sind doch ohnehin herausgebrochen.« »Haben Sie eine Ahnung!«, sagte Raffael. »Meine Tochter hat achtzehn Schlangen, und fünf oder sechs davon sind hochgiftig. Sie kann mit ihnen umgehen. Es ist noch nie etwas passiert. Aber ein Biss von dieser Klapperschlange, und ich wäre ein toter Mann gewe-
sen.« Diese Eröffnung musste Dorian erst einmal verdauen. Er ging zum Schauzelt hinüber. Dort trat gerade der Glasfresser Mangus auf. Dorian stutzte einen Augenblick, als er Hervio Masto an seinem Platz sitzen und fressen sah. Der Knochenmann hatte jetzt ganz dicke Arme. Der Kopf versank fast in den Speckmassen seines Halses. Beinahe vier Fünftel der Tafel hatte er gefuttert, und er schlang und soff noch immer wie ein Geisteskranker. Phillip saß an seinem Platz. Dorian nahm ihn am Arm und führte ihn weg. Als er den Zeltausgang erreichte, stand Don Chapman bereits da. Dorian hob ihn hoch und nahm ihn mit nach draußen. »Seit wann ist Hervio Masto wieder an seinem Platz?«, fragte Dorian. »Er kam gleich wieder zurück. Du warst noch keine zwei Minuten weg«, antwortete Don Chapman. »Seither hat er sich nicht vom Platz gerührt.« Damit fiel Hervio Masto als Verdächtiger aus. Oder beherrschte er die Kunst der Massenhypnose und saß in Wirklichkeit gar nicht auf der Bühne an der Tafel? Andererseits, konnte ein Trugbild reale Schinken und Würste verzehren? Um Hervio Masto wollte sich Dorian auch noch kümmern, wenn kein anderer Verdächtiger mehr blieb. Raffael hatte schlimme Schmerzen, als Dorian mit Phillip und Don Chapman zurückkam. Die Zigeuner und die Mitglieder der Monstrositätenschau staunten den Zwergmann nur mäßig an. Sie hatten jetzt andere Sorgen, waren auch an den Anblick aller möglichen menschlichen Abnormitäten gewöhnt. Amalfi wurde von seinen beiden Söhnen Matteo und Andrej gestützt. »Wir arbeiten doch zusammen, Amalfi?«, fragte Dorian. Der Sippenchef nickte. »Gehorcht Dorian Hunter!«, sagte er. »Solange ich krank bin und keine Befehle geben kann, ist er mein Stellvertreter. Wenn er nicht da ist, ist Rosario das Sippenoberhaupt. Jetzt bringt mich in den
Wohnwagen! Diese Schmerzen sind furchtbar. Ich glaube, ich sterbe.« Louretta jammerte laut. »Wage es nicht, dich Dorian Hunters Befehlen zu widersetzen!«, drohte Amalfi. Dorian folgte den Amalfis in den Wohnwagen. Raffael wurde in sein Bett gelegt. Er hatte die Augen geschlossen und war grau im Gesicht. Das Ehebett von Raffael und Louretta nahm so gut wie die gesamte Breite der Schlafkammer ein. Matteo ging nach draußen, um die alte Zarina zu holen. Dorian berührte Louretta an der Schulter. »Folgen Sie mir in den Nebenraum!« Er gab Don Chapman einen Wink, die Räume der Unterkunft zu durchsuchen, ob das Monster sich irgendwo verbarg. Louretta schluchzte. Tränen strömten über ihr dickes Gesicht. Andrej kam misstrauisch ebenfalls in den Aufenthaltsraum. Don Chapman sah sich zunächst schnell im Schlafzimmer um, dann machte er sich an die Durchsuchung der anderen Ecken. Dorian schob Phillip zu Louretta hin. Er hängte ihr seine gnostische Gemme um den Hals und zeigte ihr das Kreuz. Die dicke Frau schluchzte. Phillip legte ihr die Hände auf die Schultern. Louretta reagierte nicht so, wie Dorian es erwartet oder befürchtet hatte, im Gegenteil. An Phillips Ausstrahlung spürte sie, dass er es gut mit ihr meinte. Sie legte die Arme um den Hermaphroditen und barg das tränenüberströmte Gesicht an seiner Schulter. Es war ein Bild, das unter anderen Umständen komisch gewirkt hätte. Die dicke, völlig aufgelöste Zigeunerin und der große, grazile, hellhäutige und ruhige Phillip. Louretta war also nicht der Dämon. Dorian hörte aus dem Schlafraum ein leises Klappern und ging hinein. Raffael war anscheinend nicht ganz bei sich vor Schmerzen. Dorian legte ihm das Kreuz auf die Stirn, das er in der Jugendstilvilla eingesteckt hatte. Aber Raffael zeigte keine Reaktion. Dorian murmelte noch einen Bannspruch der weißen Magie. Wieder keine Wirkung. »Er ist es also auch nicht«, sagte Dorian. »Das ist ebenfalls ganz si-
cher. Bleiben der Leichnam des Freaks und Hervio Masto.« Er sah sich im Schlafraum um, schaute sogar unter die Betten und in den Schrank. Nichts Verdächtiges war zu sehen. »Bei diesen Zigeunern komme ich noch so weit, dass ich überall Monster sehe«, murmelte der Dämonenkiller. Die alte Zarina kam herein. Sie flößte Raffael Tropfen ein und massierte seine verkrampften Halsmuskeln. »Der Teufel steckt in seinem Bauch und wütet«, krächzte sie. »Das kommt von all dem Zeug, das er in seinem Leben verschlungen hat. Der Herr hat ihn gestraft.« Dorian war an ihren Reden nicht interessiert. Mit Matteo und Phillip ging er los, um nach dem toten Freak zu sehen. Sie betraten den umgebauten Bus und schlossen den Verschlag auf, in dem sie den Leichnam zurückgelassen hatten. Er lag noch in derselben Stellung, das Kreuz auf der Brust, steif und kalt. Dorian berührte ihn, sprengte ein wenig Weihwasser auf ihn. »Der also auch nicht«, sagte er. »Nun, dann wollen wir uns um Hervio Masto kümmern.« »Ich habe diesen Knochenkerl nie leiden können«, brummte Matteo. »Wenn die Sache mit Ramona nicht gewesen wäre, hätten wir ihn nie in die Sippe aufgenommen.« »Welche Sache?«, fragte Dorian beiläufig. Aber Matteo antwortete nicht. Die Vorstellung war zu Ende, als Dorian mit Phillip und Matteo zum Schauzelt kam. Rosario hatte die beiden Liliputaner als Spaßmacher losgeschickt und noch zwei, drei Auftritte organisiert, damit die Vorstellung die übliche Länge hatte. Dorian ließ die Zuschauer an sich vorbeiströmen, dann trat er mit den beiden anderen ins Zelt. Hervio Masto hockte aufgedunsen und vollgefressen am Tisch. Der Knochenmann war nicht wiederzuerkennen. Während er zuvor wie ein Skelett ausgesehen hatte, war er jetzt ein hässlicher Mann mit einem Gewicht von einem runden Zentner – bei einer Größe von einem Meter fünfundfünfzig. Er war abscheulich proportioniert. Einige seiner Gliedmaßen waren verhältnismäßig dick, andere dafür
fast so dürr wie vorher. Immer wieder rülpste er, wobei sein ganzer Körper zuckte. Dorian trat auf die Bühne, Matteo und Phillip folgten. Hervio Masto stierte ihnen mit blutunterlaufenen Augen entgegen. »Sieh her!«, sagte Dorian und hielt Hervio die gnostische Gemme hin, die er Louretta wieder vom Hals genommen hatte. In der Linken hielt Dorian das Kreuz. Er näherte es Hervios Gesicht. Phillip trat hinter Hervio und legte ihm die flache Hand auf den nur mit einem Haarflaum bedeckten Kopf. Hervio rülpste laut. »Was soll das?«, fragte er mit einer Stimme, die genauso unsympathisch klang, wie er aussah. »Soll ich bekehrt werden oder was?« Dorian berührte ihn mit dem Kreuz und der Gemme und sprach die stärkste Bannformel, die er kannte. Hervio Masto reagierte nicht so, wie ein Dämon hätte reagieren müssen. Dorian sah, dass er einer Pleite entgegensteuerte, denn Hervio Masto war zweifellos auch nicht der gesuchte Dämon. Es würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als die Polizei wegen des Mordes an dem Liebespaar zu verständigen. Aber zuvor wollte sich Dorian die Leichen der beiden Unglücklichen noch einmal ansehen. Er ging mit Matteo und Phillip los. Stefan schloss sich ihnen an. In dem Wäldchen erwartete Dorian ein neuer Schock. Die Leichen waren spurlos verschwunden. Nur eine große Blutlache war noch am Boden zu sehen. Sie begann bereits zu versickern. Für Dorian gab es keinen Zweifel: Während er das Monster überall gesucht hatte, war es zu seinen Opfern zurückgekehrt und hatte sie vollends aufgefressen. Der Dämonenkiller konnte ein paar herzhafte Flüche nicht unterdrücken. »Was jetzt?«, fragte Matteo. »Sollen wir wegen des Todes der beiden die Polizei verständigen? Befehlen Sie das, Hunter?« »Was jetzt passieren soll, weiß ich auch noch nicht«, antwortete Dorian. »Die Polizei lasst nur aus dem Spiel, denn wenn wir ihr die Wahrheit erzählen, werden wir allesamt ins Gefängnis oder in eine Irrenanstalt gesperrt. Zu helfen ist den jungen Leuten ohnehin nicht
mehr. Es ist besser, gar nichts zu unternehmen. Aber diesen Dämon, der das auf dem Gewissen hat, werde ich zur Strecke bringen. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Dieses Ungeheuer entkommt mir nicht.«
Dorian fuhr spät in die Jugendstilvilla zurück. Am Morgen war er mit Don Chapman und Phillip bereits wieder bei den Zigeunern. Raffael hatte sich erholt. Er begrüßte Dorian und seine beiden Freunde sehr freundlich. Dorian suchte mit Phillip Lucia auf, während Don Chapman herumstöberte. Lucia bewohnte einen eigenen kleinen Verschlag im großen Wohnwagen. Wegen ihrer Schlangen mochte ihn niemand mit ihr teilen. Sie trug ein blaues Wollkleid und hatte Dorians Gemme um den Hals. »Die Suche nach dem Dämon gestaltet sich schwierig, Lucia«, sagte der Dämonenkiller. »Wir brauchen Hilfe. Kannst du uns nicht aufschreiben, welchen Verdacht du hast oder was du meinst?« Lucia machte schnelle Zeichen mit der Hand. Die Klapperschlange um ihren Hals begann zu klappern. Dorian wusste von den anderen Sippenmitgliedern, dass die Schlangen in einer Art Morsecode verständlich machen konnten, was Lucia wollte; aber er war kein solches Genie, dass er den Sinn dieses Schlangencodes auf Anhieb erfasst hätte. Einen Mann von der Sippe wollte Dorian aber nicht hinzuziehen; Lucia sollte nicht eingeschüchtert werden und ohne Angst ihre Angaben machen. Phillip trat zu ihr und streichelte über den Kopf der Schlange. Dorian wollte ihn schon zurückreißen, aber die Klapperschlange schmiegte sich an Phillips Hand. Sie mochte ihn, ja, sie kroch sogar über seinen Arm und schmiegte sich zärtlich um seinen Hals, wie sie es zuvor bei Lucia getan hatte. Lucia war begeistert. Sie fasste Phillips Hand und küsste ihn auf die Wange. Der Hermaphrodit und die stumme Schlangenbändigerin mochten sich auf Anhieb. Phillip nahm Lucias Hand. Er drückte
sie, dann wandte er sich Dorian zu und begann zu sprechen. Lucia errötete vor Freude. Sie stieß einen begeisterten Aufschrei aus; aber dieser Aufschrei kam nicht über ihre Lippen, sondern über die Phillips. Der Hermaphrodit sprach mit einer angenehmen Mädchenstimme. Es war die Stimme, die Lucia gehabt hätte, wäre sie nicht stumm gewesen. »Ich kann reden!«, jubelte die Stimme. »Ich kann durch Phillip reden!« Lucia sang und trällerte. Dorian hatte sich ausbedungen, dass er nicht gestört wurde und niemand zuhörte. Die Amalfi-Brüder wachten darüber. Er überließ Lucia eine Zeit lang ihrer Freude. »Kommen wir jetzt zur Sache«, sagte der Dämonenkiller dann. »Später kannst du vielleicht sogar mit deinen Eltern und mit deinen Brüdern reden, Lucia. Erzähle mir jetzt etwas!« Lucia und Phillip setzten sich auf das Bett des Mädchens. Die Klapperschlange wand sich von Phillip zu Lucia herüber und verband die beiden. »Ich will etwas über Hervio Masto erzählen«, sagte die Mädchenstimme, die aus Phillips Mund kam. »Er stieß erst vor zwei Jahren und neun Monaten zu uns. Er musste Ramona heiraten, die er geschwängert hatte. Mein Vater und meine Brüder zwangen ihn dazu. Hätten wir ihn nur nie gesehen. Als Ramona niederkam, verschwand ihr Kind gleich nach der Geburt aus der Unterkunft. Keiner von uns hat je erfahren, was mit ihm geschehen ist.« »Was glaubst du, Lucia?« »Ich glaube, Hervio hat es getötet, vielleicht sogar verschlungen. Es ist auch seltsam, dass immer nur dann Menschen in unserer Nähe verschwanden, wenn Hervio seine Fastenzeit beendete und mit seiner tagelangen Fressorgie begann.« »Hm«, meinte Dorian. »Hervio Masto hältst du also für das Monster. Aber so einfach, wie du vielleicht glaubst, Lucia, ist die Sache nicht. Phillip und ich haben ihn nämlich einer Dämonenprobe unterzogen, die er ohne weiteres bestanden hat. Nun, wir werden sehen. Du kannst mit Phillip zu deinen Eltern gehen. Ich will mich mit der alten Zarina unterhalten.«
Hand in Hand standen Lucia und der Hermaphrodit auf. Lucia nahm zwei weitere Schlangen aus dem Schlangenkorb. Eine gab sie Phillip, eine nahm sie. Dorian schüttelte den Kopf. Die beiden waren wie zwei Kinder. Er verließ mit ihnen den umgebauten Bus und ging hinüber zum Wohnwagen der alten Zarina. Sie erwartete ihn bereits. »Ich wusste, dass du zu mir kommen würdest, Dorian Hunter«, krächzte sie und spielte mit ihrer Kristallkugel. Der einäugige Rabe saß schläfrig auf ihrer Schulter. Die Katze lag in der Ecke bei der elektrischen Heizung und schlief. Während der Nacht hatte es geschneit. Eine dicke Schneedecke bedeckte das Land und die Stadt, bedeckte auch das Blut des jungen Liebespaares, das von dem Monster umgebracht worden war. »Ich komme allein nicht weiter«, sagte Dorian. »Sie müssen mir helfen, Madame Zarina.« »Wenn ich es kann, gern. Den Dämon vermag ich allerdings nicht zu entlarven; ich habe es schon mehrmals versucht. Eine starke magische Kraft trübt meine Kristallkugel, und die Karten sagen mir auch nichts. Auch aus der Hand der Sippenmitglieder kann ich nichts lesen, was einen Hinweis gäbe.« »Was ist mit Louretta?« »Eine zänkische alte Schlampe. Raffael hat weiß Gott Besseres verdient.« »Sie hat sich gestern wie toll gebärdet, als wir das Monster verfolgten, und eine Reaktion gezeigt, als ich ihr die gnostische Gemme zum ersten Mal zeigte. Aber die Dämonenprobe hat sie tadellos bestanden.« »Das gibt dir Rätsel auf, Söhnchen, was? Aber da kann ich dir vielleicht helfen.« Die Alte erhob sich mühsam, holte eine Kiste und stellte sie auf den Tisch. Als sie sie öffnete, lag allerlei Krimskrams darin – Ringe, Kämme, ein Taschenmesser, ein gekauter Kaugummi, ein Fingerhut, ein Nylonstrumpf mit Laufmasche, eine alte Tabakspfeife und alles Mögliche. »Das sind Gebrauchsgegenstände von allen Mitgliedern der Amalfi-Truppe. Ich brauche sie für meine magischen Experi-
mente.« Sie holte einen Lockenwickler hervor. »Wollen sehen. Der ist von Louretta.« Zarina ging zur Kristallkugel, nahm den Lockenwickler in die eine Hand und legte die andere auf die Kristallkugel. Dann schloss sie die Augen und konzentrierte sich. »Louretta Amalfi«, murmelte sie. »Louretta Amalfi.« Immer wieder murmelte sie es. Ihre Stimme erfüllte erst den kleinen Raum, dann auch Dorians Bewusstsein und alles rundum. Der Dämonenkiller spürte, wie seine Umwelt verschwand. Es war, als sei er in eine andere Haut geschlüpft. Kein Zweifel, er war in den Geist Lourettas eingedrungen. Mit einem Rest seines Bewusstseins wusste er noch, dass er der Dämonenkiller war und was er wollte. Er konnte Lourettas Gedanken und ihre innersten Regungen lesen wie ein offenes Buch, sah sogar mit ihren Augen, während sie nichts von ihm wusste. Sie lag auf der Couch im Wohnwagen, noch im Morgenrock, den Kopf voller Lockenwickler. Sie rauchte eine schwarze Zigarette, stopfte sich von Zeit zu Zeit eine Likörpraline in den Mund und blätterte in einem Sexmagazin für Frauen, das muskelstrotzende oder schöne Männer in allen möglichen Posen zeigte. Sie hatte es von Natalie bekommen, wie Dorian aus ihren Gedanken erfuhr. Lourettas Sexleben, das sich – von wenigen äußerst seltenen Gelegenheiten abgesehen – lediglich in ihrem Kopf abspielte, interessierte den Dämonenkiller nicht. Er erforschte die Regionen ihres Geistes und las die Gedanken einer faulen Frau, die sich in jeder Beziehung gehen ließ. Der Zank war ihre größte Freude. Ihrem Ehemann und ihren Kindern brachte sie nicht besonders viel Herzlichkeit entgegen. Für die anderen zur Amalfi-Sippe gehörenden Personen hatte sie noch weniger übrig; und die sonstige Welt war ihr völlig egal. Sie interessierte sich nur für sich selbst. Um sich vor sich selbst zu entschuldigen, hatte sie ihre Fehler und Laster mit einem Wall von Lügen umgeben, an die sie irgendwann selbst zu glauben begonnen hatte. Da war der feste Glaube, dass alle sie ausnutzten, obwohl sie kaum je einen Finger rührte, und dass sie schwer arbeiten musste; da war die Überzeugung, dass alle sie brauchten, was auch nicht
stimmte, und schließlich die Einbildung, dass sie eine kluge und tüchtige Frau sei. Um der Langeweile zu entgehen, gab sich Louretta ihren Gemütsregungen hin. Wenn ihr Mann sich nicht wohl fühlte, vollführte sie ein Riesenlamento und redete sich ein, dass sie tiefe Besorgnis empfände. Im Grunde ihres Wesens schätzte sie aber nur die Bequemlichkeit an der Seite Raffaels und die Stellung als Frau des Sippenoberhauptes. Von dem Dämon wusste Louretta nichts. Sie machte sich auch nicht viel Gedanken über ihn. Sippenmitglieder fiel er nicht an, also drohte ihr keine Gefahr. Sollten Raffael und ihre Söhne sich mit dem Problem herumschlagen. Einen Verdacht hatte Louretta also nicht, aber Dorian fand doch einen Hinweis über Ramona, dem er nachgehen wollte. Er fand, dass es an der Zeit war, sich zurückzuziehen, und im gleichen Augenblick war er wieder in seinem Körper im Wohnwagen der Hellseherin. Die alte Zarina legte den Lockenwickler in die Kiste zurück und kicherte. »Da staunst du, was? Die alte Zarina ist doch nicht so ohne, wenn sie ihre Kunden auch meistens belügt, weil es einfacher und für alle angenehmer ist. Was hältst du jetzt von Louretta?« »Sie ist uninteressant«, sagte Dorian. »Das kannst du glauben. Aber Louretta ist noch harmlos. Ich kenne da ganz andere. Ich könnte dir Dinge erzählen, Söhnchen … Dinge … Willst du mir vielleicht einen Gebrauchsgegenstand von dir überlassen?« »Nein«, antwortete Dorian entschieden. »War ja auch nur ein Spaß. Von dir will ich nichts. Wirklich nicht. Was ich mit meiner Kristallkugel herausgefunden habe, genügt mir. Bei dir würde ich das kalte Grauen bekommen und dämonische Schrecken kennen lernen, wenn ich deine Leben durchforschte.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Du hast dich einmal dem Teufel verschrieben, Söhnchen?« Schweiß trat auf Dorians Stirn. Er erinnerte sich an jene Nacht 1484, als er – damals als Baron Nicolas de Conde – einen Pakt mit
dem Teufel geschlossen hatte. Er hatte es bitter gebüßt. Seine Familie war ums Leben gekommen, und er war durch die Jahrhunderte hindurch heimgesucht und geprüft worden. Nach jedem Tod erwachte sein Geist in einem Neugeborenen wieder zum Leben, ohne Erinnerung zunächst, um schließlich nach Jahr und Tag das Wissen um die Vergangenheit zu gewinnen. Seit damals, als er erkannt hatte, wie übel und verderblich die schwarze Magie und alles, was damit zusammenhing, für die Menschen waren, hatte er die Schwarze Familie, die Dämonen und die Mächte der Finsternis bekämpft. Im 20. Jahrhundert war er zu Dorian Hunter geworden, dem Dämonenkiller. Im Kampf gegen Asmodi, den Fürsten der Finsternis, hatte er seine Unsterblichkeit verloren – jetzt war er sterblich wie jeder andere Mensch. Daran dachte Dorian, als er sagte: »Das ist lange her, Zarina. Länger, als Sie sich träumen lassen. Heute bin ich ein erbitterter Gegner der Mächte der Finsternis.« »Das weiß ich. Das weiß ich genau. Sonst würde ich nicht mit dir reden. Was willst du jetzt wissen, Dorian Hunter?« »Ramona und jenes Kind, das sie zur Welt brachte, interessieren mich.« Murmelnd nahm die Alte ein Fläschchen Wimperntusche aus der Kiste. »Ramona ist ein schwerer Fall«, sagte sie. »Von ihr erfährt man nichts. Gar nichts. Jedenfalls nichts, was nach der Zeit läge, seit sie aus dem Schwarzen Schloss zurückkam. Neun Monate später brachte sie ihr Kind zur Welt.« »Aus dem Schwarzen Schloss?« »Du kannst es erfahren, Söhnchen. Du kannst Ramona in das Schwarze Schloss folgen. Ich habe nie den Mut dazu aufgebracht. Ich kann es möglich machen, aber ich warne dich. Vielleicht bist du hinterher wahnsinnig oder tot. Willst du dieses Risiko auf dich nehmen?« »Ja«, sagte Dorian Hunter. »Wir waren damals im Balkan«, murmelte die alte Zarina, »in der Nähe von Kütahya, in der Türkei. Das Schwarze Schloss war verrufen. Die Bergbauern erwähnten es nur flüsternd. Wir hielten uns fern davon, aber wir blieben nicht weit genug weg.«
Zarina umklammerte das Fläschchen mit der Wimperntusche. Sie legte die Rechte auf die Kristallkugel und schloss die Augen. Dorian wusste jetzt, dass die Alte tatsächlich über sehr starke magische Fähigkeiten verfügte. »Ramona Masto!«, flüsterte sie eindringlich. »Ramona Masto!« Das Flüstern kroch in Dorians Gehirn. Die Umgebung verschwamm. Er war in einem anderen Körper und in einer anderen Zeit. Ein frischer Bergwind blies ihm ins Gesicht, Raben krächzten in den Olivenbäumen.
Ramona Condez stieg den beschwerlichen Bergweg hinauf. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, und sie schwitzte. Die Konturen des Schwarzen Schlosses auf dem Gipfel verschwammen in der warmen, an der Bergflanke aufsteigenden Luft. Manchmal schaute Ramona zurück, aber keiner von der Sippe verfolgte sie. Sie hatte bereits vor Tagesanbruch das Zigeunerlager der Amalfi-Sippe verlassen. Diese Narren hielten es nicht für möglich, dass sie zum Schwarzen Schloss gehen könnte. Das Mädchen lachte, sie wussten nicht, dass sie den Fremden in den letzten Nächten getroffen hatte, außerhalb des Lagers und sogar inmitten der Sippe, in ihrem Bett, während die Kinder, mit denen sie den Raum teilen musste, fest schliefen. Ihr Schlaf war nicht natürlich. Er war so tief, dass sie nichts mitbekamen, und auch die anderen im Wohnwagen merkten nichts. Der Fremde bewirkte das. Er hatte Ramona mehr Lust vermittelt, als sie je bei einem anderen empfunden hatte. Ihr wurde schwach, und ihre Schenkel zitterten, wenn sie nur an ihn dachte. Ramona war achtzehn Jahre alt und bildschön. Raffael hatte sie oft genug ermahnt, aber es hatte nichts gefruchtet. Immer wieder fand sie Gelegenheit, einem oder mehreren Männern gleichzeitig den Kopf zu verdrehen. Sie dachte sich nicht viel dabei. Weshalb sollte sie sich das kleine Vergnügen nicht gönnen? Sie kam dem Schloss immer näher. Es war ein düsteres, halb zer-
fallenes Gemäuer, von der Zeit geschwärzt. Ein Schwarm Fledermäuse umkreiste den hohen Turm. Sie stießen schrille Schreie aus. Das Tor öffnete sich, als Ramona sich näherte. Sie trat ein. Täuschte sie sich, oder war es im Schloss wirklich kälter als draußen? Eine Tür quietschte in den rostigen Angeln. Eine große, plumpe Gestalt trat auf Ramona zu. Es war ein Mann, bei dem keine Proportion stimmte. Ein unverhältnismäßig kleiner Kopf saß auf massigen Schultern, der Körper maß gut zwei Meter. Der rechte Arm war kürzer als der linke, das eine Bein dicker als das andere. Ramona sah eine grobe Naht, die um den Hals der unheimlichen Gestalt lief. Es sah fast so aus, als wäre der Kopf aufgenäht. Auch an beiden Handgelenken hatte der Mann Nähte. Links hatte er eine Frauen-, rechts eine Männerhand. Voller Angst sah Ramona ihn an. Doch dann spürte sie eine Berührung, als würde die Hand eines Unsichtbaren über ihre Wangen streichen, dann über ihren Körper gleiten und ihre Formen abtasten. Eine einschmeichelnde Stimme, die sie gut kannte, sagte: »Da bist du ja, meine schöne Ramona! Hab keine Angst vor meinem Diener oder vor dem, was du sonst in diesem Schloss sehen wirst! Heute Abend werden wir vereint sein. Ich gebe ein Fest zu deinen Ehren.« Es war die Stimme des Fremden, der sie nachts besucht hatte. Ramona nickte tapfer. Sie folgte dem ungeschlachten Mann. Die Räume des Schlosses waren luxuriös eingerichtet, aber alles war uralt und mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Ramonas Neugierde war stärker als ihre Besorgnis. Sie ging in eine Kammer, die der Diener ihr anwies. Er schloss die Tür und verschwand. Sie blies den Staub von einem Sessel, setzte sich darauf und sah sich in dem Zimmer um. Es war hoch und altertümlich eingerichtet. Verstaubte Bilder hingen an den Wänden und ein paar Spiegel in Goldrahmen. Neugierig trat Ramona an einen Spiegel. Sie raffte ihr Haar mit der Hand zusammen und sah hinein. Aber nicht ihr vertrautes schönes Gesicht sah ihr entgegen, sondern ein Totenschädel. Mit einem Schrei trat sie zurück. Ängstlich näherte sie sich dem nächsten Spiegel. Statt ihres Gesichtes erschien ein Medusenkopf im Spiegel. Das Gesicht war eine
dämonische Fratze. Statt Haaren ringelten sich Schlangen um ihren Kopf. Trotz ihrer Angst schaute Ramona auch noch in einen dritten Spiegel. Hier sah sie eine schleimige Masse, die überhaupt nicht mit einem Gesicht identisch war. Aus einer qualligen Öffnung stiegen blubbernd Blasen auf. Rote Augen glühten über zwei Löchern. Bebend setzte sich Ramona auf das Sofa. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Wieder hörte sie die Stimme des Fremden. »Aber mein Schätzchen, wer wird denn vor solchen Kleinigkeiten Angst haben? Gleich werden meine Dienerinnen kommen und dich waschen und kleiden. Du sollst heute Nacht eine Erfüllung erleben, wie du sie noch nie empfunden hast und wohl auch nicht wieder empfinden wirst.« Ramona wartete. In Gedanken versunken zeichnete sie Figuren in die Staubschicht auf der Tischplatte, unter anderem auch ein Kreuz. Kaum hatte sie die Figur vollendet, als sie aus den Tiefen des Schlosses einen empörten Aufschrei hörte. Ein Wind erhob sich, obwohl von außen kein Luftzug in das Zimmer hinein konnte. Staub wirbelte auf. Die Figur des Kreuzes verschwand. Ramona hustete und wischte sich den Moderstaub vom Gesicht, klopfte ihn von ihren Kleidern. Es pochte an die Tür. Vier junge Mädchen traten ein. Sie waren schwarzhaarig und einander so ähnlich wie Schwestern. Ihre Gesichter waren eine Spur zu blass, ihre Glieder grazil. Sie trugen rote Kleider mit goldenen Borten. »Komm, Ramona!«, lockte die eine. »Wir wollen dich schön machen für unseren Herrn und dir die Zeit vertreiben.« Ramona wurde durch die langen, kahlen und kalten Korridore des Schlosses gezogen, hinab in den Keller. Hier erwartete sie ein heißes Bad, mit duftenden Essenzen angereichert. Die Mädchen entkleideten Ramona und schoben sie in das Marmorbecken. Sie streuten rote und weiße Rosen ins Wasser. Dampf füllte den Raum. Die ganze Szenerie kam Ramona unwirklich vor. Sie wurde gewaschen und danach noch mit duftenden Ölen und Salben eingerieben, selbst an den intimsten Stellen ihres Körpers. Dann führten die Mädchen sie nach oben ins Erdgeschoss. In einem Prunkgemach wurde
sie angekleidet, frisiert und geschminkt. Es dauerte sehr lange. Um die Mittagszeit war Ramona im Schwarzen Schloss angekommen, jetzt wurde es Abend. Sie hörte Stimmen vom Schlosshof. Als sie ans Fenster trat, sah sie eine Schar von jungen Burschen und Mädchen, die von Berittenen auf ein Nebengebäude zugetrieben wurden. »Was ist mit ihnen?«, fragte Ramona. »Sie werden den Sabbat mit uns feiern, genau wie du«, war die Antwort. »Nur mit dem Unterschied, dass du die Königin des Festes bist.« Ramona sah in den großen dreiteiligen Spiegel. Sie stieß einen Schrei des Entzückens aus. So schön war sie noch nie gewesen. Hauchdünne, schwarze Seide, durch die matt ihre Haut schimmerte, schmiegte sich um ihren Körper. Jede Linie ihrer Figur wurde betont. Sie trug einen dünnen, schwarzen Schleier und ein prunkvolles Diadem aus Rubinen und Smaragden. Eine Relieffigur in der Mitte des Diadems stellte ein auf obszöne Weise verschlungenes Paar dar. Der männliche Partner hatte Bockshörner und einen langen Schwanz. Ein Tusch wurde geblasen. »Das Fest beginnt!«, riefen die Mädchen. Sie führten Ramona in den großen Bankettsaal. Er war in Schwarz und Rot gehalten. Ein Fresko mit dämonischen und unanständigen Szenen schmückte Decken und Wände. Schwarze Vorhänge verbargen die tiefen Fensternischen. Zweihundert Personen hielten sich in dem Raum auf, Männer und Frauen jeden Alters, reich und prächtig gekleidet, in Abendkleidern und -roben, im Frack oder Smoking, aber auch in prunkvollen Nationaltrachten des Balkans und des Orients. Ramona sah einen Inder und ein paar Muselmanen. Alle wandten sich ihr zu, als sie die große Treppe herunterkam, und applaudierten. »Fayaz al Akbar hat einen ausgezeichneten Geschmack bewiesen«, hörte Ramona. Und von einer anderen Gruppe: »Sie ist des Schwarzen Wesirs würdig.«
Die Anwesenden begrüßten sie. Sie war der Mittelpunkt des Festes. Alle benahmen sich ausgesucht höflich zu ihr. Auf einem erhöhten Podium spielte ein zwanzigköpfiges Orchester. Ramona fragte nach dem Gastgeber, jenem Fremden, der sie aufgesucht hatte. »Al Akbar kommt später«, sagte eine üppige blonde Dame. »Du musst vorerst mit uns vorlieb nehmen, Kindchen. Erzähl uns doch ein wenig von dir!« Ramona war erst verlegen. Was war sie denn schon groß, dass sie in so erlesener Gesellschaft auftreten konnte? Die Tochter einer Zigeunerin und irgendeines Kerls, der sich nach ein paar Nächten mit ihrer Mutter aus dem Staub gemacht hatte, ohne ihr auch nur seinen richtigen Namen zu nennen. Eine Seiltänzerin aus einer Monstrositätenschau, das war sie, mehr nicht. Aber die Gäste des Schlossbesitzers fanden alles höchst interessant, was Ramona, schüchtern zuerst, von sich gab. Sie wollten immer mehr wissen. Ramona bekam Komplimente über Komplimente zu hören. Man lobte ihre Schönheit, ihr interessantes Leben und überhaupt alles. Ramona hatte Hunger. Außer ein paar Bissen vor dem Aufbruch aus dem Zigeunerlager hatte sie den ganzen Tag nichts gegessen. Jetzt war es später Abend. Man setzte sich zu Tisch. Auserlesene Köstlichkeiten wurden Ramona vorgesetzt. Die anderen Gäste aßen kaum etwas. »Unsere Hauptmahlzeit kommt später«, sagte der weißhaarige alte Herr im Abendanzug und mit dem Orden am Band, der an Ramonas rechter Seite saß. Sie aß und trank mit gutem Appetit. Der Festsaal erstrahlte im Licht von vielen hundert Kerzen. Ramona trank einen Becher Wein. Eine berauschende Essenz musste darin enthalten sein. Sie schaute in die funkelnden Augen des alten Mannes mit dem Orden. Der Orden schien plötzlich ein drittes großes, glotzendes Auge zu sein. Das blonde Mädchen fühlte sich auf einmal so toll und ausgelassen, dass sie am liebsten auf dem Tisch getanzt hätte. Sie hatte keine Hemmungen mehr, alles über ihr Liebesleben zum Besten zu geben;
sie unterhielt damit die ganze Tafel. Die Gäste wollten alles wissen, und Ramona hatte eine Menge zu erzählen. Die Gäste an der Tafel amüsierten sich königlich. »Du lebst nur einmal, Kindchen«, sagte die Üppige zu ihrer Linken. »Solche Mädchen wie du sind uns lieb.« Nach dem Essen wurde getanzt. Ramona wirbelte von einem Tänzer zum anderen. Jetzt erst fiel ihr auf, dass einige Szenen des Deckengemäldes blasphemische Verhöhnungen darstellten. Plötzlich wurde es dunkler. Ein Beben ging durch das Schloss. Es gab einen Knall, stank nach Pech und Schwefel, und dann stand der Gastgeber in der Mitte der Tanzfläche. Es war ein effektvoller Auftritt. Die Gäste klatschten Beifall. Ramona sah zum ersten Mal das Gesicht des Fremden, der sie in mehreren Nächten aufgesucht hatte. Er trug einen Umhang, der außen schwarz und innen blutrot war, und hatte die Gestalt eines gut proportionierten, schlanken jungen Mannes, der offensichtlich über eine stählerne Natur und große Kräfte verfügte. Sein Gesicht war schwarz wie Ofenruß. Er hatte ein spitzes Kinn mit einem Bocksbart und eine seltsam verdrehte Nase. Seine Ohren waren spitz, das Gebiss bestand aus kreuz und quer stehenden mörderischen Zähnen. Die Augen glühten wie brennende Kohlen. Auf dem Kopf wucherte struppiges Borstenhaar, und er hatte zwei Hörner. Es stank im Saal durchdringend nach Pech und Schwefel. An einer Kette vor der Brust trug der Schreckliche einen faustgroßen Rubin, in dem es glühte und pulsierte. Zu Ramonas Erstaunen wurde aus dem Rubin plötzlich ein Maul mit Zähnen, die denen des Trägers kaum nachstanden. »Fayaz al Akbar!«, schrien die Gäste. »Heil dem Schwarzen Wesir.« Al Akbar aber verneigte sich vor Ramona Condez. »Ich begrüße dich als Königin des Festes, meine schöne und lasterhafte kleine Ramona«, sagte er mit sonorer Stimme. »Komm, lass uns den Ehrentanz des Abends anführen und dann zum Höhepunkt des Festes kommen!« Ramonas Wangen glühten vom Tanz und von den obszönen Kom-
plimenten, die ihr die Männer zugeflüstert hatten. Sie stürzte einen Becher mit einem kühlen Getränk hinunter. Etwas musste beigemischt gewesen sein, denn jetzt drehte sich alles vor ihren Augen. Der Schwarze Wesir packte sie und begann den Tanz. Im Vorbeitanzen ergriff er einen schwarzen Turban von einem Tischchen und stülpte ihn über seine Hörner. An den Turban war ein Rubin geheftet, ebenso groß wie der an der Kette auf dem schwarzgoldenen Seidenhemd. Das Orchester produzierte eine Kakophonie schriller Misstöne. Plötzlich veränderte sich alles vor Ramonas Augen. Statt der Musiker des Orchesters sah sie Skelette. Sie fiedelten und bliesen auf Instrumenten aus Knochen, Katzendärmen und -sehnen. Ein misstönender Tusch gellte durch den Saal. Die Burschen und Mädchen, die Ramona schon im Schlosshof gesehen hatte, wurden wie eine Hammelherde hereingetrieben. Und mit den Gästen ging eine schreckliche Verwandlung vor sich. Ramona sah sich von Schreckensgestalten umringt. Der Alte mit dem Orden hatte plötzlich Haare im Gesicht; lange Reißzähne wuchsen ihm. Er sank auf alle viere nieder und heulte schaurig. Sein Gesicht wurde zu einer spitzen wölfischen Schnauze. Der dicken Dame wuchsen Schlangen aus dem Kopf. Als Medusa stürzte sie sich auf einen jungen Mann und begann ihn zu würgen. Andere Gäste wurden zu Leichenfressern und Vampiren. Alle möglichen Schauergestalten bevölkerten den Raum, Dämonen von schrecklichem Aussehen tobten in einer Blutorgie. Ramona schrie gellend auf. Ihre Schreie mischten sich mit denen der Burschen und Mädchen. Blut floss. Dämonische Monster brüllten in teuflischer Lust. Der Schwarze Wesir packte Ramona mit festem Griff. »Komm mit mir«, flüsterte er ihr zu. »Mit dir habe ich etwas ganz Besonderes vor.« Er nahm Ramona auf die Arme und trug sie durch das tolle Durcheinander. Sie konnte kein Glied rühren, war dem Dämon hilflos ausgeliefert. Aber bei allen Angstschauern, die durch ihren Körper rasten, empfand sie auch eine satanische Lust, wie sie sie noch
nie gekannt hatte.
Dorian Hunter schlug die Augen auf. Er saß bei der alten Zarina im Wohnwagen und sah auf die Uhr. Es war keine Zeit vergangen. Trotzdem hatte er jenen Tag erlebt, an dem Ramona von dem Dämon Fayaz al Akbar, der auch der Schwarze Wesir genannt wurde, ein Kind empfangen hatte. Dorian hatte noch nie mit diesem Dämon zu tun gehabt, aber bei ein oder zwei Gelegenheiten von ihm gehört. Fayaz al Akbar war einer der engsten Vertrauten des früheren Fürsten der Finsternis, Asmodi, gewesen. Er stammte aus dem morgenländischen Kulturkreis. Nun sah Dorian klarer, was das Monster in der Amalfi-Sippe anging. »Du warst im Schwarzen Schloss?«, fragte die alte Zarina. Dorian nickte. Die Geräusche von draußen, die Umgebung des Rummelplatzes und die Rufe der spielenden Kinder kamen ihm unwirklich vor. »Es war ein Dämonensabbat, bei dem Ramona ihr Kind empfing«, sagte er. »Als der Dämon über sie kam, musste ich mich zurückziehen und abkapseln. Es war schlimm. Fast hätten seine Ausstrahlungen mich wahnsinnig gemacht.« »Ich habe es befürchtet«, sagte die Alte. Sie zeigte einen kleinen Eisendorn. »Er ist mit dem Gift von einer von Lucias Schlangen imprägniert. Wärst du wahnsinnig geworden oder vom Dämon besessen gewesen, hätte ich dich getötet. Aber es musste sein, damit wir endgültig Gewissheit haben.« »Wie ging es weiter? Meine letzte Erinnerung ist, dass der Dämon Ramona die Kleider vom Leib riss und sich auf sie stürzte. Ich glaube, sie war wirklich in einer furchtbaren Ekstase.« »Drei Tage später erst kam sie zurück«, erzählte die Alte. »Sie war am ganzen Körper zerkratzt und zerbissen und gebärdete sich wie eine Wahnsinnige oder eine Besessene. Sie stank nach Pech und Schwefel. In ihren Augen loderte die Hölle. Raffael fragte sie, wo sie gewesen sei, aber sie erwiderte ihm nur frech, dass sie es mit einem
besonders tollen Kerl getrieben hätte. Raffael sperrte sie ein. Jeden Abend ging er zu ihr und fragte sie, wo sie gewesen wäre und ob sie sich besonnen hätte. In der ersten Woche benahm sich Ramona wie eine Furie. Sie spie Raffael an und hätte ihm fast die Augen ausgekratzt.« Die alte Zarina starrte vor sich hin. Es war, als erlebte sie die Zeit damals in der Türkei noch einmal. »Dann wichen der Wahnsinn oder die Besessenheit allmählich von ihr. Wir zogen weiter. Ramona vertraute Louretta an, ein reicher und angesehener Mann hätte ihr große Versprechungen gemacht und dann wie eine Hündin davongejagt. Louretta erzählte es Raffael. Ramona bestätigte ihm die Geschichte, als er sie darauf ansprach, und sie weinte ein wenig. Sie ist bildschön. Vielleicht glaubte Raffael ihr deshalb. Er ist schließlich auch nur ein Mann. Oder er wollte die Geschichte glauben, weil er den ganzen Aufruhr leid war und sich wieder Ruhe und Frieden wünschte. Ramona trat erneut als Seiltänzerin auf. Nach einiger Zeit stellte sie fest, dass sie schwanger war. Natalie riet zu einer Abtreibung. Auch Louretta hätte nichts dagegen gehabt. Aber Raffael sagte, das sei eine Sünde, und er wollte es nicht dulden.« Wieder schwieg die Alte eine Weile. Der einäugige Rabe Ahasver schaute Dorian starr an. »Dann kam Hervio Masto«, sagte Zarina. »Er stieß zu uns, nachdem wir den Bosporus überquert hatten. Ramona hatte sich bis dahin recht manierlich benommen, wie man es von ihr gar nicht gewohnt war. Dann aber erwischte Raffael sie mit einem Mann – Hervio Masto. Er brachte ihn so weit, dass er Ramona heiratete. Ramona wurde nicht groß gefragt. Sie hatte schon genug Scherereien gemacht. Ramonas Schwangerschaft wurde bei dieser Gelegenheit gleich Hervio Masto untergeschoben. Nur wenige in der Sippe wussten, wie es sich wirklich verhielt. Lucia zum Beispiel glaubt heute noch, dass Ramona von Hervio Masto ein Kind bekommen hat.« »Was war mit diesem Kind?« »Das ist eine merkwürdige Sache. Ramona wurde dicker und dicker. Selbst ihre Beine und ihr Gesicht quollen auf. Sie sah sich nicht mehr ähnlich, war scheußlich entstellt. Eines Nachts, ganz unver-
hofft, kam das Kind im Wohnwagen zur Welt. Wir waren alle bei einem Zigeunertreffen. Nur Hervio Masto war bei seiner Frau. Statt Hilfe zu holen, wie es vereinbart war, leistete er ihr allein bei der Entbindung Beistand. Es war eine Totgeburt, so erzählte er später, und das Kind wäre ein missgebildetes Scheusal gewesen. Er vergrub es gleich an einer geheim gehaltenen Stelle, weil er sich schämte, so etwas gezeugt zu haben. Ramona bestätigte seine Geschichte. Es gab einige Gerüchte. Einige gingen sogar so weit zu behaupten, Hervio Masto habe sein eigenes Kind aufgefressen.« »Niemand hat dieses Kind also je gesehen«, sagte Dorian Hunter. »Außer Ramona und Hervio. Was Ramona auch immer getan haben mag, Hervio Masto war nicht der richtige Mann für sie.« »Sonst hätte sie doch keiner mehr genommen. Sie war in allen Sippen als Hure verrufen.« »Wann verschwand zum ersten Mal ein Mensch? Wie lange von der Geburt des Kindes an gerechnet?« »Ein halbes Jahr später in Italien. Dann zwei oder drei Monate darauf eine Frau auf Sizilien. Wir setzten nach Tunesien über. In Algerien hatten wir zwei und in Marokko einen Fall, bei dem Menschen verschwanden. Über Gibraltar kamen wir nach Spanien.« »Von da an weiß ich Bescheid. Was habt ihr getan, um den Dämon zu finden und unschädlich zu machen?« »Frag lieber, was wir nicht getan haben. Mit Weihwasser und heiligen Messen haben wir es versucht, mit Zigeunerriten und mohammedanischen Zeremonien, mit Hexerei und Gegenzauber. Sogar ein Magier hat in Frankreich sein Glück versucht. Er verschwand spurlos, wurde ein Opfer des Monsters.« »So? Das wusste ich gar nicht.« »Wir hatten keinen Grund, es an die große Glocke zu hängen. Wir haben den Dämon zu beschwören und mit einem Pendel auszupendeln versucht. Wir haben ein Medium zu Rate gezogen und ihn mit der Wünschelrute gesucht. Alles vergebens. Meine hellseherischen Fähigkeiten vermochten ihn auch nicht zu entdecken.« »Ich sehe langsam klar, Zarina. Um das Bild abzurunden und mich zu informieren, möchte ich noch über den Freak Bescheid wissen –
über den Nadelkopf Pancho Seguila.« »Dabei kann ich dir helfen, wenn er auch tot ist. Ihm wollte ich ebenso wenig genau nachspüren wie dir. Aber wenn du keine Angst hast, dann können wir noch einen Versuch wagen.« Ein Wagen fuhr herbei und parkte draußen. Es war der Mini Cooper, den Coco Zamis meistens benutzte. Sie stieg aus, sprach kurz mit Matteo und kam dann zum Wohnwagen der alten Zarina. Coco trug einen hellen Mantel. Er stand ihr sehr gut. »Bist du schon weitergekommen, Dorian?«, fragte sie. »Das Gastmahl ist fertig. Es beginnt gleich.« Es war Mittag geworden. »Wir kommen in ein paar Minuten«, antwortete Dorian. »Es ist noch etwas zu erledigen. Geh schon voraus!« Coco wusste inzwischen von Dorian, dass Zarinas Prophezeiung sich nicht auf ihren Sohn bezog. Die Alte betrachtete sie freundlich. »Du bist sehr schön, mein Kind, aber es sind gerade die Schönen, die oft mehr auszustehen haben als andere.« »Trotzdem finde ich es besser, attraktiv zu sein als hässlich«, sagte Coco lachend. »Dorian ist der gleichen Ansicht, was mich angeht.« Sie schloss die Tür des Wohnwagens von außen. Dorian sah sie über den Platz gehen. Er liebte sie, wenn ihr Verhältnis auch nicht immer ungetrübt war. Madame Zarina nahm einen Knopf aus der Kiste. »Der gehörte Pancho Seguila«, murmelte sie, »dem Nadelkopf.« Wieder nahm sie ihre Kristallkugel. »Pancho Seguila!«, sagte sie mehrmals.
Pancho Seguila wurde in Sevilla als jüngster Sohn einer Dämonenfamilie geboren. Er war ein Spätling, keck und aufsässig. Wie alle aus der Seguila-Familie war er ein Vampir, doch während sein Vater, die Mutter und die Brüder finstere Geschöpfe waren, die in halb zerfallenen Gebäuden hausten und sich nur bei Nacht sehen ließen, liebte er den Prunk und das gesellschaftliche Treiben. Er wurde 1930 geboren. Da nicht zu viele Vampire an einem Ort
sein durften, weilte er mit seinem Vater allein in Sevilla. Er entwickelte sportlichen Ehrgeiz und tat sich als Torero hervor. In den fünfziger Jahren war er der Star der Arena. Die Zeitungen waren voll von dem bleichen jungen Mann mit dem hageren, asketischen Gesicht. Es hieß, dass er die Stiere mit seinem Blick bannen konnte. Trotzdem richtete ihn einmal ein Stier übel zu. Es war ein mächtiges Tier, das eine Blesse in Form eines Kreuzes auf der Stirn hatte. Pancho Seguila überlebte Verletzungen, die er nicht hätte überleben dürfen. Es gab Gerede. Um es zu vertuschen, betrat er die Arena nicht mehr und ließ das Gerücht ausstreuen, er habe unter den Folgen seiner Verletzung ein Leben lang zu leiden. Er nahm Verbindung zur Schwarzen Familie auf, von der sich seine Familie immer fern gehalten hatte, und erregte die Aufmerksamkeit einiger mächtiger Dämonen. Sein Weg schien geebnet. Doch dann stieß er auf Carrera Negra, eine junge Werwölfin, ein Bild von einem Dämonenweib. Dämonen konnten keine Liebe empfinden, aber heftiges Begehren. In Pancho Seguila und Carrera Negra flammte die ganze dämonische Leidenschaft der Hölle auf. Die Werwölfin war aber für den Fürsten der Finsternis bestimmt, für Asmodi, der sich auf einem schwarzen Sabbat mit ihr vereinen wollte. »Ich will dich und nicht Asmodi«, sagte Carrera Negra. »Wir flüchten aus Spanien. Es mag daraus werden, was will.« Mit einem Schiff stachen sie nach Südamerika in See. Doch auch dort konnten sie der Rache Asmodis nicht entkommen. Furchtbar war sein Strafgericht. Er rottete Carrera Negras ganze Sippe aus und tötete Pancho Seguilas Eltern. Pancho Seguila und Carrera Negra wurden auf eine Felsenfestung Asmodis gebracht. In der Nacht hörte Pancho, der in einem luxuriösen Raum eingesperrt war, nebenan fürchterliche Schreie – die Todesschreie der von ihm begehrten Dämonin. Am Morgen wurde er zu ihr geführt. Asmodi hatte ihren schönen Körper mit einer Silberlösung bestreichen lassen. Ein silberner Leichnam lag vor Pancho Seguila. Die magische Kraft des Silbers hatte die Werwölfin getötet.
Die Wächter schleppten Seguila in Asmodis Prunksaal. Der Fürst der Finsternis erschien in der Gestalt eines einäugigen Zyklopen. »Du wirst auch mich töten«, sagte Pancho Seguila furchtlos. »Nur zu! Um Gnade sollst du mich nicht winseln hören.« Asmodis Gelächter ließ die Festung erbeben. »So, glaubst du? Ich könnte dich zum Plärren und Jammern bekommen, wenn ich es wollte. Aber du sollst nicht sterben, nein. Mit dir habe ich etwas anderes vor. Du wirst als Freak weiterleben. Du sollst immer deiner dämonischen Abstammung eingedenk sein und deine dämonische Gier behalten, aber sie nicht stillen können. Das ist meine Strafe – Asmodis Fluch!« Gewaltige Kräfte wirkten auf Pancho Seguila ein. Es war ihm, als wären sein Kopf, seine Hände und seine Füße in eine riesige Presse geraten. Er wurde ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, lag er irgendwo am Wegesrand. Entsetzt betrachtete er seine Hände und Füße; sie waren winzig. Dann griff er an seinen Kopf und erschrak noch mehr. Sein Kopf war nicht größer als ein kleiner grüner Apfel. Pancho Seguila war zu einem Freak geworden. Bauern fanden ihn – er befand sich in Spanien – und nahmen ihn mit in ihr Dorf. Es ging ihm sehr schlecht. Kinder verhöhnten ihn, Hunde bissen ihn. Von dem, was er an Abfällen und Resten zu essen bekam, hätte er nicht leben können, doch er hatte immer noch zu viel Dämonisches an sich, um zu verhungern. Am schlimmsten aber war die Gier nach Blut. Doch wie hätte er sie stillen sollen? Dämonische Kräfte hatte er keine mehr, und mit seinen kleinen Händchen konnte er nicht einmal ein Kind überwältigen; und seine winzigen Zähnchen konnten kein Blut saugen. So kroch Pancho Seguila, der früher erlesene Schönheiten der Gesellschaft gesaugt hatte, auf allen vieren unter der glühenden Sonne Andalusiens wie ein Hund durch den Staub. Immer noch wurde ihm übel, wenn er ein Kreuz sah, und Weihwasser fügte ihm Brandwunden zu. Er fraß Käfer und Fliegen, die er mit seinen kleinen, klebrig gemachten Händen fing. Doch das war natürlich kein Ersatz
für das, was er früher genossen hatte. Eines Tages kam die Amalfi-Monstrositätenschau durch das Dorf. Die Zigeuner kauften den Bauern den Nadelkopf für ein Spottgeld ab und nahmen ihn mit. Sie zeigten ihn in der Schau. Pancho Seguila litt fürchterlich als Freak. Er wusste bald, dass sich ein dämonisches Monster in der Amalfi-Schau verbarg, wollte jedoch nichts davon wissen. Er verschloss seine kleinen Augen und seine winzigen Ohren, denn er hasste alle Dämonen und legte keinen Wert darauf, Näheres über das Monster zu erfahren. In Hampstead ereilte ihn dann sein Schicksal durch die Hand des Dämonenkillers und des Hermaphroditen.
Dorian fand sich im Wohnwagen wieder, verwirrt und von wiederstrebenden Empfindungen heimgesucht. Das Dämonische in dem Freak war immer noch stark genug gewesen, um ihm den Tod zu bringen. Der Dämonenkiller erhob sich. »Jetzt weiß ich Bescheid«, sagte er. »Eines fügt sich ans andere. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Zarina.« »Du hast herausgefunden, wer das Monster ist und wo es sich verbirgt?« »Ja. Nach dem Gastmahl werde ich es zur Strecke bringen.« Dorian ging hinaus. Er blieb eine Weile in der frischen, kalten Luft, um sich von den geistigen Strapazen zu erholen. Ein Plan formte sich in seinem Gehirn. Die Amalfis erwarteten ihn bereits, als Dorian zur Tafel kam. In dem großen Wohnwagen waren einige Trennwände abgebaut worden. Eine große, reich gedeckte Festtafel stand dort. Alle Mitglieder der Sippe nahmen an dem Mahl teil. Die Zigeuner feierten gern und nahmen jede Gelegenheit dazu wahr. Raffael hatte den Ehrenplatz an der Stirnseite der Tafel, zu seiner Rechten saß Coco, zu seiner linken Dorian. Der Dämonenkiller hatte die fette Louretta als Tischdame. Bevor das Essen begann, erhob sich Raffael und sagte ein paar Worte. Er wirkte bleich und mitgenommen, aber er stand fest auf
den Beinen, und seine Stimme klang kräftig. »Wir haben leider nicht den festlichen Grund für unser Mahl, den wir zu haben glaubten«, sagte er, »aber trotzdem soll die Festlichkeit stattfinden. Es gilt nämlich, drei neue Mitglieder in unsere Sippe aufzunehmen, drei Männer, die uns geholfen und die sich sehr um uns verdient gemacht haben. Dorian Hunter, Don Chapman und Phillip sollen von heute an Ehrenmitglieder der Amalfi-Sippe sein. Sie dürfen sich Zigeuner nennen, und die Freundschaft der mit uns verschwisterten und verbündeten Sippen ist ihnen gewiss. Nach dem Mahl werden wir ihre Arme ritzen und ihr Blut in den Sippenkelch tropfen lassen.« Einige Augenblicke herrschte überraschtes Schweigen, dann brachen die Sippenangehörigen in Hochrufe aus und applaudierten. Die fette Louretta umarmte Dorian Hunter und gab ihm auf jede Wange eine schmatzenden Kuss. »Mein Junge!«, rief sie. »Mein Söhnchen!« Ihre Söhne umarmten Dorian und küssten ihn gleichfalls auf die Wangen. Eine große Verbrüderung begann. Dorian, Don Chapman und Phillip, der mit Lucia am anderen Ende der Tafel saß, Raffael gegenüber, gingen durch die Hände der Zigeuner. Sie wurden umarmt und abgeschleckt. Natalie warf sich auf Dorian, als wollte sie gleich mit ihm ins Bett gehen, Ramona desgleichen. Es dauerte eine Zeit lang, bis endlich wieder alle an der Tafel saßen. Der bärtige Muskelmensch Herkules begann zu weinen – wie immer bei festlichen Gelegenheiten. Dorian aß nicht sehr viel. Die fette Louretta nötigte ihn immer wieder. Als nach fünf Gängen eine Pause gemacht wurde, ging Dorian mit Coco und Don Chapman nach draußen. Er sprach lange mit ihnen, und als sie zurückkamen, waren alle drei ungewöhnlich ernst. Nach dem Essen sollte die feierliche Zeremonie mit dem Sippenbecher stattfinden, aber Dorian Hunter bat um einen Aufschub. »Vorher ist noch etwas zu tun«, sagte er. »Ich weiß jetzt, wer das Monster ist und wo es sich aufhält. Ich will ihm den Garaus machen.« Er beobachtete Ramona Masto. Sie kniff die Lippen zusammen und musterte ihn feindselig. Dorian deutete auf sie. »Packt sie und
bindet sie fest! Sie darf sich nicht rühren können.« »Was, Ramona soll es sein?«, schrien alle durcheinander. »Nein. Aber sie steht in einer engen Beziehung zu dem Dämon. Raffael und seine drei Söhne, Lucia mit ihren Giftschlangen, Don Chapman, Phillip und Coco Zamis sollen mit mir ins Schauzelt kommen. Auf der Bühne werden wir den Dämon austreiben und vernichten. Ich brauche ein paar Fackeln, einen Kanister Petroleum, Feuerlöscher, ein Beil und einen Knüppel.« »Weißt du genau, was du tust, Dorian?«, fragte Raffael, der den Sippenbruder von nun an duzte. Der Dämonenkiller nickte. »Tut, was er sagt!«, befahl Raffael. »Niemand außer den Personen, die er genannt hat, soll das Zelt betreten.« Die festliche Stimmung war gewichen. Alle starrten Dorian an. Die Fackeln waren in eiserne Halter gesteckt, die Utensilien lagen bereit. Dorian stand Raffael gegenüber, neben Dorian wartete der Zwergmann Don Chapman, die Amalfi-Söhne harrten im Hintergrund. Lucia stand seitlich auf der Bühne, Hand in Hand mit Phillip. Um Lucias Hals und auf ihren Schultern wanden sich sechs giftige Schlangen. Sie hatte Ähnlichkeit mit einer bildschönen Medusa. Coco Zamis befand sich auf der anderen Seite der Bühne. »Was nun?«, fragte Raffael. »Glaubst du, du kannst ein dreißig Zentimeter großes Männchen schlucken und lebend wieder aus deinem Magen herauslassen, Raffael?«, fragte der Dämonenkiller. »Ja, freilich. Für mich ist das eine Kleinigkeit. Wie kommst du jetzt darauf?« »Dann schluck Don Chapman hinunter. Er wird an eine Schnur angebunden.« »Weshalb denn das?« »Tu, was ich sage, Raffael! Oder hast du nur angegeben?« »Erlaube mal! Ich habe jetzt zwar einen vollen Magen, aber das schaffe ich allemal.« Eine Schnur wurde um Don Chapmans Körpermitte gelegt. Raffael schnallte den Gürtel ab, um nicht beengt zu sein, und stellte sich
in Positur. Don hatte ein winziges Silberkreuz um den Hals und eine Miniaturkapsel mit Weihwasser in der Tasche. »Komm her!«, sagte Raffael und riss den Mund auf. »Ich weiß zwar nicht, was das soll, aber ich werde beweisen, dass ich kein Angeber und Lügner bin.« Er schob Don in den Mund. Die Beine des Puppenmannes waren noch zu sehen. Raffaels Halsmuskeln bewegten sich, Don wanderte in Raffaels aufnahmefähigen Magen hinunter. Ein wenig Schweiß erschien auf Raffaels Gesicht. Die Schnur, an der Don hing, wurde immer kürzer, blieb schließlich unbewegt hängen. Plötzlich kam ein unbeschreiblicher Laut aus Raffaels Kehle. Krämpfe schüttelten ihn. Sein dicker Bauch bebte und zuckte, als trete und strample jemand darin herum. Mit schmerzverzerrtem Gesicht brach Raffael in die Knie. »Hunter, was haben Sie mit unserem Vater gemacht?«, schrien die drei Amalfi-Söhne. »Wartet ab und rührt euch nicht vom Fleck!«, donnerte der Dämonenkiller. So zwingend war seine Stimme, dass alle wie gebannt verharrten. Raffael zuckte am Boden. In seinem Bauch wütete es. Er gab stöhnende und grunzende Schmerzlaute von sich, würgte und hustete, und ein Schwall kam aus seiner Kehle. Don Chapman wurde in hohem Bogen herausgeschleudert und überschlug sich ein paar Mal. Und dann quoll noch etwas anderes aus Raffaels Mund. »Lucia, die Schlangen!«, rief Dorian Hunter. Das Monster kam aus Raffaels Schlund. Don Chapman hatte es mit Kreuz und Weihwasser aus seinem Versteck im Bauch des Allesfressers und Feuerspuckers vertrieben. Es schüttelte sich und stellte seine Haare auf. Die roten Augen in der blauen Dämonenfratze funkelten. Das Monster brüllte und fauchte und blies durch die Nase mit den großen Nüstern. Doch schon hatten es die Giftschlangen Lucias erreicht. Für alle Umstehenden – außer Dorian Hunter, Coco und Don Chapman – war es ein furchtbarer Schock, das kleinwüchsige Monster vor sich
zu sehen und zu wissen, dass Raffael es all die Zeit in seinem Bauch herumgetragen hatte. Die Schlangen stießen zu. Das Monster brüllte fürchterlich. Im Nu hatte es zwei Schlangen zerfleischt, packte eine dritte und zerbiss sie mit seinen scharfen Zähnen blitzschnell in drei Teile. »Los, tötet den Dämon!«, rief Dorian Hunter und packte das Beil. Er hielt ein Kreuz in der Linken. Coco nahm geistesgegenwärtig den Knüppel. Zusammen rückten sie dem Monster zu Leibe. Raffael lag reglos mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken. Die drei Amalfi-Söhne fassten sich. Ihre Hände zuckten zu den Messern. Die Klingen zischten durch die Luft und bohrten sich in den Körper des Monsters. Dorian schlug mit dem Beil zu, Coco mit dem Knüppel. Grünes Blut quoll aus den Wunden des Monsters. Das Schlangengift machte sich bemerkbar. Seine Bewegungen wurden schwächer. Es fiel zuckend auf den Rücken. Dorian besprengte es mit Weihwasser. Es heulte ein paar Mal auf. »Die Fackeln!«, rief der Dämonenkiller. »Der Dämon muss mit Feuer vernichtet werden.« Die Männer packten die Fackeln. Sie hielten sie an den Körper des Monsters. Es stank nach versengten Haaren und verkohltem Fleisch. Ein Röhren war zu hören, dann regte der kleinwüchsige Dämon, der Sohn des Schwarzen Wesirs Fayaz al Akbar, sich nicht mehr. Dorian sagte Matteo, er sollte das Petroleum mit nach draußen nehmen. Er selber schlug das Beil in den Kopf des Monsters, der fast nur aus Rachen und Zähnen bestand, und schleifte es nach draußen. Im Freien übergoss Dorian das Ungeheuer mit Petroleum. Dann entzündete er ein Zeitungsblatt und warf es darauf. Die Flammen verzehrten den kleinen schrecklichen Dämon, der so viele Menschen gefressen hatte. Nur Asche, Knochen und ein paar geschwärzte Zähne blieben von ihm übrig. Matteo hielt alle von der Sippe und der Monstrositätenschau fern. »Ich verstehe nicht, wie dieses kleine Biest Menschen hat auffressen können«, sagte Matteo, als er mit Dorian ins Zelt zurückging. »Was er verzehrte, muss doch irgendwo geblieben sein.« »Es war eben ein Dämon«, antwortete Dorian, und damit war alles
gesagt. Raffael war wieder zu sich gekommen. Körperlich fehlte ihm nichts, aber die Gewissheit, dass er die ganze Zeit das Monster im Bauch gehabt hatte, war ein schwerer Schock für ihn. Er saß auf dem Boden. »Was war nun dieses Monster?«, fragte er. »Ich dachte immer, es sei jemand von der Sippe.« »Das war es auch. Es war Ramona Mastos Kind, gezeugt von einem Dämon bei einem schwarzen Sabbat in der Türkei. Ramona muss damals Hervio Masto bei der Geburt des Monsters hypnotisiert haben. Er bildete sich ein, es sei eine Totgeburt gewesen. Die alte Zarina verhalf mir mit ihren magischen Fähigkeiten zu der Erkenntnis, und eins fügte sich ins andere. Dir, Raffael, war öfter unwohl. Als ich das erste Mal mit einer gnostischen Gemme in deine Nähe kam, bekamst du Bauchschmerzen. Lucias Klapperschlange vor dem Wohnwagen bedrohte nicht dich, sondern etwas in dir. Ramona erschlug die Schlange, weil sie für ihr Kind fürchtete.« »Unglaublich!«, riefen Raffael und seine Söhne. »Dass es so etwas gibt!« »Ein typischer Dämonenscherz«, sagte Dorian Hunter. »Der Dämon vom Schwarzen Schloss in der Türkei wusste genau, was er erreichen wollte, als er Ramona dieses Monster andrehte. Ich bin sicher, er hat es speziell für diesen Zweck fabriziert.« Raffael erhob sich mit zitternden Knien, bleich wie ein Laken. Die alte Zarina humpelte ins Zelt. »Ramona ist gerade gestorben«, sagte sie. »Sie bekam plötzlich furchtbare Krämpfe, und dann setzte ihr Herz aus. Wir konnten sie nicht retten.« »Ihre Bindung an das Monster, das sie geboren hatte, war zu stark«, sagte Coco Zamis. »Es hat sie mit in den Tod genommen.« »Kann ich darauf rechnen, dass du über diese Vorgänge Stillschweigen bewahren wirst, Dorian?«, fragte Raffael. »Ich meine, wem soll es jetzt, wo alles vorbei ist, noch etwas nutzen, wenn alles an die große Glocke gehängt wird?« Dorian nickte. »Natürlich werden meine Freunde und ich schwei-
gen, Raffael. Schließlich werden wir doch die Sippe nicht in Verruf bringen, zu der wir jetzt auch gehören.«
Drittes Buch
Der Gast aus dem Totenreich von Roy Palmer
Die Umrisse der Villa hoben sich undeutlich gegen den Nachthimmel ab. Wenigstens die spitzgiebeligen Erker und das verzierte Dach waren von der Privatstraße aus, die sich den flachen Hügel hinaufwand, zu erkennen. Vor der Parkmauer ragten – auf rätselhafte Art lebendig wirkend – Zypressen in den Himmel. Friedhofsbäume, dachte Claudia Marino. Sie setzte ihren Weg ein bisschen zögernd fort. Eigentlich war sie es als Kulturredakteurin einer bekannten römischen Zeitschrift nicht gewohnt, allein auf nächtliche Streifzüge zu gehen. Sie hatte ein wenig Angst. Die Villa sah nicht einladend aus. Kein Licht brannte, nirgends war ein Mensch zu sehen. Die Nacht war nicht besonders kühl, denn auch im Dezember fiel das Klima in der Region Lazio angenehm mild aus. Claudia Marino, die hübsche Journalistin mit den keck gelockten Haaren, hatte nur einen Trenchcoat über den Rock und den Pulli gezogen. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Eine Fledermaus kam torkelnd durch die Luft gesegelt. Als Claudia zwischen den Zypressen hindurchschritt, bemerkte sie, dass der laue Wind mit den Wipfeln spielte und das Laub leicht rascheln ließ. Sie trat an das Tor in der Mauer. Maestro Marco Bertini stand auf dem großen Kupferschild über dem Klingelknopf. In einem Land, in dem man auf Titel großen Wert legte, mutete der Zusatz keineswegs kurios an; im Gegenteil; gerade eine Persönlichkeit wie der Mann, dem Claudia nun seit fast einem Jahr auf den Fersen saß, schien ohne dieses Attribut entwürdigt zu werden. Maestro Marco Bertini, der große Violinist. Maestro Bertini, der bedeutendste Paganini-Interpret dieser Epoche, ein Virtuose sondergleichen. Claudia setzte den Daumen auf den Klingelknopf und wartete. Als sich nach einer Minute niemand gemeldet hatte, bewegte sie die Klinke des schmiedeeisernen Tores. Knarrend schwang es auf. Ihr war nicht gerade wohl zumute, während sie durch den Park schritt.
Ist denn hier keiner?, fragte sie sich. Habe ich mich getäuscht? Unvermittelt hörte das Käuzchen zu schreien auf. Stille umgab Claudia Marino. Nur ihre Schuhe knirschten leise auf dem Kies des Parkweges. Sie fröstelte unwillkürlich und zupfte nervös an ihrem Mantelkragen. Immer wieder blieb sie stehen und blickte sich um. Die Villa lag vor ihr, stumm und düster – ein drohend wirkendes Gemäuer. Claudia dachte zurück an die Bemühungen, die sie angestellt hatte, um den verschwundenen Maestro zu finden. Sie war elf Monate lang kreuz und quer durch die Weltgeschichte gereist; ein paar Mal hatte es so ausgesehen, als hätte sie ihn. Dann hatte sich herausgestellt, dass sie einem Schwindel aufgesessen war. Claudia war nach Italien zurückgekehrt, wen sie in London den heißen Tipp bekommen hatte, Bertini sei in Rom. Taxifahrer auf dem Flughafen Fiumicino hatten ihr versichert, ein Mann, auf den die Beschreibung des Maestros passe, habe sich zur Villa bringen lassen. Claudia war überzeugt, dass der Maestro sich hier versteckt hielt. Vor einem Jahr war er nach einem Skandal spurlos untergetaucht. Sie hatte sich geschworen, ihn zu finden. Ein Stück persönliches Engagement spielte dabei auch mit. Sie hatte nämlich eine Schwäche für den großen Marco Bertini. Unten an der Privatstraße hatte sie sich von einem Taxi absetzen lassen. Sie hatte dem Fahrer ausdrücklich gesagt, dass er nicht zu warten brauchte. Warum? Sie wusste es nicht genau. Sie hatte aus einem spontanen Entschluss heraus gehandelt. Eigentlich bereute sie es jetzt ein wenig, das Taxi fortgeschickt zu haben. Sie schritt an finsteren Wacholdersträuchern vorüber, an Rhododendron- und Oleanderbüschen, deren Blätter geheimnisvoll raschelten. Claudia gewahrte den Zierteich. Das Ufer bestand aus römischem Travertin, und in der Mitte erhob sich eine Art Säule, die von einem nackten Knaben gekrönt wurde. Der Knabe hielt einen Fisch, aus dessen Maul ein feiner Wasserstrahl rann. Claudia trat näher heran. Sie hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet der Teich ihre Aufmerksamkeit erregte. Irgendwie handelte
sie gegen ihren Willen. Sie beugte sich über die schwarze Wasserfläche. Es ließ sich nicht feststellen, wie tief der Teich war. Im Wasser gluckste es unheimlich. Claudia zog sich wieder zurück. Der Teich war ihr nicht geheuer. Dann hörte sie das Geräusch und drehte sich um. Etwas hatte geknackt. Da! Unter dem Dach der Terrasse bewegte sich eine Gestalt. Sie ging in Richtung Villa, gebückt und mit seltsam eckigen Bewegungen. Claudia meinte, den Maestro Bertini erkannt zu haben. Der Statur nach musste er es sein. Sie wollte ihm etwas zurufen. Doch er verschwand bereits im Gebäude. Claudia spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Der Maestro war also hier. Endlich hatte sie ihn aufgestöbert. Wenn sie es geschickt anstellte, konnte sie ihn in der Villa überraschen. Dann durfte er sich nicht mehr zurückziehen; dann musste er sich stellen und auf ihre Fragen antworten. Sie lief los. Die Aufschläge ihres Trenchcoats flatterten. Leichtfüßig überquerte sie die Terrasse und drang durch die Seitentür, die soeben auch Bertini benutzt hatte, in die Villa ein. Sie musste ein bisschen herumtasten, ehe sie sich zurechtfand. Es war stockdunkel um sie herum, aber sie wusste, dass sie sich in einem Gang oder lang gestreckten Flur befand. Vorsichtig setzte sie ihren Weg fort. Sie hatte das Ende des Ganges erreicht, als sie die Musik hörte. Claudia erschauerte, doch es war ein wohliges Gefühl, das sie durchlief. Denn was nun die ganze Villa erfüllte, war Geigenmusik – das unvergleichliche Spiel des Maestros. So interpretierte nur einer. Claudia kannte auch das Werk, das Marco Bertini so einzigartig spielte. Es war der Solopart aus dem Konzert für Violine und Orchester in D-Dur, Opus 6, von Niccolo Paganini. Eines der schwierigsten Stücke des legendären Teufelsgeigers. Bertini galt als der derzeit bedeutendste Paganini-Interpret, und nicht selten verglich man ihn auch menschlich mit dem unvergessenen Komponisten. Claudia folgte den Klängen. Sie fühlte sich erleichtert, fast verzaubert. Durch Flure und Räume gelangte sie in einen wundervoll eingerichteten Salon. Kerzen brannten und verbreiteten ein eigentümli-
ches bläuliches Licht. Ein großes Gemälde oder etwas Ähnliches war durch ein schwarzes Tuch verhangen. Claudia kümmerte sich nicht darum, machte sich keine Gedanken mehr, hatte nur noch Sinn für das berückende Violinspiel. Nur eine Wand trennte sie noch von dem Maestro. Die Verbindungstür stand offen. Claudia Matino sah schon die Bilder an den Wänden; Darstellungen berühmter Komponisten wie Bach, Beethoven, Tschaikowsky, Berlioz und Paganini. Das Musikzimmer, dachte Claudia. Sie kannte Hunderte von Berichten und Beschreibungen über das Werk und die Lebensweise des Maestro. So kam es Claudia nicht vor, als würde sie einen fremden Raum betreten; nein, sie fühlte sich eigenartig heimisch und willkommen. Und dann sah sie ihn. Er saß auf einem schlichten Stuhl und hatte ihr den Rücken zugewandt. Sein Gesicht konnte sie nicht sehen; nur die Hände, diese wunderbaren Hände. Sie hielten die Violine und den Bogen. Die Finger der linken Hand bewegten sich in atemberaubendem Tempo über das schwarze Griffbrett und die Saiten des Instrumentes. Der Maestro war beim Finale des Konzertes angelangt. Es war, als spielte er sich selbst in Ekstase. Claudia lauschte ergeben. Es war eine Amati, die Violine von Marco Bertini. Nie hatte sie jemand vollendeter auf diesem schwierigen Instrument spielen hören. Die Darbietung endete mit ein paar rasenden Tonfolgen und einem vollen Akkord. Marco Bertini setzte die Violine ab. Die Schlussharmonie schwebte noch im Raum. Sein Atem war zu vernehmen. Claudia wagte es, ihn anzusprechen. »Maestro …« Zuerst war es, als hätte er sie nicht gehört. Dann aber kam Bewegung in seine hagere, gebeugte Gestalt. Im Zeitlupentempo drehte er sich um – und er antwortete ihr. Aber diese Stimme! Claudia schauderte unwillkürlich. Diese tiefe, seltsam krächzende Stimme sollte dem gutaussehenden Maestro, dem Beau der europäischen Musikszene gehören? »Geh!«, versetzte er langsam. »Geh, du Närrin! Fort aus diesem Haus! Lauf und drehe dich nicht um, denn noch – noch kannst du dich retten.«
Die Stimme klang so scheußlich, dass Claudia dachte, sie müsste direkt aus einem Grab kommen. »Aber so hören Sie mich doch an, Maestro!«, sagte sie in flehendem Tonfall. »Sie können mich nicht einfach wegschicken. Ich habe ein Recht darauf, ihnen gewisse Fragen zu stellen.« Er drehte sich ganz um. In diesem Augenblick fiel fahles Mondlicht durch die hohen Fenster der Villa, und es vereinigte sich mit dem Lichtschein der Kerzen. Claudia Marino zog die Hände hoch und ballte sie zu Fäusten. Die Knöchel presste sie gegen den Mund, um den Schrei zu unterdrücken. Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Was sie sah, war grauenvoll, aber ihr Blick blieb doch wie in Hypnose auf den Maestro gerichtet. Dann reagierte sie. »Nein!« Ihr Schrei gellte durch das Haus. »Nein, es darf nicht sein!« Höhnisches Gelächter hallte durch den Raum, wurde lauter. Bald schien es aus allen Ecken zu kommen. Claudia ergriff die Flucht. In panischem Entsetzen lief sie zurück in den Salon. Sie wusste nicht mehr, woher sie gekommen war, aber sie rannte und rannte. Durch Zufall geriet sie direkt ins Foyer der Villa. Hinter ihr war ein Geheul und Gelächter, als folgten ihr alle Teufel der Hölle. Sie erreichte die Tür. Mit zitternden Fingern riss sie sie auf, stürmte die marmorne Freitreppe herab und hastete durch den Park. Plötzlich glitt sie aus, fiel. Der helle Trenchcoat färbte sich dunkel, als sie sich auf der feuchten Erde wälzte. Wimmernd kam sie wieder hoch. Ihr rechtes Knie schmerzte. Sie humpelte weiter. Da war es hinter ihr. Es roch nach Moder und Schimmel. Sie schrie, aber etwas legte sich von hinten kalt um ihre Kehle.
Maestro Marco Bertini spielte wie ein Teufel. Seine Haare flogen, aber er kümmerte sich nicht darum. Erst am Ende des Solos setzte er den Bogen ab, richtete sich auf und strich sich lächelnd über die Fri-
sur. Rauschender Applaus folgte. Jemand rief: »Da Capo!« Trevor Sullivan betätigte einen Schalter, und das Wiedergabegerät stoppte. Das Bild auf dem Schirm des Fernsehapparates erlosch. Sullivan ließ das Videoband zurücklaufen. Es surrte leise. »Wollen Sie es noch einmal sehen, Dorian?«, erkundigte er sich. Der Dämonenkiller lehnte sich in seinem Sessel zurück. Seine Züge waren entspannt. »Nein, danke. Klären Sie mich lieber über die Fakten auf! Bertini ist mir gut bekannt, obwohl ich ihn nie persönlich gesehen habe. Ich habe seine Konzerte im Fernsehen verfolgt und besitze einige Aufnahmen von ihm. Sie wissen ja, dass ich mich für alte europäische Musik interessiere.« Sullivan lächelte ein bisschen, was wegen der unterschiedlichen Gesichtshälften ein wenig komisch aussah. »Besonders für die Orgelwerke von Händel und Bach, denen Sie die elementare Wucht zuschreiben, die Dämonen vernichten kann, nicht wahr?« »Auch Paganini ist in dieser Hinsicht nicht zu verachten. Und Bertini ist ja wohl der beste lebende Interpret. Oder muss ich war sagen?« Sullivan setzte sich. »So, wie die Dinge stehen, nicht. Aber sagen Sie mir lieber zuerst, was Ihnen über den Bertini-Skandal bekannt ist, damit ich vermeiden kann, mich unnötig zu wiederholen.« Dorian Hunter blickte zum Fenster hinaus. Sie saßen in der Jugendstilvilla, in der auch Sullivans Mystery Press untergebracht war, eine Presseagentur, die nach dem Untergang der Inquisitionsabteilung für den Dämonenkiller von relativ großer Bedeutung war. Was er nicht mehr durch den Secret Service erfuhr, teilte ihm jetzt Sullivan mit. Draußen fielen erste wässrige Schneeflocken. Es war kalt. In der Jugendstilvilla ließ es sich im Augenblick am besten aushalten. »Bertini ist nicht nur als Virtuose, sondern auch als Frauenheld berühmt geworden«, sagte Dorian. »Ich glaube, die Sensationsreporter haben an ihm gut verdient, denn er lieferte bis zu seinem spurlosen Verschwinden reichlich Stoff für die Skandalblättchen. Die Damen der Gesellschaft himmelten ihn genauso an wie seine Schülerinnen und jungen weiblichen Fans. Nun, der Maestro gab den jungen Din-
gern natürlich den Vorzug. Er war gewiss kein Kostverächter. Ein Mädchen nahm ein Intermezzo mit ihm zu ernst und nahm sich in seiner Villa das Leben. Mit Schlaftabletten. Ihr Name ging durch alle Zeitungen.« »Silvia Lualdi«, warf Sullivan ein. »Richtig. Ein hübsches Mädchen, hieß es.« Dorian stellte die Fingerspitzen gegeneinander. »Der ganze Fall blieb undurchsichtig. Jedenfalls wurde später berichtet, dass Bertini zum Zeitpunkt des Todes der Lualdi überhaupt nicht in der Villa, sondern mit seiner Frau auf Weltreise war. Fortan ließ der Maestro sich in der Öffentlichkeit nicht mehr blicken. Seine Frau kam nach einem Monat nach Rom zurück und verkündete, er habe sich für eine Weile zurückgezogen, um den Schock zu überwinden. Über die Sache wuchs Gras, obwohl die Gerüchte nie ganz verstummten. Hin und wieder liest man in der Regenbogenpresse, Bertini sei gesehen worden. Mal in New York, mal in Singapur. Ob was Wahres dran ist, kann man natürlich nicht kontrollieren.« »Ist das alles, was Sie wissen?« »Ja.« »Nun, dann bin ich dran. Erstens: In der Nähe der Bertini-Villa wurden die Leichen zweier Mädchen gefunden. Sie sollen früher ein Verhältnis mit dem Maestro gehabt haben, machten sich damit zu Lebzeiten zumindest interessant.« »Wann entdeckte man die Toten?« »Gestern, aber sie müssen schon ein paar Tage dort gelegen haben. Boten jedenfalls keinen appetitlichen Anblick mehr. Jede hatte in der Schädeldecke ein großes Loch. Die Gehirne fehlten. Es sah so aus, als wären sie ausgesaugt worden. Ihre Körper waren vertrocknet, wie mumifiziert.« Dorian richtete sich auf. Plötzlich war sein Interesse geweckt. Gespannt fixierte er Sullivan. Seine Sinne waren hellwach. Sullivan sprach auch schon weiter. »Ja, es scheint wirklich, als hätten die Mächte der Finsternis einen neuen schaurigen Fall eingeleitet. Aber ich tappe mit meinen Recherchen noch weitgehend im Dunkeln. Was ich herausbekommen habe: Die beiden Mädchen hat-
ten Kontakte zu einem römischen Hexenkult. Niemand weiß Genaues über diese Gruppe. Weiter: Früher, vor rund zehn Monaten, sind auch schon mal zwei Mädchen im Abstand von wenigen Tagen verschwunden. Später wurde ein drittes vermisst. Alle drei hatten ein Verhältnis mit Bertini gehabt, keine wurde wiedergefunden – weder lebend noch tot.« Sullivan konzentrierte sich schweigend auf seine Notizen. Plötzlich tippte er mit dem Finger auf seine Unterlagen. »Da habe ich es wieder! Der zweite wichtige Punkt ist, dass Maestro Marco Bertini sein Comeback angekündigt hat. Oder besser – seine Frau hat dazu eingeladen.« »Wo lebt die Frau?« »Laura Bertini wohnt nach wie vor in der Villa oberhalb der Via Aurelia Antica.« »Und sie wurde nie zu den toten und vermissten Mädchen vernommen?« »Doch«, erwiderte Sullivan. »Aber es sieht so aus, als habe sie wirklich nichts damit zu tun. Jedenfalls konnte sie mit vorzüglichen Alibis auch den leisesten Verdacht zurückweisen.« Leicht verärgert über die Unterbrechung, fuhr er fort: »Ein Kreis ausgewählter Gäste wurde zu einer Soiree in die Villa gebeten. In einer Woche findet sie statt. Die Öffentlichkeit ist ausgeschlossen, womit vor allem sicherlich die Reporter gemeint sind. Diese Notiz erschien denn auch in keiner Zeitung. Ich habe sie auf sehr verschlüsselte Art übermittelt bekommen.« Dorian lächelte. »Dank Ihrer immer noch guten Kontakte, Trevor. Sie brauchen nicht weiterzureden. Ich werde dem Maestro auf den Zahn fühlen – nicht zuletzt, weil ich sein Spiel ungemein schätze.« »Jeff Parker ist zur Zeit in Cinecitta und führt Verhandlungen wegen eines Filmprojekts«, erklärte Sullivan. »Vielleicht kann er eine Einladung zur Soiree beschaffen.« »Ich nehme Kontakt mit ihm auf.« Dorian beschäftigte sich in den nächsten Tagen mit dem Material, das Sullivan ihm zu dem Bertini-Skandal beschafft hatte. Das meiste war ihm schon bekannt. Er las vor allem die allgemeinen Angaben
über Bertini mit großem Eifer. Bald war er über Bertinis komplette Lebensgeschichte im Bilde. Dann rief er seinen Freund Jeff Parker in Rom an. Der war hocherfreut und versprach, sich um die Sache zu kümmern. Gegen Abend – Dorian hatte schon den Flug nach Rom gebucht – wartete Sullivan mit einer neuen Notiz zum Thema Bertini auf. »Das Verschwinden einer jungen Frau namens Claudia Marino wird gemeldet«, sagte er. »Sie ist heute Nachmittag nicht an ihrem Arbeitsplatz in der Redaktion einer großen römischen Zeitschrift erschienen. Kein Mensch weiß, wo sie ist. Zuletzt wurde sie in der Redaktion gesehen, und zwar am Tag zuvor. Sie hat keinem hinterlassen, wohin sie sich wenden wollte. Sicher ist nur, dass sie seit ungefähr einem Jahr nach dem untergetauchten Maestro forschte.« Dorian war sehr nachdenklich gestimmt, als er sich verabschiedete. Donald Chapman hatte fast den ganzen trüben Tag schlafend in seinem Puppenhaus verbracht; er wirkte zerstreut. Phillip, der Hermaphrodit, lief mit träumerischem Gesichtsausdruck durch das Haus. Er redete unverständliches Zeug und benahm sich tollpatschig. Phillip wollte Dorian etwas mitteilen, aber es gelang ihm nicht. »Ruhig, Phillip!«, sagte Dorian. »Versuche es noch einmal! Du musst es schaffen.« Miss Pickford erschien auf der Bildfläche und nahm den Hermaphroditen unter ihre Fittiche. »Lassen Sie ihn!«, sagte sie und schaute Dorian tadelnd an. »Sie machen ihn bloß noch nervöser. Dass das nicht in Ihren Kopf will!« Der Dämonenkiller zog es vor, nicht weiter zu drängen. Der mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestattete Hermaphrodit hatte wieder seine Orakelfunktion aufgenommen. Es war klar, dass er ihm etwas sagen, ihn warnen wollte. Vielleicht vor Rom? Dorian ging zu Coco. »Kann ich nicht mitkommen?«, fragte sie. Er schüttelte den Kopf. »Diesmal nicht. Es wird schon für mich schwierig sein, ohne großes Aufsehen der Bertini-Villa einen Besuch abzustatten.«
»Ich verstehe. Viel Glück, Rian!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn. »Dir brauche ich ja nicht zu sagen, dass du auf dich aufpassen sollst.«
Um neunzehn Uhr dreißig landete der BEA-Jet planmäßig auf dem Flughafen Fiumicino. Dorian Hunter ließ sich in die Innenstadt bringen und nahm sich ein Zimmer im Hotel La Pace, das er von früher her kannte. Das war auch so ziemlich das Einzige, was er von Rom in Erinnerung hatte. Er wusste besser auf Sizilien und in Palermo Bescheid; dort hatte er vor einiger Zeit nach einem stillen Abkommen mit dem Mafia-Boss Don Chiusa gegen Anatoll Chalkiris gekämpft, den geheimnisumwitterten griechischen Milliardär und Dämonen, der mit Asmodi identisch gewesen war. Dorian geisterten diese und andere Dinge durch den Kopf, als er auf sein Zimmer ging. Er setzte den Diplomatenkoffer ab, in dem sich neben den nötigsten persönlichen Gegenständen auch ein hölzernes Kruzifix und ein paar andere Dämonenbanner befanden, aber die Spezialpistole, mit der man silberne Kugeln und kleine Holzpfähle verschießen konnte, hatte er in der Jugendstilvilla zurückgelassen. Bei den strengen Zollkontrollen auf den Flughäfen wäre sie bestimmt aufgefallen; und er hatte keine Lust gehabt, sich auf lange Diskussionen einzulassen. Dorian rief sofort Jeff Parker an. Eine halbe Stunde darauf traf der Freund ein, munter und smart lächelnd wie immer. Er trug einen tadellosen Anzug und einen jener Hüte, wie sie gerade in Italien in Mode waren. »Rian, ich habe es geschafft!«, sagte er zur Begrüßung. Sie schüttelten sich die Hände, dann gingen sie hinunter in die Bar. Der Dämonenkiller sagte: »Schieß los!« Parker nahm eine von den angebotenen Zigaretten und zog genüsslich daran. »Also, das war so. Nach deinem Anruf aus London habe ich mich gleich umgehört. In den Studios von Cinecitta laufen immer genügend Leute mit den entsprechenden Beziehungen herum. Natürlich musste ich aufpassen, mit wem ich sprach, denn
du hattest dir ja ausdrücklich Diskretion ausgebeten.« »Richtig. Und weiter?« Parker lächelte. »Plötzlich stieß ich auf ein Starlet, das nur so die Ohren spitzte, als ich den Namen Bertini in die Unterhaltung einwarf. Zum Glück kenne ich sie, sonst hätte sie wohl geschwiegen. Ein ganz reizendes Wesen übrigens. Heißt Caterina Schifano. Sie ist nichts Tolles beim Film, aber interessant, weil sie früher Musik studiert hat.« »Komm nicht vom Thema ab!« »Komme ich ja nicht. Die hübsche Caterina ging aufs Konservatorium und lernte Geige spielen. Sie verehrte den Maestro glühend, lernte ihn sogar persönlich kennen. Als er verschwand, gab sie ihre musikalische Laufbahn auf und versuchte sich als Fotomodell, später als Sternchen am flimmernden Zelluloidhimmel von Cinecitta.« Dorian, der zwei Drinks bestellt hatte, nahm die Gläser entgegen und schob eines seinem Freund zu. »Du hast wirklich eine blumige Ausdrucksweise. Aber statt mich so auf die Folter zu spannen, solltest du lieber auf den Kern der Sache zu sprechen kommen.« »Sofort. Bertini muss auch für unsere kleine Caterina etwas übrig haben, denn er lud sie zu der Soiree ein. Da staunst du, was? Und ich, ich habe das Kunststück vollbracht, es so zu arrangieren, dass du sie begleiten kannst.« »Donnerwetter! Das nenne ich gute Vorarbeit.« »Bin noch nicht fertig«, entgegnete Parker und nippte an seinem Drink. »Eigentlich hat Caterina zwei Einladungen für die Soiree erhalten, die zweite für ihre Freundin Antonia Biasi.« »Wer ist das? Und warum kann sie diese Caterina nicht begleiten?« »Frag Caterina selbst!«, sagte Parker. »Da kommt sie!« Was da durch die Vorhalle des Hotels in die Bar getrippelt kam, schimpfte Jeff Parkers Schilderung wirklich nicht Lügen. Caterina Schifano entpuppte sich als schlanke quicklebendige junge Frau mit einem entzückenden Gesicht. Lange, weiche blonde Haare fielen glatt bis auf ihre Schultern herab. Die Figur war makellos und kam unter dem Hosenanzug gut zur Geltung.
»Guten Abend!«, sagte sie. »Ich bitte die Verspätung zu entschuldigen. Ich hatte wirklich noch zu tun. Sonst hätte ich mich auch sicherlich von Jeff abholen lassen, statt selbst zu fahren. Sie sind Signor Dorian Hunter?« Sie sprach mit deutlichem Akzent. Es war unverkennbar, dass sie eine waschechte Römerin war. Dorian, der genau wie Parker fließend Italienisch sprach, stand auf. »Stimmt. Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Außerdem möchte ich mich gleich bei Ihnen bedanken. Ich hätte nie gedacht, dass es mir gelingen würde, eine Einladung für die Soiree in der Villa des Meisters zu bekommen.« Caterina legte den Kopf ein bisschen schief. Sie konnte höchstens knapp über Zwanzig sein. »Wie haben Sie überhaupt herausbekommen, dass der Maestro sein Comeback feiern will?« »Durch ausgezeichnete Verbindungen. Trotz der Geheimhaltung habe ich von Eingeweihten erfahren, wann das abendliche Konzert stattfindet.« »Sie sind also ein Fan?« »Allerdings.« Sie lächelte. »Wir werden uns schon verstehen. Schade, dass Antonia nicht mitkommen konnte. Es hätte ihr sicherlich auch gefallen. Aber es ist wirklich noch nicht der richtige Moment, sie wieder dem Maestro gegenüberzustellen.« »Warum eigentlich nicht?« Jeff Parker setzte sein Glas ab. »Entschuldigt mich, aber ich habe noch eine Verabredung. Rian, du hast bestimmt nichts dagegen, wenn ich Caterina deiner Obhut überlasse. Führe sie doch in ein nettes Lokal aus!« Dorian entschuldigte sich bei dem Mädchen und begleitete den Freund ein Stück zur Tür. »Hör zu, du musst mir noch einen Gefallen tun. Ich möchte mich auf jeden Fall schon heute Nacht in der Bertini-Villa umsehen, und zwar unangemeldet und heimlich. Wenn Laura Bertini, die Frau des Maestros, nicht gerade Bluthunde hält, dürfte es nicht schwierig
sein, sich wenigstens im Park ein bisschen umzutun.« »Eben. Außerdem bist du ja erwachsen genug, so was durchzuführen.« Parker grinste jungenhaft. »Ich brauche nur einen Mann, der sich auf dem Grundstück und in dem Haus auskennt.« »So einfach ist das nicht.« »Versuche es, Jeff!« »Na klar. Ich lasse mal wieder ein wenig meine Beziehungen spielen. Falls ich jemanden auftreibe, schicke ich ihn dir hierher ins Hotel. Einverstanden?« »In Ordnung.« Der Dämonenkiller kehrte zu Caterina zurück, die mit übergeschlagenen Beinen auf einem Hocker saß und ein Glas mit irgendeiner rötlichen Flüssigkeit an die Lippen führte. Sie sah umwerfend aus. »Wohin gehen wir?«, fragte sie. »Hier ist es, ehrlich gesagt, ziemlich langweilig.« »Unternehmen wir ruhig einen Streifzug durchs nächtliche Rom. Aber ich kenne mich kaum aus.« »Dann mache ich Ihnen einen Vorschlag, Dorian.« Sie rutschte vom Hocker. »Mögen Sie nur ernste Musik, oder haben Sie auch was für Jazz übrig?« »Wenn es guter ist.« »Bestimmt. Also los! Ich zeige Ihnen das Caprice. Das ist ein Lokal, das Ihnen bestimmt gefallen wird.« Wenig später saßen sie an einem kleinen Tisch in dem Jazzkeller, der keine fünf Minuten Autofahrt von dem Hotel lag. Beleuchtet war hier nur das Podium, auf dem sich ein gewisser Romano Mussolini am Klavier produzierte. Begleitet wurde er von einer dreiköpfigen Combo. Die Musik war dezent und tatsächlich gut. »Schön«, sagte Dorian und blickte das Mädchen an. »Wo waren wir also vorhin stehen geblieben?« »Bei Antonia. Aber warum interessiert Sie das?« Er fixierte sie scharf. »Caterina, ich möchte unbedingt ehrlich zu Ihnen sein. Ich gehe nicht nur wegen der Musik in die Villa des
Maestros. Ich will vor allen Dingen das Rätsel um die verschwundenen Mädchen lösen. Zwei – das wissen bestimmt auch Sie – wurden in der Nähe der Villa tot aufgefunden. Und alle hatten irgendwie persönliche Beziehungen zu dem Maestro gehabt.« Caterina lachte. Es klang ein bisschen gekünstelt. »Beziehungen – die hat man mir auch nachgesagt, Dorian. Die eifersüchtige Laura Bertini wollte mir tüchtig am Zeug flicken. Nach dem Verschwinden des Maestros bekam ich sogar anonyme Briefe, in denen ich gemein beschimpft und des Ehebruchs mit ihm bezichtigt wurde. Ich will nicht unbedingt behaupten, dass die Briefe aus Lauras Hand stammten, aber … Sagen Sie mal, sind Sie ein Polizist oder so was Ähnliches?« »Nein. Ich kämpfe gegen Dämonen und die Mächte der Finsternis«, antwortete er schlicht. »Sagen Sie das noch mal!« »Sie haben richtig verstanden. Ich bin überzeugt, dass hier schwarze Magie mit im Spiel ist. Aber Sie brauchen sich deswegen nicht zu beunruhigen.« »Dorian, ich glaube, der Maestro Marco Bertini hat bestimmt nichts mit dem Tod und dem Verschwinden der Mädchen zu tun. Vielleicht ist alles nur auf dumme Zufälle zurückzuführen.« »Es ist meine Aufgabe, das herauszufinden.« »Ich bin sogar froh darüber. Denken Sie mal an die Sache damals mit Silvia Lualdi! Sie nahm sich das Leben, aber Marco, ich meine, der Maestro, konnte bestimmt nichts dafür.« Sie beugte sich vor, wurde richtig aufgeregt. »Und damit kommen wir zurück zu meiner Freundin Antonia Biasi. Antonia befand sich damals in der Villa, als die Lualdi sich umbrachte.« Der Dämonenkiller horchte auf. »Und was sah sie?« »Das ist es eben.« Caterina hob die Schultern. »Niemand kriegte es jemals aus ihr heraus. Sie drehte durch. Was sie in der Villa beobachtet hat, muss so furchtbar gewesen sein, dass sie den Verstand verlor. Erst vor kurzem wurde sie aus der Heil- und Pflegeanstalt entlassen, in die man sie einlieferte. Deshalb möchte ich sie auch nicht zur Soiree mitnehmen.«
»Verstehe. Sie könnte einen neuen Schock erleiden. Doch eines begreife ich nicht. Damals – vor einem Jahr – hätte es doch herauskommen und öffentlich aufgebauscht werden müssen, dass Antonia Augenzeugin war.« »Es wurde vertuscht, bevor die Polizei eintraf.« »Von den Bertinis?« »Ja.« »Und Sie, Caterina?« »Ich war mit der Familie Biasi einig, dass es Antonia nur schaden würde, wenn ihr Name in den Zeitungen erschien. Darum schwiegen wir alle. Sie sind der Erste, dem ich's erzähle. Sie sehen, ich habe Vertrauen zu Ihnen. Ich weiß auch nicht genau, woran das liegt. Sie haben so etwas – so etwas Besonderes an sich, Dorian.« Plötzlich legte sie eine Hand auf seinen einen Unterarm. »Kann ich nicht du zu Ihnen sagen? Ich komme mir so steif vor bei dem Sie.« Er lächelte. »Gern. Wir schließen Freundschaft, Caterina. Du kannst sicher sein, dass ich all das, was du mir erzählt hast, für mich behalte.« »Danke.« Kurz vor elf kehrte Dorian Hunter ins Hotel La Pace zurück. Caterina hatte ihn in ihrem weißen Alfa Duetto hergebracht und war dann nach Hause gefahren. Ein bisschen enttäuscht hatte sie schon ausgesehen, als er ihr gesagt hatte, dass er noch zu tun hätte. Der große, breitschultrige Mann mit dem sichelförmig herabhängenden Schnauzbart gefiel ihr; das war schon mehr als Freundschaft. Dorian tat es auch Leid, aber er musste dem Fall Bertini nun einmal den Vorrang geben. Der Nachtportier hinter dem Pult musterte ihn kühl. Sein Gesicht war grau und eingefallen; in den Augen schien kein Leben zu stecken. »Im Rauchsalon wartet ein – Herr auf Sie«, sagte er. Der Dämonenkiller ging hinüber und begriff, warum der Portier so konsterniert gewesen war. Es war wirklich kein Snob, der da lässig und mit breitem Grinsen auf einem der Sessel saß. Jeff Parker hatte einen zwielichtigen Typen geschickt. Wahrscheinlich war er
der Einzige, den er hatte auftreiben können. »Hunter?« Der Mann stand nicht auf, rekelte sich nur. Sein Mantel war fleckig, die Schuhe grau vor Schmutz. Listige rote Augen musterten den Dämonenkiller ungeniert. Das Gesicht war unrasiert, das Hemd des Burschen stand offen, und zu allem Überfluss hatte er auch noch einen verbeulten, speckigen Hut auf dem Kopf. Dorian verzog keine Miene. Man musste den Mann nehmen, wie er war. »Falls Sie sich in der Bertini-Villa auskennen«, sagte er, »können wir gleich aufbrechen. Mit wem habe ich denn das Vergnügen?« »Sergio Venturini«, erwiderte der Typ und streckte eine schwärzliche Hand aus. »Wir machen das nur gegen Vorkasse, lieber Freund. Parker sagte am Telefon, Sie würden sich nicht lumpen lassen. Wollen doch mal sehen, ob er geflunkert hat oder nicht.« Dorian gab ihm fünftausend Lire. »Das ist die Anzahlung. Wenn Sie einen ordentlichen Führer abgeben, gibt es anschließend noch einmal so viel.« »Hm. Das Doppelte wäre gerade richtig.« Dorian nahm ihm die fünftausend wieder ab. Damit hatte der Bursche wirklich nicht gerechnet. Er klappte den Mund auf und guckte verdutzt auf seine leere Hand. »Dann sind wir geschiedene Leute, Venturini.« »Moment!« Jetzt stand er doch auf. »Geben Sie den Zaster wieder her! Wir machen das.« Offenbar sprach er gern im Plural, wenn er sich meinte. »Wir haben früher mal elektrische Leitungen in der Villa verlegt. Kenne mich wirklich aus.« Dorian reichte ihm den Schein zurück. »Gibt es eine Alarmanlage? Hunde?« »Garantiert nicht. Ich schwör's.« »Gut. Wir brechen sofort auf und nehmen ein Taxi.« »Dann wollen wir mal«, sagte Sergio Venturini und steckte das Geld in die Tasche seines fleckigen Mantels.
Dorian hatte das Taxi weggeschickt, weil er nicht wusste, wie lange sie sich oben auf dem Grundstück aufhalten würden. Sie mussten eben einen Fußmarsch in Kauf nehmen. Über die Via Aurelia Antica kamen sie später relativ schnell zurück. Die Villa des Maestros Marco Bertini wirkte fast wie eine kleine Festung. Stolz erhob sie sich auf der Kuppe des flachen Hügels. Dorian konnte die hohe Parkmauer sehen und ein paar Bäume. Besonders die riesigen Zypressen beeindruckten ihn. »Kein Licht«, sagte er. »Sagen Sie, wohnt denn dort oben keiner, oder geht alles schon um elf Uhr zu Bett? Es muss doch außer der Signora Laura Bertini auch Hauspersonal geben.« »Also, das müssen Sie mich nicht fragen«, gab Venturini zurück. »Darüber weiß ich nun wirklich nicht Bescheid. Parker sagte aber auch am Telefon …« »Schon gut.« Dorian bot ihm eine Players an. Der Bursche hätte am liebsten gleich die ganze Packung genommen. Sie gingen die Privatstraße hinauf. Die Nacht war sternenklar, doch es gab etwas, das die harmonische Stimmung trübte: die Villa mit ihrem Park. Eine fast körperlich spürbare Aura des Bösen umgab sie. Dorian war auf der Hut. Er täuschte sich selten in seinen Gefühlen. Der Dämonenkiller bediente den Klingelknopf unter dem Namensschild nicht. Er wollte ja ungesehen eindringen, um für den folgenden Abend vorbereitet zu sein. Wie hätte er Laura Bertini oder dem Maestro jemals klarmachen können, warum er hier war? »Es gibt eine Seitenpforte«, sagte Venturini leise. »Los, kommen Sie! Die benutzen wir. Ist sicherer.« Sie schlichen an der Parkmauer entlang. Dorian verfolgte, wie ein paar kleine Fledermäuse durch die Luft flatterten. Sie flüchteten vor den Männern, verschwanden irgendwo in der Dunkelheit. Die Seitenpforte war rostig. Venturini bewegte sich sehr vorsichtig. Er schaffte es, sie ohne Knarren zu öffnen. Der Dämonenkiller konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Bursche gleichsam professionell vorging.
Sie drangen in den Park ein. Laub raschelte. Ihre Schuhe knirschten leise auf dem grauen Kies der Wege. Venturini wusste einen Schleichpfad, der quer über den Rasen und zwischen immergrünen Büschen hindurchführte. Dorian schaute sich um. Die Zypressen und übrigen Bäume gehörten zu jenen Mittelmeerpflanzen, die ihr Laub nie ganz abwarfen. Mächtige Pinien mit umrankten Stämmen bewegten sich kaum merklich im Wind. Wacholderbüsche wirkten beinahe wie Gestalten. Der Park war total verwahrlost. Beschäftigte die Signora Bertini keinen Gärtner? Dorians Verdacht verdichtete sich zur Gewissheit. Hier stimmte etwas nicht. Venturini blieb stehen und raunte ihm zu: »Nicht sehr gemütlich hier, was? Na, machen Sie sich nichts draus. Drinnen sieht es noch toller aus. Hohe, dunkle Zimmer. Manche ganz in Schwarz. Komische Schädel als Kerzenständer und so. Haben wir das schon erzählt?« »Nein. Hört sich ja wie die Beschreibung eines Gruselkabinetts an.« Venturini kicherte. »Ich glaube, die Bertini interessiert sich für Geister und so was. Okkultistisch angehaucht, sagt man wohl, oder?« »Ja. Weiter jetzt!« Sie pirschten fast bis ganz an die Villa heran und erreichten den Zierteich. Im Mondlicht erkannte Dorian die dicke, grüne Schicht aus Algen und Froschlaich, die auf der Wasseroberfläche schwamm. Ein dünner Strahl Flüssigkeit plätscherte aus dem Fischmaul. Düster erhob sich vor ihnen die Fassade der Villa. Hohe Fenster, hinter Säulen und Vordächern versteckt. Hoch oben befand sich ein Balkon. »Ich gehe hinein«, sagte Dorian mit verhaltener Stimme. »Und wenn Sie einer sieht?« »Lassen Sie das meine Sorge sein. Sie halten auf der Terrasse Wache!« Sergio Venturini grinste schwach. »Machen wir. Bei Gefahr pfeife ich wie eine Drossel. Hört sich zum Verwechseln ähnlich an.« »Meinetwegen.«
Der Dämonenkiller lief zur Terrasse und von dort aus zu der Seitentür, die er ausgemacht hatte. Sie stand offen. Vorsichtig trat er ein. Was immer in der Villa auf ihn wartete, er musste es ergründen. Venturini stand auf der Terrasse. Er hatte sich bis an die Hauswand zurückgezogen. Die Finsternis nahm seine Gestalt auf, verschluckte sie. Minutenlang war nichts zu vernehmen als das leise Plätschern der Fontäne. Venturini schob den speckigen Hut in den Nacken. Zehntausend Lire, dachte er; leicht verdientes Geld. Wäre gut, jetzt noch eine Zigarette zu haben. Das Wasser plätscherte plötzlich nicht mehr. Venturini spitzte die Ohren. Was war geschehen? Wenn das Wasser nicht mehr lief, hatte es aller Wahrscheinlichkeit nach jemand abgedreht. Er beugte sich vor und hielt Ausschau, konnte aber nichts erkennen. Katzengleich schlich er an der Mauer entlang, lugte um die Ecke und hatte den Zierteich im Blickfeld. Der dicke Fisch aus Travertin lastete in den Armen des Knaben; kein Tropfen Wasser kam mehr aus seinem Maul. Venturini zog die Brauen zusammen. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte er. Er hatte einen sechsten Sinn für solche Dinge. Bewegte sich die Algenschicht? Er schaute angestrengt hinüber. Bald war er überzeugt, sich getäuscht zu haben. Es war still, und nichts rührte sich. Noch wartete er, den Dämonenkiller durch den Vogelruf zu warnen. Da! Venturini bemerkte die Umrisse einer Gestalt zwischen den Büschen. Sofort zog er den Oberkörper etwas zurück, spähte nur noch sehr behutsam um die Ecke. Drüben raschelte es, und das, was er beobachtet hatte, verschwand. Verdammt!, dachte er. Die Sache behagte ihm nicht mehr. Wer lauerte da im Gebüsch? Und wo steckte er jetzt? Er verließ die Terrasse, bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Hinter einem großen Rhododendron verharrte er. Erneut hielt er Ausschau, aber die Gestalt kam nicht wieder. Er hatte nicht einmal gesehen, ob es sich um einen Menschen oder ein Tier handelte.
Vielleicht ein Wachhund, dachte er. Aber ein Hund hätte die Fremden gewittert und zumindest geknurrt. Was hatte er dann gesehen? Ihm war plötzlich kalt. Fröstelnd schlug er den Mantelkragen hoch. Er hoffte, Dorian Hunter würde bald zurückkehren. Dann hörte er das Geräusch hinter sich. Was es war, konnte er kaum definieren. Ein Knurren, ein Gurgeln, ein kehliges Schmatzen? Er schauderte, fuhr herum. Gleichzeitig holte er das Klappmesser aus der Manteltasche, das er immer bei sich trug. »Himmel und Hölle«, flüsterte er. Es stand keine zwei Meter von ihm entfernt und hatte die Arme ausgebreitet. Es! Denn es war kein Mensch, sondern ein Ungeheuer in menschenähnlicher Gestalt. Der Schädel ragte bleich und hager aus dem Kragen des Gewandes. Ein Totenschädel war es, denn auf den Knochen hafteten nur noch Haut- und Fleischfetzen. Die Zähne standen übergroß hervor; fast schien es, als grinse das Monster ihn an. Die Schauergestalt triefte vor Nässe und stank nach Verwesung. Als sie sich jetzt näherte, spürte Venturini die Kälte, die von ihr ausging. Dürre Hände griffen nach ihm. Der Unterkiefer des Scheusals klappte herunter und wieder hoch, dass es knackte. Das Schlimmste aber waren die Augen des Ungeheuers. Kugelrund lagen sie vor den Höhlen. Sie mussten jeden Augenblick aus diesem grässlichen Antlitz fallen. Böse glotzten sie Venturini an. »Stehen bleiben!« Venturini hatte es schreien wollen, aber es kam nur leise und krächzend über seine Lippen. Er hob die Hand mit dem Messer. Sie zitterte. Das Wesen rückte näher. Noch höher hob es die Arme, und da sah Venturini, wie sein schwarzes Gewand aufklaffte. Zum Vorschein kam ein scheußliches Gerippe, an dem nur noch stinkende Fleischfetzen klebten. Venturini gurgelte, stolperte rückwärts. Todesangst stieg in ihm auf. Er war kaum noch einer vernünftigen Handlung fähig. Weg, dachte er. Fliehen, das ist das einzige …
Er drehte sich um und begann zu rennen. Da stürmte es hinter ihm drein und packte ihn. Venturini wehrte sich voll Grauen, aber es nutzte ihm nichts. Das Scheusal hatte ihn unglaublich hart im Griff. Venturini wand sich mit Mühe aus dem tödlichen Würgegriff, duckte sich und stach mit dem Messer zu. Er hatte Knochen getroffen. Ungläubig schaute er auf sein Messer. Die Klinge war glatt abgebrochen. Aus der Kehle des Ungeheuers kam ein entsetzlicher Laut. Sergio Venturini wollte um Hilfe brüllen, den Dämonenkiller herbeiholen, doch er bekam kein Wort mehr heraus. Die Krallenfinger des Schrecklichen legten sich wie Stahlklammern um seinen Hals.
Dorian Hunter hatte den Salon erreicht. Schwarze Kerzen steckten in Leuchtern, wie sie Venturini beschrieben hatte. Es waren eigenartige kleine Totenköpfe, wahrscheinlich von Affen. Die Kerzen brannten. Sie verbreiteten bläuliches Licht, und obwohl die Fenster nicht verhangen waren, hatte man den Schein von außen nicht sehen können. Für den Dämonenkiller war dies ein Beweis für das Vorhandensein der Mächte der Finsternis. Wo war Laura Bertini? Wo steckte der Maestro, der doch eigentlich schon hier sein sollte? Die Villa machte einen unbewohnten Eindruck. Überall roch es modrig, die Luft war stickig, auf den Möbeln lag Staub. Aber nichts war zerbrochen, zerrissen, umgestürzt. Jedes Stück stand an seinem Platz. Dorian schenkte den Gemälden besondere Aufmerksamkeit. Bevor er in das Musikzimmer ging, machte er vor dem großen, mit einem schwarzen Tuch verdeckten Bild halt. Er schlug den Stoff zurück. Dahinter verbarg sich kein Gemälde, sondern ein riesiger Spiegel. Er ließ das Tuch wieder darüber gleiten. Nachdenklich betrat er das Musikzimmer. Auch hier entdeckte er einen kleineren, schwarz überstrichenen Spiegel, danach einen weiteren, der ebenfalls mit Stoff verhangen war. Mitten im Raum stand ein Stuhl. Darauf ruhte die Violine. Der Bogen lag daneben.
Dorian ging hin, beugte sich darüber und strich mit einem Finger sanft über die Saiten. Der Klang war harmonisch. Die Geige musste also erst vor kurzem benutzt worden sein, denn die Katzendarmsaiten verzogen sich binnen Stunden wieder. Dorian nahm das Instrument auf, blickte durch das Schallloch und las Amati. Er hielt die Violine mit einer Hand fest und strich mit einem Finger erneut über die Saiten, diesmal kräftiger. Der Klang schwebte durch den Raum – und die gesamte Villa. Der Dämonenkiller lauschte. Dann hörte er ein Geräusch. Er legte das Instrument auf seinen Platz zurück und ging dem Geräusch nach. Als er die Vorhalle betrat, vernahm er es wieder – einen schluchzenden Laut. Nur wenige Sekunden vergingen, dann wiederholte sich der Laut. Die Geräusche häuften sich, gingen bald in Wimmern und Greinen über. Dorian folgte den unheimlichen Lauten. Er geriet an eine Tür. Vorsichtig zog er sie auf. Vor ihm lag ein stockfinsterer Gang. Er wäre fast gestürzt, denn Treppenstufen führten in die Tiefe hinab. Er schlich in den Keller der Villa. Das schaurige Klagen und Wimmern rückte näher. Dorian fuhr mit der Hand unters Hemd und legte sie auf die gnostische Gemme, die ihm als Talisman diente. Eine eigenartige Kraft ging von dem Edelstein aus. Die Stufen endeten, der Gang führte weiter. Das Greinen wurde leiser. Der Dämonenkiller hörte das Tropfen von Wasser. Er spürte die Feuchtigkeit und roch den Moder und Schimmel. Die gruseligen Laute verstummten ganz. Dorian sah ein grünes Licht schimmern und strebte darauf zu. Überraschend endete der Gang plötzlich. Dorian Hunter schaute in einen tiefen Raum mit flacher Decke und Wänden aus groben Bruchsteinquadern. Im Licht, dessen Herkunft nicht zu ergründen war, glänzten die Steine. Die Gegenstände, die sich in diesem Kellerraum befanden, waren zum größten Teil mit Schimmel bedeckt. Am Ende des Raumes – dort, wo das grüne Licht am stärksten war – erhob sich ein mächtiger Felsblock. Darin steckte ein Schwert. Es ragte nur halb heraus. Normalerweise war es überhaupt nicht möglich, eine solche Waffe in
einen Stein zu rammen; aber hier ließ sich nichts mit normalen Maßstäben messen. Die Wand hinter dem Schwertblock war mit einem wüsten Gemälde bedeckt. Teufelsgestalten und widerliche kleine Dämonen balgten sich in abstoßender Weise. Die Farben waren düster, und doch leuchteten sie geheimnisvoll. Dorian gewahrte eine Streckbank, einen Hauklotz mit einem Beil, Daumenschrauben und andere Folterinstrumente. Langsam näherte er sich dem Schwertklotz. Das Wimmern war wieder hörbar. Es schien aus dem teuflischen Gemälde zu kommen, im nächsten Augenblick von der Decke, dann wieder aus irgendeiner hinter ihm liegenden Ecke. Dorian packte den Griff des Schwertes. In diesem Moment schlug das leise Weinen in Fauchen um. Etwas polterte. Dorian fuhr herum. Hinter ihm war nichts. Er unternahm einen neuen Versuch. Mit aller Kraft zerrte er an dem gewaltigen Schwert. Der Form des Griffes und des Heftes nach schien es ihm ein mittelalterliches Richtschwert zu sein. Er zog und rüttelte daran, aber so sehr er sich auch anstrengte, er brachte es nicht aus dem Block. Die Decke begann sich zu bewegen. Gleichzeitig fauchte etwas über ihm, knurrte und knackte. Der Dämonenkiller ließ los. Er holte die gnostische Gemme hervor und presste sie auf den Schwertgriff. Da hörten die grausigen Geräusche wieder auf. Dorian wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das Schwert fesselte ihn, aber er wusste nicht, welche Bedeutung es hatte und wie er es herausbekommen konnte. Er beschloss, sich zunächst in den anderen Teilen des unterirdischen Gewölbes umzuschauen. Vielleicht gab es weitere Anzeichen für das Vorhandensein schwarzer Magie. Er war dem Ausgang des unheimlichen Raumes nahe, als Schritte nahten. Stimmen murmelten Unverständliches. Mehrere Menschen oder andere Wesen näherten sich. Dorian handelte geistesgegenwärtig. Aus dem Raum heraus konnte er nicht, denn die Personen kamen unzweifelhaft über den Gang,
den er soeben benutzt hatte, und hätten ihn sofort entdeckt. Bevor er sich zeigte, wollte er herauskriegen, mit wem er es zu tun hatte. Rasch zog er den vorderen Teil der eisernen Jungfrau auf. Es knarrte nicht: Die Angeln mussten gut geölt sein. Er kauerte sich hinein und zog den Schlag so weit wie möglich wieder zu. Die eisernen Dornen drangen durch den Stoff seiner Kleidung. Sie waren höllisch spitz. Dorian befand sich in keiner beneidenswerten Lage. Irgendetwas rutschte aus einer Jackentasche, aber er kümmerte sich nicht darum, denn jetzt waren die Stimmen und Schritte im Raum. Er hockte unbeweglich da. Durch einen schmalen Spalt konnte er beobachten, wer in den Gewölberaum kam. Frauen. Fünf, sechs, sieben – immer mehr schwarz verhüllte Frauen traten in die Satanskapelle. Dorian zählte dreizehn: eine ganze Prozession. Nacheinander gingen sie auf den Schwertblock zu, verneigten sich und drückten die Lippen gegen das matt blinkende Metall der Waffe. Dorian konnte einige Gesichter sehen. Bleiche Gesichter. Es waren keine jungen Frauen mehr. Die Jüngste mochte Mitte bis Ende Vierzig sein. Wenn eine von ihnen auf die Idee kam, die Tür der eisernen Jungfrau zuzudrücken, war es aus mit dem Dämonenkiller. Sie versammelten sich um den Block, in dem die altertümliche Waffe steckte. Ihre Mienen waren verschlossen. Niemand sprach. Eine, deren Formen sich besonders deutlich unter dem schwarzen Umhang abhoben, ging zu der teuflischen Malerei und strich mit den Händen darüber. Immer hastiger wurden ihre Gesten. Sie schien sich innerlich in etwas hineinzusteigern. Von dem Gemälde musste eine eigentümliche Kraft ausgehen. Dorian wagte kaum zu atmen. Die Frau vor der bemalten Wand fuhr plötzlich herum und breitete die Arme aus. Sie hatte ein weißes, um die Augen und den Mund stark geschminktes Gesicht. Vielleicht sah sie im Grunde nicht schlecht aus, aber die Augen wirkten jetzt wie schwarze Höhlen, und auch der Mund war dunkel angemalt. »Hört«, sagte sie mit matter Stimme, »hört den Maestro!« Die Klänge wehten unvermittelt durch den kalten, feuchten Raum – einschmeichelndes, leises Violinspiel. Dorian wusste, dass es eine
Paganini-Komposition war, wusste, dass nur einer so interpretieren konnte: Marco Bertini. Dann stimmten die dreizehn Frauen einen eigentümlichen Singsang an, mit an- und abschwellenden Modulationen. Der Dämonenkiller konnte kaum etwas verstehen, aber seiner Meinung nach riefen sie kein ihm bekanntes Wesen der Finsternis an. »Ambbarrrarrracciccicocooooo, treccivetttesulcommoperrrandarrr!« Etwa so klangen die Laute, die sie formulierten. Dorian glaubte, bestimmte Ausdrücke eines italienischen Dialektes herauszuhören. Dann verstand er einen Namen, den sie summten: »Caterina – Caterina Schifano.« Die Frau mit dem stark geschminkten Gesicht trat vor und packte den Griff des Schwertes. Die Violine spielte lauter, schneller, vehementer. »Caterina!«, rief sie. »Du bist die Nächste, die Einlass in diese Hallen finden wird. Du bist die Nächste!« Jäh steigerte sich der Singsang. Auch die Geigenmusik, die von oben zu kommen schien, schraubte sich in die höchsten Lagen hinauf. Dann explodierte alles in einem einzigen, schrillen Ton. Die Geschminkte riss an dem Schwert und zog es aus dem Steinquader. »Caterina, bald bist du unser!« Sie holte mit dem gewaltigen Schwert aus und schlug die Schneide in den Felsblock. Funken sprühten hoch. Plötzlich gellte ein grässlicher Schrei durch den Keller. Die dreizehn Weiber rissen die Arme in die Höhe und spreizten die Finger. Dorians linkes Bein schmerzte. Er versuchte, das Körpergewicht auf das andere zu verlagern. Da geschah es. Die Tür der eisernen Jungfrau schwang auf. Dorian verlor die Balance und stolperte in den Raum hinein. Die Weiber fuhren herum. Die Geschminkte stieß einen gellenden Ruf aus, schrie irgendetwas, das er nicht verstand. Dorian blieb nur die Flucht. Er drehte sich um, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnten, und rannte zum Ausgang, wandte sich dann nach links und hetzte den düsteren Gang entlang, der ihn zu
den Treppenstufen brachte. Sie kreischten und fluchten. Wie Furien stürmten sie hinter ihm her. Einige hatten kleinere Gegenstände gepackt und schleuderten sie ihm nach. Keiner traf. Dorian blickte über die Schulter zurück. Die Geschminkte schwang das Richtschwert über dem Kopf, aber sie mochte es nicht nach ihm werfen; wahrscheinlich aus Furcht, ihre Begleiterinnen zu verletzen. Der Dämonenkiller hastete die Steinstufen hinauf. Er gelangte an die Tür, stürmte ins Erdgeschoss und warf die Tür hinter sich zu. Der Schlüssel steckte. Er drehte ihn herum. Dann holte er das hölzerne Kruzifix aus der Jacke, presste es schnell gegen das Holz der Tür und murmelte Beschwörungsformeln. Vernichten konnte er die Hexenweiber damit nicht, aber wenigstens zurückhalten. Er vernahm ihr Heulen und Zetern. Einige bumsten mit den Fäusten gegen die Tür, aber zu einem richtigen Ausbruchsversuch kam es nicht. Dann hörte Dorian ein schmatzendes Geräusch hinter sich. Er begriff, riss das Kruzifix an sich und warf sich auf die Seite. Keinen Augenblick zu früh. Eine scheußliche Gestalt sprang heran. Die krallenbewehrten Hände stießen ins Leere. Mit enttäuschtem Grunzen drehte sich das Monster zu dem Dämonenkiller um. Dorian stand auf. Er hatte einen Untoten vor sich. Einen abscheulichen nasskalten Kerl mit schnappenden Zähnen und Augen, die aus den Höhlen hervorgetreten waren. Das Scheusal wankte auf ihn zu und hob die Krallenfinger. Dorian hob das Kruzifix. Der Untote heulte schaurig. Böse schlug er nach dem Dämonenkiller, wagte sich aber angesichts des Kreuzes nicht richtig heran. Als er einen Ausfall unternahm, drückte Dorian ihm das Kreuz auf den einen Unterarm. Es zischte und stank. Der Untote sprang brüllend zurück. Die Hexen hinter der verriegelten Tür hörten sein Wehklagen und begannen von neuem zu kreischen. Dorian näherte sich dem Scheusal, um ihm endgültig den Garaus zu machen. Das Kruzifix war reinstes Gift für ihn. Noch eine Berüh-
rung, und er würde zu Staub zerfallen. Der Untote stöhnte und wich bis an die Tür zurück. Dorian konnte es nicht mehr verhindern. Das Scheusal riss die Tür auf und ließ die dreizehn Weiber heraus. Dorian Hunter warf den Untoten zu Boden. Sein Geheul war entsetzlich, aber Dorian kannte kein Erbarmen. Er hielt das Kruzifix hoch und wollte es auf den grässlichen Schädel niedersausen lassen. Da flog die Tür gegen die Wand, und die Hexen stürmten heraus. Zischend, kreischend und fluchend trampelten sie über den Dämonenkiller hinweg. Er wurde von dem stinkenden Leib des Untoten fortgeschoben, rollte über den Boden. Es hatte keinen Zweck – er musste fort. Keuchend rappelte er sich auf und steuerte auf die Haupttür der Villa zu. Die unheimlichen Weiber hatten sein Gesicht immer noch nicht gesehen. Dorian war darauf bedacht, es ihnen nicht zu zeigen, denn er wollte wieder in dieses Teufelshaus zurückkehren und wusste nicht, wen er dann antraf. Er prallte fast gegen die Tür. Heftig drückte er die Klinke nach unten. Hinter ihm tobten die Weiber heran, gefolgt von dem Untoten. Wie durch ein Wunder war dieser seinem Schicksal entkommen. Desto größer war jetzt sein Hass. Er brüllte, fauchte und gebärdete sich wie wild. Die Tür bewegte sich nicht. Kein Schlüssel steckte. Dorian saß in der Falle. Er ließ die Klinke los und rannte zur Seite. Wieder konnten die dreizehn schwarzen Frauen nicht mehr von ihm sehen, als eine geduckte flüchtende Gestalt. Dorian wandte sich einer Treppe zu, die er vorher gesehen hatte. Er nahm drei, vier Stufen auf einmal. Unten zischten und spuckten die Verfolger. Er hatte zwar das Kruzifix, aber gegen so viele Dämonen konnte er es kaum wirksam einsetzen. Wenn sie ihn erwischten, brachten sie ihn um. Sie waren zu stark. Dorian lief an einer kunstvoll gearbeiteten Balustrade vorüber. Wahllos stieß er eine Tür auf, geriet aber nicht in ein Zimmer, sondern wieder in einen Gang. Der Gang war lang, schien endlos zu
sein. Verdrossen eilte Dorian weiter. In seinem Rücken hörte er das erboste Geschrei der Feinde. Es wurde immer lauter. Sein Atem ging schnell. Er lief ins Unbekannte. Hörte dieser Gang denn nie auf? Nirgendwo ein Licht. War er verloren? Dann tönte das Violinspiel durch diesen engen, vertrackten Gang. Dorian hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Die grellen Tonfolgen, das Kreischen der Hexen und das Grölen des Untoten wurden zu einem infernalischen Konzert. Der Dämonenkiller rannte und rannte. Völlige Dunkelheit umfing ihn. Wenn er irgendwo mit dem Fuß hinterhakte, war es um ihn geschehen; dann kam er nicht mehr rechtzeitig auf die Beine, um den schrecklichen Verfolgern zu entgehen. Täuschte er sich? Nein. Der Gang wurde wirklich enger. Plötzlich war ihm zumute, als liefe er auf der Stelle. Die Wände schrumpften, die Decke zog sich nach unten, zwang ihn, sich zu bücken. Immer mehr rückten die kalten Steinwände auf ihn zu. Dorian Hunter litt sonst nicht unter Klaustrophobie, doch jetzt packte ihn das hässliche Gefühl, eingezwängt und erstickt zu werden. Er schwitzte, wollte sich wehren, konnte es aber nicht. Keuchend hob er das Kruzifix. Es war seine letzte Chance. Er stieß Beschwörungsformeln hervor, verhaspelte sich, begann von neuem. Jäh verstummte das nervenaufreibende Geigenspiel. Die Wände schienen seitlich fortzufliegen. Licht schimmerte irgendwo in der Ferne. Dorian lief schneller, und plötzlich kam es ihm so vor, als besitze er Schwingen und fliege. Die Weiber und der Untote waren hinter ihm, blieben zurück. Dorian hetzte mit erhobenem Kruzifix weiter. Er wusste nicht, wo er landen würde, hatte jegliche Orientierung verloren. War er noch in der Villa? Seine Füße stießen auf Widerstand. Er fiel, rollte sich jedoch ab. Als er wieder auf den Beinen stand, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass er sich im Freien befand. Er beugte sich über die marmorne Brüstung des Balkons an der Frontseite der Bertini-Villa. Dorian zögerte keinen Augenblick. Er schwang ein Bein über die
Brüstung. Ungefähr drei Meter ging es nach unten. Ganz ungefährlich war sein Vorhaben nicht. Traf er auf die Freitreppe vor dem Eingang, brach er sich die Knochen. Aber er musste es wagen. Die Satansweiber und der Untote tobten heran. Dorian stieß sich ab. Es dauerte nur eine Sekunde, dann berührten seine Füße den Boden. Dorian rollte über den Rücken und schaute zurück nach oben. Die Weiber lehnten über der Brüstung, schüttelten die Fäuste, stießen obszöne Worte hervor. Dorian wandte sich ab. Er war sicher, dass sie sein Gesicht nicht erkannt hatten, und sie wagten den Sprung nicht. Aber schon war der Untote an der Eingangstür und rüttelte daran. Dorian vernahm seine grunzenden Laute. Der Dämonenkiller lief davon. Er dachte noch daran, Sergio Venturini irgendwo zu treffen, sagte sich aber dann, dass der Mann wahrscheinlich den Lärm gehört und den Rückzug angetreten hatte. Dorian kam am Zierteich vorüber. Er sah den Hut auf dem schwarzen Wasser schwimmen. Für einen Augenblick stockte ihm der Atem. Jenes verbeulte, speckige Ding konnte nur seinem Führer gehören. Was war mit Venturini geschehen? Es blieb keine Zeit, nach ihm zu forschen. Polternd flog die Eingangstür auf. Der Untote, immer noch aufgebracht und gierig, nahte. Dorian musste sich schleunigst absetzen. Er rannte durch den Park. Einige Bäume erkannte er wieder. Er entdeckte die Seitenpforte, schlüpfte ins Freie, hetzte an der Mauer entlang und gelangte auf die asphaltierte Privatstraße. Niemand folgte ihm mehr. Aus dem Park wagten sich die Gräuelgestalten nicht heraus. Dorian hatte zwar nicht den Eindruck, dass die dreizehn Frauen schwarzblütige Hexen waren, aber es musste einen anderen Grund geben, warum sie das Terrain der Villa nicht verließen. Er beschloss, herauszufinden, was all die Vorgänge in der Villa zu bedeuten hatten. Vorerst hatte er jedoch genug. Er ging die Via Aurelia Antica hinab.
Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her. Als er erwachte, war sein ganzer Körper in Schweiß gebadet. Dorian hatte fürchterliche Albträume gehabt. Er dachte, es sei sechs oder sieben Uhr, dabei standen die Zeiger des eleganten kleinen Weckers auf Viertel nach zehn. Schimpfend stand er auf und ging ins Bad hinüber. Er hatte viel eher auf den Beinen sein und wegen Venturini mit Jeff Parker Kontakt aufnehmen wollen. Rasch kleidete er sich an, nahm die Jacke vom Bügel und suchte in der Tasche nach seinen Zigaretten. Aber die Packung Player's, die er in der Nacht bei sich getragen hatte, war weg. Da erinnerte er sich. Als er sich in der eisernen Jungfrau versteckt hatte, war ihm etwas aus der Tasche gerutscht; das mussten die Zigaretten gewesen sein. Demnach lagen sie also jetzt noch in dem mittelalterlichen Folterinstrument? Unwichtig, dachte er, klappte den Diplomatenkoffer auf und nahm eine frische Packung heraus. Im Frühstücksraum des Hotels La Pace wurde um diese Zeit kein Kaffee mehr serviert. Deshalb überquerte der Dämonenkiller die Straße und betrat eine der Bars. Er bestellte einen Cappuccino und rührte gedankenverloren mit dem Löffel in der Tasse herum. Ein Zeitungsjunge kam herein und pries seine Gazetten mit viel zu lauter Stimme an. Dorian kaufte den »Messaggero«. Er setzte sich an einen Tisch, blätterte ein bisschen darin herum und – erstarrte. Die Notiz erschien nur einspaltig und war nicht besonders lang. Ein Foto war dabei. Dorian erkannte das Gesicht sofort wieder. Wahrscheinlich hatte man Sergio Venturinis Ausweisbild abgelichtet. Zwei Männer aus den Elendsvierteln Roms, sogenannte Baraccati, hatten die Leiche Venturinis zwischen ein und zwei Uhr entdeckt. Deshalb hatte die Meldung auch in der Morgenzeitung erscheinen können. Dorian las zwischen den Zeilen und begriff, dass Venturini grässlich zugerichtet worden sein musste: In seinem Schädel hatte ein riesiges Loch geklafft, und der ganze Leib war vertrocknet – wie mumifiziert gewesen. Der Dämonenkiller erinnerte sich sofort an das, was Trevor Sulli-
van ihm berichtet hatte. Die beiden in der Nähe der Bertini-Villa gefundenen Mädchenleichen hatten ähnlich ausgeschaut. Dorian kehrte ins Hotel zurück. Von einer Kabine aus rief er Jeff Parker an. Es dauerte eine Weile, bis die Vermittlung ihn in einem der Studios von Cinecitta aufgetrieben hatte. Am Apparat klang seine Stimme hastig, keuchend. »Hast du die Morgenzeitungen gelesen?«, fragte Dorian. »Noch nicht. Warum?« Dorian sagte es ihm. Der Freund war einen Augenblick lang sprachlos, dann stieß er hervor: »Mein Gott! Er war bloß ein kleiner Ganove, aber das hatte er nicht verdient.« »Es ist meine Schuld, dass es Venturini erwischt hat.« »Unsinn! Du wusstest ja nicht, was geschehen würde. Was ist überhaupt passiert?« »Nicht am Telefon«, entgegnete Dorian. »Wenn du Zeit hast, kommst du am besten vorbei.« Parker ließ einen grimmigen Laut hören. »Die nehme ich mir. Ich bin gleich bei dir.« Zu Mittag aßen sie gemeinsam in dem Restaurant, das zum Hotel La Pace gehörte. Parker lauschte Dorians Schilderung, ohne zu unterbrechen. Schließlich legte er das Besteck weg, weil er es einfach nicht fertig brachte, weiterzuspeisen. »Findest du nicht, dass es an der Zeit ist, die Polizei einzuschalten? Allein schon wegen Venturinis Tod, Dorian.« »Grundsätzlich – ja. Aber wir müssen damit bis morgen warten. Wenn jetzt Kripobeamte in der Villa erscheinen, findet die Soiree garantiert nicht statt. Und dann können wir praktisch einpacken. Dann kriege ich den Maestro nie zu Gesicht. Vielleicht wird alles vertuscht, was ich an Magischem in der Villa entdeckt habe. Eine Lösung des Falles würde es nicht geben. Vergiss nicht, dass die nüchternen Methoden der Polizei hier nichts ausrichten können!« Parker lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir ist der Appetit gründlich vergangen. Rian, erzähle mir mehr über die Frau, die dir unter den dreizehn am meisten aufgefallen ist! Beschreibe sie bitte noch einmal!«
Dorian tat es. »Vielleicht ist es Laura Bertini«, erwiderte Parker. »Ich bin aber nicht sicher, da ich sie selbst nie zu Gesicht gekriegt habe. Was wirst du jetzt tun?« »Zur Soiree gehen – natürlich.« »Hast du einen Smoking? Den brauchst du bestimmt.« Der Dämonenkiller lächelte ein wenig. »Ich habe zwar nichts dafür übrig, sehe aber ein, dass es nicht anders geht. Wo kann ich so ein Gewand am besten bekommen?« »Bei mir. Ich leihe dir meinen. Der passt dir garantiert. Wir haben ja die gleiche Statur.« Kurze Zeit darauf fuhren sie in Parkers Mercedes durch die Innenstadt. Er hatte ein Apartment jenseits des Corso d'Italia gemietet; eine sündhaft teure Zimmerflucht mit einer Einrichtung, bei deren Anblick Miss Pickford vor Begeisterung Jauchzer ausgestoßen hätte. Sämtliche Räume waren mit flauschigem, weißem Material ausgelegt. Das Wohnzimmer bestand aus einer mächtigen Wohnlandschaft, die Schränke, Lampen und Bilder gehörten ebenfalls zur Spitzenklasse. Sie nahmen einen Drink, dann probierte Dorian den Smoking an. Er saß tadellos. »Na also!«, meinte Jeff Parker. »Das Problem wäre also gelöst. Hör zu! Ich schreibe dir ein paar Telefonnummern auf, unter denen du mich jederzeit erreichen kannst.« »Hat Caterina wieder von sich hören lassen?« »Nein. Du hast Angst?« »Ich weiß nicht, wann die Hexen ihre Beschwörung in die Tat umsetzen wollen. Sie haben Caterinas Namen genannt.« »Warte! Sie wohnt nicht allzu weit entfernt.« Parker blätterte in seinem Adressbuch und nannte ihm die Anschrift. »Ich fahre hin.« »Im Smoking?« »Im Smoking.« »Willst du meinen Wagen haben?«
»Danke, nicht nötig.« »Ich kann dich leider nicht begleiten, Rian. Du weißt ja, ich jage dauernd hinter irgendwelchen Terminen her.« Der Dämonenkiller legte ihm eine Hand auf eine Schulter. »Du brauchst dich nicht zu rechtfertigen. Du hast so und so schon eine Menge für mich getan. Ich danke dir.« Kurz darauf saß er im Fond eines Taxis und ließ sich zu der Adresse bringen. Das Auto stoppte vor einem Altbau, dessen Fassade mit kräftigen Brauntönen aufgefrischt worden war. Dorian ließ den Fahrer warten. Er ging über den Bürgersteig, suchte das Namensschild Caterinas und drückte den entsprechenden Knopf. Niemand öffnete. Per Zufall entdeckte er hinter einem geöffneten Fenster im Erdgeschoss den Kopf eines Mannes. Bevor der Mann verschwinden konnte, trat er ihm gegenüber. Es war ein glatzköpfiger Mensch mit eingefallenem Gesicht. Seine argwöhnisch dreinblickenden Augen hatten tiefe Ränder. Es fiel schwer, sein Alter zu bestimmen; es musste irgendwo zwischen Vierzig und Sechzig liegen. »Ich suche Signorina Schifano«, versetzte Dorian. »Wissen Sie, ob sie sich in ihrer Wohnung befindet?« »Ich bin der Hausmeister«, antwortete der Mann. Er hatte eine raue, unangenehme Stimme. »Wenn mich nicht alles täuscht, hat sie eben das Haus verlassen: Sehen Sie mal auf dem Hof nach! Da steht ihr Wagen. Vielleicht will sie ausfahren. Natürlich weiß ich das nicht genau. Ich kümmere mich ja nicht um die Privatangelegenheiten der Leute.« Dorian umrundete das Gebäude. Er sah eben noch, wie der weiße Alfa Duetto über die Seitenstraße davonbrauste. Dorian wusste selbst nicht, was ihn dazu bewog. Er lief zum Taxi zurück, stieg ein und sagte dem Fahrer: »Biegen Sie ab, und folgen Sie dem weißen Wagen! Na los, beeilen Sie sich schon!« Er hatte ein ungutes Gefühl. Die Tatsache, dass Venturini auf grausige Weise umgebracht worden war, trieb ihn an. Er fühlte sich für Caterina verantwortlich. Der Taxichauffeur kurvte gekonnt um die Ecken und saß dem
hübschen Starlet bald auf den Fersen. Vor ihnen rollte der Duetto mitten durch den dicken Nachmittagsverkehr der Hauptstadt. »Himmel, fährt die Kleine einen Stil!« Der Fahrer wandte kurz den Kopf. »Wenn das so weitergeht, Signore, sehe ich schwarz für die schönen Kotflügel des Alfa.« »Machen Sie sich nichts daraus! Bleiben Sie am Ball!« »Das schon. Aber was ist, wenn das Taxi was abbekommt? Für Akrobatenkunststücke werden wir nicht bezahlt.« Dorian steckte ihm einen größeren Schein zu. Da beruhigte er sich. Die rasante Fahrt ging weiter. Auf der Piazza della Republica ließ Caterina ihren Wagen ausscheren. Erbostes Hupen folgte. Ein paar Fahrer drohten mit den Fäusten. Kurz vor dem Bahnhof Termini bog sie nach rechts ab und steuerte Santa Maria Maggiore zu, wählte dann aber Via Cavour und überquerte die breite Via Lanza. »Die fährt zum Kolosseum«, sagte der Fahrer. Da kam es schon in Sicht, dieses gewaltige Bauwerk mit den Hunderten von düsteren Arkaden. Caterina fädelte sich in den Kreisverkehr ein. Der Taxichauffeur fuhr nach. Das Mädchen lenkte auf einen kleinen Parkplatz und stieg aus. Dorian ließ den Taxichauffeur in einiger Entfernung halten. Er bezahlte den schwitzenden Fahrer und ging der Blondine nach. Caterina bewegte sich wie im Schlaf – langsam und mit herabhängenden Armen. Sie trug trotz des relativ warmen Nachmittags einen Fuchspelzmantel. Ihre Haare wippten bei jedem Schritt. Sie steuerte auf das Kolosseum zu. Dorian sah jetzt das Gerüst, das an manchen Teilen der gigantischen Mauern errichtet worden war; und er entsann sich einer Zeitungsnotiz, die er vor einiger Zeit gelesen hatte: Das Amphitheater war für den Besucherstrom gesperrt worden, weil wegen der Vibrationen durch den Fahrzeugverkehr Einsturzgefahr bestand. Man suchte nach einer Lösung, aber noch war nichts getan worden, um das Bauwerk vor dem Verfall zu bewahren. Der Dämonenkiller schritt schneller aus. Kein Aufpasser stand hinter der Absperrung. Caterina bückte sich einfach und ging wei-
ter. Sie betrat das Kolosseum, und niemand hinderte sie daran. Dorian lief. Er brachte die Absperrung ebenfalls hinter sich. Caterina hatte sich schon nach links gewandt, um eine Treppe zu besteigen, eine Treppe, neben der ein Schild mit der Aufschrift Vorsicht, Lebensgefahr angebracht war. Er bekam ihren Arm zu fassen. Hielt sie zurück und zog sie zu sich heran. »Caterina!«, stieß er heftig hervor. Zuerst schaute sie ihn ungläubig und abwesend an. Sie lächelte, schien ihn aber nicht zu erkennen. Erst, als er sie schüttelte, bewegte sie die Lider und schnitt eine Grimasse. »Mein Gott, Dorian – was machst du denn hier? Wo – wo bin ich überhaupt?« Sie schaute sich um. »Das ist ja das Kolosseum! Dorian, was ist geschehen?« Er blickte sie ernst an. »Das frage ich dich. Ich bin dir gefolgt. Ein Glück. Sonst wäre dir bestimmt etwas passiert. Komm! Wir müssen diesen Platz verlassen. Ich möchte nicht, dass uns doch noch ein paar Brocken auf die Köpfe fallen.« Sie setzten sich in ihren Wagen. Caterina lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Handfläche über die Stirn. »Dorian – mir brummt der Kopf. Ich muss erst einmal meine Gedanken ordnen. Was ist passiert?« Er erzählte es ihr. Verblüfft guckte sie ihn an. »Ist das die Möglichkeit? Ich kann mich – nicht daran erinnern, meine Wohnung verlassen zu haben. Bin ich denn eine Schlafwandlerin? So was habe ich noch nie gemacht. Es sieht ja fast so aus, als – als wollte ich Selbstmord begehen.« Dorian erwiderte nichts und zündete sich eine Zigarette an. Er geriet in einen echten Gewissenskonflikt. Sollte er dem Mädchen von den Ereignissen in der Villa berichten oder sie noch uneingeweiht lassen? »Dorian, warum sprichst du nicht?« Er legte den Kopf etwas nach hinten und blies den Rauch nach oben. Nein, es war besser, sie noch nicht völlig aufzuklären. Sie war ohnehin verwirrt genug. Setzte er ihr auseinander, was er in der Ber-
tini-Villa gesehen hatte, so geriet sie völlig aus dem Häuschen, dann kam sie womöglich am Abend nicht mit; und ohne Begleiterin konnte er die Soiree abschreiben. »Weißt du«, sagte er, »wir gehen jetzt einen Kaffee trinken. Er wird uns beiden gut tun. Vielleicht bist du bloß ein bisschen überspannt.« Er wusste genau, dass dies nicht der Fall war.
Dorian Hunter hatte auf Caterinas Wunsch hin das Steuer des Duetto übernommen. Er lenkte den Wagen die Privatstraße hinauf. An der Umgebung hatte sich seit der vergangenen Nacht nichts verändert. Nur eine Variante gab es: Die hohen Fenster der Villa waren matt erleuchtet. Autos parkten vor der Mauer. »Wir betreten das Haus getrennt«, sagte Dorian. »Wir müssen es aus taktischen Gründen so machen. Möglich, dass sich jemand wundern würde, gleich zu Anfang statt Antonia Biasi mich an deiner Seite zu sehen. Komme ich allein, falle ich weniger auf. Später tun wir uns wieder zusammen.« »Ich richte mich ganz nach dir.« Sie öffnete ihre Handtasche und kramte darin herum. Es war eine silberbestickte Tasche; sie passte zu dem eleganten Abendkleid und der Stola. Den Fuchspelzmantel hatte sie lose über die Schultern gehängt. »Hier!« Sie reichte ihm die auf Büttenpapier gedruckte Einladung. »Es steht kein Name darauf. Du wirst also keinerlei Schwierigkeiten haben.« Der Dämonenkiller bremste und stellte den Alfa Duetto in angemessener Entfernung vom Tor ab. Caterina stieg aus. Er sah ihre Gestalt hinter dem geöffneten Tor verschwinden. Außer ihr war niemand in der näheren Umgebung zu sehen. Dorian wartete ungefähr drei Minuten, dann machte auch er sich auf den Weg. Er hatte das Tor erreicht, als ihm eine große Gestalt den Weg verstellte. Dorian sah, dass es ein Mann war, eine seltsame Erscheinung
mit einem dunklen, bis auf den Boden reichenden Mantel. Den breitkrempigen Hut hatte er tief in die Stirn gezogen, so dass Dorian nur Mund und Nase erkennen konnte. »Guten Abend!« Dorian zeigte ihm die Einladungskarte. »Ich komme doch wohl nicht zu spät? Sind schon alle Gäste eingetroffen? Wer fehlt denn noch?« Er benahm sich ruhig und unbefangen, aber es war, als redete er gegen eine Wand. Der Fremde nahm nur die Einladungskarte an sich, nickte und erwiderte leise: »Es ist gut. Gehen Sie! Es ist gut.« Dorian ging an ihm vorüber. Den Blick aufmerksam auf die Villa gerichtet, strebte er darauf zu. Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben. Das hölzerne Kruzifix steckte in der Innentasche seines Smokings. Stimmen hallten aus der Villa heraus. Dorian ging die Freitreppe hinauf, blieb stehen und drehte sich zu dem Zierteich um. Der speckige Hut des kleinen Ganoven Venturini war verschwunden. Jemand kicherte. Dorian wandte sich wieder dem Eingang zu und sah einen kleinen Burschen, der aufgeregt herumgestikulierte. »Hierher, hierher!«, sagte er und kicherte wieder. Der Dämonenkiller folgte ihm ins Foyer. Der Bursche war ein Gnom, jedoch nicht so winzig wie der Puppenmann Donald Chapman. Die merkwürdige Gestalt war ungefähr einen Meter groß und äußerlich voll entwickelt; sie steckte groteskerweise in einem Frack. Der Gnom grinste und hob die Arme. Dorian zog den Mantel aus und reichte ihn ihm. »Danke«, sagte der Gnom. »Danke, danke.« Eilfertig trippelte er davon und machte sich in irgendeinem Nebenzimmer zu schaffen. Dorian kümmerte sich nicht weiter um ihn. Er durchquerte das Foyer der Villa und ging in den Salon. Es war eine seltsame Gesellschaft, die sich da versammelt hatte, und mittendrin entdeckte er Caterina. Auf einer riesigen Tafel stand
ein kaltes Büfett. Kerzenlicht schuf eine gedämpfte Atmosphäre. Mit einem Seitenblick stellte Dorian fest, dass der Riesenspiegel immer noch mit einem schwarzen Tuch verhangen war. Etwa zwanzig Menschen befanden sich in dem Salon. Nicht alle davon trugen dunkle Kleidung wie der Fremde am Tor oder der Gnom. Der Dämonenkiller sah hagere, bleiche Männer in weißen oder beigefarbenen Smokings; sogar ein buckliger Typ mit dunkelrotem Anzug lief herum. Die Frauen trugen lange, längst aus der Mode geratene Abendkleider mit vielen Rüschen und spitzenbesetzten Dekolletés. Caterina war am jüngsten; alle anderen Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts waren mindestens vierzig. Die vielfach zu gewagten Ausschnitte wirkten unästhetisch, ja, unappetitlich. Dann entdeckte Dorian die Frau vom Vorabend, diejenige, die sich so stark geschminkt hatte. Heute hatte sie weniger Make-up aufgetragen. Ihr Kleid war schwarz; es reichte bis auf den Boden, war aber ein anderes als das, das sie in der Nacht in der Teufelskapelle getragen hatte. Dorian tauschte mit Caterina einen Blick aus. Sie lächelte ihm zu, aber so, dass es niemand bemerkte. Der Gnom erschien. Er kicherte und stiefelte um die Tafel herum. Roter Wein stand in kunstvoll gearbeiteten Kristallkaraffen. Der Gnom packte eine davon und schenkte Kelche voll. Die Frau, die Dorian bereits kennen gelernt hatte, machte eine gebieterische Geste. Das Gemurmel der Gäste verstummte. Der Gnom beeilte sich, die Kelche auszuteilen. Die Frau hob ihr Glas. »Freunde! Ich heiße euch willkommen in unserem Heim. Trinken wir! Stoßen wir auf das Wohl des Maestros an, der in wenigen Minuten erscheinen und für uns spielen wird!« Alle hoben die Weinkelche. Dorian auch. Er wusste nun, dass die Frau Laura Bertini war. Er sah ihr in die Augen, aber sie streifte ihn nur mit einem oberflächlichen Blick. Da war er endgültig sicher, dass sie sein Gesicht in der Nacht tatsächlich nicht gesehen hatte. Jemand zupfte an seinem Hosenbein. Dorian blickte nach unten und sah den kichernden Gnom.
»Salute!«, sagte dieser und hob den viel zu großen Kelch. »Salute! Auf ein gutes Gelingen!« Der Dämonenkiller prostete ihm zu. Der Gnom hatte faunhafte Züge. Man wurde nicht recht schlau aus ihm. Dorian kannte ihn ebenso wenig wie die übrigen Mitglieder dieses illustren Vereins. »Gehen wir in den Saal!«, sagte Laura Bertini. Dorian schaute über die Schulter zurück und machte den Mann mit Mantel und Hut aus, der soeben durch das Foyer in den Salon geschritten kam. Er hatte die Hände in den Taschen und machte keine Anstalten, abzulegen; und niemand forderte ihn dazu auf, auch der Gnom nicht. Dorian wartete, bis der unheimliche Hutträger vorüber war, dann richtete er es so ein, dass er an Caterinas Seite geriet. Sie wollte etwas sagen, doch er gab ihr durch eine Geste zu verstehen, dass es besser war, nicht zu sprechen. Die Gesellschaft ging durch das Musikzimmer. Dorian stellte fest, dass sowohl der Stuhl als auch die Violine und der Bogen verschwunden waren, die er bei seinem ersten Besuch entdeckt hatte. Laura Bertini ließ sie nicht im Musikzimmer Platz nehmen, sondern führte sie in den angrenzenden Raum. Es war ein kleiner Saal. Stühle waren in Reihen aufgestellt worden. Ganz am Ende gewahrte der Dämonenkiller eine Art Hocker; davor stand ein hölzernes Notenpult. Die Amati lag bereit. Sie ruhte samt dem Bogen auf einem flachen Tisch, der durch eine dunkelrote Samtdecke verziert wurde. »Setzen wir uns!«, sagte Signora Bertini. Dorian nahm für Caterina und sich die beiden Ecksitze in der letzten Reihe ein. Sie waren der Verbindungstür zum Musikzimmer am nächsten gelegen. Dorian hatte die rechte Hand auf den Eckplatz gelegt. Der Gnom, der sich darauf niederlassen wollte, knurrte und rückte weiter. Caterina trat in die Reihe und setzte sich. Links neben Dorian saßen zwei schweigsame blasse Frauen. Danach kam der Gnom, dann der düstere Mann mit Mantel und Hut. Stille lastete über dem kleinen Saal. Laura Bertini stand noch einmal auf, drehte sich um und ließ den Blick über die Anwesenden gleiten. Es schien, als zählte sie.
Unvermittelt erlosch dann das Licht des elektrischen Kronlüsters. Dorian hatte zwar nicht gesehen, dass irgendjemand den Schalter betätigt hatte, aber er machte sich weiter auch keine Gedanken über dieses Phänomen. Er legte nur Caterina die Hand auf den Unterarm, damit sie sich nicht beunruhigte. So plötzlich, wie das Licht ausgegangen war, ging es wieder an. Diesmal brannten sieben schwarze Kerzen in einem Eisenständer nahe dem hölzernen Notenpult. Vorher war der Ständer nicht dort gewesen; und niemand schien sich gerührt zu haben, um die Kerzen zu entzünden. Alle saßen wie gelähmt auf ihren Plätzen. Dorian warf Caterina einen Seitenblick zu und bemerkte, wie sie bleich wurde. Ihre Miene war verkrampft. »Der Maestro«, flüsterte jemand. Es war Laura Bertini. Der Mann kam aus dem Musikzimmer. Er schritt an Dorian und dem blonden Mädchen vorüber. Dorian konnte sein Gesicht nicht sehen. Mit seltsam eckigen Bewegungen steuerte Marco Bertini auf seinen Platz zu. Dann drehte er sich um. Auch jetzt waren seine Züge jedoch nicht zu erkennen, denn sie lagen im Schatten. Er nahm die Violine zur Hand, setzte den Bogen an und machte ein paar behutsame Striche. Mit sicherem Griff drehte er an der Mechanik, zog die E-Saite etwas höher, ließ sie dann klingen und nickte. Schließlich setzte er sich. Immer noch lag sein Gesicht im Schatten. Mit dem Mann stimmt etwas nicht, dachte Dorian. »Schscht!«, machte Laura Bertini. Es herrschte absolute Stille, bevor der Maestro einsetzte. Sein Solovortrag begann mit einer Reihe ruhiger Passagen. Caterina tippte Dorian mit dem Finger an. Er nickte ihr zu. Der Dämonenkiller saß ruhig da, aber seine Sinne waren bis aufs Äußerste angespannt. Er betrachtete den Maestro. Keinen Augenblick ließ er den Blick von ihm. Das Andante ging in ein Allegro über. Bertini bewegte sich nun öfter mit dem ganzen Oberkörper, ruckte nach vorn. Dadurch gerieten mal seine Hände, mal sein Gesicht und die Haare ins Kerzenlicht. Das Gesicht war maskenhaft. Ja, jetzt sah Dorian es genau. Bertini
trug eine Gummimaske. Und über die Hände hatte er feine Handschuhe gestreift. Dorian wollte Überlegungen zu seiner verblüffenden Entdeckung anstellen, aber die Musik, diese einzigartige Interpretation, dieser weiche, einschläfernde Klang machten es ihm fast unmöglich, klar zu denken. Dorian und Caterina waren hingerissen von der Darbietung, und mit ihnen waren es die anderen Gäste der Soiree. Sie waren alle wie verzaubert. Das Spiel wurde ungestümer. Ton um Ton schraubte sich die Melodie in gewagte Höhen hinauf. Bertini beherrschte seine Amati mit vollendeter Sicherheit. Der Dämonenkiller spürte es; die Musik wollte ihn einlullen. Er kämpfte dagegen an; und dank seiner Konzentrationsgabe gelang es ihm. Rasch warf er Caterina wieder einen Seitenblick zu und bemerkte, dass sie die Karte aus Büttenpapier in den Fingern hielt: die Einladung. Sie drehte und wendete sie, strich mit der einen Hand darüber. Dorian wurde aufmerksam. Als sich ihr Blick fest auf die Karte richtete, sah er, wie sich darauf Schriftzeichen bildeten. Dem Dämonenkiller stockte fast der Atem. Ge-lieb-te. Das erste Wort hatte er entziffert. Es war, als schriebe jemand mit einem Geisterfüllfederhalter auf das Papier. Es handelte sich um Gedankenübertragung, Telepathie, die sich auf einmalige Art mit Telekinese vermischte. Geliebte Caterina, komme in mein Schlafgemach in den Keller, stand nun auf der Einladung. Caterina Schifano bewegte träumerisch die Lider. Sie hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie am Nachmittag, als sie zum Kolosseum gefahren war. Dorian handelte sofort. Mit dem Kruzifix konnte er hier nichts ausrichten. Er führte die Hand unter die Smokingjacke, öffnete den obersten Hemdknopf und holte die gnostische Gemme hervor. Der Vortrag ging weiter. Bertini, der Maestro, der Unvergleichliche, war von Vivaldi auf die diabolischen Improvisationen des Pa-
ganini übergegangen, auf das Konzert in D-Dur, Opus 6. Niemand beachtete Dorian, der die gnostische Gemme hob und sie wie ein Pendel vor Caterinas Gesicht hielt. Die Augen des Mädchens konzentrierten sich jetzt auf den Edelstein. Dorian bewegte nur ganz sanft die Finger, und das Pendel begann zu schwingen. »Du gehst nicht«, raunte er ihr ins linke Ohr. »Du darfst nicht in den Keller gehen. Du musst mir gehorchen, Caterina. Ich befehle es dir.« »Ja«, hauchte sie. Dorian hatte erwartet, dass sich einzelne Gäste umdrehen würden, aber niemand regte sich. Alle guckten unverwandt auf den Maestro, dessen Spiel sich zur Ekstase steigerte. »Verlasse die Villa und warte im Wagen auf mich!«, flüsterte Dorian dem blonden Mädchen zu. Sie nickte. Gehorsam stand sie auf und wandte sich der Verbindungstür zu. Sie wandelte aus dem Saal und verschwand im dunklen Musikzimmer. Dorian steckte die gnostische Gemme wieder weg. Er war sicher, dass Caterina sich strikt an den Befehl halten würde. Vorsichtig blickte er in die Runde. Die Gäste starrten mit halb geöffneten Mündern auf Bertini oder das, was den Maestro dort vorn auf dem hockerähnlichen Stuhl darstellte. Sie waren besessen, hatten sich nicht mehr in der Gewalt. Auch der Gnom und der unheimliche Hutträger wirkten verzaubert. Dorian spürte, wie die starke magische Ausstrahlung auf ihn zuschwebte. Er schloss die Augen, konzentrierte sich; er wollte die gnostische Gemme wieder hervorholen, aber plötzlich war es mächtiger als er. Er öffnete die Augen und blickte auf die Einladungskarte hinab. Mit einem Mal hatte er sie in Händen. Er konnte in keine andere Richtung schauen, war von dem Büttenpapier gefesselt. Unvermittelt leuchteten Farben auf dem Papier. Schriftzeichen tauchten auf. Dorian erkannte das Blau und die Embleme seiner bevorzugten Zigarettensorte – der Players. Die Vision verwischte wieder, aber Dorian verspürte ein unbe-
zähmbares Verlangen nach einer Zigarette. Er tastete die Taschen seines Smokings ab, fand aber keine Packung. Langsam erhob er sich von seinem Stuhl. Niemand schenkte ihm Beachtung, als er den Saal verließ. Dorian schritt durch das Musikzimmer und den Salon und kam ins Foyer. Was er erlebte, kam ihm wie ein süßer, schwermütiger Traum vor. Er näherte sich der Kellertür und lächelte. Plötzlich wusste er ganz genau, wo er zu suchen hatte. Er hatte doch die Zigaretten unten im Gewölbe vergessen, in dem bemalten Raum, in der eisernen Jungfrau, die man so leicht aufklappen konnte. Ein Griff würde genügen, und er hatte seine Zigaretten. Da sträubte sich etwas in ihm. Aber sofort war wieder die fremde Macht da, die Dorian in den Bann zurückzwang. Er seufzte und ging die Steintreppe hinab. Im Gang war es finster, aber er fand sich ausgezeichnet zurecht. Bald trat er in die bläulich beleuchtete Teufelskapelle. Ganz automatisch strebte er der eisernen Jungfrau entgegen. Er fasste den Deckel an und zog ihn zu sich heran. Der Deckel verursachte kein Geräusch; er war gut gefettet. Dorian blickte auf die tückischen spitzen Eisenteile im Inneren des Folterwerkzeuges, aber die Dornen bereiteten ihm kein Unbehagen. Unverdrossen bückte er sich. Da lag die Packung, und sie schien ihn anzulachen. Seine Players. Er musste sie haben. Unbedingt. Die Kette, an der die gnostische Gemme hing, bewegte sich. Der Talisman rutschte aus dem Hemd, baumelte plötzlich vor Dorians Gesicht. Da wurde er sich seiner Lage bewusst. Er stockte. Ein Schatten war plötzlich hinter ihm. Dorian sprang zur Seite, verlor das Gleichgewicht und stürzte, aber wenigstens hatte er sich aus dem Gefahrenbereich gebracht. Was da auf ihn zugeschlichen gekommen war, war eine der Besessenen aus dem Saal, eine der Frauen, die Laura Bertini umstanden hatten. Das altmodische lange Abendkleid bauschte sich, als sie sprang und den Deckel der eisernen Jungfrau zuwarf. Zu spät! Dorian war fort; der Deckel krachte zu und sprang gleich wieder auf. Die Besessene fuhr herum und zischte. Geifer tropfte
aus ihrem Mund. Sie glotzte den am Boden liegenden Dämonenkiller mit entsetzlichen Augen an und stieß eine Reihe obszöner Flüche aus. Dorian kam hoch. Sofort holte er die gnostische Gemme hervor und hielt sie empor. »Tu das weg!«, sagte die Besessene. »Ich will das nicht sehen. Tu es weg!« »Weiche von mir!«, erwiderte Dorian ruhig. Sie kreischte, heulte und warf sich auf ihn. Kopf und Brust Dorians wagte sie nicht zu attackieren, weil sich dort der Talisman befand; deshalb versuchte sie, sich in Dorians Unterleib zu verbeißen. Hart schlugen ihre Krallen in seine Beine. Er packte sie und stieß sie von sich. Sie torkelte mit rudernden Armen bis zur eisernen Jungfrau. Der Deckel stand noch offen. Sie prallte gegen das Hinterteil. Ihr hässliches Gesicht verzerrte sich noch mehr. Speichel schoss aus dem aufgerissenen Maul. Polternd kippte die eiserne Jungfrau um. Der Deckel klappte zu und entzog die Besessene Dorian Hunters Blicken. Er vernahm noch einen gurgelnden Laut, dann war es still. Blut sickerte unter dem Folterinstrument hervor. Dorian eilte aus der Teufelskapelle. Er hatte den magischen Bann abgeschüttelt, konnte sich wieder frei bewegen. Im Gang hörte er, dass die Violinmusik lauter und lauter wurde. Die Melodie war jetzt nicht mehr harmonisch, sondern schrill und dissonant. Sie kommen, dachte Dorian. Er erreichte die Tür am Ende der Kellertreppe. Vorsichtig lugte er durch den Spalt und schlüpfte ins Foyer. Ihm blieb gerade noch die Zeit, sich zu verstecken. Er entdeckte einen Vorhang; dahinter verbarg sich ein Alkoven. Dorian blieb steif in dem Alkoven stehen und hielt die Luft an. Wenn die gesamte unheimliche Schar aus dem Saal erschien, hatte er kaum eine Chance. Wieder musste er flüchten, wie in der vergangenen Nacht. Eine Gestalt nahte. Es war der Maestro Marco Bertini: Er machte
große Schritte, und gleichzeitig spielte er eine irrsinnige Komposition. Sein Gesicht war starr – wegen der Gummimaske. Niemand befand sich in seinem Gefolge. Dorian spielte mit dem Gedanken, hervorzutreten und dem Mann die Maske vom Gesicht zu reißen, aber er verwarf den Gedanken wieder. Dies war nicht der rechte Augenblick für ein derartiges Unternehmen. Außerdem wartete Caterina auf ihn. Es war seine Pflicht, sie in Sicherheit zu bringen. Der Maestro trat an die Kellertür, stieß sie mit dem Ellbogen der Linken auf und verschwand in dem düsteren Rechteck der Öffnung. Dorian nutzte die Gelegenheit und schlich zur Eingangstür. Diesmal hatte er mehr Glück als bei seinem ersten Besuch in der Villa. Die Tür schwang nach innen auf. Dorian pirschte hinaus und ließ die Tür ins Schloss gleiten. Nur ein leises metallisches Schnappen war zu hören. Er brachte die Treppenstufen hinter sich. Danach beschleunigte er seinen Schritt. Er lief am algenüberwucherten Zierteich vorüber auf ein dichtes Oleandergebüsch zu. Die Zweige und Blätter schlugen hinter ihm zusammen. Da hörte er Geräusche. Die Eingangstür der Villa wurde aufgerissen. Stimmen schnatterten durcheinander. Dorian duckte sich. Gäste verabschiedeten sich mit übertriebenen Verbeugungen von Signora Laura Bertini. Unter ihnen erkannte der Dämonenkiller auch den Gnom und den mysteriösen Hutträger. Es waren größtenteils männliche Besessene, die nun auf den Zierteich zustrebten und den Park durchqueren wollten. Dorian warf einen letzten Blick auf das erhellte Foyer. Er sah die zwölf schwarz gekleideten Furien, die ihm in der letzten Nacht zugesetzt hatten. Laura Bertini war eine von ihnen. Die anderen hatten sich auf rätselhafte Weise zu ihr gesellt. Sie blieben bei dem Maestro in der Villa zurück. Gleich würden sie ihre tote Genossin entdecken. Dorian hätte gern ihre Mienen gesehen, wenn sie bemerkten, dass ihr Opfer Caterina nicht ins Netz gegangen, dass auch Dorian fort war und stattdessen eine ausblutende Besessene in der eisernen
Jungfrau eingeklemmt lag. Doch er hatte keine Zeit. Dorian hastete durch den Park, und zwar über den Schleichweg, den er durch Sergio Venturini kennen gelernt hatte. Rasch gelangte er an die Seitenpforte, rannte an der hohen Mauer entlang und sah die geparkten Autos schon vor sich. Caterina hockte kerzengerade auf dem Beifahrerplatz des Alfa Duetto. Dorian setzte sich hinters Lenkrad. Der Schlüssel steckte. Er startete und sagte: »Wir haben es geschafft, Caterina. Vor allem du hast eine gehörige Portion Glück gehabt. Weißt du das?« »Ja, Herr«, antwortete sie stereotyp. Dorian hätte sich in diesem Augenblick am liebsten selbst eine Ohrfeige verpasst. Wie konnte er vergessen, dass er sie hypnotisiert hatte! Er fuhr an. Ohne Licht lenkte er den Wagen die Privatstraße hinab. Bevor oben die ersten Besessenen aus dem Tor traten, hatten sie schon die Via Aurelia Antica erreicht. Von den Gästen der gespenstischen Soiree war nichts mehr zu befürchten. Dorian hielt es für das Beste, das blonde Mädchen zunächst zu Jeff Parker zu bringen. In dem Apartment war sie sicherer als in ihrer Wohnung oder im Hotel La Pace. Vorsichtshalber fuhr er zunächst zum Hotel und holte seinen Diplomatenkoffer, in dem sich verschiedene kleinere Dämonenbanner befanden. Dann rollte der Alfa durch das nächtliche Rom, geradewegs zum Apartmenthaus am Corso d'Italia. Parker war nicht da. Vorsorglich hatte er aber den Schlüssel beim Nachtportier abgegeben. Dorian nahm den Schlüssel entgegen und fuhr mit Caterina im Lift nach oben. Im Apartment sagte er ihr: »Lege dich auf eines der Sofas!« Sie streckte sich auf der Wohnlandschaft aus, wirkte völlig entspannt. Aber Dorian wusste, dass der Schein trügte. Seine Erfahrung sagte ihm, dass es noch eine Überraschung geben würde. Deshalb baute er die Dämonenbanner rund um ihr Lager auf. Parker würde später vielleicht meutern, aber er malte trotzdem Zeichen mit schwarzer Kreide auf den weißen Teppichboden. Zum Schluss blieb er außerhalb des Kreises stehen und konzentrierte seinen Blick auf
ihr Gesicht. Dorian nahm den posthypnotischen Befehl von ihr. Da geriet sie wieder in den teuflischen Bann. Sie tobte, schrie und schlug mit den Fäusten um sich. »Lass mich zum Maestro!«, sagte sie mit tiefer, hässlicher Stimme. »Lass mich frei! Lass mich frei! Du kriegst mich nicht! Ich unterwerfe mich nicht!« Der Dämonenkiller ließ sich nicht beeindrucken. Er fesselte sie nicht, setzte auch nicht wieder die gnostische Gemme als Pendel ein, denn eine neue Hypnose wäre nur ein Aufschub gewesen. Unentwegt sprach er Beschwörungsformeln und brachte sie so endlich zur Ruhe. Es kostete ihn einige Mühe, den Bann von ihr zu nehmen, aber es lohnte sich. Sie rekelte sich, seufzte und lächelte ihm zu. »Danke, Dorian«, sagte sie. Dann schlief sie ein. Es läutete. Dorian Hunter ging zur Tür, schaute durch den Spion, lachte und öffnete. Jeff Parker trat ein, guckte ins Wohnzimmer und fragte: »Was in aller Welt ist denn hier los? Der Nachtpförtner ist dreimal von Nachbarn angerufen worden. Er wollte schon die Polizei holen, wegen des höllischen Lärms – wie er sich ausdrückte.« »Es ist vorbei«, erwiderte Dorian. Parker deutete auf die ruhende Caterina Schifano. »War sie etwa besessen? Hast du …« »Ich habe sie gerettet«, sagte Dorian.
Dorian Hunter hatte in Parkers Apartment geschlafen. Der Freund stand gleich nach ihm auf und rief in einer gegenüberliegenden Bar an. Kurz darauf läutete ein bärtiger Kellner und brachte ein großes Tablett mit Cappuccino, Brötchen und kleinem Gebäck. Die Männer weckten Caterina. Sie richtete sich auf und blickte sehr verstört in die Weltgeschichte. »Was ist denn nur geschehen?«, fragte sie. »Mein Kopf brummt,
als hätte ich die ganze Nacht durchgezecht.« Dorian berichtete ohne Umschweife, was sich ereignet hatte. Und dann erzählte er dem hübschen Mädchen auch von seinem ersten Besuch in der Villa Bertini. Es kam, wie er erwartet hatte. Sie wurde bleich vor Grauen und maßloser Enttäuschung. »Was hat das alles zu bedeuten, Dorian?« Sie schluckte. Parker hielt ihr die Tasse mit dampfendem Kaffee hin. Dankbar griff sie zu. »Mein Gott! Wer ist der Maestro denn nun eigentlich oder – was ist er?« »Ich weiß es noch nicht«, entgegnete Dorian. »Habe Geduld! Sobald ich meine Recherchen abgeschlossen habe, setze ich dich auch darüber ins Bild. Zur Zeit bin ich nicht weiter mit meinem Latein als du – abgesehen vielleicht davon, dass ich mich ernsthaft mit den übersinnlichen Erscheinungen beschäftigt habe und einige Deutungen parat hätte.« »Und zwar?« »Das führt jetzt zu weit«, warf Parker ein. Der Dämonenkiller zündete sich eine Zigarette an. »Caterina – du musst mir noch einmal behilflich sein. Fahren wir zu deiner Freundin. Zu Antonia Biasi. Sie muss mir über ihre damaligen Beobachtungen berichten, damit ich mehr Licht in den Fall bringen kann.« Die Blonde setzte die Tasse hart ab und stand auf. »Dorian, alles – alles tue ich für dich, aber lass Antonia in Ruhe! Sie könnte einen Rückfall erleiden. Verstehst du das denn nicht?« »Bitte, rege dich nicht auf!« Dorian setzte sich zurecht und schaute ihr in die Augen. »Du kannst Vertrauen zu mir haben.« »Das habe ich doch.« »Ich werde sehr behutsam mit dem Mädchen umgehen. Vielleicht beruhigt es dich außerdem, dass Dämonen eine Heidenangst vor Geistesgestörten haben und sie stets in Ruhe lassen.« »Aber Antonia wurde doch als geheilt entlassen«, gab Caterina zu bedenken. »Trotzdem. Es war zweifellos ihre Rettung, dass sie den Verstand verlor. Wer immer die dreizehn schwarzen Frauen wirklich sind, sie
hätten sie aufgespürt und vernichtet – sie, die einzige Zeugin.« Dorian legte eine Pause ein und trank einen Schluck heißen Cappuccino. »Sieh mich nicht so zweifelnd an, Caterina! Es geht nicht anders. Ich muss Antonia befragen.« Sie diskutierten noch eine Weile, dann willigte die Blondine ein. Dorian zog einen schlichten Anzug an, den ihm Parker zur Verfügung gestellt hatte. Dann fuhr er mit Caterina zu ihrer Wohnung. Er begleitete sie nach oben. Nachdem er alles abgesucht hatte, ließ er auch sie in ihre Wohnung. Sie vertauschte das schicke Abendkleid mit einem Paar Jeans und einem weißen T-Shirt, unter dem sie nichts trug. »In Richtung Ostia«, sagte sie im Wagen. »Das Haus, in dem sie sich zur Zeit aufhält, liegt in der Nähe der Porta San Paolo.« Der Alfa Duetto rollte durch das morgendliche Rom. Die Sonne strahlte. Tauben flatterten über die Häuserdächer. Eine Wolke war am blauen Himmel zu sehen. Die ganze Umgebung wirkte überhaupt nicht winterlich. Dorian stellte sich vor, wie es jetzt in London aussehen mochte. Caterina hatte sich restlos überzeugen lassen, als Dorian ihr erklärt hatte, dass Antonia Biasis Leben davon abhängen könnte, ob sie sie besuchten oder nicht; und das hatte der Dämonenkiller nicht nur aus taktischen Gründen gesagt; es entsprach der Wahrheit. Das Haus, vor dem sie hielten, war ein Bungalow mit großen Fensterfronten. Die Garage stand offen und war leer. »Es ist das Haus ihrer Eltern«, erklärte Caterina noch im Wagen. »Sie wohnt seit ihrer Entlassung hier. Ich schätze, das Ehepaar Biasi ist nicht da, weil heute ein normaler Wochentag ist und sie bestimmt bei der Arbeit sind. Weißt du, er ist Rechtsanwalt, und sie macht für ihn die Sekretärin. Die Kanzlei liegt im Zentrum von Rom.« »Ist Antonia allein?« »Nein. Sie haben eine Krankenschwester eingestellt, die sich um sie kümmert und kocht.« Wenig später standen sie der Schwester gegenüber, einer resoluten Person um die Dreißig, die den Eingang mit ihrer drallen Figur versperrte und sie mit zurechtweisenden Blicken maß. Offenbar war sie
bereit, das Heim notfalls körperlich zu verteidigen. »Nein«, sagte sie, nachdem Dorian gesprochen hatte. »Nein, das lasse ich nicht zu. Ich habe strikte Anweisungen …« »Aber ich bin Antonias Freundin«, beteuerte Caterina immer wieder. »Besuch ist strikt untersagt. Ich kann mich dem nicht widersetzen«, sagte die Krankenschwester scharf. »Wo kämen wir denn hin?« Der Dämonenkiller dachte bereits daran, sie mit der gnostischen Gemme zu hypnotisieren, da tauchte eine schlanke Gestalt hinter ihr auf. »Elda! Bitte, lassen Sie sie ein! Seien Sie doch nicht kindisch!« Die Schwester zog entrüstet ab. Antonia Biasi trat ihnen entgegen. Sie war blass und hatte einen traurigen Blick, war jedoch im Grunde ein hübsches Mädchen; brünettes Haar rahmte ihr zartes Gesicht ein. Dorian stellte später im Gespräch fest, dass ihre Reaktionen ein bisschen verspätet kamen; das war aber auch alles, was auf ihre überstandene Nervenkrise hinwies. Sie begrüßte Caterina sehr kameradschaftlich. »Das ist Dorian Hunter«, sagte die Blondine mit einem Blick auf ihren Begleiter. »Er ist ein guter Freund. Du brauchst ihm gegenüber nicht argwöhnisch zu sein. Wenn ich dir erzähle, was er für mich getan hat …« »Kommt doch erst mal herein!«, sagte Antonia. Kurz darauf saßen sie sich im gemütlichen Wohnzimmer gegenüber. Die Schwester, wieder einigermaßen freundlich gestimmt, brachte Tee, Mineralwasser und Gebäck. »Wenn Sie Antonia aufregen, Herrschaften, werfe ich Sie raus«, sagte sie aber klipp und klar. Dorian erklärte dem blassen Mädchen, welches seine Aufgabe war. Er sprach ruhig und drückte sich gewählt aus. »Es geht also um den Maestro«, sagte Antonia leise. »Das habe ich fast erwartet. Was will man denn jetzt noch von mir?« Dorian brachte ihr sehr vorsichtig bei, was sich ereignet hatte. Im-
mer wieder wartete er eine Erwiderung von ihr ab, doch sie sagte kein Wort. Es war eine einseitige Unterhaltung. Nur der Dämonenkiller und Caterina sprachen. Antonias Blick wurde flackernd, misstrauisch. »Fort!«, sagte sie, »ich will nichts mehr hören!« Dorian beugte sich vor und schaute sie ernst an. Er wusste, dass dies der kritischste Augenblick war, aber er hatte sich vorgenommen, nicht aufzugeben. Er verstand mit Geisteskranken und auch mit Rekonvaleszenten umzugehen, seitdem seine Frau Lilian damals aus der O'Hara-Stiftung entlassen worden war. Er sprach mit ganz normaler Stimme auf das Mädchen ein, wiederholte Fakten. Plötzlich sah Antonia auf. Ihr Blick war nicht mehr unstet, sondern fest. »Nein! Ihr habt den Maestro angeblich spielen hören, aber er kann es nicht gewesen sein. Er ist tot. Ich schwöre es.« »Was hat sich damals in der Villa zugetragen?«, fragte Dorian. »I-ich kann und will es nicht erzählen.« Dorian legte ihr eine Hand auf den Arm und sagte: »Antonia, ich bin überzeugt, Sie haben die Kraft dazu. Und eben weil ich weiß, dass Sie vollständig von der Krankheit genesen sind, will ich offen und ehrlich zu Ihnen sprechen. Die Dämonen haben Sie unbehelligt gelassen, solange Ihr Verstand umnachtet war. Denn die Mächte des Bösen, die hier am Werk sind, haben furchtbare Angst vor psychisch Leidenden. Doch jetzt sind Sie wieder normal, Antonia.« »Dorian!«, sagte Caterina entsetzt. Antonia Biasi blickte den Dämonenkiller aus geweiteten Augen an. Würde sie schreien? Die Schwester kam herein: Antonia drehte sich um und gab ihr einen Wink zu gehen. Erst als die Frau fort war, antwortete sie. »Ich habe verstanden. Sie könnten mich töten. Es ist in meinem eigenen Interesse, wenn ich rede. Ist es so?« »Sie sind ein intelligentes Mädchen, Antonia.« Sie nickte, knetete die Hände. Wieder verstrich etwas Zeit. Dann begann sie. »Eingangs möchte ich wiederholen, dass der Maestro tot ist«, sagte sie. »Tot seit damals – seit Silvia Lualdi in die Villa kam und sich das
Leben nahm. Seine rachsüchtige Frau Laura hat etwas Teuflisches ausgeheckt und tut bloß so, als sei er noch am Leben. Fragen Sie nicht, was, Dorian – denn ich weiß es wirklich nicht.« Dorian erwiderte nichts. Es war klüger, das Mädchen jetzt nachdenken zu lassen. Langsam fuhr sie fort. »Und nun zu dem schrecklichen Vorfall. Es fällt mir nicht leicht. Ich spreche zum ersten Mal darüber. Aber irgendwie habe ich großes Vertrauen zu Ihnen, Dorian. Wissen Sie, Silvia Lualdi war nicht gerade meine Freundin. Das wäre wohl übertrieben. Aber ich kann sie als gute Bekannte bezeichnen. Eines Abends trafen wir uns ganz zufällig an einer Bushaltestelle. Sie machte einen völlig verzweifelten Eindruck, wollte sich mir anvertrauen, so – so schlimm war es. Wir gingen in eine Bar. Da sagte sie mir alles, denn sie hatte niemanden, dem sie es erzählen konnte.« Sie brach ab und trank einen Schluck Tee. Weder Dorian noch Caterina sagten etwas. Antonia schaute wie suchend im Raum umher; ihr Blick blieb irgendwo hängen. Dann sprach sie weiter. »Silvia hatte ein Verhältnis mit dem Maestro Marco Bertini. Das dürfte ja bekannt sein. Aber wie ernst es die beiden meinten, das erfuhr ich erst an diesem unheilvollen Nachmittag. Der Maestro wollte sich scheiden lassen. Und sie hatten beschlossen, sich gemeinsam das Leben zu nehmen, falls Laura nicht einverstanden war. Es kriselte schon lange in der Ehe, aber ich wusste, dass die Bertini ihren Mann nicht freigeben würde. Ich fühlte es. Silvia und ich trennten uns. Aber ich folgte ihr heimlich.« Sie befeuchtete die Lippen mit der Zunge. »Silvia fuhr zu ihrer Wohnung und zog sich um. Dann nahm sie ein Taxi. Ich auch. Die Fahrt ging zur Villa des Maestros. Ich hatte einige Schwierigkeiten, sie ungesehen bis ins Haus zu verfolgen, aber ich schaffte es.« Der Dämonenkiller musterte sie gespannt. Caterina hielt unwillkürlich den Atem an. »Ich wurde Zeugin eines Dramas«, erklärte das blasse Mädchen. »Es war furchtbar. Der Maestro machte einen ernsten und gefassten Eindruck, Silvia war sehr aufgeregt. Zusammen traten sie im Salon Laura Bertini gegenüber. Sie gestanden ihr ihre Liebe ein. Da hättet
ihr sie sehen müssen! Sie geriet fürchterlich in Wut und stürzte sich auf Silvia. Es – es gelang ihr, Silvia ein paar Ohrfeigen zu geben. Dann griff Marco Bertini ein.« Sie atmete heftig. Die Erinnerung an die Ereignisse regte sie nun doch etwas auf. »Ruhig!«, sagte der Dämonenkiller. »Ruhig, Antonia!« Sie faltete die Hände und gab sich Mühe, sie still zu halten. »Es kam noch schlimmer. Der Maestro verprügelte seine Frau. Er war außer sich. Auch sie zeigte erst jetzt ihr wahres Gesicht. Während Silvia auf dem Boden lag und weinte, entwickelte sich die Bertini zur – zur …« »Zur Furie«, half Dorian weiter. Antonia nickte eifrig. »Ja. Ja, genau das. Sie tobte und schrie wie ein Teufel, gebrauchte abscheuliche Ausdrücke. Und dann sprudelte sie heraus, dass sie es schon lange nicht mehr ertragen könnte, wie er es mit den jungen Flittchen trieb. Dass sie etwas unternommen hätte, um sich an den Mädchen zu rächen. Dass sie Hilfe gesucht und gefunden hätte.« Sie schüttelte sich, senkte die Stimme. »Sie hatte einen Kreis von Frauen aufgetrieben, Frauen, denen es einst ähnlich wie ihr ergangen war. Betrogene Ehefrauen also, die Mittel und Wege entdeckt hatten, wie sie sich rächen konnten.« Antonia stand auf und ging auf und ab. »Ich hielt mich in einem Alkoven versteckt. Mein Herz schlug ganz entsetzlich, als die zwölf Frauen in den Salon traten. Weiber waren es, ganz in Schwarz gekleidet. Richtige Hexen. Eine sagte mit tiefer Stimme, jetzt würde die Geliebte des Maestro bestraft werden. Silvia richtete sich vom Boden auf. Ich konnte das kaum glauben – aber sie hatte keine Furcht. Sie sprach langsam und schleppend: Ihr könnt mir und meinem Liebsten nichts mehr anhaben, sagte sie. Kurz vor dieser Begegnung haben wir etwas getrunken, und ich hatte Gift in die Gläser getan … Und dann geschah es auch schon.« Antonia schlug die Hände vors Gesicht, gab aber keinen Laut von sich. »Die beiden entschliefen, ja?« Dorian ging zu ihr. »Sie brauchen das nicht zu schildern, Antonia.«
»Er starb als Erster«, sagte sie. »Dann Silvia. Ich dachte: Das erträgst du nicht. Gleich bist auch du tot. Die Bertini, dieses Satansweib, sagte, um Silvia sei es nicht schade, aber ihrem Mann wollte sie es nicht so leicht machen. Die zwölf schwarzen Hexen antworteten im Chor, es würde sich ein Weg finden lassen.« Antonia blickte Dorian an. »Ich weiß nicht, wie sie das gemeint haben, Dorian. Wirklich nicht. Sie brachten die Leichen hinaus, wohin, das weiß ich nicht. Ich floh. Ich erinnere mich noch an den düsteren Park und die Fledermäuse, die über die Bäume flatterten. Das ist alles.« »Jetzt sehe ich viel klarer«, sagte Dorian. »Antonia, wie fühlst du dich?«, fragte Caterina besorgt. Das blasse Mädchen sah die Freundin an – und lächelte. »Du wirst es nicht glauben, Caterina: viel besser. Ich hätte nie gedacht, dass es mich so erleichtern würde, die ganze Geschichte zu erzählen. Ich habe immer Angst davor gehabt, aber jetzt – jetzt ist alles besser.«
Die Krankenschwester ging gegen vier Uhr nachmittags. So lange hatten der Dämonenkiller, Caterina und Antonia zusammengesessen und gesprochen. Antonias Vater rief an und sagte, es würde an diesem Abend sehr spät werden. Er und seine Frau hätten noch verschiedene Klienten zu besuchen. Das Mädchen teilte ihm nur andeutungsweise mit, dass sie Besuch hatte. Dorian rief Parker in Cinecitta an. Der versprach, sofort zu kommen. Tatsächlich erschien er bereits eine halbe Stunde später. »Bleibe bitte, und achte auf die Mädchen!«, bat Dorian. »Du darfst sie auf keinen Fall aus dem Haus lassen. Es wäre unverzeihlich, wenn der Bann des Bösen auf sie übergreifen würde.« »Die Lage spitzt sich zu?«, fragte Parker. »Ja. Ich fahre zur Bertini-Villa, um ein paar Worte mit der Signora zu wechseln – falls ich sie antreffe.« »Rian, es kann sein, dass ich kurz weg muss, denn ich habe aller Wahrscheinlichkeit nach noch einen kurzen Termin mit einem der Aufnahmeleiter. Er ruft mich an, sobald er frei ist. Was soll ich ma-
chen? Ich kann das unmöglich absagen.« »Du schließt die Mädchen eben ein. Ich hoffe, dass ich nicht lange dort draußen bleibe, so dass ich dich rasch wieder ablösen kann. Caterina und Antonia, habt bitte Verständnis für diese Maßnahme!« »Natürlich«, gab Caterina zurück. Dorian Hunter verließ den Bungalow. Düstere Wolken ballten sich zusammen. Ein schwüler Wind blies über die Häuserdächer hinweg. Ein Gewitter kündigte sich an. Dorian fuhr mit Caterinas weißem Alfa Duetto über eine der Tiberbrücken und dann zur Via Aurelia Antica hinaus. Er sann nach. Seine Vermutung war, dass Laura Bertini ihren Mann durch schwarze Magie von den Toten auferweckt hatte. Er musste ein Untoter sein. Dorian hatte kaum noch Zweifel. Das Gewitter polterte los, als er ausstieg und durch das offene Tor in den Park der Villa schritt. Dorian war überzeugt, dass eine Entscheidung fallen würde. Angst hatte er nicht, obwohl er wusste, dass er trotz allem sterblich wie jeder andere Mensch war und auf der Strecke bleiben konnte. Die Eingangstür war offen. Er betrat das Foyer und stellte zum ersten Mal fest, dass die Fenster an ihrer Innenseite mit einer klebrigen, glänzenden Schicht bestrichen waren. Deshalb drang fast kein Lichtschein nach draußen. Es war eine magische Masse, die zwar durchsichtig, aber kaum lichtdurchlässig war. Es schien, als würde der Dämonenkiller erwartet. Er trat in den Salon, wo einige der Kerzenleuchter entzündet waren. Gerade wollte er sich dem Musikzimmer zuwenden, da vernahm er das Geräusch. Laura Bertini trat ein. Sie hatte wieder ein anderes Gewand an, das jedoch ebenfalls schwarz war. Der Saum berührte den Teppich. Oben wurde das Kleid nur von zwei schmalen Trägern gehalten. Üppige Brüste quollen aus dem Dekolleté. Sie lächelte maliziös. »Vielleicht erklären Sie mir, warum Sie nicht geläutet haben, mein Herr?« »Alle Türen waren geöffnet. Ich habe nirgends einen Dienstboten gesehen.« »Das berechtigt nicht zum Eintreten.«
»Sie haben Recht. Verzeihen Sie, Signora!« »Sie waren Gast der Soiree, nicht wahr?« »So ist es.« »Sind Sie Ausländer? Sie sprechen gut Italienisch, aber man hört es doch heraus.« Dorian fixierte sie. Wusste sie wirklich noch nicht, was bevorstand, oder inszenierte sie absichtlich dieses Katz-und-Maus-Spiel, um ihn zu verunsichern? Er holte seine Players aus der Jackentasche und schob sich eine zwischen die Lippen. »Gestatten Sie?« Ihre Augen weiteten sich. Sie war doch ahnungslos gewesen, aber jetzt sah sie die Packung Zigaretten und begriff, dass er es gewesen war, den sie in die eiserne Jungfrau hatte locken wollen. Sie stieß einen zornigen Laut aus. Dorian steckte die Zigarette an. »Wir können also unumwunden auf den Kern der Sache zu sprechen kommen, Signora. Mein Name ist Dorian Hunter. So viel will ich Ihnen verraten.« Er trat auf sie zu. Sie wich nicht zurück. »Sie gehören zu den Hexen von Rom«, sagte er ihr auf den Kopf zu, »und Sie haben Ihren Mann von den Toten auferweckt. Versuchen Sie nicht, das zu leugnen! Es hat doch keinen Zweck.« »Nein. Ich habe auch keinen Grund dazu. Aber wer bist du?« »Ein Mann, der auf der anderen Seite steht.« Sie atmete schwer. Ihre Nasenflügel bebten. »Sei nicht erzürnt mit mir, Dorian Hunter! Wir können Verbündete werden. Sieh mich an! Vielleicht begreifst du, dass es an mir etwas gibt, womit so junge Flittchen wie die blonde Caterina nicht aufwarten können. Das solltest du nicht vergessen, mein lieber Freund.« Sie näherte sich ihm, bis ihr Körper ihn fast berührte. Er trat zur Seite. »Nein. Du bezirzt mich nicht. Kommen wir nicht vom Thema ab. Wo ist der Untote?« Sie keuchte. »Ich zeige ihn dir. Komm! Komm in den Park!« Mit hastigen Bewegungen strebte sie ins Foyer, fuhr herum, breitete die Arme aus und gab einen spitzen Laut von sich. »Ja! Es stimmt, Dori-
an Hunter. Ich habe mich an ihm und den vielen Flittchen, mit denen er mich betrogen hat, rächen wollen. Und zum Teil ist mir das auch schon gelungen.« Ihr Blick wurde flackernd, die Stimme schrill. »Schon vor seinem Tod hatte ich Hilfe im Kreis der Hexen von Rom gesucht. Sie sind Gleichgesinnte, und ich fühle mich geborgen bei ihnen. Ich hätte es Marco ganz allmählich so besorgt, wie sie es mir geraten hatten. Dann aber kam etwas dazwischen. Diese Silvia Lualdi. Sie brachte sich und ihren Liebsten um, hier, in meinem Haus.« »Ich weiß alles«, sagte Dorian. »So?« Sie lachte auf. »Dann komm endlich!« Sie machte eine hektische Handbewegung. Dorian schritt gleich hinter ihr die marmorne Freitreppe in den Garten hinab. Die Frau sprach weiter. »Wir – die zwölf und ich – schafften die beiden Leichen also fort. Später sprachen meine Freundinnen die Beschwörungsformel. Und mein Marco wurde wieder lebendig.« Sie blieb am Zierteich stehen. Drohende schwarze Wolken drängten sich am Himmel. Es war düster. Plötzlich donnerte es, und zur gleichen Zeit fuhr ein starker Blitz zur Erde nieder. Sie kicherte. »Ganz hat es mit der Wiederbelebung nicht geklappt, Dorian Hunter. Marcos Körper verfault. Man kann die Verwesung nur durch eines aufhalten. Er benötigt die Körpersäfte und Hirne noch Lebender.« Ihr Finger stieß nach unten, wies auf die algenüberwucherte Oberfläche des Gewässers. »Dort ruht er. Und zwölf seiner einstigen Geliebten leisten ihm schon Gesellschaft. Es werden noch mehr werden. Aber jetzt bist du erst einmal an der Reihe, mein Freund.« Dorian lief ein kalter Schauer über den Rücken. Da hatte er die vollständige Erklärung. Der Untote hatte sich die Mädchen geholt. Auch Sergio Venturini hatte er umgebracht, und die Journalistin Claudia Marino lag ebenfalls auf dem Grund des Teiches. Laura Bertini hatte dank schwarzer Magie ein Jahr lang vorgetäuscht, ihr Mann sei noch am Leben und reise um die Erde. Der Dämonenkiller holte das hölzerne Kruzifix hervor.
»Schmeiß es weg!«, rief die Bertini mit schriller Stimme. »Es hilft dir nicht.« Die mit Algen und Froschlaich überzogene Wasseroberfläche begann plötzlich zu brodeln. Es zischte und gluckste, und dann tauchte ein Kopf auf – der grauenhafte Schädel des Untoten. Marco Bertini trug die Gummimaske, die seine einstigen Züge täuschend echt wiedergab und sein grauenhaftes Äußeres verhüllte. Drohend glotzte er Dorian an und öffnete den Mund zu einem gutturalen Laut. »Jetzt wirst du ausgesaugt, Dorian Hunter«, schrie die Bertini. »Dein Leib wird in den Teich geworfen.« Sie trat ganz an den Teichrand aus rotem römischem Travertin und beugte sich zu dem Untoten hinab: »Los, pack ihn! Besorge es ihm! Du brauchst lebenswarmes Blut. Hole es dir! Reiß ihm das Gehirn heraus!« Der Untote stieg langsam aus dem Wasser und breitete die Arme aus. Dorian hob das Kruzifix. »Zurück!« Der Untote heulte schaurig und duckte sich, aber er kam trotzdem näher. Sein Körper war von einem schwarzen Umhang weitgehend verhüllt, aber vorn stand er offen, und Dorian konnte sehen, dass die Auflösung schon sehr weit fortgeschritten war. Verwesungsgeruch stieg ihm in die Nase. Der Drang, sich aufzufrischen, war in diesem Augenblick stärker als die Macht, die von dem Kruzifix ausging. Der Untote sprang vor. Dorian konnte ihm gerade noch das Kruzifix auf den scheußlichen Schädel pressen. Klagend ging das Wesen zu Boden, kam aber gleich wieder hoch und sperrte ihm den Rückweg durch den Park ab. Ein Blitz fuhr nicht weit entfernt in einen Baum. Es gab einen Knall, dem Donnergrollen folgte. Dorian drehte sich um und lief ins Haus zurück. Er hoffte, den Untoten in dem Gewirr von Räumen und Gängen abhängen zu können. Die Bertini lachte irre, als sich der Untote ebenfalls in Bewegung setzte und Dorian folgte. Der Dämonenkiller rannte durchs Foyer, kam in den Salon, lief
weiter ins Musikzimmer, blickte sich um. Er fand nicht, was er suchte, und musste hinüber in den kleinen Vortragssaal. Hier entdeckte er die Amati mit dem Bogen. Er legte beides auf der Schwelle der Verbindungstür ab, dann setzte er seine Flucht durch die Villa fort. Der Untote kam polternd heran. Dorian konnte ihn knurren hören. Plötzlich aber verstummte er. Es verstrichen ein paar Sekunden. Dann wimmerte die Violine. Der Trick hatte gezogen. Dorian hatte Zeit gewonnen. Aber was das Wesen aus dem Teich da produzierte, hatte nichts mehr mit dem virtuosen Spiel vom Vorabend gemein. Nur ein jämmerliches Gejaule ertönte. Keine Note wurde richtig angestimmt. Der Maestro musste sich erst wieder mit Leben vollsaugen, um sein Genie voll entfalten zu können. Er brauchte ein Opfer. Wenn er ihm den Schädel einschlug und sein Gehirn auslutschte, regenerierten sowohl sein Leib als auch sein Geist. Dorian schlich durch die Villa. Die Violine jaulte entsetzlich. Aber das Geheule war ihm im Moment immer noch lieber als ein Angriff des Untoten. Bertini war viel zu sehr in Rage, um durch das Kruzifix aufgehalten werden zu können. Und andere Dämonenbanner hatte Dorian nicht bei sich – außer der gnostischen Gemme, von der er sich auch nicht viel versprach. Welche Möglichkeiten blieben ihm also? Er wollte nicht wieder aus der Villa flüchten. Dieses Mal durfte er sich keine Blöße geben. Sonst gelangten die Bertini und das von ihr geschaffene Ungeheuer zu der Ansicht, dass er leicht besiegbar war. Er musste dem Untoten trotzen. Aber wie? Natürlich konnte er sich eine der Kerzen nehmen und die Vorhänge oder den Teppich in Brand stecken. Dämonen und alle anderen Kreaturen der Nacht schreckten vor Feuer zurück. Aber die Möglichkeit, dass sich der Untote in den Teich flüchtete, war zu groß. Und wie sollte Dorian ihn aus dem Wasser bekommen? Man würde es absaugen müssen, und dazu brauchte er Helfer und Maschinen. Nein, er musste einen anderen Weg finden. Er schaute sich um. In diesem Zimmer war er noch nie gewesen. Es lag hinter dem Salon und dem kleinen Vortragssaal. Zwei schwarze Kerzen brannten. An den Wänden standen riesige Schrän-
ke; die Spiegel waren mit dunkler Farbe übertüncht worden. Auch in der Mitte des Raumes stand ein Spiegel, der sich in seinem Nussbaumholzrahmen bewegen ließ. Er war mit einem schwarzen Tuch verhangen. Dorian blieb davor stehen. Er musste sich in einer Art Umkleide befinden. Das jammervolle Violinspiel brach ab. Dorian vernahm Poltern und Knurren. In weiter Ferne kicherte Laura Bertini und rief mit überschnappender Stimme: »Pack ihn, mein Gemahl! Hol ihn dir! Er gehört dir!« Kein Zweifel, die Violine interessierte den Untoten nicht mehr. Sein faulendes Hirn signalisierte ihm nur noch, sich Nahrung zu beschaffen. Dorian zwang sich zur Ruhe. Er lief zur nächsten Verbindungstür, um sich für alle Fälle einen Fluchtweg freizuhalten. Doch die Tür war verschlossen. Er drehte sich um und rannte zu den Fenstern. Keines davon ließ sich öffnen. Er hätte schon eine Scheibe einschlagen müssen. Aber es war fraglich, ob ihm das überhaupt gelungen wäre, denn auch hier war das Glas mit magischer Substanz überstrichen. Dorian wandte sich um. Der Untote tobte heran, musste jeden Augenblick unter der Tür erscheinen. Der Dämonenkiller saß in der Falle. Der Untote stieß gegen die Tür. Sie flog krachend gegen die Wand. Grunzend kam er hereingestolpert. Dorian wartete. Es gab nur den Kampf. Der Schreckliche tapste heran, hob die Arme und ließ die Fingergelenke knacken. Sein Mund klappte auf und zu. Dorian nahm das Kruzifix und schleuderte es. Es prallte gegen den Leib des Scheusals und schien sich festbohren zu wollen. Der Untote heulte grässlich. Wütend schlug er um sich, dann lag das Kruzifix auf dem Teppich, und der Untote stapfte darüber hinweg. Im Hintergrund war das schrille Lachen von Laura Bertini zu hören.
Dorian hatte keine Ahnung, wo sie steckte. Wie es schien, sah sie durch die Wände hindurch, was in diesen Augenblicken geschah. Die Hexen von Rom mussten ihr schon viel beigebracht haben. Der Dämonenkiller hatte hinter dem Spiegel in der Zimmermitte Aufstellung genommen. Der Untote stieß seine fürchterlichen Laute aus und kam ganz nahe heran. Sie standen sich gegenüber. Nur der Spiegel war zwischen ihnen. Der Untote bewegte wieder den Mund und sog zischend die Luft ein. Er hatte keine funktionsfähigen Atmungsorgane mehr, vegetierte auf gänzlich andere Weise dahin. Er zischte und gurgelte in Vorfreude auf das Opfer. Dorian betrachtete ihn. Die Gummimaske saß straff, war gut gemacht, aber man sah eben, dass es eine Maske war. Die Handschuhe trug er diesmal nicht über seinen Krallenfingern. Vielleicht hatte er sie am Teich vergessen oder absichtlich nicht übergestreift, um Dorian besser packen zu können. Der Dämonenkiller entsann sich des Materials, das Trevor Sullivan ihm vorgelegt hatte, dachte an den Videofilm zurück. Marco Bertini war ein Bild von einem Mann gewesen. Er sollte sich auch jetzt als Beau fühlen. Sämtliche Spiegel in der Villa waren entweder verhangen oder mit schwarzer Farbe übertüncht worden. Der Maestro schien also nicht zu wissen, wie er tatsächlich aussah. Daher auch die Maske aus Gummi. Was passierte, wenn er sein wahres Antlitz sah? Dorian beschloss, sich Gewissheit zu verschaffen. Mit einem Ruck riss er das schwarze Tuch von dem Spiegel. Die Rückseite war ihm zugewandt. Der Untote blickte in den Spiegel, doch er zeigte erst keinerlei Reaktion. Dann heulte er schaurig. »Bertini«, sagte Dorian, »gib auf! Oder es gibt eine böse Überraschung für dich.« Das Scheusal gab wieder eine Serie grässlicher Laute von sich. Es war nicht in der Lage, sich wie ein Mensch zu artikulieren. Dorian nahm an, dass er zu sprechen vermochte, wenn er sich an einem Opfer gestärkt hatte.
Der Untote schien entschlossen, eine Entscheidung herbeizuführen. Er griff um den Spiegel herum und grapschte nach Dorian. Der Dämonenkiller vollführte eine geschickte Gegenbewegung und warf sich zur Seite. Der Spiegel kippte. Zum Glück zersprang das Glas nicht. Dorian lief an der Wand des Zimmers entlang, bekam einen Stuhl zu fassen und schleuderte ihn dem Schrecklichen entgegen. Hart prallte er gegen die Knochen. Der Umhang klaffte auf und entblößte den stinkenden Leib. Mit einem gellenden Schrei sprang das Scheusal quer durch den Raum und knallte die Verbindungstür ins Schloss. Dorian sollte nicht fliehen können. Der Untote hatte noch genug Kraft, um einen kleinen Tisch aus grünlichem Onyx zu packen, ihn hochzustemmen und nach dem Feind zu werfen. Dorian wich aus, aber die Kante des Tisches traf ihn in die Seite. Stöhnend ging er zu Boden. Ungefähr einen halben Meter neben ihm zerschmetterte der Tisch. Der Untote sprang heran. Dorian rollte sich ab, kam flink wieder auf die Beine und verhinderte noch einmal das Zusammentreffen mit dem schaurigen Gesellen. Er schaffte es, in die Zimmerecke zu gelangen, in der jetzt der umgestürzte Spiegel lag. So schnell er konnte, stellte er ihn wieder auf. Der Untote tobte knurrend heran. Dorian fuhr herum. Jetzt war der Moment gekommen. Er konnte sich der direkten Konfrontation mit dem Untoten nicht mehr entziehen. Schleunigst holte er die gnostische Gemme hervor und hielt sie ihm entgegen. Das Scheusal stoppte nur ein bisschen ab und zog grunzend den Kopf ein, dann stürmte es weiter. Dorian schlug mit der Faust zu und berührte das Ungeheuer blitzschnell. Der Untote brüllte wie ein verwundeter Stier auf, ließ aber nicht von Dorian ab. Mit seinen spitzen Knöcheln wollte er dem Dämonenkiller den Schädel einschlagen. Dorian schlug auf den Feind ein. Der Gestank raubte ihm fast den Atem, aber er hielt durch. Der Untote klammerte sich an ihm fest und versuchte, ihn zu Bo-
den zu reißen. Dorian presste ihm die gnostische Gemme auf den Kopf. Der Gestank wurde noch fürchterlicher. Der Untote heulte schaurig. Dorian wehrte sich verzweifelt dagegen, auf den Boden zu stürzen. Er hatte die Finger um seinen Talisman verkrampft und bemühte sich verbissen, die Ränder der Gummimaske anzubrennen. Und es gelang. Dorian ließ die Gemme einfach fallen und griff mit beiden Händen zu. Ein Geräusch, als würde Filz oder Tuch zerrissen – dann hielt er die Reste der Maske in Händen. Übergroße, weiße Augäpfel, die wie Fremdkörper vor den Höhlen lagen, starrten Dorian an. Zähne ohne Lippen, Wangenknochen, die nur noch von einem lächerlichen Rest Haut überspannt wurden, ein Nasenstummel – das war alles. Das Wesen ließ von Dorian ab. Ein wehmütiger Laut entrang sich seiner Kehle. Es sah in den Spiegel und ließ die Arme hängen. Der Dämonenkiller nutzte die Gelegenheit. Er wich zurück und hob die gnostische Gemme vom Boden auf. Der Untote gab einen tierischen Schrei von sich. Die Krallenfinger tasteten zitternd über die Teufelsfratze, die ihm aus dem Spiegelbild entgegenstarrte. Er wollte es nicht glauben. Plötzlich drehte er sich um und hastete zur Tür. Jetzt wusste er, wie es wirklich um ihn bestellt war. Es war, wie Dorian angenommen hatte: Laura Bertini hatte ihrem Mann vorgegaukelt, er sähe noch so wie früher aus. Der Schock war perfekt. Dorian eilte dem Schrecklichen nach. Er schleuderte die gnostische Gemme, traf aber nicht. Das Scheusal packte einen Stuhl. Dorian musste den Kopf einziehen und sich in Sicherheit bringen. Der Stuhl flog an ihm vorüber und knallte gegen die Wand. Dorian erreichte den Salon, aber da war der Untote schon im Foyer. Brüllend lief er die Treppe hinab, näherte sich dem Teich und sprang hinein. Das Wasser gluckste und spritzte, dann war er verschwunden. Dorian holte sich die Gemme wieder, trat an den Zierteich, bückte sich und hielt den Talisman ins schwarze Wasser. Aber es rührte sich nichts; der Untote zeigte sich nicht wieder. Sollte er nach ihm tauchen? Nein. Es war zu gefährlich, sich allein
in den Teich zu begeben. Er kehrte in die Villa zurück und suchte nach Laura Bertini, aber sie war ebenfalls fort. Verdrossen begab er sich ins Foyer. Da hörte er das Klingeln. Er blieb stehen und lauschte. Zweifellos war es ein Telefon, das da läutete. Er wusste nicht, wo es stand. Erst forschte er im Erdgeschoss nach dem Apparat, dann stellte er fest, dass das Schrillen aus dem ersten Stock kam. Er lief nach oben und kam in eine gediegen eingerichtete Bibliothek. Auf dem Eichenholzschreibtisch stand das Telefon. Eigentlich wunderte er sich, dass es so anhaltend klingelte. Er hob ab und meldete sich. »Mein Gott, Rian, endlich!« Jeff Parker schrie es fast. Er war sehr aufgeregt. »Ich will verflucht sein, aber ich kann es nicht mehr ändern. Die Mädchen sind weg.« Dorian unterdrückte ein paar zornige Flüche. »Wie konnte das passieren? Ich hatte dir doch extra aufgetragen …« »Ja ja. Aber ich hatte diesen Termin. Wäre ich bloß nie hingegangen! Ich habe mich in einem Straßencafé mit dem Aufnahmeleiter getroffen. Ehrlich, wir haben nur eine Viertelstunde geredet, und dann bin ich sofort zum Bungalow zurückgekehrt. Da waren Caterina und Antonia schon fort.« Er atmete tief durch. »Ein Nachbar sagte mir, er hätte einen schwarzen Wagen gesehen. Eine Limousine. Marke und Kennzeichen unbekannt. Ein paar schwarz gekleidete Frauen stiegen aus, verschwanden in dem Bungalow und kamen mit den Mädchen wieder heraus. Ich habe keinen Schimmer, wohin die gefahren sein könnten.« »Es waren die Hexen«, sagte Dorian erschüttert. »Was war los?« »Ich berichte später. Rufst du von einer Telefonzelle aus an?« »Nein. Ich habe mir Eintritt in den Bungalow verschafft. Die Tür war bloß angelehnt. Es ist keiner hier.« »Rian, ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.« Dorian blickte aus dem Fenster. Draußen grollte noch immer das Gewitter. »Das weiß ich auch nicht. Man hat uns gründlich übertölpelt.«
»He, Moment mal!«, rief Parker plötzlich. »Was ist?« »Im Nebenzimmer hat jemand was auf die Fensterscheibe gekritzelt. Warte! Ich sehe nach.« Er legte den Hörer hin. Schnell war er wieder zurück. »Rian, das gibt es nicht! Eines der Mädchen hat mit einem Augenbrauenstift etwas auf die Scheibe geschrieben – eine Adresse. Via Monte Mario.« »Ist das alles?« »Ja. Die Via Monte Mario liegt am nordwestlichen Stadtrand von Rom. Nein, außerhalb der Stadt. Ich beschreibe dir gleich, wie du hinfindest. Es gibt da nur ein paar alte Ruinen, aber es scheint so, als hätten die verdammten Hexen sie dorthin gebracht.« »Möglich.« Dorian überlegte scharf und sagte: »Ich fahre sofort los. Hör zu! Bevor du mir den Weg schilderst, noch eines: Hänge dich gleich wieder ans Telefon und trommle alle Fotoreporter zusammen, die du erreichen kannst. Frag nicht lange, warum! Ich sage dir nur, dass die zwölf Hexen allesamt aus der oberen Gesellschaftsschicht stammen müssen. Vielleicht kannst du über deine Filmgesellschaft verbreiten lassen, dass der Maestro Bertini bei der angegebenen Adresse eine Pressekonferenz geben will oder so ähnlich. Wenn du mit der Meute heraufkommst, wirst du schon meinen Wagen, den weißen Duetto, sehen.« »Hab begriffen«, erwiderte der Freund.
Dorian trat kräftig aufs Gaspedal. Der Alfa Duetto schoss förmlich die Via Aurelia Antica hinab. In der Kurve quietschten die Reifen. Was das Schicksal der beiden Mädchen betraf, so gab er sich keinen Illusionen hin. Die Bertini war aus der Villa verschwunden; sie würde sich bestimmt mit ihren teuflischen Freundinnen treffen. Dorian hatte den Untoten nicht fassen und vernichten können. Es stand außer Frage, dass auch er auf irgendeinem geheimen Weg zu dem Treffpunkt kam. Dorian konnte nur hoffen, dass die Adresse stimmte. Wenn er die Gesellschaft dort nicht antraf, war es um Caterina Schifano und An-
tonia Biasi geschehen. Dann saugte der Untote ihnen die Lebenssäfte aus. Hinter ihm auf den Notsitzen lag der Spiegel, in dem sich der Untote gesehen hatte. Der Dämonenkiller hatte ihn aus dem Holzrahmen geschraubt. Das Ding war ein bisschen sperrig, aber er hatte nichts Besseres entdecken können; und die Zeit drängte. Blitze erhellten den Himmel. Und dann setzte endlich der Regen ein. Ein Sturzbach prasselte auf das Verdeck des Duetto herunter. Er musste die Geschwindigkeit drosseln, sonst wäre der Wagen ins Rutschen gekommen. Dorian hatte es nicht weit bis in die Gegend, die Jeff Parker ihm beschrieben hatte. Allerdings bereitete es ihm einige Mühe, die richtige Straße zu finden. Und jede Sekunde war kostbar. Endlich fand er – weit von den letzten Häusern entfernt – ein Hinweisschild. Via Monte Mario. Sie war schmal und schlängelte sich in vielen Windungen einen Hügel hinauf. Der Hügel war mit Olivenbäumen bestanden. Der Lehmboden war aufgeweicht. Dorian erreichte die Kuppe des Hügels und sah die ersten Ruinen. Es waren einzelne, nur noch zum Teil erhaltene Säulen, zwischen denen sich nichts, rein gar nichts befand. Dorian stieg aus und lief im Regen herum. Er wurde bis auf die Haut durchnässt. Schon wollte er aufgeben, aber eine innere Stimme wies ihn an, gründlicher zu sein. Er stieg den Hügel auf der anderen Seite hinab. Die schwarze Limousine stand auf einem Platz, auf dem sich eine riesige Pfütze gebildet hatte. Keine Straße, nicht einmal ein Pfad führte hin. Der Wagen stand mitten zwischen den Olivenbäumen. Es war unerklärlich, wie er dahin gekommen sein konnte. Dorian betrachtete ihn. Es war wirklich eine Automarke, die er noch nie gesehen hatte. Auf dem Kennzeichenschild befanden sich verschlungene rote und schwarze Zeichen. Dorian stellte fest, dass es Verballhornungen der magischen Symbole des Tarot waren. Er kehrte zu dem Duetto zurück, schrieb eine Nachricht für Jeff Parker auf, nahm den Spiegel und lief zu der schwarzen Limousine. Von hier aus machte er sich erneut auf die Suche. Und plötzlich lag es vor ihm. Er blieb vor Überraschung stehen. Das Bauwerk, halb
verrottet, war ein römisches Amphitheater; zwar nur ein kleines, aber doch imposant in der Erscheinung. Dorian hatte nie gehört, dass es in dieser Gegend der Stadt ein solches antikes Theater gab. Er machte sich an den Abstieg. Zwischen den ringförmig angeordneten Steinbänken war keine Gestalt zu entdecken; auch nicht auf dem kreisrunden Platz in der Mitte. Wo waren die Hexen, wo die Mädchen? Dorian trat in das Theater. Es war wie eine riesige Muschel geformt. Der runde Platz in der Mitte war vom Wasser glatt gewaschen; fast glitt er darauf aus. Er streifte eine Weile herum, dann hatte er entdeckt, wohin die teuflische Gruppe verschwunden sein musste. Zwischen den Steinbänken versteckt gab es ein Schlupfloch. Er musste sich bücken, musste kriechen, um hineinzugelangen. Fast sah es so aus, als passte der Spiegel nicht durch die Öffnung. Er bekam ihn aber doch durchgeschoben und hielt ihn fest, um zu verhindern, dass er umkippte und ihn verriet. Es roch modrig. Dorian unterdrückte ein Niesen. Er befand sich in einem finsteren Gang, in einer Art Labyrinth. Selbst wenn er die Hexen und ihre Opfer fand – wie sollte er jemals selbst wieder aus diesem Gewirr von Gängen herauskommen? Er wusste sich keinen anderen Rat, als die silberne Kette seines Talismans zu zerstückeln und die einzelnen winzigen Glieder auf seinem Weg ins Ungewisse auszustreuen.
Der Raum war sehr flach, so dass man fast mit dem Kopf gegen die Decke stieß, aber er war größer als die Teufelskapelle im Kellergewölbe der Villa Bertini – doppelt so breit und lang. Mittendrin stand ein mächtiger Felsquader mit einem Richtschwert. Das Schwert sah dem aus der Villa zum Verwechseln ähnlich. Gleich vor dem Quader befand sich ein zweiter, kleinerer. Darüber war ein dunkles Tuch gedeckt, das steif vor Schmutz und Exkrementen war. Gemälde zierten die Wände, Darstellungen haariger Ungeheuer, die nackte Frauen verfolgten und ihnen mit eindeutigen Gesten ihre Absichten
zu verstehen gaben. Auf anderen, in purpurnen Farben gehaltenen Bildern nahmen Faun- und Teufelsgestalten obszöne Haltungen ein. Fackeln brannten. Sie verbreiteten blaues und lila Licht. Schwelende Hölzer machten die Luft stickig und unerträglich. Caterina und Antonia wurden hereingeschleppt. Die schwarz gekleideten Frauen, die sie an Armen und Beinen hielten, fluchten und beschimpften die beiden auf obszönste Weise. Keifend warfen sie sie vor dem Teufelsaltar ab. Die Bertini trat ein, und mit ihr kamen die anderen Hexen. Laura Bertini trug das scheußlichste ihrer schwarzen Gewänder; die Lippen und die Augen hatte sie sich wie an jenem Abend, an dem sie Caterina beschworen hatten, bemalt. Sechs schwarze Weiber fassten sich an den Händen und bildeten einen Kreis um die Mädchen. Sie hüpften hoch und begannen einen Tanz. Dabei stimmten sie ein abscheuliches Lied an. Zum Schluss blieben sie tuschelnd und kichernd stehen und öffneten den Kreis. Laura Bertini trat mit den anderen herein. »Was wollt ihr?« Caterina richtete sich halb auf und stützte sich auf die Arme. »Wir haben euch nichts getan. Lasst uns hier heraus!« »Heraus, heraus«, äfften die Hexen sie im Chor nach. »Ein Heraus gibt es nicht«, versetzte die Bertini mit tiefer, anomal klingender Stimme. »Wir werden euch auf den Moment vorbereiten, in dem ihr ihm gegenübertretet. Er wird seine Freude an euch haben.« Die anderen lachten schaurig. »Sie meint den Maestro«, sagte Caterina tonlos. Antonia verdeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte. Sie war kurz davor, einen Rückfall zu erleiden. Es war zu viel für sie. Die sechs schwarzen Weiber hüpften wieder auf der Stelle, klatschten in die Hände und intonierten einen neuen Gesang. »Sie sollen sich jetzt herausputzen, sich schminken für die große Gelegenheit; man muss es nach Kräften ausnutzen und feiern die feine Hochzeit, die Hochzeit, die Hochzeit!« Die anderen fielen ein und liefen eilfertig durch den Raum, um scheußliche Riten zu vollführen oder mit den hageren Händen über
die Gemälde der Teufelskirche zu streicheln. Laura Bertini raffte ihr Gewand und lief erstaunlich leichtfüßig an den beiden Mädchen vorüber. Mit einem Sprung setzte sie über den stinkenden Altar hinweg, kletterte auf den größeren Quader und legte die Hände um den Griff des Richtschwertes. Es wurde stiller. Caterina hob den Kopf. Sie hörte die klagende Melodie, die aus weiter Ferne herangetragen wurde. Die Violine des Maestros sollte sie verzaubern. Laura Bertini hatte keine Mühe, das Richtschwert aus dem Felsblock zu ziehen. Die zwölf schwarzen Weiber hatten wieder ihren unheimlichen Singsang angestimmt. Laura sprang nach hinten und schwang das Schwert über den Kopf. Zischend fuhr die Schneide auf den Fels nieder. Funken sprühten. Es krachte, und Antonia Biasi schrie jämmerlich. Aber ihr Wehlaut ging in dem Kreischen der Hexen unter. »Ihr habt die Wahl«, sagte die Bertini dumpf. »Entweder ihr lasst euch von uns herrichten, oder ich haue euch die Köpfe ab.« »Ihr habt die Wahl«, wiederholten die Weiber im Chor. »Ich will nicht sterben«, stammelte Antonia. »Noch nicht. Ich will es nicht!« Caterina fuhr ihr mit der Hand durch das Haar. »Ruhig! Du darfst nicht durchdrehen. Es ist alles Spuk, eine böse Vision. Sie gaukeln uns nur etwas vor. Das musst du dir dauernd vor Augen halten. Dann ist es nicht mehr so schlimm.« Die Bertini lachte schrill. »Vision? Gaukelei? Holt sie und legt sie auf den Altar des Leibhaftigen! Dann werden wir ihr zeigen, wie sie es zu verstehen hat.« Caterina wehrte sich nach Kräften, aber gegen die Hexen war sie machtlos. Zwei schleiften sie zum Altar. Ihr wurde schlecht, als sie sie auf die stinkende Decke legten. Die Frau des Maestros nahte mit dem Schwert. Drohend schwang sie es. »Nun, Caterina Schifano, willst du immer noch behaupten, es sei alles nur ein böser Traum, du elende Närrin?« Caterina sah die Schneide über ihrem Hals. Eine grausame Halluzination spiegelte ihr in diesen Sekunden vor, das Weib würde zu-
hauen. Ihr Kopf fiel vom Rumpf, kullerte über den Steinboden und blieb liegen. Aber ihr Mund bewegte sich noch, klappte auf und zu. Unverständliche Laute kamen über ihre Lippen. Ihr Rumpf rutschte vom Teufelsaltar und blieb auf dem Boden knien. Er nahm eine groteske Haltung ein. Die Hexen kamen, tanzten wieder und lachten schaurig. »Nein!«, keuchte sie. Kaum wurde ihr bewusst, dass es nur ein Trugbild gewesen war. »Ich will es nicht wieder sagen. Nie! Bestimmt nicht!« »So ist es gut«, sagte die Bertini. »Sei ein braves Mädchen!« »Ja.« »Der Maestro soll seine Freude an euch haben.« »Ja, ja.« »Stehe auf und gehe! Du und deine Freundin, ihr werdet wunderschön zurechtgemacht.« Sie kicherte. Speichel lief aus ihrem Mund. Das Schwert hatte sie wieder abgesetzt. Während Caterina, von zwei Hexen geführt, zu der wimmernden Antonia zurückkehrte, turnte die Bertini geschickt über den großen Steinquader und rammte das Richtschwert erneut in den Fels. Caterina wurde losgelassen. Sie fiel neben der Freundin nieder. »Es ist das Ende«, sagte Antonia. »Nein, nein. Das darfst du nicht denken.« Caterina strich ihr beruhigend mit der Hand über die Wange. Sie glaubte selbst nicht, was sie da sagte, aber sie wollte um jeden Preis verhindern, dass Antonia wieder durchdrehte. »Zeige dich nicht aufsässig! Leiste keinen Widerstand! Je ergebener wir sind, desto weniger werden sie uns peinigen.« »Ich werde mir Mühe geben«, sagte das blasse Mädchen kläglich. Die Hexen tanzten wieder und summten Unverständliches. Laura Bertini trat hinter die Mädchen und zeichnete mit den dünnen Fingern magische Symbole in die Luft. Dann nahten die schwarzen Weiber, um Caterina und Antonia auf die Beine zu stellen. Sie zerrten und stießen sie in die hinterste Ecke der Teufelskirche. Dort rissen sie ihnen die Kleidung von den Leibern und begafften sie.
Antonia schaute beschämt zu Boden, Caterina hielt den Blicken der Weiber stand. »Gutes Material«, sagte eine Hexe. Die anderen kicherten und tuschelten durcheinander. »Es ist genau das, was er braucht.« »Zartes, saftiges Fleisch.« »Junge Köpfe.« Sie tasteten sie ab. Die beiden Mädchen wären vor Abscheu und Entsetzen am liebsten im Boden versunken. Flinke Finger tunkten pinselähnliche Geräte in irdene Töpfe, die plötzlich am Boden standen. Sie beschmierten Caterina und Antonia mit einer übel riechenden roten Flüssigkeit, die sofort steif wurde. Der Geruch verlor sich. »Das wird seinen Appetit anregen«, sagte die Bertini. Andere Hexen betupften und bepuderten die Mädchenkörper. Dann eilten einige fort. Caterina versuchte, ihnen nachzuschauen, konnte aber nicht feststellen, wohin sie sich wandten. Sie waren ganz unvermittelt wieder da und hielten weiße Gewänder hoch. Es handelte sich um einfache Leinenkleider, ohne Taschen. Sie rochen muffig und schimmelig. Es waren Leichenhemden. Schnatternd streiften die Hexen ihnen die Hemden über. Sie waren steif und knisterten. Fast bis auf den Boden reichten sie; nur die nackten Füße der Mädchen schauten darunter hervor. Antonia schluchzte wieder. Die dreizehn Weiber hantierten weiter herum und brachten kleine, eigenartig geformte Gefäße zum Vorschein. Sie fuhrwerkten mit den Händen darin herum. Als sie die Finger hoben, konnten Caterina und Antonia sehen, dass sie sie über und über mit cremeähnlichen Substanzen beschmiert hatten. Die Hexen strichen ihnen nun über die Gesichter. Antonia Biasi wollte den Kopf senken und das Gesicht mit den Händen bedecken, doch die Hexen zischten und hielten sie so fest, dass sie sich nicht rühren konnte. Sie rieben und malten, kneteten und pinselten an ihren Gesichtern herum. Caterina glaubte, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Dann traten die Weiber zurück.
»Es ist vollbracht«, sagte die Bertini. »Und ihr habt es gut gemacht. Ich danke euch. Führt sie nun zum Brautbett!« Caterina und Antonia mussten sich umdrehen. Vor dem Teufelsaltar schob sich mit gespenstischer Langsamkeit ein flacher, breiter Stein in die Höhe. Er schien wirklich aus dem Boden zu wachsen. Seine Oberfläche schimmerte, wirkte wie poliert. Die Hexen summten eine seltsame Melodie und hakten die Mädchen unter. Langsam, fast behutsam, brachten sie sie zu dem Stein. Ihre Bewegungen hatten etwas Gravitätisches, wirkten auf groteske Weise würdevoll. Die Bertini war hinter dem flachen Stein. »Seht mich an!«, sagte sie. Caterina und Antonia konnten nicht anders. Sie mussten ihr in die bösen Augen schauen. Allmählich fühlten sich beide von einer Art Strömung fortgezogen. Ein süßes Gefühl lullte sie ein. Die Hexen hielten sie fest, dass sie nicht umkippten. Dann legten sie sie auf das Brautbett, so, dass sie einander nicht berührten und genügend Platz zwischen ihren Körpern blieb. Caterina und Antonia sahen wie Tote aus. Die schwarzen Weiber hatten sie abscheulich geschminkt. Weiß wie Schnee waren ihre Gesichter, aber die Augen, die Nasen und Münder waren dunkel und wurden von schrecklichen Malen eingerahmt. Hinter die Ohren und auf die Oberkörper, die ein wenig aus den Leichenhemden herausschauten, waren Satanssymbole gezeichnet. Sie waren wie erstarrt, aber ihre Augen standen offen, der Blick war nach oben gerichtet. Laura Bertini hob beide Hände. Die Hexen verstummten. Da hörten es alle. Schritte schlurften heran. »Er kommt!«, sagte Laura Bertini, und ein diabolisches Lächeln nistete in ihren Mundwinkeln. »Endlich!« Sie drehte sich um, strebte aus der Teufelskirche in einen der vielen Gänge, machte seine Gestalt aus. Aber irgendetwas schien nicht zu stimmen mit ihm. Er machte einen hündischen, geprügelten Eindruck. »Was ist passiert?«, fragte sie drohend.
Er gab eine Reihe fürchterlicher Laute von sich, die keiner außer ihr zu deuten wusste. »Dorian Hunter ist also noch einmal entkommen. Das wird er mir büßen. Später. Jetzt können wir uns nicht um ihn kümmern.« Sie streckte die Hände aus und tastete seinen Schädel ab. »Zur Hölle! Er hat …« Laura hob ihr Gewand hoch, griff darunter und brachte eine zweite Gummimaske zum Vorschein. Rasch streifte sie sie über sein zerfressenes Antlitz. Er knurrte eigenartig. Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn aus dem Gang. Er wankte, hatte Schwierigkeiten beim Gehen. Die Verwesung war weiter fortgeschritten. Er bot einen grausigen Anblick. Die Hexen klatschten träge in die knochigen Hände und stimmten ihren Singsang an. Lächelnd führte die Bertini ihren Mann in ihre Reihen, ließ ihn los und trat hinter das Kopfende des Brautbettes. »Du wirst nun Hochzeit feiern mit gleich zwei allerliebsten Herzchen, mit jungen, zarten Dingern, wie du sie immer gern gemocht hast.« Der Untote heulte auf. Laura Bertini lehnte sich zurück, stemmte die Fäuste in die Seiten und lachte, dass es schaurig von den Wänden widerhallte.
Marco Bertini spürte, wie sein ganzer Leib steif wurde. Es durchlief ihn eisig. Er hatte nicht mehr die Gewalt über seine Gliedmaßen, noch über sein Gehirn. Er sah, wie sie sich näherten. Sie sangen und packten ihn. Er fühlte den Griff ihrer Hände nicht. Vorsichtig hoben sie ihn hoch und brachten ihn in horizontale Lage. Alle zwölf bemühten sich um ihn. Nur Laura stand hinter dem Brautbett. Sie lachte nicht mehr, guckte ihn nur noch auf ihre eigentümliche Weise an. Marco Bertini spürte die Berührung mit dem blanken Stein nicht. Doch als sie ihn losließen, wusste er, dass er nun auf dem Brautbett lag. Er konnte den Kopf nicht wenden. Nur seine Augen rollten lang-
sam hin und her, erfassten mit stumpfem Blick die Körper der beiden Mädchen. Dann witterte er ihre Ausstrahlung. Sie war Duft für ihn. Süße Schauer durchliefen ihn in Vorfreude auf das Leben, die Erneuerung. Er hörte etwas knurren und wusste, dass es aus seinem Mund gekommen war. »Er war fast am Ende«, sagte Laura mit tiefer Stimme, »aber jetzt kommt er wieder in Fahrt.« In Fahrt, dachte er. In Fahrt? Wie meinte sie das? Was war er? Wie lebte er? Er stellte Überlegungen an, die für ihn gänzlich neu waren, spuckte und fauchte, streckte die Hände aus. Die Mädchen waren von erquickender Frische, das spürte er fast körperlich. Er konnte es kaum noch erwarten, sie zu haben, sich auf seine Art mit ihnen zu vergnügen. Aber da war etwas, das ihn bremste. Da war etwas, das ihm zuzuflüstern schien, das ihn in andere Bahnen lenken wollte. Er begriff es nicht. Laura gab den Hexen einen Wink. Eine eilte davon und kehrte mit dem Instrument zurück. Mit seiner Amati. Mit spitzen Fingern hielt sie Violine und Bogen empor. »Er wird darauf spielen, wenn er wieder richtig bei Kräften ist. Wenn er es den beiden besorgt hat, wird er mächtig Lust auf ein kleines Konzert haben.« Sie verschränkte die Arme und nahm keinen Moment den Blick von ihm. Spielen, dachte Marco Bertini. In Fahrt. Wie sollte er jemals wieder die richtigen Griffe finden, den Bogen bewegen können, wenn seine Finger so entsetzlich steif waren? Was ging mit ihm vor? Er sog die Ausstrahlung der Mädchen ein, und erneut durchlief ihn das belebende Gefühl. Er vermochte sich nun wieder besser zu bewegen, trotzdem war ihm mit einem Mal bewusst, was für ein merkwürdiges Wesen er doch sein musste. Die Erinnerung kam. Laura hatte ihm zu neuem Leben verholfen. Er hatte wieder Violine spielen und sich mit seinen Gespielinnen vergnügen können. Vergnügen? dachte er und erschrak. Nannte man das so? Oh Satan! Es ist alles Lüge. Laura hatte ihm etwas vorgegaukelt, und er
hatte geglaubt, alles sei so wie früher. Er war wirklich überzeugt gewesen, jung, schön und begehrenswert zu sein. Aber dann, in der Villa, hatte dieser Mann – dieser Dorian Hunter – ihm den Spiegel gezeigt, hatte ihn gezwungen, hineinzublicken. Zum ersten Mal hatte er sich nach seinem Tod angeschaut und erkannt, wie er wirklich aussah. Er heulte auf. »Er kommt fast um vor Gier«, sagte Laura. »Er muss es rasch machen, sonst ist es aus mit ihm. Die Fäulnis greift weiter um sich. Seht, nun zerfrisst sie auch seine zweite Gesichtshaut!« Die Hexen sangen ein schrilles, obszönes Lied. Gesichtshaut, dachte Marco Bertini bitter. So hatte sie es immer genannt. Aber jetzt wusste er, dass das, was da auf seiner Fratze gärte und verfaulte, keine Haut, sondern eine Maske war – Gummi, genau wie die Handschuhe, die er beim Spiel zu tragen pflegte. Billige Täuschung, die sie ersonnen hatte, um ihn bei Laune zu halten und ja nicht gegen sich aufzubringen. Lüge! »So pack sie doch!«, drängte Laura. »So nimm sie doch, die beiden jungen Dinger! Brich ihnen die Schädel auf und sauge sie endlich aus, mein Gemahl!« Das Ungeheuer, das Marco Bertini war, knurrte. Ein Beben durchlief seinen wüsten Leib – dann richtete er sich tatsächlich auf. Aber sein Augenmerk richtete sich plötzlich nicht mehr auf Caterina Schifano und Antonia Biasi, sondern – auf die Hexen. »Was glotzt du mich so an?« Laura verzog den Mund. »Du sollst die Mädchen nehmen, hörst du, Marco? Beeil dich! Sonst hast du deine Chance vertan und wirst keine Hochzeit mehr feiern. Keine! Verstanden?« Er brüllte und schüttelte den Schädel. »Hölle und tausend Teufel!«, sagte eine der Hexen. »Er will sie nicht. Er kommt ja auf uns zu! Er will uns!« Laura schrie zornig auf. Marco Bertini stieg von dem Brautbett. Die Ausstrahlung der Mädchen hatte ihn wenigstens so weit erquickt, dass er sich wieder richtig bewegen konnte.
Etwas in ihm war zerbrochen. Laura hatte ihn hintergangen, hatte ihn nicht so wiederhergestellt, wie sie immer behauptet hatte. Nein, sie hatte es nicht zu seinem Wohl getan. Er bewegte sich auf sie zu.
Dorian Hunter hörte das Singen und die Schreie und lief. Er wusste, dass sich die Entwicklung der Dinge der Eskalation näherte. Der Spiegel behinderte ihn, aber er wollte ihn auf keinen Fall zurücklassen. Die winzigen Metallglieder der Kette hatte er im Labyrinth ausgestreut, die gnostische Gemme steckte nun in seiner Jackentasche. Blaues und rotgelbes Licht wurde am Ende des Ganges sichtbar. Er hatte sein Ziel fast erreicht. Er lief so weit, dass er erkennen konnte, was sich dort vor ihm in der Teufelskirche abspielte. Damit die schwarzen Frauen ihn nicht entdecken konnten, kauerte er sich an die Wand, den Spiegel dicht neben sich. Er war bis auf die Haut durchnässt; die Kleidung klebte an seinem Körper. Erste Anzeichen der Erschöpfung machten sich bemerkbar. Die Ereignisse der vergangenen Stunden hatten an seiner Kondition gezehrt. Aber der Dämonenkiller war bereit, den entscheidenden Kampf mit den Hexen und dem Untoten aufzunehmen. Er wartete nur noch auf den richtigen Augenblick für seinen Einsatz. Aufmerksam beobachtete er, was sich vor ihm ereignete. Zuerst hatte er gedacht, Caterina und Antonia wären tot, aber dann hatte er ihre Augen gesehen und gewusst, dass sie nur in Trance schwebten. Der Untote lag zwischen ihnen auf der glänzenden Steinplatte. Da! Jetzt erhob er sich! Dorian sah, dass die Hexen beunruhigt waren. Laura Bertini rief etwas, was er nicht verstehen konnte. Und dann erkannte er aus dem Verhalten des Untoten, was die Stunde geschlagen hatte. Er wandte sich nicht wie geplant den Mädchen zu, sondern den Hexen. Der untote Maestro wusste jetzt, dass er nur noch ein Gebilde aus Knochen und verwesendem Fleisch war, wusste, was seine Frau ihm mit seiner Wiedererweckung angetan hatte. Dafür wollte er sich rä-
chen. Eine Gemütswandlung, die Dorian zu seinen Gunsten ausnutzen musste. Dorian packte den Spiegel und rannte los, in die Teufelskirche hinein. »Haltet ihn auf!« Die Stimme der Bertini überschlug sich. »Schlagt ihn, und brennt ihm mit Fackeln das letzte Fleisch von den Knochen, sonst …« Die Bertini verstummte, denn sie hatte den Dämonenkiller entdeckt. Sie stieß einen spitzen Warnlaut aus, aber die Reaktion der zwölf Hexen kam zu spät. Schon war Dorian heran und hielt den ovalen Spiegel aus der Villa hoch. Der Untote sah sich darin und stieß einen verzweifelten Schrei aus. Nichts konnte ihn mehr erschüttern als sein eigener Anblick. Er heulte, schüttelte sich und hob drohend die Faust gegen den Spiegel. Sein einst schönes Antlitz war verwüstet. Auch die zweite Gesichtsmaske konnte das nicht mehr verheimlichen, denn sie war ja von der fortschreitenden Verwesung zersetzt worden. Er schlug nach dem Spiegelbild. Aber Dorian zog den Spiegel fort und hob ihn hoch. Er schleuderte ihn nach der wütenden Laura Bertini. Sie wich aus. Der Spiegel krachte neben ihr zu Boden, am Kopfende des Brautbettes; das Glas blieb heil. Der Untote stapfte brummend auf seine Gemahlin zu. »Ja«, schrie sie ihn an, »ja, ich will es dir nicht mehr verheimlichen, du Narr. Ich habe dich vom Tod zum Leben erwecken lassen und zu einem Scheusal gemacht, wen ich dich bestrafen wollte. Du hast es nicht anders verdient. Du hättest eher darüber nachdenken sollen, wie sehr du mich quältest, du Schürzenjäger.« Sie hieb mit den Fäusten nach seiner Fratze. Der Untote ließ es sich gefallen. Sie konnte ihm nicht wehtun. Mit zwei langen Schritten war er vor ihr, ergriff ihre Unterarme, zwang sie nieder und legte die Arme um sie. »Nein!« Sie wimmerte. »So helft mir doch!« Die Hexen wurden unsicher, wussten nicht mehr recht, wem sie sich zuerst zuwenden sollten – dem Dämonenkiller oder der be-
drängten Laura Bertini. Einige liefen aufgelöst hin und her, zwei zerrten an dem klebrigen, nassen Gewand des Untoten, um ihn fortzuziehen. Sie kreischten und holten damit weitere Kameradinnen herbei. Drei wandten sich dem Dämonenkiller zu. Sie zeigten ihm die Krallen und fluchten bösartig. Dorian riss die gnostische Gemme hoch. Der Edelstein funkelte. Er murmelte eine Beschwörungsformel und trat ihnen mutig entgegen. »Tu es weg!«, riefen sie mit grellen Stimmen. »Du machst es nur noch schlimmer. Wir werden dich zerreißen.« Er stieß die Hand mit der Gemme vor. Da heulten sie vor Wut und wichen ein Stück zurück. Sie spuckten und fluchten und gebärdeten sich wie wahnsinnig. Zur gleichen Zeit brüllte der Untote auf. Laura Bertini wand sich unter seinem mörderischen Griff und schrie. Ein unglaublicher Tumult entstand. Dorian schritt beherzt den drei Frauen entgegen. Sie hätten ihn gern mit Tritten und Schlägen zu Boden geworfen und ihre Krallen in seine Kehle geschlagen, aber das brachten sie nicht fertig. Die magische Kraft der gnostischen Gemme war zu groß; immer wieder wurden sie zurückgeworfen. Einige der schwarzen Weiber, die total aus dem Häuschen geraten waren, rannten wild hin und her, laut keifend und heulend. Andere zerrten an dem Griff des im Felsquader steckenden Richtschwertes, wieder andere holten Fackeln und magische Flüssigkeit herbei, die sie gegen den Untoten einsetzen wollten. Der Untote warf eine der beiden Angreiferinnen, die ihm gegen die Wirbelsäule trat, mit einer einzigen Bewegung des Armes zu Boden. Die andere ließ daraufhin vor Schreck sein Gewand los. Laura Bertinis Schreie verebbten in einem erstickten Laut. Währenddessen hatte Dorian Hunter die drei Hexen bis an die Wand getrieben. Sie schlichen geduckt rückwärts. Ihre Beschimpfungen waren abscheulich, aber damit konnten sie ihn nicht beeindrucken. Er bekam eine der schwarzen Fackeln zu fassen und riss sie aus der Halterung. Drohend schwang er sie. Das Feuer konnten die He-
xen erst recht nicht leiden. Sie hatten es entfacht, aber jetzt, da die Flammen nach ihren Gesichtern züngelten, ergriffen sie heulend die Flucht. Der Dämonenkiller lief quer durch die Teufelskirche und gelangte wieder an das Brautbett. Caterina und Antonia lagen in Trance. Er musste sie binnen Sekunden in die Wirklichkeit zurückrufen, wenn er sie noch heil aus diesem Tohuwabohu herausbekommen wollte. Die Hexen mit den Fackeln und der magischen Flüssigkeit hatten den Untoten erreicht. Sie setzten sein feuchtes Gewand in Brand. Es prasselte. Die Weiber kreischten triumphierend. Als sie ihm auch noch magische Flüssigkeit über den Schädel gossen, ließ er von seiner Frau ab, fuhr herum und schlug knurrend nach ihnen. Doch sie sprangen immer wieder zurück und wichen ihm geschickt aus. Zu viert oder fünft setzten sie ihm zu und brachten ihn in immer größere Wut. Dorian hatte es geschafft. Die beiden Mädchen wachten aus der tiefen Hypnose auf. Caterina richtete sich als Erste auf und blickte ihn ungläubig an. Antonia klammerte sich an ihr fest. Ihr Blick war flackernd. »Kommt!«, sagte Dorian. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Nichts wie fort von hier!« Caterina rappelte sich auf und zog Antonia mit von dem Brautbett. Das Grauen stand in ihren Gesichtern zu lesen. »Mein Gott!«, sagte Caterina. »Mein Gott, wie müssen wir bloß ausschauen!« Dorian nahm sie bei der Hand. »Das ist jetzt unwichtig. Folgt mir! Es ist notwendig, dass wir uns gegenseitig festhalten und auf keinen Fall loslassen.« Sie rannten los. Die Hexen kämpften immer noch mit dem Untoten. Der Schreckliche wollte sich nicht unterwerfen. Er heulte und setzte zu immer neuen Attacken an. Eines der schwarzen Weiber hatte er wieder zu Boden geworfen – trotz des Feuers, das ihn jetzt fast einhüllte. Die Bertini hatte sich von dem Überfall ihres untoten Mannes erholt und sprang über den Satansaltar zu dem großen Quader hinauf,
um sich das Richtschwert zu holen. Eine Gruppe Hexen tobte hinter dem Dämonenkiller und seinen Schützlingen her. Dorian ließ Caterina und Antonia an sich vorüber. »Da lang!«, rief er und wies mit dem Finger in eine Richtung. Er selbst blieb stehen und schleuderte die Fackel, die er immer noch in der freien Hand gehalten hatte. Die Fackel flog den keifenden Hexen entgegen. Eine stolperte und verschüttete magische Flüssigkeit aus einem irdenen Krug. Jäh zuckten große Flammen hoch. Da stimmten die Hexen ein schrilles Geschrei an, hoben die Hände vor die Augen und drängten sich verängstigt gegeneinander. Dorian lief den fliehenden Mädchen nach. Er warf einen Blick über die Schulter zurück. Das Letzte, was er sah, war, dass der Untote die schwarzen Weiber abgewimmelt hatte und zu Laura hinüberwankte. Laura Bertini stand mit rachelüsterner Miene auf dem Felsblock und hob das Richtschwert über den Kopf.
Dorian stieß in der Finsternis fast mit Caterina zusammen. Sie zitterte. Antonias Gemütszustand war schlecht, er konnte sie schluchzen hören. »Ihr müsst euch Mut machen«, sagte er. »Wir werden es schon schaffen.« »Wo sind wir denn, Dorian?«, wollte Caterina wissen. »Unter einem römischen Amphitheater an der Via Monte Mario. Wir stecken mitten in einem Labyrinth.« »Komisch«, entgegnete die Blondine, »ich wusste gar nicht, dass es in dieser Gegend ein Amphitheater gibt – geschweige denn ein Labyrinth.« »Wie kommen wir hinaus?«, fragte Antonia mit bebender Stimme. Dorian zog die gnostische Gemme aus der Tasche. »Ich habe die kleinen Kettenglieder auf dem Weg verstreut. Ich hoffe, dass sie uns helfen werden.« »Aber ohne Licht …«
»Keine Sorge.« Er streckte die Hand mit der Gemme aus und führte die Mädchen. Ungefähr fünfzig Meter weit ging es geradeaus, dann verspürten sie einen feinen Luftzug. Er war das Zeichen dafür, dass sie einen Querstollen erreicht hatten. Dorian musste entscheiden, wohin sie sich wandten. Er hob sein Amulett. Da ertönte ein silbriges Klingeln. Er hatte genau gehört, aus welcher Richtung es kam. Rasch zog er die Mädchen mit sich und bog nach links ab. Auf diese Weise streiften sie rund eine Viertelstunde lang durch das Labyrinth. Immer, wenn er das silbrige Klingeln hörte, wusste Dorian, dass sie ein weiteres Glied seiner Kette gefunden hatten. Plötzlich bemerkten sie rechter Hand ein blaues Licht. Es schien in unendlicher Ferne zu sein, glomm aber so intensiv, dass die Mädchen unwillkürlich stehen blieben. »Kommt!«, sagte Dorian. »Das ist nicht der richtige Weg.« »Ich will hin. Vielleicht liegt dort der Ausgang«, meinte Antonia. Caterina war unschlüssig. Sie drängte sich gegen den Dämonenkiller, und dieser versetzte in warnendem Tonfall: »Antonia, bleibe bei uns! Es ist eine Falle der Hexen. Sei vernünftig!« Sie hörte nicht darauf, sondern riss sich los. Und ehe Caterina oder Dorian sie zurückhalten konnten, rannte sie durch einen Seitengang auf das verführerisch glitzernde Licht zu. Ihre nackten Fußsohlen verursachten patschende Geräusche auf dem steinigen Untergrund. Dorian lief ihr nach, Caterina folgte. Er beeilte sich, denn er ahnte, dass dieses Zwischenspiel tödlich für das blasse Mädchen ausgehen konnte. Die Hexen versuchten, sie zu locken. Das blaue Licht rückte näher. Antonia stieß begeisterte Laute aus. Sie lief etwa zehn Meter vor dem Dämonenkiller, aber er schaffte es kaum, den Abstand zu verringern. Dann erreichten sie das Licht, und Antonia blieb kurz stehen. Entsetzt beobachtete Dorian, wie sie lächelnd darauf zuging. Das rätselhafte blaue Licht flackerte in einer Felsnische, und in der Nische saß mit kerzengeradem Rückgrat ein Skelett. Die Farbe der Knochen war gelblich, im Schädel klaffte ein faustgroßes Loch. Antonia strebte auf die Erscheinung zu. Wieder war sie wie hypnotisiert. Sie schritt geradewegs in ihr Verderben.
Dorian bekam sie am Ärmel ihres weißen Leichenhemdes zu fassen. Er riss sie mit aller Macht zurück. Sie drehte sich um, stürzte gegen seine Brust und klammerte sich plötzlich weinend an ihm fest. »Um Himmels willen, Dorian – was haben Sie denn mit mir vor?« Er deutete auf den Platz zwischen ihnen und der grausigen Nische. Dort klaffte ein Loch. Er blickte hinab in gähnende Tiefe. Wie weit es nach unten ging, konnte man nur schätzen. »Du wärst in dein Grab gefallen«, sagte Caterina erschüttert. »Antonia, lass uns weitergehen und nur noch auf Dorians Anweisungen hören!« Sie kehrten zu dem Punkt des Labyrinths zurück, von dem aus sie das blaue Licht gesehen hatten, und folgten wieder den Kettengliedern. Als sie einige Zeit unterwegs waren, vernahmen sie hinter sich Lärm. Etwas näherte sich mit Poltern und Kreischen. »Das sind die Hexen«, sagte Caterina. »Wenn sie uns erwischen, zerfleischen sie uns.« »Ich habe solche Angst«, sagte Antonia und verkrampfte ihre Finger um Dorians Hand. »Sie dürfen uns nicht kriegen.« Dorian schritt schneller aus.
Das Feuer breitete sich in der Teufelskirche aus. Die magische Flüssigkeit, die überall verschüttet war, stellte eine vorzügliche Nahrung für die Flammen dar. Es war nicht lange her, seit der Dämonenkiller mit den Mädchen den schrecklichen Raum verlassen hatte. Die Hexen liefen verwirrt und ängstlich herum und suchten nach einem Ausweg. Laura Bertini kämpfte mit dem Untoten, der ihr Gemahl war. Sie hieb mit dem Richtschwert auf ihn ein. Zwei Knochen hatte sie ihm bereits zerschlagen, aber er stand weiter aufrecht und versuchte, sie zu packen. Die zwölf schwarz gekleideten Weiber drängten sich zu einer Gruppe zusammen und stimmten ihren Singsang an.
»Helft mir doch!«, rief die Bertini. »Worauf wartet ihr denn?« Sie achteten nicht auf sie. Mit spitzen Schreien hüpften sie um die Flammen herum. Einige Gewänder fingen Feuer, aber die Kameradinnen erstickten die Flammen. Gemeinsam erreichten sie den Ausgang. »Kommt hierher!« Laura Bertini war außer sich über das Benehmen der zwölf. »Warum lasst ihr mich im Stich? Ihr könnt doch nicht einfach weglaufen?« Die Hexen lachten höhnisch, dann drehten sie sich um und rannten davon. Laura wünschte sich nichts sehnlicher, als bei ihnen sein zu können. Verzweifelt holte sie wieder mit dem Schwert aus. Der Untote wich geschickt zur Seite. Die Schneide krachte auf die Kante des großen Quaders nieder und – zerbrach. Da gab der Untote einen zufriedenen Laut von sich. Laura sah ungläubig auf den Stumpf des Schwertes. »Bleib mir fern!«, rief sie dem Untoten warnend zu. »Wenn mein ganzer Zorn über dich kommt, ist es aus mit dir. Du tust gut daran, endlich brav zu sein.« Er torkelte knurrend auf sie zu. Schon öffneten sich seine abscheulichen Klauen. Die Fingerknochen knackten. »Du kriegst ein Mädchen«, versicherte ihm die Bertini. »Bestimmt! Ich besorge dir das schönste und saftigste Mädchen von ganz Rom. Du weißt, dass ich das kann.« Er schlug nach ihr. Sie konnte gerade noch zurückspringen, rutschte aus und fiel von dem Felsklotz. Wie eine Katze kam sie wieder hoch und lief in die Ecke, wo die Hexen einige Geräte abgelegt hatten. Die Flammen prasselten und knisterten. Vor ihrer glutroten Kulisse erhob sich die Gestalt des Untoten. Er sprach Unverständliches. Dann klopfte er sich gegen die Brust, bückte sich und sprang zu ihr herunter. »Du bist jetzt artig, Marco!«, schrie sie der teuflischen Fratze zu. »Wage es nicht, mich noch mal anzurühren!« Er kam immer näher. Seitdem er begriffen hatte, wie es wirklich
um ihn bestellt war, kannte er keinen Respekt, keine Treue mehr. Er drängte sie ganz in die Ecke zurück und machte auch nicht halt, als sie sich hinunterbeugte und seine Amati hochhob. »Da!« Sie streckte sie ihm entgegen. Den Bogen hatte sie in der anderen Hand. »Es ist dein bestes Stück – dein Leben. Du willst darauf spielen, nicht wahr? Versuche es doch! Es wird dir gelingen.« Sie wollte ihm die Violine in die Klauen drücken und sich dann davonstehlen. Es war ihre einzige Chance. Sie strich probeweise ein paar Mal über die Saiten. Es klang erbärmlich, doch sie hoffte, ihn trotzdem damit locken zu können. Und richtig – der Untote blieb stehen. Täuschte sie sich, oder verdrehte er den Schädel wirklich wie in Verzückung? Sie spielte unbeholfen eine Tonfolge, wie er es ihr einmal beigebracht hatte. Er stöhnte. Laura brach ab und hielt ihm die Violine entgegen. Er guckte sie an und schien mit sich zu ringen. Dann riss er eine Krallenhand hoch, schlug gegen das Instrument und fegte es zur Seite, dass es durch die Teufelskirche flog und an einer Wand zerbarst.
Antonia Biasi jammerte und begann ein wenig zu hinken. »Wir schaffen es nicht. Ich kann nicht mehr. Lasst mich hier zurück! Rettet euch! Ich bin bloß eine Last für euch.« Dorian blieb stehen, schlang seine Arme um sie, hob sie hoch und trug sie. »Caterina, bleibe dicht bei mir! Du darfst mich nicht verlieren, hörst du?« »Ich halte mich an deinem Jackenzipfel fest«, gab die Blonde zurück. Sie liefen und liefen, und hinter ihnen rannten die zornigen Hexen, kreischend und fluchend. Es ließ sich kaum schätzen, wie weit sie noch entfernt waren. Hundert oder zweihundert oder etwa nur noch fünfzig Meter? Das Echo hallte von allen Seiten wider, überall gaukelten die verschlungenen Gänge Verwirrendes vor. Dorian hielt die gnostische Gemme, den Edelstein mit dem eingeschnittenen Abraxas und der Schlange, die sich in den eigenen
Schwanz biss. Das Amulett wies ihm die Richtung, andernfalls hätte er längst die Orientierung verloren. Nur die schwarz gekleideten Weiber schienen sich in den Stollen ohne jede Hilfe zurechtzufinden. Dann, ganz unvermittelt, rückte ein matt schimmerndes Rechteck in ihr Blickfeld. »Das ist wieder eine Falle der Hexen«, sagte Caterina. »Was machen wir bloß, Dorian? Wir müssen umkehren.« Er schüttelte den Kopf. »Du irrst dich. Wir sind am Ausgang.« Antonia begann vor Freude zu weinen. Sie legten die letzten Meter zurück, die sie von dem rettenden Schlupfloch trennten. Der Dämonenkiller sorgte dafür, dass auch in den letzten Sekunden ihrer Flucht keine Panik aufkam. Er stellte Antonia auf die Beine. Dann zeigte er ihr, wie sie durch die flache Öffnung kriechen musste. Gleich darauf krabbelte Caterina Schifano nach draußen. Dorian horchte. Die Hexen kamen herangehetzt. Er konnte sie nicht sehen, doch er wusste, dass sie nicht mehr fern waren.
Sie standen im Freien. Es regnete nicht mehr, obwohl der Himmel immer noch wolkenverhangen war. Antonia stieß einen Jauchzer aus und umarmte erst Caterina, dann den Dämonenkiller. »Wir müssen weiter«, sagte Dorian. »Den Hügel hinauf. Oben steht der Wagen.« Er schaute sich um, konnte aber nirgends einen Menschen entdecken. Wo steckte Jeff Parker nur? Wenn eines der Mädchen am Hang ausrutschte, konnte es den Hexen doch noch in die Hände fallen. Es wäre gut gewesen, Beistand durch Parker zu haben. Sie liefen über den runden Platz in der Mitte des Amphitheaters und danach die Treppe zwischen den steinernen Bankreihen hinauf. Die Mädchen hatten ziemliche Mühe, den glitschigen Hang hinaufzuklettern. Dorian musste ihnen immer wieder helfen. Einmal glitt auch er aus. Sie gelangten zu dem Platz, auf dem die schwarze Limousine der Hexen stand. »O Himmel, da ist das Auto wieder!« Antonia schlug die Hände
vors Gesicht. »Damit haben sie uns entführt. Es ist alles so schrecklich!« Es raschelte hinter der Limousine. Caterina und Antonia stießen gleichzeitig Schreie aus. Dorian hob die gnostische Gemme. Auch ihm fuhr der Schreck durch die Glieder, denn die letzten Ereignisse hatten ihm nervlich zu schaffen gemacht. Sekunden später glätteten sich seine Züge jedoch. Hinter dem schwarzen Wagen erschien Jeff Parker. Er grinste und gab ein Handzeichen. Dann tauchten zahlreiche Männer aus der Versenkung auf. Sie hatten Fotoapparate vor den Bäuchen hängen. »Wir hatten uns hier versteckt, um die Hexen nicht zu verscheuchen, falls sie erscheinen würden«, erklärte Parker. »Aber wir haben wohl die Chance verpasst. Na, Hauptsache, ihr seid in Sicherheit.« Dorian deutete zum Amphitheater hinab. »Ihr tut gut daran, dort unten Aufstellung zu nehmen. Sie können jeden Augenblick aus dem Labyrinth kommen. Wer einen guten Schuss machen möchte, der beeile sich jetzt.« Die Bildreporter kamen wie auf ein Startzeichen hin hinter der Limousine hervor und hasteten den Hügel hinab. Ihre Kameras schlugen gegen ihre Bäuche. Es waren mindestens zwanzig Mann, die Parker da aufgetrieben und mitgebracht hatte. Dorian wartete mit Jeff Parker und den beiden Mädchen neben der Motorhaube der rätselhaften Limousine. »Den Wagen haben die Jungens schon abgelichtet«, erläuterte Parker. »Wenn sie jetzt auch noch die zwölf Furien auf ihre Streifen kriegen … Na, das gäbe vielleicht einen Skandal in Rom! Ich schätze, die Blätter würden in doppelter und dreifacher Auflage verkauft werden. Nach den Beschreibungen, die du mir geliefert hast, sind es wirklich alles Frauen der obersten Gesellschaftsschicht.« »Das kann ich bestätigen«, sagte Caterina, und Antonia nickte ernst. Sie schwiegen. Stille lastete über dem Amphitheater, Stille, die jählings von einem spitzen Schrei zerrissen wurde. Die Fotoreporter lagen hinter Steinbänken auf der Lauer, hatten die Apparate schon im Anschlag, wollten sich den Moment der Momente auf keinen Fall
entgehen lassen. Einer hatte sich selbst zum Anführer erklärt. Die erste Hexe kam aus dem Loch gekrochen. Die anderen folgten ihr auf dem Fuße. Suchend blickten sie sich um. Sie sahen grausig aus in ihren schwarzen Kleidern und mit den weißen, stark geschminkten Gesichtern. Lauthals stießen sie grässliche Flüche aus und spuckten um sich. Einige hatten irdene Töpfe mit magischer Flüssigkeit mitgebracht, andere ließen probeweise ihre Messer oder Knüppel durch die Luft sausen. Eine hatte sogar eine lebendige Schlange in der Faust. »Jetzt!« Der Anführer der Reporter hatte es gerufen. Die Männer kamen aus ihren Deckungen gestürzt. Sie benutzten Blitzlichter wegen der schlechten Witterungsverhältnisse. Beherzt rannten die Journalisten hin und her und suchten nach immer neuen, besseren Positionen, um die Hexen auf die Filme zu bannen. Diese kreischten und duckten sich, deckten die Gesichter mit den Krallenhänden ab. Aber es nutzte ihnen nichts. Die Hexen von Rom waren verraten. Sie warfen die Waffen weg und ergriffen die Flucht. Die Reporter waren ihnen auf den Fersen. Jeff Parker lief auch los, um das Schauspiel nicht zu verpassen. Nach einiger Zeit kehrte er zu Dorian und den Mädchen zurück und sagte: »Die Hexen haben genug. Es gibt keine, die nicht identifiziert worden ist. Himmel, wenn die Namen durch die Presse gehen, wird die ganze römische Society aus den Angeln gehoben. Das macht vielleicht Schlagzeilen!« Auch die Reporter kamen wieder. Einige hatten Handscheinwerfer aus ihren Wagen mitgebracht. Der Wortführer hatte sogar weiße Kreide besorgt, mit der er im Labyrinth den Rückweg markieren wollte. »Wir können eindringen«, sagte er. »Was da drinnen verborgen ist, dürfen wir uns auf keinen Fall entgehen lassen.« »Ich denke, Sie werden nicht mehr viel vorfinden. Seien Sie vorsichtig!«, riet Dorian Hunter. Die zwanzig Männer eilten durch das schmale Loch in die unterir-
dischen Gänge und schlugen die Richtung ein, die der Dämonenkiller ihnen in etwa bezeichnet hatte. Dorian zog es vor, draußen zu warten, denn er war sicher, nicht mehr gebraucht zu werden. Die Reporter hasteten wie ein beutehungriges Rudel Wölfe durch das Labyrinth. Schon bald machten sie den Feuerschein aus. Sie gelangten zur Teufelskirche, konnten jedoch nicht hinein. Flammen, die bis zur Decke emporzüngelten, versperrten ihnen den Weg. Voll Grauen schauten sie nur noch auf den untoten Maestro Marco Bertini, der am ganzen Leib brannte. Er hatte Laura in der tödlichen Umklammerung. Ein Loch klaffte in ihrem Kopf. Das Feuer breitete sich noch mehr aus und verhüllte die schreckliche Szene. Keiner der Reporter hatte ein gutes Foto schießen können.
Dorian Hunter war in die Jugendstilvilla zurückgekehrt. Er stand am Fenster, blickte auf die treibenden Schneeflocken und den Straßenmatsch hinaus, rauchte und stieß den Qualm aus, der sich an der Fensterscheibe emporkräuselte. Immer wieder musste er über die Ereignisse in Rom nachdenken. Die Flammen hatten wieder einmal ihre reinigende Wirkung bewiesen. Die Bertinis waren vernichtet. Es blieben die zwölf Hexen. Doch die würden nie wieder Unheil anrichten können. Falls nicht etwas Unvorhergesehenes geschah, würden ihre Namen in den Zeitungen erscheinen. So eine Denunziation reichte aus, um sie zur Untätigkeit zu verdammen. Trevor Sullivan trat ein. Er brachte einen Packen Zeitungen und breitete sie auf dem Tisch aus. »Schauen Sie her!«, sagte er. »Ich habe Ausgaben von gestern auftreiben können. Es sind samt und sonders italienische Zeitungen, denn in den britischen Gazetten wird frühestens heute etwas veröffentlicht. So schnell wie die römischen Fotoreporter haben die Agenturen nicht gefunkt.« Dorian betrachtete die Zeitungen, überflog die groß aufgemachten Berichte und pickte sich den am besten geschriebenen heraus und
las ihn ganz. Es wurde lang und breit über die Ausschweifungen der Hexen von Rom erzählt. Dass schwarze Magie im Spiel gewesen war, wurde aber mit keinem Wort erwähnt. Die zwölf Frauen aus der Runde der Witwen wurden als kaltblütige Mörderinnen hingestellt. Es wurde auch vermutet, sie könnten alle geistesgestört sein. Erst ganz zum Schluss des Artikels gebrauchte der Berichterstatter vorsichtig den Ausdruck »Hexen«. »Es wird einen Prozess geben«, sagte Dorian. »Die zwölf haben nicht mehr die geringste Chance, jemals wieder ihr unheilvolles Treiben aufzunehmen.« »Und die Mädchen? Wie geht es vor allen Dingen dieser Antonia Biasi?«, wollte Sullivan wissen. Der Dämonenkiller wandte sich ihm zu. »Antonia hat keinen Rückfall erlitten. Vielmehr ist sie durch die Ereignisse innerlich abgehärtet worden und nunmehr bereit, wieder voll ins Leben zu treten. Zusammen mit Caterina wird sie bei der Verhandlung als Kronzeugin aussagen.« Er ging an die Weltkarte. Dort, wo auf dem berühmten Stiefel Rom markiert war, vertauschte er die rotschwarze Stecknadel mit einer schwarzen. »Für uns gehört der Fall zu den Akten«, meinte er.
Viertes Buch
Das Geheimnis der Mumie von Neal Davenport
Plötzlich hatte Christine Draxler Angst. Trotz der Hitze war ihr kalt. Zögernd stieg das junge Mädchen die Rampe hinauf, die zur zweiten Terrasse des Tempels der Hatschepsut führte. Sie wunderte sich, dass sie nochmals hierher gekommen war, da sie den Tempel schon gestern besichtigt hatte. Das blonde Mädchen blieb stehen, schob die Tasche höher auf die Schulter und blickte sich forschend um. Eben betrat eine laut schnatternde Reisegruppe amerikanischer Touristen die Punthalle. Der Tempel war an eine Steilwand gebaut, die in der Vormittagssonne rotgelb schimmerte. Ihre Angst wurde immer größer. Etwas hielt sie zurück; sie wollte nicht weitergehen. Ein leises Raunen war in der Luft. Christine schüttelte den Kopf. Sie hatte Kopfschmerzen und fühlte sich nicht gut. Das ungewohnt fette Essen war ihr nicht bekommen. Rasch ging sie weiter. Der links liegenden Punthalle schenkte sie keine Aufmerksamkeit. Sie trat in die rechts gelegene Geburtshalle ein. Einige Touristen studierten interessiert die farbenprächtigen Wandreliefs. Christine blieb unschlüssig stehen. Schon gestern hatte sie sich die Reliefs genau angesehen. Amun zeugt Hatschepsut. Ahmes, die Königinmutter, hört die Verkündigung des Toth, Chnum und die froschköpfige Heket begleiten die schwangere Ahmes zur Entbindung. Das Kind wird geboren. Amun hält es in seinen Armen. Christine wandte rasch den Kopf ab. Sie glaubte eine schemenhafte Gestalt zu sehen, nur einen Sekundenbruchteil lang, eine hagere Gestalt, den Kopf kahl geschoren und mit einem roten Umhang bekleidet. Sie nahm die Sonnenbrille ab und presste die Lippen unwillig zusammen. Das Gefühl der Bedrohung wurde stärker. Christine lief aus der Geburtshalle und blieb schwer atmend auf der Terrasse stehen. Doch irgendetwas trieb sie weiter. Die Stimmen
der Touristen schienen leiser zu werden. Das Mädchen wandte sich nach rechts, ging an der Geburtshalle vorbei und stieg einige Stufen hoch, die zu einem kleinen Säulensaal führten. Die zwölf Säulen waren mit Bildern der Hatschepsut verziert, die mit verschiedenen Göttern dargestellt war. Sie blieb stehen, als sie Schritte hinter sich hörte. Blitzschnell drehte sie sich um. Nein, sie musste sich getäuscht haben; niemand war zu sehen. Sie hob den Kopf und blickte zur obersten Terrasse hinauf. Zwischen den zerstörten Säulen war ebenfalls kein Mensch zu sehen. Es war unwirklich still. Sie ging langsam weiter. Das Echo ihrer Schritte war das einzige Geräusch. Es klang überlaut in ihren Ohren. Je näher sie der Anubiskapelle kam, umso kälter wurde ihr. Sie betrat die kleine, aus drei überwölbten Kammern gebildete Kapelle. An den Wänden prunkten Bilder, die Thutmosis III. und die Königin zeigten, wie sie dem Anubis Opfer darbrachten. Die Kapelle war leer. Ihr Blick fiel auf einen Steinsockel – und da entdeckte sie etwas Ungewöhnliches. Auf dem Sockel lag ein kleines Totenschiffchen aus Ton und Holz, wie man es den Toten im alten Ägypten als Grabbeigabe überlassen hatte, damit sie darin den Himmel und die Unterwelt durchfahren konnten. Christine blieb vor dem Totenschiff stehen. Vorsichtig streckte sie den rechten Arm aus. Das Schiff war mit schwarzer Patina bedeckt. Es zog die junge Studentin magisch an. Ihre Finger strichen über die Grabbeigabe, und es war ihr, als würde sie einen leichten elektrischen Schlag bekommen. Sie wollte die Hand zurückziehen, doch es gelang ihr nicht; ihre Finger schienen festgeklebt zu sein. Dann hörte sie die Stimme. Sie war in ihrem Hirn. Laut und deutlich sprach sie – doch die Worte waren unverständlich. Das Geräusch nackter Füße auf dem Boden ließ sie herumfahren. Drei Gestalten umringten sie. Bevor sie noch schreien konnte, legte sich eine kräftige Hand auf ihren Mund. Die Stimme in ihrem Kopf wurde lauter, dröhnender. Der Druck gegen ihre Schläfen war uner-
träglich geworden. Undeutlich nahm sie wahr, was mit ihr geschah. Die kahlköpfigen Männer hoben sie hoch und trugen sie durch die Kapelle. Sie versuchte sich zu wehren, doch ihre Glieder waren unendlich schwer; jede Bewegung bereitete ihr Qualen. Sie biss in die braune Hand, die noch immer auf ihrem Mund lag. Vergebens. In einer der Wände klaffte plötzlich eine schmale Öffnung. Hohe Stufen führten in die Tiefe. Die Öffnung schloss sich hinter ihnen. Dunkelheit war um Christine. Die Hand wurde von ihrem Mund zurückgezogen, und sie schrie. Der Schrei klang seltsam verzerrt. »Schweigen Sie!«, sagte einer der Männer. Christine stieß wieder einen schrillen Schrei aus. Vor Entsetzen war sie zu keinem klaren Gedanken fähig. Ihr Körper war noch immer wie gelähmt. Irgendwann flammte ein Licht auf. Christine wurde auf die Beine gestellt. Kräftige Hände hielten sie fest. Sie stand in einem steil in die Tiefe führenden Gang. Die Wände waren glatt, aus großen, gelben Steinquadern gefügt. Das junge Mädchen schlug mit den Armen um sich. Brutal wurden ihre Hände gepackt und auf den Rücken gedreht, dann wurde sie einfach mitgezerrt. »Wohin bringt ihr mich?«, fragte Christine. Doch sie bekam keine Antwort. Schweigend schleppten sie die Männer weiter. Gänge und Stufen wechselten miteinander ab. Einer der rot gekleideten Männer blieb vor einer Holztür stehen, zog den breiten Riegel zurück und stieß Christine in den dahinter liegenden Raum. Sie torkelte, stolperte und fiel zu Boden. Die Tür wurde zugeschlagen, der Riegel wieder vorgelegt. Dann war es still. Christine blieb einige Minuten auf dem Boden sitzen. Sie schloss die Augen, keuchte und versuchte sich zu beruhigen, was ihr auch nach einigen Minuten gelang. »Ist jemand hier?«, fragte sie. Niemand antwortete. Sie richtete sich langsam auf, griff nach ihrem Feuerzeug, fand es und knipste es an.
Der Raum, in dem sie sich befand, war niedrig, kaum zwei Meter hoch, und klein. Die Wände waren kahl, und nicht ein einziger Einrichtungsgegenstand war zu sehen. Hastig rauchte sie eine Zigarette. Ich wurde entführt, stellte sie sachlich fest. Aber weshalb? Was haben die Entführer mit mir vor? Wollen Sie Lösegeld? Da sind sie an die Falsche gekommen. Ihre Eltern waren nicht vermögend. Vielleicht hatten sich die Entführer geirrt? Vielleicht hätten sie ein ganz anderes Mädchen kidnappen sollen? Christine ging zur Tür und trommelte mit beiden Fäusten dagegen. »Aufmachen!«, brüllte sie. Immer wieder schlug sie gegen die Tür, doch niemand hörte ihr Schreien – oder wollte es hören. Nach einigen Minuten resignierte sie. Langsam schritt sie in dem kleinen Raum auf und ab. Die Reise nach Ägypten war ein langjähriger Wunsch von ihr gewesen; und sie war glücklich, als ihr Vater ihr zu Weihnachten eine Reise nach Ägypten schenkte. Sie dachte an ihre Eltern in Hamburg, und Tränen stiegen in ihr hoch. Schluchzend stürzte sie wieder zur Tür. Erschöpft setzte sie sich nach einigen Minuten auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wand. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die Luft im kleinen Raum wurde immer stickiger. Es kann keine normale Entführung sein, dachte Christine. Dazu waren die Umstände zu seltsam. Der Zwang, nochmals den Tempel zu besuchen, das Totenschiff und die unheimliche Stimme in ihrem Hirn. Undeutlich erinnerte sie sich, dass sie irgendwann in letzter Zeit eine Zeitungsmeldung gelesen hatte, in der vom Verschwinden einiger Touristen berichtet worden war. Alle waren in der Gegend von Luxor und Theben verschwunden. Ihre Angst wurde immer größer. Gelegentlich blickte sie auf die Uhr. Mehr als vier Stunden war sie
nun schon gefangen. Sie sprang auf, als sie Schritte hörte. Die Tür wurde geöffnet, und zwei Männer, die nur weiße Lendenschurze trugen, traten ein. Christine wich zurück. Die Männer waren hochgewachsen und kräftig. Ihre Körper glänzten im Schein der Fackeln, die im Gang brannten. Christine wehrte sich, als die braunen Hände nach ihr griffen. Einer der Männer hob sie spielerisch hoch und warf sie sich über die rechte Schulter. Der zweite Mann holte mit der rechten Hand aus und schlug ihr über die linke Schläfe. Bewusstlos sackte sie in sich zusammen. Sie erwachte mit dröhnendem Kopf. Weihrauchgeruch hing in der Luft. Christine schlug die Augen auf. Sie befand sich in einer Grabkammer. Die Wände waren mit Bildern und Hieroglyphen bedeckt. Sie konnte sich nicht bewegen. Ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Weiße Binden pressten ihre Beine zusammen. Nur den Kopf konnte sie heben. Sie versuchte zu sprechen, doch auch das konnte sie nicht, da sie geknebelt war. Die Grabkammer wurde von zwei Fackeln notdürftig erhellt. Rings um sie kauerte ein Dutzend Gestalten. Alle hatten die Köpfe kahl geschoren. Sie erblickte auch einige junge Frauen. Ein breitschultriger Mann stand auf und blieb vor ihr stehen. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Sein Gesicht war hager und grau. »Amun war uns gnädig«, sagte der Mann in gut verständlichem Deutsch. »Nefer-Amun wird mit dem Opfer zufrieden sein. Sie geben Ihr Leben für ihn. Für Nefer-Amun. Ihr Ba wird ihn stärken. Sie können froh sein, dass Sie vom Schicksal ausersehen wurden, mit Ihrem Tod ihm zu helfen, dem großen Nefer-Amun, den wir verehren und der uns Kraft gibt, unser Leben zu meistern.« Christine wand sich hin und her und versuchte die Fesseln abzuschütteln. Der breitschultrige Mann wandte sich ab, kniete nieder und presste die Stirn auf den Boden. Er stimmte einen unheimlich klingenden Gesang an, in einer Sprache, die Christine unbekannt war. Nur eines
verstand sie immer wieder: Nefer-Amun. Sie wusste, dass nur ein Wunder sie retten konnte. Aus eigener Kraft konnte sie sich nicht befreien.
»Nehmen Sie bitte Platz, Miss Zamis!«, sagte Dr. Fatima. Er war ein mittelgroßer Mann, Ende der Vierzig. Sein volles Gesicht zierte ein gewaltiger Schnauzbart. Während sich Coco Zamis setzte, hatte Dr. Fatima Gelegenheit, das Mädchen zu mustern, und was er zu sehen bekam, gefiel ihm durchaus. Coco Zamis war ein Mädchen, das den Blutdruck der meisten Männer gewaltig in die Höhe trieb; Dr. Fatima machte da keine Ausnahme. Sie war Anfang der Zwanzig und über ein Meter siebzig groß. Das pechschwarze Haar rahmte ein ungewöhnlich anziehendes Gesicht ein. Die Backenknochen waren hoch angesetzt, was ihr ein leicht orientalisches Aussehen gab. Die schräg gestellten, großen Augen waren dunkelgrün – manchmal schimmerten sie fast schwarz. Ihr voller Mund war leicht geöffnet. Sie setzte sich, und der kurze Rock ihres gelben Kleides glitt zurück und ließ ziemlich viel von ihren gut gewachsenen, langen Beinen sehen. Das Kleid spannte aufreizend über ihren festen Brüsten, die fast zu üppig für ihren Körper waren. »Kaffee, Miss Zamis?«, fragte Dr. Fatima. Er bemühte sich, sie nicht zu unverschämt anzusehen. Coco schüttelte den Kopf leicht. »Nein, danke«, sagte sie mit rauchiger Stimme. Dr. Fatima verschränkte die Hände auf der Schreibtischplatte, studierte den Ausweis, der vor ihm lag, und gab ihn ihr zurück. »Sie sind Reporterin?«, fragte er. Coco nickte. »Was kann ich für Sie tun?« »Sie sind doch der zuständige Beamte für die Ausgrabungen in Theben, Dr. Fatima?« »Ja, der bin ich«, sagte der Ägyptologe.
»Es gibt die Meldung, dass Susan Baxter verschwunden sein soll.« Dr. Fatima lehnte sich zurück und lächelte. »Ich fürchte, da sind Sie einer Falschmeldung aufgesessen, Miss Zamis.« »Aber sie soll doch vor drei Tagen …« »Ich telefonierte gestern mit Susan Baxter«, sagte Fatima. »Sind Sie da ganz sicher, Dr. Fatima?« »Ganz sicher«, sagte er. »Und wenn sie heute verschwunden wäre, dann hätte ich sicherlich eine Meldung erhalten.« Coco schwieg einige Sekunden. Sie war überrascht, denn sie hatte gestern gesehen, wie die Nachricht über das Faxgerät hereingekommen war. Sie hatte sich zusammen mit Trevor Sullivan und Phillip, dem Hermaphroditen, im Keller der Jugendstilvilla befunden. Die Meldung war ziemlich kurz gewesen: In einem Archäologencamp im Tal Deir-el-Bahari verschwand vor zwei Tagen die Ägyptologin Susan Baxter. Susan Baxter soll mit Grabräubern verhandelt haben. Es wird angenommen, dass ihr Verschwinden mit den Dieben zusammenhängt. Und jetzt behauptete Fatima, dass Susan Baxter nicht verschwunden sei. Die Meldung über Susan Baxter war der auslösende Moment gewesen, dass Coco nach Ägypten geflogen war. Trevor Sullivan, der Leiter der Mystery Press, hatte schon seit einiger Zeit Meldungen gesammelt, die sich mit dem rätselhaften Verschwinden von Touristen und Eingeborenen in der Gegend von Theben beschäftigten. Außerdem waren Nachrichten eingegangen, die vom Aufleben eines Geheimbundes, dessen Mitglieder einen Dämon anbeten sollten, berichteten. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich nach Theben fahre und mich mit Susan Baxter unterhalte?« »Nein«, antwortete Fatima. »Ich weiß allerdings nicht, was Sie sich davon versprechen. Aber …« »Vielleicht schreibe ich einen Bericht über die Ausgrabungen«, sagte Coco rasch. »Ich hörte Gerüchte, dass eine seltsame Statue aufgetaucht sein soll. Sie soll eine Art Januskopf besitzen – den Kopf eines Ibis und den eines Schakals.« »Das sind nur Gerüchte«, sagte Dr. Fatima, dessen Stimme plötz-
lich abweisend klang. »Können Sie mir etwas über den Nefer-Amun-Kult erzählen?« Fatima kniff die Augen zusammen, hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. »Nur recht wenig«, sagte er. »Über Nefer-Amun ist uns kaum etwas bekannt. Erst in den letzten Wochen bekamen wir einige Hinweise. Und der Zweck der Ausgrabungsarbeiten ist es ja auch, mehr über ihn zu erfahren. In den vergangenen Wochen tauchten auf dem schwarzen Markt einige Grabbeigaben auf. Wir vermuten, dass es Grabräubern gelungen ist, ein Grab zu entdecken.« »Wer war dieser Nefer-Amun, Dr. Fatima?« »Er soll ein Priester gewesen sein«, sagte Fatima vorsichtig, »und in der XVIII. Dynastie gelebt haben, während der Regierungszeit Amenophis IV. der sich später Echnaton nannte. Nefer-Amuns Name tauchte immer wieder auf. Aber nirgends fanden sich bis jetzt Hinweise, die uns einen entscheidenden Schritt weitergebracht hätten. Wenn Sie tatsächlich nach Theben fahren wollen, dann können Ihnen Susan Baxter und Gamal Kassim, der für die Ausgrabungen zuständig ist, mehr sagen. Beide sind auf die XVIII. Dynastie spezialisiert.« »Angeblich sind in letzter Zeit einige Touristen verschwunden«, sagte Coco. »Ich hörte davon«, gab Dr. Fatima zögernd zu. »Die Polizei beschäftigt sich damit. Ziemlich intensiv sogar.« »Das kann ich mir denken«, sagte Coco lächelnd. »Sie verstehen«, sagte Dr. Fatima. »So etwas ist schlecht für den Fremdenverkehr. Und Ägypten braucht die Touristen.« »Ich verstehe«, sagte Coco. »Ist es möglich, dass ich mich einige Tage im Camp aufhalte?« »Nein, das ist nicht möglich«, sagte Dr. Fatima. »Tut mir Leid, aber das …« Coco blickte Dr. Fatima an. Mitten im Satz brach er ab. Sein Blick wurde starr, und er saß wie eine Statue da. Sie beugte sich vor. »Sie werden mir eine Bewilligung ausstellen, dass ich unbegrenzt lange im Camp wohnen und mich dort frei be-
wegen darf.« Coco lehnte sich zurück, und der Bann fiel von Dr. Fatima ab. »Wo waren wir eben stehen geblieben?«, fragte er nachdenklich. »Die Bewilligung, dass ich …« »Ach ja!« Fatima lächelte entschuldigend. »Ich veranlasse, dass Sie eine bekommen. In einer Stunde können Sie sich die Bewilligung abholen, Miss Zamis.« Coco stand auf und schenkte dem Beamten ihr freundlichstes Lächeln. »Danke«, sagte sie. »Sie haben mir sehr geholfen.« »Gern geschehen.« Dr. Fatima strahlte. Er begleitete sie zur Tür und verbeugte sich tief. Nachdenklich verließ Coco das ägyptische Museum und trat auf die Sharia Mariette. Sie blieb einige Minuten stehen und genoß das geschäftige Treiben rund um sich. Dann ging sie langsam die Straße in Richtung Midan-et-Tahirr entlang. Bei einem der unzähligen Limonadenverkäufer trank sie einen Mangosaft, ehe sie weiterschlenderte. Nach wenigen Minuten erreichte sie eine Parkanlage und setzte sich auf eine Bank. Ursprünglich hatte sie die Absicht gehabt, direkt nach Luxor zu fliegen, doch dann hatte sie es sich anders überlegt. Ihr Flugzeug war vor zwei Stunden in Kairo gelandet, und sie hatte beschlossen, sich mit dem zuständigen Beamten im ägyptischen Museum zu unterhalten. Dabei hatte sich herausgestellt, dass Susan Baxter gar nicht verschwunden war. Coco schüttelte den Kopf. Sie würde sich im Camp umsehen und mit Susan Baxter sprechen. Vielleicht bekam sie von ihr Informationen. Möglicherweise war Susan Baxter tatsächlich verschwunden gewesen, und es hatte vertuscht werden sollen. Aber was war mit dem Verschwinden der anderen Personen? Coco wusste recht gut über ägyptische Geschichte Bescheid; das hatte mit zu ihrer Ausbildung als Hexe in der Schwarzen Familie gehört; doch von einem Nefer-Amun-Kult war ihr nichts bekannt. In alten Zeiten war Ägypten das Hauptzentrum magischer Wissenschaften gewesen. Amun (auch Amon) war einst ein Gott unter unzähligen anderen
gewesen. Lokalgott von Theben, später dann Reichsgott. Die Priester, die ihn verehrten, waren mächtig, so mächtig, dass sie als Priesterkönige sogar Pharaonen wurden. Erst mit den assyrischen Eroberern wurde Amuns Macht gebrochen, und der Niedergang seines Kultes begann. Meist wurde Amun in Menschengestalt dargestellt, gelegentlich auch mit einem Widderkopf; oder er trug auf dem Kopf die hohe Krone mit den Doppelfedern. In der Hand hielt er meist das Was-Zepter, einen langen Rohrstab. Ihre Gedanken irrten ab. Sie bedauerte, dass Dorian Hunter nicht mitgekommen war; doch er war mit einem anderen Fall beschäftigt. Sie konnte es noch immer nicht glauben, dass sie vor weniger als drei Monaten Mutter geworden war. Ihren Sohn hatte sie in Sicherheit gebracht. Niemand wusste, wo er sich befand; nicht einmal Dorian hatte sie den Aufenthaltsort gesagt. Sie bedauerte, dass sie sich nicht mehr um ihr Kind kümmern konnte, doch es war einfach nicht möglich; es wäre für ihren Sohn und für sie zu gefährlich gewesen. Nach Olivaros freiwilligem Rücktritt als Führer der Schwarzen Familie waren sie von den Dämonen nicht mehr belästigt worden. Die Schwarze Familie war in unzählige Gruppen zerfallen. Sie konnten sich nicht auf einen Führer einigen. Coco wusste, dass die Ruhe trügerisch war. Im Augenblick zerfleischten sich die Dämonen gegenseitig, aber irgendwann würde sich der passende Führer finden. Coco war sicher, dass die Dämonen es niemals vergessen würden, welchen Schaden Dorian und sie ihnen zugefügt hatten; irgendwann würden sie Rache nehmen. Coco stand auf, schlenderte zurück zum ägyptischen Museum und holte sich die Bewilligung ab. Mit einem Taxi fuhr sie zum Flughafen Heliopolis. Sie hatte keinerlei Schwierigkeiten, einen Flug mit der nächsten Maschine der United Arab Airlines nach Luxor zu buchen. Der Flug dauerte genau zehn Minuten.
Luxor und Karnak sind zwei Dörfer am Ostufer des Nils, die an der Stelle der früheren Hauptstadt Ägyptens – Theben – stehen. Zu Luxor rechnet man aber auch die Gräber und Tempel der Totenstadt
Theben-West auf dem gegenüberliegenden Ufer. Dazu gehören auch die Tempel von Deir-el-Bahari. Coco ließ sich direkt zur Bootsanlegestelle in Luxor bringen. Sie hatte nur wenig Gepäck mitgenommen, da sie nicht damit rechnete, längere Zeit in Ägypten zu bleiben. Mit der Fähre überquerte sie den Nil. Die Luft schimmerte über dem braunen Wasser. Sie rauchte eine Zigarette und blickte zu den drei Berggipfeln, den drei ewigen Wächtern Thebens. Coco fiel ein Wort Homers ein, der Theben folgendermaßen geschildert hatte: Theben, Ägyptos Stadt, wo reich sind die Häuser an Schätzen; hundert hat sie Tore, es ziehen aus jedem zweihundert rüstige Männer zum Streit mit Rossen daher und Geschirren. Davon war nichts mehr übrig geblieben. Hier am linken Ufer, in der öden Landschaft, die im Westen durch Gebirge und Steinbrüche begrenzt wurde, hatten die alten Ägypter die Nekropole errichtet, die Stadt der Toten. In den unzähligen Gräbern lagen nicht nur die Könige, sondern auch die Priester und hohen Beamten. In den zahlreichen kleinen Nebentälern befanden sich die Massengrüfte des gemeinen Volkes und der Soldaten. Coco warf die Zigarette in den Nil, stand auf und stieg aus dem Boot. Kamel- und Eseltreiber warteten auf Kundschaft. Auch einige klapprige Taxis waren zu sehen. Coco entschied sich für ein Taxi und handelte mit dem Fahrer den Preis aus. Sie fuhren an Neu-Kurna vorbei und kamen nur langsam vorwärts. Die Straße war von zurückkommenden Touristen auf Eseln und Kamelen verstopft. Nach Neu-Kurna konnte der Fahrer rascher fahren. Nach wenigen Minuten waren sie am Ziel. Der Fahrer bog nach links in die Dorfstraße ein. Er fuhr am Dorfbrunnen und am Totentempel von Sethos I. vorbei. Kurz vor Deir-el-Bahari bog er in einen holperigen Feldweg ein. Und dann lag das Camp vor ihnen. Einige einfache Hütten und Zelte. Mehr als fünfzig Fellachen waren mit den Ausgrabungsarbeiten beschäftigt. Coco zahlte und stieg aus dem Taxi. Sie stellte ihren Koffer ab und sah einem Mann entgegen, der langsam auf sie zukam. Er trug Halb-
stiefel, Reithosen und ein blaues Baumwollhemd, dessen Ärmel er aufgerollt hatte. Auf dem schmalen Kopf trug er einen Turban. Sein Gesicht war hager; die große Nase wirkte wie ein Geierschnabel. Das Taxi fuhr los. Der Mann sah ihm mit zusammengekniffenen Augen nach, dann wandte er sich Coco zu. »Wer sind Sie?«, fragte er. Sein Englisch war ausgezeichnet. »Coco Zamis«, stellte sich die Gefährtin des Dämonenkillers vor und reichte ihm die Bewilligung, die sie von Dr. Fatima erhalten hatte. Er studierte das Blatt Papier aufmerksam und gab es Coco zurück. »Ich bin Gamal Kassim, Miss Coco«, sagte er. »Die Bewilligung, die Sie mir da gezeigt haben, ist recht ungewöhnlich. Dr. Fatima hat sich bis jetzt immer geweigert, Reportern …« Er brach ab und musterte Coco ganz genau. »Kommen Sie mit! Viel Komfort können wir Ihnen nicht bieten. Ich werde Sie bei Susan Baxter einquartieren.« Gamal Kassim schrie einem der Fellachen etwas zu, der langsam aus einer Grube kroch und Cocos Koffer aufnahm. Kassim ging voraus, Coco folgte ihm. Das Innere der Hütte war spartanisch eingerichtet: ein einfacher Tisch, zwei Stühle, zwei unbequem wirkende Betten, einige Schränke. Der Fellache stellte den Koffer ab und verließ die Hütte. »Hoffentlich verstehen Sie sich mit Susan«, sagte Gamal Kassim. »Auf Reporterinnen ist sie nicht gut zu sprechen. Sie …« Die Tür wurde geöffnet, und eine junge Frau trat ein. Coco hatte sich von Susan Baxter keine Vorstellung gemacht, doch was sie zu sehen bekam, überraschte sie. Irgendwie hatte sie eine verknöcherte, griesgrämige Wissenschaftlerin erwartet, doch Susan Baxter war eine hübsche Frau Mitte zwanzig. So wie Kassim trug sie Stiefel, dazu verwaschene Jeans und eine knallrote Bluse, unter der sich feste Brüste abzeichneten. Ihr Gesicht war sonnenverbrannt, die Lippen waren nicht geschminkt, die Augen dunkelbraun. Sie nahm einen breitkrempigen Hut ab. Das dunkle Haar hatte sie im Nacken aufgesteckt. Gamal Kassim stellte sie einander vor.
Susan Baxter blickte Coco misstrauisch an, dann sagte sie auf arabisch etwas zu Kassim. Cocos Kenntnisse des Arabischen waren nicht besonders, doch sie konnte sich halbwegs in dieser Sprache verständigen. Sie verstand, was die beiden miteinander sprachen, ließ sich jedoch nichts davon anmerken. »Wer ist diese Frau?«, fragte Susan. »Eine Reporterin«, antwortete Kassim. »Eine Reporterin!«, rief Susan aus und starrte Coco böse an. »Sie hat eine Bewilligung von Fatima«, erklärte Kassim. »Sie darf sich überall frei bewegen und auch im Camp wohnen.« »Fatima muss verrückt geworden sein«, zischte Susan Baxter wütend. »Er weiß, dass wir keine Presse gebrauchen können. Die Öffentlichkeit braucht nicht zu wissen, weshalb wir …« »Wir können es nicht ändern, Susan«, sagte Kassim. »Ich bin sicher, dass sie nicht lange bleiben wird. Dafür werden wir schon sorgen.« »Weshalb sind Sie gekommen, Miss Zamis?«, fragte Susan auf englisch. Coco setzte sich an den Tisch, öffnete ihre Handtasche und zündete sich eine Zigarette an. »Wollen Sie sich nicht auch setzen?« Susan setzte sich ihr gegenüber nieder, während Gamal Kassim neben dem Tisch stehen blieb. Coco bot Susan eine Zigarette an, aber sie lehnte ab. »Ich interessiere mich für Nefer-Amun«, sagte Coco. »Dafür interessieren wir uns auch«, sagte Susan unwillig. »Aber hauptsächlich kam ich aus einem anderen Grund hierher. Wir bekamen eine Meldung, dass eine gewisse Susan Baxter mit Grabräubern verhandelt hätte und plötzlich verschwunden wäre.« »Diese Meldung ist ein völliger Unsinn«, fauchte Susan. »Erstens verhandle ich nicht mit Grabräubern und zweitens bin ich nicht verschwunden.« »Das sehe ich«, sagte Coco sanft. »Ich hörte außerdem von einem Nefer-Amun-Kult. Wissen Sie etwas darüber?« »Das sind nur dumme Gerüchte«, schaltete sich Gamal Kassim ein.
»Und was ist mit den Gegenständen, die plötzlich auftauchten? Und mit den Personen, die hier in der Gegend verschwanden?« »Das hat uns nicht zu interessieren«, sagte Susan kühl. »Das ist Sache der Polizei.« Coco drückte die Zigarette aus. »Sie suchen doch nach dem Grab von Nefer-Amun?« Kassim und Baxter wechselten einen raschen Blick. »Zumindest sagte mir das Dr. Fatima«, erklärte Coco. »Ich würde gern mehr über Nefer-Amun erfahren.« Beide schwiegen. »Ich weiß, dass Sie über mein Auftauchen nicht glücklich sind«, meinte Coco. »Ich kann mir vorstellen, dass Sie in Ruhe arbeiten wollen. Und ich will nichts anderes, als möglichst rasch alle Informationen, damit ich nach London zurückfliegen kann.« Gamal Kassim setzte sich, steckte sich eine dünne Zigarre an, inhalierte den Rauch und blies ihn durch die Nase aus; dabei ließ er Coco nicht aus den Augen. »Ich werde Ihnen alles erzählen, was wir wissen, Miss Zamis«, sagte Gamal Kassim schließlich. »Es ist nicht viel. Seit einiger Zeit fanden sich in einigen Gräbern Hinweise auf Nefer-Amun. Er soll ein Neffe des Hohenpriesters Bekanchos gewesen sein, der zur Zeit Echnatons gelebt haben soll. Angeblich soll er gegen einige Dekrete des Pharao verstoßen haben und dafür zum Tode verurteilt worden sein. Das muss kurz nach dem Regierungsantritt Echnatons gewesen sein. Sein Leichnam wurde von Amun-Anhängern in Sicherheit gebracht und irgendwo vergraben. Bis heute gelang es uns nicht, sein Grab zu finden.« »Ich verstehe«, sagte Coco. »Aber weshalb ist dieser Nefer-Amun so interessant?« »Bis vor wenigen Wochen interessierten wir uns kaum für ihn«, sprach Gamal Kassim weiter. »Im alten Ägypten gab es Tausende von Priestern. Wir glaubten, dass Nefer-Amun einer unter vielen war. Doch plötzlich – es war im September – tauchten Grabbeigaben auf. Auf dem schwarzen Markt natürlich. Es gelang uns, einige dieser Gegenstände zu erwerben, doch von den Grabräubern fehlt jede
Spur. Die Gegenstände stammten alle aus dem Grab des Nefer-Amun. Außerdem fanden wir einen Papyrus, der recht interessante Hinweise enthielt, die uns dazu brachten, dass wir uns auf die Suche nach Nefer-Amuns Grab machten.« »Was stand in diesem Papyrus?« »Nefer-Amun würde sich rächen, stand darin. Er würde den Pharao Echnaton töten, der die alten Götter zu stürzen versuchte. Und er würde zum Leben erwachen.« »Das ist aber nicht viel, was Sie da an Hinweisen haben.« »Dieser Papyrus ist nur einer von vielen«, fuhr Kassim fort. »Wir sind sicher, wenn wir Nefer-Amuns Grab finden, weitere Aufzeichnungen zu entdecken, die uns helfen werden, uns ein besseres Bild über die Zeit Echnatons zu machen.« »Und wo soll sich sein Grab befinden?« »Hier in der Gegend«, schaltete sich Susan Baxter ein. »Aus anderen Aufzeichnungen geht hervor, dass sich sein Grab in der Nähe der Tempel von Deir-el-Bahari befinden soll. Es soll gut abgesichert und angeblich nicht zu entdecken sein. Aber die Grabbeigaben beweisen, dass es irgendjemand gelungen sein muss, Nefer-Amuns Grab aufzustöbern.« »Wenn Sie die Grabräuber aufspüren könnten, dann …« »Das versucht die Polizei«, sagte Gamal Kassim. »Sollte es ihr tatsächlich gelingen, die Grabräuber zu erwischen, wäre alles natürlich recht einfach.« Gamal Kassim stand auf. Susan Baxter folgte seinem Beispiel. »Wir unterhalten uns morgen weiter«, sagte Susan Baxter. »Jetzt haben wir noch einige Dinge zu erledigen. Richten Sie sich in der Zwischenzeit häuslich ein! In einer Stunde gibt es Abendessen.« Coco sah den beiden nach. Sie hatten ihr einiges verschwiegen. Coco war sicher, dass Kassim und Baxter wesentlich mehr wussten, es aber wahrscheinlich nicht freiwillig sagen würden. Doch Coco konnte noch immer ihre hypnotischen Fähigkeiten einsetzen. Sie stand auf, hängte ihre Kleider in einen Schrank, schlüpfte in eine bequeme Hose und eine einfache Bluse, zog flache Schuhe an und legte einen Pullover bereit; so heiß es tagsüber war, so kalt wur-
de es in der Nacht. Coco trat vor die Hütte. Die Fellachen hatten mit den Ausgrabungsarbeiten aufgehört. Sie hockten vor einem hoch lodernden Feuer und schwatzten miteinander. Einige starrten neugierig zu ihr herüber, doch Coco achtete nicht auf sie. Sie blickte zum Nil, auf dem einige Boote zu sehen waren. Die dreieckigen Segel der Feluken schimmerten orange im schwindenden Tageslicht. Die Sonne sank rasch. Noch einmal wurden die Hügel mit einem roten Schein überschüttet. Der Himmel war dunkelblau, fast schwarz. Unzählige funkelnde Sterne waren bereits zu sehen. Für einige Augenblicke genoss Coco die friedliche Stimmung. Sie hob den Kopf, als ein Fellache auf sie zukam und vor ihr stehen blieb. »Das Essen ist fertig, Madame«, sagte er. Coco folgte ihm. Er führte sie zu einer kleinen Hütte. Um einen kreisrunden Tisch saßen Gamal Kassim und Susan Baxter. Während des Essens wurde nur Unverbindliches gesprochen. Das Essen wurde von einer jungen Ägypterin serviert. Nach dem Essen brachte das Mädchen Kännchen mit pechschwarzem Kaffee, der in der Art des türkischen Mokka zubereitet war. Kassim trank einen Schluck und lächelte zufrieden. »Der Kaffee ist genau so, wie ich ihn mag«, sagte er. »Schwarz wie die Nacht, heiß wie die Hölle, süß wie die Liebe.« Coco kostete den Kaffee. Für ihren Geschmack war er zu süß. Gamal Kassim trank seine Tasse leer und stand auf. »Ich habe noch zu arbeiten. Entschuldigen Sie mich!« Er deutete eine Verbeugung an und verließ die Hütte. »Was machen Sie, Miss Baxter?«, fragte Coco. Die junge Frau hob die Schultern. »Ich habe eine Verabredung«, sagte sie ausweichend. »Ich kann Ihnen heute nicht Gesellschaft leisten. Wann ich zurückkomme, weiß ich nicht.« Coco nickte. »Ist es hier nicht ziemlich einsam?« »Wir haben unsere Arbeit«, meinte Susan Baxter. »Und wenn ich
Lust auf Unterhaltung habe, fahre ich nach Luxor.« »Wie sind Sie Archäologin geworden?« Susan lehnte sich bequem zurück und schloss die Augen. Dann lächelte sie. »Als ich noch zur Schule ging – ich war zehn Jahre alt –, nahm mich mein Vater ins Britische Museum mit. Die ägyptische Abteilung beeindruckte mich besonders. Ich las einige Bücher über das alte Ägypten und war hingerissen. Seit damals kam ich nicht von dem Land los. Für mich gab es nur einen Beruf: Ägyptologin. Meine Eltern hatten sich ein ganz anderes Studium für mich vorgestellt. Sie wollten, dass ich eines Tages die Spedition übernehme, die mein Vater besitzt. Doch die interessierte mich nicht. Als sie merkten, dass jeder Umstimmungsversuch fruchtlos war, resignierten sie. Ich fuhr jedes Jahr für einige Monate nach Ägypten. Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, bewarb ich mich um eine Stellung beim ägyptischen Museum in Kairo, die ich zu meiner größten Überraschung auch bekam. Mir macht mein Beruf Freude. Ich will noch ein paar Jahre in Ägypten bleiben und dann nach London zurückkehren.« »Haben Sie sich auf eine bestimmte Dynastie spezialisiert?« »Ja, auf die XVIII. Dynastie. Vor allem auf Echnaton, der wohl eine der faszinierendsten Persönlichkeiten des alten Ägypten gewesen ist.« »Erzählen Sie mir von ihm!«, bat Coco. Susan Baxter blickte auf die Uhr. »Ich muss jetzt gehen«, sagte sie. »Ich hoffe, dass ich in zwei Stunden zurück bin. Dann können wir uns unterhalten.« Susan griff nach einer Jacke und legte sie sich über die Schultern. Gemeinsam mit Coco trat sie ins Freie hinaus. »Bis später!«, sagte Susan. »Viel Vergnügen!«, wünschte Coco. Susan verschwand rasch zwischen den Hütten. Coco wartete einige Sekunden, schlüpfte in ihren Pullover und folgte Susan. Die Fellachen saßen noch immer rings ums Feuer und erzählten sich anscheinend lustige Geschichten. Es war eine sternklare Nacht. Der Mond stand hoch am Himmel.
Coco hatte keinerlei Schwierigkeiten, Susan Baxter zu folgen. Sie hielt einen Abstand von mehr als zweihundert Metern ein. Susan wandte nicht ein einziges Mal den Kopf. Sie ging die schnurgerade Straße entlang, die zu den Gräbern der 17. Dynastie führte. Kein Mensch kam ihr entgegen. Es war ruhig. Irgendwo winselte ein Schakal. Susan Baxter ließ die Gräber hinter sich. Nach einigen Metern bog sie in die Straße nach Kurna ein. Sie kamen an einfachen weißen Häusern vorbei. Kurz bevor Susan das kleine Dorf Kurna erreicht hatte, blieb sie stehen. Coco drückte sich tiefer in den Schatten. Susan ging unruhig auf und ab. Mehr als zehn Minuten geschah nichts, dann näherte sich eine weiß gekleidete Gestalt, die vor Susan stehen blieb. Es war ein junger Ägypter. Er trug die alte Tracht der Fellachen: Eine baumwollene Galabija, das einem Nachthemd ähnlich sehende Gewand, darunter eine kurze Baumwollhose, Sandalen und den von den Türken übernommenen Tarbusch (Fes). Coco war zu weit entfernt, um die Unterhaltung der beiden zu verstehen. Susan nickte mehrmals, dann ging sie mit dem Eingeborenen in Richtung Kurna.
Susan Baxter war über das Auftauchen von Coco Zamis alles andere als begeistert. Sie konnte es einfach nicht verstehen, dass Dr. Fatima es Coco gestattet hatte, im Camp zu bleiben. Mit Bewilligung von Dr. Fatima war es Susan Baxter gestattet worden, sich mit einigen Fellachen in Verbindung zu setzen. Die Polizei war keinen Schritt weitergekommen; es war ihr nicht gelungen, eine Spur der Grabräuber zu finden. Susan Baxter hatte es in den vergangenen Wochen indessen geschafft, Kontakt mit einem Fellachen namens Hami Fonad aufzunehmen, der ihr drei Grabbeigaben aus Nefer-Amuns Grab verkauft hatte. Der erste Gegenstand war eine Alabasterschale gewesen, die eine Lotosblüte darstellte. Die Inschriften gaben das Geburtsdatum des Nefer-Amun an und einen Bannspruch. Das zweite
Stück war eine kleine Bahre gewesen, die mit Löwenköpfen verziert war; auch sie trug Nefer-Amuns Siegel. Der dritte Gegenstand war ein Brustschild Nefer-Amuns gewesen, das Skarabäus-Darstellungen aufwies. Susan hatte sich oft mit Hami Fonad getroffen und ihn bestürmt, ob er ihr nicht weitere Stücke aus dem Grab Nefer-Amuns verschaffen könnte; etwas wirklich Wertvolles. Er hatte ihr versprochen, dass er sich bemühen wollte. Sie wusste, dass Hami Fonad nur ein Strohmann war. Er selbst wusste nicht, wo sich das Grab des Nefer-Amun befand. Sie hatte ihn gedrängt, sie mit der Grabräuberbande bekannt zu machen, doch er hatte sich verständlicherweise geweigert. Ungeduldig wartete sie auf das Erscheinen Hami Fonads. Immer wieder blickte sie auf die Uhr. Sie atmete erleichtert auf, als sie ihn näher kommen sah. Hami Fonad verbeugte sich leicht vor ihr. »Was hast du diesmal für mich?«, fragte Susan mit mühsam unterdrückter Erregung. »Eine Statue«, sagte Fonad. »Ein ungewöhnlich schönes und seltsames Stück.« Susan nickte ungeduldig. »Wo hast du sie?« »Haben Sie Geld bei sich?« Susan nickte wieder. »Die Statue wird nicht billig sein«, sagte Fonad. »Wieviel soll sie kosten?« »Zweitausend Pfund.« »Zweitausend Pfund!« »Es ist eine kostbare Statue. Sind Sie daran interessiert?« Zweitausend Pfund, dachte Susan, so viel Geld konnte sie auf keinen Fall ausgeben, aber das sagte sie Fonad nicht. Sie wollte die Statue sehen. »Ja, ich bin interessiert«, sagte Susan. »Aber ich habe nicht so viel Geld bei mir. Ich werde mir die Statue ansehen, und wenn sie tatsächlich so wertvoll ist, das Geld holen. Einverstanden?« Der Fellache zögerte, schließlich stimmte er zu.
Sie betraten Kurna, Hami Fonad führte sie eine schmale Gasse entlang. Die meisten Häuser waren nur einstöckig und weiß gestrichen; nur selten brannte ein Licht hinter den Scheiben. Vor einem der Häuser blieb Fonad stehen und sah sich flüchtig um, dann stieß er die Tür auf. Sie kamen durch einen kleinen dunklen Vorraum, hinter dem ein größeres Zimmer lag. »Warten Sie hier!«, sagte Hami Fonad. »Ich bin in wenigen Augenblicken zurück.« Susan blieb stehen. Eine schwach brennende Öllampe tauchte den Raum in düsteres Licht. Die Wände waren kahl, den Boden bedeckten löchrig gewordene Teppiche. Außer einigen Sitzkissen und einem niedrigen Tischchen war das Zimmer leer. Fonad öffnete eine Tür und verschwand. Er war erst einige Sekunden weg, als Susan einen lauten Schrei hörte. Irgendein schwerer Gegenstand schien umzufallen, dann war wieder ein Schrei zu hören. Zögernd ging Susan zu der Tür, hinter der Hami Fonad verschwunden war. Kampfgeräusche waren zu hören, Gestöhne und Schreie, und wieder fiel etwas zu Boden. Schließlich siegte Susan Baxters Neugierde über ihre Angst. Sie riss die Tür auf und blieb überrascht stehen. Hami Fonad lag auf dem Boden. Zwischen den verkrampften Fingern hielt er eine goldene Statue, die etwa dreißig Zentimeter hoch war. Susan kam zögernd näher. Fonad lag auf dem Rücken, seine Beine waren seltsam abgewinkelt, der Mund war weit aufgerissen. Auf seiner Stirn klaffte eine tiefe Wunde, aus der noch immer Blut tropfte. Die Augen des Toten waren weit aufgerissen. Die Ägyptologin blieb vor dem Toten stehen und betrachtete die Statue, die er in den Händen hielt. Die Statue war ungewöhnlich. Sie hatte eine Art Januskopf. Das eine Gesicht stellte Toth dar, den Gott der Weisheit, der meist den Kopf eines Ibis hatte, das zweite Gesicht zeigte Anubis, den Gott der Toten, der einen Schakalkopf besaß. Der lange, gekrümmte Ibisschnabel der Statue war blutverschmiert. Es schien, als würde die Stirnwunde von dem Ibisschnabel herrühren.
Susan kniete neben dem Toten nieder. Sie überwand ihren Widerwillen und griff nach der Statue. Die Hände des Toten hatten sich so stark um den Sockel der Statue verkrampft, dass es schwierig war, sie ihm zu entwinden. Endlich gelang es Susan. Sie betrachtete den Sockel. Die Hieroglyphen, die auf einer Seite eingeritzt waren, kannte sie. Es war Nefer-Amuns Name. Auf der gegenüberliegenden Seite waren ebenfalls Hieroglyphen eingeritzt, die Susan nicht entziffern konnte. Nachdenklich stand sie auf, warf dem Toten noch einen Blick zu und schauderte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. An sich musste sie die Polizei verständigen. Aber vor allem musste sie die kostbare Statue in Sicherheit bringen. Also zurück ins Camp, entschloss sie sich. Plötzlich war ein lautes Geräusch zu hören. Die Erde schien zu beben. Die Wände schwankten hin und her. Susan stieß einen Schrei aus, als sich der Tote bewegte. Er setzte sich auf. Ängstlich wich sie zurück. Wieder wurde die Erde erschüttert. Die Statue in ihren Händen bewegte sich. Der Ibiskopf war nun genau vor ihrem Gesicht. Die Erde bebte wieder. Steinbrocken fielen zu Boden. Die Statue wurde plötzlich heiß, und der spitze Schnabel raste auf sie zu. Susan ließ die Statue los. Wieder stieß sie einen schrillen Schrei aus. Der tote Hami Fonad stand schwankend auf und kam auf sie zu. Susan rannte zur Tür, und der Tote folgte ihr.
Coco war Susan Baxter und dem Fellachen gefolgt. Sie wartete am Ende der Gasse und sah, wie die beiden ein Haus betraten. Einige Minuten geschah nichts, dann bewegte sich das Haus plötzlich. Das Dach stürzte an einigen Stellen ein, und ein unmenschlicher Schrei war zu hören. Ohne zu denken, stürmte Coco los. Sie lief die Gasse entlang und stürzte in das Haus. Das Beben hatte aufgehört. Sie rannte durch den leeren Vorraum und betrat das Zimmer, in dem eine kleine Öllampe brannte. Kein Mensch war zu sehen. Im Nebenraum, dessen
Tür halb offen stand, hörte sie Geräusche. Coco drückte die Tür auf. Drei Fellachen starrten sie an. Zwei gingen augenblicklich auf sie los, während der dritte eine goldene Statue an sich nahm und durch eines der offen stehenden Fenster entkam. Coco hatte vor den beiden Männern keine Angst. Während ihrer Schwangerschaft hatte sie einen Teil ihrer magischen Hexenfähigkeiten verloren, die sie nach der Geburt ihres Sohnes jedoch zum Großteil wieder zurückbekommen hatte. Sie ließ es ruhig zu, dass sie die beiden Männer packten. Dann konzentrierte sie sich einen Augenblick und sah dem einen Mann in die Augen. Dieser erstarrte mitten in der Bewegung. Der zweite stieß einen überraschten Schrei aus und ließ sie los; auch ihn hypnotisierte sie. Dann ließ sie die beiden Männer stehen und durchsuchte rasch das Haus. Alle Zimmer waren leer; von Susan Baxter keine Spur. Coco blickte aus dem Fenster. Von dem Mann, der die goldene Statue gepackt hatte, war auch nichts mehr zu sehen. Sie wandte sich wieder den beiden hypnotisierten Männern zu und hob teilweise den tranceartigen Zustand der beiden auf. Sie musste wissen, was hier im Haus geschehen war. Die beiden Männer sprachen nur Arabisch; daher gestaltete sich die Unterhaltung etwas schwierig. Die Hypnotisierten beantworteten aber Cocos Fragen bereitwillig. Eine Viertelstunde später hatte sie Folgendes erfahren: Susan Baxter hatte vor einigen Wochen mit Hami Fonad Kontakt aufgenommen. Die beiden hypnotisierten Männer gehörten seiner Familie an; auch der dritte, der mit der Statue geflohen war. Hami Fonad hatte drei Grabbeigaben an Susan Baxter verkauft, die Hami Fonad von Abd-el-Baran, dem Anführer einer Grabräuberbande, erhalten hatte. Vor drei Tagen hatte Abd-el-Baran eine kostbare Statue an die Familie Fonad verkauft, auf der ein Fluch ruhen sollte. Die Familie Fonad hatte beschlossen, die Statue möglichst bald loszuwerden, und dabei an Susan Baxter gedacht. Was im Haus vorgegangen war, wussten die beiden Männer nicht. Sie hatten hinter dem Haus gewartet. Als sie Schreie hörten, waren sie ins Haus ein-
gestiegen, hatten aber ihren Bruder Hami und Susan Baxter nicht gefunden. Sie hatten Angst bekommen. Girgis hatte die Statue an sich genommen. Und dann war Coco aufgetaucht, und sie waren auf sie losgegangen, um sie abzulenken, damit ihr Bruder mit der Statue entkommen konnte. Coco überlegte kurz. Sie konnte sich nicht erklären, weshalb das Haus gebebt und was die Schreie zu bedeuten gehabt hatten. Nochmals sah sie sich im Zimmer um. Da fiel ihr Blick auf den Fußboden. Sie bückte sich. Eine Lache war zu sehen. Blut. Nachdenklich stand sie auf. Wohin waren Hami Fonad und Susan Baxter verschwunden? »Wohin bringt euer Bruder Girgis die Statue?«, fragte Coco. »Zu unserem Vater«, sagte Jussuf. »Führt mich zu ihm!«, sagte Coco.
Girgis Fonad raste wie ein Wahnsinniger durch Kurna. Keuchend rannte er zum Haus seiner Eltern. Die Statue hatte er unter den rechten Arm geklemmt. Als er das Haus erreichte, blieb er einen Augenblick stehen, dann trat er ein. Sein Vater, ein alter grauhaariger Mann, kam ihm entgegen. »Sie hat also die Statue nicht gekauft«, sagte er. »Wo sind deine Brüder, Girgis?« Girgis schnappte nach Luft, dann erzählte er seinem Vater alles, was er wusste. Der Alte überlegte einige Zeit, dann starrte er die Statue an, die auf dem Tisch im großen Zimmer des Hauses stand. »Auf dieser Statue lastet ein Fluch«, sagte der Alte leise. »Nur aus diesem Grund hat sie mir Abd-el-Baran überlassen. Er will, dass Unheil über unsere Familie kommt. Die Statue muss fort. Noch heute.« »Wem willst du sie verkaufen, Vater?«, fragte Girgis. Der Alte zupfte sich am Bart. »Jean Cardin«, sagte er leise. »Er ist zwar ein alter Halsabschneider und zahlt schlecht, aber ich will die Statue nicht mehr sehen. Bring sie zu Cardin, Girgis!«
Der Alte griff nach der Statue und reichte sie seinem Sohn. Plötzlich zuckte er zusammen. Irgendetwas Unheimliches schien von der Statue auf ihn überzufließen. Er trat einen Schritt zurück. Sein Gesicht war schweißbedeckt, und seine Augen funkelten unruhig. »Was hast du, Vater?«, fragte Girgis. Sein Vater keuchte. Seine Hände verkrallten sich. Er duckte sich wie ein Raubtier zum Sprung, hob die Arme und ging auf seinen Sohn los, der von dem Angriff so überrascht war, dass er sich nicht wehrte. Der Alte legte seine Finger um den Hals seines Sohnes und drückte zu. Girgis packte die Handgelenke seines Vaters und versuchte sich aus dem Griff zu befreien. »Hilfe!«, röchelte er. Der Alte entwickelte übermenschliche Kräfte. Die Tür wurde aufgerissen, und eine ältere Frau trat ins Zimmer. Ihre Augen weiteten sich. »Hilf mir, Mutter!«, keuchte Girgis mit versagender Stimme. Seine Mutter handelte sofort. Ohne zu zögern, schnappte sie sich einen schweren Tonkrug, trat hinter ihren Mann und schlug ihm mit voller Kraft den Krug auf den Hinterkopf. Die Hände des Alten lösten sich vom Hals des Sohnes. Er taumelte einen Schritt zurück, stolperte über einen Schemel und fiel der Länge nach hin. Einige Sekunden blieb er benommen liegen, dann setzte er sich auf und schüttelte verwundert den Kopf. »Bist du übergeschnappt, Achmed?«, fragte seine Frau. »Du gehst auf dein eigenes Fleisch und Blut los, das …« Achmed stand auf. »Die Statue«, sagte er leise. »Schaff sie fort, Girgis!« Girgis massierte sich den Hals. »Wickle sie in ein Tuch, Girgis! Berühre sie nicht mit der bloßen Hand!« »Bist du wieder in Ordnung, Vater?«, fragte Girgis. »Ja«, sagte Achmed fast unhörbar. Girgis nahm ein Tuch und hüllte die Statue darin ein. Er warf seinem Vater noch einen ängstlichen Blick zu, dann verließ er das Zimmer.
Achmed setzte sich nieder. »Ich ahne, dass etwas Fürchterliches geschehen ist«, sagte er und steckte sich eine Pfeife an. »Mach Kaffee, Mirza!« Seine Frau nickte, und Achmed versank in Brüten. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als die Tür geöffnet wurde. Unwillig hob er den Kopf. Sein Sohn Hami stand in der Tür. In seiner Stirn klaffte ein Loch. Getrocknetes Blut bedeckte sein Gesicht. Die Augen waren gebrochen, das Gesicht farblos. »Hami!«, sagte Achmed entsetzt und stand rasch auf. Sein Sohn schwankte hin und her. Die Hände bewegten sich unruhig, dann brach er zusammen. Achmed kniete neben Hami nieder. Er griff nach seiner rechten Hand und zuckte zurück. Die Hand war eiskalt. Sein Sohn war tot. Mirza kam mit dem Kaffee ins Zimmer. Als sie ihren toten Sohn sah, schrie sie auf, und das Tablett entfiel ihren Händen. Die Kaffeekanne und die Tasse zerbrachen; der Kaffee floss über den Boden. Mirza warf sich neben ihrem Mann zu Boden und hob wehklagend die Hände über den Kopf. Sie bejammerten lautstark den Tod ihres Sohnes. Beide hörten nicht, wie Coco mit Achmeds beiden anderen Söhnen das Zimmer betrat; die beiden Söhne waren noch immer hypnotisiert. Coco blieb vor dem Toten stehen. Als Achmed und Mirza den Kopf hoben, hypnotisierte sie auch sie. Minuten später wusste sie, was geschehen war. Sie hätte sich zu Jean Cardin bringen lassen können, doch das konnte warten; sie hatte keinen Ehrgeiz, die Statue zu bekommen, und sie bezweifelte, ob ihr Cardin weiterhelfen konnte. Sie wusste nun, wer der Anführer der Grabräuber war. Morgen würde sie Jussuf zu Abd-el-Baran führen. Hami Fonad, mit dem sich Susan Baxter im leer stehenden Haus getroffen hatte, war tot. Achmed hatte ihr erzählt, dass der Ibisschnabel der Statue blutbefleckt gewesen war; und sein Sohn Hami hätte den Eindruck eines Toten gemacht, als er in das Zimmer ge-
kommen war. Die Blutspuren im leer stehenden Haus, der seltsame Vorfall mit der Statue, das alles ergab für Coco ein klares Bild. Hier war Magie im Spiel. Ihrer Meinung nach war Hami im leer stehenden Haus getötet worden – und zwar von der Statue. Der Tote musste Susan Baxter gejagt haben, ihr gefolgt sein. Aber wohin? Wohin hatte er Susan Baxter gebracht? Oder hatte er sie getötet? Sie befahl Jussuf und Abbas, dass sie mit ihr kamen. Sie gingen zum leer stehenden Haus zurück. Coco untersuchte genau die Hinterseite. Deutlich waren im Sand die Fußspuren Girgis' zu sehen. Dann entdeckte sie die Stiefelabdrücke Susan Baxters und Abdrücke, die wahrscheinlich von Hamis Sandalen stammten. Sie kniete nieder und inspizierte den Boden. Schließlich sah sie einige Blutstropfen. Sie konnte den Fußspuren fast fünfhundert Meter lang folgen, doch dann wurde der Weg immer steiniger, und die Spuren verwischten sich. Eine weitere Suche war hoffnungslos. Coco blieb keine andere Wahl – sie musste zurück ins Camp gehen und Gamal Kassim von den Vorfällen unterrichten. Sie konnte nur hoffen, dass es Susan Baxter gelungen war, dem Untoten Hami zu entkommen. Sie wandte sich Jussuf zu. »Was weißt du vom Nefer-AmunKult?« »Nur Gerüchte«, sagte Jussuf. »Der Kult ist viele tausend Jahre alt. Nefer-Amun werden Menschenopfer dargebracht. Immer wieder verschwinden Menschen, die Nefer-Amun geopfert werden.« »Kennst du irgendjemanden, der Mitglied dieses Kultes ist, Jussuf?« »Nein«, sagte der junge Ägypter. Coco seufzte. »Jussuf, du bleibst morgen den ganzen Tag zu Hause. Ich werde mich mit dir in Verbindung setzen, und du wirst mich zu Abd-el-Baran führen.« »Ich werde zu Hause bleiben«, sagte Jussuf. »Geht jetzt!«, sagte Coco. Sie wartete noch kurze Zeit, drehte sich dann langsam um und er-
reichte nach wenigen Minuten die Straße, die nach Deir-el-Bahari führte. Plötzlich blieb sie stehen. Es war genau das eingetreten, was der Mystery Press vor Tagen gemeldet worden war: Susan Baxter war verschwunden. »Phillip«, sagte Coco leise. Der Hermaphrodit steckte voll unbekannter Fähigkeiten. Sie war sicher, dass er wieder einmal sein zweites Gesicht gehabt und die zukünftigen Ereignisse gesehen hatte. Die Meldung stammte von ihm; da war sie ziemlich sicher. Phillip hatte gewollt, dass sie sich um diesen Fall kümmerte. Rasch ging sie zum Camp. Von den Fellachen war niemand zu sehen. Sie hatten sich in ihre Zelte zurückgezogen. Nur in einer der Hütten brannte Licht. Sie klopfte an die Tür, wartete aber nicht, bis Gamal Kassim etwas sagte, sondern trat einfach ein. Kassim saß an einem breiten Schreibtisch. Vor sich hatte er eine Flasche Bier stehen. Er war so in seine Aufzeichnungen vertieft, dass er Cocos Eintreten gar nicht bemerkt hatte. »Dr. Kassim?«, sagte Coco leise. Der Ägyptologe zuckte überrascht zusammen und wandte den Kopf um. »Ach, Sie sind es!«, sagte er. »Ich suchte Sie schon. Wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt?« »Ist Susan Baxter zurückgekommen?« »Nein, ich habe Sie nicht gesehen.« »Das habe ich befürchtet«, sagte Coco und zog sich einen Stuhl heran. »Darf ich auch ein Bier haben?« Gamal Kassim stand auf, holte ein Glas und eine Flasche Bier und reichte sie Coco, die dankbar nickte, sich einschenkte und einen Schluck trank. »Was ist mit Susan?« »Ich werde es Ihnen erzählen«, sagte Coco. Gamal Kassim hörte aufmerksam zu. Immer wieder unterbrach er Cocos Erzählung mit Fragen. »Das ist aber eine ziemlich unwahrscheinliche Geschichte«, meinte
er schließlich, als Coco ihre Erlebnisse und Mutmaßungen berichtet hatte. »Sie stimmt aber«, sagte Coco. »Ich glaube Ihnen«, brummte Kassim. »Wir müssen die Polizei verständigen.« »Das würde ich nicht tun«, sagte Coco. »Ich will mich morgen mit diesem Grabräuber unterhalten. Er wird mich zum Grab Nefer-Amuns führen.« »Und was ist mit Susan Baxter?« Coco hob die Schultern. »Im Augenblick können wir nichts für sie tun. Ich bin sicher, dass …« »Sie meinen, dass sie tot ist?« »Das fürchte ich«, sagte Coco leise. »Entweder hat Hami Fonad sie getötet, oder sie ist den Nefer-Amun-Anhängern in die Hände gefallen.« »Was auch ihr Tod sein würde«, flüsterte Kassim. »Wollen Sie nicht endlich mit offenen Karten spielen, Dr. Kassim?« Gamal Kassim trank sein Glas leer. »Was wissen Sie vom Nefer-Amun-Kult?« »Wenig«, sagte er. »Sehr wenig. Niemand kann etwas Konkretes über den Kult sagen. Es wird behauptet, dass Nefer-Amun in bestimmten Abständen ein Opfer benötigt. Dieses Gerücht basiert auf dem alten Glauben der Ägypter. Jeder Mensch hat ein Ba, das ist die Kraft, die bei seinem Tod aus dem Körper flieht. Und jeder Mensch besitzt ein Ka, was wir wohl als Seele bezeichnen würden, obzwar es nicht ganz so einfach ist, wie ich es Ihnen eben erklärte. Es wird nun behauptet, dass Nefer-Amun nicht richtig tot sei. Er braucht in regelmäßigen Abständen Menschenopfer, damit sein Ka, jene geheimnisvolle Kraft, sich immer wieder aufladen kann. Haben Sie das verstanden, Miss Zamis?« »Ja«, antwortete Coco. »Was wissen Sie sonst noch über den Kult?« »Das ist alles. Mehr weiß ich nicht. Es ist nur eines seltsam. Seit einigen Wochen verschwinden ständig Mädchen und junge Frauen. Und zum gleichen Zeitpunkt tauchten die ersten Grabbeigaben aus
Nefer-Amuns Grab auf.« »Sie glauben, dass zwischen dem Verschwinden der Frauen und dem Auftauchen der Gegenstände ein Zusammenhang besteht?« »Ich versuche es«, sagte Kassim, »aber ich finde keine logische Erklärung dafür.« »Haben Sie das Buch von Paul Brunton, Geheimnisvolles Ägypten, gelesen, Dr. Kassim?« »Ja«, antwortete der Ägyptologe. »Ein höchst unwissenschaftliches Buch. So unwahrscheinlich wie die Bücher Dänikens.« »Da kann man geteilter Ansicht sein«, meinte Coco vorsichtig. »Eines der Kapitel in Bruntons Buch beschäftigt sich mit der Begegnung eines Adepten.« »Das ist doch völliger Unsinn!«, fauchte Kassim. »Brunton gab in diesem Buch auch die Botschaft des Adepten wieder. Ein völliger Blödsinn!« »Da stimme ich mit Ihnen nicht überein«, sagte Coco. »Der Adept in Bruntons Buch machte einige recht bemerkenswerte Feststellungen, die …« »… die wissenschaftlich völlig unhaltbar sind«, knurrte Kassim. Coco wusste, dass Bruntons Bericht nicht erfunden war. Die Informationen, die er in seinem Buch gab, waren der Schwarzen Familie schon seit vielen hundert Jahren bekannt. »Ra-Mak-Hotep, der Adept aus Bruntons Buch, behauptet, dass einige der Adepten, die im alten Ägypten gelebt haben, heute noch leben. Lassen Sie mich ausreden, Dr. Kassim! Angeblich gibt es Adepten, deren Körper in einem komatösen Zustand in bisher nicht entdeckten Gräbern liegen, die von normalen Archäologen auch nie entdeckt werden würden. Diese Gräber sind keine Gräber von Toten, sondern von Lebenden. Die Körper der Adepten befinden sich in einem Zustand, den man am ehesten mit dem Wort ›Trance‹ bezeichnen kann.« »Hören Sie endlich mit diesem Quatsch auf!«, brüllte Kassim wütend. »Wie soll so etwas …« »Denken Sie an die Fakire!«, sagte Coco rasch. »Es gab einige, die sich wochenlang begraben ließen. Das sind authentische Berichte,
die nicht wegdiskutiert werden können. Angeblich soll es den ägyptischen Adepten gelungen sein, ihre Körper jahrtausendelang am Leben zu erhalten. Ja, es soll sogar vorgekommen sein, dass sie ihren Geist vom Körper lösen konnten.« »Ich habe das Buch gelesen«, brummte der Ägyptologe. »Der Adept in Bruntons Buch behauptet auch, dass die Körper dieser angeblichen Adepten einbalsamiert seien. Zum Unterschied von den normalen Mumien sollen bei ihnen nicht das Hirn, das Herz und die Eingeweide entfernt worden sein. Ihre Körper sind mit einer dünnen Wachsschicht überzogen. Dieser Überzug soll gemacht worden sein, nachdem der Trancezustand bereits eingetreten war. Bis jetzt fanden wir noch nie so eine Mumie. Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Das bestätigt nur Bruntons Worte. Ich behaupte aber, dass es keine solche Adepten gibt.« Coco lächelte. »Halten wir uns an die Tatsachen. Bis vor wenigen Monaten war Ihnen der Name Nefer-Amun mehr oder minder unbekannt. Plötzlich tauchten Grabbeigaben auf, und Frauen verschwanden spurlos. Ich behaupte, dass dieser Nefer-Amun ein Adept ist. Ein in die Geheimlehren eingeweihter Priester, von denen es im alten Ägypten ziemlich viele gegeben hat. Und wie es aussieht, dürfte dieser Nefer-Amun sich eher mit schwarzer als mit weißer Magie beschäftigt haben. Vor einigen Monaten muss etwas geschehen sein, das den magischen Bann, der sein Grab umgab, aufhob.« Kassim stierte Coco grimmig an. »Wer sind Sie wirklich, Miss Zamis? Ich glaube, Sie wissen viel mehr, als …« Er brach ab und presste die Lippen zusammen. »Ich weiß recht gut über die alten Ägypter Bescheid«, sagte Coco. »Es ist nicht nur das«, sagte Kassim. »Von Ihnen geht eine unglaubliche Kraft aus, eine Stärke, die ich nicht beschreiben kann. Aber lassen wir das! Ich werde jetzt nach Luxor fahren und die Polizei …« »Das werden Sie bleiben lassen«, sagte Coco, und ihre Augen schienen zu flackern. Gamal Kassim versuchte sich dem Bann ihrer Augen zu entziehen,
doch er war zu schwach dazu. Coco sprach leise auf den hypnotisierten Gamal Kassim ein, der sich nicht bewegte. Nach einigen Minuten erlöste sie ihn aus seinem Trancezustand. »Sie haben Recht, Miss Zamis«, meinte Kassim. »Es ist besser, wenn wir derzeit noch nicht die Polizei verständigen. Was schlagen Sie vor?« »Im Morgengrauen schicken Sie die Arbeiter aus, Dr. Kassim. Sie sollen die ganze Gegend absuchen. Vielleicht finden sie eine Spur von Susan Baxter. Ich werde mich mit den Grabräubern in Verbindung setzen und mich mit Jean Cardin, dem Hehler, unterhalten.« Coco zögerte einen Augenblick. »Ich würde gern die drei Grabbeigaben sehen, die Susan Baxter von Hami Fonad gekauft hat.« Kassim stand schwerfällig auf. »Woher wissen Sie, dass Susan Baxter …?« »Von Hamis Vater«, sagte Coco. »Hm«, brummte Kassim nachdenklich. »Sie sind erst seit wenigen Stunden im Camp, Miss Zamis, und haben bereits mehr erfahren, als die Polizei in drei Monaten. Sie sind eine ungewöhnliche Frau.« »Zeigen Sie mir jetzt bitte die Grabbeigaben!« Kassim griff in die Hosentasche und holte einen Schlüssel heraus. Er trat an einen Schrank und sperrte ihn auf. Neugierig kam Coco näher. Kassim trat einen Schritt zur Seite, und Coco betrachtete die Grabbeigaben interessiert; besonders der Brustschild beeindruckte sie. »Die Gegenstände sind ziemlich kostbar«, stellte Kassim fest. »Solche wertvollen Grabbeigaben erhielten üblicherweise nur hoch gestellte Persönlichkeiten. Nefer-Amun muss ein bedeutender Mann gewesen sein.« Coco nickte, und Kassim sperrte den Schrank ab. »Ich gehe jetzt schlafen«, sagte Coco. »Und das würde ich auch Ihnen empfehlen.« »Gute Nacht!«, sagte Kassim. Coco verließ die Hütte und blickte sich aufmerksam um. Es war unwirklich still. Sie blieb einige Minuten stehen, dann ging sie in
ihre Hütte. Coco machte kein Licht und ließ die Tür offen. Es war stickig in der Hütte. Sie setzte sich aufs Bett und rauchte eine Zigarette, drückte sie nach ein paar Zügen aber wieder aus, legte sich auf das schmale Feldbett und zog eine Decke über ihren Körper. Nach wenigen Augenblicken schlief sie tief. Coco schreckte hoch, als sie einen lauten Schrei hörte. Rasch warf sie die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Ein Schuss zerriss die Stille der Nacht. Aus den Zelten der Arbeiter hörte sie weitere Schreie. Coco rannte zu Kassims Hütte, aus der der Schuss gekommen war. Einige Arbeiter stürzten aus den Zelten. Verschlafen blieben sie stehen. Die Tür zu Kassims Hütte stand offen. Ein krachendes Geräusch war zu hören. »Lasst mich los!«, schrie Kassim auf arabisch. Coco duckte sich und huschte in die Hütte. Undeutlich konnte sie drei Gestalten erkennen, die dunkle Umhänge trugen. Zwei der Gestalten hatten Kassim gepackt, während die dritte sich am Schrank zu schaffen machte, in dem die Grabbeigaben Nefer-Amuns lagen. Die ehemalige Hexe der Schwarzen Familie versuchte die Spezialität der Familie Zamis anzuwenden: den Zeitraffereffekt. Coco konnte quasi die Zeit stillstehen lassen und sich selbst in einen rascheren Zeitablauf versetzen. Zu ihrer größten Überraschung konnte sie aber diese Fähigkeit nicht anwenden. Coco hob beide Hände, duckte sich etwas und konzentrierte sich. Der Mann, der den Schrank aufzubrechen versuchte, stieß einen gurgelnden Schrei aus und ging in die Knie. Unsichtbare Hände drückten gegen seinen Hals. Der Druck wurde immer stärker, der Mann brach bewusstlos zusammen. Jetzt wandte sich Coco den Männern zu, die Kassim festhielten. Wieder bewegte sie die Hände blitzschnell. Dabei murmelte sie einen magischen Spruch. Doch ihr magischer Spruch hatte diesmal keine Wirkung. Die Männer ließen Kassim nicht los. Coco kreuzte die Arme über der Brust und schloss die Augen. Sie konzentrierte sich erneut. Nur undeutlich hörte sie die Schreie, dann
einen Fall. Sie öffnete die Augen wieder und sah gerade noch, wie die beiden Männer aus der Hütte rannten. Sie hatten Kassim einfach fallen gelassen. Coco folgte den beiden. Im Mondlicht konnte sie mehr erkennen. Die Schädel der beiden waren kahl geschoren, und sie trugen dunkelrote Umhänge. Die Männer verschwanden hinter der Hütte. Coco rannte ihnen nach. Einige der Arbeiter, die sich mit Schaufeln bewaffnet hatten, schlossen sich ihr an. Als Coco um die Hütte bog, blieb sie stehen. Die beiden rot gekleideten Männer waren verschwunden. Deutlich waren die Fußspuren im Sand zu sehen, doch nach wenigen Metern hörten sie auf. Die Fellachen umringten Coco. »Kehrt in eure Zelte zurück!«, sagte Coco, doch die Arbeiter folgten ihr nicht. »Habt ihr mich nicht verstanden? Ihr sollt …« »Sie haben uns nichts zu befehlen«, sagte einer der Arbeiter. Coco warf dem Mann einen raschen Blick zu, drehte sich um und ging zurück in Kassims Hütte. Kassim hatte Licht gemacht und stand vor dem Bewusstlosen. Einige Arbeiter folgten Coco in die Hütte. »Befehlen Sie den Arbeitern, dass sie in ihre Zelte gehen sollen!«, sagte Coco. Kassim gehorchte. Er schrie den Arbeitern einige Befehle zu, die schließlich zögernd die Hütte verließen, dabei aber scheue Blicke dem unbekannten Mann zuwarfen. Coco schloss die Tür. »Was ist geschehen?«, fragte sie. »Ich wurde wach, als die Tür geöffnet wurde«, sagte Kassim. »Ich bin aus dem Bett gesprungen. Da haben mich zwei Männer gepackt. Einen konnte ich abschütteln. Ich griff nach meiner Pistole und schoss auf einen der Männer, verfehlte ihn aber. Da wurde mir die Pistole aus der Hand geschlagen, und die Männer hielten mich fest. Der dritte machte sich am Kasten zu schaffen. Den Rest wissen Sie ja.«
Coco studierte den Bewusstlosen. Er war so wie seine beiden Begleiter mit einem roten Umhang bekleidet, der sich verschoben hatte, ein schneeweißer Lendenschurz kam darunter zum Vorschein. Um den Hals trug der Mann eine Goldkette, an der ein Skarabäus hing. Der Mann atmete regelmäßig. Coco kam langsam näher, bückte sich etwas und sah sich das Gesicht des Mannes genau an. Es war völlig haarlos. Die Brauen waren abrasiert, die Wimpern ausgezupft. Der Schädel war kahl. »Wenn ich mich recht erinnere«, sagte Coco, »dann war es für die Priester im alten Ägypten Pflicht, alle Haare von ihrem Körper zu entfernen.« »Stimmt«, sagte Kassim. »Auf dem Umhang sind Hieroglyphen eingestickt«, stellte Coco fest. Kassim kniete neben dem bewusstlosen Priester nieder. »Das ist Nefer-Amuns Siegel«, sagte der Ägyptologe. »Da haben wir einen guten Fang gemacht«, stellte Coco zufrieden fest. »Ein Anhänger des Nefer-Amun-Kults ist uns in die Hände gefallen.« Der Mann schlug die Augen auf. Sie waren hellblau; eine ziemlich ungewöhnliche Augenfarbe für einen Ägypter. Er hob den Kopf, setzte sich schweigend auf und blickte sich langsam in der Hütte um. Dann stand er auf. Coco blickte in seine Augen. Sie versuchte ihn zu hypnotisieren, doch der Mann hielt dem hypnotischen Blick stand; er ließ sich nicht hypnotisieren. »Wir müssen ihn fesseln«, sagte Coco rasch. Kassim packte den rechten Arm des Mannes, der ihn abschüttelte. Coco wollte Kassim zu Hilfe kommen, doch vor allem wollte sie die Flucht des Priesters verhindern. Sie sprang zur Tür, sperrte ab und steckte den Schlüssel ein. Gamal Kassim bückte sich, hob die Pistole auf, entsicherte sie und richtete sie auf den Priester. »Bleiben Sie ruhig stehen!«, befahl Kassim. Doch der Priester hörte nicht auf ihn. Er trat zwei Schritte zur Sei-
te. »Stehen bleiben!«, schrie Kassim. Die Waffe beeindruckte den Priester überhaupt nicht. Coco versuchte nochmals, ihn zu hypnotisieren – wieder vergebens. Der Priester dachte nicht an Flucht. Er wusste, was er zu tun hatte. Seine rechte Hand schoss vorwärts. Blitzschnell umspannte sie einen Brieföffner, der auf dem Schreibtisch lag. Coco ahnte, was der Priester vorhatte, und wollte es verhindern. »Schlagen Sie ihm den Brieföffner aus der Hand!«, schrie sie und rannte auf den Priester zu. Doch sie kam zu spät. Der Priester schlug den Umhang zurück. »Nefer-Amun«, flüsterte er, »nimm mein Ba in dich auf!« Mit voller Kraft rammte er sich den Brieföffner ins Herz. Seine weit aufgerissenen Augen waren auf Coco gerichtet, die vor ihm stehen geblieben war. Sie presste die Lippen zusammen. Der Priester blieb einige Sekunden stehen, dann fiel der Arm herunter. Nicht ein Tropfen Blut drang aus der Wunde. Der Priester schloss die Augen und fiel um. »Er hat Selbstmord begangen«, sagte Kassim überrascht. »Mit allem hatte ich gerechnet, aber damit nicht.« Coco schwieg. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie den Tod des Priesters nicht hatte verhindern können. Ihr Blick glitt zum Schrank. Die drei Männer waren ausgeschickt worden, um die Grabbeigaben Nefer-Amuns zu stehlen. Ihren Auftrag hatten sie nicht erfüllen können, doch Coco war ziemlich sicher, dass sie es wieder versuchen würden.
Susan Baxter glaubte, den Verstand zu verlieren. Wenn sie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte sie es nicht geglaubt. Hami Fonad war tot gewesen, da gab es keinen Zweifel, doch er war wieder lebendig geworden; und er verfolgte sie. Der Untote versperrte ihr den Weg zur Tür. Für sie blieb nur ein Fluchtweg: das Fenster. So rasch sie konnte, rannte sie durch das Zimmer. Sie schwang
sich auf das Fensterbrett, sprang ins Freie und blickte sich um. Der Untote folgte ihr weiter. Für einen Augenblick sah sie sein Gesicht im Mondlicht, die gebrochenen Augen und die fingergroße Öffnung in seiner Stirn, aus der Blut rann. Die Ägyptologin wandte sich nach links. Deutlich hörte sie die Schritte des Untoten hinter sich. Wieder wandte sie den Kopf um. Hami Fonad war nur noch zehn Meter entfernt. Er kam rasch näher. Der Boden wurde steinig. Einmal stolperte Susan. Sie taumelte einige Schritte, richtete sich aber gleich wieder auf und lief weiter. Ihr Atem kam rasselnd, und nach wenigen Minuten bekam sie Seitenstechen. Sie ließ ihre Handtasche fallen. Eine Hand griff nach ihr; sie war eiskalt. Susan schrie verzweifelt auf, als sich die Hand in ihrem Haar verkrallte. Wild schüttelte sie den Kopf hin und her. Die Hand ließ sie los, und sie hastete stöhnend weiter. Sie lief einen schmalen Weg entlang, der direkt auf die Steilwände von Deir-el-Bahari zuführte. Nach einigen Schritten drehte sie erneut den Kopf herum. Der Untote war verschwunden. Schwer atmend blieb sie stehen und presste die Hände gegen ihren wogenden Busen. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich etwas beruhigt hatte. Das war knapp gewesen, dachte sie und wunderte sich, weshalb der Untote plötzlich die Verfolgung abgebrochen hatte. Kein Mensch wird mir diese Geschichte glauben, überlegte sie weiter. Eine Statue, die sich bewegt, ein Toter, der zum Leben erwacht, das Beben im Haus, das Schwanken der Wände – das alles war mit dem Verstand nicht zu erklären. Susan wischte sich den Schweiß von der Stirn und lächelte schwach. Sie beschloss, ins Camp zurückzugehen. Jede Bewegung schmerzte sie. Die wilde Verfolgungsjagd hatte sie erschöpft. Der Schrecken war für Susan Baxter jedoch nicht zu Ende. Aus dem Boden schien plötzlich ein halbes Dutzend Männer aufzutauchen. Susan war wie gelähmt. Sie öffnete den Mund, wollte schreien,
doch kein Laut kam über ihre Lippen. Die Männer umringten sie. Niemand sprach ein Wort. Susan wollte zurückweichen, da bekam sie einen Stoß in den Rücken. Sie taumelte gegen einen der Männer, der einen roten Umhang trug. »Ihr seid Nefer-Amun-Anhänger«, hauchte Susan mit versagender Stimme. Sie ahnte, weshalb der Untote von ihr abgelassen hatte. Er hatte sie nur hierher in die Einsamkeit der Totenstadt treiben wollen, damit sie den Nefer-Amun-Priestern in die Hände fiel. Susan suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Die Männer trieben sie auf eine Felswand zu. Die Ägyptologin wusste, dass es keinen Sinn hatte, wenn sie um Hilfe schrie; kein Mensch würde sie hören. Sie unternahm einen Fluchtversuch, wandte sich nach rechts und stieß einen der Priester zur Seite, doch weit kam sie nicht. Nach einigen Schritten holten sie zwei Männer ein, packten sie und zerrten sie auf eine Höhle zu. Ihre Hände wurden auf den Rücken gerissen. Eine Hand legte sich auf ihren Mund, zwei Finger drückten ihre Nase zu. Verzweifelt versuchte sie sich loszureißen, doch die Männer waren stärker als sie. Sie japste nach Luft, aber die Hand auf ihrem Mund erstickte sie fast. Sie glaubte, ihr Kopf würde platzen. Rote Sterne explodierten vor ihren geschlossenen Augen, dann sackte sie bewusstlos zusammen. Irgendwann erwachte sie. Ihr war übel. Sie glaubte sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Die Luft war stickig. Sie hörte das Tapsen nackter Füße auf dem Steinboden, das Quietschen einer Tür in den Angeln, war aber zu schwach, um irgendetwas zu sagen oder zu tun. Sanft wurde sie niedergelegt. Die Stimmen um sie sprachen nicht arabisch, sondern eine Sprache, die Susan entfernt bekannt vorkam. Mühsam hob sie den Kopf. Vor ihr standen drei kahl geschorene Mädchen, die einfache weiße Leinentücher um die Hüften trugen; sonst waren sie völlig nackt. Sie sprachen das alte Ägyptisch, stellte Susan überrascht fest. Zwei Mädchen hoben ihren Oberkörper hoch, die dritte zog ihr die Jacke aus. Susan war noch immer zu keiner Gegenwehr imstande.
Ihre Bluse wurde geöffnet und über die Schultern gezogen, dann hakte das Mädchen den Büstenhalter auf. Susan hob die Arme; sie waren wie mit Blei gefüllt. Die Mädchen drückten sie auf den Steinsockel zurück. Innerhalb weniger Sekunden war Susan völlig nackt. Sie spürte die Kälte des Steinsockels. Ihr Körper wurde auf die Seite gedreht, die Hände mit weißen Binden auf dem Rücken gefesselt, die Fußgelenke zusammengebunden. Die Mädchen wälzten sie erneut auf den Rücken und verließen den kleinen Raum. Mühsam hob Susan den Kopf und blickte sich um. In einer der Wände steckten zwei Fackeln, die ein Bild des Gottes Arnim beleuchteten. Unter dem Götterbild waren einige Hieroglyphen eingeritzt. Susan ließ den Kopf sinken und schloss die Augen. Die unnatürliche Müdigkeit wollte nicht aus ihren Gliedern weichen. Jeder Gedanke – auch der simpelste – fiel Susan schwer. Nach einigen Minuten drehte sie wieder den Kopf zur Seite und studierte die Hieroglyphen. Langsam wich der Druck aus ihrem Kopf. Die Hieroglyphen schienen sich zu bewegen, tanzten auf und ab. Susan kniff die Augen zusammen. Horusfalken gleich schweb ich im Himmel, las Susan. Flatternd steige ich nieder zum Reich der Toten. Den Kot esse ich nicht. Ekel ist er mir. Meinem Ka graut es vor ihm. In meinen Leib dringe er nicht ein. Susan konnte nur mühsam die Augen offen halten, doch sie entzifferte die Hieroglyphen weiter. Rein ist die Nahrung, die mir, Nefer-Amun, die Götter bewilligen. Kraftstrotzend bin ich. Die Totenopfer verleihen mir Leben. Als Gaben sind mir bestimmt: Brot, Bier, Menschen. Mächtig bin ich, denn ich weiß: Gott Amun lebt mir im Haupte. Nun verbeugen sich tief die Götter Ägyptens vor mir. Denn mehr besitz ich an Macht als eure Gebieter. Und meine männliche Kraft erstreckt sich über Jahrmillionen. Ein ähnlicher Spruch war Susan aus dem ägyptischen Totenbuch bekannt. Die in die Wand geritzten Zeichen unterschieden sich aber in einigen wesentlichen Punkten. Er war anmaßend. Nie zuvor hatte Susan ähnliche Hieroglyphen gelesen. Irgendwo erklang ein dumpfer Gongschlag. Vier junge Männer be-
traten die Kammer. Sie blieben neben ihr stehen und hoben sie hoch. Sie wurde einen schmalen Gang entlanggetragen, der in einer großen Grabvorkammer endete. Dort wurde sie auf einen langen Steinsockel gelegt. Die Wände waren mit unzähligen Bildern und Hieroglyphen bedeckt. Neben einer der schmalen Türen lehnte eine Mumie. Die Binden waren mit Zeichen bemalt. Die vier Männer verließen die Kammer. Einige Zeit geschah nichts, dann betrat ein breitschultriger Mann den Raum. Gemessenen Schrittes ging er auf Susan zu. Er hatte den Körper eines Preisboxers und den Kopf eines Künstlers. Im Fackelschein wirkte seine Haut fast grau. Die dunklen, tief in den Höhlen liegenden Augen musterten Susan gleichgültig. Susan räusperte sich. »Was haben Sie mit mir vor?«, fragte sie. »Wir fanden Ihre Handtasche, Miss Baxter«, sagte der Mann. »Ich weiß, wer Sie sind.« »Und wer sind Sie?« »Hu-Amun«, sagte er. »Sie würden mich als Hohepriester des Nefer-Amun-Kults bezeichnen.« Susan strich sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Sie wollen mich Nefer-Amun opfern?«, fragte sie mit heiserer Stimme. »Richtig«, stimmte Hu-Amun zu. »Sie werden so wie Nefer-Amun den Tod finden. So wie dieses Mädchen, dessen Mumie Sie sehen können.« Hu-Amun deutete auf die Mumie. »Sie war eine junge Deutsche. Christine Draxler. Sie musste sterben, damit Nefer-Amun leben kann. Und auch Sie werden sterben und mit Ihrem Tod Nefer-Amuns Lebenskraft stärken. Sie wollten Nefer-Amuns Grab finden. Jetzt befinden Sie sich darin. Sie werden langsam sterben, Miss Baxter, so wie Nefer-Amun langsam gestorben ist. Sie haben viel Zeit. Sie können die Hieroglyphen entziffern, dann werden Sie alles verstehen. Jede Frau, die ihr Ba für Nefer-Amun hingegeben hat, erlebte nochmals Nefer-Amuns Leben nach.« Susan Baxter schwieg.
»Sind Sie gar nicht neugierig, wie Sie sterben werden, Miss Baxter?« Susan schwieg weiterhin. »Ich werde es Ihnen sagen, Miss Baxter.« Hu-Amuns Stimme klang kühl. »Üblicherweise wurden nur Tote einbalsamiert. Das ist Ihnen ja bekannt. Es gab aber auch Ausnahmen. Gelegentlich kam es vor, dass Menschen bei lebendigem Leib einbalsamiert wurden. Entweder verhungerten sie oder sie erstickten. Bei den Toten war es eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Der Balsamierer begann seine Arbeit mit dem Entleeren der Hirnschale. Ein Haken wurde in die Nase eingeführt, der …« »Das weiß ich alles«, unterbrach ihn Susan. Doch Hu-Amun ließ sich nicht stoppen. »Der Haken durchstieß die Schädelbasis, drang in die Hirnmasse ein, zerstörte sie durch Drehbewegungen und zog sie durch die Nase heraus.« »Hören Sie auf damit!«, sagte Susan. »Gelegentlich kam es aber auch vor, dass man den Schädel im Nacken öffnete, oder – das kam allerdings sehr selten vor – man trennte den Kopf vom Rumpf, der später mit einem Metallstab wieder befestigt wurde. Danach wurde der Leib der Toten geöffnet, und die Eingeweide wurden herausgeholt. Die Nieren und das Herz blieben aber meist im Körper. Die Eingeweide wurden mit Myrrhen, Anis, Zwiebeln, Palmwein und verschiedenen Gewürzen vermengt; sie wurden in Bandagen gehüllt und in besonderen Behältern aufbewahrt.« »Halten Sie endlich den Mund«, flüsterte Susan. »Ich weiß über die Mumifizierung Bescheid.« »Leber, Lunge, Magen und die anderen Eingeweide wurden in Kanopen aufbewahrt. Der Leib des Toten wurde mit teergetränkten Lappen ausgestopft. Augen, Ohren, Nase und Mund wurden mit Wachs verschlossen. Der Tote wurde danach in eine Natronlauge gelegt. Dabei lösten sich die Haut und die Nägel ab. Später wurde der Körper wieder aus der Lauge herausgeholt. Abschließend wurde der Tote in Leinenbinden eingehüllt. Üblicherweise wickelte man zuerst die Finger, die Füße und Hände gesondert ein, dann kam der
gesamte Körper dran. Ich habe das ein wenig vereinfacht dargestellt, aber Sie wissen ja Bescheid.« »Weshalb erzählen Sie mir das alles?« »Sie werden lebend einbalsamiert, Miss Baxter. Dazu sind aber einige Vorbereitungen notwendig, mit denen wir jetzt beginnen.« Hu-Amun verließ die Grabvorkammer und ließ Susan Baxter allein. Einige Minuten später betraten ein paar Männer die Kammer. Sie hockten sich vor ihr auf den Boden und stimmten einen klagenden Gesang an.
Im Morgengrauen hatte Gamal Kassim seine Leute ausgeschickt. Sie sollten nach Susan Baxter suchen. Coco versprach sich nicht viel von dieser Suche, da sie annahm, dass Susan entweder von Hami Fonad getötet worden war oder sich in der Gewalt der Nefer-Amun-Anhänger befand. Coco borgte sich Kassims zehn Jahre alten VW-Käfer aus. Sie fuhr nach Kurna und blieb vor Achmed Fonads Haus stehen. Einige Fellachen warfen ihr neugierige Blicke zu. Coco stieg aus und öffnete die Tür zu Fonads Haus. »Jussuf!«, rief sie. Eine halbe Minute später stand der junge Ägypter vor ihr. »Wir fahren zu Abd-el-Baran«, sagte Coco, und Jussuf nickte. Sie stiegen in den VW, und Coco fuhr los. »Wo wohnt Abd-el-Baran?«, fragte sie, als sie in die Straße nach Neu-Kurna einbog. »In Luxor«, antwortete Jussuf. »In der Sharia el-Karnak.« »Hat dein Bruder die Statue an den Händler verkauft, Jussuf?« »Ja. Jean Cardin kaufte sie.« »Wie viel hat er dafür gezahlt?« »Fünfhundert Pfund.« »Ich will auch mit ihm sprechen. Wohnt er auch in Luxor?« »Ja«, sagte Jussuf tonlos. »In der Sharia el-Mahatta, ganz in der Nähe des Bahnhofs.« Schweigend fuhr Coco durch Neu-Kurna und bog nach links zur
Bootsanlegestelle ein. Sie war sicher, dass Abd-el-Baran ihr keineswegs freiwillig den Zugang zum Grab Nefer-Amuns verraten würde; und sie war auch sicher, dass keine noch so hohe Summe ihn dazu bringen konnte; ihr würde nichts anderes übrig bleiben, als ihn zu hypnotisieren. Und mit Jean Cardin wollte sie sich auch unterhalten. Die Statue, die der Händler gekauft hatte, war gefährlich. Sie ließ den Wagen stehen und betrat zusammen mit Jussuf die Fähre. In wenigen Minuten landeten sie in Luxor. Jussuf führte sie am Tempel von Luxor und der Neuen Moschee vorbei. Sie gingen durch einige schmale Gässchen, dann erreichten sie die breite Sharia el-Karnak. Abd-el-Barans Haus lag unweit des Hôtel des Familles. Es war ein großer Bau. Die Vorderfront war aus bunten Steinblöcken erbaut. Eine schwere, geschnitzte Tür stand weit offen. Der junge Ägypter trat ohne zu zögern ein. Ein breiter, gepflasterter Gang führte in den Innenhof. Ein alter Mann kam ihnen entgegen. »Sag Abd-el-Baran, dass ich ihn sprechen möchte«, sagte Jussuf. Der Alte verschwand wortlos. Einige Minuten später kam er zurück und führte Jussuf und Coco ins Haus. Er brachte sie in einen großen Raum und forderte sie auf, sich zu setzen. Coco setzte sich auf einen weichen Divan, während Jussuf sich in einem Lehnstuhl niederließ. Der Alte verließ langsam das Zimmer. Coco sah sich aufmerksam um. Eine Wand wurde mit kostbaren Teppichen bedeckt, während die anderen kahl waren. Ein paar alte Truhen und Schränke, ein halbes Dutzend Schemel und niedrige Tischchen standen herum. Eine der hohen Türen wurde aufgestoßen, und ein kleiner Mann trat ein. Für einen Augenblick blieb er stehen, dann ging er auf Coco und Jussuf zu. Er trug einen gut geschnittenen, weißen Anzug, ein fliederfarbenes Hemd und eine weiße Krawatte. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten, und sein Gesicht zierte ein gewaltiger Vollbart. Die Augen lagen weit auseinander, waren kohlrabenschwarz und blickten so freundlich wie Kieselsteine drein. An den
dicken Fingern funkelte ein Dutzend protziger Ringe. Jussuf stand auf. »Abd-el-Baran«, sagte er, »ich …« Abd-el-Baran winkte ungeduldig ab. »Wer ist die Frau?« »Coco Zamis«, sagte Jussuf. »Ich bin Reporterin«, erklärte Coco auf englisch. »Reporterin?« Auf Abd-el-Barans Stirn erschien eine steile Falte. »Was führt Sie zu mir?« »Das können Sie sich doch denken«, sagte Coco lächelnd. »Ich kann mir gar nichts denken«, brummte Abd-el-Baran und setzte sich Coco gegenüber. »Ich habe keine Lust, lange herumzureden«, sagte Coco. »Dazu habe ich keine Zeit. Sie sind das Oberhaupt einer Grabräuberbande, die …« »Das ist ja unerhört!«, zischte Abd-el-Baran. »Ich bin ein ehrlicher Kaufmann. Ein …« »Ihnen – oder einem Ihrer Männer gelang es, Nefer-Amuns Grab zu finden«, unterbrach ihn Coco. »Ich will, dass Sie mich zu Nefer-Amuns Grab bringen.« Abd-el-Baran glotzte Coco an, als hätte er eine Verrückte vor sich. »Sie wissen nicht, was sie sagen«, flüsterte er. »Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung, die …« Coco hob beide Hände, und ihre Augen wurden starr. Sie blickte Abd-el-Baran einige Sekunden lang an, und sein Blick wurde ausdruckslos. »Sie werden mir jetzt die Wahrheit sagen, Abd-el-Baran«, sagte Coco. »Die volle Wahrheit!« »Ich werde die Wahrheit sagen«, flüsterte Abd-el-Baran. »Erzählen Sie mir, wie Sie Nefer-Amuns Grab fanden!« »Vor mehr als drei Monaten, genauer gesagt am 20. September, entdeckte einer meiner Männer in einem der kleinen Seitentäler von Deir-el-Bahari einen Tunnel. Er kroch hinein, geriet in ein verwirrendes Höhlenlabyrinth und fand einige Kammern, die leer waren. Dann entdeckte er eine, die voll mit kostbaren Schätzen war. Er nahm einige Gegenstände an sich und kam zu mir.«
»Erzählen Sie weiter!«, forderte Coco. Abd-el-Baran gehorchte. »Ich sandte sofort Männer hin, doch der Eingang zum Höhlensystem war nicht zu finden. Ich schickte sie jede Nacht in das schmale Seitental. Sie untersuchten alle Wände, fanden aber keinen Eingang. Aber ich ließ nicht locker. Mir war bewusst, dass es sich um Nefer-Amuns Grab handeln musste. Und nach vier Wochen hatten wir plötzlich Erfolg. Der Tunnel wurde gefunden. Wir drangen in die Grabkammern ein. Eine der Vorkammern räumten wir völlig aus. Doch dann kam es zu einem Zwischenfall. Nefer-Amun-Anhänger stürzten sich auf uns. Es kam zu einem erbitterten Kampf, und wir mussten uns zurückziehen. Am nächsten Tag war der Tunnel wieder verschwunden. Jede Nacht suchten meine Männer, und vor ein paar Tagen hatten sie wieder Erfolg. Doch auch diesmal wurden sie von Nefer-Amun-Priestern vertrieben. Sie konnten nur wenige Grabbeigaben erbeuten. Seither weigern sich meine Männer, das Tal zu betreten. Sie haben vor den Priestern Angst. Ein halbes Dutzend meiner Leute wurde verwundet oder getötet.« »Haben Sie noch einige der Grabbeigaben?«, fragte Coco. »Nein, ich verkaufte alle. Ich hatte nur fünf unbedeutende Stücke in meinem Haus, und diese Nacht wurde bei mir eingebrochen, und die fünf Grabbeigaben wurden gestohlen.« »An wen verkauften Sie die Gegenstände?« »Teilweise an Touristen, doch den Großteil an einen Händler in Kairo. Ein paar verkaufte ich Jean Cardin und der Familie Fonad.« »Sie verkauften eine seltsame Statuette an Achmed Fonad. Weshalb?« »Meinen Sie die Toth-Anubis-Statue?« »Genau die.« »Diese Statue war mir unheimlich«, sagte Abd-el-Baran. »Als ich sie berührte, spürte ich seltsame Gedanken, die auf mich überströmten. Ich hatte Angst. Ich wollte sie aus dem Haus haben und verkaufte sie weit unter dem Preis an Achmed.« »Sie werden mich heute noch in das Seitental führen, in dem sich der Zugang zu Nefer-Amuns Grab befindet«, sagte Coco.
»Ich führe Sie hin«, sagte Abd-el-Baran, »aber ich kann Ihnen nicht garantieren, dass ich den Tunnel finde. Manchmal ist er da, dann ist er wieder verschwunden.« »Was wissen Sie vom Nefer-Amun-Kult?« »Er besteht seit vielen tausend Jahren. Seine Anhänger leben abgeschieden. Man sieht sie kaum jemals in der Öffentlichkeit. Sie leben unter der Erde und sind mächtig. Jeder hat Angst vor ihnen. Sie rauben junge Frauen, die sie ihrem Gott opfern, und verfügen über ungewöhnliche magische Kräfte, mit denen sie das Grab Nefer-Amuns schützen.« Coco überlegte. Jahrtausendelang war Nefer-Amuns Grab nicht entdeckt worden, doch plötzlich – vor einigen Wochen – fanden es Abd-el-Barans Leute. Es gelang ihnen sogar, einige Grabbeigaben zu rauben. Irgendetwas musste geschehen sein. Aber was? Sie vereinbarte mit Abd-el-Baran, dass er nachmittags mit einigen Männern ins Camp kommen sollte.
Jean Cardin empfing sie freundlich. Er war in Ägypten geboren; sein Vater hatte eine Ägypterin geheiratet, aber er konnte seine französische Abstammung nicht verleugnen. Obwohl er erst vierzig Jahre alt war, war sein Kopf kahl wie eine Billardkugel. Von all seinen Bekannten wurde er »Der Franzose« genannt. Für weibliche Reize war er durchaus empfänglich. Sein schmales Gesicht mit den hellen Augen strahlte, als er Coco in sein protzig eingerichtetes Arbeitszimmer führte. »Ich habe bereits einige Antiquitäten von Jussufs Vater gekauft«, sagte Coco. »Er berichtete mir, dass er Ihnen gestern ein ungewöhnlich kostbares Stück überlassen hat, eine Toth-Anubis-Statuette. Ich würde diesen Gegenstand gern kaufen.« Cardin hob bedauernd die Hände. »Sie kommen leider zu spät, Fräulein Zamis. Ich habe diese Statue nicht mehr.« Coco wunderte sich, dass Cardin zugab, dass er die Statue besessen hatte; aber vielleicht hatte er Vertrauen zu ihr gefasst, da sie mit Jussuf Fonad bei ihm erschienen war.
»Wo ist die Statue jetzt?« »Wahrscheinlich nicht mehr in Ägypten«, meinte Cardin. »Kurz nachdem Girgis Fonad mir die Statuette brachte, kam mein Bote. Ich gab ihm die Statue mit einigen anderen Gegenständen mit. Wie Sie wissen, ist es verboten, Antiquitäten aus Ägypten auszuführen. Man benötigt eine Ausfuhrgenehmigung dazu, die aber nur für unbedeutende Kunstgegenstände erteilt wird. Ich muss die wertvollen Stücke aus dem Land schmuggeln lassen. Sie werden über das Rote Meer nach Saudi-Arabien gebracht und von dort per Luftfracht an meine Kunden in alle Welt verschickt.« »Über der Toth-Anubis-Statue soll ein Fluch hängen. Wissen Sie davon?« Cardin schüttelte den Kopf. »Darüber ist mir nichts bekannt.« »Geschah vergangene Nacht etwas Seltsames in Ihrem Haus?« Cardin fuhr sich über das glatt rasierte Gesicht. »Es wurde eingebrochen. Das ist in den vergangenen Jahren immer wieder geschehen. Die besonders wertvollen Stücke bewahre ich in meinem Safe auf. Viel Beute haben die Diebe deshalb nie gemacht.« »Und in dieser Nacht?« »Hm«, sagte Cardin. »Der Safe war offen. Dabei hatte mir der Verkäufer gesagt, dass er absolut einbruchssicher ist. Ich befürchtete das Schlimmste, doch ich wurde angenehm überrascht. Nur ein einziges Stück fehlte: ein goldener Skarabäus.« »Aus Nefer-Amuns Grab?« »Wie können Sie das wissen?« »Es sieht so aus, als hätten die Diebe es nur auf dieses eine Stück abgesehen.« »Ganz richtig«, bestätigte Cardin. »Im Safe befanden sich eine Reihe kostbarer Stücke, die aber nicht mitgenommen wurden.« »Haben Sie die Polizei verständigt?« Der Hehler lächelte. »Wo denken Sie hin, Miss Zamis? So ein Einbruch ist Berufsrisiko.« Plötzlich musterte er Coco ernst. »Aber noch etwas Eigenartiges ist geschehen. Bevor ich die Toth-Anubis-Statuette weitergegeben habe, habe ich einen Abguss gemacht. Das mache ich meistens von besonders wertvollen Stücken.«
»Wurde der Abguss geraubt?« »Nein. Sehen Sie selbst!« Er stand auf, verließ das Zimmer und kehrte kurze Zeit später mit einer Gipsfigur zurück. »Das ist der Abguss.« Coco hob die Figur hoch. »Im Sockel des Originals waren Hieroglyphen eingeritzt«, sagte Cardin. »Beim Abdruck fehlen sie aber. Der Sockel ist völlig glatt. Dabei bin ich ganz sicher, dass ich die Hieroglyphen auch auf dem Abdruck gesehen habe.« Coco stellte die Figur auf den Tisch und starrte Cardin an. »Konnten Sie die Zeichen entziffern?« »Nein.« Coco strich über den Sockel. Er war wie poliert. Sie wollte Gewissheit haben, ob Cardin die Wahrheit gesprochen hatte, und hypnotisierte ihn. Er hatte nicht gelogen. Alles war so geschehen, wie er es erzählt hatte. Der Überfall auf das Camp, der Einbruch bei Abd-el-Baran und bei Jean Cardin, das alles bestätigte ihren Verdacht. Die Nefer-Amun-Priester waren dabei, alle Gegenstände, die aus dem Grab ihres Gottes entwendet worden waren, zurückzuholen. Durch irgendein Ereignis war der magische Schutz vom Nefer-Amun-Grab genommen worden. Grabbeigaben waren geraubt worden. Die Priester hatten sich dagegen gewehrt, doch es war ihnen nicht gelungen, die Plünderungen zu stoppen. Aber jetzt waren sie wieder so mächtig geworden, dass sie sich daran machten, die geraubten Gegenstände zurückzuholen. Die Priester mussten über ziemlich starke magische Kräfte verfügen. Nur zu deutlich konnte sich Coco daran erinnern, dass sie ihre Fähigkeiten gegenüber den Priestern nur beschränkt hatte einsetzen können. Sie musste vorsichtig sein. Bis jetzt war alles ziemlich leicht gegangen; aber sie hatte es ja nur mit normalen Menschen zu tun gehabt, die gegen ihre Hypnosefähigkeiten keine Chance hatten. Coco erinnerte sich an ihr gestriges Gespräch mit Gamal Kassim. Er hatte den Gedanken, dass es unter den alten Ägyptern mächtige
Zauberer gegeben hatte, rundweg abgelehnt; und die Vermutung, dass es einigen Adepten gelungen sein sollte, sich in einen tranceartigen Zustand zu versetzen, der sie jahrtausendelang schlafen ließ, war dem Ägyptologen unwissenschaftlich vorgekommen. Was, wenn Nefer-Amun einer dieser Adepten war? Wenn er tatsächlich noch lebte? Sie verabschiedete sich von Jean Cardin, trank in einem Basar eine Kanne Kaffee und fuhr dann zurück ins Lager.
Gamal Kassim hatte die Ausgrabungsarbeiten unterbrochen. Alle Arbeiter hatten sich auf die Suche nach Susan Baxter gemacht, doch bis jetzt hatten sie keine Spur von ihr gefunden. Coco hatte ein einfaches Mittagessen zu sich genommen und sich danach in ihre Hütte zurückgezogen. Sie konzentrierte sich auf die vor ihr liegende Aufgabe, entspannte und fiel in einen tiefen zweistündigen Schlaf. Als sie erwachte, fühlte sie sich frisch und ausgeruht. Sorgfältig traf sie ihre Vorbereitungen. Sie hängte sich ein Amulett um den Hals, das ihre magischen Kräfte verstärken sollte, und bediente sich aus Susan Baxters Kleiderschrank, die ungefähr ihre Figur hatte. Coco wählte verwaschene Jeans und eine grobe Baumwollbluse. Dann befestigte sie eine starke Stablampe am Gürtel und trat aus der Hütte. Es war noch immer heiß. Kassim hatte die Suche nach Susan Baxter aufgegeben. Er hockte im Schatten seiner Hütte und blickte Coco missmutig entgegen. Coco setzte sich ihm gegenüber. »Sie glauben, dass Sie Abd-el-Baran zum Grab Nefer-Amuns bringen wird?«, fragte Kassim. »Er wird mich hinbringen«, sagte Coco zuversichtlich. »Eine andere Frage ist es, ob wir den Eingang zum Höhlenlabyrinth finden werden.« »Was werden Sie tun, wenn Sie ihn nicht finden?« »Dann werden morgen Ihre Arbeiter an der Stelle, die mir Abd-elBaran zeigen wird, zu graben beginnen. Das ist doch auch in Ihrem
Interesse, oder?« Kassim nickte. »Soll ich nicht lieber mitkommen, Miss Zamis?« Coco überlegte kurz. »Ja«, sagte sie schließlich. »Sie kommen mit. Aber wenn wir den Eingang finden sollten, bleiben Sie draußen. Ich weiß nicht, was uns in Nefer-Amuns Grab erwarten wird. Sollte uns etwas geschehen, können Sie uns vielleicht am nächsten Tag zu Hilfe kommen.« »Ich würde aber gern mitkommen«, sagte Kassim. »Das kann ich mir denken«, meinte Coco. »Leider ist es nicht möglich.« Coco konnte sich gut vorstellen, wie sehr der Wissenschaftler danach gierte, das Grab Nefer-Amuns zu erforschen, doch damit musste er warten. Vorerst wollte Coco einmal feststellen, ob Susan Baxter noch am Leben war und welche Bewandtnis es mit dem Nefer-Amun-Kult hatte. Coco trank eine Tasse Tee und rauchte eine Zigarette. »Glauben Sie, dass es noch viele unentdeckte Gräber der alten Ägypter gibt, Dr. Kassim?« »Schwer zu sagen«, meinte der Ägyptologe. »Sicherlich gibt es noch einige. Meist stoßen wir durch Hinweise von Touristen, die von Grabräubern Altertümer kaufen, auf sie. Der spektakulärste Fund fand vor mehr als neunzig Jahren statt. Damals tauchten plötzlich wertvolle Statuetten und ein Sarg mit einer Mumie auf.« »Ich erinnere mich, darüber irgendwo gelesen zu haben«, sagte Coco. »Ein Amerikaner – Baton war sein Name – kaufte einem Händler einen Papyrus ab. Er schmuggelte ihn aus Ägypten und legte ihn in den USA einem Ägyptologen vor, der ihn übersetzte.« »Richtig«, stimmte Kassim zu. »Der amerikanische Gelehrte schrieb an Professor Gaston Maspero, dem damaligen Leiter des Museums in Kairo. Der Papyrus stammte aus dem Grab eines Königs der 21. Dynastie, von dem die Wissenschaft damals überhaupt noch nichts wusste. Maspero wollte das Grab unbedingt sehen. Die ägyptische Polizei fand von den Grabräubern keine Spur. Maspero ging seine eigenen Wege, um die Grabräuber aufzustöbern.« Coco lächelte. »Ähnlich ging Susan Baxter vor. Sie versuchte sich
an die Grabräuber heranzumachen.« Kassim nickte. »Maspero schickte einen seiner Assistenten nach Theben. Er spielte einen wohlhabenden Touristen und kaufte einige antike Stücke. Bald war er überall bekannt, und immer kostbarere Gegenstände wurden ihm angeboten. Dann wurde ihm eine Statue gezeigt, die aus dem Grab der 21. Dynastie stammte. Er kaufte sie und ließ durchblicken, dass er an größeren Gegenständen interessiert sei. Wenige Tage später stellte der Händler mit Abd-el-Rasul, einem vermögenden Araber, der dem Assistenten verschiedene Grabbeigaben zeigte, eine Verbindung her. Daraufhin wandte sich der Assistent an die Polizei, und Rasul wurde verhaftet. Er leugnete hartnäckig, doch schließlich legte er ein Geständnis ab. Rasul wurde Straffreiheit zugesichert, und er sollte sogar noch eine hohe Belohnung erhalten, wenn er die Wissenschaftler zu dem Grab führte. Rasul willigte ein. Es blieb ihm keine andere Wahl. Er führte den Vizedirektor des ägyptischen Museums zur versteckten Grabkammer. Diesem gingen die Augen über. Zweiunddreißig Särge mit Mumien ehemaliger Könige, Königinnen und Hohepriester wurden gefunden, darunter die Mumie von Ägyptens größtem Pharao, Ramses II.« »Sie hoffen jetzt, dass wir ähnliche Schätze in Nefer-Amuns Grab finden? Nach den wenigen Grabbeigaben, die bisher auftauchten, schließe ich, dass wir in Nefer-Amuns Grab recht interessante Dinge finden werden.« Coco hob den Kopf. Zwei staubbedeckte Autos näherten sich. »Das ist Abd-el-Baran«, sagte sie und stand auf. Die Wagen blieben stehen. Abd-el-Baran stieg aus. Seinen Anzug hatte er mit der Tracht der Fellachen vertauscht. Mit ihm waren sieben Männer gekommen. Alle trugen Pistolen, einige hatten Lampen bei sich und Grabwerkzeuge. Abd-el-Baran blieb vor Coco stehen und verbeugte sich. »Wir können aufbrechen.« »Sie kommen mit, Dr. Kassim. Sagen Sie den Arbeitern, dass sie das Camp nicht verlassen dürfen.« Die Arbeiter starrten die Ankömmlinge finster an und tuschelten
miteinander. Kassim schrie ihnen einige Worte zu, und sie zogen sich zurück. »Gehen wir!«, sagte Coco. Abd-el-Baran ging voraus. Coco und Gamal Kassim folgten ihm. Die sieben Männer hielten einige Meter Abstand. Sie gingen die steil aufragende Felswand entlang und kamen an einigen engen Seitentälern vorbei, denen Abd-el-Baran keine Beachtung schenkte. Zehn Minuten später blieb er stehen, hob forschend den Blick und nickte zufrieden. »In diesem Tal befindet sich Nefer-Amuns Grab«, sagte er mit tiefer Stimme. Sie betraten das Tal. Es war kaum zehn Meter breit. Zu beiden Seiten erhoben sich zerklüftete rotgelbe Felswände. Nachdem sie etwa zweihundert Meter zurückgelegt hatten, blieb Abd-el-Baran abermals stehen. Er trat an die rechte Felswand heran und untersuchte sie. Schließlich brummte er zufrieden. »Hier ist die Markierung, die ich das letzte Mal anbringen ließ«, sagte er und zeigte auf ein kleines Kreuz, das in den Fels eingeritzt war. »Der Eingang zum Höhlenlabyrinth liegt genau oberhalb des Kreuzes, etwa fünf Meter hoch.« Abd-el-Baran schrie einigen Männern einige Befehle zu. Drei Männer kletterten die Steilwand hoch. Der Aufstieg war nicht einfach. »Die Höhle müsste doch leicht zu finden sein«, meinte Gamal Kassim. »Sie ist manchmal da, dann wieder nicht«, erwiderte Abd-el-Baran. »Entweder ist die Höhle da oder …« »Das verstehen Sie nicht«, unterbrach ihn Baran unwirsch. Die drei Männer suchten die Felswand ab, doch sie fanden die Höhle nicht. Abd-el-Baran befahl den anderen Männern, hochzuklettern, doch auch sie hatten kein Glück. Die Wand war bis auf die Felsvorsprünge völlig glatt. »Sind Sie ganz sicher, dass wir uns an der richtigen Stelle befinden, Baran?«, fragte Coco.
»Ja, ganz sicher. Die Markierung beweist es.« Coco war skeptisch. Sie ging tiefer ins Tal und musterte dabei aufmerksam die rechte Felswand. Nach zehn Schritten blieb sie stehen und presste die Lippen zusammen. »Kommen Sie zu mir, Baran!« Abd-el-Baran und Gamal Kassim blieben neben ihr stehen. »Was sagen Sie dazu?«, fragte Coco und zeigte auf ein Kreuz. Baran runzelte die Stirn. »Verdammt!«, fluchte er wütend. »Dahinter stecken die Nefer-Amun-Anhänger. Sie wollen uns täuschen.« »Das nehme ich auch an«, sagte Kassim, der weitergegangen war und nach fünf Metern ein weiteres Kreuz entdeckte. Insgesamt fanden sie neun Markierungen. Abd-el-Baran konnte nicht sagen, welche die richtige war. Es war nicht auszuschließen, dass die Nefer-Amun-Priester die ursprüngliche Markierung vernichtet hatten und alle neun gefundenen Kreuze nur zur Täuschung angebracht worden waren. Abd-el-Baran hetzte seine Männer bei jeder der Markierungen die Felswand hoch, doch nirgends fand sich die Höhle. »Was nun?«, fragte Kassim. Es wurde langsam dunkel. »Eine gute Frage«, sagte Coco. »Ich bezweifle, dass eine Suche während der Nacht viel Sinn hat.« Coco trat an die gegenüberliegende Wand und lehnte sich dagegen. Die Strahlen der tief stehenden Sonne fielen auf die rechte Felswand. Sie suchte die Wand mit ihren Blicken ab, trat einen Schritt zur Seite und hielt den Kopf etwas schräg. Dann streckte sie ihren rechten Arm aus. Kassims Blick folgte der Richtung. »Sehen Sie die Höhle?«, fragte Coco. »Nein, ich sehe nichts.« »Sie ist ganz deutlich zu sehen«, meinte Coco und ging geradeaus. Vor einer der Markierungen blieb sie stehen. Abd-el-Baran befahl einem Mann, hinaufzuklettern, doch er fand die Höhle nicht. »Ich steige selbst hinauf«, sagte Coco. Der Aufstieg war schwierig, da die Felswand steil anstieg. Coco
kletterte geschickt wie eine Katze. Das Gestein fühlte sich warm unter ihren Händen an. Sie stieg noch ein Stück höher, und plötzlich fühlte sich der Fels anders an, kühl. Coco war sicher, dass sie den Eingang zum Höhlenlabyrinth gefunden hatte. Ihre Hände strichen über das Gestein. »Haben Sie etwas gefunden, Miss Zamis?«, fragte Kassim. Coco antwortete nicht. Sie schmiegte sich eng an die Felswand, löste das Amulett von ihrem Hals, nahm es in die rechte Hand und drückte es gegen die Stelle, wo die Wand kalt war. Einige Sekunden lang geschah nichts, dann spürte Coco ein sanftes Kribbeln in den Fingerspitzen. Die Felswand begann an der Stelle, auf die Coco das Amulett gepresst hatte, leicht zu glühen. Es dauerte nur einen Augenblick, dann hörte das Glühen auf. Dafür glitt Cocos Hand in eine Öffnung. Stickige Luft schlug ihr entgegen. »Ich habe die Höhle gefunden!«, rief sie. Sie hängte sich das Amulett um den Hals, holte die Stablampe hervor, knipste sie an und leuchtete in die Höhle. Es war ein schräger Schacht, der steil in die Felswand führte. »Wir kommen!«, rief Kassim. »Sie bleiben unten, Dr. Kassim!«, befahl Coco. Entschlossen stieg sie in den Schacht. Sie konnte nicht aufrecht gehen; dazu war er zu niedrig. So setzte sie sich einfach auf das Hinterteil und rutschte langsam in die Tiefe. Hinter sich hörte sie Geräusche. Einmal drehte sie sich um und sah Abd-el-Baran, der ihr folgte. Der Schacht war etwa zehn Meter lang und mündete in einen langen Gang, der nach links führte. Der Gang war mehr als zwei Meter hoch und so breit, dass drei Leute bequem nebeneinander gehen konnten. Coco wartete, bis Baran und seine Männer sie erreicht hatten. »Wie geht es nun weiter?« »Hinter dem Gang liegt eine leere Kammer«, sagte Abd-el-Baran. »Von dieser Kammer aus verlaufen sechs Gänge durch den Berg.« Coco wandte den Kopf, als sie ein Geräusch hörte. Noch jemand rutschte den Schacht herunter.
»Jean Cardin!«, rief Coco überrascht aus, als sie den Mann erkannte. »Was führt Sie hierher?« Cardin hob die Schultern. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Irgendetwas trieb mich her. Ich kann es nicht erklären. Es war wie ein Zwang.« Coco sah ihn misstrauisch an. Seine Augen waren unnatürlich geweitet. Gamal Kassim rutschte ebenfalls den Schacht herunter. »Ich befahl Ihnen, dass Sie …«, schrie Coco wütend, brach aber ab und musterte Kassim. Sein Gesicht war ausdruckslos. Er hatte die Augen halb offen, und seine Stirn war schweißbedeckt. Sie ging auf Kassim zu und blickte ihm in die Augen, konnte ihn aber nicht hypnotisieren. Er unterstand einer Macht, die stärker als ihre war. »Wir kehren sofort um«, sagte Coco. Das Auftauchen Cardins und der veränderte Zustand Gamal Kassims waren Warnung genug. Es krachte laut. Gesteinsbrocken kullerten den Gang herunter. Kichern war zu hören, und die Erde bebte. Eine Gesteinslawine polterte in den Gang. Ein Stein traf einen von Abd-el-Barans Leuten und schlug ihm den Hinterkopf blutig. Das Kichern wurde lauter. »Der Schacht ist verschüttet«, sagte Abd-el-Baran. »Wir müssen weiter.« Immer mehr Steine fielen in den Gang. Barans Männer liefen ängstlich vorwärts. Cardin und Kassim folgten ihnen; beide gingen wie Puppen. Coco blieb etwas zurück. Sie hatte die Entdeckung der Höhle auf die Wirkung des Amuletts zurückgeführt, doch jetzt war sie nicht mehr sicher, ob dies tatsächlich zutraf. Immer mehr verstärkte sich bei ihr der Verdacht, dass die Nefer-Amun-Anhänger absichtlich die magische Sperre aufgehoben hatten. Einer der Fellachen stieß einen schrillen Schrei aus. Eine Schlinge war um seinen Hals geworfen worden, die aus der Decke gekommen war. Die Schlinge zog sich um den Hals des Unglücklichen zusammen. Er trampelte mit den Beinen, dann wurde sein Körper
hochgerissen und verschwand in der Decke, die sich wieder schloss. Die Fellachen schrien erregt durcheinander. Kassim und Cardin gingen stur weiter, Barans Männer zögerten. »Gehen Sie voraus, Abd-el-Baran!«, befahl Coco. Baran gehorchte. Er brüllte seine Männer an, die alle die Pistolen gezogen hatten und sich ängstlich umblickten. Sie erreichten die Kammer, die völlig leer war. Nur in eine Wand waren einige Hieroglyphen gemeißelt. Kassim und Cardin betraten einen der Gänge, Abd-el-Baran und seine Männer schlossen sich ihnen an. Coco spürte die Ausstrahlung des Bösen, die mit jedem Schritt stärker wurde. Der Gang stieg sanft an. In Abständen von etwa zehn Metern befanden sich auf beiden Seiten Nischen, die mit Gittern abgesichert waren. Coco blieb vor einer der Nischen stehen und hob die Taschenlampe. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Mehr als fünfzig Mumien lagen in der Nische. Rasch ging sie weiter. Auch in die nächste Nische warf sie einen flüchtigen Blick. Hier bot sich das gleiche Bild. Der Raum war bis zur Decke mit Mumien angefüllt. Ein lauter Schrei hallte schaurig durch den schmalen Tunnel. Die Fellachen stoben wild brüllend auseinander. Ein paar liefen geradeaus, während drei Männer nach links in einen breiten Gang flüchteten. Einen von Abd-el-Barans Männern hatte es erwischt. Ein medizinballgroßer Felsbrocken hatte sich aus der Decke gelöst und den Kopf des Mannes zerschmettert. Irgendwo krachte ein Schuss, der so laut wie ein Kanonenschuss von den Wänden widerhallte. Cardin und Kassim waren nicht zu sehen. Abd-el-Baran und zwei seiner Leute standen unschlüssig vor dem Eingang zu einer Kammer. »Wo sind Kassim und Cardin?«, fragte Coco. »Keine Ahnung«, sagte Abd-el-Baran. »Sie verschwanden plötzlich. Wir müssen aus dem Höhlenlabyrinth heraus, sonst sind wir verloren.« Aus der Kammer traten vier Nefer-Amun-Priester. Abd-el-Baran hob seine Pistole und drückte ab. »Verflucht!«, brüll-
te er. »Ladehemmung!« Seine Männer wollten ebenfalls schießen, doch kein Schuss löste sich. Coco wusste, dass die Priester auf magische Art die Pistolen funktionsunfähig gemacht hatten. Coco sah nur noch eine Chance: Sie musste ihre Fähigkeiten einsetzen. Ihr erster Versuch schlug fehl. Sie konzentrierte sich auf zwei der Priester und starrte sie an, doch die beiden waren gegen ihre Hypnosekräfte immun; sie reagierten auf ihre Bemühungen überhaupt nicht, auch als sie ihr Amulett zu Hilfe nahm, hatte sie keinen Erfolg. Die Priester umringten Abd-el-Baran und seine zwei Männer. Sie trieben die drei auf eine Wand zu, in der plötzlich eine Öffnung klaffte. Einer der Priester verfolgte die drei, während die anderen sich Coco zuwandten. Coco schloss die Augen und konzentrierte sich nochmals. Diesmal gelang es ihr, die Spezialität ihrer Familie anzuwenden. Sie versetzte sich in einen rascheren Zeitablauf. Die drei Priester schienen zu Statuen erstarrt, während sich Coco rasend schnell bewegte. Sie rannte an den drei Männern vorbei und stürmte in die Schatzkammer, vor der sie standen. Für die aufgehäuften Schätze hatte Coco nur einen flüchtigen Blick. Sie durfte keine Zeit verlieren. Den rascheren Zeitablauf konnte sie nicht unbeschränkt lange aufrechterhalten, da er sie zu viel Kraft kostete. Coco suchte nach einem Fluchtweg. Nach der Schatzkammer raste sie durch einen breiten Gang und erreichte eine der Grabvorkammern. Die Wände waren mit Bildern und Hieroglyphen verziert. In der Mitte des Raumes erhob sich ein gewaltiger schwarzer Steinsockel, auf dem Susan Baxter lag. Zwei Männer wickelten langsam weiße Leinenbinden um Susans Körper. Nur ihr Gesicht war noch zu sehen. Susan hatte die Augen offen. Ihre Lippen bewegten sich. Coco kehrte zurück in den normalen Zeitablauf. Sie griff nach einer großen Salbendose aus Alabaster. Einer der Priester hob den Kopf, und seine Augen wurden groß. Coco schlug ihm das Salbengefäß gegen die rechte Schläfe, und der Priester brach bewusstlos
zusammen. Bevor der zweite Priester noch eingreifen konnte, stand Coco hinter ihm und schlug ihm das Gefäß mit voller Kraft auf den Hinterkopf. Der Priester riss die Arme hoch, dann fiel auch er zu Boden. »Coco Zamis!«, rief Susan überrascht. »Ich habe keine Zeit, Sie zu befreien, Susan«, sagte Coco rasch. »Ich muss aus dem Höhlenlabyrinth verschwinden. Aber ich komme zurück und werde …« »Rasch!«, rief Susan ihr zu. »Halten Sie sich nicht mit mir auf! Fliehen Sie!« »Ich werde …« Coco brach den Satz ab. Von einer der Türen ging ein grauenvoller Gedankenstrom aus, der ihr Hirn zu überfluten versuchte; es waren unheimliche Gedanken, die ihren Körper zum Beben brachten. Wieder konzentrierte sie sich, doch die Gedanken, die in ihr Hirn strömten, wurden immer stärker, sie konnte sich nicht konzentrieren. Und daher war es ihr auch nicht möglich, sich in den rascheren Zeitablauf zu versetzen. Sie musste rasch die Grabvorkammer verlassen, um aus der Nähe der Gedanken zu kommen. Sie rannte am Steinsockel vorbei und strebte auf eine der Türen zu. Deutlich spürte sie, wie die grauenvollen Gedanken schwächer wurden. Erleichtert riss sie die Tür auf und prallte zurück. Ein hünenhafter Mann stand vor ihr. Bis auf einen weißen Lendenschurz war er nackt. Über den Kopf hatte er eine Widdermaske gestülpt, die mit einer hohen Krone mit glühenden Doppelfedern verziert war. In der rechten Hand hielt er ein Zepter: einen langen Rohrstab, unten gegabelt, oben mit einem stilisierten Hundekopf mit langen Ohren versehen. In der Linken hatte er eine Kette, an der ein rundes Gefäß hing, aus dem blauer Dampf aufstieg. Die seltsame Gestalt bewegte rasch den linken Arm, und eine Rauchwolke schwebte auf Coco zu, hüllte sie ein und brachte ihre Augen zum Tränen. Ein betäubender Duft legte sich schwer auf ihre Lungen. Der Duft beeinträchtigte Cocos Konzentrationsfähigkeit so stark, dass sie unfähig war, den Angriff magisch abzuwehren. Dazu kamen noch die Gedanken, die jetzt ungehindert auf sie einström-
ten. Der Mann mit der Widdermaske murmelte einen Bannspruch. Dabei bewegte er das Was-Zepter leicht, hob es höher und drückte das gegabelte Ende gegen Cocos Stirn. Coco stieß einen Schrei aus. Es schien ihr, als würde ihr Körper in Feuer getaucht. Ihr Kopf schien sich wie ein Luftballon zu dehnen. Er wurde immer größer, und dann platzte er, zerriss in tausend Stücke. Coco brach zusammen. Sie konnte ihren Körper nicht mehr bewegen, auch nicht die Augen öffnen, obwohl sie alles sah und wahrnahm, was mit ihr geschah. Sie wurde hochgehoben und neben Susan Baxter auf den Steinsockel gelegt. Sie glaubte zu schweben. Es war ihr, als hätte sich ihr Geist von ihrem Körper gelöst, sich einfach selbständig gemacht. Sie sah sich selbst, sah ihren Körper, sah die drei jungen Mädchen, die sie langsam entkleideten, doch sie spürte nichts. Der Mann mit der Widdermaske stand neben ihr. Das Zepter drückte er noch immer gegen ihre Stirn. Die Mädchen banden Cocos Hände auf den Rücken und verschnürten die Beine mit weißen Leinenbinden. Als der Widderköpfige das Zepter von Cocos Stirn nahm, kehrte ihr Geist wieder in ihren Körper zurück. Sie versuchte sich zu bewegen, doch ihr Körper war wie gelähmt. »Sie sind mit den alten Mysterien der Magie vertraut, Fräulein Zamis«, sagte der Mann mit der Widdermaske. Sein Deutsch war recht gut. Er stellte das runde Gefäß ab, aus dem noch immer blauer Rauch quoll, bückte sich, und zwei Mädchen nahmen ihm die Maske ab. Sein Gesicht war gut geschnitten, länglich und hager. Die dunklen Augen schienen zu glühen. Er blickte Coco einige Minuten lang schweigend an. Coco versuchte vergebens, Gewalt über ihren Körper zu gewinnen. »Ich bin Hu-Amun«, sagte der Mann. »Ein treuer Diener Nefer-Amuns.« Er hob das Zepter und drückte die Gabel gegen Cocos Kinn. Sie konnte die Lippen bewegen.
»Ich wusste, dass es Ihnen gelingen würde, den Zugang zu NeferAmuns Grab zu entdecken«, sprach er weiter. »Ich war gewarnt und habe Sie niemals unterschätzt. Zwei meiner Priester erzählten mir, dass Sie über magische Kräfte verfügen. Mein Gott half mir. Er stattete mich ebenfalls mit magischen Fähigkeiten aus, denen Sie nichts entgegenzusetzen hatten. Sie mussten gefangen genommen werden, denn Sie stellten eine ernsthafte Bedrohung dar.« »Was ist mit Kassim, Cardin und …« Coco fiel das Sprechen schwer. »Einige der Eindringlinge sind tot«, sagte Hu-Amun. »Die anderen sind gefangen genommen worden. Auch sie werden sterben. Alle, die vom Zugang zum Höhlenlabyrinth wussten, sind tot – oder meine Gefangenen. Niemand wird mehr die Ruhe Nefer-Amuns stören.« Bevor Coco noch etwas sagen konnte, zog Hu-Amun das Zepter zurück, und ihre Lippen waren wieder verschlossen. »Susan Baxter ist eine Wissende. Sie werden es auch bald sein.« Er verließ die Grabkammer. »Hören Sie mich, Coco?«, fragte Susan Baxter. Doch Coco konnte nicht antworten. »Ich werde Ihnen alles erzählen«, sprach Susan weiter. »Vielleicht können Sie mich verstehen. Ich weiß jetzt über alles Bescheid – über Nefer-Amun und den Kult. Es ist eine fantastische Geschichte, fast unglaublich. Einen Teil davon werden Sie selbst erfahren, den Rest entnahm ich den Hieroglyphen, die … Ich kann jetzt nicht weitersprechen. Bis später.« Priester betraten die Grabvorkammer. Sie hockten sich um den Steinsockel herum, senkten die Köpfe und begannen zu singen. Coco verstand nicht ein Wort. Nach einigen Minuten wurde der Gesang lauter. Coco hörte immer wieder Nefer-Amuns Namen. Flötenspiel mischte sich in den Gesang. Und dann sah Coco die Bilder. Zuerst undeutlich. Die Wände der Grabvorkammer flimmerten. Die eingeritzten Bilder erwachten zum Leben. Eine fremde Macht ergriff von ihren Gedanken Besitz. Die Bilder drehten sich vor ihren Augen, verblassten, dann hörte sie eine Stim-
me; anfangs leise, dann immer lauter. So wie alle Mädchen und jungen Frauen vor ihr, die Nefer-Amun geopfert worden waren, vernahm sie die Botschaft des Amun-Priesters, der vor mehr als dreitausend Jahren gelebt hatte. »Ich, den meine Eltern auf den Namen Nefer tauften und den später meine Anhänger Nefer-Amun riefen, spreche zu dir, die du dein Leben hingeben wirst, um mein unsterbliches Ka zu stärken. Ich, der ich immer ein treuer Anhänger des einzig wahren Gottes gewesen bin, ich, der treue Diener Amuns, der von einem wahnsinnigen König, dessen Name für immer verflucht sein soll, zum Tode verurteilt wurde, werde dir meine Lebensgeschichte, von meiner Aufgabe und meinen Zielen berichten. Ich, der Neffe des Hohepriesters Bekanchos, der den Großteil seines Lebens dem Dienst Amuns geopfert hat, verkündet dir meine Botschaft. Geboren wurde ich während der Regierungszeit Amenophis' III. der seinen Sohn mit allerlei üblem Gedankengut infizierte. Auch er soll verflucht sein, da er den späteren Amenophis IV. zeugte, der seinen Namen nach seinem Regierungsantritt in Echnaton umänderte. Er, der dem Aton gefällig ist, war mein größter Feind, der Feind aller Amun-Anhänger. Mit acht Jahren trat ich in den Amun-Tempel in Theben ein. Im selben Jahr wurde er geboren, dessen Name man besser nicht nennt, da es ein verfluchter Name ist. Der Jubel war groß bei seiner Geburt. Der König brachte zahllose Opfer im Amun-Tempel dar, den er zu Ehren des großen Gottes hatte bauen lassen. Ganz Theben, ja, ganz Ägypten war im Freudentaumel. Endlich hatte die Königsgemahlin Teje einem Sohn das Leben geschenkt. Oh, wäre der Knabe tot geboren, es wäre besser für Ägypten und sein Volk gewesen! Doch die Wege Amuns sind unergründlich. Er ist ein Gott, während wir nur Menschen sind. Amun und seine Priester waren zu jener Zeit noch mächtig. Ihnen war das Haus des Lebens und das Haus des Todes unterstellt. Amuns Priester beherrschten ein Fünftel des Landes und somit auch den Handel. Sie waren für die Ausbildung der Priester, der Astrono-
men, der Juristen und Schreiber verantwortlich. Mein Leben weihte ich dem Gott Amun. In seinem Tempel empfing ich die Weihen zum untersten Priestergrad. Hier lernte ich lesen und schreiben. Ich schrieb die Totenbücher ab, die dann zu Ehren Amuns im Tempel an die Gläubigen verkauft wurden. Damals war Ägypten reich und mächtig. Es erstreckte sich von Euphrat im Norden bis zur Wüste jenseits von Napata im Süden. Ägypten lebte glücklich in Frieden und Wohlstand. Amenophis III. ließ einen königlichen Palast bauen, außerdem einen Totentempel für sich, Kolossalstatuen und andere Tempel in vielen Städten Ägyptens. Zahllos waren die Opfer, die Ägyptens Bevölkerung dem Reichsgott Amun darbrachte. Amun ist an der Spitze, hieß es in einem alten Spruch. In seinem Namen waren die Kriege gegen Nubien und Asien geführt worden, ihm zu Ehren hatte man in den besiegten Ländern Tempel errichtet. Damals war ich glücklich. Ich lernte die magischen Sprüche und Handlungen, die nur den höchsten Priestern Amuns bekannt waren. Regelmäßig fanden die Blutopfer statt. Es war eine Ehre für mich, dass ich daran aktiv teilnehmen durfte. Die Priester waren weiß gekleidet, die Häupter kahl geschoren, die Leiber mit wohlriechenden Ölen gesalbt. Ich durfte meinen Onkel, den Hohepriester Bekanchos, in den Tempel begleiten. Er trug ein goldbesticktes Gewand und auf dem Kopf ein Diadem. Die Menge kniete bei seinem Anblick nieder, die Würdenträger verbeugten sich. In den weiträumigen Hallen des Tempels hallte der Gesang der gläubigen Menge wider. Der Opferstier wurde geweiht, und der Gesang brach ab. Schweigend schritt der Hohepriester zum Stier, und ich reichte ihm den Opferdolch. Er nahm den Dolch und vollführte die allerheiligste Handlung. Das Auge und die Hand meines Onkels waren sicher. Er stieß mit dem Messer so geschickt zu, dass das Blut nur so heraussprudelte. Das Fleisch des Stieres wurde dann an die Armen verteilt. Das Leben war eine Lust, damals, als er, dessen Name verflucht ist, noch nicht als Pharao das Land ins Unglück stürzte. Damals wurde noch das Blutopfer beim Herbstfest gefeiert, wenn alle ihr
Steuersoll abgeliefert hatten. Doch er, dessen Name nicht genannt werden soll, schaffte das Blutopfer ab. In seiner Regierungszeit gab es diesen Nationalerntetag nicht mehr, an dem Gott Amun geopfert wurde. Zu seinen Ehren musste Menschenblut fließen. Gefeiert wurde in allen Tempeln des Reiches, doch so festlich wie in Theben war es nirgendwo. Die prunkvollste Feier fand im Reichstempel statt. Da saßen der Pharao und seine Gattin auf den Thronplätzen, die Doppelkrone auf dem Kopf, die Gewänder mit Edelsteinen geschmückt. Daneben standen der Hohepriester mit seiner Frau und die anderen Würdenträger des Reiches. Das gemeine Volk drängte sich in den Nebenhallen, den Säulengängen und Vorhöfen. Die Priester vollzogen die heiligen Handlungen, dann war es still. Nur das Wimmern der gefesselten Sklaven war zu hören, die wussten, was ihnen bevorstand, die aber zu dumm waren, um zu erkennen, welch Glück sie hatten, dem einzig wahren Gott – Amun – geopfert zu werden. Der Pharao erhob sich von seinem Thronplatz, schritt zum Altar, und ein Priester reichte ihm den geweihten Zeremoniendolch. Der Pharao beugte sich vor und schnitt einem Sklaven die Kehle durch. Der Hohepriester tat es ihm gleich. In die Todesschreie der Opfer mischte sich das Rasseln der Sistren der Priester. Die Menge betete zu Amun, erflehte seine Gnade. Dann durfte das Volk an den Toten vorbeigehen. Sie tauchten ihre Finger in das Blut der Geopferten und betupften sich damit die Stirn. Die Toten wurden später den Aasgeiern zum Fraß vorgeworfen. Es war eine große Ehre für mich, als ich eines Tages das Götterbild des Amun durch die Straßen von Theben tragen durfte, eine Auszeichnung, die nur den fähigsten Priestern zuteil wurde. Ich trug sein Bild die Widderallee entlang. Meine magischen Kräfte wurden immer größer. Ich übertraf sogar in manchen Punkten meinen ehrwürdigen Onkel. Er war stolz auf mich, und ich war glücklich, als ich erfuhr, dass ich sein Nachfolger werden sollte. Das Leben war voller Freude. Ich wurde bewundert und beneidet von den anderen Priestern, vergöttert von den Mädchen, den Tem-
peltänzerinnen, die so wie ich ihr Leben Amun geweiht hatten. Ihre Aufgabe war wichtig. Sie sollten dem Volk Amun näher bringen. Meist tanzten sie einmal im Monat vor dem Tempel. Verzückt tanzten sie im Rhythmus der Trommeln, steigerten sich immer mehr in Ekstase. All dies geschah zu Ehren Amuns. Meist wurde dabei das Gottesbild der Menge gezeigt. Nachher wurde das Bild in den Tempel gebracht, vom Staub gereinigt und in einen Schrein gelegt, der vom Hohepriester versiegelt wurde. Die glücklichen Tage gingen zu Ende, als der königliche Schädelbohrer in das goldene Haus des Pharaos gerufen wurde. Der große Pharao war krank, sein Gesicht eingefallen. Beim Herbstfest hatte man ihn stützen müssen. Seine Zeit war abgelaufen. Im Tempel fanden täglich Opfer statt, doch auch das konnte ihm nicht helfen. Durch die Straßen der Stadt spazierten Soldaten, die Tore wurden geschlossen. Der Kopf des Pharao wurde geöffnet, und einige Stunden später starb er. Mit seinem Tod änderte sich mein Leben. Doch damals wusste ich es noch nicht. Die Vorzeichen wären ungünstig. Viele hatten unheimliche Träume. Der Wind änderte die Richtung und brachte Regen. Außerhalb Thebens verwandelte sich das Wasser vieler Teiche in Blut. Nach dem Tod des Pharaos bestieg die königliche Mutter Teje den Thron. Sie ver jagte den alten Siegelbewahrer und erhob den unbekannten Priester Eje zum Ratgeber. Und dann war es soweit. Amenophis IV. wurde Pharao und stürzte Ägypten ins Unglück. Der Geist des Königs war verwirrt. Er lehnte sich gegen den Gott Amun auf. Er huldigte seinem Gott Aton – einem Gott, wie ihn die Welt bisher nicht gekannt hatte. Seit urdenklichen Zeiten hatten Hunderte von verschiedenen Göttern Verehrung in Ägypten gefunden. Doch der junge Pharao wollte Aton zur Macht verhelfen, Aton, der bildlich durch eine Sonnenscheibe dargestellt wurde. Eines Tages lud der wahnsinnige Pharao die höchsten Würdenträger und Priester in den Säulensaal seines Palastes. Ich stand neben meinem Onkel, als der Wahnsinnige, der neben seiner hochmütigen Gemahlin Nofretete auf dem Thron saß, uns Folgendes verkündete: ›Ägypter! Seit ich die Krone beider Reiche trage, habe ich viel nach-
gedacht. Das Volk huldigt unzähligen Göttern, hauptsächlich dem Gott Amun, dessen Hohepriester Bekanchos ist. Ich erkläre, dass es keine Götter gibt, die durch Blut und Opferhandlungen verehrt werden müssen. Wendet euch vom Götterkult ab! Es gibt nur einen einzigen Gott, der unser Schicksal leitet. Dieser Gott ist Aton. Gott in der Sonne, die Sonne selbst, die alles enthält. Ihr müsst Amun und seinen Götzen entsagen und meiner Lehre folgen. Ab sofort sind die Priesterschulen geschlossen. Die Lehre der Amun-Priester ist eine Irrlehre und daher abzulehnen. Alle Amun-Tempel werden ebenfalls geschlossen. Ich beschlagnahme die Werften und Schiffe der Amun-Priester, alle ihre Werkstätten, die Steinbrüche, alle ihre Kornspeicher und Ländereien. Die Priester sind ab sofort anklagbar und können vor ein Gericht gestellt werden. Amun ist ein falscher Gott. Sein verfluchter Name ist aus allen Inschriften, von allen Gräbern, von allen Denkmälern zu entfernen!‹ Aber es war noch nicht alles. Ein Herold trat vor. Er blickte sich rasch um. ›Der Pharao lässt ferner verkünden‹, sagte der Herold, ›dass er Theben, die Stadt der falschen Götter, als Hauptstadt für unwürdig erklärt. Er wird zu Ehren Atons in Amara eine neue Hauptstadt errichten lassen. Zum Zeichen seiner Verehrung für Aton beschloss der Pharao, seinen Namen zu ändern. Echnaton wird er sich zu Ehren des einzigen Gottes nennen.‹ Herolde verkündeten die Botschaft des Pharao in Theben. Das Volk hörte anfangs ruhig zu, doch bald konnten die Herolde nicht mehr weitersprechen. Überall ertönten die Schreie: ›Amun, Amun!‹ Viele zogen sich in den Amun-Tempel zurück. Es kam zu Unruhen, zu blutigen Ausschreitungen. Mein Onkel ermächtigte mich, vor das Volk zu treten und es zum Widerstand gegen den Pharao aufzurufen. Ich tat, wie mir geheißen wurde. Die Soldaten wandten sich gegen das Volk. Das Gesindel plünderte die Häuser der Reichen, betrank sich und vergewaltigte die Frauen der Vornehmen. Pepitamun, der Befehlshaber der Soldaten, hatte vom Pharao den Auftrag erhalten, das Götzenbild Amuns zu stürzen, doch eine erregte Menge verhinderte, dass er den Tempel betreten konnte.
Es war ein fürchterliches Gemetzel. Die Soldaten in ihren Streitwagen drängten sich brutal durch die Menge. Dabei wurden Hunderte von Unschuldigen getötet. Der Pharao, dessen Name verflucht sei, entzog Pepitamun das Kommando über die Soldaten und übergab es Haremhab. Die Priester des höchsten Grades, darunter auch ich, versammelten sich in einer abgeschiedenen Kammer und berieten. Unser Gott war mächtig. Wir hätten uns wochenlang verteidigen können, doch dabei mit ziemlicher Sicherheit einen Großteil unserer Anhänger verloren. Es war besser, den Kampf vorerst aufzugeben und den Pharao aus dem Hinterhalt anzugreifen. Als der Morgen graute, fand Haremhabs Überfall auf den Tempel statt. Er griff gleichzeitig an fünf Stellen an. Die Tore gaben nach, und die Soldaten drangen in die Vorhöfe ein. Die Volksmenge konnte entkommen. Bekanchos, mein Onkel, ließ in die Hörner blasen und den Kampf abbrechen. Die Priester des höchsten Grades versammelten sich vor dem Amunbild. Wir alle konzentrierten unsere Kräfte auf die Aufgabe, die vor uns lag. Und es gelang. Das Bild unseres Gottes löste sich vor unseren Augen auf, verschwand und tauchte einen Tag später in zwanzig Kilometer Entfernung auf. Dank unserer magischen Fähigkeiten war die Flucht leicht zu bewerkstelligen. Als Haremhab mit seinen Leuten das Allerheiligste des Tempels stürmte, fand er niemanden vor – nur ich war geblieben. Von meinem Onkel war mir eine besondere Aufgabe zuerteilt worden, der ich mich schweren Herzens gefügt hatte. Ich sollte mich festnehmen lassen. Es war sicher, dass ich angeklagt werden würde. Ich war als Märtyrer bestimmt, der allen Anhängern Amuns die Kraft verleihen sollte, die kommenden schweren Jahre geduldig zu ertragen. Bekanchos' Rechnung ging auf. Ich wurde gefangen genommen, angeklagt und für schuldig befunden, gegen eine Reihe von Dekreten des Pharaos verstoßen zu haben. Das Urteil war keine Überraschung: Ich wurde zum Tode verur-
teilt. Ohne zu klagen, fand ich mich mit meinem Schicksal ab. Ich fürchtete den Tod nicht, denn mein Tod bedeutete meine Unsterblichkeit. Ich musste sterben, um für immer leben zu können. Soldaten brachten mich zum Amun-Tempel, dessen Tore jetzt geschlossen waren. Sie sperrten den Platz ab und drängten die wütende Menge zurück, die den Pharao verfluchte und lautstark nach Amun schrie. Zwei Schwarze fesselten meine Hände auf den Rücken, dann banden sie meine Fußgelenke zusammen und hoben mich auf zwei Stützbalken. Geduldig ließ ich alles mit mir geschehen. Ich hatte keine Furcht. Dünne Leinenbinden wurden um meine Beine geschlungen. Sie schnitten schmerzhaft ins Fleisch. Die Männer sparten nicht mit den Binden. Innerhalb weniger Minuten war mein Körper mit einer fünffachen Schicht umwickelt. Nur mein Gesicht blieb frei. Ich bewegte mich nicht, als heißes Wachs auf mein Gesicht aufgetragen wurde, meine Augen verklebte, in die Nase eindrang und meinen Mund versiegelte. Binden wurden auch um meinen Kopf geschlungen. Ich hörte die erregten Schreie der Volksmasse. Dann war eine Stimme zu hören – laut und deutlich. Sie schien aus dem Nichts zu kommen. Es war Bekanchos, mein Onkel, der zur Menge mit verstellter Stimme sprach. ›Vor euch liegt Nefer, der sein Leben dem einzig wahren Gott geweiht hat: Amun.‹ Die Menge brüllte immer wieder ›Amun, Amun‹. Bekanchos sprach weiter: ›Der König glaubt nicht an die Macht unseres Gottes. Er betet Aton an, diesen falschen Gott. Doch Amun wird wiederkommen. Nefer, der für Amun gestorben ist, ist für uns unsterblich. Solange sein Name nicht vergessen wird, wird er leben!‹ Mehr konnte ich nicht hören. Ich bekam keine Luft mehr. Das Wachs auf meinem Gesicht und die Leinenbinden verhinderten, dass ich atmen konnte. Ich starb, doch ich war nicht wirklich tot. Nur mein Körper war gestorben. Du, die du dein Leben für mich hingeben wirst, du sollst die ganze Wahrheit erfahren. Drei Tage lang wurde mein Körper vor dem Amun-Tempel ausge-
stellt. Dann wurde er mittels Magie von den Amun-Priestern entführt. Zwanzig Soldaten bewachten meinen toten Leib, doch sie konnten nicht verhindern, dass ich verschwand. Die Nachricht von meinem Verschwinden verbreitete sich in Windeseile in ganz Theben. Das Volk glaubte an ein Wunder. Auch wenn sich die meisten jetzt zu Aton bekannten, ihr Herz hing an Ägyptens alten Göttern. Bekanchos, mein Onkel, hielt sein Wort. In einem der Seitentäler ließ er für mich ein Grab errichten, ein verwirrendes Höhlensystem, das fünf Eingänge hatte, die magisch gesichert wurden. Nach meinem Tod nannte mich das Volk Nefer-Amun. Mein Grab füllte sich mit Geschenken. Alle diese Grabbeigaben manifestierten meine magischen Kräfte. Sie wurden eins mit meinem Ka, meiner Seele. Die unzähligen Juwelen, Amulette, Skarabäen und Gebrauchsgegenstände gehörten zu mir. Zehn Jahre verstrichen, in denen mir zu jedem Vollmond ein Menschenopfer dargebracht wurde. Das Ba der Sterbenden lud mein Ka auf, machte es immer mächtiger. Fünf Jahre später war es so weit. Mein Geist, der fünfzehn lange Jahre sich nicht von meinem Körper lösen konnte, tat den entscheidenden Schritt. Ich erschuf einen Astralkörper und erschien meinen Anhängern, die zu Boden fielen und an ein Wunder glaubten. Ich konnte meinen Scheinkörper perfekt bewegen, sprechen, alles verstehen und blitzschnell große Entfernungen überwinden. Zu meinen Ehren war von Bekanchos ein Geheimkult ins Leben gerufen worden, der mich als eine Art Halbgott verehrte. Ich ließ mir Bericht erstatten, was in den fünfzehn Jahren meines Schlafes geschehen war, und was ich zu hören bekam, erzürnte mich. Wahrlich, der Pharao war verrückt. Der König glaubte vom Strahl des Unendlichen getroffen zu sein. Dabei war er blind gegenüber der Wirklichkeit. Er kümmerte sich nicht um Syrien und die anderen Provinzen, er vertraute nur auf seinen Gott Aton. Tatsächlich hatte er eine neue Hauptstadt gegründet, die er Achetaton – Horizont des Aton – nannte. Der wahnsinnige König war ein Fanatiker. Er wurde zum Bilder-
stürmer. Nichts sollte mehr an die alten Götter erinnern. Statt seine Krieger gegen die Feinde zu schicken, sandte er sie in die Tempel und Gräber. Seine Soldaten mussten alle Namen und Inschriften der alten Götter entfernen. Doch der Fluch der Amun-Priester war schon wirksam geworden. Nofretete schenkte ihm nur Töchter. Der erhoffte Sohn kam nicht. Und der König war von einem Dämon besessen, der ihn mit schrecklichen Schmerzen quälte. Der verrückte König wollte alles ändern. Den Müttern sagte er, sie sollten nur zwei Kinder haben und mit ihnen glücklich werden, anstatt mit vielen zu hungern. Er ließ alle Urteile überprüfen, befreite die Sträflinge. Sogar die Tiere ließ er schützen. Er verbot den Fischfang und das Fangen der Vögel. Er löste die Armee auf. Der Wahnsinnige erklärte den Soldatenstand für den niedrigsten. Er zahlte den Soldaten keinen Sold mehr, verbot Schiffsfahrten in das Land Punt. Das Land, das Gott Amun gehörte, beschlagnahmte er und gab es an Pächter und Bauern ab. Die Reichen mussten ebenfalls ihr Land bis auf ein winziges Stück abtreten. Wer Amun-Tempel schändete, auf die Altäre tote Tiere warf, der wurde nicht bestraft. Alles Gold und alle Wertgegenstände wurden aus den Tempeln entfernt. Doch Amuns Macht war noch nicht gebrochen. Die Unzufriedenheit unter dem Volk wuchs von Woche zu Woche. Die Bauern bekamen zu wenig Saatgetreide, die Schiffe lagen still, die Einnahmen aus Syrien blieben aus. Das Einbalsamieren war verboten, und Totengeschenke wurden nicht mehr gekauft. Die Wahrsager verkündeten dem Volk entsetzliche Schrecken. Sie sprachen von Trockenheit, Dürre, verpestetem Wasser, von Heuschreckenschwärmen, Erdflöhen und Stechfliegen. All dies würde kommen, da Gott Amun entehrt war. Mein Herz war schwer, als ich all dies hören musste. Ich nahm die Gestalt eines alten Fellachen an und mischte mich unters Volk. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was vorging. Und was ich zu sehen bekam, war entsetzlich genug. Wo ich auch hinkam, nur Hass und Wut waren zu spüren. Ich unterstützte den Kampf gegen den wahnsinnigen Pharao, der
mit seinen irren Ideen Ägypten in einen Bürgerkrieg gestürzt hatte. Mein Entschluss stand fest: Ich musste den König töten. Ich nahm die Gestalt seines Leibarztes an, begab mich in den königlichen Palast und trat vor ihn hin, den falschen Pharao, dessen Name für ewige Zeiten verflucht sei. Sein Gesicht war eingefallen, die Hände ruhten schlaff auf den Knien. Ich bereitete ihm den Schlummertrank – einen Becher Wein, in den ich Gift schüttete, ehe ich sorgfältig umrührte. Sein Blick war trübe, die Augen waren gerötet. Er starrte mich schweigend an. Die Zeichen seiner Würde – die Krone, die Peitsche und der Krummstab – lagen neben ihm. Ich reichte ihm den Becher, stützte dabei seine Hand, und er trank langsam. Als er ausgetrunken hatte, änderte ich meine Gestalt. ›Nefer‹, sagte er unsicher. ›Verflucht soll dein Name für ewige Zeiten sein!‹, zischte ich ihm zu. ›Mit deinem Tod wird Aton für immer sterben, und Amun wird wieder Reichsgott sein.‹ Er sagte kein Wort, schloss die Augen und starb. Und alles kam so, wie ich es erhofft hatte. Gott Amun hatte gesiegt. Meine Fähigkeiten wurden immer gewaltiger. Einige Zeit beschäftigte ich mich mit dem Schicksal Ägyptens. Immer wieder griff ich in die Geschehnisse ein. Doch bald kümmerten mich die Angelegenheiten der Sterblichen nur noch wenig. Ich sorgte dafür, dass mein Kult am Leben blieb. Solange er existierte und für mich sorgte, mir jährlich ein Menschenopfer darbrachte, konnte ich ewig leben. Jederzeit konnte ich meinen toten Leib verlassen. Ich konnte jede beliebige Gestalt annehmen und mich unter die Menschen mischen. Aber ihre Sorgen, ihre Wünsche und ihre Hoffnungen waren nicht mehr die meinen. Ich werde ewig leben, solange Menschen die Erde bevölkern. Nur eines kann mich vernichten. Nur eines. Aber dazu wird es nie kommen. Ich danke dir, die du mir zugehört hast, die du dein kümmerliches Leben für mich hingibst. Ich danke dir dafür.«
Coco kehrte in die Wirklichkeit zurück. Es war still. Zu ihrer Überraschung konnte sie die Augen öffnen und sprechen. Sie versuchte den Kopf zu heben, doch das gelang ihr nicht. Ihr Körper war noch immer gelähmt. Sie räusperte sich. »Sind Sie noch da, Susan?«, fragte sie. Keine Antwort. »Susan?« Ihre Stimme klang überlaut. »Ich höre Sie«, antwortete Susan. »Das Sprechen bereitet mir aber Mühe. Ich bin schwach. Bald werde ich sterben. Ich weiß es. Sie werden mein Gesicht mit Leinenbinden umwickeln, und ich werde ersticken.« »Sie wollten mir etwas sagen, Susan?« »Haben Sie Nefer-Amuns Botschaft gehört, Coco?« »Ja.« »Ich las die Hieroglyphen, die in die Wand eingemeißelt sind. Sie stammen von ehemaligen Nefer-Amun-Priestern. Die Priester glauben, dass irgendwann einmal Nefer-Amun endgültig zu den Lebenden zurückkehren wird, nicht nur als Astralleib. Sein Leib soll beseelt werden, und er wird die Herrschaft über die ganze Welt an sich reißen.« »Glauben Sie, dass das möglich ist?« »Nach all dem, was ich in den vergangenen Tagen erlebt habe, glaube ich alles. Die Priester zeichneten die Namen aller Menschen auf, die Nefer-Amun geopfert wurden. Die Namen sind auf der linken Wand verzeichnet. Dabei fiel mir etwas auf. In den ersten fünfzehn Jahren wurde Nefer-Amun monatlich ein Opfer dargebracht, später dann nur noch jährlich eines. Doch in den vergangenen drei Monaten wurden ihm mehr als fünfzig Frauen geopfert.« Coco überlegte kurz. Im September musste irgendetwas geschehen sein, das Nefer-Amuns Macht erschüttert hatte. Sein Ka war so schwach geworden, dass er nicht einmal mehr sein Grab hatte schützen können. Grabräuber waren eingedrungen und hatten einen Teil seiner Grabbeigaben geraubt; und er hatte nichts dagegen unterneh-
men können. Wahrscheinlich waren auch aus diesem Grund die Opferungen verstärkt worden. Und es schien, als hätte er jetzt seine alte Macht wiedererlangt. Nein, das stimmt nicht, dachte Coco. Da steckte mehr dahinter. Er brauchte noch immer Menschenopfer. Das bedeutete, dass er seine Macht nicht zurückgewonnen hatte. Und vielleicht war das ihre Chance. »Wo befindet sich Nefer-Amuns Körper?«, fragte Coco. »Genau uns gegenüber«, antwortete Susan leise. »Hinter dieser Wand liegt die Grabkammer, in der Nefer-Amun in einem Sarkophag ruht. Niemand darf die Grabkammer betreten – nur der Hohepriester, der durch einen Geheimgang hineingelangt. Er betritt die Grabkammer einmal im Jahr. Doch auch ihm ist es verboten, den Sarkophag zu berühren. Geöffnet darf er unter keinen Umständen werden, denn dann würde Nefer-Amun zu entartetem Leben erwachen. Niemand kann voraussehen, wie die Mumie reagieren würde.« »Das ist unsere Chance«, flüsterte Coco. »Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen, Coco?« Coco schloss die Augen. Ihren Körper konnte sie noch immer nicht bewegen, aber das war jetzt gar nicht so wichtig. »Sagen Sie in den nächsten Minuten nichts, Susan! Ich muss mich konzentrieren. Es ist unsere einzige Chance. Ich hoffe, dass ich Erfolg haben werde.« »Was haben Sie vor? Sie können nichts …« »Schweigen Sie!«, sagte Coco bestimmt. Die ehemalige Hexe der Schwarzen Familie konzentrierte sich. Sie selbst konnte nichts unternehmen, aber wenn es ihr gelang, mit Kassim oder Abd-el-Baran Kontakt aufzunehmen, dann war noch nicht alles verloren. Die Voraussetzung dazu war, dass die beiden noch am Leben waren.
Hu-Amun hatte Jean Cardin und Gamal Kassim aus ihrem tranceartigen Zustand befreit. Die beiden Männer befanden sich zusammen mit Abd-el-Baran und dreien seiner Leute in einer winzigen Kammer. Hu-Amun hatte ihnen gesagt, dass er sie verhungern lassen
würde. Die Priester hatten ihnen alle Gegenstände gelassen, auch die Pistolen. Zwei der Männer hatten Maurerhammer und Schlegel bei sich, einer sogar eine Brechstange. Vergeblich hatten sie versucht, die Tür aufzubrechen. Die Luft in der kleinen Kammer war stickig. Es stank bestialisch. Vierzig Stunden befanden sie sich schon in der Kammer. Auf ihr Schreien und Klopfen hatte niemand reagiert. Die sechs Männer hatten die Hoffnung aufgegeben. Aus eigener Kraft konnten sie sich nicht befreien. Der Boden, die Wände und die Decke des Raumes waren magisch gesichert. Trotz eifrigster Bemühungen war es ihnen nicht gelungen, auch nur einen Stein aus den Wänden zu brechen. Die Unterhaltung war seit Stunden verstummt. Die Männer hockten oder lagen auf dem Boden und hingen ihren trübsinnigen Gedanken nach. Gamal Kassim lehnte an einer Wand. Den Kopf hatte er auf die Brust sinken gelassen. Er wusste, dass es für ihn und die anderen keine Rettung gab. Plötzlich zuckte er zusammen. Er spürte einen sanften Druck in seinem Kopf. Er stand auf und sah sich verwundert um. Es war ihm, als würde er etwas hören, doch er verstand die Worte nicht. Kassim drehte sich um, und seine Hände glitten über eine Wand. Für einige Minuten wusste er nicht, was er tat. Er vollführte in der Dunkelheit der Kammer mit den Händen seltsame Bewegungen; dazu murmelte er einige Sprüche, die ihm völlig unverständlich waren. »Kassim ist übergeschnappt«, sagte Jean Cardin. »Das ist auch kein Wunder«, meinte Abd-el-Baran. Gamal Kassim hörte die beiden nicht. Er bewegte weiterhin seine Hände und murmelte die unverständlichen Sprüche. Als er wieder klar denken konnte, schüttelte er den Kopf und klopfte gegen die Wand. Es klang seltsam hohl. »Macht Licht!«, rief er heftig. »Verrückt. Völlig verrückt«, brummte Abd-el-Baran, doch er gehorchte und knipste seine Taschenlampe an.
»Gebt mir einen Hammer!«, befahl Kassim. Einer der Fellachen reichte ihm einen Maurerhammer. Kassim klopfte damit die Wand ab. Bei den ersten Schlägen klang es dumpf, dann hohl. Er schlug stärker zu. Ein Stück eines Ziegels sprang ab. Jetzt standen die anderen auf. Kassim arbeitete mit zusammengebissenen Zähnen weiter. Innerhalb weniger Minuten hatte er einige Ziegel herausgebrochen. Die anderen folgten seinem Beispiel. Sie arbeiteten wie besessen. Die Wand war dick, mindestens einen Meter. Zwei der Fellachen räumten den Schutt zur Seite. Die uralten Ziegel zerbrachen. Nach einer Stunde klaffte in der Wand eine runde Öffnung. Kassim streckte eine Hand aus und schob langsam die Lampe durch die Öffnung. Ein schmaler Gang erstreckte sich vor ihm, und er sah einige Stufen. »Rasch!«, keuchte Kassim. »Ich habe einen Gang entdeckt!« Eine halbe Stunde später war die Öffnung so groß, dass man hindurchschlüpfen konnte. Kassim kroch als Erster in den Gang. Er klopfte sich den Staub von den Kleidern und stieg rasch die Stufen hoch. Einmal blieb er kurz stehen und leuchtete in die Tiefe. Der Strahl der Taschenlampe verlor sich in der Dunkelheit. Der Gang wurde schmäler, die Decke niedriger. Nachdem er etwa dreißig Stufen hinaufgestiegen war, konnte er nicht weiter. Eine Wand versperrte den Durchgang. Kassim nahm die Taschenlampe in die linke Hand, in der rechten hielt er nun einen Schlegel. Er schlug gegen die Wand, und es klang wieder hohl. Hinter der Wand musste sich ein Raum befinden. Er schlug zu, und ein Ziegel zersplitterte. Verbissen arbeitete er weiter. Schweiß rann über seine Stirn. Die Wand war dünn. Sie bestand nur aus drei Ziegelschichten. Als das Loch kopfgroß war, ließ er den Schlegel sinken, steckte die Taschenlampe durch die Öffnung und riss den Mund auf. Das Licht der Taschenlampe spiegelte sich in einer goldenen Wand wider. Der Ägyptologe bekam einen trockenen Mund. Er wusste, was
sich in der Kammer befand: Nefer-Amuns Sarkophag. Grimmig schlug er auf die Wand ein. Er arbeitete so rasch, dass es nur wenige Minuten dauerte, bis die Öffnung groß genug war, dass er hindurchkriechen konnte. Er ließ sich in die Grabkammer fallen, rollte zur Seite und blieb auf dem Boden sitzen. Vor ihm, auf einem meterhohen Sockel, stand Nefer-Amuns Sarkophag. Er war vergoldet, die Füllungen aus blauer Fayence, dazwischen standen Zaubersprüche. Um den Sarkophag lag eine Unzahl von Gegenständen: goldene Stühle, Holztruhen, eine Sammlung wunderschöner Vasen, Spazierstöcke, vergoldete Pfeile und Bogen, Gefäße und Statuen. Die Wände, die Decke und der Boden der Grabkammer waren ganz aus Gold. Kassim stand schwankend auf. Er sah sich das unverletzte Totensiegel Nefer-Amuns an, dann atmete er tief durch. Er konnte es noch immer nicht glauben, dass er vor Nefer-Amuns Sarkophag stand, und vergaß, dass er sich noch immer in Lebensgefahr befand. An den vier Ecken des Sarkophags standen im Hochrelief die vier Schutzgöttinnen: Isis, Nephtys, Neith und Selekt. Er beugte sich nieder und entzifferte die Hieroglyphen. Nefer-Amun, der für Amun gestorben ist, er lebe ewig! Weh dem, der es wagt, meine Ruhe zu stören! Der Tod wird jeden mit seinen Schwingen erschlagen, der den toten Nefer-Amun stört. Kassim schreckte hoch, als er die Stimmen der Männer hörte, die ihm in die Grabkammer gefolgt waren. »Da liegt ein Vermögen«, flüsterte Jean Cardin andächtig. »Die Grabbeigaben allein sind ein Vermögen wert«, hauchte Abd-el-Baran ergriffen. Kassim verzog ärgerlich den Mund. Die Banausen dachten nur an den materiellen Wert. Er räusperte sich. Seine Stimme klang unnatürlich hoch. »Wir öffnen den Sarkophag«, sagte er. »Weshalb sollen wir das tun?«, fragte Cardin. »Wir nehmen einige Gegenstände mit und versuchen zu entkommen. Sie vergessen, Kassim, dass wir gefangen genommen wurden.« »Das vergesse ich nicht«, sagte Kassim und wischte sich den
Schweiß von der Stirn. »Der Sarg muss geöffnet werden.« Kassim entriss einem der Fellachen das Brecheisen. Er wusste aus Berichten anderer Ägyptologen, dass die Sargdeckel meist sehr schwer waren; einige Särge hatten mehrere Tonnen gewogen. Er setzte das Brecheisen an, rutschte ab und taumelte gegen den Sarg. »Lassen Sie diesen Unsinn!«, sagte Abd-el-Baran. »Wir müssen zu fliehen versuchen. Vielleicht gelingt es uns, die Tür aufzubrechen.« Doch Kassim hörte nicht auf ihn. Nochmals setzte er das Brecheisen an. Ein lautes Knirschen war zu hören. Das Eisen schob sich zwischen Sarg und Deckel. Kassim stieß das Eisen tiefer und drückte mit aller Kraft dagegen. Seine Stirnadern schwollen an. Der Sargdeckel hob sich, nicht viel, kaum einen Finger breit. Kassim lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf das Eisen. Der Sargdeckel hob sich noch ein Stück mehr. »Helft mir!«, keuchte er. Einer der Fellachen kam ihm zu Hilfe. Er drückte einen Schlegel zwischen Sarg und Deckel. Kassim kniete nieder und leuchtete in den Sarg hinein. Sein Blick flackerte. Nefer-Amun lag vor ihm. Die Mumie war reich geschmückt. Um den Hals trug der Tote eine vierfache goldene Kette. Die Brust wurde von einem kunstvoll verzierten Harnisch bedeckt. Unter einem goldenen Gürtel steckte ein Dolch. Jean Cardin klopfte Kassim auf die Schulter. »Kommen Sie zur Besinnung, Kassim!«, sagte er und griff nach dem Schlegel, doch Kassim schlug seine Hand zur Seite. »So nehmen Sie doch Vernunft an, Kassim!«, brüllte Abd-el-Baran. »Wir brauchen den Schlegel und die Brechstange, damit wir die Tür aufbrechen können.« »Lasst mich!«, knurrte er gereizt. Verzückt starrte er weiter in den Sarg. Jean Cardin und Abd-el-Baran schüttelten verwundert die Köpfe. Kassim sah wie ein Besessener aus. Sein Gesicht war verzerrt, und die Augen schienen zu leuchten. »Kommen Sie, Cardin!«, sagte Abd-el-Baran. »Wir untersuchen die Tür und brechen sie auf. Dann nehmen wir so viel der Grabbeigaben
mit, wie wir tragen können.« Cardin nickte, nahm einen Maurerhammer, trat zur vermauerten Tür und schlug dagegen. Die Ziegel zersplitterten. Die Wand, die sich vor der Tür befand, war sehr dünn. Nach wenigen Hieben war die Tür zu sehen, die ganz aus Gold bestand. Nach einigen Minuten gab Cardin den Hammer an einen von Abd-el-Barans Leuten weiter, der kraftvoll zuschlug. Es dauerte kaum zwanzig Minuten, und die Tür war freigelegt. Doch sie ließ sich nicht öffnen. »Wir brauchen die Brechstange«, sagte Abd-el-Baran. »Wir müssen sie aus dem Sarg ziehen.« »Dagegen wird Kassim einiges haben«, brummte Cardin. »Darauf können wir keine Rücksicht nehmen«, sagte Abd-el-Baran. »Ali und Muhammed!« Die beiden Fellachen sahen ihn an. »Packt Kassim!«, sagte Abd-el-Baran. Die Männer folgten augenblicklich. Sie griffen nach Kassims Handgelenken, der noch immer in den Sarg leuchtete, rissen ihn hoch, und trotz seiner verbissenen Gegenwehr zerrten sie ihn vom Sarg fort. Abd-el-Baran packte die Brechstange und stürzte zur Tür, aber die Tür ließ sich nicht aufsprengen. Plötzlich blieb er reglos stehen. Die Brechstange fiel zu Boden, und Abd-el-Baran hob beide Hände und schloss die Augen. Es war, als würde er einer unsichtbaren Stimme lauschen, die ihm Befehle erteilte. Mit der rechten Hand vollführte er seltsame Drehbewegungen, und über seine blutleeren Lippen kamen unverständliche Worte. Schließlich bückte er sich, hob die Brechstange auf und setzte sie an. Die Tür bewegte sich ein Stück. Er drückte stärker, und die Tür schwang noch ein Stück auf. Kassim riss sich von den Fellachen los und kniete neben dem Sarkophag nieder. »Die Mumie hat sich bewegt!«, rief er. Abd-el-Baran hörte nicht auf ihn. Er bearbeitete grimmig die Tür, die immer weiter aufglitt. Ein Brummen kam aus dem Sarg, das bösartig klang. »Die Mumie erwacht!«, keuchte Kassim.
In diesem Augenblick war es Abd-el-Baran gelungen, die Tür ganz aufzudrücken. Vor ihm lag ein großer Raum. Die Wände waren mit Hieroglyphen bedeckt. In der Mitte der Grabvorkammer stand ein Steinsockel, auf dem zwei vermummte Gestalten lagen, die von sechs Nefer-Amun-Priestern, die alle rote Umhänge trugen, umringt wurden. Ohne zu zögern, stürzte Abd-el-Baran in die Vorkammer, schwang die Brechstange über dem Kopf und ging auf einen der Priester los, der seinen Schlag parieren wollte, aber eine Sekunde zu spät reagierte. Die Brechstange zerschmetterte seinen Kopf. Cardin und drei Fellachen stürmten ebenfalls in die Grabvorkammer. Die Priester stürzten sich auf sie. Coco sah dem erbitterten Kampf schweigend zu. Sie konnte sich noch immer nicht bewegen, doch ihr Plan war aufgegangen. Es war ihr schon früher gelungen, mit von ihr hypnotisierten Personen Kontakt aufzunehmen, sie durften sich allerdings nicht allzu weit von ihr entfernt aufhalten. Hu-Amun hatte ihren Körper mit einem magischen Bann belegt, den sie nicht hatte brechen können, doch es war ihr gelungen, sich mit Gamal Kassim in Verbindung zu setzen. Die Kraft ihrer Gedanken hatte Kassim dazu gebracht, dass er die richtigen Beschwörungen vornahm, die dazu führten, dass die magische Sperre für die Kammer, in der sie sich befunden hatten, aufgehoben wurde. Kassim hatte den Geheimgang entdeckt, er war aber nicht hinter den Mechanismus der Mauer gekommen; er hatte sie zerschlagen und war in Nefer-Amuns Grabkammer eingedrungen. Auf ihre Veranlassung hatte er den Sarg zu öffnen versucht. Und auf ihren Befehl hin hatte Abd-el-Baran die Tür zur Grabvorkammer geöffnet. Bis jetzt war alles so gekommen, wie es Coco erhofft hatte. Hu-Amun hatte sie und ihre Fähigkeiten doch unterschätzt. Coco wunderte sich, dass er nicht in die Geschehnisse eingriff. Er musste es doch gemerkt haben, dass seine Gefangenen in das Heiligtum des Höhlenlabyrinths eingedrungen waren und Nefer-Amuns Ruhe gestört hatten. Jetzt kam es darauf an, ob Susan Baxters Vermutung stimmte. Nach ihren Worten musste jetzt Nefer-Amuns Mumie zu
entartetem Leben erwachen. Darauf hatte Coco ihren ganzen Plan aufgebaut. Mit dem Erwachen der Mumie sollte Hu-Amun einen Teil seiner magischen Fähigkeiten verlieren, und vielleicht konnte sie sich dann wieder bewegen. Die Priester schienen alle ihre magischen Fähigkeiten verloren zu haben. Abd-el-Baran hatte seine Pistole gezogen. Diesmal funktionierte sie. Er schoss zwei der Priester nieder. Aus der Grabkammer hallte ein schauriger Schrei, und Coco spürte, wie ihre Kräfte in sie zurückflossen, wie sie den bandagierten Körper bewegen konnte. Ein weiterer Schrei war zu hören, und die Priester ergriffen plötzlich die Flucht.
Kassim war den anderen nicht gefolgt. Er konnte seinen Blick nicht von Nefer-Amun abwenden. Die Mumie bewegte sich. Ruckartig hob sie die Hände und drückte sie gegen den schweren Sargdeckel. Der Ägyptologe hörte nicht den Kampflärm, nicht die Schüsse und das Schreien der Getroffenen. Für ihn existierte nur Nefer-Amun. Die Mumie stemmte sich gegen den Sargdeckel, der sich langsam – wie im Zeitlupentempo – hob. Hu-Amun hatte die Geräusche in der Grabkammer gehört und den Geheimgang betreten. Dabei hatte er festgestellt, dass den Gefangenen die Flucht gelungen war. Sein Verstand hatte sich geweigert, es zu glauben. Es war einfach unmöglich, dass die Männer die magische Sperre überwunden hatten. Doch die Mauer zu Nefer-Amuns Grab war zerschlagen, und aus dem Grab hörte er Geräusche. Er stürmte in die Grabkammer und blieb entsetzt stehen. Nefer-Amuns Sarg war geöffnet worden, und er wusste, was dies zu bedeuten hatte. Die Mumie erwachte. Hu-Amun stieß einen Schrei aus. Der Sargdeckel schwebte immer höher. Schon war Nefer-Amuns Körper zu sehen. Wieder schrie HuAmun. Seine Aufgabe war es gewesen, für die Opferungen zu sorgen und zu verhindern, dass jemand Nefer-Amuns Grabkammern betrat. Er hatte versagt; er hatte seine Aufgabe nicht erfüllt. Das Un-
fassbare war geschehen. Die Gefangenen hatten die Grabkammer gestürmt und den Sarg geöffnet. Der Sargdeckel kippte zur Seite und krachte auf den Boden. Die Mumie setzte sich auf. Ruckartig drehte sie den Kopf und sah in HuAmuns Richtung, der sich nicht bewegte. Dann stieg sie aus dem Sarg. Ihre Bewegungen waren unsicher. Torkelnd setzte sie sich in Bewegung. Hu-Amun hob beide Arme. »Nefer-Amun«, sagte er und schloss die Augen, »ich versuchte dir ein treuer Diener zu sein, doch ich versagte. Ich erfüllte meine Aufgabe nicht zu deiner Zufriedenheit.« Die Mumie blieb vor ihm stehen. Sie zog sich die goldene Kette über den Kopf, wand sie um Hu-Amuns Hals und zog sie zusammen. Das Gesicht des Priesters wurde farblos. Gefasst erwartete er den Tod. »Verzeih mir, Nefer-Amun«, röchelte Hu-Amun. »Verzeih …« Die Kette zerfetzte seinen Hals.
Coco hörte das Aufschlagen eines schweren Gegenstandes. In diesem Augenblick bekam sie all ihre Kräfte zurück. »Befreit Susan Baxter von den Binden!«, rief sie Abd-el-Baran zu, der sofort gehorchte. Er hob einen Dolch auf, den einer der Priester fallen gelassen hatte, trat zu Susan und schnitt die Bandagen durch. Coco befreite sich aus eigener Kraft. Sie konzentrierte sich einen Augenblick, und die Bandagen zerrissen. Rasch sprang sie auf und streckte sich. Dann rannte sie in die Grabkammer. In der Tür blieb sie stehen. Die Mumie war tatsächlich erwacht. Sie wandte ihr den Rücken zu. In den Händen hielt sie noch immer den toten Hu-Amun. »Kommen Sie, Kassim!«, rief Coco, doch der Ägyptologe kauerte noch immer teilnahmslos vor dem leeren Sarkophag. Er hatte von den Ereignissen nichts mitbekommen. Coco lief zu Kassim und schüttelte ihn an den Schultern.
Die Mumie ließ den Toten fallen und drehte sich langsam um. Das Gesicht war mit Binden bedeckt, trotzdem glaubte Coco die weit aufgerissenen Augen Nefer-Amuns zu sehen. Sie riss Kassim hoch und stieß ihn vor sich her. Die Mumie bewegte sich nicht. Kassim fiel in die Grabvorkammer. Coco wandte den Kopf um. Die Mumie rührte sich noch immer nicht. »Rasch!«, schrie Coco. »Wir müssen fliehen!« »Wohin?«, fragte Abd-el-Baran. »In diesem Labyrinth verirren wir uns nur.« »Wir müssen einen Priester gefangen nehmen«, sagte Coco. »Er wird uns herausführen. Kümmert euch um Kassim! Tragt ihn!« Abd-el-Baran hob Kassim hoch, während Jean Cardin Susan Baxter stützte, die sich kaum bewegen konnte; sie war wie Coco völlig nackt. Coco hatte keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit der Mumie. Sie wusste nicht, welche Fähigkeiten in ihr schlummerten. Möglicherweise konnte sich die Mumie nicht lange am Leben erhalten, doch darauf konnte sie nicht hoffen. Coco lief voraus. Sie rannte einen schmalen Gang entlang. Keiner der Priester ließ sich blicken. Ihr blieb nur eine Möglichkeit: Sie musste sich in den rascheren Zeitablauf versetzen. Gern tat sie es nicht, da sie das immer viel Kraft kostete und sie danach nur beschränkt ihre anderen magischen Fähigkeiten einsetzen konnte. Aber sie musste einen Priester gefangen nehmen. Allein würde es zu lange dauern, bis sie in diesem Irrgarten einen Ausgang fanden. Sie versetzte sich in den rascheren Zeitablauf, rannte den Gang weiter entlang, öffnete blitzschnell einige Türen, fand aber keinen Priester. Als sie nach links in einen breiten Gang einbog, sah sie endlich zwei Priester, die vor ihr liefen. Es bereitete ihr keine Schwierigkeit, einen der Priester zu packen. Dem zweiten versetzte sie einen Schlag in den Nacken, dann bewegte sie sich wieder normal. Der eine Priester brach zusammen, während sie den zweiten zu hypnotisieren versuchte, was ihr auch gelang. Mit dem Tod ihres
Hohepriesters und dem Erwachen der Mumie hatten die Priester alle ihre magischen Fähigkeiten verloren. »Du führst uns ins Freie!«, sagte sie zu dem Priester. »Hast du mich verstanden?« »Ja, ich habe dich verstanden«, sagte der Priester. »Ich führe dich ins Freie.« »Komm mit!«, sagte Coco. Sie lief den Gang zurück, und der Priester folgte ihr. Fünf Minuten später hatte sie die anderen wieder erreicht. Susan fühlte sich jetzt so kräftig, dass sie allein gehen wollte, während Kassim sich noch immer in einem tranceartigen Zustand befand. Coco versuchte Kassim in die Wirklichkeit zurückzuholen, und nach zwei Versuchen gelang ihr das auch. Kassim blickte sie verwundert an. »Die Mumie«, sagte er. »Ich spürte ihre Gedanken. Sie waren verwirrend.« »Das können Sie mir alles später erzählen«, sagte Coco. »Dieser Priester wird uns hinausführen.« »Schade um all die wertvollen Gegenstände, die wir zurücklassen müssen«, sagte Abd-el-Baran bedauernd. »Wir sollten wenigstens einige Gegenstände mitnehmen«, meinte Cardin. »Dazu haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Coco. »Führe uns ins Freie, Priester!« Der Priester gehorchte. Er ging geradeaus weiter. Coco wandte immer wieder den Kopf um, doch von der Mumie war nichts zu sehen. Der Priester führte sie durch steil ansteigende Schächte. Einmal mussten sie durch einen niedrigen Tunnel kriechen; dann durchquerten sie eine kleine Kammer, in der auf niedrigen Tischen Grabbeigaben lagen. Coco merkte nicht, dass Abd-el-Baran und Jean Cardin rasch kleinere Gegenstände an sich nahmen; nur Susan Baxter sah es, die aber sagte nichts. Sie gingen jetzt durch einen breiten Gang. Coco ließ Susan Baxter und die Männer an sich vorbei. Von Kassim hatte sie die Taschenlampe. Sie hob sie hoch und hörte Schritte.
Die Mumie tauchte auf. Sie war noch fünfzig Meter entfernt. Ihre Bewegungen wirkten unharmonisch, ruckartig, so als hätte sie sich noch nicht an den Gebrauch ihrer Glieder gewöhnt. Coco hatte genug gesehen. Rasch lief sie den anderen nach und überholte sie. »Die Mumie folgt uns!«, schrie sie. »Lauft rascher! Du auch, Priester!« Wieder gehorchte der Priester. Er steigerte sein Tempo. Die anderen hatten Mühe, ihm zu folgen. Plötzlich blieb der Priester stehen, und Coco stieß gegen ihn. »Rasch!«, schrie ihn Coco an. Der Priester hatte gefunden, wonach er gesucht hatte. Er zog einen Ziegel heraus, und seine Hand verschwand in der Öffnung. Ein lautes Knarren war zu hören. Ein Teil der Wand klappte zurück, und helles Tageslicht fiel in den Gang. Coco ging am Priester vorbei. »Du kommst mit!«, befahl sie ihm. Susan Baxter trat durch die Öffnung. Ihr folgten Gamal Kassim und die anderen Männer. »Wir befinden uns in der Anubiskapelle im Tempel der Hatschepsut!«, rief Kassim überrascht. »Schließ die Wand, Priester!«, sagte Coco. Der Priester gehorchte. Er betätigte den Mechanismus, und die Wand schloss sich langsam. »Was nun?«, fragte Abd-el-Baran. Coco blickte an sich herunter. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass Susan und sie nackt waren. Abd-el-Baran gab ihr seinen Umhang, einer der Fellachen reichte Susan seinen Galabija. »Wir warten einige Minuten«, sagte Coco. »Ich will wissen, ob uns die Mumie weiter folgt. Wir sollten froh sein, dass wir …« »Nichts wie fort!«, drängte Jean Cardin. Er brach ab, als die Wand krachend zurückwich. Die Mumie war zu sehen. Abd-el-Baran hob seine Pistole, entsicherte sie und zielte auf den Kopf der Mumie. Der Schuss krachte. Die Kugel bohrte sich in die
Stirn der Mumie, die aber unbeirrt weiterging. Abd-el-Baran schoss noch dreimal, doch die Schüsse konnten die Mumie nicht aufhalten. Coco versuchte es mit Magie, aber die Mumie sprach auch darauf nicht an. »Flieht!«, rief sie. »Verteilt euch!« Alle wandten sich zur Flucht. Coco befahl dem Priester, dass er ihr folgen sollte. Sie rannten aus der Anubiskapelle. Die Mumie folgte ihnen. Einige Touristen waren zu sehen. Als sie die Mumie erblickten, schlossen sie sich Coco an. Sie rasten durch den Säulensaal. Cardin und Abd-el-Baran wandten sich nach rechts. Sie rannten die Stufen zur obersten Terrasse hoch. Coco brüllte den verwirrt dastehenden Touristen zu, dass sie verschwinden sollten, doch einige blieben einfach stehen und sahen mit großen Augen die Mumie an, die Coco folgte. Susan Baxter, Gamal Kassim und die Fellachen hatten sich nach links gewandt. Ihnen schenkte die Mumie keine Beachtung. Sie kümmerte sich auch nicht um die Touristen, sondern verfolgte stur Coco, den Priester, Cardin und Abd-el-Baran. Mit jeder Minute wurden die Bewegungen der Mumie sicherer. Sie lief immer rascher. Nur noch wenige Meter trennten sie von Coco. Coco raste zwischen den Säulen hindurch. Sie suchte nach einer Möglichkeit, die Mumie auszuschalten, doch es fiel ihr keine ein. Für sich selbst hatte sie keine Angst; sie konnte sich ja in den rascheren Zeitablauf versetzen und dadurch entfliehen. Dann blieb sie plötzlich überrascht stehen, als sie zwischen den Säulen eine Gestalt sah, die rasch näher kam. Sie trug einen weißen Rock um die Hüften, auf dem Kopf die Doppelkrone und in den Händen die Zeichen königlicher Macht: die Geißel und den Krummstab. Coco kannte das Gesicht. Sie hatte es schon unzählige Male auf Abbildungen gesehen. Vor ihr stand Echnaton. Er lächelte und ging an Coco vorbei. Die Mumie wandte sich ab, riss die Arme hoch und stürmte auf Echnaton zu, der zur Seite sprang und zwischen den Säulen hin und
her rannte. Die Mumie verfolgte ihn. Coco schüttelte den Kopf. Sie glaubte zu träumen. Es musste sich um eine Geistererscheinung handeln, denn es kam ihr zu unwahrscheinlich vor, dass Echnaton zum Leben erwacht sein sollte. Aber wer steckte hinter dieser Geistererscheinung? Wer hatte sie geschaffen? Bevor sich Coco von ihrer Überraschung erholt hatte, geschah das Unglaubliche. Echnaton lockte die Mumie immer weiter von Coco fort, und als die Mumie an einer der Säulen vorbeilaufen wollte, kippte die Säule um und begrub die Mumie unter sich. Echnaton war verschwunden; und von der Mumie war nichts mehr zu sehen; sie war von der Säule zerdrückt worden.
Stunden später hatten sich alle im Camp versammelt. Coco hatte es nicht verhindern können, dass die Polizei eingeschaltet worden war. Jean Cardin und Abd-el-Baran waren die Gegenstände abgenommen worden, die sie während der Flucht vor der Mumie an sich gerissen hatten. Die Polizei hatte sie alle verhört. Ihre Geschichte wurde ungläubig aufgenommen. Der Gang zum Höhlenlabyrinth, der sich in der Anubiskapelle befunden hatte, war eingestürzt. Es würde Tage dauern, bis er freigeschaufelt werden konnte. Auch der Zugang im schmalen Seitental war zugeschüttet. Die Hoffnung, dass der gefangen genommene Priester ihnen weiterhelfen konnte und die restlichen Eingänge verraten würde, hatte sich leider nicht erfüllt. Der Priester hatte sein Gedächtnis verloren; auch als ihn Coco hypnotisierte, konnte sie keine Informationen erhalten; sein Gehirn war leer, ausgedrückt wie ein Schwamm. Es gab mehr als fünfzig Zeugen, die die Mumie und das Auftauchen Echnatons gesehen hatten. Einige Touristen hatten sogar Fotos von den beiden geschossen, doch als man die Filme entwickelte, war weder von der Mumie noch von Echnaton etwas auf den Bildern zu sehen. Die Säule, unter der die Mumie begraben wurde, hatte man zur
Seite geräumt; von der Mumie fand man keine Spur; sie war verschwunden, hatte sich so wie die Geistergestalt Echnatons aufgelöst. Etliche Polizisten bewachten die Anubiskapelle, andere waren in das kleine Seitental gebracht worden. Jean Cardin, Abd-el-Baran und die anderen Grabräuber waren von der Polizei verhaftet worden; sie befanden sich aber noch im Camp. Coco nahm die Gelegenheit wahr und ließ sich von den beiden die Namen und Adressen der Käufer geben, die von ihnen Grabbeigaben gekauft hatten. Es war eine recht ansehnliche Liste. »An wen verkauften Sie die Anubis-Toth-Statuette, Cardin?«, fragte Coco. »An Trevor Sullivan, Baring Road, London.« Coco konnte ihre Überraschung nicht verbergen. »Wiederholen Sie das!« Jean Cardin sagte es nochmals. Coco steckte sich eine Zigarette an. »Was erregt Sie so, Coco?«, fragte Susan Baxter. »Ich muss telefonieren«, sagte Coco und stand auf. »Wo ist das nächste Telefon?« »In Kurna«, antwortete Susan. Coco trat aus der Hütte, stieg in Kassims Volkswagen und fuhr los. Sie musste ihre Vermutungen bestätigt bekommen. Nach wenigen Minuten hatte sie Kurna erreicht. Ein Fellache zeigte ihr bereitwillig den Weg zum Postamt. Sie musste mehr als eine Stunde auf die Verbindung mit London warten. Endlich hatte sie Trevor Sullivan am Apparat. »Ist Dorian da?«, fragte sie. »Nein«, antwortete Trevor Sullivan. »Er ist unterwegs. Gut, dass Sie anrufen, Coco! Es sind einige Dinge geschehen, die ich mir nicht erklären kann.« »Das vermute ich«, sagte Coco. »Erzählen Sie!« »Die Meldung von dem Verschwinden Susan Baxters stimmte nicht«, sagte Trevor. »Das habe ich festgestellt«, sagte Coco. »Aber die Meldung stimmte doch. Nur geschah alles drei Tage später.«
»Also ist Susan Baxter verschwunden?« »Sie war verschwunden, doch ich konnte sie befreien. Erzählen Sie weiter, Trevor!« »Heute kam ein Bote«, sagte der ehemalige O. I. »Er brachte ein Paket. Ich öffnete es und stellte zu meiner Überraschung fest, dass sich darin eine Statuette befand.« »Es ist die Anubis-Toth-Statue, nicht wahr?« »Ja, sie ist es. Aus dem Begleitschreiben geht hervor, dass sich ein Jean Cardin aus Luxor für den Erhalt der vereinbarten Summe bedankt. Wie ich feststellen konnte, wurde dieser Betrag tatsächlich von unserem Konto überwiesen, obwohl ich keinen Auftrag dazu gegeben hatte. Ich kann nur vermuten, dass Phillip dahinter steckt, doch auf meine Fragen antwortete er nicht.« »Sie haben Recht«, stellte Coco fest. »Phillip steckt dahinter. Geschah sonst noch etwas Seltsames?« »Ja. Ich betrachtete die Statue, da trat Phillip ins Zimmer. Ohne etwas zu sagen, nahm er die Figur an sich. Sein Gesicht bekam plötzlich einen verklärten Ausdruck. Vor meinen Augen löste er sich auf und verschwand einfach.« »Ist er zurückgekommen?«, fragte Coco erregt. »Ja. Phillip war nicht länger als eine halbe Stunde verschwunden. Wie üblich beantwortete er meine Fragen nicht.« »Wann verschwand Phillip?« »Das war vor etwa fünf Stunden«, antwortete Trevor. »Das würde passen.« »Was meinen Sie damit, Coco?« »Das werde ich Ihnen alles genau erzählen, sobald ich in London bin. Fassen Sie die Statue nicht mit bloßen Händen an! Wickeln Sie die Figur ein und sperren Sie sie in den Tresor! Haben Sie mich verstanden?« »Ja, das schon, aber ich weiß nicht …« »Niemand darf die Statue berühren«, sagte Coco eindringlich. »Ich komme morgen, spätestens übermorgen nach London zurück. Lassen Sie Dorian schön grüßen, wenn Sie ihn sehen!«
Coco legte den Hörer auf. Nachdenklich ging sie zum Wagen zurück. Phillip hatte sich wieder eingemischt. Für Coco stand fest, dass Phillip die rätselhafte Erscheinung gewesen war. Irgendwie war es ihm mittels seiner unerklärlichen Fähigkeiten gelungen, sich nach Ägypten zu versetzen und die Gestalt Echnatons anzunehmen. Niemand wusste genau, über welche Fähigkeiten der Hermaphrodit verfügte, auch Coco nicht. Sie fuhr zum Camp zurück.
Die Polizei hatte Abd-el-Baran und Jean Cardin nach Luxor gebracht. Einige Polizisten hielten sich noch immer im Camp auf. Susan Baxter kam es wie ein Wunder vor, dass sie noch am Leben war. Ohne Coco Zamis wäre sie wohl schon tot. Coco war für sie eine rätselhafte Frau, eine Frau, wie sie nie zuvor eine kennen gelernt hatte. Die Ägyptologin trat zum Waschtisch, schüttete Wasser in die Schüssel und wusch sich. Dann schlüpfte sie in knappe blaue Unterwäsche und zog sich einen flauschigen Morgenrock über. Einen Augenblick sah sie aus dem Fenster. Es wurde langsam dunkel. Sie verließ die Hütte, blieb stehen und atmete tief die Luft ein. Die Polizisten sahen sie neugierig an, als sie zu Gamal Kassims Hütte ging. Kassim saß an seinem Schreibtisch und betrachtete die Grabbeigaben, die Cardin und Baran gestohlen hatten. Es waren unbedeutende Stücke, einige Skarabäen, Ketten und Ringe. Kassim blickte lächelnd auf, als sich Susan neben ihn setzte. Aus dem Kasten hatte er die drei Grabbeigaben genommen, die Susan von Hami Fonad gekauft hatte. »Morgen beginnen wir mit den Ausgrabungsarbeiten«, sagte Kassim zufrieden. »Jetzt wissen wir, wo sich Nefer-Amuns Grab befindet. Der Eingang ist zwar verschüttet, aber das soll uns nicht aufhalten.« Susan nickte. Sie konnte Kassims Begeisterung verstehen. Der Wis-
senschaftler hatte schon das Grauen und die Angst, die hinter ihnen lagen, vergessen. »Ich glaube, wir werden unsere Einstellung den alten Ägyptern gegenüber ändern müssen«, sagte Susan leise. »Ich hörte Nefer-Amuns Botschaft, und wir beide wissen, dass die Mumie zum Leben erwachte. Das alles …« Susan griff nach einer Kette und betrachtete sie. »Was ist, Susan?«, fragte Kassim. »Ich glaube nicht, dass die Mumie tot ist«, sagte Susan. Sie spielte mit der Kette. »Wir haben doch gesehen, wie die Mumie von der Säule erdrückt wurde«, stellte Kassim fest. »Als die Säule fortgeräumt wurde, fand man von der Mumie keine Spur.« Kassim seufzte. »Es ist alles so rätselhaft. Das Auftauchen Echnatons und vor allem, wie sich Coco Zamis verhalten hat. Sie tat so, als wäre das alles natürlich, dabei geschahen Dinge, die für mich und …« Ein Schuss war zu hören, dann noch einer. Laute Schreie. Kassim und Susan sprangen auf. »Die Mumie!«, hörten sie einen Mann brüllen. Kassim stürzte aus der Hütte. Die Polizisten hatten ihre Pistolen gezogen und schossen wie verrückt auf die Mumie, die rasch näher kam. Aber sie ließ sich von den Schüssen nicht beirren. Stur ging sie weiter. Kassim und Susan sprangen zur Seite, als sie Kassims Hütte betrat. »Nefer-Amun holt sich die Grabbeigaben«, sagte Kassim. Er blickte durch das Fenster in die Hütte. Seine Augen weiteten sich. Die Mumie berührte die Gegenstände, die auf seinem Schreibtisch lagen. Nacheinander lösten sich die Gegenstände auf; sie verschwanden einfach. Nefer-Amun trat wieder aus der Hütte und stapfte auf Susan zu, die sich umdrehte und davonlief. Die Mumie folgte ihr. »Nicht schießen!«, brüllte Kassim, der Angst hatte, dass einer der
Polizisten Susan verletzen könnte. Er und einige Männer folgten der Mumie. In diesem Augenblick kam Coco mit dem VW an. Sie sprang aus dem Wagen und lief Kassim nach. Nach wenigen Minuten hatte sie ihn erreicht. Susan Baxter lief hundert Meter vor ihnen. Die Mumie hatte sich ihr schon bedenklich genähert. »Die Mumie ist also nicht tot«, stellte Coco fest. »Sie ist plötzlich aufgetaucht«, keuchte Kassim, »und hat sich die Gegenstände geholt, die aus ihrem Grab stammen. Sie lösten sich auf, nachdem Nefer-Amun sie berührt hatte.« »Weshalb verfolgt die Mumie Susan?« Kassim blieb überrascht stehen. Susan hatte eine Kette an sich genommen. »Susan!«, brüllte Kassim so laut er konnte. »Wirf die Kette fort!« Doch Susan hörte ihn nicht. Sie umklammerte noch immer die Kette, merkte gar nicht, dass sie sie festhielt. Ihre Schritte wurden immer kleiner. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, torkelte, stolperte und fiel auf die Knie. Ihr Morgenmantel öffnete sich. Und da war die Mumie heran. Sie blieb hinter ihr stehen, hob die Arme, bückte sich und griff nach ihr. »Wirf die Kette weg!«, brüllte Kassim. Die Kette! Ihr Blick fiel auf die Goldkette, und sie schleuderte sie einige Meter weit fort. Augenblicklich ließ die Mumie von ihr ab, packte die Kette und hielt sie in die Höhe. Die Kette löste sich auf. Nefer-Amun drehte sich um und ging auf die Felswand zu. Kassim kümmerte sich um Susan, während Coco der Mumie folgte. Sie versuchte Magie anzuwenden, doch die Mumie ließ sich nicht aufhalten. Sie betrat eines der unzähligen kleinen Seitentäler und war plötzlich verschwunden. Coco presste die Lippen zusammen. Lange starrte sie in das schmale Tal. Schließlich drehte sie sich um und ging zu Kassim, der Susan hochgehoben hatte und zurück ins Lager trug. Eine Stunde später hatte sich Susan vom Schock erholt. Sie saßen in Susans Hütte. Kassim hatte eine Flasche Omar-Kayam geöffnet.
Coco hob das Glas. Der Wein leuchtete dunkelrot – wie Blut. Langsam trank sie einen Schluck. »Ich fürchte, dass Sie Nefer-Amuns Grab leer vorfinden werden, Gamal«, sagte sie. »Sie werden auch nicht seinen Körper finden.« Kassim kniff die Augen zusammen und zündete sich eine dünne Zigarre an. »Abwarten!«, sagte er. Coco schüttelte den Kopf und lächelte. »Denken Sie an meine Worte, Gamal! Ich bin sicher, dass Nefer-Amun einen Großteil seiner Fähigkeiten zurückbekommen hat. Er weiß, dass Sie sein Grab suchen. Die Mumie ist nicht mehr so mächtig, wie sie es noch vor einigen Monaten war, aber sie wird sich und ihre Grabbeigaben in Sicherheit bringen.« »Das kommt mir doch ziemlich unwahrscheinlich vor.« »Mir nicht«, schaltete sich Susan ein. »Nefer-Amun hat die Grabbeigaben zurückgeholt. Wie wir von Cardin und Abd-el-Baran wissen, wurden einige Gegenstände an ein Dutzend Leute verkauft, die außerhalb Ägyptens leben. Jetzt frage ich mich, ob sich die Mumie daranmachen wird, auch diese Gegenstände zurückzuholen. Was meinen Sie, Coco?« »Ich fürchte, Sie haben Recht, Susan«, sagte Coco. »Die Mumie wird alles daransetzen, die Grabbeigaben zu bekommen. Ich kehre morgen nach London zurück und werde allen Besitzern der Grabbeigaben eine Warnung zukommen lassen.« Kassim lachte. »Sie überschätzen die Fähigkeiten der Mumie gewaltig. Wie soll es ihr möglich sein, an Gegenstände heranzukommen, die sich in den USA, in Süd-Afrika, in Australien und Europa befinden?« Coco antwortete nicht. Sie wusste, dass ihr Abenteuer mit der Mumie noch nicht zu Ende war. Was war vor drei Monaten geschehen? Was hatte dazu geführt, dass Nefer-Amun einen Großteil seiner Fähigkeiten verloren hatte? Auf diese Fragen wusste sie noch keine Antwort, doch sie würde alles daransetzen, um mehr über Nefer-Amun zu erfahren. Coco trank ihr Glas leer, stand langsam auf und trat vor die Hütte. Der Mond schien auf die Steilwände von Deir-el-Bahari. Irgendwo
schrie ein Nachtvogel. Coco war sicher, dass sie bald von der Mumie etwas hören würde. Und sie sollte sich nicht täuschen.
Fünftes Buch
Das Monster von Greenfield von Ernst Vlcek
Es ist nett, und ich freue mich riesig, dass Sie mich im Gefängnis besuchen kommen, Mr. Hunter, aber verdienen tue ich's nicht. Ich bin ein Mörder und Sittenstrolch. Die Polizisten haben schon Recht, dass sie mich so nennen. Aber glauben tun sie mir wahrscheinlich auch nicht. Warum glaubt mir denn keiner, dass ich ein Mörder bin? Warum hängt man mich nicht? Ich hab's verdient. Wirklich, Mr. Hunter. Wenn einer an den Galgen gehört, dann ich. Was ich da am Hals und auf den Armen habe? Blaue Flecke. Ja, ich habe Prügel gekriegt. Aber ich beschwere mich nicht. Sie dürfen das den Polizisten nicht übel nehmen. Es ist ja ganz natürlich, dass sie vor Wut kochen, wenn sie ein Scheusal wie mich vor sich haben und es nicht aufknüpfen dürfen. Man kann mir nichts beweisen, obwohl ich gestanden habe. Die Ärzte sind misstrauisch. Sie sagen, dass ich die Geständnisse aus Geltungssucht abgelegt habe. Aber das stimmt nicht. Ich will nicht protzen. Ich gestehe doch nur, weil ich das alles nicht mehr ertrage. Solange ich zurückdenken kann, habe ich diese Alpträume. Meine Opfer erscheinen mir jede Nacht im Traum. Es ist immer der gleiche Traum. Zuerst ist es finster. Nur die Gesichter von Vater und Mutter sind zu sehen. Sie bieten einen schrecklichen Anblick, obwohl sie zuerst noch leben. Aus ihren Gesichtern spricht Angst. Anfangs bin ich nur ein unbeteiligter Zuschauer. Ich bin ja noch ein kleines Kind und verstehe das alles nicht so recht, nur die Angst fällt mir bei meinen Eltern auf. Und ich erkenne, dass ich ihren Tod beschlossen habe. Sie schreien, als Hände aus der Dunkelheit auftauchen, Hände mit langen, blitzenden Dolchen. Der Schein der schwarzen Kerzen spiegelt sich in den Klingen. Und dann stoßen die Hände mit den Dolchen zu. Ich bin noch Zuschauer, obwohl ich weiß, dass ich die Dolche führe. Ma und Pa schreien immer lauter. Die Sehnen der Hände
spannen sich, die Adern schwellen an. Und dann wird alles in Blut getaucht, und die Schreie werden so schrill, dass ich sie nicht mehr ertragen kann. Die Münder von Ma und Pa sind weit aufgerissen, die großen erstarrten Augen auf mich gerichtet. Ich bin froh, als Feuer das ganze Bild auslöscht. So werde ich von dem Anblick meiner toten Eltern, die ich umgebracht habe, erlöst. Aber im Traum bin ich gar nicht erschüttert, sondern will noch mehr Blut sehen. Das Böse ist in mir. Das weiß ich während des Traumes. Ich bin durch und durch böse, wenn ich manchmal auch Zeiten habe, wo ich nicht mal einer Fliege was zu Leide tun könnte. Einmal habe ich mich an einem Dorn gestochen, und als das Blut aus meinem Finger quoll, wurde mir ganz schlecht. Ich habe solche Zeiten. Dann wieder kann ich vom Blut nicht genug kriegen – wie in diesem Traum. Nach meinen Eltern kommt Lord Marbuel dran. Ich kann mich an ihn erinnern. Aber in diesem Traum war er mein Lehrmeister und Gönner. Er hat mir alles Böse dieser Welt beigebracht. Nun glaube ich, dass ich ihn übertreffen kann. Ich bin noch grausamer und bösartiger als er. Deshalb bringe ich ihn um. Nachdem ich über meinen Lehrmeister des Bösen gesiegt habe, bin ich Herr über Leben und Tod. Dann ist der Traum aus. Ich erwache schweißgebadet in meinem Bett in Tante Annas Haus. Mir ist ganz übel. Durch das offene Fenster weht kalte Luft herein, denn es ist November. Ich bekomme eine Gänsehaut. Die Sonne scheint durchs Oberlicht. Ihre Strahlen blenden mich. Ich stehe auf, und da kommt es mir auch schon hoch. Ich zittere und heule und kotze. Dabei torkle ich durchs Zimmer und besudle alles. Tante Anna kommt händeringend angerannt. Sie muss die Schweinerei aufwischen. Als ich ihr helfen will, sagt sie, dass ich dazu zu tollpatschig sei. Also ziehe ich mich zitternd in eine Ecke zurück. Tante Anna ist wütend. Ich mache ihr auch wirklich viel Scherereien. Als sie von unten zu mir aufblickt, verändert sich ihr Gesichtsausdruck. Sie seufzt.
»Was ist denn nur los mit dir, Mike? Hattest du schon wieder einen deiner Alpträume?« »Es ist immer der gleiche Alptraum«, sage ich. Sie wringt das Tuch aus, mit dem sie den Boden aufwischt. »Du solltest dir das alles nicht so zu Herzen nehmen, Mike. Es ist doch nur ein Traum. Vergiss ihn!« »Wie kann ich denn vergessen, dass ich Ma und Pa umgebracht habe – und all die anderen?« Da wird sie wieder wütend. Sie knallt den nassen Lappen auf den Boden, stemmt die Hände in die Hüften und kommt auf mich zu. Ich werde in meiner Ecke kleiner und kleiner. Aber als sie bei mir ist, hat sie keine Wut mehr. »Hör doch endlich damit auf, Mike!«, bittet sie. »Deine Träume haben mit der Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun. Deine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben. Wie oft soll ich dir das noch sagen?« »Aber …« »Es war nur ein Traum.« »Ja, Tante.« Sie seufzt wieder. »Wenn sich dein Zustand nicht bald bessert, dann …« Sie spricht nicht weiter, aber ich weiß, was sie sagen wollte. Mir wird sofort wieder schlecht. »Muss ich in eine Anstalt?«, frage ich ängstlich. »Nein, nein, Mike«, sagt sie schnell. »Solange ich für dich sorgen kann, bleibst du in diesem Haus.« »Ich muss aufs Klo«, sage ich. Durch das Klofenster sehe ich in den Garten hinter dem Haus. Im Frühling und Sommer blühen hier viele Blumen. Manche habe ich selbst gesetzt. Die liebe ich besonders. Ich helfe meiner Tante auch oft beim Jäten. Ich darf das Unkraut auf einem Haufen zusammenschichten und anzünden. Das macht Spaß! Aber manchmal habe ich in dem Feuer auch die Gesichter von Ma und Pa gesehen. Das war furchtbar. Als ich jetzt durchs Klofenster hinausblicke, ist der Garten öd und
leer. Na ja, im November. Aber gerade als ich an der Spülung ziehen will, tauchen beim Gartenzaun Angie und Tommy auf. Das sind zwei Nachbarskinder. Geschwister. Ich weiß, dass ihre Mutter, Mrs. Sutherland, ihnen verboten hat, sich mit mir abzugeben. Aber was können die Kinder dafür? Also winke ich ihnen zu. Sie stecken die Köpfe zusammen und kichern. Dann sehen sie hoch und rufen: »Cleanhead, Cleanhead, fang uns doch!« Alle nennen mich Cleanhead, weil ich keine Haare habe. Dagegen habe ich nichts. Glatzkopf wäre geschimpft, oder? Cleanhead ist netter, wenn Tante Anna es auch nicht gerne hört. Aber ich weiß, dass es die Kinder nicht böse meinen. Sie sind meine einzigen Freunde. Ich mag Kinder. »Na wartet!«, rufe ich lachend durchs Fenster. »Ich erwische euch schon.« Ich renne raus aus dem Klo, ziehe Hose und Jacke über den Pyjama an und flitze aus dem Haus. Die Kinder schreien bei meinem Anblick vor Vergnügen, nehmen aber Reißaus, als ich ihnen nachlaufe. Nach einigen Metern trennen sie sich. Angie rennt nach links, Tommy nach rechts. Es dauert etwas, bis ich mich für eine der beiden Richtungen entschlossen habe. Ich beschließe, Angie auf den Fersen zu bleiben. Also nichts wie hinter Angie her. Das macht Spaß. Aber als ich sie fast erreicht habe – ich kann zwar nicht besonders schnell laufen, aber schneller als so ein kleines Gör bin ich ja immer noch –, als ich sie einhole und nach ihr greifen will, beginnt sie auf einmal laut zu schreien. Es hört sich so an wie das Schreien meiner Opfer. Angie hat Angst vor mir, erkenne ich. Ich rufe ihr zu, dass sie sich vor mir doch nicht zu fürchten braucht, weil ja alles nur Spaß ist, aber sie hört mich nicht, schreit nur noch lauter. Mir ist zum Heulen. Da taucht Mrs. Sutherland auf. Angie rennt in die Arme ihrer Mutter, schluchzt haltlos. »Was wolltest du meiner Angie antun?«, schreit Mrs. Sutherland mich an. Und die Worte sprudeln nur so aus ihrem Mund, ohne dass sie
Luft holt. Ich will ihr erklären, dass alles ganz harmlos war, nur Spaß. Mrs. Sutherland, will ich sagen, ich wollte Angie ganz bestimmt keine Angst einjagen. Und ich weiß selbst nicht, warum sie sich auf einmal zu fürchten begann, Mrs. Sutherland. Aber ich bringe keinen Ton hervor. Mir ist ganz schwindelig, und in meinem Kopf dröhnt und pocht es. Ich höre nicht, was mir Mrs. Sutherland zubrüllt, höre nur den einen Satz: »… werden schon noch dafür sorgen, dass du in eine Irrenanstalt kommst. Denn dort gehörst du hin.« Auf einmal tauchen weitere Frauen auf, schreien auf mich ein, drohen mir mit den Fäusten. Mrs. Quimbley ist auch darunter, und obwohl sie keine Kinder hat, die sie vor mir beschützen muss, ist sie die Schlimmste von allen. Mrs. Quimbley verspricht, dass ihr Mann nach diesem Vorfall nun alles tun werde, damit ich endlich dorthin komme, wo ich hingehöre – ins Irrenhaus. Mr. Quimbley hat in Greenfield sehr viel zu sagen, denn er hat viel Geld. Und Mrs. Donaldson ist auch da. Das ist die Mutter von Lisa. Ich habe Angst, dass sie mir die Augen auskratzen will und hebe die Hände. Das kommt ihr so vor, als wollte ich sie schlagen. Sie schreit noch lauter und droht, dass mich ihr Mann noch windelweich prügeln wird. Zum Glück taucht dann Tante Anna auf und bringt mich ins Haus. Dort weine ich mich an ihrer Brust aus, und sie redet mir gut zu. Wenn es nach ihr ginge, dann brauchte ich nicht in eine Anstalt. Aber der mächtige Mr. Quimbley hat mehr zu sagen als sie. »Dazu lasse ich es nicht kommen«, verspricht sie trotzdem. »Bevor ich dich mir wegnehmen lasse, ziehe ich lieber in einen anderen Ort.« »Ich schäme mich so, dass ich dir solche Schande mache«, sage ich, als ich wieder reden kann. »Ich bin ein Ungeheuer, ich weiß …« Aber das will sie nicht hören und schickt mich auf mein Zimmer. Ich verspreche ihr, dass ich das Haus heute nicht mehr verlassen werde, gehe auf mein Zimmer und versuche zu zeichnen. Ich kann ganz gut zeichnen. Das sagen auch die Ärzte, die mich behandelt haben. Und ich kann auch ganz gut basteln. Früher, als
wir noch woanders wohnten, habe ich meine Weihnachtssterne aus Stroh im Ort verkauft. Aber in Greenfield will sie niemand haben. Ich versuche also zu zeichnen, aber es macht mir heute keinen Spaß. So setze ich mich ans Fenster und blicke in den Garten hinaus. Wenn Sommer wäre, gäbe es wenigstens mehr zu beobachten, aber so tauchen nur einige Spatzen auf, die von meinen Brotkrumen angelockt werden. Da steht auf einmal Lisa am Zaun. Lisa ist das schönste Mädchen von der Welt. Eigentlich ist sie ja schon fast eine Frau. Zumindest ist sie bestimmt so alt wie ich. »Hallo, Cleanhead!«, ruft sie herauf. »Hallo, Lisa!«, rufe ich zurück. »Wieso sperrst du dich denn an einem so schönen Tag in deinem Zimmer ein? Wer weiß, wie lange das warme Wetter noch anhält. Viele Sonnentage werden wir nicht mehr haben.« Mir fällt erst jetzt auf, dass kaum eine Wolke am Himmel ist. »Ich habe meiner Tante versprochen, nicht aus dem Haus zu gehen«, sage ich. »Schade!« Lisa macht ein ganz trauriges Gesicht. »Ich habe gedacht, dass du vielleicht Lust hättest, mit mir spazieren zu gehen.« Lisa ist – sie war ein nettes Mädchen. Ich mochte sie. Sie war nicht so gemein zu mir wie ihre Freundinnen. Aber seit sie mit den Burschen aus Greenfield zum Tanzen ging, hatte sie sich kaum noch mit mir abgegeben. Dann wurde sie die Freundin von Bobby Mason, und der hat mir ganz deutlich gesagt, dass ich Lisa von nun an nicht einmal mehr anschauen dürfte. »Wenn du ihr zu nahe kommst«, hat er gesagt, »dann schlage ich dich zusammen.« Daran muss ich denken. »Mit dir spazieren gehen?«, wiederhole ich. »Aber Bobby will das sicher nicht.« »Bobby«, sagt sie so abfällig, als würde ihr überhaupt nichts an seiner Meinung liegen. »Ich kann tun, was ich will. Was ist, Cleanhead – willst du mich begleiten oder nicht?« »Ich will schon, aber …«
»Hast du etwa vor deiner Tante Angst?« »Ach wo«, behaupte ich, obwohl ich tatsächlich an Tante Anna denke – und auch an Bobby. Aber vor Lisa möchte ich nicht als Feigling dastehen. Deshalb behaupte ich: »Ich fürchte mich vor niemandem.« »Na, dann komm schon! Ich warte beim Bach auf dich, damit uns niemand zusammen sieht.« Sie rennt davon, bevor ich noch etwas sagen kann. Ich mache die Tür auf, horche, ob ich irgendwo Tante Anna höre. Aus der Küche kommen Geräusche. Sie wird es nicht merken, dass ich fort bin, wenn ich einfach aus dem Fenster springe. Ich schlüpfe nur in meinen Pullover, den schönen, neuen Norwegerpullover, den ich von meiner Tante zum Geburtstag habe. Mehr brauche ich nicht anziehen. Es ist ja ein warmer Tag. Ich springe aus dem Fenster, renne durch den Garten, klettere über den niedrigen Zaun und brauche nur noch den Hang zum Bach hinunterzusteigen. Lisa erwartet mich und sagt, dass ich nicht besonders sportlich sei, weil ich keuche. Wir gehen in den Wald, in Richtung All, der Straße, die nach London führt. Dabei redet Lisa die ganze Zeit über so seltsam. Ob ich denn nie Lust verspürte, mit Mädchen meines Alters allein zu sein? Ich weiß gar nicht, warum ich rot werde und mir so ist, als müsste ich aufs Klo. Sie lacht mich aus und redet in dieser seltsamen Art weiter, so dass ich immer unsicherer werde, weil ich überhaupt nicht weiß, was sie meint. Ich denke, dass es besser wäre, so schnell wie möglich nach Greenfield zurückzukehren, aber als ich Lisa das sage, nimmt sie mich an der Hand und zieht mich mit. Wir kommen auf eine Lichtung nahe der Straße – und dort steht auf einmal Bobby mit drei Freunden. »Habe ich es mir doch gedacht, dass ich dich eines Tages mit Lisa erwischen würde, Cleanhead«, sagt er und klopft sich mit einem Gummiknüppel auf die Oberschenkel. Dabei grinst er mich an. Seine Freunde umringen mich. Lisa rennt zu Bobby und schmiegt sich an ihn. Er legt einen Arm besitzergreifend um ihre Hüfte. »Aber – Bobby …«, versuche ich ihm zu erklären. Da erhalte ich von hinten einen Tritt, dass ich hinfalle. Lisa lacht.
Als ich das sehe, denke ich, alles sei nur ein Scherz und lache mit. Aber da tritt mir Bobby mit dem Schuh ins Gesicht. »Wie war das denn nun, Baby?«, höre ich ihn dann Lisa fragen. »Wie hat er dich denn in den Wald gelockt?« Und Lisa sagt: »Er hat was von einem Versteck erzählt, das er mir zeigen wollte. Ich dachte mir nichts dabei, weil ich ihn für harmlos hielt – bis er dann nach mir fasste …« »Aber Lisa!«, rufe ich ihr zu. »Das ist doch nicht wahr!« Irgendjemand gibt mir einen Tritt in die Seite. Bobby baut sich vor mir auf. »Du weißt, was ich dir versprochen habe, falls ich dich einmal mit Lisa erwische, Cleanhead. Diese Abreibung ist jetzt fällig. Los, zieh dich aus! Nackt – bis auf die Haut.« Bobby war ja im Recht. Ich hätte die Finger von Lisa lassen sollen. Was dann passiert ist, wissen Sie ja selbst, Mr. Hunter.
Dorian Hunter machte Mike »Cleanhead« Hydes Bekanntschaft vor etwa sechs Wochen, in den letzten Novembertagen des Vorjahres. Der Dämonenkiller befand sich gerade auf der Rückfahrt von Bishop's Stortford, wo er einen Fall von angeblicher Besessenheit untersucht hatte. Ein Pfarrer des Ortes hatte sich an ihn um Rat gewandt, weil er die Meinung eines Fachmannes hören wollte, bevor er um die Erlaubnis zu einem Exorzismus ersuchte. Dorian hatte schnell erkannt, dass die Frau, die vom Teufel besessen sein wollte, im Grunde nur hysterisch und ein Fall für den Psychiater war. Auf der Rückfahrt hatte er auf der All eine Reifenpanne. Da er im Bummeltempo auf der Straße dahinschlich, fiel es ihm nicht schwer, den ausbrechenden Wagen abzufangen und an den Straßenrand zu dirigieren. Er bockte den Rover auf und holte das Reserverad aus dem Kofferraum. Dorian ließ sich Zeit. Er war nicht in Eile. So hatte er Muße, sich umzusehen. Es war einer der wärmsten Spätherbsttage, an die er sich erinnern konnte. Der Himmel war von einem tiefen Blau. Die Sonne strahlte trotz
der späten Stunde immer noch einige Wärme aus. Links und rechts von der Straße erstreckten sich die Wälder des Epping Forest. Als Dorian den Wagen abbremste, hatte er auf einer Lichtung einen Mann und ein Mädchen gesehen. Jetzt waren die beiden nicht mehr allein. Vier andere Männer hatten sich zu ihnen gesellt. Während sich Dorian eine Players ansteckte, starrte er gedankenverloren auf die Gruppe junger Leute. Irgendetwas an ihnen erregte seine Aufmerksamkeit. Das Mädchen schmiegte sich nun an einen der neu hinzugekommenen Männer. Ihr ursprünglicher Begleiter, dessen Kopf völlig kahl war und der eine hünenhafte Gestalt hatte, stand mit hängenden Schultern da. Die anderen bildeten einen Kreis um ihn. Der Kahlköpfige bekam plötzlich einen Tritt von hinten. Als er auf dem Boden lag, trat ihm der, zu dem sich das Mädchen gesellt hatte, ins Gesicht. Dorian schnippte die halb gerauchte Zigarette fort, schwang sich über die Leitplanke und lief auf die Lichtung zu. Er war schon bis auf zwanzig Meter heran, bevor er entdeckt wurde. Der kahlköpfige Riese schickte sich gerade an, sich seines dicken Pullovers zu entledigen. »Da will einer was!«, hörte Dorian einen der anderen Burschen rufen. Aus der Nähe erkannte er, dass keiner von ihnen über Zwanzig sein konnte. Zwei von ihnen ließen von dem Kahlköpfigen ab und wandten sich drohend Dorian zu. Der eine hatte einen Schlagring, der andere bog zwischen den Händen eine Stahlrute. »Verschwinde wieder, Onkel!«, rief der mit dem Schlagring Dorian zu. »Das hier ist nichts für schwache Nerven.« Dorian ging weiter. Als er den mit dem Schlagring erreichte, trat er ihn in den Unterleib. Der andere stürzte sich mit einem Wutschrei auf ihn und ließ die Stahlrute auf ihn herabschnellen. Dorian fing den Schlag ab, indem er den Burschen am Handgelenk packte. Er drehte dem Kerl den Arm auf den Rücken, bis es in seinen Gelenken knackte und er mit
einem Schmerzensschrei die Stahlrute fallen ließ; dann erst ließ Dorian seinen Arm los, drehte ihn zu sich herum und boxte ihm die Faust ins Gesicht. Daraufhin gaben die anderen beiden Fersengeld. Als Dorian sich dem am Boden windenden Rowdy, der ihn mit dem Schlagring bedroht hatte, widmen wollte, sagte eine Stimme hinter ihm: »Nicht, Mister! Lassen Sie die Jungens in Ruhe! Was mischen Sie sich überhaupt in Sachen ein, die Sie nichts angehen?« Diese Reaktion des Kahlköpfigen verblüffte Dorian. Er drehte sich ihm zu. Jetzt erst hatte er Gelegenheit, ihn sich genauer anzusehen. Er war tatsächlich ein Riese von Gestalt und hatte die grobschlächtige Statur eines Holzfällers. Obwohl Dorian mit seinen ein Meter neunzig nicht gerade klein war, überragte ihn der andere um gut zehn Zentimeter. Seine Hände waren so klobig und ungeschickt wie Bärentatzen. Und er war viel jünger, als es aus der Ferne geschienen hatte. Daran war sein kahler Schädel schuld; sein Kopf lief zum Kinn hin spitz zu und war oben weit ausladend. Die breite Stirn war gewölbt, die Augen, obwohl sie groß waren und vorstanden, verschwanden fast unter den Brauen und den hervorspringenden Backenknochen. Die untere Gesichtshälfte – samt der flach gedrückten Nase und dem wulstigen, aber kleinen Mund – war unscheinbar gegenüber dem ausladenden Schädel, der oben so abgeflacht war, als hätte ihn jemand skalpiert. Dorian wählte diesen Vergleich absichtlich, weil das kahle, flache Haupt auch unzählige Narben aufwies. »Eigentlich solltest du mir dankbar sein«, sagte Dorian. »Wäre ich nicht dazwischengetreten, hättest du eine ordentliche Lektion erhalten. Oder bist du scharf darauf, verprügelt zu werden?« Der Kahlköpfige hielt den Kopf gesenkt und blickte Dorian kurz von unten herauf an. »Verdient hätte ich es schon«, sagte er schwerfällig, die Worte nur undeutlich artikulierend. »Aber trotzdem, vielen Dank, Mister.« »Ich heiße Dorian Hunter. Und du?« »Alle nennen mich Cleanhead.« Dabei fuhr er sich mit der Pranke über die narbige Glatze. »Aber heißen tue ich Mike Hyde. Ich wohne
in Greenfield, bei meiner Tante.« »Ich werde dich im Wagen nach Hause fahren«, bot Dorian ihm an. »Wer weiß, vielleicht wollen dir die Rowdies auflauern.« »Es sind keine Rowdies«, sagte Mike im Brustton der Überzeugung. »Bobby war wütend, weil ich mich an seine Lisa herangemacht habe. Ihnen würde es auch nicht recht sein, wenn Ihnen jemand Ihr Mädel ausspannen wollte, Mister.« »Nein, natürlich nicht«, sagte Dorian mit rauer Stimme. Er hatte auf einmal einen Kloß im Hals. Sofort hatte er Mitleid mit diesem einfachen, tollpatschigen Burschen, der wahrscheinlich sein Leben lang den Prügelknaben für die anderen abgab und für die Grausamkeiten seiner Mitmenschen noch die Schuld bei sich selbst suchte. Dorian fügte hinzu: »Aber ich würde auch nicht meine Freunde zusammenrotten und zu viert auf einen Wehrlosen losgehen. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich nach Hause bringe, Mike?« »Nein, Mr. Hunter.« So lernte Dorian Mike Hyde kennen, den alle nur Cleanhead nannten. Auf der Fahrt in das drei Kilometer entfernte Greenfield wurde Mike immer gesprächiger, und Dorian erfuhr von ihm einiges, was seine erste Vermutung bestätigte. Mike war geistig in seiner Entwicklung zurückgeblieben, benutzte aber andererseits manchmal Redewendungen und Ausdrücke, die auf eine versteckte Intelligenz hinwiesen. Manchmal sagte Mike recht kluge und treffende Dinge, dann wieder zeigte er sich kindlich-naiv und erschreckend weltfremd. Nun, Dorian wollte sich kein endgültiges Urteil über seinen Geisteszustand bilden, weil das nicht ihm, sondern höchstens einem Psychoanalytiker oder Psychologen zustand – doch er erkannte, dass Mike harmlos und gutmütig war. Deshalb überraschte ihn dessen Geständnis umso mehr. Mike erzählte, dass manchmal die Kinder zum Haus seiner Tante kämen, um ihn zu necken. Er mochte Kinder und machte gute Miene zum bösen Spiel. Mike war der Ansicht, dass die Kinder es nicht böse meinten, wenn sie ihn verhöhnten. »Kinder müssen nun einmal grausam sein, um sich in dieser Welt
zu behaupten. Und sie sind es ja nicht selten zu sich selbst, oder, Mr. Hunter?« Diese Binsenwahrheit klang aus dem Munde des Debilen schon wieder weise. Er verstand nur die Eltern nicht richtig, die ihren Kindern verboten, sich mit ihm abzugeben, und ihnen Schauergeschichten über ihn erzählten. »Sie sagen ihren Kindern: ›Wenn du nicht brav und artig bist, dann wird Cleanhead dich holen.‹ Das hören die Kinder von klein auf. Und die Kinder wachsen mit der Angst vor mir auf. Aber sie kommen immer wieder zu meinem Haus, und ich tue ihnen den Gefallen, und laufe ihnen nach. Und Sie sollten sehen, Mr. Hunter, wie sie dann vor Vergnügen jauchzen. Manchmal haben sie auch richtige Angst vor mir. Sie sagen das ihren Eltern, und die kommen dann zu Tante Anna und beschweren sich. Ein paar Mal haben sie mir auch schon aufgelauert und mich verhauen, dass ich nicht mehr gehen konnte. Darum hasse ich sie. Sie können sich nicht vorstellen, wie ich sie hasse, Mr. Hunter. Das tue ich nicht immer. Nur wenn ich – meine Periode habe. Ja, eigentlich sind die Erwachsenen schuld, dass ich zu so einem Scheusal geworden bin.« »Was redest du dir da ein, Mike«, sagte Dorian. »Es ist doch ganz normal, dass man Menschen nicht mag, die zu einem ungerecht sind. Nicht, was man denkt, ist verwerflich, sondern das, was man tut. Es ist doch unsinnig, deswegen Schuldkomplexe zu haben.« Mike blickte starr aus dem Seitenfenster, als er sagte: »Bei mir ist denken und tun manchmal dasselbe. Wenn mich der Hass übermannt, wird der Drang nach Blut in mir übermächtig. Dann muss ich morden, Mr. Hunter.« Diese Eröffnung war es, die Dorian so an Mike entsetzte. Und sein Mitleid für ihn verstärkte sich noch. Er machte die Bewohner von Greenfield dafür verantwortlich, dass Mike sich für ein Ungeheuer hielt. Dorian beschloss in diesem Augenblick, sich mit Mikes Tante zu unterhalten. Er konnte sich vorstellen, dass es diese Frau bei so viel Gehässigkeit ihrer Mitmenschen auch nicht leicht hatte. Aber zu dieser Aussprache kam es nicht. Als Dorian den Wagen
vor dem Fachwerkhaus am Rande von Greenfield anhielt, sprang Mike sofort heraus, rief Dorian ein schnelles Dankeschön zu und verschwand durch die Eingangstür. Gleich darauf erschien eine ältere Dame. Sie hatte eine Arbeitsschürze umgebunden; das graue Haar hing ihr unordentlich ins Gesicht. Ihre Hände waren voll Mehl- und Teigspuren. Sie konnte noch nicht viel älter als fünfzig sein, aber ihr verkniffenes Gesicht wies tiefe Furchen auf, die von Sorge und Leid zeugten. Ihre Haltung war eine einzige Ablehnung, ihre Augen funkelten Dorian an. Als er die Tür im Gartenzaun erreichte und öffnen wollte, sagte sie mit abweisender Stimme: »Leben Sie wohl, Mister! Ich kenne Sie nicht und will Sie auch nicht kennen lernen. Sie sind für mich ein Fremder, und das sollen Sie auch bleiben. Auch wenn Sie sich Mikes angenommen haben, so gibt das Ihnen nicht das Recht, sich in unsere Angelegenheiten einzumischen. Gehen Sie!« Dorian machte wortlos kehrt, stieg in den Wagen und brauste davon. Sein erster Ärger über die schroffe Ablehnung der alten Frau machte bald der Erkenntnis Platz, dass ihn die Sache wirklich nichts anging. Es gab unzählige solcher Mikes mit einem ähnlichen Schicksal, und es war vermessen, zu glauben, als Fremder die Lage auch nur eines Einzigen von ihnen verbessern zu können. Und abgesehen davon wollten die Betroffenen ja nicht mal seine Hilfe.
Drei Wochen später hatte Dorian diesen Vorfall vergessen. Er war aus Rom zurückgekehrt, wo er dem Teufelsgeiger Marco Bertini zu seiner verdienten ewigen Ruhe verholfen hatte. Nach der intimen Marathonwiedersehensfeier brachte ihn Coco dazu, sich mit ihr im Palladium eine französische Revue anzusehen. Danach bummelten sie ein wenig durch Soho und kehrten bei Scott's ein, einem Restaurant in der Mount Street, das sich auf Schalentiere spezialisiert hatte. Coco behauptete, dass es dort die besten Scampi von London gäbe, und Dorian widersprach nicht. Sie blieben etwa anderthalb Stunden, und wenn es nach Dorian gegangen wäre, hätte
er noch eine ganze Weile dem ausgezeichneten französischen Wein zugesprochen, den er erst bei seinem Abenteuer in der Nähe Clermont-Ferrands schätzen gelernt hatte. Aber Coco nahm plötzlich seine Hände, küsste die Fingerspitzen und sah ihm tief in die Augen, während sie sagte. »Ich möchte jetzt mit dir allein sein, Dorian. Ich habe dir so viel zu sagen und möchte weder Zuschauer noch Lauscher dabeihaben.« »Wir sind doch hier fast unter uns«, sagte Dorian mit einem feinen Lächeln und blies die Kerze aus. »So, jetzt könnte nicht einmal mehr ein zufälliger Beobachter das lüsterne Leuchten in deinen Augen sehen.« Coco versteifte sich. »Wir werden beobachtet. Nicht umdrehen! Er sitzt schräg hinter dir, auf der linken Seite. Ein widerlicher Kerl. Ich verstehe nicht, was das Mädchen an ihm findet. Sie ist eigentlich recht hübsch – und noch sehr jung. Er sieht aus wie ein rasierter Affe und blickt immer wieder verstohlen zu uns herüber. Kennst du ihn vielleicht?« »Wie soll ich das wissen, wo du mir verboten hast, ihn mir anzusehen«, meinte Dorian. »Soll ich nicht doch einen Blick riskieren?« »Nein.« Coco drückte seine Hand. »Ich möchte das nicht. Wer weiß, so bösartig wie er aussieht, ist er imstande und macht hier eine Szene, wenn du ihn anstarrst. Er sieht so aus, als wartete er nur auf eine Gelegenheit zu einem Streit.« »Du machst mich direkt neugierig.« »Er hat etwas Herausforderndes«, fuhr Coco flüsternd fort. »Jetzt starrt er schon wieder herüber. Mein Gott, wie abstoßend er ist! Er sieht wie die Inkarnation alles Bösen aus. Dreh dich, bitte, nicht um!« »Wie kannst du mir das nur antun?«, sagte Dorian scherzhaft in anklagendem Ton. »Mir scheint, du willst mich quälen. Zuerst machst du mich neugierig und dann verbietest du mir, das Objekt deines Interesses anzusehen.« »Du kannst ihn dir ansehen, wenn wir gehen«, sagte Coco. »Aber jetzt verhalte dich ganz still! Ich bin sicher, dass er Streit sucht. Mach also nichts, was ihn provozieren könnte!«
»Ich weiß was Besseres«, erwiderte Dorian. »Ich suche die Toilette auf.« Bevor Coco noch einen Einwand vorbringen konnte, hatte sich Dorian bereits erhoben. Er zwinkerte Coco zu, drehte sich dann halb um und ließ seine Blicke durch das Lokal schweifen, als suchte er nach den Toiletten. Da sah er ihn. Cocos Vergleich mit einem rasierten Affen war gar nicht so weit hergeholt, wenngleich er dem Mann nicht ganz gerecht wurde; er hatte etwas von einem in Zorn geratenen Pavian an sich. Als Dorian ihn wie zufällig mit den Blicken streifte, reckte sich der Mann unwillkürlich, als wollte er Kampfstellung einnehmen. Er öffnete seine wulstigen Lippen, so dass zwei Reihen großer, unregelmäßiger Zähne zum Vorschein kamen, und wischte sich mit seiner prankenartigen, behandschuhten Hand eine pomadisierte Locke aus dem Gesicht. Sein Haar stand wie eine Löwenmähne um den Kopf herum. Dorian war, als könnte er seinen stinkenden Atem riechen, und er zweifelte nicht daran, dass der Mann wie eine Kloake aus dem Mund stank. Es war unverständlich, dass sich das recht aparte Mädchen, das trotz ihrer Jugend zweifellos seine Begleiterin war, mit so einem widerlichen Kerl in die Öffentlichkeit wagte. Auf dem Weg zur Toilette grübelte Dorian darüber nach, ob er dieses Scheusal kannte. Möglich, dass er ihm schon einmal zufällig begegnet war, aber zu tun hatte er mit ihm noch nicht gehabt; sonst würde er sich bestimmt an ihn erinnern können. So eine Visage konnte man einfach nicht vergessen. Aber obwohl er nicht wusste, wohin er den Mann stecken sollte, kam er ihm doch irgendwie vertraut vor. Oder kannte er das Mädchen? Aber woher? Er zermarterte sich das Gehirn, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Die Identität dieses Mannes erschien ihm auf einmal ungeheuer wichtig. Dorian war so in Gedanken versunken, dass er beim Händewaschen vergaß, den Kaltwasserhahn aufzudrehen. Erst als er sich an
dem heißen Wasserstrahl die Hände verbrühte, wurde er sich seiner Nachlässigkeit bewusst. Da sah er im Spiegel, wie die Tür zum Waschraum aufging. Noch bevor er den Eintretenden erblickte, wusste Dorian, dass es sich um den Mann mit dem affenartigen Gesicht und dem bösartigen Blick handelte. Dorian trocknete sich schnell die Hände ab und drehte sich um. Der Mann stand mit dem Rücken zum Ausgang und drückte gerade die Tür hinter sich ins Schloss. Er war kleiner, als Dorian vermutet hatte, und verwachsen. Seine eine Schulter hing etwas herab, während die linke hochgezogen war. Die Arme hatte er vor der Brust angewinkelt. In der einen Hand hielt er einen Stock mit einem silbernen Knauf. Er keuchte, als hätte er Asthma. Dorian versuchte, ihn zu ignorieren und so zu tun, als merkte er die Herausforderung in den Augen des anderen nicht. »Sie gestatten«, sagte er so unbekümmert wie möglich, als er sich der Tür näherte, die der Verwachsene mit dem Affengesicht verstellte. Dieser stieß die Luft rasselnd aus, rührte sich aber nicht von der Stelle. Dorian hielt unwillkürlich die Luft an, als ihm der übelriechende Atem ins Gesicht schlug. »Auf ein Wort!«, sagte der Unbekannte jetzt. Es war zum ersten Mal, dass Dorian ihn sprechen hörte. Er erinnerte sich nicht, diese tiefe, grollende Stimme schon jemals gehört zu haben. »Auf ein Wort, Mr. Hunter!« »Wer sind Sie? Woher kennen Sie meinen Namen?« Der andere kicherte in sich hinein, was kehlig klang und gleichzeitig so, als müsste er nach Luft ringen. »Wer ich bin? Das ist im Augenblick unwichtig. Hauptsache ich weiß, was für ein edler Samariter Sie sind, Hunter. Sie sind wohl mächtig stolz darauf, dass Sie Mike geholfen haben. Sie müssen sich ja wie der Beschützer der Unterdrückten vorkommen. Denn ohne Sie hätte der arme schwachsinnige Mike wohl ordentlich Prügel be-
zogen. Das denken Sie doch, was, Hunter?« »Jetzt wird mir einiges klar«, sagte Dorian in plötzlicher Erkenntnis. Sofort erinnerte er sich wieder des Mädchens, das Mike Hyde in den Wald gelockt hatte, um ihn dort von ihrem Freund und dessen Kameraden verprügeln zu lassen. Sie war mit der Begleiterin dieses Scheusals identisch. Das Mädchen war es, das ihm bekannt vorgekommen war. Es fiel ihm nicht schwer, sich einiges zusammenzureimen. »Lisas Freund hat Sie wohl angeheuert«, vermutete Dorian, »damit Sie uns eine Lektion verpassen?« »Einen Dreck wissen Sie«, fauchte der andere. Er steigerte sich immer mehr in Wut. Dorian wich einen Schritt zurück, als der Kerl mit dem Stock nach ihm stieß. »Sie sind auf dem Holzweg, Hunter«, knurrte er, während er rasselnd Luft holte. Dabei krümmte er seinen verwachsenen Körper, als wollte er Dorian anspringen. Im dieser Stellung sah er einem kampfbereiten Pavian noch ähnlicher. »Aber Ihre Meinung zählt ja sowieso nicht«, fuhr er fort, stieß mit dem Stock wie ein Raubtierbändiger nach Dorian und grinste hässlich. »Mit der Vermutung, dass ich Ihnen eine Lektion erteilen möchte, könnten Sie allerdings schon Recht haben. Ich muss Ihnen nämlich irgendwie klarmachen, dass Sie die Hände von Mike lassen sollen. Es passt mir gar nicht, dass Sie sich um ihn gekümmert haben. Ich kann selbst auf ihn aufpassen, und jeder, der sich da einmischt, bekommt von mir die Fresse poliert. Kapiert, Hunter?« »Sie sind verrückt«, entfuhr es Dorian. Er bereute seine Worte aber sofort, denn sie mussten den anderen nur noch mehr reizen. »Verrückt bin ich, sagen Sie?«, heulte das Scheusal auf und ließ den Stock durch die Luft sausen. »Na, dann raten Sie mal, wozu ein Verrückter in meiner Lage imstande ist. Ein verrückter, eifersüchtiger Schutzengel, der es nicht mag, wenn sich so scheinheilige Samariter wie Sie um seinen Schützling kümmern. Was werde ich also tun? Wollen Sie nicht raten? Nun, dann sage ich es Ihnen. Ich werde
es in Ihren Schädel einhämmern, dass ich Ihre Einmischung nicht mag.« Der andere hatte immer schneller gesprochen, bis die Worte fast unverständlich über seine wulstigen Lippen sprudelten. Sein Gesicht hatte sich zu einer unheimlichen Fratze verzerrt. Er geiferte, spuckte und keuchte, und bei seinen letzten Worten hob er den Stock. Dorian wollte dem Schlag durch einen Sprung zur Seite ausweichen, doch der Rasende führte ihn nicht mehr aus. Er taumelte plötzlich mit einem Aufschrei zurück und stolperte über seine eigenen Beine, rappelte sich aber gleich wieder auf, riss wie in Panik an der Klinke und stürzte gehetzt hinaus. Dorian fand die Erklärung für sein seltsames Verhalten schnell. Er sah an sich herunter und stellte fest, dass seine gnostische Gemme unter dem Hemd hervorgerutscht war. Davor war der andere geflüchtet; was für Dorian ein Beweis war, dass er entweder ein Dämon war oder zumindest im Banne der schwarzen Magie stand. Das erklärte auch sein animalisches Verhalten. Dorian brachte sein Haar und seine Kleider in Ordnung und kehrte ins Lokal zurück. Er sah, dass der Tisch, an dem der Unheimliche mit dem Mädchen gesessen hatte, leer war. »Wo sind die beiden?«, fragte Dorian Coco, ohne sich an den Tisch zu setzen. »Das hättest du sehen müssen«, sagte Coco aufgeregt. »Der mit dem Affengesicht hat einiges Aufsehen verursacht, als er zu seinem Tisch gestürzt kam und das Mädchen förmlich mit sich zerrte. Es hat wie eine Flucht ausgesehen.« Coco unterbrach sich, als vom Ausgang des Lokals aufgeregte Stimmen herüberhallten. Der Portier stürzte herein. Er rief mit kreidebleichem Gesicht nach der Polizei. Über die Straße gellten schrille Schreie. »Da scheint was passiert zu sein«, sagte Dorian und stürzte zum Ausgang, ohne auf Coco Rücksicht zu nehmen. Als er ins Freie kam, hatte sich auf dem Bürgersteig bereits eine kleine Menschenmenge gebildet. Die Passanten drängten sich um ir-
gendetwas, das auf dem Boden lag. »Haltet den Mörder auf!«, rief eine ältere Dame und fuchtelte mit ihrem Regenschirm in der Luft herum. »Findet sich denn niemand, der den Mörder verfolgt?« Dorian bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, bis er vor der leblosen Gestalt Lisas stand. Sie lag halb unter einem geparkten Wagen, die eine Hand in den Luftlöchern der Felge verkrallt. Ihr Gesicht war blutüberströmt. An der rechten Schläfe hatte sie ein hässliches faustgroßes Loch. »Er hat wie ein Irrer mit dem Stock auf sie eingeschlagen«, hörte Dorian einen älteren Mann mit schwacher Stimme erzählen. Dann verstummte er mit einem gurgelnden Laut und übergab sich. Dorian zog sich zurück, als er Coco auf die Straße treten sah. »Komm, schnell!«, sagte er nur und führte sie am Arm zu einem Taxi. »Die Rechnung können wir ein andermal begleichen.« »Warum denn diese Eile, Dorian?«, wunderte sich Coco. »Willst du mir denn nicht erklären, was …« Er winkte ab. Dem Taxifahrer befahl er: »Fahren Sie uns nach Greenfield!«
Das alte Fachwerkhaus lag in völliger Dunkelheit, als Dorian über den niedrigen Gartenzaun sprang. Es rührte sich drinnen auch nichts, als er auf den Klingelknopf neben dem Eingang drückte. Coco war auf seinen Wunsch hin im Taxi geblieben. Ihn kannte Mikes Tante wenigstens schon. Nachdem er auf den Klingelknopf bereits zehnmal gedrückt hatte, ging endlich das Treppenlicht an und bald darauf die Beleuchtung in der Diele. Durch das Milchglas der Tür sah Dorian, wie der Schatten einer Gestalt auftauchte und vor der Tür stehen blieb. »Wer ist da?«, fragte die bekannte Frauenstimme. »Hunter«, meldete sich Dorian. »Es geht um Mike. Machen Sie, bitte, schnell auf, Mrs. …« Dorian fiel ein, dass er nicht einmal den Namen von Mikes Tante wusste.
Drinnen wurde zaghaft ein Schlüssel im Schloss herumgedreht. Zweimal. Dann ging die Tür einen Spaltbreit auf. Das verhärmte Gesicht von Mikes Tante erschien. Sie trug eine weiße Nachthaube und einen dunklen Frotteeschlafrock. »Sie?«, rief sie empört aus, als sie Dorian erkannte. »Was erlauben Sie sich eigentlich, mitten in der Nacht unsere Ruhe zu stören?« Dorian zwängte sich durch den Spalt und trat in die Diele, bevor sich die alte Dame womöglich noch dazu entschloss, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Dabei sagte er: »Es ist etwas Furchtbares geschehen, und ich bin in Sorge um Mike. Wo ist er?« »Er schläft natürlich«, sagte seine Tante ärgerlich. »Haben Sie sich davon überzeugt?« »Was soll das? Ich brauche mich nicht davon zu überzeugen. Ich weiß, dass er schläft. Er ist auf seinem Zimmer. Wo sollte er denn sonst sein?« »Würden Sie dennoch nachsehen, bitte!«, verlangte Dorian. »Und warum sollte ich das tun? Ich finde, dass Sie mit eine Erklärung für diese nächtliche Störung schuldig sind.« »Lisa, die Freundin von Bobby Mason, wurde ermordet«, erklärte Dorian ohne Umschweife. Er wollte keine Zeit verlieren, obwohl er eigentlich selbst nicht genau sagen konnte, was er eigentlich von Mike wollte. Aber irgendwie musste er mit dieser Tat zu tun haben – zumindest in weiterem Sinne. Schließlich hatte der Unbekannte mit dem Affengesicht über seine – Dorians – Begegnung mit Mike Bescheid gewusst. Von wem hatte er davon erfahren? Vielleicht konnte ihm Mike Auskunft geben. »Lisa Donaldson?« Die alte Frau wurde aschfahl im Gesicht und musste sich an der Wand stützen. Sie starrte Dorian verständnislos an. »Lisa – tot? Aber – wo? Wieso? Was hat Mike … Sie glauben, er …« Sie war nicht fähig, zusammenhängend zu sprechen. »Wo ist Mike?«, fragte Dorian eindringlich. Sie deutete hinter sich. »Die Treppe hoch – erste Tür links.« Dorian wandte sich der Treppe zu. Als er den Fuß auf die erste
Stufe setzte, ging plötzlich die Hintertür auf, und Mike taumelte herein. Er hatte Gummistiefel an und über dem Pyjama nur einen Mantel. Stiefel und Mantel waren voll Schmutz. Auf seiner breiten Stirn perlte Schweiß. Er weinte. Seine Tante schrie entsetzt auf und schlug die Hände vors Gesicht. Er machte einige wankende Schritte auf sie zu, dann sank er vor ihr zu Boden, klammerte sich an ihre Beine und presste das Gesicht auf ihre Füße, als wollte er sie küssen. »Verzeih mir, Tante!«, schluchzte er. »Es war wieder einmal stärker als ich. Der Hass gegen Lisa hat sich in mir aufgestaut, bis ich es nicht mehr ertrug. Ich musste es tun. Ich konnte nicht anders. Oh, es war schrecklich!« Seine Tante sah so aus, als würde sie jeden Augenblick ohnmächtig werden. Aber sie nahm ihre ganze Kraft zusammen und fragte: »Was war schrecklich, Mike? Was musstest du tun?« »Lisa …« Eine ganze Weile wurde sein Körper von Weinkrämpfen heftig geschüttelt, und aus seinem Mund kam nur ein winselndes Geräusch. Dann stützte er sich auf und kam auf die Beine. Der Weinkrampf war vorbei. Er redete wieder normal. »Ich habe Lisa erschlagen. Mit einem Stock. So.« Und er schlug mit einem imaginären Stock auf ein unsichtbares Opfer ein. »Ich habe geschlagen, bis sie neben dem Auto im Rinnsal landete und nicht mehr schrie. Dann bin ich davongerannt.« Seine Tante taumelte. Dorian musste sie stützen. »Wo war das, Mike?«, fragte Dorian. Mike schien ihn jetzt erst zu erkennen. »Ah! Hallo, Mr. Hunter!«, sagte er ehrlich erfreut. »Es ist nett, dass Sie mich besuchen kommen. Nur schade, dass wir uns unter solch schrecklichen Umständen Wiedersehen.« »Wo hast du Lisa erschlagen, Mike?«, fragte Dorian wieder. »Wo?« Mike schien nachzudenken. Er runzelte die Stirn, und dabei kräuselte sich auch die zernarbte Haut seiner Schädeldecke. »Es war viel Licht da. Autoscheinwerfer, Neonreklamen. Viele Fußgänger. Es muss in der City gewesen sein. Ja, ich habe Lisa in London …
Ach, ich bereue es!« »Und wie bist du so schnell hierher zurückgekommen?«, fragte Dorian. »Schnell?«, wunderte sich Mike. »Ich weiß nicht, wie lange ich nach Hause brauchte. Ich erinnere mich nicht einmal daran, wie ich herkam. Auf einmal fand ich mich im Garten wieder – und da bin ich.« »Mike, wie kannst du nur so etwas sagen?«, fragte seine Tante. »Du bist doch kein Mörder. Du könntest keinen Menschen töten. Du doch nicht! Es war wieder einer deiner Träume.« »Ich habe es getan«, schrie Mike außer sich. »Ich habe sie in ihrem Blut zu meinen Füßen liegen sehen. Ich bin schlecht. Böse bin ich. Jawohl. Durch und durch böse. Ich bin ein Mörder!« Er stürzte mit einem Aufschrei zur Wand und rannte mit dem Kopf immer wieder dagegen, bis er kraftlos zusammensackte. Seine Tante schüttete ein Schlafpulver in ein Glas Wasser, und Dorian flößte Mike gewaltsam die Flüssigkeit ein. Dorian holte den Taxifahrer. Mit vereinten Kräften brachten sie Mike in sein Zimmer und legten ihn aufs Bett. Als Dorian in den Wohnraum zurückkam, saß Mikes Tante am Tisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt. Ohne sich umzudrehen, sagte sie: »Mr. Hunter? Trauen Sie Mike diese schreckliche Tat zu?« »Ich weiß zu wenig über ihn, um mir ein Urteil bilden zu können«, antwortete Dorian, »aber es fällt mir schwer, ihn für einen Mörder zu halten.« »Danke.« Es klang verbittert. »Gehen Sie jetzt! Ich möchte allein sein.« »Ich lasse Ihnen meine Telefonnummer hier«, sagte Dorian und legte seine Visitenkarte auf die Anrichte. »Wenn Sie Unterstützung brauchen, dann rufen Sie mich an!« Er wartete. Als er keine Antwort bekam, verließ er das Haus. Eine Frage drängte sich ihm auf: Wie konnte Mike von Lisas Tod wissen, wenn er nicht selbst dabei gewesen war? Diese Frage beschäftigte dann auch die Polizei.
Mike »Cleanhead« Hyde wurde verhaftet.
»Dorian, gerade ist eine interessante Meldung durchgekommen«, sagte Coco, als sie das Schlafzimmer betrat. Er lag auf dem Bett, neben sich auf dem Boden einen Stapel Zeitungen. Zuerst hatte er sie gar nicht wahrgenommen, doch als sie nun sprach, richtete er sich abrupt auf. »Eine Meldung über Mike?«, fragte er interessiert. Coco seufzte. »Mir scheint, du denkst an nichts anderes mehr als an diesen Mike Hyde. Nein, natürlich betrifft die Meldung nicht ihn. Es gibt schließlich noch anderes.« Dorian ließ sich wieder auf das Kissen zurücksinken und paffte gedankenverloren seine Players; sein Interesse war sofort wieder erloschen. Coco fuhr fort: »In Ägypten ist eine englische Archäologin verschwunden. Sie heißt Susan Baxter und war mit Untersuchungen von Ausgrabungen in Theben beschäftigt. Ihr Verschwinden soll im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Nefer-Amun-Kult stehen, der seit einiger Zeit wieder von sich reden macht. Sullivan hat über diesen Geheimkult einige interessante Informationen beschafft.« »So?«, fragte Dorian uninteressiert. Coco setzte sich zu ihm aufs Bett, nahm ihm die Zigarette aus den Fingern, machte einen tiefen Zug und schob sie ihm dann wieder zwischen die Lippen. »Sullivan meint, es sei zweckmäßig, wenn zumindest einer von uns nach Ägypten fliegen würde, um der Sache nachzugehen«, fuhr sie fort. »Sie ist es wert, sich eingehender damit zu befassen. Ich würde dich gern begleiten, Dorian.« »Wohin?« Sie seufzte wieder und erhob sich. »Du hörst mir ja gar nicht zu. Ich könnte genauso gut zu den Wänden sprechen.« »Doch, doch«, versicherte er, ergriff ihren einen Arm und zog sie zu sich herab. »Ich habe jedes Wort verstanden. Aber im Augenblick kümmert mich das Schicksal Mikes wirklich mehr als das irgendei-
ner unbekannten Ägyptologin. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich mich nicht mehr für ihn eingesetzt habe.« »Sei nicht so kindisch!«, erwiderte sie und entzog sich ihm. »Ich weiß, dass du alles Mögliche versucht hast, um ihm zu helfen, aber man hat dich einfach nicht helfen lassen. Vor allem seine Tante hat dir ständig Hindernisse in den Weg gelegt. Sie wollte einfach nicht, dass du etwas für Mike tust.« »Ich habe die Flinte zu schnell ins Korn geworfen«, sagte Dorian. »Zugegeben, es war auch gekränkte Eitelkeit dabei. Und das ärgert mich. Ich hätte mich nicht von Emotionen leiten lassen dürfen. Vielleicht hätte ich Mikes Fall schon längst gelöst, wenn ich mich nicht gekränkt zurückgezogen hätte.« »Du bist drauf und dran, den gleichen Fehler zu wiederholen«, erklärte Coco. »Oder lässt du dich nicht von Emotionen leiten, wenn du, statt Dämonen zu bekämpfen, Mikes Problemen den Vorrang gibst?« »Verstehe doch – zu ihm habe ich mehr Beziehung als zu irgendwelchen anonymen Menschen, die vielleicht in den Bann von Dämonen geraten sind. Irgendwie fühle ich mich für Mike sogar verantwortlich. Ich fühle es, dass ich ihm helfen könnte.« »Obwohl es nicht einmal namhafte Ärzte, Psychiater und Psychologen können?« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn fest an. »Dorian, du bist kein Seelsorger, sondern ein Dämonenkiller. Mike ist wahrscheinlich schizophren. Seine Persönlichkeit hat sich gespalten – in ein böses und in ein gutes Ich. Wie willst du ihm da helfen?« »Dann glaubst du auch den Unsinn, der in den Zeitungen steht?«, rief er aufgebracht. Er schwang die Beine vom Bett, zog wahllos einige Exemplare aus dem Zeitungsstapel heraus und las die Überschriften: »Das Monster von Greenfield – ein Irrer. Mr. Hyde gibt vier Dutzend Morde zu, Massenmörder gesteht neue Bluttaten. Das Monster von Greenfield gesteht. Stevensons Mr. Hyde ist Wirklichkeit. Das klassische Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Thema ist für die Zeitungen natürlich ein guter Aufhänger. Da Mike mit Familiennamen zudem noch Hyde heißt, bot sich der Vergleich zu Stevensons No-
velle förmlich an. Und du lässt dich davon auch noch beeinflussen.« »Aber haben die Ärzte, die Mike behandelten, nicht auch von einer gespaltenen Persönlichkeit gesprochen?«, verteidigte Coco sich. »Mikes Geständnisse der Morde, die er begangen haben will, und die Gedächtnislücken deuten doch auch darauf hin, dass er zwei Persönlichkeiten hat. Davor kannst du doch die Augen nicht verschließen?« »Das tue ich auch gar nicht. Mir geht es aber mehr darum, herauszufinden, was dahinter steckt. Mike mag ein schizophrener Mörder sein oder nicht – ich möchte herausfinden, wie es zu der Persönlichkeitsspaltung gekommen ist. Verstehst du? Mich interessieren die Hintergründe. Dr. Jekyll und Mr. Hyde verhalten sich wie Tag und Nacht zueinander. Die Problematik bei Mikes Doppelpersönlichkeit – falls diese überhaupt existiert – ist jedoch viel diffiziler. Er muss schwer darunter zu leiden gehabt haben, dass Mr. Hyde diese Morde beging. Schließlich brach er unter der Belastung zusammen und gestand. Davon war aber in den Zeitungen nirgends etwas zu lesen. Für mich aber ist nur dieses Problem wichtig.« »Na schön«, sagte Coco verständnisvoll. »Ich in deiner Lage würde wahrscheinlich auch nicht anders handeln. Wenn du nicht nach Ägypten willst, um das Verschwinden der Archäologin zu untersuchen …« »Nein, ich fliege nicht nach Ägypten. Ich bleibe hier.« »… dann werde ich allein fliegen. Du hast doch nichts dagegen, Dorian?« Er schüttelte den Kopf. Coco wandte sich zum Gehen. In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Noch eine Frage, Dorian. Bist du von Mikes Unschuld überzeugt?« »J-ja.« »Vorbehaltlos?« »Ich bin sicher, dass er für die gestandenen Morde nicht verantwortlich zu machen ist – egal, in welchem Verhältnis er zu Mr. Hyde steht.« »Jetzt redest du wie die Ärzte, die ihn untersucht haben«, meinte
Coco. »Sie machen ihn auch nicht für die Taten verantwortlich, wenngleich sie nicht hundertprozentig ausschließen können, dass er die Morde begangen hat. Aber immerhin ist ihr Urteil über Mike positiv genug, dass die Polizei ihn nicht länger in Untersuchungshaft behalten kann. Er wird morgen freigelassen. Wusstest du das?« Dorian sprang wie von der Tarantel gestochen hoch. »Woher weißt du das?«, fragte er. »Es wurde eben in den Drei-Uhr-Nachrichten durchgegeben.« Dorian kleidete sich schnell an. Trevor Sullivan hatte für ihn eine Besuchserlaubnis erwirkt, und Dorian konnte nur erahnen, auf welchen verschlungenen Pfaden und durch welche Beziehungen ihm das gelungen war. Bisher hatte Dorian nämlich nicht einmal das Protokoll einsehen dürfen. Und Mikes Anwalt, den seine Tante besorgt und mit dem sich Dorian in Verbindung gesetzt hatte, zeigte ihm ebenfalls die kalte Schulter. Coco hatte schon recht; man wollte seine Hilfe nicht. Warum? Hatte Mikes Tante etwas zu verbergen? Vielleicht. Deshalb wollte Dorian die Gelegenheit ergreifen und sich mit Mike noch einmal unterhalten, bevor er wieder dem Einfluss seiner Tante ausgesetzt war.
Mike war über Dorians Besuch hocherfreut und schilderte freimütig seinen stets wiederkehrenden Albtraum, in dem er seine Eltern und einen Lord Marbuel tötete. Obwohl Dorian die Vorgeschichte ihrer ersten Begegnung bereits kannte, ließ er Mike auch erzählen, wie Lisa ihn in den Wald lockte, wo ihr Freund mit seinen Kameraden wartete. »Was dann passiert ist, wissen Sie ja selbst, Mr. Hunter.« »Ja«, sagte Dorian. »Mich interessiert auch mehr, was früher gewesen ist. Ich meine, bevor ihr – du und deine Tante – nach Greenfield gezogen seid. Ihr wohnt erst seit fünf Jahren in diesem Ort. Wo habt ihr früher gelebt?« »Fünf Jahre ist das erst her?«, wunderte sich Mike. Er kratzte sich an der flachen, narbigen Schädeldecke und lächelte. »Mir kommt es viel länger vor. Als ich Lisa zum ersten Mal sah, war sie noch ein
kleines Mädchen und hat nichts dabei gefunden, sich mit mir abzugeben. Erst später …« »Wie hieß der Ort, in dem ihr gewohnt habt, bevor ihr nach Greenfield gezogen seid?«, unterbrach Dorian ihn. »Ich weiß es nicht, Mr. Hunter«, sagte Mike bedauernd. »Ehrlich, ich habe den Namen glatt vergessen. Aber es war weiter oben im Norden. Oder in Wales? Es hat mir dort ganz gut gefallen. Zumindest am Anfang. Und ich weiß noch, wie Tante Anna gesagt hat: Mike, ich glaube, hier werden wir es länger aushalten. Und ich habe vor Freude geweint. Aber dann blieben wir doch nicht einmal ein ganzes Jahr.« »Warum?« Mike senkte den Blick. »Meinetwegen. Es war meine Schuld. Ich – ich ertrug es einfach nicht, im Hause eingesperrt zu bleiben. Meine Tante hat mich bei Nacht ins Haus gebracht und mir eingeschärft, mich anderen Leuten nie zu zeigen. Sie sagte: ›Mike, ich will ja nur dein Bestes. Du weißt ja noch zu gut, wie es in …‹ Den Namen des Dorfes, in dem wir vorher gewohnt haben, habe ich leider vergessen, Mr. Hunter. ›Du weißt ja noch zu gut‹, sagte Tante Anna, ›wie böse die Leute in dem anderen Ort zu dir gewesen sind. Wir mussten fortziehen, weil die Gemeinheiten, die sie uns angetan haben, einfach nicht mehr zu ertragen waren. Ja‹, habe ich gesagt. Und sie sagte: ›Es ist besser, wenn du auf deinem Zimmer bleibst und dich nicht zeigst. Dann kann dir niemand etwas tun.‹ Und ich habe zugestimmt. Aber lange Zeit hielt ich es nicht aus. Ich weinte oft, wenn ich am Fenster stand, hinter den Vorhängen versteckt, und die Leute auf der Straße und die Kinder auf der Wiese sah. Einmal entdeckte mich jemand am Fenster und winkte. Es war ein kleiner Junge. Ich winkte zurück und er lachte. Er muss es weitererzählt haben, dass er mich gesehen hat, denn von da an kamen immer mehr Kinder vor mein Fenster. Jeden Tag. Meine Tante schimpfte mit mir und sagte, dass sie mich nun nicht länger verbergen könnte. Einige Tage später zog sie mir das feinste Gewand an, das ich hatte, und lud alle ihre neuen Freundinnen zum Tee. Es waren lauter nette Damen, denen sie mich vorstellte, und alle waren ganz rührend zu mir. Am Abend
umarmte mich meine Tante und sagte, dass vielleicht doch noch alles gut werden würde, und wir weinten beide vor Glück. Aber dann kam alles ganz anders.« »Was passierte?« Mike hob die Schultern. »Nichts.« »Willst du es mir nicht sagen?« Mike druckste eine Weile herum und gestand dann: »Tante Anna und Mr. Bennett haben mir verboten, mit Ihnen zu sprechen, Mr. Hunter.« James Bennett war Mikes Anwalt. »Warum wollen sie nicht, dass du mit mir sprichst?« »Meine Tante hat gesagt, sie fürchtet, dass ich Ihnen Sachen verraten könnte, die Sie nichts angingen. Sie hat auch gesagt, dass alle Reporter gleich sind, einem ins Gesicht schöntun und dann schlecht über einen schreiben.« Dorian konnte es Mikes Tante nicht einmal verübeln, dass sie schlecht auf ihn zu sprechen war. Er entsann sich wieder, dass sein Beruf auf der Visitenkarte, die er bei ihr zurückgelassen hatte, mit Journalist für die Mystery Press angegeben war. Und die Zeitungsreporter waren es schließlich gewesen, die für Mike die Bezeichnungen »Monster von Greenfield« und »Mr. Hyde« erfunden hatten. »Gut, Mike, wenn du es mir nicht sagen darfst, dann verlange ich es auch nicht von dir«, meinte Dorian. »Es ist vielleicht überhaupt besser, wenn ich jetzt gehe.« »Nein, bitte, Mr. Hunter, bleiben Sie!«, flehte Mike. »Ich dachte, Sie sind mein Freund?« »Schon in Ordnung, ich bleibe«, sagte Dorian. »Es ist damals ja wirklich nichts passiert«, versicherte Mike. »Es ist immer dasselbe. Zuerst sind die Leute freundlich zu mir. Sie bitten mich um einen Gefallen. Ich helfe mal da und mal dort aus, bekomme was zu essen dafür oder sogar auch mal ein Pfund. Ich tue das, gern. Und ist es nicht schön, dass ich was leiste und sogar Geld verdienen kann, obwohl ich doch nicht zur Schule ging und die Klugheit auch nicht gerade mit Löffeln gefressen habe? Aber dann wird langsam alles anders. Die Frauen zeigen mit dem Finger nach mir,
tuscheln – ich weiß nicht worüber. Die Mütter verjagen mich, wenn ich mit ihren Kindern spiele. Und dann höre ich irgendjemanden sagen, dass ich nach den Mädchen schiele. Und im Pub ziehen mich die Männer auf. Während sie früher mit mir über meine Späße gelacht haben, lachen sie jetzt über mich, ohne dass ich mitlachen kann. Und Tante Anna wird immer stiller, wird gemieden, traut sich bald nicht mehr aus dem Haus. Der Grund, warum wir fortzogen, war, dass ein kleiner Junge im Fluss ertrunken ist. Ich war in der Nähe, habe seine Hilferufe gehört und bin ins Dorf gerannt, um jemanden zu holen, der den Jungen retten kann. Ich selbst kann ja nicht schwimmen. Der Junge war nicht mehr zu retten, und alle machten mich dafür verantwortlich. Meine Tante sagte, es sei besser, wegzuziehen, bevor es noch schlimmer würde.« Mike verstummte. »Und ein Mord passierte damals nicht?«, fragte Dorian. »Nicht in dem Dorf, in dem Tante Anna und ich wohnten«, antwortete Mike. »Ich – ich mordete nur außerhalb. Aber das glauben Sie mir ja ohnehin nicht. Ich habe alles gestanden, Mr. Hunter. Glauben Sie, dass man mich jetzt hängen wird?« Dorian schüttelte den Kopf. »Du wirst freigelassen, Mike.« »Dann haben mir die Ärzte auch nicht geglaubt«, sagte Mike betroffen. Er wirkte sehr unglücklich darüber, dass man ihm den Mörder nicht abnahm. Was musste er durchmachen, wenn er lieber tot war, als mit seinen Albträumen weiterzuleben? »Sie haben mir Tintenkleckse gezeigt«, fuhr Mike fort, »und ich musste ihnen sagen, was sie darstellen. Es war ein recht lustiges Spiel, und die Ärzte waren von meinen Antworten angetan. Aber ich muss irgendetwas falsch gemacht haben, wenn sie mich nun doch freilassen wollen. Muss ich nach Greenfield zurück, Mr. Hunter?« »Ich weiß nicht, wie sich deine Tante entschieden hat, Mike.« In Mikes Augen zeigte sich ein Hoffnungsschimmer, als er sagte: »Vielleicht gehen wir wieder woandershin. In Greenfield werden
uns die Leute ohnehin nicht mehr mögen.« Darauf konnte Dorian nichts sagen. Der Gefangenenwärter, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, kam mit hallenden Schritten heran. »Die Zeit ist um.« Dorian erhob sich, begegnete Mikes bittendem Blick. »Werden Sie mich zu Hause besuchen, Mr. Hunter?« »Wenn du es willst, schon. Aber ich glaube, deine Tante wird damit nicht einverstanden sein.« »Kommen Sie trotzdem, Mr. Hunter!«, bat Mike. »Ich werde sie schon umstimmen.« Dorian nickte. Er sah Mike nach, als man ihn abführte. Mike drehte sich noch einmal um und lächelte Dorian zu. Es war ein einfältiges, aber herzliches Lächeln. Dorian war mit dem Ergebnis seines Besuches nicht zufrieden. Er hatte sich mehr Aufschlüsse erwartet. Mikes Erzählungen bestätigten ihm nur, dass er es hier mit einem vom Schicksal Gezeichneten zu tun hatte, der noch zusätzlich von aller Welt mit Füßen getreten wurde. Er hoffte, die Hindergründe dieses Dramas besser zu durchschauen, wenn Mikes Tante die Mauer des Schweigens niederriss, hinter der sie sich verbarg. Dazu musste er aber ihr Vertrauen gewinnen.
Dorian stand am nächsten Morgen spät auf und musste allein frühstücken. Coco war bereits nach Ägypten abgereist. Der Puppenmann Donald Chapman und Trevor Sullivan hatten sich in die Kellerräume der Mystery Press zurückgezogen, der Hermaphrodit Phillip war auf seinem Zimmer. Als Miss Martha Pickford – guter Geist und Mädchen für alles in der Jugendstilvilla – Dorian das Tablett mit dem Frühstück brachte, sagte sie statt einer Begrüßung: »Kaum ist Coco aus dem Haus, da schlagen Sie sich auch schon die Nacht in fremden Betten um die Ohren. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso sie Ihnen nicht schon längst den Laufpass gegeben hat.« Dorian knurrte etwas Unverständliches. Es stimmte; er war erst
nach Mitternacht heimgekommen, aber keineswegs aus dem Grund, den Miss Pickford andeutete. Aber er vermutete, dass sie das, was sie sagte, nicht wirklich glaubte, sondern einfach nur übler Laune war und deshalb Streit suchte. Er war in Soho gewesen, wo er Verbindung mit den Freaks aufgenommen hatte. Er wollte, dass Wilbur Smart und seine Leute nach Mr. Hyde Ausschau hielten. Bevor Mike in Untersuchungshaft genommen worden war – wussten die Freaks zu berichten –, war öfter ein Mann aufgetaucht, auf den die Beschreibung passte, die ihnen Dorian von Mr. Hyde gegeben hatte. Doch seit Mike im Gefängnis saß, hatten sie ihn nicht mehr gesehen. Dorian vermutete, dass der Verwachsene mit dem Affengesicht nach Mikes Freilassung wieder auftauchen würde. Wenn die Freaks ihn sahen, sollten sie ihn beschatten und Dorian Meldung machen. Miss Pickford knallte das Tablett mit dem Kaffee, den Ham and Eggs und dem Morgenkognak vor Dorian hin. »Ich wünsche dem feinen Herrn guten Appetit«, sagte sie. »Danke. Der ist mir vergangen«, erwiderte Dorian. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie die Hände in die Hüften stemmte und dann empört in Richtung Küche davonstapfte. Dorian schüttete den Kognak in sich hinein, aß lustlos einige Bissen Schinken mit Ei und schlürfte den schwarzen Kaffee. Danach fühlte er sich wohler, steckte sich die unvermeidliche Players an und ging in den Keller hinunter. Der Keller war völlig umgestaltet worden und bestand nur noch aus zwei gleich großen Räumen. Im ersten war Dorians Reliquiensammlung und Bibliothek über Hexenverfolgungen, schwarze Magie und Dämonologie untergebracht. Der zweite Raum stand gänzlich Trevor Sullivans Mystery Press zur Verfügung. Jeff Parker hatte wieder einmal Mäzen gespielt und vom Computer über Telekommunikation und Archiv die gesamte Einrichtung bezahlt. Es fehlte nur noch, dass er Sullivan ein Gehalt zahlte. Der gute Jeff! Dorian wünschte ihm, dass er bei seinem römischen Filmabenteuer besser abschnitt als bei dem Filmprojekt, das er vor einiger Zeit in Hollywood gestartet hatte.
»Morgen!«, grüßte Dorian, als er die Presseagentur betrat. Trevor Sullivan saß am Vielzwecktisch in der Mitte des Raumes und hatte einige Unterlagen vor sich ausgebreitet. Der fußgroße Donald Chapman saß auf einem Exemplar des Who's Who. »Schon wach?«, fragte Trevor Sullivan anzüglich und wandte ihm seine hellere Gesichtshälfte zu. Er runzelte die Stirn, als er Dorians missmutigen Gesichtsausdruck sah. »Ist Ihnen eine Laus über die Leber gelaufen, Dorian?« »Nein, nur Miss Pickford über den Weg«, antwortete Dorian. »Was für ein fröhlicher Mensch er doch ist! Hat immer einen Scherz auf den Lippen«, rief Donald Chapman. Er drohte Dorian mit seiner winzigen Faust. »Falls Miss Pickford dich frustriert hat, so lass dir nur ja nicht einfallen, deine Wut an uns auszulassen. Wir sind schwer arbeitende Menschen.« »Habt ihr wenigstens etwas herausgefunden?«, fragte Dorian und setzte sich neben Sullivan in einen Drehsessel. »Sie haben uns da eine harte Nuss zu knacken gegeben, Dorian«, sagte Sullivan. »Um es gleich vorwegzunehmen, viel ist bei unseren Nachforschungen nicht herausgekommen. Die Zeit war einfach zu kurz. Sie hätten mir schon vor Wochen, als Mike Hyde verhaftet wurde, den Auftrag geben sollen.« Dorian unterbrach ihn mit einer müden Handbewegung. »Damals wusste ich selbst noch nicht, dass intensivere Nachforschungen notwendig sein würden. Ich dachte, Mikes Vergangenheit würde auch so ans Tageslicht kommen.« »Was ein Trugschluss war. Nun, die Zeit war – wie gesagt – zu kurz. Von Scotland Yard war nichts in Erfahrung zu bringen, so sehr ich meine Beziehungen auch spielen ließ. Man sagte, dass eine Art Gentlemen's Agreement mit Mikes Anwalt getroffen wurde, bei dem man sich verpflichtete, zu Mikes Schutz keine Einzelheiten über sein Vorleben an die Öffentlichkeit weiterzugeben. Der Name Hyde ist jedenfalls nicht sein richtiger. Wie er wirklich heißt, war nicht zu erfahren.« »Keine Hinweise, warum man ein solches Geheimnis aus seiner Vergangenheit macht?«, fragte Dorian.
»Keine von Seiten der Behörde.« Sullivan schüttelte den Kopf. »Über seine Tante, Anna Prelutsky, weiß ich nur, dass sie eine Emigrantin aus Polen ist. Ihre Eltern flüchteten zu Kriegsbeginn vor den Deutschen. Aber hier ließe sich noch einhaken, wenn Sie mir etwas Zeit lassen.« »Tun Sie Ihr Bestes, Trevor! Und was ist mit diesem Lord Marbuel?« »Im Who's Who steht er jedenfalls nicht«, sagte Donald Chapman und trat mit dem Bein gegen den Wälzer, der ihm bis zur Hüfte reichte. »Aber Trevor hat trotzdem etwas über ihn herausgefunden. Wusstest du eigentlich, Dorian, dass Marbuel auch der Name für einen Kinderteufel ist?« Dorian schüttelte den Kopf. »Man kann schließlich nicht alles wissen«, tröstete Sullivan ihn. »Wozu habe ich denn den Computer? Er spuckte unter diesem Stichwort immerhin einige Daten aus. Es soll hoch oben in Schottland tatsächlich ein Schloss geben, das einem gewissen Lord Marbuel gehört. Ich habe verschiedene Informationen aus regionalen Zeitungen gesammelt, aus denen man schließen könnte, dass dieses Schloss ein Dämonennest ist.« »Kein Wunder, dass dieser Lord nicht im Who's Who steht«, warf Donald Chapman ein. »Du brauchst dir nur das Marbuel-Wappen anzusehen, Dorian.« Trevor Sullivan überreichte dem Dämonenkiller die Fotokopie eines Holzschnittes. Das Bild zeigte ein schildförmiges Wappen mit einem Löwen in der Mitte. Statt einer Schrift waren rund um das Löwenbildnis magische Symbole gruppiert. Dorian gelang es nicht, die Symbole zu entschlüsseln. Aber das erschien ihm im Augenblick auch gar nicht so wichtig. Der Kopf des Löwen kam ihm viel bedeutungsvoller vor. Und je länger er draufblickte, desto mehr erinnerte er ihn an Mr. Hyde, von dem er bei Scott's attackiert worden war. Die Ähnlichkeit des Löwenkopfes auf dem Wappen mit dem Unheimlichen war wirklich verblüffend. »Wissen Sie etwas über das Wirken dieses Lord Marbuel, Sullivan?«, fragte Dorian, ohne von dem Wappen aufzublicken.
Sullivan hob die Schultern. »In einer Lokalzeitung stand mal ein Bericht über Geistererscheinungen auf dem Marbuel-Schloss. Aber Sie wissen ja selbst, was von solchen Meldungen zu halten ist. In der Gegend passierte auch gelegentlich mal ein mysteriöser Todesfall. Und am Schluss eines Berichtes über einen Autounfall, bei dem ein Ehepaar im brennenden Wrack umkam, stand die Frage, ob dabei alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Aber das alles ist nichts Konkretes.« »Verfolgen Sie diese Spur weiter, Trevor!«, trug Dorian ihm auf. »Vor allem der Autounfall interessiert mich. Kennen Sie die Namen der Opfer?« »Nein, aber sie müssten sich eruieren lassen.« »Tun Sie das! Und dann setzen Sie sich mit der Detektei in Verbindung, für die Fred Archer arbeitet! Wie hieß sie doch gleich?« »Observer«, sagte Donald Chapman. »Ja, Observer«, erinnerte sich Dorian. »Rufen Sie also Fred Archer an und sagen Sie ihm, er soll sich auf Abruf bereithalten! Vielleicht muss er kurzfristig nach Schottland reisen.« »Na, mir scheint, Ihr Dämonenkiller-Instinkt ist wieder erwacht, Dorian«, meinte Sullivan. Dorian schüttelte den Kopf. »Ich tappe nach wie vor im Dunkeln.« Das Telefon läutete. Sullivan nahm ab. »Ja, Miss Pickford, Dorian ist hier. Sie können durchstellen.« Er deckte die Sprechmuschel ab und flüsterte Dorian zu, während er ihm den Hörer reichte: »Mikes Tante, Miss Prelutsky, ist am Apparat.« Dorian nahm den Hörer entgegen und meldete sich. »Mr. Hunter, es hat mich einige Überwindung gekostet, Sie anzurufen, aber Mike verlangt nach Ihnen.« »Was ist vorgefallen?«, fragte Dorian. Er hörte ein Geräusch, als schneuzte sich jemand, dann war wieder die Stimme von Mikes Tante zu hören. Sie klang nun gefestigter. »Ich habe Mike in aller Frühe abgeholt, weil ich hoffte, dass alle noch schlafen und wir kein Aufsehen erregen würden, aber – sie waren alle auf den Beinen, haben die Straße blockiert und wollten
den Polizeiwagen nicht passieren lassen. Es war das reinste Spießrutenlaufen.« Dorian vernahm durch den Hörer Lärm wie von einer Massendemonstration. »Ich komme sofort«, versprach er.
Als Dorian in Greenfield einfuhr, hatten sich die Demonstranten bereits zerstreut. Nur vereinzelt standen noch diskutierende Gruppen beieinander. Achtlos fortgeworfene Transparente lagen herum. Auf einem las Dorian: Wir jagen das Monster aus Greenfield. Quer über die Straße vor dem Fachwerkhaus der Anna Prelutsky stand: Für Massenmörder Übertreten verboten. Von einem Alleebaum hing an einem Strick eine verkohlte Puppe. An ihrem Kopf war ein Zeitungsfoto von Mike an einer Nadel aufgespießt. Darauf stand mit roter Farbe: Lynchjustiz. Dorian parkte den Rover vor dem Haus. Auf der anderen Straßenseite standen einige Burschen. Unter ihnen entdeckte er auch Bobby Mason. Als Dorian ihnen den Rücken zudrehte, kam aus ihrer Richtung ein Stein geflogen und segelte knapp an ihm vorbei. Er kümmerte sich nicht darum und kletterte über den Gartenzaun, der an einer Stelle niedergetreten worden war. Überall lagen Steine herum. Die Hauswände waren mit ähnlichen Sprüchen bekritzelt wie die Transparente und die Straße, ein Fenster im Erdgeschoss war eingeschlagen worden und notdürftig mit Pappdeckeln abgedichtet. Irgendwer hatte im Garten einen Scheiterhaufen aus den Latten des Zaunes errichtet. Auf die Eingangstür waren Zeitungsausschnitte geklebt worden, die sich mit Mikes Fall beschäftigten. Miss Prelutsky erwartete Dorian bereits. Sie öffnete ihm die Tür. Von der anderen Straßenseite her schrie jemand: »Du alte Hexe, wenn du den Irren nicht in eine Anstalt gibst, dann holen wir ihn uns!« »Hören Sie nicht darauf!«, sagte Dorian zu der kreidebleichen Frau, die, seit er sie zuletzt gesehen hatte, um ein Jahrzehnt gealtert schien und nur noch ein Schatten ihrer selbst war.
»Das ist leicht gesagt«, erwiderte sie, während sie durch den Flur voran ins Wohnzimmer ging. Dort saß Mike auf der Couch, den Oberkörper gebeugt, die Arme zwischen die Schenkel gepresst. In seinem Gesicht zuckte es unaufhörlich. Dorian öffnete den Mund, um ihn zu begrüßen, aber Mikes Tante gebot ihm durch einen Wink zu schweigen. Mikes Lippen bewegten sich. Einmal hob er kurz den Kopf, wandte das Gesicht in Dorians Richtung, schien ihn aber überhaupt nicht zu sehen. Dorian sah fragend zu seiner Tante. »Ich hoffe, dass es gleich wieder vorüber ist«, sagte sie leise. »Wenn es schlimmer wird und er einen seiner Anfälle bekommt, dann …« Sie biss sich auf die Unterlippe, als hätte sie zu viel gesagt. Das Telefon schrillte. Als Mikes Tante auch nach dem fünften Läuten keine Anstalten machte, den Hörer abzunehmen, fragte Dorian: »Gehen Sie nicht ans Telefon?« »Tun Sie es doch!«, erwiderte sie. Dorian hob den Hörer ab und zuckte unwillkürlich zusammen, als daraus eine wüste Schimpftirade ertönte. Er legte den Hörer auf die Gabel zurück. »So geht es die ganze Zeit, Tag und Nacht, seit Mike verhaftet wurde«, sagte Miss Prelutsky. »Ich habe um eine Geheimnummer ersucht, sie aber noch nicht bekommen. Ich habe auch um Polizeischutz gebeten, aber man sagte mir lakonisch, dass kein Beamter zur Verfügung stünde. Erst als der Mob fast das Haus stürmte, erschien ein uniformierter Polizist und redete den Leuten zu. Als sich die Menge zerstreute und auf der anderen Straßenseite wieder zu sammeln begann, sagte er, dass nun kein Grund zur Besorgnis mehr bestünde. Es klang wie ein Hohn. Als ich ihm sagte, dass ich ein Recht auf den Schutz der Polizei habe, wissen Sie, was er da antwortete? Die Polizei sei nicht dazu da, Mörder vor den Bürgern zu beschützen, und dass ich mir das alles ersparen könnte, wenn ich Mike in eine Ir-
renanstalt einliefern würde. Die stecken hier alle unter einer Decke, Mr. Hunter. Sie wollen mich aus Greenfield herausekeln.« »Vielleicht wäre es wirklich klüger, für eine Weile von hier fortzuziehen«, meinte Dorian. »Zumindest so lange, bis Lisas wahrer Mörder gefasst ist.« »Danke für ihren guten Ratschlag«, sagte sie verbittert. »Als ob wir das nicht oft genug praktiziert hätten. Aber ich bin schon zu alt, zu müde geworden, um noch davonlaufen zu können. Seit ich mich Mikes angenommen habe, waren wir immer auf der Flucht. Jetzt bin ich am Ende meiner Kräfte. Diesmal werde ich es durchstehen oder untergehen.« »Ich könnte Ihnen helfen, Miss Prelutsky«, bot Dorian an. »Ich würde es Mike zuliebe tun, weil ich überzeugt bin, dass er selbst das Opfer einer treibenden Kraft ist. Aber dazu brauche ich Ihre Unterstützung.« »Sie meinen wohl, er ist das Opfer seiner Triebkraft?«, fuhr sie ihn an. »Sie glauben wohl auch an diese blödsinnige Dr.-Jekyll-und-Mr.Hyde-Theorie, daran, dass sich Mikes Persönlichkeit in ein böses und ein gutes Ich gespalten hat? Das wäre die einfachste und bequemste Lösung.« »Das stimmt nicht«, sagte Dorian. »Ich glaube, dass alles viel komplizierter ist. Des Rätsels Lösung muss in der Vergangenheit liegen. Warum wollen Sie sich mir nicht anvertrauen, Miss Prelutsky?« »Ist Ihnen der Stoff für weitere Artikel über das Monster von Greenfield ausgegangen?« Das Telefon begann wieder zu läuten. Dorian hob den Hörer ab und legte ihn wieder auf die Gabel. Mike sprang plötzlich in die Höhe, schnellte die Arme und Beine von sich und fiel in dieser Stellung auf die Couch zurück. In seinem Gesicht begann es heftiger zu zucken. Seine Tante schrie auf. »Mike! O Mike, komm doch zu dir!« Sie beugte sich zu ihm herab und tätschelte seine Wangen, nahm seinen Kopf zwischen die Hände und drehte ihn zu sich. »Mike, kannst du mich hören? Mike!« »Tante …« Seine Augen starrten in die Ferne. »Bist du es? Ich sehe
dich so undeutlich, denn da sind noch andere Bilder. Ich schleiche durch die Abbott Lane.« »Ja, ich bin es, Mike. Mike, hörst du mich?« »Ja, aber deine Stimme ist so weit weg. Das Rauschen des Blutes ist viel lauter.« »Mr. Hunter, bringen Sie die Beruhigungsspritze – schnell!«, rief Mikes Tante verzweifelt. »Im Medizinschrank. Im Bad – im obersten Fach, ganz links. Bitte, beeilen Sie sich!« Dorian stürzte ins Bad, fand die Spritze auf Anhieb und kam damit ins Wohnzimmer zurück. Er riss den Plastikschutz von der Kanüle. »Geben Sie her!«, verlangte Mikes Tante und nahm Dorian ungeduldig die Spritze ab. »Machen Sie lieber Mikes linken Arm frei!« Dorian tat, wie ihm geheißen. »Ah, Mr. Hunter, Sie sind doch noch gekommen!«, sagte Mike und lächelte. Sein Gesicht wurde sofort wieder ernst, nahm einen verzweifelten Ausdruck an. »Mr. Hunter, nehmen Sie sich in Acht! Es wird was Furchtbares geschehen. Ich fühle es. Das Blut pocht so laut in meinen Schläfen. Das ist kein gutes Zeichen. Wie schmeckt das Blut eines Pharisäers, eines scheinheiligen Spießbürgers? Nein, nicht! Weg da!« Mike zuckte zusammen, als ihm seine Tante die Nadel der Spritze in die Vene stieß. »Das dürft ihr nicht tun! Es wirkt doch nicht! Ich schwebe.« Er kam unbeholfen auf die Beine, wankte und kippte schlaff zur Seite. Dorian konnte ihn gerade noch auffangen. Mikes Lippen bewegten sich. Dorian brachte sein Ohr ganz nahe an ihn heran und hörte ihn noch murmeln: »Wie Ma und Pa – und Lord Marbuel.« Dann rollte sein Kopf kraftlos zur Seite. »Wohin soll ich ihn bringen?«, fragte Dorian. »In sein Zimmer, bitte.« Dorian schleifte Mikes schweren Körper die Treppe hoch. Dabei kam er ganz schön ins Schwitzen, denn Mike wog gut und gern seine zweihundertunddreißig Pfund. Als er ihn endlich ins Bett ge-
bracht hatte, war er völlig außer Atem. »Was hat Mike gemeint, als er sagte, dass etwas Schreckliches passieren wird?«, fragte Dorian. »Das nehmen Sie ernst?«, erwiderte Miss Prelutsky. »Sie haben selbst gesehen, in welchem Zustand er war. Immer wenn er einen seiner Anfälle bekommt, fantasiert er.« »Er hat auch den Namen Lord Marbuels genannt, von dem er behauptet, dass er ihn umgebracht hat«, sagte Dorian. »Bilden Sie sich nur nichts darauf ein, dass er Ihnen von diesem Alptraum erzählt hat. Die Psychiater haben ganze Abhandlungen darüber geschrieben, und es ist ihnen nicht gelungen, ihn zu analysieren. Diese Morde sind eine Ausgeburt von Mikes krankhafter Fantasie.« »Auch in Träumen liegt ein Körnchen Wahrheit«, behauptete Dorian. »Es muss irgendetwas geben, warum sich Mike am Tod Lord Marbuels schuldig fühlt.« »Und was sagen Sie dazu, dass Lord Marbuel lebt und sich bester Gesundheit erfreut?« Dorian ließ sich nicht verblüffen. »Dann kennen Sie ihn also?«, hakte er sofort ein. Miss Prelutsky biss sich wieder auf die Lippen. Sie schwieg eine geraume Weile, bevor sie, langsam, jedes einzelne Wort abwägend und betonend, sagte: »Lord Marbuel hat viel Gutes für Mike getan. Mike verdankt ihm praktisch alles. Sein Leben. Das meine ich ohne Übertreibung. Und nun sagen Sie mir, warum Mike seinen Tod wünschen sollte.« »Aber er träumt davon.« »Er hat auch Morde gestanden, die er nie begangen haben kann.« »Ich weiß«, gab Dorian zu. »Seine Geständnisse waren so unglaubwürdig, dass selbst die Polizei bald aufhörte, sie zu überprüfen. Er nannte zwar Namen und Opfer, die tatsächlich eines gewaltsamen Todes starben, aber er hat keine Beziehung zu ihnen gehabt, ja, war zu den Tatzeiten erwiesenermaßen oft meilenweit von ihnen entfernt. Mit Lord Marbuel war das aber etwas anderes. Ich möchte zu gern mehr darüber wissen.«
»Von mir erfahren Sie nichts mehr.« Dorian merkte, dass aus der Frau im Augenblick nichts herauszubekommen war, und drang nicht weiter in sie. Vielleicht hatte sie irgendwann das Bedürfnis, sich ihm mitzuteilen; im Augenblick misstraute sie ihm noch zu sehr. Als er ihr anbot, zu ihrem Schutz hier zu bleiben, nahm sie jedoch dankbar an, fügte aber gleichzeitig hinzu: »Glauben Sie aber nicht, dass sie meine Zunge lösen können. Es gibt nichts mehr zu sagen.«
He, Mike, warum rührst du dich denn nicht? Stell dich nicht schlafend! Ich weiß auch so, dass dieser verdammte Hunter im PrelutskyHaus ist. Ich habe ihn gewarnt. Ich habe ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er die Hände von dir lassen soll. Was immer auch passiert, er hat es sich selbst zuzuschreiben. Hunter ist einer von den Typen, die glauben, ohne sie ginge es nicht. Aber wir zwei, du und ich, Mike, wir kommen auch ohne ihn zurecht. Es macht nichts, dass du ein Feigling bist. Ich habe Mut und Tatendrang für zwei. Ich bringe schon alles für dich in Ordnung. Ich werde diesen Spießern schon zeigen, dass sie so nicht mit dir umspringen können. Ich fühle mit dir – Teufel, Mike. Diese Hunde werden das, was sie uns angetan haben, büßen. Ja, wir sind eins, Mike. Du und ich – wir leiden zusammen und wir werden zusammen triumphieren. Aufgewacht, Mike! Genieße den Triumph mit mir! Wir holen uns einen von den Spießern! Verdammt, wie ich diese Hyänen in der Maske von Lämmern hasse! Warum lassen sie dich nicht in Ruhe, dann müsste ich mich nicht einmischen. Aber ich ertrage es ganz einfach nicht mehr, wie sie dich herumschubsen, dich beschimpfen und bespucken. Nein, das lasse ich nicht zu. Wen soll ich mir vornehmen, Mike? Wen hasst du am meisten? Aber am fatalsten ist, dass du gar nicht hassen kannst. Du steckst die Prügel demütig ein, lässt dir auf den Schädel scheißen und bittest noch um Verzeihung.
Doch ruhig Blut, Mike! Ich kann für zwei hassen. Was meinst du, Mike, wen sollen wir uns vornehmen? Diesen Bobby Mason? Immerhin hat er dich auf die Lichtung gelockt, wo er dich mit seinen Freunden vermöbeln wollte. Ich habe vor Wut gekocht. Wie einen Leibeigenen hat er dich behandelt. Wenn nicht Hunter dazwischengekommen wäre, hätte ich unter den Rowdies schon aufgeräumt. Aber Hunter kam mir zuvor. Und jetzt denkt dieser Schweinehund, weiß der Teufel, was er für dich getan hat. Ich werde schon dafür sorgen, dass sich Hunter heraushält. Und wenn es nicht anders geht, wird er sich die Radieschen von unten ansehen müssen. Ich verstehe mich ganz ausgezeichnet aufs Foltern und habe schon einige Möglichkeiten ausgeknobelt, unter denen ich nur zu wählen brauche. Ich weiß noch nicht, wozu ich mich entschließe – ob ich Hunter rädern werde oder vierteilen. Ruhig, Mike! Ganz ruhig! Jetzt ist erst einmal ein Greenfielder dran. Wie wär's mit Bobby Mason? Er ist keine zwanzig Meter von mir entfernt. Steht lässig da mit seinen zwei halbstarken Freunden und kommt sich mächtig stark vor. Zwei Minuten, mehr brauche ich nicht, um ihnen allen dreien den Schädel einzuschlagen. Von meinem Versteck aus sehe ich sie genau. Ich verstehe nicht, was sie reden, aber ich kann es mir denken. Sie lästern über dich. Mir kommt die Galle hoch. Ich bin nahe daran, aus dem Gebüsch zu springen und die drei niederzuprügeln. Aber das würde zu viel Aufsehen verursachen. Und das will Mr. Hyde vorerst vermeiden. Also sehen wir weiter. Ist das da nicht das Haus der Sutherlands? Hat dich Mr. Sutherland nicht mal mit dem Stock geschlagen, weil du angeblich seiner kleinen Angie nachgestiegen bist? Ich weiß besser als alle anderen, dass du nicht fähig wärst, ein zehnjähriges Mädchen anzurühren. Du bist bestimmt impotent. Aber ich könnte es tun, damit Mr. Sutherland sieht, wie so was ausschaut. Ja, das würde mir Spaß machen. Werde mal hingehen und durchs Fenster blicken. Will nur sehen, wie die biederen Sutherlands den Abend verbringen. Klar, sie sitzen vorm Fernseher. Wenn ich läute, würde mir Mrs. Sutherland
öffnen. Ich würde ihr das Messer an die Kehle setzen und sie als Geisel mit ins Wohnzimmer nehmen, dort sie killen und mir Angie schnappen. Vor Sutherlands Augen. Und wenn er nicht mehr leiden kann, würde ich ihn köpfen und seinen Schweineschädel im Fernseher deponieren. Keine Angst, Mike! Ich tu's nicht. Da ist ein Polizist bei den Sutherlands zu Gast. Und Polizisten wissen im Allgemeinen, was sie in gefährlichen Situationen zu tun haben. Weiter. Wen hätten wir noch? Die Dunkelheit ist mein Verbündeter. Die Nacht ist schnell hereingebrochen. Die Straßen sind zwar beleuchtet, aber ihnen weiche ich ohnehin aus. Mein Weg führt mich durch die Gärten, über die Wiesen, durch die Gebüsche. Wie friedlich die schmucken Häuschen aussehen! Welches Idyll sich hinter den beleuchteten Fenstern abspielen mag? Wie ist es mit Lisas Eltern? Sie sind so schuldig wie ihr Flittchen, weil sie es in die Welt gesetzt haben. Ergo müssten auch sie sterben. Aber nein! Das wäre wenig befriedigend. Los, Mr. Hyde, entschließe dich! Der aufgestaute Hass wird immer größer. Sei nicht so wählerisch. Stürme in irgendeine Bude, und vollziehe deine Rache! Keine Bange, Mike, ich werde dich rächen. Die schmucken, idyllischen Häuschen von Greenfield gleiten wie auf einem Förderband an mir vorbei. Gelegentlich riskiere ich einen Blick durch ein Fenster, sehe eine Familie beim Dinner – der Bissen möge ihnen im Hals stecken bleiben – irgendein altes Weib mit Strickzeug vorm Fernseher. Und wen haben wir denn da? Er ist groß und wirkt kräftig. Früher hat er vielleicht handwerklich gearbeitet, aber jetzt gehört er zu den Honoratioren von Greenfield. Ich vermute, dass er sich im Sommer durch Golf und Tennis fit hält und im Winter auf dem Kontinent Ski fährt. Er trägt einen Zylinder und einen Umhang – wie ich. Und auch der Stock fehlt nicht. Er steigt aus seinem Jaguar, sperrt das Gartentor auf, setzt sich wieder in den Wagen, kurbelt am Lenkrad, fährt den Jaguar aufs Grundstück und in die Garage. Ich bin inzwischen über den Zaun geklettert und renne zur Hinter-
tür des Hauses. Und während unser Spießer das Garagentor schließt – es quietscht – schlage ich das Fenster der Tür ein, lange durch die Öffnung und mache den Riegel auf. Schon bin ich drinnen. Gediegene Wohnatmosphäre umgibt mich. Ja, hier lässt es sich leben. Und von so hoch oben lässt es sich leicht auf so armselige Kreaturen wie dich, Mike, herunterspucken. Schritte kommen aus dem Verbindungsgang zur Garage. Der Hausherr pfeift vergnügt vor sich hin. Er erreicht das Wohnzimmer, knipst das Licht an, sieht mich gar nicht, der ich in seinem Hausherrensessel lümmle, sondern strebt sofort der Bar zu. Klar, Mr. Quimbley, gönnen Sie sich noch einen Schluck. Einen allerletzten kleinen Drink. Ich rekele mich, aber Mr. Quimbley sieht mich immer noch nicht. Er hat eine Figur und ein Gesicht wie ein Filmstar. Ganz neidisch könnte man werden. Was wird wohl seine Alte sagen, wenn sie von ihrer Tante zurückkommt und dieses Gesicht verändert vorfindet? Sie wird ihren Mr. Quimbley nicht wieder erkennen. Jetzt dreht er sich um, mit dem Glas in der Hand, wendet sich seinem geliebten Ohrensessel zu und sieht mich. Ich muss grinsen. Das Glas entfällt seinen Händen. »Guten Abend, Mr. Quimbley!«, begrüße ich ihn. Er fasst sich schnell. »Wer sind Sie? Wie kommen Sie in mein Haus? Verschwinden Sie sofort wieder, oder ich …« Er macht einen Schritt auf das Telefon zu, aber ich bin schneller. Ich springe auf, bringe mich mit drei Sätzen zum Telefon und zertrümmere es mit einem Stockschlag. Dann mache ich einige Steppschritte und verneige mich wie nach einer gelungenen Darbietung. Das macht Eindruck auf ihn. Er weicht erschrocken zurück. Jetzt habe ich ihn in der richtigen Stimmung. Ich nähere mich ihm tänzelnd, den Stock zwischen den Fingern drehend. »Ja, Mr. Quimbley«, sage ich grinsend, »mit meinem Besuch haben Sie wohl nicht gerechnet.« »Wer – wer sind Sie?«, fragt er wieder. Aber seine Stimme gehorcht ihm nicht mehr ganz. Er ist so ein-
fallslos wie die meisten. Dass den Leuten in solchen Situationen auch nichts anderes in den Sinn kommt, als dämlich zu fragen: »Wer sind Sie?« »Sagen wir mal, ich bin ein Freund von Mike, den Sie und Ihresgleichen ›Cleanhead‹ nennen«, sage ich vergnügt und klopfe ihm spielerisch mit dem Stock auf die Finger, als er in eine Schublade der Kommode langen will. Er zieht die Hand sofort zurück, reibt sie sich. Die Knöchel sind angeschwollen. »Mir ist etwas zu Ohren gekommen, das mir als Mikes Freund gar nicht gefällt«, fahre ich fort. Langsam komme ich in Fahrt. Irgendwann wird er etwas tun, was mich zur Explosion bringt. Nur ruhig, Mike! Lass mich nur machen. »Mike hat mir anvertraut, dass Sie es sind, der am meisten gegen Mike wetterte. Mr. Hyde hat es zu mir gesagt … Ah, ich sehe, wie Erkennen in Ihren Augen aufleuchtet. Sie haben in der Zeitung von mir gelesen? Umso besser. Dann brauche ich mich nicht vorzustellen. Also, Mike hat gesagt: Der Quimbley, dieser Popanz, will, dass ich in eine Irrenanstalt komme. Stimmt das, Quimbley?« Er räuspert sich, beleckt sich die Lippen, wischt sich den Schweiß seiner zitternden Hände an der Hose ab. Aber er unterschätzt mich und winselt noch nicht um sein Leben. Er wird sogar großkotzig. »Dort gehört dieser Verrückte auch hin«, erklärt er. »Und Sie mit ihm. Verdammt, Mike, glauben Sie, ich erkenne Sie nicht trotz der Maskerade, trotz dieser Perücke?« Seiner Stimme ist gar nicht anzumerken, was er vorhat. Plötzlich springt er auf mich los und reißt mir die Perücke vom Kopf. Da explodiere ich und haue mit dem Stock auf ihn ein. Seine Hilfeschreie sind Musik in meinen Ohren. Aber dann muss ich Schluss machen, weil die Zeit drängt. Bis zum nächsten Mal, Mike! Ich muss dich jetzt verlassen, aber du kannst auf mich bauen. Dein dich beschützender Mr. Hyde lässt dich nicht im Stich.
Miss Prelutsky kam kreidebleich die Treppe herunter.
Dorian brauchte nicht erst zu fragen, was denn los sei. Er merkte auch so, dass irgendetwas nicht stimmte. Er raste an ihr vorbei die Treppe hinauf. Mikes Zimmer war leer. Das Fenster war sperrangelweit offen. Kein Zweifel, Mike war, ohne dass sie etwas davon bemerkt hatten, aus dem Fenster hinunter in den Garten gesprungen. Genau unter dem Fenster stand ein Komposthaufen – Andenken an den Herbst. Ohne zu zögern, sprang Dorian ebenfalls durchs Fenster. Der Boden war weich und zeigte ganz deutlich die Abdrücke von Mikes großen Schuhen. Dorian folgte der Spur bis zum Gartenzaun, dahinter verlor er sie. Er wandte sich zuerst nach links, dem Hang zu, der zum Bach führte. Dort war alles still. Als er wieder umkehrte und in Richtung Greenfield marschierte, sah er einen Schatten. Der Statur nach war es eindeutig Mike. »Mike!«, rief Dorian und rannte zu ihm. Mike schlurfte weiter, gab winselnde Laute von sich und wischte sich immer wieder mit dem Ärmel über die Augen. Dorian erreichte ihn. »Wo warst du, Mike? Was ist passiert?« Mike blickte ihn verstohlen an, wandte sich wieder ab und schlurfte kopfschüttelnd und schluchzend weiter. Dorian folgte ihm. »Ach, Mr. Hunter!« Mike kletterte schwerfällig über den Zaun und wankte auf die Hintertür des Hauses zu. Dort erschien seine Tante. Mike sank vor ihr auf die Knie und barg seinen Kopf in ihrem Schoß. Ihre kraftlosen Hände legten sich auf seinen Kopf. Sie sah fragend zu Dorian, doch dieser konnte nur die Schultern heben. »Komm ins Haus, Mike!«, sagte Miss Prelutsky und half ihm auf die Beine. »Ich habe etwas Schreckliches getan, Tante«, murmelte Mike. »Hat dich jemand gesehen?«, fragte sie sofort. Und als Mike verneinend den Kopf schüttelte, fügte sie hinzu: »Dann komm auf dein Zimmer und leg dich aufs Bett!« Sie führte ihn hinauf. Mike ließ alles widerstandslos mit sich ge-
schehen, wehrte sich nicht, als sie ihn aufs Bett legte. Er schluchzte haltlos. »Willst du uns nicht sagen, was vorgefallen ist, Mike?«, fragte Dorian von der Tür her. Miss Prelutsky wirbelte herum. »Lassen Sie ihn in Ruhe, Mr. Hunter!«, herrschte sie ihn an. »Sehen Sie denn nicht, dass er ganz verstört ist?« Und an Mike gewandt, fuhr sie mit sanfter Stimme fort: »Sag jetzt überhaupt nichts, Mike! Du brauchst Ruhe. Schlaf jetzt! Morgen sieht alles anders aus.« »Aber – ich kann es nicht für mich behalten, Tante«, sagte Mike und stützte sich auf. »Ich muss – darüber sprechen, sonst werden mich diese entsetzlichen Bilder auf ewig in meinen Träumen verfolgen.« Dorian hielt Mikes Tante zurück, als sie Mike am Weitersprechen hindern wollte. »Was war los, Mike?«, ermunterte ihn der Dämonenkiller. Mike sah ihn mit großen Augen an. »Ich – ich war bei Mr. Quimbley«, erzählte er stockend. »Ich drang vor ihm ins Haus ein, erwartete ihn – und dann habe ich ihn niedergeschlagen. Dort sieht es jetzt aus wie auf einem Schlachtfeld. Ich wollte es nicht tun. Wirklich. Ich bin zu seinem Haus gegangen, um ihn zu warnen. Ehrenwort! Ich wollte dieses Blutbad verhindern. Aber das Böse in mir war stärker.« »Sei endlich still, Mike!«, schrie seine Tante. Sie warf sich auf Dorian und packte ihn am Rockaufschlag. »Sie dürfen nicht glauben, was Mike da sagt. Er fantasiert. Er wäre nicht fähig, so etwas Schreckliches zu tun.« »Was regen Sie sich so auf, Miss Prelutsky«, sagte Dorian. »Wenn Mr. Quimbley am Leben ist, dann hat Mike überhaupt nichts zu befürchten. Oder zweifeln Sie selbst daran?« »Mr. Quimbley ist tot«, sagte Mike vom Bett her. Er ließ sich auf das Kissen zurückfallen. »Er sieht entsetzlich aus.« Dann war er eingeschlafen. »Gehen Sie jetzt, Mr. Hunter! Und kommen Sie, bitte, nicht mehr in dieses Haus! Sie bringen uns nur Unglück«, sagte Miss Prelutsky
tonlos. Dorian entgegnete nichts. Er stieg die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, rief in der Jugendstilvilla an und bat Sullivan, seine Beziehungen spielen zu lassen und zu erreichen, dass zwei Polizisten zum Schutz Mikes abgestellt wurden. Dann verließ er das Haus und stieg in seinen Wagen. Er kehrte aber nicht auf dem schnellsten Weg nach London zurück, sondern fuhr im Schritttempo durch Greenfield. Vor einem Haus in einer Seitengasse entdeckte er eine große Menschenmenge. Er sah auch Polizisten und zwei Streifenwagen. Von der anderen Seite kam ein Rettungswagen mit eingeschalteter Sirene angebraust. »Ihr könnt wieder umdrehen«, empfing ein Polizist die Rettungsmänner. »Mr. Quimbley ist nicht zu helfen. Was er braucht, ist ein Sarg.« Dorian fuhr weiter. Er hatte genug gehört – und helfen konnte er hier ohnehin nicht mehr. Es war besser, in die Jugendstilvilla zurückzukehren und zu versuchen, ein wenig zu schlafen. Aber daraus wurde nichts. Trevor Sullivan erwartete ihn mit Neuigkeiten.
Dorian hatte den Rover kaum in der Garage abgestellt, als durch den Verbindungsgang zum Keller Sullivan auftauchte. »Na, endlich!«, sagte der Chef der Mystery Press. »Ich habe schon versucht, Sie bei der Prelutsky zu erreichen, aber Mikes Tante sagte mir, dass Sie eben abgefahren seien.« »Gibt's Schwierigkeiten?«, fragte Dorian. »Was ist? Haben Sie erreicht, dass wenigstens zwei Beamte zum Haus von Mikes Tante abgestellt werden?« »Man will zwei Wachen beim Haus postieren«, antwortete Sullivan, »aber vorerst braucht man noch jeden Mann für die Untersuchung des Mordes. Darüber wissen Sie sicherlich mehr als ich.« »Natürlich«, knurrte Dorian und folgte Sullivan ins Kellergeschoss. »Die Bürger von Greenfield versuchen, Mike und seine Tante durch Terror aus dem Ort zu vertreiben. Und die Polizei spielt
mit. Aber damit sollten Sie sich nicht belasten, Trevor.« »Es freut mich, wenn Sie nicht von mir verlangen, dass ich mich in diesem Fall auch noch engagieren soll«, meinte Sullivan spöttisch. »Mir genügt es, dass Sie mich mit den Nachforschungen betraut haben. Einen ersten Erfolg konnte ich bereits verbuchen.« Als sie die Presseagentur betraten, war dort Miss Martha Pickford gerade dabei, aus einer Mokkatasse Kaffee in zwei Tassen zu gießen. Sie war nur mit einem Morgenmantel bekleidet und machte einen verschlafenen Eindruck. »Na, auch noch auf den Beinen, Miss Pickford?«, fragte Dorian. »Man hat mich aus dem Bett geholt, weil man wollte, dass ich für Sie Kaffee koche«, maulte sie und warf Sullivan einen bösen Blick zu, um ja keinen Zweifel darüber aufkommen zu lassen, wen sie mit »man« meinte. Und sie äffte Sullivan nach. »Aus den Federn, Miss Pickford, Pascha Hunter kommt! Wir brauchen starken Kaffee, denn es könnte eine lange Nacht werden. Pascha Hunter hat ja zwei linke Hände und kann sich sein Teufelszeug nicht selbst brauen.« Dorian musste lachen. »Nehmen Sie doch auch eine Tasse, Miss Pickford!« »Brrr!«, machte sie und schüttelte sich demonstrativ. »Ich will mich doch nicht vergiften. Wenn Pascha Hunter keine Wünsche mehr hat, möchte ich mich in mein Zimmer zurückziehen und mich meiner Grusellektüre widmen.« »Was lesen Sie denn gerade?«, fragte Dorian. »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«, antwortete sie im Hinausgehen. »Und ich will Ihnen auch nicht verschweigen, dass ich in der Person des Mr. Hyde Parallelen zu Ihnen entdeckt habe, Pascha Hunter.« »Puh!«, machte Donald Chapman. »Die ist aber wieder geladen. Na, wenigstens ist sie weg und stört uns nicht mehr bei der Arbeit.« »Dann schießen Sie mal los, Sullivan!«, verlangte Dorian. »Was haben Sie über Mikes Vergangenheit herausgefunden?« »Nichts«, sagte Sullivan mit Unschuldsmiene. »Wo hätte ich denn ansetzen sollen, wo doch feststand, dass Hyde nicht sein richtiger Name ist? Deshalb habe ich meine Nachforschungen auf Anna Prelutsky konzentriert. Hier war ich einigermaßen erfolgreich. Dass sie
eine Polin ist, deren Eltern zu Kriegsbeginn nach England flohen, wissen Sie ja bereits. Ich habe außerdem herausgefunden, dass sie eine Schwester hatte, Tanja mit Namen. Während Anna bis zum Tod der Eltern zu Hause blieb, heiratete Tanja einen Schotten und zog mit ihm nach Rannochmore. Und jetzt wird es interessant. Rannochmore liegt in der Nähe des Marbuel-Schlosses. Es muss da eine Verbindung bestehen.« »Mehr als diese spärlichen Angaben und eine Vermutung haben Sie mir nicht anzubieten, Sullivan?«, meinte Dorian. Sullivan machte ein beleidigtes Gesicht. »Na, wenn Sie Ihre grauen Zellen ein wenig anstrengen, dann könnten Sie einige interessante Schlüsse ziehen, Dorian«, sagte Sullivan angriffslustig. »Diese Tanja Prelutsky, verehelichte McDougall, muss Mikes Mutter sein, wenn Anna Prelutsky seine Tante ist. Mrs. McDougall und ihr Mann hatten vor fünfzehn Jahren einen Autounfall. Die beiden verbrannten im Wrack. Sie brauchen nur irgendjemanden nach Rannochmore schicken, der sich ein wenig umhört, dann erfahren Sie alles über Mikes Vergangenheit.« »Warum haben Sie nicht einfach in dem schottischen Nest angerufen und sich vom Gemeindeamt alle Daten über Mike McDougall geben lassen!«, fragte Dorian vorwurfsvoll. »So klug war ich auch«, meinte Sullivan grinsend. »Aber stellen Sie sich vor, Dorian, es existieren überhaupt keine amtlichen Unterlagen über die McDougalls mehr.« »Entschuldigen Sie, Trevor, ich hätte mir denken können, dass Sie selbst darauf kommen würden. Dann müssen wir eben Fred Archer losschicken.« Sullivan gebot Dorian mit einer Handbewegung zu schweigen. Und in die folgende Stille hinein war der Türgong zu hören. »Das wird Archer sein«, erklärte Sullivan und fügte hinzu, als er Dorians fragenden Blick sah: »Ich habe mir erlaubt, ihn herzubestellen. Dachte ich mir doch, dass Sie ihn nach Schottland hetzen würden.« Von oben ertönte wieder die keifende Stimme Miss Pickfords, die den späten Besucher einließ.
»Hoffentlich erschreckt Miss Pickford Archer nicht so sehr, dass er sich in Zukunft weigert, noch für uns zu arbeiten«, sagte Donald Chapman. »Das wäre schade, nachdem wir ihn teilweise in unser Geschäft eingeweiht haben.« Der Detektiv war fünfunddreißig Jahre alt, mittelgroß, hatte ein rosiges, pausbäckiges Gesicht und rotblondes Bürstenhaar. Er neigte ein wenig zum Dicksein. Seit er jedoch zufällig mit den Dämonen der Schwarzen Familie zu tun gehabt hatte, wurde er immer öfter von der Mystery Press für Nachforschungen herangezogen; das hielt ihn in Trab und ersparte ihm Gewichtssorgen. Da er auch schon Donald Chapman kennen gelernt hatte, brauchte sich der Puppenmann nicht vor ihm zu verstecken. Fred Archer hatte die Existenz eines zwar normal proportionierten, aber nur fußgroßen Menschenwesens mit der ihm eigenen Gelassenheit akzeptiert. »Guten Abend, allerseits!«, grüßte er. »Wo haben die Dämonen denn diesmal wieder ein Chaos entfacht?« »In Rannochmore«, sagte Dorian. »Noch nie davon gehört.« Archer nahm die angebotene Players und schlug auch eine Tasse Kaffee nicht aus. »Wo liegt denn dieses Nest?« »Schottland«, antwortete Dorian knapp. »Zwischen dem Rannoch Moor und dem Blackwater. Einfache Routinearbeit.« »Und selbst wenn es brenzlig wird, haben Sie nichts zu befürchten, Fred«, mischte sich Donald Chapman ein. »Ich werde Sie nämlich begleiten. Wenn ich nicht bald aus diesem Keller herauskomme, versauere ich noch ganz. Oder hat irgendjemand einen Einwand?« Das Läuten des Telefons enthob Dorian einer Antwort. »Ich gehe schon ran«, sagte Dorian zu Sullivan. »Klären Sie Fred inzwischen über alles auf!« Dorian hob den Hörer ab. »Mystery Press. Hallo?« Zuerst hörte er nur ein Keuchen wie von einem Asthmatiker, aber er wusste sofort, wer der Anrufer war, noch bevor er seine Stimme hörte. »Geben Sie mir Hunter! Dorian Hunter! Ich hab mit ihm ein Hühn-
chen zu rupfen.« »Am Apparat«, sagte Dorian. »Sprechen Sie nur frei von der Leber weg, Mr. Hyde!« »Ah!«, machte der andere zwischen zwei rasselnden Atemzügen. »Sie erkennen mich bereits an der Stimme. Das ist gut. Es vermittelt einem ein gewisses Gefühl der Vertrautheit. Nur schade, dass Sie mich sonst noch nicht besser kennen gelernt haben, denn dann würden Sie meine Warnungen ernster nehmen. Sie sind ein unfolgsamer Junge, Hunter, denn Sie haben meinen Rat nicht befolgt und schon wieder für Mike Samariterdienste absolviert. Sagte ich Ihnen denn nicht deutlich genug, dass ich keine Einmischung dulde? Ich kann Mike selbst gut genug beschützen.« »Ist es das, was Sie unter Schutz verstehen, wenn Sie Mike Ihre Morde anhängen, Mr. Hyde?« »Das ist nicht wahr!« Die Stimme des anderen überschlug sich vor Aufregung. »Es war nie meine Absicht, den Verdacht auf Mike abzuwälzen. Es ergab sich durch Zufall.« »Und warum haben Sie dann nichts von sich hören lassen, während Mike im Gefängnis saß?« Mr. Hyde kicherte. »Da war ich – na, sagen wir mal, ich habe Urlaub auf den Bahamas gemacht. Ich brauchte Zeit, um mir zu überlegen, was ich mit Mikes Feinden anstellen sollte. Und ich musste mir auch eine Todesart für Sie ausdenken, Hunter. Sie wissen inzwischen ja, was mit Quimbley geschehen ist. Dieser Popanz hat den Tod verdient, glauben Sie es mir, Hunter. Er war einer von Mikes schlimmsten Feinden. Im Augenblick bin ich in Mr. Chamberlains Haus.« Dorian versteifte sich. »Wo ist das?« »Wo denn schon? In Greenfield natürlich. Mr. Chamberlain ist gerade im Pub bei einer Versammlung, in der beraten wird, wie man sich Mike vom Halse schaffen könnte. Sie sehen doch ein, dass ich mit Mr. Chamberlain ein ernstes Wort reden muss, Hunter?« »Könnten wir nicht zuvor die Angelegenheit besprechen?«, fragte Dorian. »Nur wir beide – unter vier Augen?« »Aber mit dem größten Vergnügen«, behauptete Mr. Hyde. »Kom-
men Sie doch in Mr. Chamberlains Haus! Sie werden mir willkommen sein. Schau, schau, da kommt ja der Herr des Hauses!« Während Dorian sich noch überlegte, wie er Mr. Hyde aus Chamberlains Haus locken könnte, um so eine weitere Bluttat zu verhindern, knackte es im Hörer, und die Leitung war tot. Dorian legte auf. Es würde wenig Zweck haben, nach Greenfield zu fahren. Er würde auf jeden Fall zu spät kommen. Dorian zuckte wie elektrisiert zusammen, als das Telefon erneut zu läuten begann. Er hatte den Hörer noch nicht ans Ohr gelegt, als er schon Miss Prelutskys Stimme vernahm. »Mr. Hunter? Bitte, kommen Sie schnell. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Vor dem Haus hat sich der Mob zusammengerottet. Sie verlangen in Sprechchören Mikes Kopf. Ich habe solche Angst, sie könnten Mike lynchen.« »Was ist mit der Polizei?«, fragte Dorian. »Es waren zwei Beamte hier, aber die haben sich verkrochen. Bitte, kommen Sie doch, bevor es zu spät ist!« »Wo ist Mike?« »Auf seinem Zimmer.« »Sind Sie sicher? Hat er nicht gerade telefoniert?« »Ich weiß es nicht. Aber das kann doch nicht so wichtig sein. Glauben Sie mir, Mr. Hunter, es geht um Leben und Tod.« »Ich komme sofort.« Dorian legte auf und wandte sich an Sullivan. »Haben Sie Fred in alles eingeweiht?« »Da Don ihn nach Schottland begleitet, kann er Freds Wissenslücke schließen«, antwortete Sullivan. »Dann kommen Sie, Trevor! Wir müssen nach Greenfield. Dort ist dicke Luft. Und vergessen Sie Ihren Secret-Service-Ausweis nicht! Es wird niemandem auffallen, dass er ungültig ist.« Dorian rannte schon in die Garage voraus.
»Wozu haben wir in diesem Land Gesetze, die die Bürger schützen sollen, wenn sie nicht angewandt werden? Wir müssen mit allem
Nachdruck auf unsere Rechte pochen. Es wäre ja noch schöner, uns zu zwingen, mit einem Geistesgestörten zusammenzuleben, dem die Ärzte zwar Harmlosigkeit zusprechen, der aber nichtsdestoweniger in dem dringenden Verdacht steht, bereits zwei Menschen auf dem Gewissen zu haben. In Greenfield wird erst Ruhe herrschen, wenn Mike Hyde hinter den Mauern einer geschlossenen Anstalt sitzt. Und wir werden dafür sorgen, dass er dorthin kommt. Wenn Miss Prelutsky nicht zustimmt, dann werden wir für eine zwangsweise Einlieferung sorgen. Mein Wort darauf. Ich versuche ganz emotionslos zu sein, denn ich habe auf Mike Hyde keinen persönlichen Groll, aber wenn er krank ist, dann muss er die entsprechende Behandlung bekommen. Und Mike ist krank. Wir, die Bürger von Greenfield, werden erst wieder ruhig schlafen können, wenn wir ihn in sicherem Gewahrsam wissen. Wir leben alle mit dem Wissen, dass vor kurzem Lisa Donaldson auf brutalste Art und Weise ermordet wurde. Heute Nacht musste Mr. Quimbley auf die gleiche Art sterben. Fragen wir uns nicht alle, wer als Nächster dran ist?« Frenetischer Applaus zeigte Mr. Chamberlain, dass seine Rede gut gewesen war. Er hatte mitten ins Herz der Bürger von Greenfield getroffen. Wenn er nun sein Versprechen wahr machte – und das hatte er vor –, Mike zu isolieren, dann sah er den nächsten Wahlen beruhigt entgegen. »Was soll das Gequassel von Gesetz und Ordnung?«, rief ein Vertreter der jüngeren Generation dazwischen, als der Applaus verebbte. Im Hintergrund des Pubs drängten sich junge Burschen und Mädchen zusammen, die bereits einiges über den Durst getrunken hatten. »Es geht um unser Leben. Nehmen wir die Sache doch selbst in die Hand. Lynchen wir dieses Ungeheuer einfach.« »Ja, knüpft ihn auf!«, pflichtete einer der älteren Bürger bei, der sonst als zurückhaltend und besonnen galt. Aber wer konnte ihm seinen Gefühlsausbruch übel nehmen? Er hatte eine Tochter in Lisas Alter. Mr. Chamberlain hob beschwichtigend die Arme.
»Bewahrt einen kühlen Kopf, Männer!«, rief er beschwörend. »Wenn wir Selbstjustiz üben, dann machen wir uns so schuldig wie der Mörder, den wir verurteilen.« »Dann sollen wir wohl darauf warten, bis Mike dem Nächsten von uns den Schädel einschlägt, was?« »Mike fleht doch förmlich um den Strick!« »Klar, er weiß, was für ein Bastard er ist. Er kann nur aus seiner Haut nicht heraus. Helfen wir ihm, indem wir ihn aufhängen. Dann wird uns allen wohler sein.« Mr. Chamberlain wusste, dass es Zeit war für ihn zu gehen. Er konnte den Hass der Leute schon fast körperlich spüren. Sie steigerten sich in einen Vergeltungsrausch. Das Gesetz hatte versagt. Wäre Mike Hyde nicht freigelassen worden, hätte Mr. Quimbley nicht sterben müssen. Nein, dem Gesetz vertraute heute Nacht in Greenfield keiner mehr. Jeder war sein eigener Richter. Jeder konnte sich selbst am besten schützen. Und der beste Selbstschutz war es, seinen Gegner zu eliminieren. Aber Mr. Chamberlain wollte an der Selbstjustiz nicht beteiligt sein. Er zog sich still und leise aus dem Pub zurück und machte sich auf den Heimweg. Die Menschen in Greenfield hatten Angst. Obwohl es längst Mitternacht durch war, brannte noch in allen Häusern Licht. Die Männer holten ihre Jagdgewehre von den Speichern oder kramten im Keller nach ihren Armeewaffen, die ihre Väter als Andenken an den letzten Weltkrieg behalten hatten. Aus einer Seitenstraße kamen einige betrunkene Jugendliche. Sie grölten: »Heute wirst du hängen, Mr. Hyde, heute bist du dran.« Soll ich nicht bei der Wachstube vorbeischauen und den Polizisten einen Tipp geben?, fragte sich Mr. Chamberlain. Ach was, er konnte von zu Hause aus anrufen und sich erkundigen, welche Vorsorge man getroffen hatte, um die aufgebrachten Bürger vor einer Dummheit zu bewahren. Er erreichte sein Haus. Im Schlafzimmer brannte Licht. Maude konnte sicherlich nicht schlafen. Die Angst … Dabei brauchte sie sich nicht zu fürchten, denn Hector wachte über sie.
Hector war ein Deutscher Schäferhund, schärfer abgerichtet als so mancher Polizeihund. Er hätte einmal einen Einbrecher fast in Stücke gerissen, wenn er – Mr. Chamberlain – nicht rechtzeitig eingegriffen hätte; das heißt, er hatte eine ganze Weile zugesehen und hätte keinen Finger für den Halunken gerührt, wenn nicht Zeugen dabei gewesen wären. Politiker sieht tatenlos zu, wie sein Hund einen Menschen zerfleischt. Diese Schlagzeile hätte seinem Image geschadet. Nur darum pfiff er Hector schließlich zurück. Er schritt durch den Garten, wunderte sich, dass die Hundehütte leer war und Hector nicht zu seiner Begrüßung Laut gab; das tat er sonst immer. Aber vielleicht hatte Maude ihn zu sich ins Haus genommen. Na ja, verständlich. Mr. Chamberlain schloss die Haustür auf, trat in den Flur und schaltete das Licht ein. Er taumelte mit einem Aufschrei zurück. Vom Türstock des Wohnzimmers baumelte der leblose Körper des Schäferhundes. Er hing mit den Hinterbeinen an einem Seil. Aus einer faustgroßen Kopfwunde tropfte Blut in eine Lache. Mr. Chamberlain war so benommen, dass er gar nicht die Gestalt sah, die, halb hinter den Mänteln der Kleiderablage verborgen, neben ihm stand. Erst als er sich in plötzlicher Panik zur Flucht wenden wollte, stieß er gegen den Unbekannten. Mr. Chamberlain sah ein affenartiges Gesicht, das halb unter einem steifen Zylinder verborgen war. Ein Stock mit einem Silberknauf blitzte auf, und er erhielt einen Stoß, der ihn durch die Diele schleuderte. Halt suchend bekam er den leblosen Körper seines Hundes zu fassen. Der Strick, an dem der Hund hing, riss, und Mr. Chamberlain fiel mitsamt dem toten Körper ins Wohnzimmer. Mit einem unartikulierten Aufschrei stieß er den Kadaver angeekelt von sich. Er war blutbesudelt; aber das war nicht so wichtig; schlimmer war der unheimliche Mann hinter ihm. Mr. Chamberlain wirbelte herum, wollte gleichzeitig auf die Beine kommen und stolperte in der Hocke rückwärts. Er schrie, als der Stock auf ihn niedersauste. »Ha, Mr. Chamberlain, sie wollten doch meinen Schützling Mike
hängen sehen, nicht wahr?«, geiferte Mr. Hyde. »Sie haben es selbst nicht tun wollen, aber sie hätten es stillschweigend geduldet.« »Bitte!«, kam es gurgelnd über Mr. Chamberlains Lippen. »Bitte, schlagen Sie mich nicht! Sie können alles von mir haben, was Sie wollen – alles. Nur hören Sie auf, mich zu schlagen!« Mr. Hyde hatte den Stock schon zum nächsten Schlag erhoben, hielt jetzt aber mitten in der Bewegung inne. Seine Augen bekamen einen listigen, verschlagenen Ausdruck. »Alles?«, fragte er mit schiefem Mund. »Und werden Sie sich auch still verhalten? Kann man mit Ihnen reden, Mr. Chamberlain? So von Mann zu Mann?« Mr. Chamberlain nickte eifrig. Er spürte, dass ihm etwas warm aus der Nase rann. »Ja, ich werde still sein«, versprach er. »Sie bekommen alles Geld, das ich im Hause habe.« »Ich pfeife auf Ihr Geld«, sagte Mr. Hyde verächtlich. »Ich will was anderes. Genugtuung für meinen Schützling Mike. Würden Sie ihm die Hand zur Versöhnung reichen? Würden Sie das tun?« »Aber …« Mr. Chamberlain besann sich noch rechtzeitig, dass er es hier mit einem Verrückten zu tun hatte. »Ja, ich will Mike die Hand reichen und ihn um Verzeihung bitten. Das tue ich ganz bestimmt. Hier, Mike, meine Hand.« Mr. Chamberlain hielt dem Eindringling die Hand hin, aber der schlug mit dem Stock danach. Mr. Chamberlain heulte vor Schmerz auf. »So weit sind wir noch nicht«, sagte Mr. Hyde. »Sie wollten doch Mike hängen sehen.« »Nein, das ist nicht wahr«, beteuerte Mr. Chamberlain. »Ich habe die Bevölkerung von Greenfield aufgerufen, sich nicht zur Selbstjustiz hinreißen zu lassen. Mein Wort darauf.« Mr. Hyde brachte ihn mit einem Stockschlag zum Schweigen. »Ein Gehängter bietet keinen schönen Anblick, Mr. Chamberlain«, sagte Mr. Hyde fast schulmeisterlich. »Ich möchte ihr Gesicht sehen, wenn Sie einen geliebten Menschen vom Strick baumeln sehen. Es war doch ein Schock, als sie den Kadaver Ihres Hundes vorfanden?«
Mr. Chamberlain schluchzte auf. Er zitterte am ganzen Körper. »Mike«, sagte er und blickte zu Mr. Hyde auf, »ich war doch immer gut zu Ihnen. Erinnern Sie sich noch, als Sie mit Ihrer Tante nach Greenfield kamen? Ich war als Erster zu eurer Begrüßung in euerm Haus.« Mr. Hyde verzog angewidert das Gesicht. »Sie sind voll Blut. Gehen Sie sich waschen!« »Ja, ja, das werde ich tun«, sagte Mr. Chamberlain schnell. »Ich werde mich waschen.« Er stolperte zur Badezimmertür, zögerte jedoch, sie zu öffnen. Er dachte an Maude. Warum hatte er noch nichts von ihr gehört? Plötzlich hatte er Angst, die Badezimmertür zu öffnen. Er wollte zurückweichen, aber Mr. Hyde stieß ihn vorwärts. Die Tür schwang nach innen auf. Und da sah Mr. Chamberlain seine Frau. Der Schock war so groß, dass er nahe daran war, das Bewusstsein zu verlieren. Und so merkte er es kaum, als sich ihm von hinten ein Nylonseil um den Hals legte. Er wehrte sich nur schwach.
»Wir sind zu spät gekommen«, stellte Dorian fest, als er den Rover vor dem Fachwerkhaus anhielt. Der Zaun war niedergerissen worden, die Beete im Garten zertrampelt. Auf der Straße lagen abgebrannte Fackeln, leere Bierdosen und zersplitterte Flaschen. Die Greenfielder hatten sich ordentlich Mut angetrunken, bevor sie sich Mike geholt hatten. Auf der Vorderfront des Hauses war kaum eine Fensterscheibe mehr heil. Die Tür war eingetreten worden und hing schief in den Angeln. »Da liegt jemand!«, rief Sullivan, der gleichzeitig mit Dorian aus dem Wagen gesprungen war, und deutete auf eine Gestalt, die reglos neben dem Gartenweg lag. »Das ist Mikes Tante!« Dorian lief zu ihr und hob ihre eine Schulter etwas hoch. Sie hatte eine bläuliche Schwellung unterhalb des linken Auges. »Miss Prelutsky«, redete er auf sie ein, »hören Sie mich? Wenn Sie
mich verstehen, dann sagen Sie mir, was passiert ist.« Sie öffnete zaghaft die Lider und starrte ihn benommen an. »Sie – haben die Tür eingerannt und – Mike geholt. Mich haben sie einfach niedergeschlagen. Sie wollen Mike lynchen. O mein Gott, sie bringen ihn zum Hauptplatz! Vielleicht kommen Sie noch rechtzeitig, wenn Sie sich beeilen, Mr. Hunter! Sie dürfen Mike nichts tun. Er ist doch unschuldig. Kümmern Sie sich nicht um mich!« Dorian half ihr auf die Beine, dann kehrte er mit Sullivan zum Wagen zurück. Der Motor lief noch. Dorian legte den ersten Gang ein und fuhr mit Vollgas los. »Wo ist denn dieser Hauptplatz?«, fragte Sullivan. Er hatte seine Dienstpistole hervorgeholt, die er ebenso wie seinen Ausweis als Souvenir vom Secret Service behalten hatte. Dorian brauchte nicht lange danach zu suchen. Die aufgebrachte Menge hatte eine deutliche Spur mit zertrümmerten Whiskyflaschen und Bierdosen hinterlassen. Als Dorian links von sich Fackelschein sah, riss er den Wagen im letzten Augenblick herum. Die Querstraße mündete nach etwa fünfzig Metern in einen großen Platz mit einem altertümlichen Brunnen und einem halben Dutzend Fahnenmasten rundherum. Eine riesige Menschenmenge wogte über den Platz. Dorian schaltete die Alarmanlage ein, die den Wagen vor Diebstahl schützen sollte. Eine Sirene heulte auf. Zusätzlich fuhr Dorian fast mit Vollgas im ersten Gang. Die Nächststehenden wandten sich erschrocken um, starrten geblendet in die auf sie zuschießenden Scheinwerfer. »Polizei!« Der Ruf pflanzte sich wie ein Lauffeuer fort. Männer retteten sich auf den Bürgersteig, hoben schützend die Arme vor die Gesichter, um nicht erkannt zu werden. In die Menge auf dem Hauptplatz kam ebenfalls Bewegung. Gestalten liefen geduckt davon. Vom Alkohol gerötete Gesichter versteckten sich hinter hochgestellten Mantelkrägen. »Polente! Nichts wie weg!« »Bleibt hier, ihr Narren!«, versuchte einer der Aufwiegler die Leu-
te zurückzuhalten. »Wo wir dieses Monster schon haben, werden wir es auch aufknüpfen!« Dorian fuhr den Wagen bis dicht an die in Auflösung begriffene Menschenmenge heran und bremste dann quietschend. Die Alarmsirene ließ er eingeschaltet, die Scheinwerfer aufgeblendet. Sullivan und er sprangen gleichzeitig aus dem Wagen. Sullivan feuerte einige Schreckschüsse in die Luft. Die Schussdetonation bewirkte, dass die letzten verbliebenen Bürger ihren restlichen Mut einbüßten. Jeder versuchte unerkannt zu entkommen. Dorian lag natürlich nichts daran, irgendjemanden festzunehmen. Er wollte nur verhindern, dass man Mike etwas antat. Plötzlich war der Platz bis auf vier Männer leer gefegt. Es handelte sich um drei junge Burschen, die Mike festhielten und ihm eine Drahtschlinge, die von einer Fahnenstange hing, um den Hals zu legen versuchten. Dorian erkannte in einem von ihnen Bobby Mason. »Hängt mich doch endlich!«, rief Mike verzweifelt. »Ich habe es verdient wie kein anderer.« Bobby Mason erkannte Dorian in diesem Moment. »Kommt zurück, Leute!«, rief er den Davonlaufenden nach. »Alles nur Bluff. Das da sind keine Polizisten.« Dorian brachte ihn mit einem Faustschlag zum Verstummen. Sullivan hatte sich zwischen die beiden anderen Burschen gedrängt, die ganz glasige Augen hatten und so betrunken waren, dass sie nicht mehr aufrecht stehen konnten. Sullivan trieb sie mit dem Pistolenlauf von Mike weg. Als sie sich plötzlich wie auf Kommando herumdrehten und davonstürzten, ließ er sie einfach laufen. »Das war knapp«, sagte der Chef der Mystery Press aufatmend und steckte die Pistole weg. Dorian befreite Mike von den Stricken, mit denen man ihm die Hände auf den Rücken gebunden hatte. »Warum haben Sie die Leute nicht tun lassen, was sie wollten, Mr. Hunter?«, fragte Mike mit weinerlicher Stimme. »Es wäre für sie eine Erlösung gewesen – und für mich auch.« »Deine Leiden werden bald ein Ende haben, Mike«, versprach Do-
rian, »auch ohne dass du dich opferst.« Er verfrachtete Mike auf den Beifahrersitz, Sullivan nahm im Fond Platz. So fuhren sie zum Haus von Mikes Tante zurück. Sie erwartete sie bereits auf der Straße. Bei ihr waren zwei uniformierte Polizisten. »O Mike!« Miss Prelutsky fiel ihrem Neffen in die Arme. »Sieh an, die Hüter des Gesetzes!«, sagte Dorian abfällig und spuckte aus. »Sie haben sich wohl Zeit gelassen, um Mike baumeln zu sehen.« »Stimmt es denn wirklich, dass …«, fragte einer der Polizisten betreten. »Herrgott, woher kommen Sie denn? Vom Mond?«, herrschte Sullivan ihn an. »Das wird noch ein Nachspiel haben, Sergeant.« Ohne sich um das unsichere Gemurmel der beiden Polizisten zu kümmern, folgten er und Dorian Mike und seiner Tante ins Haus. »Ich hoffe, Sie sehen nun ein, dass es besser wäre, wenn Sie Greenfield für eine Weile verlassen«, sagte Dorian zu der völlig niedergeschlagenen Frau. Als sie schwach nickte, fuhr er fort: »Ich habe in London ein Reihenhaus, das leer steht. Dort können Sie so lange Sie wollen mit Mike wohnen. Packen Sie das Notwendigste zusammen, damit wir schnell von hier wegkommen. Der Mob wird sich bestimmt wieder zusammenrotten. Und von den beiden Polizisten dürfen Sie sich nicht viel Schutz erwarten. Haben Sie mich verstanden, Miss Prelutsky?« »Ja.« Sie nickte. »Ich werde tun, was Sie verlangen. Ich brauche nicht lange. Geben Sie mir zehn Minuten, dann können wir fahren.« »In Ordnung.« Dorian wandte sich Mike zu, der zusammengekauert auf der Couch saß. Er schrie ihn an: »Jetzt reiß dich endlich zusammen, Mike! Du kannst dir nicht ständig einreden, dass durch deinen Tod alle Probleme gelöst wären.« »Doch, es wäre das Beste.« Dorian holte aus und schlug Mike mit dem Handrücken ins Gesicht. Mike fuhr sich über die Stelle, wo Dorian ihn getroffen hatte. Trä-
nen traten in seine Augen. »Warum haben Sie das getan, Mr. Hunter?« »Ich möchte das böse Ich in dir wecken«, sagte Dorian kalt. »Wenn Mr. Hyde in dir ist, dann soll er sich zeigen. Oder ist er zu feige dazu? Was ist, Mr. Hyde, warum kommen Sie nicht hervor? Sie wollten mich doch dafür bestrafen, dass ich Mike geholfen habe. Jetzt habe ich Ihnen einen weiteren Grund gegeben, um sich an mir zu rächen.« »Tun Sie das nicht, Mr. Hunter!«, flehte Mike. »Fordern Sie das Böse in mir nicht heraus!« »Ich will es aber kennen lernen.« Dorian packte Mike an den Schultern und schüttelte ihn. »Was muss ich denn tun, um das Böse in dir zu wecken?« »Mr. Hunter!«, rief da Miss Prelutsky. »Lassen Sie Mike in Ruhe, Sie brutaler …« Sie trug einen Stoß Bücher und ein Fotoalbum. Als sie zu Dorian geeilt kam, stolperte sie über ein Sesselbein. Die Bücher polterten zu Boden. »Da – sehen Sie, was Sie angerichtet haben!«, schimpfte sie und bückte sich, um die Bücher schnell einzusammeln. Dorian kniete neben ihr nieder, um ihr behilflich zu sein. Er griff nach dem Fotoalbum, sah, dass eine Ecke eines vergilbten Papiers hervorlugte und klappte den Deckel auf. Doch Mikes Tante legte schnell die Hand darauf. »Das geht Sie nichts an«, sagte sie erregt und nahm das Fotoalbum besitzergreifend an sich. Dorian hatte aber einen kurzen Blick auf das Objekt seines Interesses werfen können. Es war ein altes Zeitungsfoto, das siamesische Zwillinge zeigte, die am Kopf zusammengewachsen waren. »Was wollen Sie denn noch mitnehmen?«, fragte Dorian Mikes Tante, die mit dem Stoß Bücher und dem Fotoalbum bereits zum Ausgang eilte. »Nur noch die Reisetasche dort«, rief sie über die Schulter. »Und vielleicht noch einige von Mikes Werkzeugen, damit er sich beschäftigen kann.«
Dorian hob die Reisetasche hoch; sie konnte nicht viel enthalten, denn sie war leicht. »Wo hast du dein Werkzeug, Mike? Soll ich es dir holen?« »Das kann ich selbst«, erwiderte Mike und erhob sich. »Mit Ihnen rede ich nicht mehr.« Dorian hielt ihn zurück. »Wo willst du hin?« »In den Keller.« Dorian schüttelte den Kopf. »Nein, du gehst zum Wagen hinaus. Ich möchte nicht riskieren, dass du uns durchbrennst. Sage mir, was du willst, und ich bringe es dir.« Mike zählte apathisch auf: »Laubsäge, Sperrholz, Malkasten, Laubsägevorlagen, Leim, ein Bündel Stroh, Zeichenblock.« Dorian stellte die Reisetasche wieder ab und sah Mike nach, der aus dem Wohnzimmer in Richtung Vordertür ging. Dann begab er sich in den Keller hinunter. Dort raffte er alles zusammen, was ihm Mike aufgezählt hatte, und stieg damit nach oben. Als er ins Freie kam, saß Miss Prelutsky bereits im Wagen. Von den beiden Polizisten war nichts mehr zu sehen. »Sie sagten, sie würden im Mordfall Chamberlain gebraucht, und ich habe sie ziehen lassen«, erklärte Sullivan, der neben dem Wagen stand und die Straße im Auge behielt. Dorian erstarrte. »Wo ist Mike?« Sullivan blickte ihn verblüfft an. »Ich dachte, er sei bei Ihnen im Haus.« Dorian warf die Reisetasche und das Werkzeug in den Kofferraum und setzte sich hinters Lenkrad. Es hatte keinen Sinn, zu Fuß hinter Mike herzulaufen. Mit dem Wagen waren sie schneller. »Nach links kann Mike nicht gelaufen sein«, sagte Miss Prelutsky aus dem Fond des Wagens. »Diese Seite habe ich von meinem Platz aus im Auge gehabt.« Dorian wendete fluchend den Wagen, als die Straße weiter unten eine Explosion erfolgte und aus einem Wagen eine meterhohe Stichflamme schoss. »Es sieht so aus, als würde Mr. Hydes Terror erst richtig beginnen«, stellte Dorian fest.
»Mike hat nichts damit zu tun«, behauptete Miss Prelutsky. »Da vorn rennt er!«, rief Sullivan. Dorian hatte die krumme Gestalt auch schon entdeckt, die geduckt mit wehendem Umhang quer über die Straße lief und sich von dem brennenden Auto entfernte. In der einen Hand hielt sie eine lodernde Fackel, mit der anderen hielt sie den Zylinder fest. »Das ist nicht Mike!«, kreischte Miss Prelutsky. »Er sieht ganz anders aus. Das wissen Sie.«
Mr. Hyde hatte die andere Straßenseite erreicht und machte sich am Benzintank eines geparkten Wagens zu schaffen. Im nächsten Augenblick wurde der Wagen von einer Feuerlohe eingehüllt. Die gekrümmte Gestalt sprang zurück und lachte satanisch. »Sieht aus, als wollte der Verrückte ganz Greenfield einäschern«, sagte Sullivan. Dorian presste die Zähne zusammen, als er sich den brennenden Autos rechts und links von der Straße näherte. Er hielt das Lenkrad fest. Seine Augen waren schmale Schlitze. Benzin war aus den Wagen ausgeflossen. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus. »Da können Sie nicht durch«, beschwor Sullivan den Dämonenkiller. Dorian antwortete nicht. Er trat das Gaspedal durch. Der Rover schnellte nach vorn, auf die Flammen zu. Miss Prelutsky kreischte hysterisch auf, als der Rover für Sekundenbruchteile inmitten des lodernden Feuers war. Im nächsten Moment hatten sie die Flammenwand durchstoßen. Im Rückspiegel stellte Dorian aufatmend fest, dass das Feuer nicht auf ihren Wagen übergegriffen hatte. Er richtete seinen Blick wieder nach vorn. Da tauchte Mr. Hyde auf. Er hatte sich seines Umhanges entledigt, stopfte ihn in den Benzintank eines weiteren Autos und zog ihn wieder heraus, als er mit Benzin getränkt war. Dann entzündete er ihn an seiner Fackel. Den brennenden Umhang wirbelte er durch die Luft und schleuderte ihn über einen niedrigen Gartenzaun vor die Tür des Hauses. Die Flammen griffen schnell auf die Holztür über.
Mr. Hyde rannte weiter. Jetzt entdeckte er den Rover, der sich mit ihm bereits auf gleicher Höhe befand. Er starrte herüber und erkannte Dorian am Steuer. Sein Gesicht verzerrte sich vor Hass, was ihn noch abstoßender erscheinen ließ. Er schwang die Fackel, als wollte er sie nach dem Rover schleudern, doch dann schien er es sich anders überlegt zu haben, kletterte über einen Gartenzaun und überquerte mit langen, grotesk wirkenden Sprüngen das Grundstück. Sullivan hatte die Pistole gezogen und zielte hinter Dorian durchs Fahrerfenster. »Nicht!« Miss Prelutsky legte sich mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers auf seine Schusshand. »Sie könnten Unbeteiligte treffen.« Sullivan sah sie an. »Ist das wirklich Ihre einzige Sorge?«, fragte er. Sie schlug die Augen nieder und verkroch sich auf dem Rücksitz. Dorian riss das Steuer herum, fuhr in eine Querstraße, diese mit Vollgas hinunter, bis er zur nächsten Längsstraße kam. Das wütende Gekläff der Wachhunde verfolgte sie. Hinter den beleuchteten Fenstern der Häuser tauchten die Silhouetten von Frauen und Kindern auf. Männer – oftmals nur im Pyjama – rannten auf die Straße. Manche hielten Schrotflinten in den Händen. Sie versuchten sich gegenseitig und das Bellen der Hunde zu überschreien. Dorian kümmerte sich nicht um sie. Er war nur darauf bedacht, Mr. Hyde nicht aus den Augen zu verlieren. Da tauchte die krumme Gestalt wieder auf. Mr. Hyde wollte gerade über einen Gartenzaun zurück auf die Straße klettern, als ihn ein Hund anfiel. Er versuchte sich das Tier mit der Fackel vom Leibe zu halten und schlug damit auf den Hund ein. Der Hund hetzte als lebende Fackel davon, sprang durch die Luft, wand sich verzweifelt auf dem Boden. Und Mr. Hyde ließ sein teuflisches Lachen hören. Dorian sah ihn mit der erhobenen Fackel über die Straße laufen und steuerte den Rover geradewegs auf ihn zu. Mr. Hyde drehte sich im Laufen um. Sein Affengesicht war eine schreckliche Fratze, als die Scheinwerfer ihn erfassten. Er sah, dass der Rover ihn erreichen würde, noch bevor er auf der anderen Straßenseite war, schlug einen Haken und wollte umkehren. Aber Dori-
an hatte damit gerechnet und steuerte den Wagen in die gleiche Richtung. Mr. Hyde war nur noch fünf Meter entfernt. Er hatte keinen Fluchtweg mehr offen. Als er erkannte, dass er in die Enge getrieben war, duckte er sich plötzlich und sprang auf den Kühler des Rovers. Sullivan hob schützend die Arme vors Gesicht, als er die verwachsene Gestalt über die Kühlerhaube gleiten sah. Dorian bremste, um das Ärgste zu verhindern. Aber da krachte Mr. Hyde bereits gegen die Windschutzscheibe, die mit einem Knall barst. Tausende von Splittern des Verbundglases regneten in das Wageninnere. Mr. Hyde hatte sich so herumgedreht, dass er mit den Beinen voran in den Wagen stieß. Er traf mit einem Schuh Dorian ins Gesicht. Der Dämonenkiller packte den Fuß und drehte ihn herum. Mr. Hyde schrie auf, nicht aus Schmerz, sondern vor Wut. Er wand sich wie eine Schlange und stieß mit der Fackel ins Wageninnere. Dorian ließ Mr. Hydes Bein los, fegte mit dem Ellenbogen die Fackel beiseite und versuchte, den anderen an den Schultern zu packen. Mr. Hyde spuckte und kratzte. Als Dorians Rechte vor seinem Gesicht auftauchte, biss er zu. Dorian war es, als schnappte ein Raubtiergebiss über seiner Hand zu. Er fürchtete, dass Mr. Hyde ihm einfach die Hand abbeißen würde. Doch die Raubtierzähne gruben sich nur kurz in sein Fleisch. Mr. Hyde rutschte auf dem Rücken wieder von der Kühlerhaube. Dorian beugte sich durch die zertrümmerte Windschutzscheibe und erwischte den Flüchtenden an den Haaren. Doch wie er gleich feststellen musste, hielt er nur eine Perücke in den Händen und sah einen haarlosen narbigen Hinterkopf entschwinden. Mr. Hyde drehte sich auf der Flucht noch einmal um. »Das war das letzte Mal, dass Sie mir ungeschoren in die Quere kamen, Hunter«, blubberte er kaum verständlich. Es war sinnlos, die Verfolgung mit dem Wagen fortzusetzen. So sprang Dorian kurz entschlossen aus dem Auto. Mr. Hyde hatte inzwischen einen Feldweg erreicht, der zwischen
zwei Zäunen hindurchführte. »Fahren Sie den Wagen auf die andere Seite und schneiden Sie ihm den Weg ab, Sullivan!«, rief Dorian nach hinten. Noch bevor er den Feldweg erreichte, hörte er das Aufheulen des Motors. Dorian folgte Mr. Hyde auf dem dunklen Weg. Überhängende Äste von Bäumen versperrten ihm die Sicht. Dorian musste sich an die Geräusche halten, die Mr. Hyde beim Laufen machte. Er hörte sein asthmatisches Keuchen und folgte ihm. Plötzlich hatte er das Ende des Weges erreicht. Vor ihm breitete sich der dunkle Wald aus. Er blieb stehen und lauschte, hörte aber nicht mehr das Rascheln des welken Laubes. Er wartete eine Zeit lang, dann nahm er die Verfolgung durch den dunklen Wald auf. Er hatte die stark frequentierte Straße – es war die A 11 – schon fast erreicht, als er nahe der Böschung der Autostraße ein leises Wimmern vernahm. Möglicherweise war Mr. Hyde verwundet und konnte nicht mehr weiter. Dorian holte seine Spezialpistole hervor – sie war mit Silberkugeln geladen – und schlich vorsichtig auf den Wimmernden zu. Er sah einen Kopf ohne Haare. In der Glatze spiegelte sich das Licht der Autoscheinwerfer, so dass auch die Narben deutlich zu erkennen waren. »Mike!«, rief Dorian überrascht. »Wie kommst du hierher?« Mike sah die Pistole in Dorians Hand und verlangte: »Töten Sie mich, Mr. Hunter! Ich möchte, dass dieser Alptraum endlich ein Ende hat.« Dorian steckte die Pistole weg. »Komm auf die Beine, Mike!«, forderte er den hünenhaften Mann mit dem Körper eines Ringers und dem Gemüt eines Kindes auf. »Wir fahren jetzt nach London. Dort kannst du mir alles erzählen.« »Aber da gibt's nichts zu erzählen«, erwiderte Mike. Er ließ sich widerstandslos auf die Beine helfen und die Böschung zur Straße hinaufführen. »Sie haben alles miterlebt.« Sie standen etwa eine Viertelstunde schweigend am Straßenrand, bis der Rover auftauchte. Sullivan bremste. Dorian gab ihm durch
einen Wink zu verstehen, dass er den Platz hinter dem Lenkrad beibehalten sollte. Er selbst nahm auf dem Beifahrersitz Platz. »Mike!«, rief Miss Prelutsky erleichtert aus, als ihr Neffe zu ihr in den Fond stieg. Sullivan drehte sich herum und betrachtete Mike im Licht der Innenbeleuchtung kritisch. »Woher stammen die Brandwunden?«, erkundigte er sich. Mike blickte auf seine wunden, zerschundenen Hände herab und sah dann Sullivan in die Augen. »Das wissen Sie doch«, sagte er. »Wenn Sie nicht dazwischen gekommen wären, hätte das Böse in mir mich wahrscheinlich dazu getrieben, ganz Greenfield anzuzünden.« Sullivan fuhr an. »Sage so etwas nicht!«, beschwor Miss Prelutsky ihren Neffen. »Du weißt nicht, was du redest. Von jetzt an wirst du schweigen. Kein Wort mehr, verstanden, Mike?« »Ja, Tante.« Von diesem Augenblick an fiel kein Wort mehr zwischen ihnen, bis sie Dorians Reihenhaus in der Abraham Road erreicht hatten. Miss Prelutsky, das Fotoalbum fest unter den Arm geklemmt, führte Mike ins Haus. Dorian brachte die Reisetasche und Mikes Hobbywerkzeug nach. Er zeigte Miss Prelutsky das Haus und überließ ihr und Mike das Schlafzimmer mit dem Ehebett, das er einst mit seiner Frau Lilian geteilt hatte. Er selbst begnügte sich mit dem Gästezimmer. »Ich werde zumindest diese Nacht hier bleiben«, erklärte er Mikes Tante. Sie war damit einverstanden. Dorian überließ Sullivan den Wagen, damit er in die Jugendstilvilla zurückkehren konnte. »Wenn sich Fred aus Schottland meldet, dann verständigen Sie mich sofort, egal wie spät es ist«, trug er dem Chef der Mystery Press auf. »Na hoffentlich ist das nicht vor Mittag, damit ich endlich ein paar Stunden Schlaf bekomme«, meinte Sullivan und fuhr los.
Im Osten war der wolkenverhangene Himmel bereits hell. Was für eine turbulente Nacht, dachte Dorian und kehrte ins Haus zurück. »Mike schläft schon«, empfing ihn Miss Prelutsky triumphierend. »Ich hatte gar nicht vor, ihn auszufragen«, sagte Dorian müde und goss sich einen Bourbon ein. »Was ich wissen will, können Sie mir wahrscheinlich viel eher sagen.« »Haben Sie noch nicht genug Material für Ihre Story?«, fragte sie spitz. »Was heute Nacht passiert ist, müsste doch reichen, um Mike endgültig fertig zu machen.« »Sie schätzen mich völlig falsch ein«, erwiderte Dorian. »Ich will Mike doch nur helfen. Das müssen Sie mir glauben, Miss Prelutsky. Und was die Mystery Press anbelangt – das ist keine gewöhnliche Presseagentur.« Mikes Tante verzog verächtlich den Mund. »Gute Nacht, Mr. Hunter!«, sagte sie und verschwand nach oben. Dorian suchte im Wohnzimmer und der Bibliothek nach dem Fotoalbum, konnte es aber nirgends finden. Er hätte es sich denken können, dass Miss Prelutsky das Album wahrscheinlich unter ihrem Kopfkissen versteckte, damit es ihm nicht in die Hände fiel. Warum lag ihr so viel daran, es vor ihm zu verbergen?
»Ich weiß nicht«, sagte der bullige Schwarze mit der schiefen Nase zweifelnd, »ob es klug war, diesen Auftrag anzunehmen.« Der kleine Kerl auf dem Beifahrersitz, der sich die Fingernägel mit der Klinge eines Springmessers reinigte, kicherte. »Jedenfalls zahlt unser Auftraggeber gut, Slim«, meinte er. »Und was wir zu tun haben, ist wirklich ganz einfach. Es kann gar nichts schief gehen. Wir sind vier gegen einen.« Die Hände des Schwarzen, die mit Windrosen tätowiert waren, hielten das Lenkrad fest, dann wieder trommelte er mit den Fingern ungeduldig gegen die Lenkradspeichen. »Mir wäre wohler, wenn wir alles schon hinter uns hätten«, sagte er.
Der gestohlene Bentley glitt langsam durch die menschenleeren Straßen des Wohnviertels. »Da ist die Abraham Road«, sagte einer der beiden Männer auf dem Rücksitz. Er hatte einen Totschläger zwischen die Schenkel geklemmt. »Schon gesehen«, meinte der Schwarze, den sie Slim nannten. »Wie spät ist es, Ernie?« Der Kleine auf dem Beifahrersitz blickte auf die Uhr. »Zehn vor sechs.« »Dann haben wir noch fünf Minuten Zeit«, stellte der zweite Mann auf dem Rücksitz fest. »Unser Opfer bekommt den Anruf erst in zwei Minuten. Wenn wir eine Minute für das Gespräch rechnen, eine weitere dafür, bis er seinen Mini aus der Garage geholt hat, dann können wir ihn noch eine Minute später am Gartentor schnappen. Halte besser den Wagen gleich hier an, Slim, damit wir den Zeitplan einhalten können!« »Zeitplan, Zeitplan!«, schimpfte der Schwarze, parkte den Wagen aber am Straßenrand. »Und was ist, wenn er gar nicht auf den Anruf reagiert?« »Mr. Hyde hat gesagt, er wird kommen«, erklärte der Mann auf dem Beifahrersitz. »Und er muss es ja wissen.« »Mir kommt unser Auftraggeber nicht ganz geheuer vor«, sagte der Schwarze und machte ein unglückliches Gesicht. »Na, was hast du denn erwartet?«, fragte einer der beiden Männer im Fond. »Dass uns ein Gentleman den Auftrag gibt, jemanden zu kidnappen?« »Ich frage mich nur, was er mit dem Mann vorhat. Was, wenn er ihn killt?« »Das soll unsere Sorge nicht sein«, sagte der Mann mit dem Totschläger, der hinter ihm saß. »Wir führen unseren Auftrag aus und kassieren. Alles andere ist mir schnuppe.« »Es wird Zeit«, sagte Ernie auf dem Beifahrersitz. »Fahr los, Slim!« Der Bentley fuhr in die Straßenmitte und langsam die Abraham Road hinunter. »Ich sehe das Haus. Jemand öffnet gerade die Gartentür«, sagte
Slim mit belegter Stimme. »Langsamer fahren, Slim! Langsamer!«, ermahnte der Mann mit dem Totschläger. Mit der freien Hand griff er nach der Klinke. Der Bentley erreichte das Gartentor, als ihr Opfer es gerade in großer Eile öffnete, um den Mini Cooper auf die Straße fahren zu können. Es handelte sich um niemand anderen als Dorian Hunter. Er hatte soeben von einem Unbekannten, der angedroht hatte, Miss Pickford das Gesicht zu zerschneiden, einen Anruf erhalten. Das sollte in einem Supermarkt geschehen, in dem Miss Pickford gerade einkaufen war. Dorian ließ Mike und seine Tante nicht gern allein, aber wenn er das Attentat auf Miss Pickford verhindern wollte, musste er schnell handeln. Der Unbekannte, der in Mr. Hydes Auftrag anrief, wie er sagte, gab ihm nur eine Viertelstunde. Zum Glück stand Cocos Mini Cooper in der Garage des Reihenhauses. Dorian öffnete das Gartentor. Er hatte dem schwarzen Bentley auf der Straße keine Beachtung geschenkt. Plötzlich jedoch sah er drei Männer heraus springen, die auf ihn zustürzten. Dorian konnte den ersten Angreifer, der mit einem Springmesser auf ihn losging, mit einem Tritt in den Unterleib abwehren. Doch dann erhielt er mit einem Totschläger einen Hieb gegen die linke Schulter. Der Schlag war so wuchtig, dass der Schmerz seine eine Körperhälfte völlig lähmte. Er war praktisch wehrlos und musste die weiteren Schläge widerstandslos einstecken. Er merkte noch, wie ihn zwei der Männer zum Bentley schleppten und hineinstießen, dann verlor er das Bewusstsein. Er bekam nicht mehr mit, dass der Wagen eine halbe Stunde später auf ein verwahrlostes Grundstück mit einem verfallenen Haus einbog und wie ihn die vier Männer in den Keller der Ruine brachten. Der äußere Schein des Gebäudes trog übrigens. Innen waren einige Räume recht wohnlich und komfortabel eingerichtet. Die Kellerräume waren zwar nicht zum Wohnen gedacht, dafür waren sie aber mit einer Spezialeinrichtung ausgestattet. Es handelte sich um Mr. Hydes Folterkammer. Dorian trieb durch einen undurchdringlichen Nebel, in dem stän-
dig Leuchtfeuer aufblitzten. Von ferne drangen fremde hohl klingende Stimmen an seine Ohren. »Ihr habt gute Arbeit geleistet. Wirklich gute Arbeit.« »Das freut uns zu hören, Sir.« »Lob dem, dem Lob gebührt. Legt ihn hier herauf!« »Da rauf, Sir?« »Na, los! Oder soll ich euch erst Beine machen?« »Schon gut. Wir tun's ja.« »Mit dem Kopf in Richtung Kurbel. Und jetzt macht seinen Oberkörper frei.« »Jawohl, Sir.« Die Stimme klang eingeschüchtert. Die andere, die die Befehle erteilte, hörte sich wie die eines gereizten Tieres an. Ein Wutschrei. »Nehmt ihm den Anhänger weg! Er gehört euch.« »Was für ein seltsamer Anhänger!« Eine gnostische Gemme, wollte Dorian sagen, aber er hatte noch nicht die Kraft zum Sprechen. Er versuchte die Augen zu öffnen, aber auch das gelang ihm nicht. »Können wir jetzt unsere Moneten kriegen und gehen, Sir?« Das fragte eine der schüchternen Stimmen. »Das könnte euch so passen. Ihr bleibt hier. Los, legt diesem Hund die eisenbespickten Walzen unter! Eine ins Genick, die andere unter den Rücken! So ist's recht. Und jetzt kettet seine Füße an!« »Was – was haben Sie vor, Sir?« »Ihr werdet es sehen.« »Aber es war abgemacht …« Ein pfeifendes Geräusch, als wenn ein Riemen die Luft zerschneiden würde, dann ein Schmerzensschrei. »Will noch jemand aufbegehren?«, fragte die animalische Stimme. »Also verstehen wir uns jetzt? Dann bindet ihm die Hände an dem Seil fest, das auf der Winde aufgewickelt ist! Und strafft das Seil! Du, Nigger, gehst an die Kurbel!« Langsam kehrte das Gefühl in Dorians Körper zurück. Er spürte ein schweres Gewicht an seinen Beinen. In seinen Armen
war ein Zug. Irgendetwas drückte schmerzhaft in sein Genick und seinen Rücken. »Nigger, dreh an der Kurbel! Fester! Und wenn du Widerstand spürst – dreh ruhig weiter!« In Dorian explodierte etwas. Er fühlte sich plötzlich wie ein Kaugummi in die Länge gezogen. Etwas schnitt in sein Handgelenk und zog daran, als wollte man ihm die Arme ausreißen. Er schrie. »Ha, Hunter kommt zu sich! Stopp!« Das Ziehen in seinen Armen hörte auf, aber der Schmerz blieb. Er versuchte die Augen zu öffnen. Diesmal gelang es. Der Nebel löste sich auf. Ein verschwommenes Oval löste sich heraus, nahm immer klarere Formen an, wurde zu einem Gesicht; zu dem affenartigen Gesicht von Mr. Hyde. Er hatte sich mit den Armen aufgestützt und beugte sich über Dorian. »Na, Hunter, habe ich Ihnen zu viel versprochen?«, fragte er mit seiner gutturalen Stimme. »Jetzt werde ich mein Versprechen einlösen. Und ich bin auch zu einigen Draufgaben bereit. Sie werden sterben, aber langsam, sehr langsam. Raten Sie mal, wo Sie sind!« Mr. Hyde wich zurück und gab die Umgebung Dorians Blicken frei. Er sah über sich eine Decke aus feuchten Steinquadern. Dort hing an einem Flaschenzug eine Kette mit Schellen. Er wandte den Kopf und entdeckte an den Wänden Fackeln in eisernen Haltern. Aber die Wände hatten noch mehr Schauobjekte anzubieten, die sicherlich nicht nur der Zierde dienten. Aus der Sitzfläche und der Rückenlehne eines klobigen Stuhles ragten Eisendornen. Daneben stand ein aufgeklapptes Fass, einer eisernen Jungfrau nicht unähnlich; die Eisenspitzen im Innern des Fasses schienen Dorian böse anzufunkeln. Dorian wurde fast schwindelig von den vielen Fangeisen, den Ketten und Schellen, die an den Wänden hingen. So viele Folterinstrumente hatte er auf einem Haufen noch nie gesehen. Nicht einmal die Folterkammern der spanischen Inquisition hatten eine so komplette Sammlung von Marterinstrumenten aufzuweisen gehabt.
Zu seinen Füßen entdeckte Dorian jetzt drei Männer, in denen er seine Entführer wiedererkannte. Ihre Gesichter drückten deutlich aus, dass sie nicht gewusst hatten, worauf sie sich da einließen, als sie Mr. Hydes Auftrag annahmen. Links von ihm stand der Schwarze, der den Bentley gesteuert hatte. Seine tätowierten Hände umfassten eine Kurbel, die zu dem Gestell führte, auf dem Dorian lag. Es war ein Streckbett, wie es Dorian aus seinen früheren Leben nur zu gut kannte. Seine Füße waren an im Boden verankerten Ketten gefesselt, die Hände an ein Seil, das über eine Winde lief. Wenn man an der Kurbel drehte, dann wickelte sich die Schnur auf, und der Delinquent wurde an den Armen in die Länge gezogen, bis Sehnen und Muskeln rissen, die Glieder aus ihren Gelenken sprangen. »Nigger, tue was für dein Geld!«, befahl Mr. Hyde. Dorian begegnete dem Blick des Schwarzen, der sich sofort abwandte. Seine Lippen zitterten. »Ich – ich kann es nicht«, sagte er. »Wirklich nicht?« Mr. Hyde sprang blitzschnell hinter ihn und schlug ihm von unten seinen Stock zwischen die Beine. Das Gesicht des Schwarzen verzerrte sich vor Schmerz. Er krümmte sich, gab aber keinen Laut von sich. »An die Kurbel!« Und der eingeschüchterte Mann begann zu drehen. Dorian spürte den Zug in den Armen. Er versuchte sich zu strecken, aber das half nichts. Er hörte es in seinen Gelenken knacken, die Haut über seinem Brustkorb spannte sich. Dorian schrie wieder. »Genug!«, erscholl Mr. Hydes Stimme. Er beugte sich wieder über Dorian. »In dieser Lage sollen Sie eine Weile bleiben, Hunter. Es wird nicht mehr lange dauern, bis das Eisen glühend geworden ist und wir zur nächsten Behandlungsphase übergehen können.« Mr. Hyde wandte sich an die drei Männer zu Dorians Füßen. »Bringt den Dreifuß mit der Glut!« Die drei Männer gehorchten. Sie mussten alle anpacken, um das schwere Gestell mit den glühenden Kohlen tragen zu können. Sie stellten es rechts von Dorian ab, so dass dieser die beiden Reißzan-
gen sehen konnte, die in der Glut erhitzt wurden. »Der Job scheint euch nicht zu gefallen«, sprach Dorian sie an. »Wieso lehnt ihr euch nicht einfach gegen diesen Irren auf? Ihr seid vier gegen einen.« Die Männer sahen betreten zu Boden und sprangen entsetzt bis an die Wand zurück, als Mr. Hyde den Stock hob. Mr. Hyde lachte schallend und ließ dann den Knauf des Stockes scheinbar spielerisch auf Dorians Brustkorb niedersausen. Dorian wurde es vor Schmerz schwarz vor den Augen. »Es gelingt Ihnen nicht, diese Schlappschwänze gegen mich aufzuhetzen, Hunter«, rief Mr. Hyde. »Dazu fürchten sie mich zu sehr. Und nicht ohne Grund. Wenn diese Feiglinge auch Mitleid mit Ihnen haben, so werden es letztlich doch sie sein, die Sie töten.« Mr. Hyde wandte sich dem Dreifuß zu, hob eine der Reißzangen hoch und betrachtete sie prüfend. Die Spitzen glühten bereits dunkelrot. »Es dauert noch ein wenig«, sagte er mit Kennermiene. Dorian wandte den Kopf auf die andere Seite und blickte hinter sich so gut es ging. Das Streckbett stand dicht an der Wand, an der nur ein großes, prunkvolles Wappen hing: Ein Löwe mit dem Kopf von Mr. Hyde, der von magischen Symbolen umgeben war. Das Marbuel-Wappen. Dorian drehte den Kopf wieder in Richtung des Scheusals. »Warum nennen Sie sich eigentlich Mr. Hyde, Lord Marbuel? Doch bestimmt nur, weil Sie Ihre Morde Mike in die Schuhe schieben wollen.« »Ah, Sie kennen das Marbuel-Wappen, Hunter!«, rief Mr. Hyde und legte die Zange in die Glut zurück. »Woher denn?« »Ich weiß noch einiges mehr«, erwiderte Dorian. »Ihre Stunde hat bald geschlagen. Zwei meiner Mitarbeiter sind bereits in Rannochmore und führen Nachforschungen durch. Schon ihre ersten Berichte waren aufschlussreich, und ich bin sicher, dass sie herausfinden werden, was Ihre Achillesferse ist. Ich bin fast überzeugt davon, dass Mike Hyde es ist, den Sie zu fürchten haben. Deshalb versuchen Sie, ihn durch Tücke und Hinterlist auszuschalten. Aber wir
werden Ihnen einen Strich durch die Rechnung machen, Lord Marbuel.« Der Mann mit dem Affengesicht lachte nur. »Ihren Worten entnehme ich, dass Sie überhaupt nichts wissen, Hunter«, sagte er, während er die zweite Reißzange aus der Glut holte. Er nickte zufrieden, als er feststellte, dass die Spitzen fast weiß glühend waren, ließ sie aufklappen und blickte zwischen den Zangenschenkeln auf Dorian herab. In seinen Augen begann es dämonisch zu leuchten, und er bleckte seine hässlichen, schwärzlich verfärbten Zähne. »Seien Sie gewiss, dass Ihre Freunde nichts erfahren können, was Ihnen noch hilft«, fuhr er fort. »Denn Sie werden sterben. Aber Sie sollen nicht ganz unwissend von dieser Welt gehen. Sie sollen wenigstens erfahren, wer Sie ins Jenseits geschickt hat. Zuerst einmal nehmen Sie zur Kenntnis, dass ich nicht Lord Marbuel bin.« Mr. Hyde senkte die Zange langsam auf Dorians Brust. Der Dämonenkiller spürte bereits die Hitze des glühenden Eisens auf seiner Haut. Verzweifelt zerrte er an seinen Fesseln. »Wer sind Sie dann?«, fragte Dorian, um Zeit zu gewinnen. »Zweifeln Sie denn an der Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde-Theorie?«, fragte Mr. Hyde erstaunt zurück. Er hob die Zange wieder und hielt sie einen halben Meter über Dorians Gesicht. »Allerdings«, erwiderte Dorian. »Ich halte Mike nach wie vor für unschuldig. Sie wollen mich nur glauben machen, dass Sie sein böses Ich, die andere Hälfte seiner gespaltenen Persönlichkeit sind.« »Aber es stimmt, dass Mike und ich untrennbar miteinander verbunden sind.« Mr. Hyde ließ die Zange über Dorian auf und zu schnappen und weidete sich sichtlich an seiner Angst. Ja, der Dämonenkiller empfand in diesem Moment Todesangst. Er wusste, dass er diesem Scheusal ausgeliefert war und es keine Rettung für ihn gab. Von den vier Ganoven durfte er sich keine Hilfe erwarten; die würden alles tun, was Mr. Hyde von ihnen verlangte, nur um ihr eigenes Leben zu retten.
»Lord Marbuel war mein Förderer und Lehrmeister«, erzählte Mr. Hyde weiter. »Er nahm mich bei sich auf und ließ mich offiziell für tot erklären. Er verbarg mich auf seinem Schloss und weihte mich in die Kunst der schwarzen Magie ein. Er war das gemeinste, böseste und niederträchtigste Wesen, das Sie sich vorstellen können. Ich glaube gar nicht, dass er ein schwarzblütiger Dämon war, aber was Grausamkeit und Bösartigkeit anbelangt, konnte er es mit jedem Dämon aufnehmen. Und er war mir ein guter Lehrmeister. Ich übernahm alle seine Eigenschaften, beherrschte die Philosophie des Bösen bald besser als er – ja, ich hatte mich ihm bald so angeglichen, dass ich mich auch im Aussehen nicht von ihm unterschied. Da sah ich meine Stunde gekommen. Ich wollte meinen Lehrmeister übertreffen. Und das konnte ich nur, wenn ich ihn tötete. Dankbarkeit, Mr. Hunter, gibt es für einen Philosophen des Bösen nicht. Und Lord Marbuel erwartete sie auch nicht von mir. Er wusste nur nicht, dass ich schon so weit war, um es selbst mit ihm aufnehmen zu können. Es war kein Kinderspiel, ihn zu töten, aber ich schaffte es. Und seit diesem Tag habe ich seine Stelle eingenommen. So gesehen stimmt es, wenn Sie behaupten, ich sei Lord Marbuel. Aber diese Rolle spiele ich nur. Ich habe mir meine eigene Persönlichkeit bewahrt. Und die könnte ich nicht einmal verleugnen, selbst wenn ich es wollte. Mike und ich sind eins, Mr. Hunter, auch wenn Sie es nicht wahrhaben wollen. Die Bande, die uns verbinden, können nicht einmal durch schwarze Magie durchtrennt werden.« Mr. Hyde straffte sich, packte die Reißzange fester. »Genug geredet. Jetzt wollen wir handeln. Das Eisen wird sonst kalt.« Er öffnete die Schenkel der Zange und ließ sie spielerisch auf- und zuschnappen, während er sie Dorians Gesicht näherte. »Wo wollen wir sie denn zuerst ansetzen, Hunter?« Dorian merkte ihm an, dass er entschlossen war, die Tortur nicht länger mehr aufzuschieben. Die glühenden Enden der Zange waren nur noch eine Handspanne von Dorians Gesicht entfernt. »Die Augen!«, rief Mr. Hyde fast schwärmerisch. »Diese grünlichen Kleinode haben mir zu viel gesehen. Ich werde sie
ausbrennen!« Dorian wandte den Kopf zur Seite, um der glühenden Zange auszuweichen, aber sie näherte sich ihm unerbittlich. Er warf den Kopf auf die andere Seite herum, spürte, wie der Gluthauch über sein Gesicht strich. Die Hitze war bereits so groß, dass sie seine Brauen und Wimpern versengt haben musste. Mr. Hydes Gesicht verschwamm im Hintergrund. Dorian sah nur die beiden glühenden Greifer der Zange, die sich seinen Augen näherten. In diesem Augenblick der höchsten Not fand irgendwo in Dorians Gehirn eine emotionelle Explosion statt. Es war, als käme es zu einem psychischen Kurzschluss. In Dorians Geist brandete ein Schrei auf. War er es, der so markerschütternd schrie? War er eines so animalischen, unmenschlichen Lautes überhaupt fähig? Sein Blick klärte sich. Er sah, wie die glühende Zange wie in Zeitlupe durch die Luft schwebte, anscheinend lautlos gegen eine Wand prallte. Mr. Hyde bäumte sich auf. Seine Hände fuhren wie Halt suchend in die Höhe. Die hässliche Fratze verzerrte sich, der Mund war weit aufgerissen. Aus den Augen war alles Böse verschwunden; nur noch namenloses Entsetzen spiegelte sich in ihnen. Und die Augen starrten auf Dorian herunter. War er die Ursache von Mr. Hydes Schreckreaktion? Dorian konnte keinen klaren Gedanken fassen; zu sehr stand er noch unter dem Eindruck der drohenden Folterqualen. Seine eigene Panik war noch nicht abgeklungen, aber sie schien auf Mr. Hyde übergegriffen zu haben, der nun die Arme wie geblendet vor die Augen hob. Und jetzt erkannte Dorian, dass Mr. Hyde es war, der schrie. Dorian warf den Kopf herum. Der Schwarze, der an der Kurbel gestanden hatte, war bis an die Wand zurückgewichen. Seine Lippen bewegten sich murmelnd. Er bekreuzigte sich. Betet er? Auch er starrte voller Entsetzen auf Dorian. Dann drehte er sich abrupt um und stürzte davon. Mr. Hyde hatte sich angewidert von Dorian abgewandt. Als er
sah, dass seine Helfer die Gelegenheit zur Flucht benutzten, überwand er seinen eigenen Schrecken und begann sich wie ein Rasender zu gebärden. »Zurück, ihr feige Bande!«, kreischte er. »Wenn ihr nicht auf der Stelle kehrtmacht, schlage ich euch die Schädel ein!« Die Schritte entfernten sich. Die geifernde, wütende Stimme verlor sich irgendwo im Keller. Dorian zitterte immer noch vor Erregung am ganzen Leib. Der Angstschweiß an seinem Körper erkaltete, ließ ihn frösteln; nur sein Gesicht war immer noch heiß, als würde es glühen. Er wusste, woher das kam, wusste, was Mr. Hyde so in Entsetzen versetzt hatte. Es war die Gesichtstätowierung, die die Jünger einer Teufelssekte aus Istanbul von dem Dämon Srasham auf ihn übertragen hatten. Mit der Vernichtung des Dämons war auch die Tätowierung verschwunden, doch es hatte sich gezeigt, dass sie stets wie ein Stigma in Dorians Gesicht zu glühen begann, wenn er sich in einer scheinbar ausweglosen Stresssituation befand. Er konnte das Erscheinen der Tätowierung nicht wissentlich steuern; es war ein unkontrollierbarer Vorgang. Wenn er Hassgefühle entwickelte, seine Nebenniere übermäßig Adrenalin produzierte – dann wurde die Tätowierung in seinem Gesicht sichtbar. Das Gleiche passierte, wenn er Todesangst empfand – so wie eben. Schritte näherten sich. Das konnte nur bedeuten, dass Mr. Hyde die Verfolgung der Ganoven aufgegeben hatte und zurückkam, um da fortzufahren, wo er unterbrochen worden war. Eine geduckte Gestalt kam in das Gewölbe geschlichen. »Mr. Hunter!« Es klang wie ein Seufzer der Erleichterung. Mikes Gesicht tauchte über Dorians auf. Seine Augen betrachteten interessiert Dorians Tätowierung. Er zeigte keine Angst, kein Entsetzen, war nur leicht verwundert. »Ich werde Sie von den Fesseln befreien«, sagte Mike, während er die Kurbel des Streckbettes zurückdrehte. Dorian empfand es als unsägliche Erleichterung, als die Spannung nachließ. Gleichzeitig spürte er, wie sein Gesicht sich abkühlte, und er wusste, dass die Tätowierung wieder verblasste.
»Ich bin so froh, Mr. Hunter, dass ich die Triebe meines bösen Ichs unterdrücken konnte und Sie nicht getötet habe«, sagte Mike, während er Dorian von dem Strick und den Fußschellen befreite. »So froh! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie.« »Damit hast du dir aber Mr. Hyde zum Feind gemacht«, sagte Dorian und massierte sich die Hand- und Fußgelenke. Arme und Beine waren wie gelähmt; der Brustkorb schmerzte, aber es schienen keine Muskeln und Sehnen gerissen zu sein. »Mr. Hyde war schon immer der Feind in mir«, erklärte Mike. »Aber ich glaube, jetzt habe ich ihn endgültig überwunden.« »Kein Selbstvernichtungsdrang mehr?«, erkundigte sich Dorian. »Schnell! Wir müssen weg, bevor es mich wieder überkommt!«, drängte Mike. Beim Verlassen des Gewölbes sagte er: »Vielleicht ist es mir jetzt möglich, Mr. Hyde zu vernichten.«
Dorian Hunter hatte Mike und seine Tante in die Jugendstilvilla gebracht. Als er ihre Habe ins Haus schleppte, stellte er fest, dass etwas fehlte. »Wo haben Sie denn Ihr Fotoalbum?«, fragte er Mikes Tante. »Ich habe es verbrannt«, antwortete sie kurz angebunden. »Schade. Diese Mühe hätten Sie sich ersparen können«, sagte Dorian bedauernd. Miss Prelutsky fragte nicht, was er damit meinte, obwohl sie sich sicher ihre Gedanken machte. Sie war Dorian gegenüber immer noch so ablehnend wie am Anfang, wenngleich sie seine Hilfe nicht ausschlug. Er fragte sich, ob es nur ihr Stolz war, der ihr verbot, sich ihm anzuvertrauen, oder ob sie ihm immer noch misstraute. Eigentlich hätte sie längst erkennen müssen, dass er es nur gut mit Mike meinte. Miss Prelutsky schloss sich den ganzen Tag über mit Mike in dem ihnen zugeteilten Gästezimmer ein; sie ließen sich nicht einmal zum Lunch blicken. Es war schließlich Miss Pickford, die sie dazu bewegen konnte, zum Dinner zu erscheinen.
Dorian hatte inzwischen seine Vorbereitungen getroffen und auch Zeit gehabt, sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Er fand keinen Fehler in seinem Plan. Er setzte das Dinner für achtzehn Uhr an, was einige Proteste Miss Pickfords hervorrief. Nach dem Dinner führte Dorian Miss Prelutsky in den Keller. »Ich finde, Sie sollten einmal einen Einblick in die Arbeitsweise der Mystery Press bekommen«, erklärte er. »Dann werden Sie sehen, dass wir alles andere als Sensationsreporter sind.« Den Hermaphroditen sperrte Dorian aus, weil er befürchtete, dass Phillip, ohne es zu wissen und zu wollen, seinen ganzen Plan über den Haufen werfen könnte. Gegen Miss Pickfords Anwesenheit hatte er dagegen nichts, denn ihm war aufgefallen, dass Mikes Tante zu ihr Zutrauen gefasst hatte. »Miss Prelutsky«, lenkte Dorian sofort das Gespräch auf das eigentliche Thema, »wollen Sie nicht endlich mit der Geheimnistuerei aufhören und uns alles sagen? Es ist zwar fast zu spät dazu, aber vielleicht können wir von Ihnen Einzelheiten erfahren, die wir noch nicht wissen.« »Was wissen Sie?«, fragte sie argwöhnisch. »Nun, so ziemlich alles Interessante – von Mikes Geburt an bis hin zum Tod seiner Eltern«, antwortete Dorian. »Sie lügen!« »Glauben Sie wirklich, dass es so schwer war, dieses Geheimnis zu ergründen?«, fragte Dorian. »Jeder mittelmäßige Detektiv hätte sich die gewünschten Informationen beschaffen können. Es war nur eine Frage der Zeit. Sie hätten uns eine Menge Mühe ersparen können, Miss Prelutsky, wenn Sie sich uns sofort anvertraut hätten.« »Ich werde auch jetzt schweigen«, beharrte sie. »Sie bluffen doch nur, um mich zum Sprechen zu bringen. Aber ich sage nichts.« »Vielleicht wissen wir sogar mehr als Sie«, sagte Dorian. »Denn wir betrachteten die Dinge von einer ganz anderen Seite. Für uns steht zum Beispiel Lord Marbuel im Mittelpunkt – während Sie nur auf Mikes Wohlergehen bedacht sind. Manchmal kamen mir da allerdings Zweifel …«
»Was wollen Sie damit sagen?« Dorian hob beschwichtigend die Hände. »Ich wollte nur sagen, dass Sie Mike mehr geholfen hätten, wenn Sie uns sofort reinen Wein eingeschenkt hätten. Aber lassen wir das, kommen wir zu den Fakten. Mr. Sullivan, würden Sie bitte kurz umreißen, was unser Mann in Schottland zu berichten hat?« Miss Prelutsky blickte nervös zu Trevor Sullivan, der an seinem Arbeitstisch saß und vor sich einige Unterlagen liegen hatte. »Ja«, sagte er. »Wir haben einen Detektiv nach Rannochmore geschickt. Obwohl alle amtlichen Unterlagen – vermutlich von Lord Marbuel – vernichtet wurden, hat Mr. Archer genug Informationen sammeln können. Es erübrigt sich wohl, bis zum Tag der Emigration Ihrer Familie zurückzugreifen. Es soll auch nur der Vollständigkeit wegen erwähnt werden, dass Ihre Schwester in Rannochmore geheiratet hat. Beginnen wir mit der Geburt der McDougall-Zwillinge, die Ihre Schwester vor ungefähr zwanzig Jahren zur Welt brachte. Edward und Michael. Es muss ein Schock für die Eltern gewesen sein zu erfahren, dass sie siamesische Zwillinge bekommen hatten, die an den Köpfen zusammengewachsen waren. Ihr Bild ging damals durch die Weltpresse. Wir konnten eines davon aus einem Zeitungsarchiv beschaffen.« Sullivan reichte Miss Prelutsky das Zeitungsfoto über den Tisch. Sie nahm es mit zittrigen Fingern an sich, blickte jedoch nicht drauf. »Jetzt wissen Sie, warum es nicht nötig gewesen wäre, das Fotoalbum zu vernichten«, sagte Dorian. »Als ich das Foto, das aus dem Album gerutscht war, sah, wusste ich sofort, dass Mikes Kahlköpfigkeit und seine Schädelnarben damit im Zusammenhang standen. Sind das nicht Operationsnarben, Miss Prelutsky?« Die Frau presste die Lippen zusammen und schwieg weiterhin. Aus ihrem Gesicht war alle Farbe gewichen. »Sie brauchen nichts zu sagen«, ergriff Sullivan wieder das Wort. »Unser Mann in Schottland hat den Arzt ausfindig gemacht, der die Operation durchführte. Er hat mit ihm gesprochen. Sie unterhielten sich aber weniger über die Operation an sich, sondern mehr über die
Hintergründe. Dabei stellte sich heraus, dass Lord Marbuel an die Eltern der McDougall-Zwillinge mit dem Vorschlag herangetreten war, sie operativ trennen zu lassen. Eine solche Operation war zwar nicht ungefährlich, aber auch nicht undurchführbar. Das bewies das Beispiel der Hornberger Zwillinge, die im Jahre 1956 operativ getrennt wurden. Rosemarie Knaack überlebte die Operation, aber Lotti starb leider.« »Edward überlebte die Operation auch nur wenige Tage«, fiel ihm Miss Prelutsky ins Wort. »Nur Mike hier überlebte. Aber – Sie sehen ja selbst, welches Los ihm beschieden ist.« Ihre Stimme erstickte in Tränen. Dorian war dennoch erleichtert, dass diese Frau endlich aus sich herausging. Es musste eine ungeheure Belastung für sie gewesen sein, mit niemandem über die Dinge sprechen zu können, die sie bewegten, ängstlich zu schweigen, nur damit Mikes Schicksal nicht in der Öffentlichkeit breitgetreten und von den Massenmedien ausgeschlachtet wurde. Jetzt wurde es auch verständlich, warum sie Mike einen falschen Namen gegeben hatte, und warum seine Vergangenheit nicht aufgerollt wurde, als er in Untersuchungshaft saß. Es waren Tränen der Erleichterung, die Mikes Tante vergoss, Erleichterung darüber, dass sie sich nun alles von der Seele reden konnte. Und sie tat es. »Mike hatte nach dem furchtbaren Tod seiner Eltern niemanden mehr außer mir. Das Tragische am Tod von Tanja und ihrem Mann war, dass sie den Unfall auf der Fahrt zu Edwards Begräbnis hatten. Ich entschloss mich spontan, Mikes Vormundschaft zu übernehmen. Ich wollte ihm die Mutter ersetzen. Und dann eröffnete mir der Arzt bei Mikes Entlassung aus dem Krankenhaus, dass er wahrscheinlich nie ganz normal werden würde. Ich nahm ihn trotzdem bei mir auf. Aber ich wollte verhindern, dass er ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit gezerrt wurde. Deshalb zog ich mit ihm fort und ließ ihn einen anderen Namen annehmen. Nun, dass wir in keinem Ort lange in Ruhe gelassen wurden, wissen Sie ja.« »Etwas anderes«, sagte Dorian nach einer Weile, um Miss Prelutsky Zeit zu geben, sich zu sammeln. »Sie wussten, dass Lord Marbuel die Operation der siamesischen Zwillinge organisierte und finan-
zierte. Außerdem hat er auch die Begräbniskosten für Edward und Mikes Eltern übernommen und alle Formalitäten erledigt.« »Wir haben Lord Marbuel viel zu verdanken«, sagte Mikes Tante. »Ist Ihnen nie der Verdacht gekommen, Lord Marbuel könnte das aus eigennützigen Motiven getan haben?«, fragte Dorian. »Ja, dass er am Tod von Mikes Eltern mitschuldig war, dass er sie vielleicht getötet hat? Unser Mitarbeiter hat in Rannochmore das Gerücht gehört, die Körper von Mikes Eltern hätten Stichverletzungen gehabt, die auf einen Ritualmord hinwiesen. Darauf deutet auch Mikes Alptraum hin. Und schließlich – haben Sie nie in Erwägung gezogen, dass Edward vielleicht gar nicht tot ist?« »Nein! Nein! Nein!« Miss Prelutsky schrie es. Sie schüttelte unablässig den Kopf und schlug mit den Armen um sich, als wollte sie irgendetwas abwehren. »Das ist nicht wahr! Alles Lüge! Lord Marbuel ist ein guter Mensch! Und Edward ist seit fünfzehn Jahren tot. Tot! Tot!« »Das glauben Sie ja selbst nicht!«, schrie Dorian sie an. »Sie wollen die Wahrheit nur nicht wahrhaben, als Mike Ihnen von den Morden erzählte, die er angeblich begangen hat, müssen Sie die Wahrheit zumindest geahnt haben. Da Sie wussten, dass Mike nicht Mr. Hyde sein konnte, musste es sich um eine zweite Person handeln. Und das konnte nur Edward McDougall sein.« Miss Prelutsky war verstummt. Mike, der von alledem wahrscheinlich nicht viel mitbekam, schloss sie liebevoll in die Arme. »Die Wahrheit sieht so aus, Miss Prelutsky«, fuhr Dorian fort. »Lord Marbuel finanzierte die operative Trennung der siamesischen Zwillinge in der Absicht, sich eines der beiden Kinder zu bemächtigen. Deshalb ließ er Edward offiziell sterben. In Wirklichkeit nahm er ihn auf sein Schloss, wo er ihn in seinem Sinne erzog. Und daraus wurde dann der grausame, bösartige Mr. Hyde. Unser Mitarbeiter hat Edwards Grab geöffnet. Darin lag nicht das Skelett eines fünfjährigen Jungen, sondern der Leichnam eines Mannes. Der Leichnam von Lord Marbuel. Ich habe Edwards Geständnis, dass er Lord Marbuel tötete, als er glaubte, ihn an Bösartigkeit und Grausamkeit übertroffen zu haben. So sieht die Wirklichkeit aus, Miss Prelutsky.«
Dorian hielt erschöpft inne. Er hatte es für nötig erachtet, Mikes Tante die Wahrheit schonungslos in allen Einzelheiten zu sagen. Dorian konnte sich vorstellen, dass sie oft an sich selbst gezweifelt hatte, weil sie Mike nicht glücklich machen konnte. Er musste ihr verständlich machen, dass Lord Marbuel und vor allem Edward an Mikes Unglück schuld waren. Erst wenn sie die wahren Zusammenhänge erkannte, konnte er den entscheidenden Schritt tun. »Sie glauben also ehrlich an Mikes Unschuld?«, fragte Miss Prelutsky. »Seine Unschuld lässt sich vor dem Gesetz nicht beweisen – ebenso wenig wie seine Schuld«, erwiderte Dorian, der froh war, dass Mikes Tante durch seine realistische Schilderung keinen Schock erlitten hatte. »Es genügt nicht, dass ich an Mikes Unschuld glaube. Das habe ich schon von Anfang an getan. Ich möchte ihm zu einem normalen Leben verhelfen, einem Leben ohne Alpträume, ohne ständige Visionen von Morden. Ein normales Leben kann er aber nur führen, wenn er frei ist.« »Wie meinen Sie das?« »Sein Zwillingsbruder – Mr. Hyde muss sterben, damit Mike leben kann.« »Das – das ist schrecklich.« »Eine Alternative gibt es nicht.« »Und wie soll – Mr. Hyde sterben?« Dorian machte eine Pause. »Ich habe mir einen Plan zurechtgelegt«, sagte er schließlich. »Es ist relativ einfach. Ich brauche nur Ihr Einverständnis, dann kann ich Mr. Hyde mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Lord Marbuel hat ihm Fähigkeiten beigebracht, von denen normale Sterbliche keine Ahnung haben. Man kann es schwarze Magie nennen. Ich verstehe mich darauf ein wenig. Aber es ist nötig, dass Sie und auch Mike Edwards Tod wünschen. Es muss sein, Miss Prelutsky.« »Mehr brauche ich nicht zu tun?« Dorian schüttelte den Kopf. »Das andere erledige ich. Ich habe in Ihrem Haus in Greenfield etwas entdeckt, dessen Bedeutung mir erst später klar geworden ist. Das kann ich als Waffe gegen Edward
einsetzen. Damit kann ich ihn vernichten.« »Worum handelt es sich?«, erkundigte sich Mike. »Das möchte ich für mich behalten.«
Jetzt ist Hunter fällig. Was für ein eingebildeter Fatzke er ist! Zugegeben, er hat im Großen und Ganzen richtig kombiniert, hat alles ganz deutlich durchschaut. Ist schon ein schlauer Bursche. Aber wie alle, die sich schlau vorkommen, ist auch er überheblich. Das bricht ihm das Genick. Oder soll es ihn den Kopf kosten? Mal sehen. In Greenfield ist es still und ruhig. Die Spießer haben ihre Hunde von den Ketten gelassen. Sicherheitsschlösser sind in diesen Tagen wohl das Geschäft. Ich könnte mich kaputtlachen. Als ob mich ein Köter oder ein schäbiges Zylinderschloss aufhalten könnte. Aber darum bin ich nicht hier. Jetzt bin ich nur noch an Hunter interessiert. Er hat mir den Tipp gegeben – ohne es zu wissen –, nämlich, dass er ins Prelutsky-Haus will. Ich werde vor ihm da sein, werde ihn erwarten. Und dann mache ich dich auf, Hunter! Mike ist ein Schafskopf, dass er Hunter aus der Folterkammer entführt hat. Aber er weiß es eben nicht besser. Dennoch ist er mein Fleisch und Blut. Oder nicht mehr? Muss mal das Verwandtschaftsverhältnis zu ihm überdenken. Er macht mir gehörigen Kummer. Schließlich bin ich nur in diese Lage geraten, weil er den Prügelknaben abgibt. Da ist das Prelutsky-Haus. Möchte wissen, was die Alte besitzt, was Hunter gegen mich verwenden könnte. Es kann alles Mögliche sein. Irgendwas aus meiner Kindheit, vor meiner Operation. Das ist der Alten zuzutrauen. Sie ist abscheulich sentimental. Die Spießer waren inzwischen wieder beim Haus und haben die Wände noch mehr beschmiert. Aber sie scheinen das Haus nicht geplündert zu haben. Die Eingangstür ist mit Brettern vernagelt. Das Küchenfenster ist nur mit Pappe abgedeckt. Lässt sich spielend eindrücken. Nichts wie rein. Hunter, jetzt darfst du kommen. Das wird ein Empfang! Ich zittere
förmlich vor Erregung. Kann es einfach nicht mehr erwarten. Wenn er nur schon da wäre! Ein Geräusch. Von draußen. Durch die Fensteröffnung sehe ich einige Leute die Straße entlangkommen. Was wollen die mit den Flinten, he? Diese Idioten verscheuchen mir noch Hunter. Sie kommen auf das Prelutsky-Haus zu, stehen da, beratschlagen. Einer hebt die Hände wie einen Trichter an den Mund und ruft: »Cleanhead, komm heraus! Wir wissen, dass du drinnen bist.« Einen Dreck wisst ihr. Ich bin's, Edward! Mr. Hyde! Legt euch nur nicht mit mir an! Aber, verdammt, mir geht es doch nur um Hunter. Wenn er nun nicht kommt? »Mr. Hyde, wo stecken Sie?«, raunt es da irgendwo im Haus. Das ist Hunters Stimme. Oh, ich koche vor Wut über! Er ist im Haus! Er war vor mir da! Na, wenn schon. Hauptsache, er ist da. Jetzt sind mir alle Spießer von Greenfield egal. Sie schreien: »Wenn du freiwillig herauskommst, Cleanhead, dann passiert dir nichts. Wir geben dir drei Minuten Zeit, dann holen wir dich.« Ich schleiche durch die Küche, erreiche die Tür, renne hinaus in den Gang. Da ist niemand. »Mr. Hyde?« Hunters Stimme ist aber deutlich zu hören. »Wo verstecken Sie sich, Hunter? Los, seien Sie ein Mann und zeigen Sie sich!« »Ich bin da. Sehen Sie mich nicht?« Kommt die Stimme von oben? Ich springe zur Treppe. Sie ist leer. Nein, seine Stimme ist hinter mir, als er sagt: »Mr. Hyde, wissen Sie, dass Sie in der Falle sitzen?« Ich meckere lachend. Das hört man draußen. Und wieder schicken die Spießer einen Appell an Mike. Guter Mike! Der ist jetzt Kilometer von hier entfernt, erlebt aber alles mit. Das ist der Fluch der McDougall-Zwillinge. Geteiltes Leid ist doppeltes Leid! Unsichtbare Bande verbinden uns, Bande, die man nur durch den Tod trennen kann. »Hunter, Sie erbärmliches Schwein!«, brülle ich. »Was Sie auch im-
mer hier im Haus gesucht haben, es wird Ihnen nichts mehr helfen, denn vorher mache ich Sie kalt.« »Ich habe gar nichts gesucht«, sagt er. Seine Stimme kommt jetzt eindeutig von oben. »Bluffen nutzt Ihnen nichts mehr«, erwidere ich. »Ich weiß nämlich ganz genau, was Sie ausgetüftelt haben. Ich habe alles mitgehört.« »Das war mir klar«, erwidert Hunter – schon wieder aus einer anderen Richtung. Wie macht er das? Schwarze Magie? Nein, so beschlagen ist er nicht. Das habe ich gesehen, als er auf dem Streckbett lag. Das war ein wertvoller Test für mich. Hunter fährt fort: »Mein ganzer Plan ist darauf aufgebaut. Ich wusste schon längst, dass es zwischen Ihnen und Mike eine geheimnisvolle Verbindung gibt. Wieso wusste er Einzelheiten über Morde, die Sie begangen und ihm ganz bestimmt nicht gebeichtet hatten? Denn Sie haben ihm ja Ihre Existenz wohlweislich verschwiegen.« »Daraus können Sie überhaupt nichts schließen!«, schreie ich. Was habe ich für eine Wut im Bauch. »Ich war klüger als Sie, Edward. Das sehen Sie jetzt doch wohl ein?« Draußen ruft irgendeiner von den Spießern, dass die Frist abgelaufen sei. Was kümmert's mich. Ich habe eine solche Wut, weil Hunter mich hereingelegt hat, dass ich zu toben beginne. Ich schlage alles kaputt. Dabei geht mein Stock in die Brüche. Und Hunter höhnt: »Ich wusste, dass Sie alles mit Mike miterleben, mitfühlen. Sie können sich seinen Gedanken ebenso wenig verschließen wie er sich den Ihren. Mike hat furchtbar darunter gelitten, dass er Zeuge Ihrer Schandtaten wurde. Das hat ihn schon als Kind um den Verstand gebracht. Als Geistesgestörter konnte er dann später nicht mehr zwischen seinen eigenen Erlebnissen und den Ihren unterscheiden.« »Dieser Zustand war auch wahnwitzig«, brülle ich außer mir. »Oder glauben Sie, ich hätte mich an den Greenfieldern schmutzig
gemacht, wenn ich nicht darunter gelitten hätte, wie sie Mike behandelten? Ich habe durch seine Augen geblickt, als ihn dieses Flittchen in den Wald lockte, wo ihr Freund wartete. Darum habe ich sie umgebracht.« »Ja, es entsprach Ihrer Natur, Mike zu rächen, weil Sie an seinen Leiden Anteil hatten und die Schmähungen als persönliche Beleidigung empfanden. So war es doch?« »Na und! Sie können Ihr Wissen mit ins Grab nehmen.« »Im Augenblick haben Sie aber geringere Überlebenschancen als ich.« Die Stimme Hunters kommt schon wieder von woanders. »Von meinem Platz aus sehe ich, dass die Greenfielder Feuer gelegt haben. Die Flammen züngeln bereits ziemlich hoch.« Das sehe ich auch. Aber im Moment ist mir das egal. Wichtig ist nur, Hunter zu erledigen. »Dann werden Sie eben mit mir schmoren.« »Irrtum. Ich bin nämlich gar nicht im Haus. Meine Stimme kommt aus Lautsprechern. Ich sitze hier bequem im Wagen vor einem Mikrofon. Das habe ich alles organisiert, bevor ich in Mikes Gegenwart sagte, dass ich hierher komme. Ich wusste, dass Sie mithörten und sich hier einfinden würden, um mir aufzulauern. Und Sie sind in die Falle gegangen. Als ich Sie im Haus verschwinden sah, gab ich den Greenfieldern den Tipp, dass Mr. Hyde hier ist.« Ich bin blind vor Wut, entdecke den ersten Lautsprecher, reiße ihn unter dem Vorhang hervor, schmeiße ihn zu Boden, zertrampele ihn. Da, der zweite Lautsprecher! Aber das hat keinen Sinn. Ich muss hier raus. Die Flammen schießen vor den Fenstern des Wohnzimmers empor. Ich muss ins Obergeschoss. Reiße ein Gangfenster auf. Jemand schleudert eine Fackel. Sie trifft meine Brust. Mike, verdammt, hörst du mich? Spürst du nicht den Schmerz deines Bruders Edward? Wenn ich sterbe, erlebst du meinen Tod mit. Mike, hilf mir! »Mike!«, gellt es aus einem Lautsprecher, den ich übersehen habe. Mike ist im Anmarsch! Mein Bruder Mike wird die Aufmerksamkeit der Spießer auf sich lenken. Dann habe ich noch eine Chance.
»Mike!« Dorian sprang aus dem Wagen und rannte der Gestalt entgegen, die zwischen den Häusern auftauchte. Der Dämonenkiller wunderte sich nicht lange darüber, wie Mike hierher gekommen war. Er war hier, und das war schlimm genug. Wenn die Greenfielder ihn sahen, würden sie sich auf ihn stürzen und ihn lynchen. Dorian erreichte Mike, versuchte ihn zurückzuhalten, doch der sonst so gutmütige Mike entwickelte unheimliche Kräfte. Er schleuderte Dorian wie eine Strohpuppe zur Seite. »Mike, du darfst nicht weitergehen!«, beschwor Dorian ihn. »Die Leute würden dich in Stücke reißen.« »Alles brennt in mir«, keuchte Mike und wankte weiter, auf das Haus seiner Tante zu, das in Flammen stand. »Ich muss das Feuer löschen, sonst verbrenne ich innerlich.« Dorian sprang ihn von hinten an und versuchte, ihn zu Boden zu zwingen, aber Mike schüttelte ihn einfach ab. Dorian wusste nur zu gut, was in Mike vorging. Er erlebte die Todesangst seines Bruders Edward mit, wurde von der gleichen Panik erfasst, wusste, dass er seinen Zwillingsbruder in Sicherheit bringen musste. Und um sich von den Qualen zu befreien, die Edward auf seinen Geist übertrug, würde er sogar ins Verderben rennen. Dorian nahm Mikes Verfolgung wieder auf. Er sah ein, dass es keinen Sinn hatte, ihn durch Argumente an seinem Wahnsinnsvorhaben hindern zu wollen. Er holte zum Schlag aus und schlug Mike die Handkante ins Genick. Mike zuckte zusammen und ging wie ein angeschlagener Boxer in die Knie. Dann setzte er seinen Weg unbeirrt fort. »… muss das Feuer löschen. Es verbrennt mich sonst. Edward, Edward, darfst nicht sterben!« Dorian schlug noch einmal zu. Mike fiel nach vorn. Seine Beine wurden weich. Er ging wieder in die Knie, konnte seinen Sturz aber mit den Armen auffangen. Doch er kam nicht mehr hoch. Er kniete da, völlig groggy.
»Mr. Hunter, warum tun Sie das?«, fragte er tränenerstickt. Er riss sich zusammen. Es gelang ihm, ein Bein hochzureißen, aber als er aufstehen wollte, zeigte sich, dass seine Beine sein Körpergewicht nicht länger trugen. Er kippte zur Seite, und Dorian fing ihn auf. Plötzlich schlug Mike um sich, riss sich die Kleider in Fetzen und trat wie besessen mit den Beinen nach Dorian. »Ich verbrenne!«, schrie er. Dorian hielt ihm den Mund zu. Mike biss und spuckte, riss die Hände hoch, drückte sie gegen die Schläfen. »Ich brenne!« Seine Fingernägel hinterließen auf seinem kahlen Schädel blutige Spuren. »Nein, nicht! Ich will nicht sterben! Nicht in den Flammen – umkommen!« Ein qualvoller Schrei entrang sich Mikes Kehle, dann sackte er ohnmächtig in sich zusammen. Dorian wusste, was das zu bedeuten hatte. Mike hatte endlich ausgelitten, war für alle Zeiten von seinem Alptraum befreit. Dorian schleppte den schweren, schlaffen Körper zum Wagen und verstaute ihn im Fond. Edward – der schreckliche Mr. Hyde – war tot, im Haus der Anna Prelutsky verbrannt. Dorian startete den Wagen und fuhr los. Wenig später erreichte er die Auffahrt zur A 11. In spätestens einer halben Stunde würde er in der Jugendstilvilla sein. Er fuhr relativ langsam; er hatte keine Eile. Einmal drehte er sich nach Mike um. Der lag zusammengerollt wie ein Kleinkind auf dem Rücksitz und atmete regelmäßig. Er würde nie mehr unter solchen Alpträumen zu leiden haben. Mr. Hyde war tot – Mike endlich frei. Vielleicht konnte er jetzt sogar zu sich selbst zurückfinden. Möglicherweise konnte sich nun sein Geist normal entwickeln. Dorian hätte ihm gegönnt, dass er nicht länger mehr ein Außenseiter der Gesellschaft sein musste, sondern zu einem voll integrierten Mitglied von ihr wurde. Der Dämonenkiller verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. Aber war es überhaupt wünschenswert, dass er in die Welt der Bür-
ger zurückfand? Würde es Mike wirklich wollen, mit Menschen wie Bobby Mason, Mr. Quimbley und all den Namenlosen zu leben, die einem Mr. Hyde an Gemeinheit und Grausamkeit im Grunde gar nicht viel nachstanden? In jedem von ihnen schlummerte das Böse, und Dorian hatte erlebt, wie leicht es zu wecken war. Jeder von ihnen war – auf seine spezielle Art – ein Mr. Hyde. Es musste nur etwas geschehen oder jemand kommen, der das Böse in ihnen weckte. Es war schon so, dass in jedem Menschen ein Teufel steckte – tief im Unterbewusstsein auf seine Chance lauerte. Und deshalb hatten die Dämonen so leichtes Spiel. ENDE
Vorschau Blutige Küsse von Ernst Vlcek, Neal Davenport u. a.
Während Dorian Hunter das Geheimnis der Zwillinge von Greenfield gelüftet hat, ist es Coco in Ägypten gelungen, das Schicksal Susan Baxters aufzuklären. Allerdings fehlt von der Mumie Nefer-Amuns jede Spur, und Cocos Befürchtung, dass dieser Fall ein Nachspiel haben könnte, ist nicht unbegründet … Derweil soll Martin, Cocos und Dorians gemeinsamer Sohn, getauft werden. Dorian will der Taufe beiwohnen, obwohl Coco Martins Aufenthaltsort noch immer vor ihm geheim hält. So begibt sich Dorian in den Bann des Theriak, einer magischen Droge, die ihm erlaubt, die Taufe auf geistiger Ebene zu verfolgen. Doch Theriak ist ein mörderisches Gift. Wer nicht rechtzeitig das Gegenmittel einnimmt, ist verloren. Dorian und Coco haben den Ablauf des Experiments genauestens geplant – aber dann gerät Dorian nach Einnahme des Zaubertranks in einen seltsamen Rauschzustand und findet sich plötzlich in der Welt des Count of Alkahest wieder, dessen blutige Küsse ein ganzes Dorf bedrohen …