Maja Merling
Der Geistermaler Jeremy Jordan – nur eine Gestalt aus Lucys Traum oder Rächer einer Greueltat?
Irrlicht ...
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Maja Merling
Der Geistermaler Jeremy Jordan – nur eine Gestalt aus Lucys Traum oder Rächer einer Greueltat?
Irrlicht Band 314
Der Maler stand dort oben auf dem Turm, als wir kamen, der Graf und ich. Er blickte uns entgegen, aber Janets Vater konnte ihn nicht sehen. Der Maler befahl mir, mit dem Grafen zu sprechen. Ich sagte mit einer Stimme, die mir selbst ganz fremd klang, denn sie war tief und richtig männlich: »Jeremy Jordan hat Sie hierhergerufen, Graf. Ich habe lange warten müssen, aber endlich kann ich zu Ihnen reden.« Der Graf fuhr zu mir herum. Er blickte mich aus weit aufgerissenen, entsetzten Augen an, kam auf mich zu und fragte böse: »Was soll das, Mädchen? Was soll der Unsinn?« Doch die Stimme aus mir sprach weiter: »Das ist kein Unsinn, Graf! Das ist genauso wirklich wie das, was Sie einst getan haben. Jetzt endlich kann ich mich rächen!« »Rächen? Das ist ja verrückt!« Der Graf blickte sich wild um, ob es nicht einen Mann auf der Plattform gäbe, aber er sah durch den Maler hindurch, der drohend vor ihm stand. Er konnte nur mich sehen. Er war nicht nur wütend, sondern überaus verwirrt. Und wieder sprach es aus mir heraus…
Lucy saß mir gegenüber. Ich bemerkte, wie sie plötzlich erstarrte. Wie ein Ruck war es durch ihre schmale, zierliche Gestalt gegangen, sie blickte entsetzt genau an mir vorbei, als gäbe es etwas Schreckenerregendes zu sehen. Unwillkürlich blickte ich mich um, aber ich sah nichts. Das heißt, ich sah natürlich den Raum, in dem wir uns befanden, ein im Stil der Jahrhundertwende eingerichtetes, herrschaftliches Wohnzimmer, besser gesagt einen Salon mit hohen, stuckverzierten Decken, üppigen Plüschvorhängen, zahlreichen Plüschsesseln, viel zu vielen, wenn auch kostbaren Möbeln, Bildern, Lampen und unzähligen Kleinigkeiten, die man vielleicht unter dem Sammelbegriff Nippes zusammenfassen kann. Für mich, die ich eine moderne junge Frau war, eher ein Alptraum, dieser Raum und das ganze Haus, das sich im Herzen Londons befand. Aber ich brauchte hier ja nicht zu wohnen, denn ich war nur als Gast hier, Gast bei einer liebenswerten alten Dame, die sich in diesem Haus, in dem sie schon mit ihren Eltern gelebt hatte, gewiß sehr wohl fühlte. Mrs. Finch war eine alte Bekannte meiner Großmutter, und diese hatte mich gebeten, ihre Freundin doch unbedingt einmal aufzusuchen, solange ich noch in London wäre. Natürlich war ich diesem Wunsch gern nachgekommen. Ich hatte vorher mit Mrs. Finch telefoniert, die überrascht und höchst erfreut war. Sie wollte gleich wissen, warum und wieso ich in London war, und als sie hörte, daß ich mit zwei Freundinnen in einem Schwesternheim wohnte, bestand sie darauf, daß ich diese beiden Freundinnen gleich mitbrächte. Sie freute sich so darauf, einmal junge Menschen um sich zu haben, sagte sie. Ich brauchte Lucy und auch Janet, die Dritte in unserem Bunde, nicht lange zu überreden. Wir kauften kurz
entschlossen einen hübschen Blumenstrauß und machten uns auf den Weg zum Haus der Mrs. Finch. Mrs. Finch war, wie ich schon sagte, eine reizende, liebenswerte alte Dame mit Apfelbäckchen, lila Löckchen und einem dunkelbraunen Seidenkleid, das genauso prächtig und vielleicht auch genauso alt war wie ihre Plüschvorhänge im Salon. Wir wurden reichlich bewirtet mit Apfeltorte und Käsekuchen. Anschließend gab es Quittenlikör aus winzigen kleinen Gläsern, und dann… ja, dann forderte Mrs. Finch uns zu einer Seance auf, einer spiritistischen Sitzung. Ihre Haushälterin, die uns bisher bei Tisch bedient hatte, richtete den Raum im Handumdrehen entsprechend her, und wir wurden aufgefordert, an dem runden Tisch in der Mitte des Raumes Platz zu nehmen. Es blieb uns überhaupt keine Zeit mehr zu protestieren, und im übrigen wäre der Protest wohl auch nur schwach ausgefallen. Reizte uns doch dieses uns natürlich Unbekannte, von dem wir uns eine amüsante Unterhaltung versprachen. Wir brauchten gar nicht darüber zu reden, wir verständigten uns nur mit Blicken und nahmen dann bereitwillig auf den uns zugewiesenen hochlehnigen Stühlen Platz. Mrs. Finch und ihre Haushälterin vervollständigten die Runde. Die Wachskerzen in dem schweren Silberleuchter in der Mitte des Tisches waren bereits angezündet, die Plüschvorhänge so weit zugezogen, daß der ganze Raum in ein dämmeriges Licht getaucht war. Mrs. Finch gab leise ihre Anweisungen – und danach wurde uns doch ein wenig beklommen zumute. Jedenfalls erging es mir so, und Lucy und Janet fühlten wohl ähnlich. Mrs. Finch fragte mit dumpfer Stimme, ob sich ein guter Geist in diesem Haus befinde, dann möge er sich bitte melden, auf dem Tisch zeichnete sich eine zufriedenstellende Antwort ab, das Kristallglas in der Mitte begann nach neuen Fragen wie durch Zauberkraft bewegt zu wandern, von uns allen gebannt
beobachtet, und die Antworten, die man daraus erkennen konnte, waren schon ein wenig verblüffend. Ich begann zu überlegen, was ich eigentlich davon halten sollte. War das alles nur abergläubischer Firlefanz, oder steckte doch etwas dahinter, vielleicht doch etwas Ernsthaftes, das uns die Wissenschaft bisher allerdings noch nicht erklären konnte. Während ich also so überlegte, sah ich zufällig Lucy an, und so fiel mir das sonderbare Verhalten der Freundin auf. Ich mußte annehmen, daß sie etwas sah, das ich nicht erkennen konnte. Etwas Furchterregendes mußte es wohl sein, denn Lucy war jetzt kreidebleich. Was sollte das alles? Ich wagte nicht zu fragen, ich wagte die angespannte Stimmung nicht zu zerreißen, die beiden alten Damen waren ganz versunken in ihre Inszenierung, und auch Janet hielt ihre Augen geschlossen. Was mit Lucy war, konnte ich mir noch nicht erklären. Ich schien die einzige zu sein, die richtig wach war. Irgendwie ging dieser Spuk dann aber vorüber. Ich dachte wirklich »Spuk« und meinte das ein bißchen herablassend, denn ich konnte und wollte einfach nicht glauben, daß Mrs. Finch eine Botschaft von ihrem vor Jahrzehnten gestorbenen Gatten empfangen hatte. Sie war aber davon überzeugt und entsprechend glücklich, und so wurden dann auch keine großen Einwände erhoben, als wir drei Freundinnen uns dann bald verabschiedeten, natürlich mit dem Versprechen, einmal wiederzukommen. Auf dem Weg zur U-Bahn, die uns zurück in unser Londoner Domizil bringen sollte, sprachen wir aufgeregt über das Erlebte. Das heißt, zunächst redeten nur Janet und ich, Lucy blieb still. Eigentlich fiel das gar nicht weiter auf, denn Lucy war ohnehin die Ruhigste von uns dreien, während Janet in der Regel das meiste Temperament entwickelte.
»Ich hätte doch zu gern mit einem meiner Vorfahren gesprochen«, meinte sie kichernd. »Einer der Grafen von Northern ist nämlich vor ein paar Jahrhunderten im Tower geköpft worden, habe ich euch schon mal davon erzählt? Muß ein rauher Geselle gewesen sein. In unserer Ahnengalerie hängt ein Bild von ihm, aber hier hat er sich mir weder gezeigt noch mit mir gesprochen. Richtig schade. Ich hätte ihn nämlich gern mal gefragt, wie es sich denn so lebt ohne Kopf.« Janet lachte vergnügt, und ich stimmte mit ein. Keine Frage, Janet hielt nicht viel von solchem Zauber, wie sie es nannte. Aber Lucy? Gerade wollte ich sie danach fragen, da erklärte Lucy zu Janet gewandt: »Gilt deine Einladung noch, daß ich die Ferien mit euch auf Northern Castle verbringen darf?« Janet war überrascht, und ich natürlich auch, denn wir hatten beide lange genug die Freundin zu überreden versucht, mit uns zu kommen. Lucy hatte immer ganz entschieden abgelehnt. Sie wollte arbeiten in der freien Zeit, sie hatte auch schon eine Stelle in Aussicht. Und jetzt plötzlich dieser Umschwung? Irgendwie fand ich das merkwürdig. »Natürlich gilt die Einladung«, antwortete Janet erfreut. »Hast ja lange genug gebraucht, um dich zu diesem Entschluß durchzuringen, aber besser später als gar nicht. Ich freue mich richtig. Du doch auch, Claire?« »Aber natürlich freue ich mich«, versicherte ich und meinte es durchaus ehrlich. Aber ich wunderte mich dennoch. Am Morgen erst hatte ich mit Lucy darüber gesprochen, und sie hatte mir gesagt, es gäbe viele Gründe, warum sie diese Einladung nicht annehmen könne, und das schien eine absolut endgültige Entscheidung gewesen zu sein. Und jetzt auf einmal war alles anders? Lucy machte ein so verschlossenes Gesicht, daß klar zu erkennen war, sie wollte
keine Fragen beantworten. Also richteten wir uns auch danach, wie wir uns immer gegenseitig respektierten. Ehe ich in meinem Bericht fortfahre, sollte ich vielleicht erst einmal das Nötigste von uns dreien erzählen und wie wir zueinander gefunden haben. Um einige Ecken herum bin ich mütterlicherseits mit den Grafen von Northern verwandt. Ich heiße aber schlicht Claire Severin, und mein Vater bewirtschaftet als pensionierter Colonel ein nicht allzu großes, aber recht ertragreiches Gut in Mittelengland. Dort verlebte ich eine glückliche Kindheit. Mit den Northerns pflegten wir so gut wie keinen Kontakt, und daß ich meine Cousine Lady Janet Northern dann so gut kennenlernte, war eigentlich nur einem Zufall zu verdanken. Vielleicht kann man es auch Schicksal nennen, wenngleich ich so große Worte im allgemeinen nicht liebe. Aber für das, was ich hier erzähle, gibt es ohnehin keine passenden Worte. Es ist zu ungeheuerlich, zu unheimlich, ja, eigentlich zu unglaublich. Und doch beruht diese Geschichte auf Tatsachen, auf Begebenheiten, deren Beginn ich ja bereits erzählt habe. Wir trafen in einer Schwesternschule in London zusammen, meine Cousine Janet und ich, und das war der Zufall, den ich meinte. Diese gemeinsame Ausbildung war nicht verabredet, wir hatten wohl ähnliche Interessen. Ich war mir noch nicht sicher, ob mein Interesse und meine Fähigkeiten groß genug waren, um Medizin zu studieren, also wollte ich es zunächst einmal mit der Krankenpflege versuchen. Meine Cousine Janet war da viel sicherer in ihrer Entscheidung, und das hatte seinen Grund. Das erfuhr ich allerdings erst später. Wir freuten uns jedenfalls beide über dieses Zusammentreffen. Wenn wir uns bisher bei seltenen gesellschaftlichen Ereignissen nur jeweils flüchtig begegnet waren, so wurden wir jetzt schnell Freundinnen.
Lucy Allen war die Dritte in unserem Bunde. Lucy war ein besonders nettes, liebes Mädchen, Schwesternschülerin wie wir auch. Aber sie kam aus einer bürgerlichen, nicht eben vermögenden Familie. Das heißt, sie erlernte ihren Beruf wirklich zum späteren Broterwerb, während Janet und ich nicht unbedingt darauf angewiesen waren. Aber das war ein Thema, über das wir nie sprachen, das uns auch nur wenig berührte. Wir waren Freundinnen, wir versuchten in dieser Schule so viel wie möglich zu lernen, und wir machten uns eigentlich ziemlich wenig Gedanken darüber, welche Anforderungen das Leben später an uns stellen würde. Wir waren ja alle drei noch so jung, kaum zwanzig Jahre alt. Unsere unbekümmerte Sorglosigkeit endete dann aber jäh. Wir wurden in einen Strudel von Ereignissen gerissen, die schwerwiegende Folgen für uns hatten, die Gefahren, Tod und Verderben mit sich brachten und die uns so sehr beutelten, daß wir hinterher nicht mehr dieselben waren wie vorher. Davon ahnten wir an diesem Nachmittag allerdings noch nichts. Nicht einmal Lucy, obwohl für sie – und wohl auch durch sie – die Geschichte bereits angefangen hatte.
*
Am Abend war ich mit Lucy allein, denn Janet hatte sich zurückgezogen, weil sie noch einen Brief schreiben wollte. Da konnte ich meine Neugier nicht länger beherrschen, ich wollte wissen, warum Lucy während der Séance plötzlich so erschrocken gewesen war. Ich hatte mir das doch nicht eingebildet, da war ich ganz sicher. Lucy blickte mich groß an. »Du hast das gemerkt?« fragte sie irritiert.
»Natürlich. Ich saß dir ja direkt gegenüber. Du bist sogar richtig blaß geworden.« »Hast du auch etwas… gesehen?« »Ich habe nur dich gesehen. Ich habe mich dann allerdings auch umgewandt, weil du so auf einen Fleck hinter meinem Rücken starrtest. Aber da war nichts. Nur dieser schaurigschöne Salon von Mrs. Finch.« »Du hast ihn also nicht gesehen«, murmelte Lucy. »Das hatte ich schon befürchtet.« »Wen sollte ich denn gesehen haben, Lucy?« »Da war ein… Mann.« »Ein Mann?« »Ja, ich habe ihn genau gesehen. Er nickte mir zu und schien mir etwas sagen zu wollen, aber das konnte ich nicht hören. Ich wußte aber plötzlich, daß ich unbedingt mit euch nach Northern Castle fahren muß.« »Das verstehe ich nicht.« »Ich auch nicht, Claire. Aber ich habe mir das nicht eingebildet, das mußt du mir glauben.« »Sicher, Lucy, ich will es ja versuchen. Wie sah der Mann denn aus?« »Er war groß und noch ziemlich jung. Er hatte recht langes blondes Haar und trug eine ganz schräg aufgesetzte große schwarze Baskenmütze oder so was in der Art. Das sah jedenfalls sehr flott aus. Und so war er überhaupt gekleidet, weite, ziemlich pluderige braune Hosen, es könnte Cord gewesen sein, dazu ein blaues Hemd und ein rotes Halstuch, ganz locker geknotet.« »Du scheinst aber genau hingeschaut zu haben.« »Mußte ich ja auch. Schließlich hätte das wohl jeder getan, denn der Mann paßte wirklich so ganz und gar nicht in Mrs. Finchs Salon.«
»Das scheint mir allerdings auch so. Wie ist er denn überhaupt hereingekommen? Wer hat ihn hereingelassen?« »Das weiß ich nicht, Claire. Er war einfach da.« »Einfach so?« »Ja. Und genauso ist er auch wieder verschwunden. Gerade noch war er da, er blickte mich an und nickte mir zu, und dann war nichts mehr da, wo er gerade gestanden hatte.« »Willst du damit sagen, es wäre ein Geist gewesen?« »Ich will gar nichts sagen, Claire. Ich kann dir nur beschreiben, was ich gesehen und erlebt habe. Und daß das ausgerechnet während einer solchen Sitzung passierte… also, Claire, ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Ich bin ganz durcheinander.« »Nun ja, ich finde das reichlich merkwürdig. Ich fand das Gehabe von Mrs. Finch und ihrer Haushälterin eigentlich eher komisch. Sollte man das doch ernst nehmen müssen?« »Das frage ich mich auch, Claire. Aber vor allem – wenn das wirklich ein Geist war, warum ist er dann mir und nicht Mrs. Finch erschienen? Sie hat doch nach einem Geist gerufen.« »Vielleicht bist du ein besonders gutes Medium, Lucy. So nennt man das ja wohl. Ein Medium soll ein Mensch sein, der angeblich Wahrnehmungen aus der Geisterwelt vermitteln kann. Das habe ich mal gelesen.« »Ach, Claire, mir wird richtig unheimlich zumute, wenn ich darüber nachdenke. Wäre ich bloß nicht mit zu Mrs. Finch gekommen.« Irgendwie dachte ich das inzwischen auch, denn ich fand das alles höchst befremdlich und auch unheimlich. Aber geschehen war nun einmal geschehen. Und so sagte ich so unbekümmert wie möglich zu meiner Freundin: »Wir sollten das alles nicht zu ernst nehmen, Lucy. Ob das nun ein Geist war oder nicht, er ist ja wieder verschwunden, oder? Und so eine spiritistische
Sitzung machen wir nicht noch einmal mit. Soll sich dein Geist ein anderes Medium suchen.« »Das ist nicht mein Geist!« rief Lucy heftig. »Na ja, das habe ich ja nur so gesagt. Natürlich war es nicht dein Geist. Übrigens, hast du eine Ahnung, was für ein Geist das wohl war?« Lucy schüttelte den Kopf. »Nein, nicht direkt«, flüsterte sie so leise, daß ich es kaum verstehen konnte. »Aber ich glaube, das Ganze muß irgendwie mit Northern Castle zusammenhängen.« »Mit Northern Castle? Wie kommst du darauf?« »Ich weiß auch nicht. Ich habe zwar nicht verstanden, was dieser… was diese Erscheinung gesagt hat, aber daß ich nun weiß, daß ich gewissermaßen den inneren Auftrag erhalten habe, nach Northern Castle zu fahren, ist doch komisch, oder?« »Ja, das ist es gewiß. Aber«, fragte ich skeptisch, »kannst du dir das nicht vielleicht bloß einbilden? Wir haben doch gerade in letzter Zeit viel über das Schloß gesprochen, wo Janet zu Hause ist, wir haben dich bedrängt, mit uns die Ferien dort zu verleben – da könnten sich doch die verschiedensten Gedanken bei dir vermischt haben.« »Ach, Claire, ich wünschte, es wäre so. Aber mein Gefühl sagt mir etwas anderes. Und es sagt mir auch, daß ich mich dem, was mir da offenbar bestimmt ist, nicht entziehen kann. Ich habe Angst, Claire. Richtig Angst.« »Aber du sagtest doch, daß dieser Geist, wenn es denn wirklich einer war, dir freundlich zugenickt habe?« »Ja, das stimmt. Aber dennoch…« »Dann solltest du vielleicht doch nicht mit nach Northern Castle kommen.« »Ja, wahrscheinlich hast du recht, Claire. Aber ich muß es einfach. Ich glaube, ich habe in dieser Sache keinen freien Willen mehr.«
Es ereignete sich nichts Besonderes in den nächsten Tagen. Wir bereiteten unsere Reise nach Northern Castle vor und freuten uns auf die Ferien. Wir beide, Lucy und ich, hatten nicht verabredet, mit Janet nicht über diese merkwürdige Erscheinung zu reden, die Lucy so beunruhigt hatte und über die ich, das muß ich offen zugeben, auch immer wieder nachdachte. Trotzdem redeten wir beide nicht mit Janet darüber. Am verabredeten Tag wurden wir in London abgeholt. Vom Schloß war uns ein großer Wagen mit Fahrer geschickt worden. Lucy und ich saßen hinten, während Janet neben dem Fahrer Platz nahm. Es war eine angenehme Fahrt durch die anheimelnde englische Landschaft. Das Wetter war gut, und wir sahen Northern Castle schon aus der Ferne. Ich kannte den Anblick natürlich, aber Lucy war doch sehr überrascht und schwer beeindruckt. So groß und wuchtig hatte sie sich Janets Elternhaus wohl doch nicht vorgestellt. Northern Castle war ein uraltes Schloß, das in vergangenen Jahrhunderten wohl mehr eine Festung gewesen war mit seinen dicken Mauern und den wehrhaften Türmen. Die zahlreichen zierlichen Erker und Türmchen und auch die mehr oder weniger prächtigen Anbauten mochten im Laufe der Jahrhunderte von einzelnen Schloßherren dazugebaut worden sein. Alles in allem bot Northern Castle jedenfalls einen imposanten Anblick und ich konnte Lucys Staunen schon verstehen. Es gab auch noch einen Schloßgraben, jedoch die ehemalige Zugbrücke war einer leicht gewölbten festen Brücke gewichen. Als wir langsam hinüberfuhren, stieß Lucy mich an und deutete zunächst stumm auf das alte Wachhäuschen rechts neben der Toreinfahrt. »Siehst du?« flüsterte sie dann erregt. »Siehst du ihn?«
Ich folgte ihrem Blick, aber ich sah nur das leere Postenhäuschen. »Dort steht er«, hauchte Lucy. »Er zieht seine Mütze, verbeugt sich und nickt mir zu. Siehst du es denn nicht?« Nein, ich sah wirklich nichts. Aber ich wußte natürlich sofort, von wem Lucy sprach, von diesem Geist mit Baskenmütze und rotem Halstuch über dem blauen Hemd natürlich. Das heißt, ob er diesmal wieder genauso gekleidet war, konnte ich natürlich nicht wissen. Aber ich nahm es an, da Lucy ja von der Baskenmütze gesprochen hatte. »Siehst du ihn wirklich nicht?« fragte Lucy enttäuscht, aber noch ehe ich antworten konnte, wandte Janet sich zu uns um und fragte: »Was tuschelt ihr denn da?« Aber sie wartete erst gar nicht auf Antwort, blickte Lucy an und fragte vergnügt weiter: »Na, Schätzchen, was hältst du von der bescheidenen Hütte meiner Eltern?« Lucy schien sich irgendwie zusammennehmen zu müssen, sie warf noch einen raschen Blick zur rechten Seite, wo sie jetzt anscheinend aber auch nichts mehr sah, und antwortete dann: »Ich bin ganz überwältigt, Janet. So großartig hätte ich mir Northern Castle nicht vorgestellt.« »Na, dann warte erst mal, bis du die Pracht im Innern siehst«, meinte Janet nüchtern und auch ein wenig spöttisch. »Aber denke immer daran, Lucy, ehe du am Ende in Ehrfurcht versinkst, auch in einem solchen Schloß wird nur mit Wasser gekocht. Und ob es sich hier glücklicher lebt als in einem kleinen gemütlichen Bürgerhaus – das wage ich sehr zu bezweifeln. Glaub mir, ich spreche aus Erfahrung. Also lasse dich nicht zu sehr beeindrucken und vergiß nie, daß ich auch hier genau die gleiche bin wie in unserer Schwesternschule in London. Ich bin nur eure Freundin, Janet, und sonst gar nichts. Kapiert?«
Ich fand es großartig, wie Janet das sagte, und sicher half sie auch Lucy damit. Zumindest falls diese irgendwelche Komplexe entwickeln sollte. Bei dem anderen, was Lucy hier zu erwarten schien, konnte Janet ihr allerdings nicht helfen. Obschon es doch anscheinend nur um sie, um sie ganz allein ging. Das wußte ich zu dem Zeitpunkt zwar noch nicht sicher, aber es schien mir doch recht naheliegend. Und bald hatte ich dann auch Gewißheit. Lucy war hier nur als Medium, also zur Vermittlerin, ja, zum todbringenden Werkzeug auserwählt. Doch bei unserer Ankunft ahnten wir davon zum Glück noch nichts. Auch Lucy nicht. Allerdings war sie wieder recht blaß und ich sah ihr an, daß sie wohl Angst hatte. Bereits in der Halle wurden wir von Lady Myrna empfangen, der Schloßherrin. Sie wirkte elegant und sehr gepflegt. Natürlich nicht mehr ganz jung, aber sehr gut aussehend. Etwas sehr Liebenswertes ging von ihr aus, und an der Art, wie Janet und sie sich begrüßten, war unschwer zu erkennen, daß die beiden ein sehr herzliches Verhältnis zueinander hatten. Auch wir beide, Lucy und ich, wurden mit großer Freundlichkeit willkommen geheißen, und Lucy schien insgeheim aufzuatmen. Ganz sicher hatte sie sich doch Sorgen gemacht, nicht so ganz willkommen zu sein. »Bringe deine Freundinnen doch gleich in ihr Zimmer, Janet«, sagte Lady Myrna. »Sicher wollt ihr alle euch erst ein wenig frisch machen. Zum Dinner erwarten wir euch um 19 Uhr. Dann wird auch der Earl zugegen sein.« »Gut, Mummy«, meinte Janet. »Wir werden pünktlich sein. Fein, daß du so gut aussiehst. Geht es dir gesundheitlich gut?« »Ach ja, es geht so«, lächelte Lady Myrna. »Ich habe mich sehr auf dich und deine Freundinnen gefreut.« »Na, und was glaubst du, wie wir uns erst auf die Ferien gefreut haben«, lachte Janet. »Also kommt, Mädchen. Ich
zeige euch, wo ihr heute abend eure müden Häupter betten könnt.« Das Zimmer, von dem die Schloßherrin gesprochen hatte, war eher eine Suite, eine Zimmerflucht mit zwei ineinander übergehenden Schlafräumen, einem Bad, einem prächtigen Ankleidezimmer mit riesigen Spiegeln und ebensolchen Schränken und einem ganz gemütlich eingerichteten Wohnzimmer. »Na, was glaubt ihr«, fragte Janet mit einem spitzbübischen Lächeln, »werdet ihr es hier aushalten können?« »So prächtig habe ich noch nie gewohnt«, erklärte Lucy beinahe andächtig, und Janet nickte: »Ich denke auch, es ist ganz nett hier.« Sie trat zu einem der Fenster und wies hinaus. »Seht ihr, der linke Schloßflügel schließt sich gleich hier an. Und dort befindet sich mein Reich. Wenn ihr zu mir kommen wollt, braucht ihr nur draußen dem Gang zu folgen, der gleich hinter euren Räumen einen scharfen Knick nach rechts macht. Wir können uns aber auch von Fenster zu Fenster zuwinken. Aber wir werden ja ohnehin die meiste Zeit Zusammensein.« »Du sprachst vorhin von der Gesundheit deiner Mutter, Janet«, meinte ich. »Geht es der Gräfin nicht gut?« »Ach, im Augenblick schon«, antwortete Janet zögernd. »Aber so ganz in Ordnung ist sie wohl nicht. Na, sie hat hier auch kein leichtes Leben mit meinem Vater. Du kennst ihn ja, Claire, und du, Lucy, wirst ihn noch kennenlernen… Meine Mummy ist prima, zu ihr habe ich ein herzliches Verhältnis. Wenn sie nicht wäre, hätte ich Northern Castle bestimmt längst verlassen. Wie übrigens mein Bruder auch. Vigor und mein Vater – also, das ist wie Feuer und Wasser. Die beiden kommen überhaupt nicht miteinander aus. Das ist bei meinem Vater auch kein Wunder. Ich begreife nicht, wie meine Mutter es mit ihm aushält. Schlimm, wenn man so etwas vom eigenen Vater sagen muß. Aber ich habe mich schon als Kind vor ihm
gefürchtet. Na, wie sagt man so schön: Das kommt in den besten Familien vor. Und vor dem Earl of Northern fürchten sich nicht nur seine eigenen Kinder. Aber macht euch keine Gedanken deswegen. Ihr werdet nicht viel mit ihm zu tun haben.« Das Dinner wurde in der Halle eingenommen, die einem alten Rittersaal glich. Sie war groß, hoch und ganz und gar nicht gemütlich, aber aus Tradition speiste die Familie eben dort. Wir hatten uns umgezogen, aber festliche Kleidung war zum Glück nicht erforderlich. Janet hatte es uns schon vorher gesagt. Eine frische Bluse und ein kleidsamer Rock genügten. Lady Myrna war bereits anwesend, als wir über die breite Treppe, die sich auf halber Höhe zu beiden Seiten hin gabelte, nach unten kamen. Sie begrüßte uns wieder sehr liebenswürdig, machte ein paar nette Komplimente über unser Aussehen, und als uns gerade unsere Plätze angewiesen wurden, erschien auch der Graf. Der Earl of Northern war eine große, gebieterisch wirkende Persönlichkeit. Er sah ziemlich gut aus, groß und schlank wie er war, mit schmalem Kopf und dunklem, zurückgebürstetem Haar. Aber es schien etwas Düsteres von ihm auszugehen, absolut keine Liebenswürdigkeit. Ein Mann, zu dem man sich kaum hingezogen fühlen konnte und von dem man auch kaum Freundlichkeit erwartete. Er begrüßte uns mit korrekter Höflichkeit. In seinem an sich markant geschnittenen Gesicht erschien nicht die Spur eines Lächelns. Ich kannte ihn ja schon von früheren Begegnungen, aber jetzt, bei dieser Begrüßung, dachte ich unwillkürlich: Liebe Güte, warum hat dieser Mensch uns bloß eingeladen? Er hält es ja nicht einmal für nötig, auch nur ein bißchen Freude über unser Kommen zu heucheln. Aber sicher hatten wir die Einladung nur Janet und ihrer Mutter zu verdanken. Vielleicht war der Schloßherr vorher
nicht einmal darüber informiert worden. Na ja, Northern Castle war so groß, daß man sich gut aus dem Weg gehen konnte. Und das, beschloß ich, würde ich so weit wie möglich tun. Inzwischen begrüßten Janet und ihr Vater sich. Gab es da wenigstens ein bißchen Herzlichkeit? Nein, keineswegs. Man reichte sich die Hand, Janet sagte fast förmlich: »Guten Tag, Vater«, und es war fast verwunderlich, daß sie keinen Hofknicks dabei machte, während der Graf nur nickte. Er musterte seine Tochter unter zusammengezogenen Augenbrauen und meinte dann: »Du siehst ja schon recht erwachsen aus.« Und das klang fast wie ein Tadel. Ich als Zuschauerin fand das äußerst peinlich. Durch ein Poltern wurde die unerfreuliche Szene jäh unterbrochen. Da war nämlich, von uns allen wohl unbemerkt, ein alter Herr über die Treppe nach unten gekommen. Er stützte sich mühsam auf einen Stock, verfehlte aber die letzte Stufe und stürzte. Lucy schien überhaupt keine Schrecksekunde zu haben. Sie war als erste bei dem alten Herrn und half ihm geschickt, sich wieder aufzurichten. Auch Lady Myrna und wir eilten herbei, und die Lady tadelte sanft: »Was machst du denn für Sachen, Onkel Henry! Wieso kommst du mit dem Stock und nicht wie sonst im Rollstuhl?« Der alte Herr stand inzwischen wieder auf seinen Beinen, er hatte Lucys Arm genommen, schien sich ganz behaglich aufzustützen und sagte mit spitzbübischem Gesicht: »Ich wußte doch, daß Besuch erwartet wurde. Da wollte ich mich den jungen Damen nicht gleich im Rollstuhl präsentieren, sondern ich wollte ihnen aufrecht stehend vorgestellt werden. Ist leider ein bißchen schief gegangen.« »Ach, Onkel Henry, du bist ein Schatz!« lachte Janet und umarmte den alten Herrn herzlich. Sie gab ihm einen Kuß auf beide Wangen und freute sich: »Wie schön, dich zu sehen. Du hast mir richtig gefehlt in London.«
Sir Henry wurde Lucy und mir vorgestellt als sehr geliebter Onkel der Familie, und Lucy und Janet führten ihn dann ganz behutsam zu seinem Platz an der gedeckten Tafel. Sir Henry bedankte sich artig bei seiner Nichte und bei Lucy. »Sie sind aber schnell und geschickt, junge Dame«, meinte er anerkennend. »Da empfindet man es gar nicht mehr als so peinlich, wenn man Hilfe braucht.« Und zu Lady Myrna gewandt fuhr er fort: »Siehst du, meine Liebe, wenn ich eine solche Pflegerin finden könnte, dann würde ich sofort meinen jahrelangen Widerstand aufgeben und sie mir tatsächlich als persönliche Betreuerin engagieren. Diese junge Dame ist doch etwas anderes als die Frauen, die du mir bisher ins Haus geholt hast.« »Das waren allesamt tüchtige und erfahrene Pflegerinnen«, wehrte Lady Myrna sich. »Ach, papperlapapp! Tüchtig und erfahren! Ich brauche etwas Nettes um mich herum. Keine Gouvernanten, die mir dauernd sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Das würden Sie doch bestimmt nicht tun, Miss Lucy, nicht wahr?« Lucy errötete ein wenig. »Meine Ausbildung ist noch nicht abgeschlossen«, sagte sie bescheiden. »Und Erfahrung habe ich natürlich auch nur wenig. Wenn ich Ihnen aber während der Dauer meines Aufenthaltes hier auf Northern Castle zur Verfügung stehen dürfte, so würde ich das wirklich sehr gern tun.« »Das soll ein Wort sein!« sagte Sir Henry mit dröhnender Stimme. »Ich weiß zwar, daß Sie hier nur Ferien machen sollen, und ich werde Ihnen auch nicht oft zur Last fallen. Aber wenn ich Sie mal brauche, dann sind Sie für mich da, nicht wahr?« »Sehr gern«, nickte Lucy, und man sah ihr an, daß sie es ehrlich meinte.
Unsere erste gemeinsame Mahlzeit auf Northern Castle verlief ohne weitere Vorkommnisse. Es herrschte allerdings eine unerfreuliche Atmosphäre, und wenn der liebenswerte Sir Henry nicht gewesen wäre, wäre die allgemeine Stimmung wohl unerträglich gewesen. Ich war wirklich froh, als Lady Myrna die Tafel aufhob und wir Mädchen uns zurückziehen durften. Lucy erbot sich dann noch, Sir Henry in seine Gemächer zu begleiten. Der alte Herr nahm das Angebot erfreut an, meinte dann aber augenzwinkernd: »Ich hätte nichts dagegen, wenn alle drei Damen mich begleiteten, zu einem kleinen Begrüßungsschluck bei mir. Ich habe da nämlich noch einen sehr alten süßen Portwein. Ich denke, das ist etwas für weibliche Gaumen. Du hast doch nichts dagegen, Myrna, oder? Übrigens bist du natürlich auch herzlich eingeladen.« Lady Myrna winkte lächelnd ab. »Natürlich habe ich nichts dagegen«, meinte sie. »Aber mich entschuldigt bitte. Ich möchte mich zurückziehen.« So begleiteten wir drei den alten Herrn zum Westflügel des Schlosses, wo er seine Wohnung hatte. »Während meiner Kindheit war das mein Lieblings weg«, erzählte Janet lächelnd. »Bei Onkel Henry gab es nämlich immer etwas Gutes, Schokolade, Bonbons, und sogar Kaugummi, was ansonsten natürlich verpönt war. Vor allem aber hatte Onkel Henry immer ein offenes Ohr für meine großen und kleinen Sorgen und Nöte. Ach, Onkel Henry, wenn du nicht gewesen wärest, wäre meine Kindheit noch öder und trostloser gewesen. Und für Vigor, meinen Bruder, warst du auch immer der allerbeste Freund. Es ist so schön, daß es dich gibt.« Fast verschämt strich Sir Henry Janet über die blonden Locken. »Ich mußte doch auf euch aufpassen, Kleines«, sagte er zärtlich. »Auf dich ganz besonders.«
Die Wohnung des alten Herrn war behaglich und gemütlich eingerichtet. Ihr sah man gar nicht unbedingt an, daß sie sich in einem Schloß befand. Was nicht negativ gemeint ist, sondern absolut positiv. Behaglichkeit hatte hier Vorrang, das merkte man sofort. Sir Henry ließ sich zu einem schon recht strapaziert wirkenden Lehnsessel am Fenster führen, Lucy und ich sollten in der Fensternische auf der gepolsterten Bank Platz nehmen, während Janet auf einen Wink des Onkels hin zu einem wuchtigen alten Eckschrank ging, wo sie die Karaffe und sehr schön geschliffene alte Gläser holte. Sie war hier sehr vertraut, das merkte man sofort. Janet stellte Gläser und Karaffe auf ein niedriges Tischchen, zog es zu uns heran und begann gleich mit dem Einschenken. »Ich darf doch, Onkel, nicht wahr?« fragte sie. Sir Henry schmunzelte. »Was für eine Frage! Ich würde viel zuviel von dem kostbaren Tropfen verschütten, wenn ich es selbst versuchen wollte.« Ich sah Janet zu, wie sie geschickt Hausfrau spielte und sich dann auf einen niedrigen Hocker, der eigentlich mehr ein Fußschemel für Sir Henry war, niedersetzte. So hatte sie bestimmt als Kind oft gesessen, mußte ich unwillkürlich denken. Lucy hatte sich inzwischen wohl mehr im Raum umgeblickt, interessiert und anscheinend sogar ein bißchen ehrfürchtig betrachtete sie die vielen Bilder an den hohen Wänden. Plötzlich schien ihre ganz besondere Aufmerksamkeit geweckt. Sie erhob sich wie unter Zwang und ging auf die dem Fenster gegenüber liegende Wand des Raumes zu, wo sie vor einem in Augenhöhe hängenden goldgerahmten Gemälde stehenblieb. Es zeigte eine junge Frau in einem duftigen weißen Kleid. Sie saß auf einer Wiese inmitten blühender Blumen und winkte lachend einer Gestalt in der Ferne zu. Stumm stand Lucy vor diesem Bild, und Sir Henry nickte
anscheinend erfreut: »Mein Lieblingsbild hat die Aufmerksamkeit der jungen Dame erregt«, stellte er zufrieden fest. Ich erhob mich, um das Bild ebenfalls aus der Nähe zu betrachten. Während ich also die paar Schritte durch den Raum machte, fragte Lucy gepreßt: »Wer ist das?« Diesen Ton kannte ich inzwischen schon bei Lucy, und ich wurde doppelt aufmerksam. Sir Henry war Lucys Anspannung nicht aufgefallen, und er berichtete ganz ruhig: »Das ist Lady Abigail. Die Schwester des Grafen. Sie war eine ganz bezaubernde junge Frau und ist leider viel zu früh verstorben.« Ich stand inzwischen neben Lucy und bemerkte so, daß sie weniger an der schönen jungen Frau auf diesem Bild interessiert war, sondern daß ihr Blick auf einen anderen Teil des Gemäldes fixiert war. Auch die Blickrichtung der auf dem Bild dargestellten Lady Abigail ging dorthin, wo die Blumenwiese auf dem Bild sich mit dem Horizont verband und wo in der Ferne eine Männergestalt auftauchte. Sie war noch ziemlich weit entfernt, diese Männergestalt, und erschien auf dem Bild entsprechend klein im Verhältnis zu der porträtierten Lady Abigail. Aber sie war dennoch deutlich zu erkennen. Es war ein Mann mit langem blondem Haar, er trug braune weite Hosen, ein blaues Hemd mit einem roten Halstuch darüber, und er schwenkte mit fröhlichem Lachen aus der Ferne seine Baskenmütze, erwiderte damit den strahlenden Gruß der Lady. Ich blickte Lucy von der Seite an. So, ganz genauso hatte sie mir den Mann beschrieben, der ihr im Salon der Mrs. Finch erschienen war. Und so hatte ich ihn mir auch vorgestellt. Wieso aber war er wohl hier auf diesem Bild dargestellt? Lucy konnte dieses Gemälde unmöglich vorher schon einmal gesehen haben, denn es handelte sich um ein Original, und es war meines Wissens noch nie ausgestellt worden. Ich wußte,
daß Sir Henry einige sehr wertvolle Bilder von Künstlern der letzten Jahrzehnte besaß, daß er diese aber noch nie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte. »Dieser Mann«, fragte Lucy jetzt fast tonlos, »wer ist dieser Mann?« Sir Henry hatte die eher hingehauchte Frage verstanden, und als er jetzt antwortete, klang seine Stimme deutlich ernster: »Das ist Jeremy Jordan«, erklärte er. »Ein Maler. Er hat dieses Bild gemalt, und übrigens auch die Porträts des Grafen und seiner Gattin in der Ahnengalerie. Ein zweifellos sehr begabter und übrigens auch sehr sympathischer junger Mann. Daß er sich hier auf diesem Bild gleich mit verewigt hat… man hat es ihm übelgenommen. Ich fand die Idee aber bezaubernd.« »Jeremy Jordan«, überlegte ich laut, »ich habe den Namen noch nie gehört. Wenn er ein so begabter Maler war und das scheint ja wirklich so zu sein, so ist er wohl doch nicht sehr berühmt geworden. Allerdings, so ganz beschlagen bin ich auf diesem Gebiet natürlich nicht, ich kenne längst nicht alle berühmten zeitgenössischen Maler. Also kann er natürlich doch dazu gehören, bloß mir ist der Name noch nicht begegnet.« Sir Henry war jetzt sehr ernst. »Ihre Überlegung ist schon richtig, Miss Claire«, meinte er kopfnickend. »Eigentlich hätte dieser Jeremy Jordan von sich Reden machen müssen. Aber leider… man hat nichts von ihm gehört, überhaupt nichts. Es ist gerade so, als hätte er gar nicht mehr gemalt, nachdem er Northern Castle verlassen hatte.« »War er lange hier?« fragte Lucy. »Nun, ein paar Monate schon. Er hatte genug zu tun. Man hatte ihn gerufen, als der alte Graf gestorben war und Graf Rufus den Titel übernommen hatte. Für die Ahnengalerie mußte das neue Familienoberhaupt porträtiert werden, natürlich auch dessen Gattin, das Altarbild in der
Schloßkapelle ist übrigens auch von ihm… Ja, und so kam eins zum anderen.« »Wo ist dieser Maler jetzt?« fragte Lucy. »Ich weiß es nicht. Man hat nie wieder von ihm gehört.« Sir Henry wollte offenbar nicht weiter gefragt werden. »Ist er tot?« hakte Lucy trotzdem nach. »Ich weiß es nicht.« »Um diesen Jeremy Jordan wird hier ein großes Geheimnis gemacht«, sagte Janet jetzt. »Ich finde dieses Bild dort auch so schön und hätte gern Näheres über diesen Maler gewußt. Auch über diese Abigail, die ja meine Tante war. Ich habe sie nicht mehr kennengelernt, aber sie muß sehr schön und sehr liebenswert gewesen sein. Aber an wen ich mich auch wende, niemand will mir meine Fragen beantworten. Auch Onkel Henry nicht. Darum frage ich schon lange nicht mehr. Erstaunlich, Lucy, daß du gleich darauf gestoßen bist. Manchmal habe ich schon gedacht, es gibt ein Geheimnis um meine Tante oder um diesen Maler. Na ja, was man sich als junger Mensch eben so ausdenkt.« »Jetzt glaubt du nicht mehr an ein Geheimnis, Janet?« »Ach, ich weiß nicht recht. Jedenfalls denke ich nicht mehr darüber nach.« Schließlich kamen wir dazu, den köstlichen Portwein zu trinken, wir plauderten noch ein wenig über belanglose Dinge, und dann ließen wir den alten Herrn allein. Er war zuletzt merklich schweigsam geworden. Vielleicht war er aber auch nur ermüdet. Auch Lucy war schweigsam, und natürlich machte auch ich mir so meine Gedanken. Das konnte doch kein Zufall sein, daß die Gestalt, die Lucy gesehen zu haben glaubte und die sie mir geschildert hatte, genau so aussah und genau so gekleidet war wie dieser Mann auf dem Bild, von dem wir nun wußten, daß
er ein Maler war und daß er für eine Weile auf Northern Castle gelebt hatte. Wie sollte man sich das erklären? Ich war ans Fenster unseres Schlafzimmers getreten und dachte angestrengt darüber nach. Da sah ich, wie an einem uns schräg gegenüber liegenden Fenster die Vorhänge zurückgezogen wurden und ein mehrarmiger Leuchter auf die Fensterbank gestellt wurde. Eine weißgekleidete Gestalt mit auf die Schultern herabfallenden silbernen Locken zündete die Kerzen an. Es sah gespenstisch aus, und unwillkürlich kam mir der Gedanke, ob es auf Northern Castle wohl auch noch eine spukende weiße Dame gäbe. Doch dann mußte ich lachen. Es war Janets Schlafzimmer, an dessen Fenster jetzt die Kerzen brannten, und die weißgekleidete Gestalt war ganz zweifellos Janet selbst im Nachthemd. Die silbernen Locken waren ganz natürlich blond und hatten nur bei dieser abendlichen Beleuchtung diesen geheimnisvollen Schimmer bekommen. »Schau dir das an, Lucy«, sagte ich vergnügt. »Janet hat anscheinend ihre Geheimnisse vor uns. Oder sollten diese brennenden Kerzen ein Signal für uns sein? Will Janet uns vielleicht noch sehen? Aber das hätte sie doch viel einfacher haben können. Was meinst du, sollen wir ihr noch einen Besuch machen?« Lucy zögerte, aber ich zog sie einfach mit. »Komm«, sagte ich. »So spät ist es schließlich noch nicht. Ich möchte jetzt wirklich gern wissen, wem diese Kerzen eigentlich gelten.« Janet war überrascht, als wir plötzlich in ihrem Zimmer standen, aber keineswegs verärgert. »Ihr habt natürlich die Kerzen gesehen«, meinte sie. »Na, hoffentlich sind andere Leute im Schloß nicht genauso neugierig wie ihr.« »Hängt denn ein Geheimnis an diesen Kerzen?« fragte ich.
Janet nickte, und sie wirkte auf einmal bedrückt. »Ja, ein Geheimnis, von dem ich bisher nicht einmal euch erzählt habe«, gestand sie ernst. »Wenn du nicht willst, brauchst du auch jetzt nicht darüber zu reden, Janet«, sagte ich rasch. »Tut mir leid, daß wir so bei dir hereingeschneit sind. Wir hätten uns doch denken können…« »Ach was«, wehrte Janet lebhaft ab. »Ich bin ganz froh, daß ihr gekommen seid. Ich bin nämlich noch gar nicht schläfrig, und wir könnten ja wirklich noch ein bißchen miteinander reden.« »Über den Maler?« fragte Lucy gespannt. »Nein. Von dem weiß ich auch nicht mehr als das, was ihr eben über ihn erfahren habt. Nein, ich will euch erzählen, worüber ich bisher noch mit niemandem gesprochen habe. Jedenfalls mit niemandem außer… Also, kurz gesagt, es gibt einen Mann in meinem Leben. Einen Mann, den ich sehr liebe und der auch mich liebt. Wir sind uns schon lange einig und wollen unter allen Umständen heiraten.« Nun waren wir beide doch verblüfft. »Du willst heiraten, Janet?« fragten wir wie aus einem Mund, und ich fragte gleich weiter: »Sind deine Eltern denn damit einverstanden?« »Die ahnen überhaupt nichts«, erklärte Janet sachlich. »Und vermutlich werden sie nicht einverstanden sein. Zumindest der Graf nicht. Aber ich werde mich trotzdem nicht von meinem Entschluß abbringen lassen. Wir haben uns unser Wort gegeben.« »Dann bist du also verlobt?« »Ja. Nicht offiziell natürlich, aber bedingungslos. Dieses Verlöbnis könnte einzig der Tod trennen.« »Sag so etwas nicht, Janet«, warnte ich rasch. »Mit solchen Worten sollte man vorsichtig sein.«
»Sie sind aber sehr ernst gemeint, Claire, das kannst du mir glauben.« »Tue ich ja auch, Janet. Ich will dich nicht verletzen. Sind diese Kerzen eine Botschaft?« »Natürlich. Er weiß jetzt, daß ich hier bin, daß ich an ihn denke und daß ich morgen zu ihm komme. Fünf Kerzen, seht ihr? Wenn es nur vier wären, dann wüßte er, daß es morgen nicht geht.« »Lebt dieser geheimnisvolle Unbekannte denn auch hier im Schloß?« »Nein, keineswegs. Er lebt dort hinten in dem Ort, seht ihr? Da Northern Castle auf dieser kleinen Anhöhe erbaut ist und er sein Haus am Ortsrand hat, kann er das Licht in meinem Fenster durchaus sehen.« »Wie romantisch«, sagte ich und meinte es keineswegs spöttisch. »Verrätst du uns dann auch, wer er ist?« Janet nickte, und ihre Augen leuchteten jetzt. »Ihr werdet ihn während dieser Ferien bestimmt noch kennenlernen. Es ist Doktor Robert Mitchell, unser hiesiger Arzt. Bob und ich – wir sind schon lange ein Paar, und wir lieben uns wirklich. Wir wollen heiraten und dann gemeinsam eine kleine Privatklinik gründen.« »Ach, darum bist du auf der Schwesternschule?« »Natürlich. Ich will meinem Mann eine echte Mitarbeiterin sein. Ich will mich um die Pflege seiner Patienten kümmern. Ich freue mich auf unsere gemeinsame Zukunft. Wir werden miteinander arbeiten und kranken Menschen helfen, und wir werden glücklich sein. Glück, das ist ein Wort, das man hier auf Northern Castle überhaupt nicht zu kennen scheint. Aber ich will es erfahren, was dieses Wort bedeutet. Und nichts und niemand wird mich daran hindern können.«
Das klang wie ein Schwur, aber auch wie eine Drohung, und mir war sofort klar, daß Janet ihren Vater meinte, den Earl of Northern.
*
Für den nächsten Tag hatten wir eine Kutschfahrt verabredet. Janet wollte uns den Park und die Umgebung von Northern Castle zeigen, sie wollte diese Gelegenheit auch zu einem unverdächtigen Besuch bei Dr. Mitchell nutzen. Während sie bei ihrem Verlobten war, sollten wir uns den Ort alleine ansehen und in einem netten Gasthaus an einem kleinen See in der Nähe Rast machen. Janet wollte später zu uns stoßen, und gemeinsam wollten wir dann wieder nach Northern Castle zurückkehren. Zunächst wartete allerdings noch eine unerfreuliche Szene auf uns. Janet kutschierte den eleganten offenen Wagen selbst. Sie machte eine gute Figur auf dem Bock der Kutsche, und die beiden vorgespannten edlen Pferde parierten ihr aufs Wort und auf jede noch so kleine Bewegung am Zügel. So fuhren wir bei wunderschönem Wetter durch die prächtige Eichenallee, die vom Hauptportal des Schlosses bis zu dem in der Ferne erkennbaren hohen schmiedeeisernen Parktor führte. Wir waren alle in guter Stimmung, und vor allem Janet freute sich auf die bevorstehende Begegnung mit Dr. Mitchell. In der Ferne kam uns unter den hohen Bäumen ein Reiter entgegen. Als Janet ihn bemerkte, ruckte sie unwillkürlich am Zügel, so daß eines der beiden Pferde erschrocken schnaubte. Janet wandte sich zu uns um und sagte ärgerlich: »Dort hinten kommt Lord Stenley. Ein Freund meines Vaters, ein unsympathischer Mensch, aber hier gibt es leider keine
Möglichkeit, ihm auszuweichen. Ich werde die Begegnung so kurz wie möglich halten.« Der Reiter kam näher. Er machte eine tadellose Figur im Sattel, und schon von Ferne zog er seine Reiterkappe und grüßte. Er war wohl wirklich im Alter von Janets Vater und sah gar nicht so übel aus. Aber beim Näherkommen bemerkte auch ich in seinem Gesicht Züge, die mir gar nicht sympathisch waren. Schwer zu sagen, warum ich so empfand. Die dunklen Augen des Mannes standen ziemlich dicht beieinander, vielleicht wirkte sein Blick darum so stechend, und das breite Lächeln in diesem Gesicht war eher ein Grinsen. Ein Lächeln, zu dem mir eigentlich nur das Wort ölig einfällt. Immerhin schien er sich über die Begegnung zu freuen. »Sehr entzückt, Sie zu sehen, meine Damen«, sagte er mit ganz überschwenglicher Freundlichkeit. »Miss Janet, Sie haben sich ja großartig herausgemacht seit unserer letzten Begegnung, wirklich erstaunlich!« Er musterte Janet mit einem ungenierten, unangenehmen Blick und erklärte dann in einem viel zu vertraulichen Ton: »Wollen Sie mich bitte den Damen vorstellen, Miss Janet?« Janet kam dieser Aufforderung höflich, aber kühl nach und meinte dann in erstaunlich hochnäsigem Ton: »Ich wußte nicht, daß Sie bereits auf Northern Castle sind, Lord.« Dieser machte eine knappe Verbeugung und antwortete: »Die übrigen Jagdgäste Ihres Herrn Vater werden erst in den nächsten Tagen anreisen, Miss Janet. Ich habe mir erlaubt, schon früher herzukommen. Auch in der Hoffnung, Ihnen zu begegnen. Und ein glücklicher Zufall…« »Tut mir leid, Lord«, schnitt Janet ihm das Wort ab. »Wenn Sie dieses Treffen hier einen glücklichen Zufall nennen, so muß ich Sie enttäuschen. Wir haben bereits feste Pläne und können uns jetzt nicht noch länger aufhalten. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag auf Northern Castle.« Damit knallte
Janet leicht mit der Peitsche, und die Pferde setzten sich folgsam in Bewegung. »Ekelhafter Geck!« murmelte Janet böse vor sich hin, und ich hoffte nur, daß wir schon weit genug entfernt waren, so daß der Lord es nicht mehr gehört haben konnte. Ich weiß nicht, ob Lucy der kurzen Unterhaltung genauso aufmerksam gefolgt war wie ich. Ich hatte nicht auf sie geachtet. Aber jetzt, als die Kutsche sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und auch Lord Stenley seinen Ritt fortsetzte, wandte Lucy sich um und blickte hinter dem Reiter her. »Gefällt dir der Mann etwa?« fragte ich neckend. Lucy schien mich gar nicht gehört zu haben. Sie blickte mich an mit einem Gesicht, als wären ihre Gedanken sehr weit fort gewesen. Dann sagte sie wie zu sich selbst: »Das also ist Lord Stenley.« Wir machten es dann so, wie wir es vorher verabredet hatten. Janet setzte uns im Ort auf dem Marktplatz ab und entschuldigte sich nochmals, daß sie uns nun alleinlassen wolle. »Das versteht ihr doch, nicht wahr?« bat sie verlegen. »Ihr werdet Bob bestimmt noch kennenlernen, aber heute bei der ersten Begegnung nach langer Zeit möchte ich doch lieber mit ihm allein sein.« »Und wo läßt du inzwischen den Wagen und die Pferde?« fragte ich. »Da ist ein junger Mann, der kümmert sich darum«, gab Janet Auskunft, und schon setzte sich der Wagen wieder langsam in Bewegung. Wir beiden Freundinnen gönnten der Dritten in unserem Bunde das Glück. Wir machten den vorgeschlagenen Spaziergang und warteten dann wie verabredet bei einer großen Portion Eis in dem bezeichneten Gasthof auf Janet.
Ich dachte noch einmal über unsere Begegnung im Park nach und fragte Lucy aus meinen Gedanken heraus: »Hast du eigentlich schon früher von diesem Lord Stenley gehört?« Lucy sah mich groß an. »Nein«, sagte sie. »Warum fragst du?« »Ich muß gerade daran denken, daß du dich recht auffällig nach ihm umgeschaut und gesagt hast. ›Das ist also Lord Stenley‹.« »Habe ich das wirklich gesagt?« fragte Lucy erstaunt. »Natürlich. Es ist mir gleich aufgefallen. Weißt du es etwa nicht mehr?« »Doch, doch, das schon. Aber warum ich das gesagt habe… Ich kannte den Lord vorher natürlich genausowenig wie du. Aber es war so, als teile eine innere Stimme mir mit: ›Das ist Lord Stenley‹. Und gleichzeitig wußte ich auch, daß das sehr wichtig für mich ist. Wahrscheinlich habe ich mich darum umgesehen. Erklären kann ich das aber nicht, Claire.« »Wieso sollte der Lord für dich wichtig sein?« »Keine Ahnung.« »Na, laß man, ist ja auch nicht so wichtig.« Ich hörte bald auf, mich über Lucy zu wundern. Das heißt, ich versuchte es zumindest. Höchst seltsam fand ich das, was da anscheinend in der Freundin vorging, schon. Janet kam kurz darauf und strahlte vor Glück. Während wir zum Schloß zurückfuhren, erzählte sie: »Bob will nicht mehr länger warten. Und damit trifft er auch genau meine Wünsche. In den nächsten Tagen will er offiziell beim Grafen um meine Hand anhalten. Und wenn der Earl nicht einwilligt, was fast zu befürchten ist, dann verlasse ich Northern Castle und wir heiraten trotzdem. Ich bin schließlich alt genug.« »Hast du dir das auch genau überlegt, Janet?« fragte ich. »Du mußt auch an die Konsequenzen denken.«
»Das ist längst bedacht. Ich habe mich im Schloß noch nie richtig wohl gefühlt. Meine Mutter liebe ich zwar, aber zu meinem Vater gibt es keinerlei persönliche Beziehung. Ihn habe ich noch nie wie eine Tochter geliebt. Manchmal habe ich sogar geglaubt, daß er mich haßt. Da kann es ihm eigentlich völlig gleichgültig sein, wen ich heirate.«
*
Noch am selben Tag zeigte es sich, daß es dem Grafen keineswegs gleichgültig war, wen Janet heiratete. Allerdings waren seine Wünsche kaum von väterlicher Fürsorge bestimmt. Es war nach dem Dinner, das wieder gemeinsam, aber weitgehend schweigend eingenommen worden war. Man war beim Dessert, als der Graf wie beiläufig feststellte: »Du hast Eindruck auf meinen Freund Lord Stenley gemacht, Janet. Er hat heute bei mir um deine Hand angehalten, und selbstverständlich habe ich zugesagt.« Das schlug wie eine Bombe ein. Man sah nur fassungslose Gesichter. Manche Gabel, die gerade zum Mund geführt werden sollte, schien irgendwo in der Luft hängenzubleiben. Bei Janet war die Schrecksekunde aber nur sehr kurz. Sie ließ ihr Besteck fallen und sprang so heftig auf, daß ihr Stuhl beinahe nach hinten kippte. »Das kann doch nicht dein Ernst sein, Vater!« rief sie unbeherrscht. »Es ist sogar mein voller Ernst«, entgegnete der Graf kühl. »Im übrigen möchte ich dich bitten, dich so zu benehmen, wie es sich in diesem Hause gehört. Also nimm bitte wieder Platz.« Doch Janet dachte gar nicht daran, diesem Befehl zu gehorchen. Sie lief vielmehr um den Tisch herum, blieb dicht neben dem Platz des Grafen stehen. Ich glaube, am liebsten
hätte sie diesen so selbstgefällig am Kopf der Tafel thronenden Mann mit beiden Händen geschüttelt. Aber sie riß sich zusammen. »Es ist also dein Ernst, Vater«, sagte sie, und man merkte ihr an, wie schwer es ihr fiel, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Du willst mich tatsächlich mit diesem alten Widerling verkuppeln. Ich weiß nicht, ob du einen bestimmten Grund dazu hast. Vielleicht setzt dein sogenannter Freund dich irgendwie unter Druck. Ich weiß es nicht und es ist mir im Grunde genommen auch egal. Du hast jedenfalls deine Zusage gegeben, ohne mich überhaupt zu informieren. Wäre es nicht deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, mich zumindest zu fragen? Habe ich denn dazu überhaupt nichts zu sagen?« »Nein, natürlich nicht«, antwortete Earl Northern. »Warum solltest du gefragt werden? Du kannst froh sein über eine solche Partie. Im übrigen bitte ich mir aus, daß du in einem etwas respektvolleren Ton über meine Freunde sprichst. Ich kann es unmöglich dulden, daß du meinen Freund einen alten Widerling nennst.« »Ob du es duldest oder nicht, für mich ist er ein Widerling. Und wenn du wirklich glauben solltest, ich sei froh über eine solche sogenannte Partie, dann täuschst du dich gründlich. Nein, ich bin ganz und gar nicht froh. Ich mag den Lord nicht, und von Liebe kann natürlich überhaupt keine Rede sein. Im Gegenteil, ich kann den Kerl nicht ausstehen. Von Kind auf mochte ich ihn nicht leiden, und was er sich bei einem solchen Ansinnen denkt, ist mir auch schleierhaft. Er kennt mich ja kaum, er kennt mich herzlich wenig.« »Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Lord Stenley hat deine Entwicklung seit Jahren beobachtet. Nun sei es Zeit zur Hochzeit, meint er, und ich habe ihm recht gegeben. Also erübrigt sich jede weitere Debatte darüber.« Er blickte seine Frau an, die am anderen Ende der Tafel saß. »Wie lange
brauchst du zur Vorbereitung, Myrna? Die Hochzeit soll selbstverständlich ein würdiges Fest werden. Das sind wir uns und auch dem Lord schuldig. Du brauchst dabei in keiner Weise zu sparen.« Auch Lady Myrna war fassungslos, und es schien ihr schwer zu werden, Haltung zu bewahren. So klang ihre Stimme ziemlich gepreßt, als sie erklärte: »Du kannst eine so schwerwiegende Entscheidung doch nicht allein treffen, Rufus! Janet ist wirklich alt genug, du hättest sie fragen müssen. Und ich denke, daß ich in einer solchen Angelegenheit auch ein Wort mitzureden hätte.« Man sah es dem Grafen an, wie erzürnt er über eine solche Widerrede seiner Gattin war. Aber noch ehe er böse antworten konnte, sagte Janet rasch, und sie schien inzwischen erstaunlich ruhig geworden zu sein: »Ihr braucht euch gar nicht zu streiten, liebe Eltern. Ich werde den Lord nicht heiraten. Das ist mein erstes und einziges Wort in dieser Angelegenheit. Tut mir leid für dich, Vater, aber du bist zu voreilig gewesen. Ich liebe längst einen anderen Mann, ich bin mit ihm verlobt, und ich werde ihn heiraten. Ob mit oder ohne deinen Segen, Vater, ist mir inzwischen egal. Sieh zu, wie du das deinem Freund klarmachst.« Während Janets Rede waren die Zornesadern an des Grafen Stirn gefährlich angeschwollen. Er gab sich nicht die geringste Mühe, sich zu beherrschen, sondern er brüllte nun los: »Du wagst es, so zu mir zu reden, gerade du? Ist das die Dankbarkeit, die du uns schuldest? Jawohl, du schuldest mir Dankbarkeit, mir und meiner Frau, daß wir uns deiner erbarmt, daß wir dir ein Heim gegeben haben.« »Rufus, ich bitte dich!« rief die Gräfin fast flehend, doch der Hausherr ließ sich nicht bremsen. »Mische dich nicht ein, Myrna!« brüllte er weiter. »Ich bin es leid, dieses Theater. Nur deinetwegen habe ich damals
nachgegeben, habe zugelassen, daß das Kind bei uns auf Northern Castle aufwächst. Ich hätte es nicht tun sollen. Es war mir von Anfang an zuwider. Das ist nun der Dank! Aber das laßt euch sagen, meine Entscheidung gilt! Die Hochzeit findet statt, schon in allernächster Zeit. Ich habe mein Wort gegeben, und das wird eingehalten. Und wenn ich die aufsässige junge Dame so lange einsperren müßte. Was Stenley nach der Hochzeit mit ihr macht, ist mir egal. Er will sie haben, also kriegt er sie!« Wir alle wagten kaum zu atmen. Zu ungeheuerlich war dieser Streit, den wir da miterleben mußten. Schon die Tatsache an sich, daß der Graf sich überhaupt nicht darum scherte, daß doch immerhin Gäste zugegen waren, war ziemlich schlimm, von der Angelegenheit, um die es ging, ganz zu schweigen. Der Graf hatte inzwischen die Halle verlassen, in der wie üblich das Dinner eingenommen worden war, und er ließ für eine Weile atemloses Schweigen zurück. Es war Janet, die sich als erste faßte, die ihre Stimme wiederfand. »Bin ich denn eine Sklavin, die man einfach verschachern kann?« rief sie zornig. »O nein, das bin ich nicht! Auch wenn der ehrenwerte Earl of Northern das anzunehmen scheint. O nein, da soll er mich noch kennenlernen. Ehe ich das mit mir machen lasse, verlasse ich bei Nacht und Nebel das Schloß.« Lady Myrna saß totenbleich an ihrem Platz, Tränen liefen ihr über die Wangen, sie bot ein Bild des Jammers. Janet wandte sich ihr zu, schien erst jetzt über die merkwürdigen Andeutungen des Grafen nachzudenken. »Was hat er überhaupt damit gemeint, daß ich dankbar sein müsse?« fragte sie noch immer aufgebracht. Den bemitleidenswerten Zustand der Gräfin schien sie überhaupt nicht zu bemerken. »Hat nicht jedes Kind das Recht, bei seinen Eltern aufzuwachsen?«
Die Lady tupfte sich mit einem Spitzentuch die Tränen ab, sie rang um Fassung, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. »Selbstverständlich, Janet«, schluchzte sie. »Ich bitte dich herzlich, Darling, vergiß, was der Graf gesagt hat. Es waren zornige, unbedachte Worte. Er war eben sehr verärgert.« Sie erhob sich mühsam. »Entschuldigt mich bitte. Mir ist die Aufregung nicht bekommen. Ich muß mich hinlegen.« Lucy sprang auf, bot sich an, sie zu begleiten, doch die Gräfin winkte ab. »Nein, nein, lassen Sie nur, Mädchen. Ich komme schon zurecht. Es ist wirklich nur die Aufregung.« So blieben wir alle sitzen und schauten hinter ihr her, bis die Tür zu ihren Gemächern sich hinter Lady Myrna geschlossen hatte. Da Sir Henry an diesem Abend nicht an der gemeinsamen Mahlzeit teilgenommen hatte, waren wir drei Mädchen nun allein. »Begreift ihr das?« fragte Janet, und sie hatte nun doch Tränen in den Augen, die sie aber fast wütend wegwischte. »Könnt ihr so etwas überhaupt begreifen?« Und direkt an Lucy gewandt fuhr sie fort: »Solltest du mich jemals beneidet haben, daß ich in einem Schloß aufgewachsen bin, Lucy, so wirst du inzwischen wohl begriffen haben, daß man in einem kleinen, bürgerlichen Heim viel glücklicher sein kann. Es kommt auf die Menschen an, die menschliche Wärme. Und davon habe ich hier in diesem Schloß nicht allzuviel verspürt. Deswegen bleibe ich auch nicht mehr lange hier, darauf könnt ihr Gift nehmen. Was sagt ihr übrigens zu diesem alten Widerling, der mich heiraten will. Ist das nicht ein starkes Stück? Na, der wird sich wundern. Der soll sich seine Braut sonstwoher holen, aber nicht aus Northern Castle.« »Er meint es aber sehr ernst, Janet«, sagte Lucy ruhig. Janet war verblüfft. »Wie kommst du darauf?«
Lucy zuckte die Achseln. »Ich weiß es eben, Janet«, sagte sie bedrückt. »Und ich weiß auch, daß Lord Stenley nicht mit sich spaßen läßt.« »Das glaube ich zwar auch, aber woher willst du das wissen? Du kennst den Menschen ja überhaupt nicht.« »Das ist richtig«, nickte Lucy. »Weißt du, manchmal hat man so Gefühle…« »Ach, Unsinn, Lucy«, schnitt Janet ihr das Wort ab. »Wer spricht hier im Haus schon von Gefühlen. Und im übrigen – der Lord kann es noch so ernst meinen, ich werde ihn jedenfalls nicht heiraten. Eher bringe ich mich um. Oder noch besser, man sollte den Kerl umbringen.« »Liebe Güte, Janet, sag so etwas nicht!« rief ich erschrocken. Doch Janet blitzte mich ganz böse an. »Habe ich denn nicht recht? Würdest du diesen Kerl heiraten?« »Nein, nein, natürlich nicht«, versuchte ich Janet zu beschwichtigen. »Aber trotzdem, solche Drohungen sollte man nicht einmal im Spaß sagen.« »Das war kein Spaß, weiß Gott nicht. Hier im Schloß macht man keinen Spaß. Und wie findet ihr die Einstellung meines Vaters, daß ich dankbar zu sein habe? Gewiß, das mögen andere Eltern wohl auch mal sagen, aber bei meinem Vater klang es richtig schlimm, findet ihr nicht auch? Ich sollte dankbar sein, daß er und seine Frau sich meiner erbarmt haben. Aber ich kann mir schon denken, wie er das meint. Er wollte wahrscheinlich lieber noch einen zweiten Sohn haben, denn mein Bruder Vigor ist sieben Jahre älter als ich und es zeichnete sich wohl schon damals ab, daß Vigor wohl nicht der Sohn war, den der Graf sich gewünscht hätte. Vigor war ein zartes, sensibles Kind, mit dem mein Vater wohl nie viel anfangen konnte. Wahrscheinlich erhoffte er sich einen robusteren zweiten Sohn, der mehr ihm geähnelt hätte. Die Geburt eines Mädchens wird ihn schwer enttäuscht haben. Da
traue ich ihm ohne weiteres zu, daß er dieses unwillkommene ungeliebte Kind am liebsten in fremde Hände gegeben hätte. Na ja, daran hat Mutter ihn hindern können. Und vor dieser unerwünschten Heirat jetzt werde ich mich selbst zu schützen wissen. Da werde ich Mittel und Wege finden, und ich werde notfalls vor nichts zurückschrecken. Das könnt ihr mir glauben.« »Bitte, Janet, tue nichts Unüberlegtes«, mahnte ich. »Und wenn wir dir irgendwie helfen können, so kannst du dich immer auf uns verlassen. Nicht wahr, Lucy?« Lucy schaute an uns vorbei in eine unbestimmte Ferne. »Ja«, nickte sie. »Ja, Janet, du kannst dich auf uns verlassen. Es wird dir geholfen. Du bist nicht so allein, wie du glaubst. Da ist eine starke Kraft auf deiner Seite, eine sehr starke Kraft.« »Wie soll ich das verstehen?« fragte Janet verdutzt. »Das kann ich dir nicht erklären, Janet. Aber ich weiß, daß du diesen Lord Stenley nicht heiraten wirst.«
*
»Ich hatte einen schrecklichen Traum«, erzählte Lucy mir am anderen Morgen. »Ich fühle mich wie gerädert, und das Grauen sitzt mir noch in den Knochen.« Wir beide, Lucy und ich, hatten nebeneinander liegende Schlafzimmer, dazwischen gab es eine breite Flügeltür, die wir aber nicht geschlossen hatten. So hatte ich nicht gehört, wie Lucy zu mir herüberkam, und jetzt saß sie auf meinem Bett. Sie sah wirklich erbarmungswürdig aus, sie war blaß und wirkte unausgeschlafen und hatte Ringe unter den Augen. – »Willst du mir von dem Traum erzählen, Lucy?«
»Ich weiß nicht recht. Aber mir ist alles noch so gegenwärtig, als hätte ich das alles nicht geträumt, sondern selbst erlebt.« »Dann solltest du es dir wirklich von der Seele reden, Lucy.« »Ja, ja, vielleicht. Wie man so etwas überhaupt nur träumen kann! Weißt du, Claire, ich wünschte, ich wäre doch nicht mit nach Northern Castle gekommen, hätte am besten nie etwas davon gehört. Aber so… ich hatte ja gar keine andere Wahl. Wenn ich doch wenigstens nicht mit zu deiner Mrs. Finch gegangen wäre!« »Du meinst wegen dieser spiritistischen Sitzung?« »Ja, das meine ich. Da ist mir dieser… dieser Geist begegnet, und nun läßt er mich einfach nicht mehr los.« »Bildest du dir da nicht vielleicht nur etwas ein, Lucy?« »Ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte es wirklich. Und vielleicht ist es ja auch so. Aber dieser Traum jetzt…« »Wir träumen doch alle mal etwas Verrücktes. Und nach dieser Aufregung beim Dinner gestern abend… also, da kann die Phantasie schon mal mit einem durchgehen. Und bei dir hat sie sich eben in einem Alptraum ausgetobt. Es war doch ein Alptraum, oder?« »Ja, Claire. Aber er wirkte so realistisch.« »Das tun Alpträume meistens.« »Da hast du sicher recht, Claire.« »Es ging also, wenn ich dich richtig verstanden habe, wieder um diesen Geist, der merkwürdigerweise so aussieht wie die Selbstdarstellung des Malers Jeremy Jordan auf dem Bild in Sir Henrys Wohnung.« »Ja, um ihn geht es«, nickte Lucy. »Das heißt, es ging nicht um ihn, sondern er war der Hauptakteur. Und er war auch wieder genauso gekleidet, sah genauso aus wie auf dem Bild.« »Und wo hast du ihn nun gesehen? Ich meine, in welcher Umgebung? Lucy, du braucht nur darüber zu reden, wenn du es wirklich willst. Wenn du aber das Gefühl hast, es sei besser
zu schweigen, dann nehme ich dir das gewiß nicht übel. Ich möchte dir ja nur helfen, wenn ich es irgendwie kann.« »Ich weiß, Claire. Und ich bin wirklich froh, daß ich mit dir sprechen kann, daß du mich nicht einfach auslachst. Ich denke ja manchmal schon selbst, daß mit meinem Verstand etwas nicht in Ordnung ist.« »Unsinn, Lucy. Du darfst dich bloß nicht verrückt machen.« »Das sage ich mir ja auch, und ich will es auch versuchen, aber wenn man dann so furchtbar träumt… Willst du mir wirklich zuhören, wenn ich es erzähle?« »Natürlich. Und ich glaube schon, daß es dir auch irgendwie helfen kann, wenn du darüber sprichst.« »Hoffentlich. Also, es fing damit an, daß dieser… dieser Maler plötzlich in meinem Zimmer stand. Ist es dir recht, wenn ich ihn einfach ›Maler‹ nenne? Es fällt mir so schwer, von einem Geist zu reden, obwohl ich annehmen muß, daß er tatsächlich so etwas wie ein Geist ist. Jedenfalls das, was ich bisher gesehen hatte. Jetzt in der Nacht handelte es sich ja nur um einen Traum.« »Aber da ging es also auch um diesen… diesen Maler?« »Richtig. Er stand also plötzlich in meinem Zimmer, und er sprach zu mir.« »Er sprach?« »Vielleicht nicht richtig. Das heißt, ich konnte das, was er sagte, nicht richtig hören, aber ich verstand ihn auch ohne Laute. Kannst du das begreifen? Ich wußte jedenfalls, daß er gekommen war, um mir zu befehlen, daß ich mich zum Grafen begeben solle, um ihm mitzuteilen, daß er unverzüglich auf den nördlichen Wachtturm steigen müsse. Weißt du, welcher Turm das ist?« »Ich denke, das ist der höchste und wuchtigste Turm von Northern Castle.« »Richtig.«
»Aber was sollte Graf Northern in der Nacht dort oben auf dem Turm?« »Ich sollte zum Turm rennen, das geht von hier aus ja über mehrere Treppen und Flure, und sollte dem Grafen dann atemlos sagen, er müsse sofort auf die oberste Plattform des Turmes kommen, denn Lady Myrna sei dort und wolle sich in die Tiefe stürzen. Nur er, der Ehemann, könne sie vielleicht davon abhalten.« »Aber das ist doch verrückt!« »Sicher ist es das, und ich empfand es auch so. Aber es war ja nur ein Traum.« »Sicher, das hätte ich beinahe vergessen. Wie ging er also weiter, dein Traum?« »Nun, das, was der Maler mir zu verstehen gegeben hatte, war für mich ein Befehl. Ich stand also auf in meinem Traum, zog mir meinen Morgenmantel über und lief zum Turm. Du weißt, in dessen Erdgeschoß befindet sich die Schloßbibliothek, und der Maler hatte mir zu verstehen gegeben, daß der Hausherr sich dort aufhalte.« »Mitten in der Nacht?« »Ja, mitten in der Nacht, in meinem Traum. Und es war auch so, wie der Maler gesagt hatte. Graf Northern saß am Kamin und las. Er war natürlich erstaunt, als ich da so in den Raum stürmte und, wirklich atemlos, ausrichtete, was der Maler mir aufgetragen hatte.« »Und der Graf glaubte dir?« »Er war natürlich überrascht. Aber warum sollte er mir nicht glauben? Er zog sich in großer Eile seine Joppe über, murmelte etwas Ärgerliches vor sich hin und verließ rasch die Bibliothek.« »Und du?« »Ich folgte ihm.« »Wohin?«
»Auf den Turm.« »Hattest du dazu auch einen Befehl?« »Ich weiß nicht. Aber wahrscheinlich schon, sonst wäre ich dem Grafen ja nicht gefolgt.« »Und was sagte der Graf dazu?« »Ich ging so, daß er mich nicht bemerkte.« »Du bist also hinter ihm her geschlichen.« »Nun ja, ich fühlte mich nicht wohl dabei, aber ich mußte es wohl tun. Es war ja auch nur ein Traum.« »Und was passierte dann auf dem Turm? Bis jetzt war dein Traum ja noch ziemlich harmlos.« Lucy blickte mich unglücklich an. »Das eigentlich Schlimme kommt ja erst noch.« »War Gräfin Myrna wirklich auf der Turmplattform?« »Nein, sie war nicht da. Aber der Maler.« »Das habe ich mir schon gedacht. Was wollte der Maler denn vom Earl of Northern? Hast du das auch geträumt?« Lucy nickte. »Ja, ich stand in meinem Traum ganz dicht daneben, habe jedes Wort mitgehört. Das heißt – die Unterhaltung fand überhaupt durch mich statt.« »Wie soll ich das verstehen?« Lucy sprang von meinem Bett auf, sie lief zum Fenster, zog die Vorhänge zurück, kam wieder zu meinem Bett, stand dort am Fußende, diese schmale zierliche Gestalt im weißen Nachthemd, den dunklen Lockenkopf zerzaust, und schaute mich aus ihren großen braunen Augen verzweifelt an. »Wenn ich es nicht geträumt hätte, Claire, so deutlich geträumt, ich glaube, ich würde verrückt. Denke nur einmal, ich hätte das wirklich erlebt! Denn was dort geschehen ist auf dem Turm, was dort geschehen ist…« »Es war aber nur ein Traum, Lucy! Nun mach dich nicht völlig verrückt. Am besten erzählst du der Reihe nach, was du in deinem Traum gesehen und sozusagen erlebt hast.«
»Ja, also der Maler stand dort oben, als wir kamen, der Graf und ich. Er blickte uns entgegen, aber Janets Vater konnte ihn offensichtlich nicht sehen. Der Maler befahl mir, zu dem Grafen zu sprechen, der sich suchend umblickte, aber seine Gattin war natürlich nicht da. Und ich sagte mit einer Stimme, die mir selbst ganz fremd klang, denn sie war tief und richtig männlich: ›Jeremy Jordan hat Sie hierhergerufen, Graf. Ich habe lange warten müssen, aber endlich kann ich zu Ihnen reden.‹ Der Graf fuhr zu mir herum, Claire, das kannst du dir ja vorstellen. Er blickte mich aus weit aufgerissenen, entsetzten Augen an, kam auf mich zu und fragte böse: ›Was soll das, Mädchen? Was soll dieser Unsinn, was erlauben Sie sich?‹ Doch ich, das heißt die Stimme aus mir, sprach schon weiter: ›Das ist kein Unsinn, Graf Northern! Das ist genauso wirklich wie das, was Sie einst getan haben. Jetzt endlich kann ich mich rächen.‹ – ›Rächen? Das ist ja verrückt!‹ Der Graf blickte sich jetzt wild um, ob es nicht doch einen Mann auf der Plattform gäbe, aber er sah durch den Maler hindurch, der drohend vor ihm stand, er konnte nur mich sehen. Er war nicht nur wütend, sondern auch sichtlich verwirrt. Und wieder sprach es aus mir heraus…« »Hast du dabei die Lippen bewegt, Lucy?« »Ich glaube, ja.« »Also, was sagtest du oder die Stimme in dir dann?« »Etwas, was ich gar nicht verstehen kann, Claire. ›Ich will mich rächen‹, sagte die Stimme. ›Jetzt habe ich die Macht dazu. Sie, Graf Northern, sollen nicht länger ungeschoren bleiben, Sie heimtückischer Mörder. Und ich will Abigails Tochter schützen. Ich werde es nicht zulassen, daß auch sie ins Verderben gestürzt wird.‹ Der Graf wurde jetzt wirklich nervös, Claire, oder er bekam es wohl mit der Angst zu tun. Zunächst hatte er noch so einen überlegenen, spöttischen Eindruck gemacht, aber jetzt konnte er nicht mehr ruhig
bleiben. Er machte ein paar große Schritte bis zu den niedrigen Zinnen da oben auf der Plattform, schaute hinunter, ging dann mit genauso großen Schritten zur anderen Seite, blickte auch da hinab, sah aber nichts, genauso wenig wie an den beiden anderen Seiten. Seine Bewegungen wurden immer hastiger, immer fahriger, und schließlich blieb er dicht vor mir stehen. Es sah so aus, als wolle er mich angreifen. ›Hände weg!‹ rief da diese harte Stimme aus mir heraus. Ich sah, wie der Maler drohend auf uns beide also auf den Grafen und mich zukam, und da – es war furchtbar, Claire! – ganz dicht vor uns, wir standen übrigens nahe an den Zinnen, der Graf noch näher als ich, da blieb dieser Maler stehen. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber ich hatte den Eindruck, als nehme er alle seine Kraft zusammen, und dadurch wurde die Erscheinung auf einmal ganz hell, schien von innen heraus zu leuchten – und da endlich konnte der Graf diese Geistererscheinung wohl auch sehen! Dieses Gesicht des Grafen werde ich nie vergessen, Claire! Es war vor Entsetzen wirklich ganz starr, aber auch Unglauben spiegelte sich darin, Unglauben und Wut. ›Jeremy Jordan!‹ stieß er gepreßt hervor. ›Das gibt es doch nicht! Du bist tot! Elendiglich umgekommen in diesem Loch, das ich selbst zugemauert habe! Du kannst mir schon lange nicht mehr drohen. Ich leide wohl unter Halluzinationen.‹ Der Graf trat vom Rand der Plattform zurück, er blickte mich böse an und sagte drohend: ›Ich weiß nicht, was Sie und bestimmt auch meine Tochter hier aufgeführt haben. Glauben Sie, so kann man mit dem Earl of Northern umgehen? Sie verlassen morgen unverzüglich das Schloß, außerdem behalte ich mir weitere Schritte gegen Sie vor. Sie werden das, was hier geschehen ist, noch sehr bereuen, junge Dame!‹ Er wandte sich der Steintreppe zu, die nach unten führte, da rief diese furchtbare Stimme: ›Halt, du Mörder! Es gibt kein Entkommen
mehr für dich! Du bist jetzt in meiner Gewalt, Graf Rufus, und ich bin genauso unbarmherzig wie du!‹« Lucy schüttelte sich entsetzt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie schien das alles vor sich zu sehen, was sie da hastig und heiser erzählte. »Der Graf drehte sich wild um. An der niedrigen Brüstung stand der Maler. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und lachte. Es war ein wildes, dröhnendes Lachen. Ich glaube, das konnte der Graf jetzt ebenfalls hören, und seine Wut war furchterregend. ›Du willst mir drohen, du elender Strolch!‹ schrie er. ›Du willst dich noch einmal mit mir anlegen? Wenn ich damals tatsächlich nur halbe Arbeit geleistet haben sollte, so will ich die Tat nun vollenden. Über einen Graf Northern lacht man nicht!‹ Er riß die Arme hoch und stürmte mit gewaltigen Schritten auf die Brüstung zu, wo der Maler ganz deutlich zu sehen war und immer noch lachte. Der Graf wollte ihn mit aller Kraft über die niedrige Mauer in die Hefe stürzen. Aber ganz plötzlich, Claire, so wie man eine Lampe auslöscht, war dieser Geist – jetzt muß ich ihn wohl doch so nennen – war diese Erscheinung des Jeremy Jordan verschwunden. Es war nur gähnende Dunkelheit da, wo ich ihn gerade noch gesehen hatte und wo der Graf in diesem Augenblick zustoßen wollte. Seine Hände stießen ins Leere, Claire, sie fanden keinen Widerstand… Der Graf verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem gräßlichen Schrei in die Tiefe. Danach hörte und sah ich nichts mehr. Auch dieser Geist ließ mich in meiner grenzenlosen Verwirrung und Angst allein. Er war fort und kam nicht zurück. Ich rannte wie von allen Teufeln gejagt die steinerne Treppe vom Turm herunter, erreichte das Schlafzimmer, ohne daß mich jemand sah, und verkroch mich wie ein Kind in meinem Bett. Ob ich danach noch geschlafen habe, weiß ich nicht. Es muß wohl so etwas wie eine tiefe Bewußtlosigkeit gewesen sein.
Ja, und dann erwachte ich wieder… und nichts war ausgelöscht von diesem Traum, gar nichts. Und auch jetzt, wo ich es dir erzählt habe, Claire, fühle ich mich nicht besser. Mir ist richtig elend zumute.« »Das kann ich gut verstehen, Lucy. Aber trotzdem solltest du jetzt nicht so viel darüber grübeln. Es war ja schließlich nur ein Traum. Es ist übrigens noch sehr früh. Willst du nicht versuchen, noch ein wenig zu schlafen? Es würde dir sicher guttun.« Lucy nickte. »Ich sollte es wohl wirklich versuchen. Ich fühle mich wie zerschlagen.« »Ruhe wird jetzt das sein, was dir am meisten hilft, Lucy. Ich werde unten sagen, du hättest starke Kopfschmerzen. Von deinem Traum erzähle ich selbstverständlich nichts. Und du solltest besser auch nicht darüber reden, Lucy.« »Nein, das werde ich auch nicht. Man würde mich sicher für ein bißchen verrückt halten. Aber es ist gut, daß ich mit dir darüber reden kann. Allein würde ich kaum damit fertig werden können.« Lucy ging in ihr Zimmer hinüber und ich hörte, wie sie sich wieder hinlegte. Ich blieb auch noch eine Weile liegen und machte mich dann später leise fertig. Lucy schlief tatsächlich ganz fest, als ich dann zum Frühstück in die Halle hinunterging. Auf der Treppe kam mir ein junger Mann entgegen. Ich kannte ihn nicht, aber mir fiel ein, daß ich bei Janet einmal ein Foto ihres Bruders gesehen hatte. Das mußte er sein, dieser dunkelhaarige junge Mann, der mir jetzt nett zulächelte. »Sie müssen eine von Janets Freundinnen sein«, sagte er herzlich. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle? Ich bin Vigor Northern.« »Und ich bin Claire Severin«, antwortete ich und nahm die dargebotene Hand. »Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, daß
Janet uns zwei Freundinnen mitgebracht hat nach Northern Castle.« »Aber nein, wie sollte es mir etwas ausmachen? Im Gegenteil, ich finde es schön, daß in diesem so düsteren Schloß einmal etwas Junges zu Gast ist.« »Sie sind sehr freundlich, Sir.« »Ach bitte, nennen Sie mich doch einfach Vigor. Und ich möchte Claire sagen dürfen.« Ich nickte lächelnd und freute mich. »Haben Sie schon gefrühstückt, Claire?« »Nein, ich wollte es gerade.« »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen Gesellschaft leiste?« »Nein, selbstverständlich nicht.« »Fein, dann begleite ich Sie.« Wir schritten nebeneinander die Treppe hinunter, und Vigor erzählte dabei: »Ich habe gerade ein bißchen Zeit, da ist es wirklich nett, daß ich Sie getroffen habe. Wissen Sie, ich bin nicht sehr oft auf Northern Castle. Aber jetzt wurde ich gewissermaßen herbeordert. In ein paar Tagen findet die alljährliche große Jagd statt, und mein Vater legt Wert darauf, daß ich als der Sohn des Hauses daran teilnehme. Obschon mir überhaupt nichts an der Jagd liegt. Im Gegenteil, ich mag derartige Veranstaltungen nicht, ich beteilige mich auch nicht direkt an der Jagd. Aber ich bin halt da, wenn die Gäste eintreffen, kümmere mich um den einen oder anderen, so wie es sich gerade ergibt. Wenigstens in dieser Beziehung brauche ich meinen Vater ja nicht zu enttäuschen. Übrigens erstaunlich, ich habe den alten Herrn noch gar nicht gesehen. Ich bin zwar erst heute morgen hier eingetroffen, aber Vater erschien bisher noch nicht auf der Bildfläche. Das ist ganz gegen seine sonstige Gewohnheit. Wissen Sie, ob er sich vielleicht nicht wohl fühlte gestern?«
Mein Herzschlag machte unwillkürlich einen kleinen Sprung, denn natürlich dachte ich sofort an Lucys seltsamen Traum, schalt mich dann aber albern ob einer solchen Gedankenverbindung. »Nein, davon weiß ich nichts«, antwortete ich daher ruhig. »Ich weiß allerdings auch nicht, ob der Graf seinen Gästen gegenüber so etwas erwähnen würde.« »Da haben Sie natürlich recht«, lachte Vigor. »Vater ist nicht gerade leutselig. Na, er wird sicher bald erscheinen. Und dann wird er genügend Wünsche und Aufträge an mich haben. Die Zeit bis dahin nutze ich gern, um Ihnen ein bißchen Gesellschaft zu leisten.« Das Frühstück wurde in einem etwas kleineren Gemach neben der großen Halle eingenommen. Der Raum war nicht so sehr groß, aber auch nicht gemütlich. Irgendwie kam mir hier alles so düster vor. Das lag wohl an der dunklen Holzvertäfelung, den im Laufe der Jahrhunderte nachgedunkelten großen Gemälden an den Wänden – und überhaupt an der ganzen Atmosphäre hier auf Northern Castle, eine Atmosphäre, die ich bisher wirklich noch nicht als einladend empfunden hatte. Anscheinend bedrückte mich wohl auch noch Lucys Traum. Ich hatte ihn noch nicht ganz abschütteln können. Jedenfalls war ich froh, Vigor Northern an meiner Seite zu haben. Er schien wirklich ganz anders zu sein als sein Vater, wie Janet es ja schon erzählt hatte. Von ihm ging etwas Unkompliziertes, Herzliches aus. Ich fand ihn sofort sympathisch. Das Frühstück war auf einem langen Büfett angerichtet. Es war üppig und sehr vielseitig. Man konnte erscheinen, wann man wollte, und man bediente sich selbst. Das fand ich ganz angenehm. Ich nahm mir nur Tee, etwas Toast und Butter, und Vigor Northern goß sich ein Glas Orangensaft ein.
Wir wollten uns gerade an den Tisch setzen, als Janet in den Raum gestürmt kam. Ich wußte, daß sie morgens gern ausritt, und jetzt kam sie wohl von diesem Frühsport zurück, denn sie trug noch ihre Reitkleidung. Eigentlich sah sie sehr hübsch aus in der engen Hose mit den hohen Stiefeln und der weißen Bluse, über die sie ein buntes Seidentuch geschlungen hatte. Aber sie war völlig aufgelöst. Sie war leichenblaß und ganz atemlos. »Vigor, gut, daß du da bist!« rief sie. »Komm rasch!« »Aber Schwesterchen«, meinte Vigor Northern bestürzt. »Ich freue mich, dich zu sehen nach unserer langen Trennung, aber was ist denn los?« »Vater«, keuchte Janet, »ich habe ihn gefunden, als ich gerade zurückkam… Er liegt da draußen… Komm schnell…« »Vater?« wiederholte der junge Mann erschrocken. »Ist ihm etwas passiert?« »Ja, sicher… Ich glaube, er ist… er ist… Nun komm doch schon!« Janet zog ihren Bruder an der Hand, lief schon wieder los, und mir rief Vigor zu: »Sagen Sie dem Butler Bescheid, Claire. Er soll Dr. Mitchell anrufen. Und dann soll er ein paar Leute nach draußen schicken. Wohin denn überhaupt, Janet?« »Zum Nordturm«, hörte ich die Stimme meiner Freundin. »Unterhalb des Turmes, wo diese Felsbrocken aufgeschichtet sind.« »Haben Sie verstanden, Claire? Der Butler soll Leute dorthin schicken. So schnell wie nur möglich!« Ja, ich hatte gehört. Und ich hatte das Gefühl, meine Beine könnten mich nicht mehr tragen. Meine Knie wurden ganz weich, und ich fiel in den nächstbesten Stuhl. Gut, daß in diesem Augenblick niemand auf mich achtete. Ich muß kreideweiß geworden sein, und meine Hände zitterten.
Graf Northern lag unterhalb des Nordturms, vermutlich tot! Das gab es doch nicht, das konnte doch nicht wahr sein! Das, genau das hatte Lucy doch geträumt. Das hatte sie mir vorhin erst erzählt. Und nun sollte der Graf wirklich tot sein? Ich konnte es nicht fassen, begriff überhaupt nichts und hätte am liebsten den Kopf in irgendwelchen Sand gesteckt. Aber nur für einen kurzen Augenblick war ich dermaßen konfus. Mein Verstand schaltete sich sehr schnell wieder ein und sagte mir, daß ich jetzt handeln müsse. Zum Grübeln war jetzt keine Zeit. Ich drückte auf den Klingelknopf, um den Butler herbeizurufen, der auch sehr schnell kam. »Es ist etwas mit dem Grafen passiert, Williams«, sagte ich hastig. »Sir Vigor läßt Ihnen ausrichten, Sie möchten umgehend den Arzt anrufen und ihn um sofortiges Kommen bitten. Und dann schicken Sie bitte ein paar Leute zum Fuß des Nordturms.« »Ist der Graf… verletzt?« »Ich weiß auch noch nichts Genaues, Williams. Aber ich fürchte, es ist sehr ernst.« »Ich werde sofort alles in die Wege leiten«, versprach der Butler. Ich war wieder allein. Was sollte ich tun? Zu Lucy laufen und ihr das Entsetzliche, das Unglaubliche berichten? Aber Lucy hatte geschlafen wie eine Tote, als ich sie Verließ, und ich hoffte, daß sie noch eine Weile weiterschlafen würde. Also lief ich hinter Janet und ihrem Bruder her. Vielleicht war das nicht ganz passend für eine Außenstehende, die ich doch war, aber darüber dachte ich jetzt überhaupt nicht nach. Ich mußte wissen, was mit dem Grafen geschehen war. Nicht nur meinetwegen – obwohl ich wirklich in höchstem Maße aufgeregt war. Aber ich mußte auch wissen, was ich Lucy berichten sollte.
Die Arme würde es besonders hart treffen! Erst dieser schreckliche Traum, und nun diese grausige Wirklichkeit. So etwas gab es doch nicht! Es konnte doch gar nicht so sein! Unwillkürlich fragte ich mich, ob nicht ich es war, die jetzt einen beklemmenden Alptraum erlebte. Aber es war kein Traum, leider nicht. Ich rannte wirklich gerade über den Schloßhof und dann durch ein seitliches Tor hinaus, durch das ich gerade Janet und ihren Bruder hatte laufen sehen… Ich hatte dieses Tor bisher nicht gekannt, das war wohl der nächste Weg, um außen herum zum nördlichen Turm zu gelangen. Meine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Der Graf lag auf den Felsbrocken am Füße des Turms, und er war tot. Er lag genau so, wie er wohl aufgeschlagen war, er mußte sofort tot gewesen sein. Vigor Northern kniete neben ihm, als ich näherkam. Janet hatte sich abgewandt und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Sie hatten mein Kommen beide nicht bemerkt, und jetzt hielt ich es doch für taktvoller, mich ungesehen wieder zu entfernen. Vielleicht war ich auch ganz einfach nur feige. Ich konnte den Geschwistern jetzt nicht gegenübertreten. Nicht mit dem Wissen um Lucys Traum.
*
Und ich mußte mit Lucy reden. Und zwar sofort. Lucy schlief noch, als ich zu ihr ins Schlafzimmer kam. Ich setzte mich in den Sessel am Fenster, von wo ich die Schlafende gut beobachten konnte, und war froh, daß ich mich noch für eine Weile besinnen konnte, daß ich nicht sofort über diese schreckliche Neuigkeit reden mußte. Ich war selbst so
verstört, so fassungslos, daß ich wirklich etwas Zeit brauchte, um wieder zu mir zu kommen. Ich besann mich auf das autogene Training, das ich einmal gelernt hatte, versuchte mich mit dieser Hilfe zu beruhigen. Ich schloß also die Augen, entspannte mich, soweit es mir möglich war, und versuchte an nichts anderes zu denken als an meine Glieder, die warm und schwer werden sollten, und mein Herz, das stetig und gleichmäßig schlagen sollte. Ich bin ganz ruhig und entspannt sagte ich mir immer wieder in meinen Gedanken, und tatsächlich spürte ich, wie meine Erregung langsam abebbte. »Schläfst du?« hörte ich Lucys leise Stimme. Wie ertappt öffnete ich die Augen. Lucy lächelte mich an. »Ich beobachte dich schon eine ganze Weile, Claire.« »Ich wußte gar nicht, daß du wach bist.« »Doch, das bin ich. Aber ich wollte dich nicht stören. Du scheinst sehr müde zu sein.« »Nein, nein, das nicht. Ich habe mich auf meine Kenntnisse vom Autogenen Training besonnen.« »Und hast es dann gleich praktiziert?« »Ja, und es hat mir wohl auch etwas geholfen. Ich fühle mich schon ein bißchen ruhiger.« »Hattest du es denn nötig, Claire? Nun sag’ bloß, daß du dich auch über meinen Traum aufgeregt hast!« »Du erinnerst dich also noch immer an diesen Traum?« »Natürlich. Oder glaubst du, er wäre inzwischen gnädig ausgelöscht? Das passiert wohl nie, wenn man einmal darüber gesprochen hat. Aber ich bin froh, daß ich ihn dir erzählt habe.« »Es ist etwas Entsetzliches geschehen, Lucy.« »Es ist etwas geschehen? Was denn?«
Lucy sah mich erschrocken an. »Ist etwas mit Janet? Sie machte gestern Andeutungen, daß sie auf keinen Fall diesen Lord Stenley heiraten würde. Sie würde schon Mittel und Wege finden, um das zu verhindern. Hat sie bei Nacht und Nebel das Schloß verlassen? Zuzutrauen wäre ihr das ja schon. Aber sie hätte es doch dann wenigstens uns sagen können.« »Nein, Lucy, Janet ist hier. Sie kam gerade von ihrem Morgenritt zurück, als ich sie sah.« »Wenn es also nichts mit Janet ist, was ist denn dann passiert, Claire?« Ich stand auf, konnte einfach nicht mehr ruhig sitzenbleiben. »Lucy, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Ein solches Zusammentreffen, solche Zufälle kann es doch eigentlich gar nicht geben. Jetzt bin ich es, die denkt, ich möchte aufwachen und feststellen, daß ich nur geträumt hätte. Aber leider gibt es diesmal keine so einfache Erklärung.« »Jetzt machst du mich wirklich ängstlich, Claire. Was ist denn bloß passiert?« »Der Graf, Lucy… der Graf ist tot. Er muß in der Nacht vom Turm gestürzt sein.« Lucy hatte sich schon vorher in ihrem Bett aufgerichtet gehabt. Jetzt schwang sie die Beine über die Bettkante und saß senkrecht wie eine gespannte Feder. »Was sagst du da?« rief sie erschüttert und schaute mich entsetzt an. »Der Graf ist wirklich…« »Ich weiß noch nichts Genaues, Lucy. Aber es hat den Anschein, als wäre er in der Nacht vom Türm gestürzt.« »Das ist ja genau wie in meinem Traum!« Ich nickte. »Ja, Lucy, sieht so aus. Und das meinte ich eben, als ich sagte, das gibt es doch gar nicht. Daß Traum und Tatsache so übereinstimmen, daß beides gewissermaßen gleichzeitig abläuft.« »Nein«, murmelte Lucy. »Nein, das gibt es nicht.«
»Und doch ist es wohl so gewesen«, meinte ich. Lucy schaute mich an. Sie sah ganz unglücklich aus. »Und wenn ich gar nicht geträumt habe?« fragte sie gequält. »Wie meinst du das? Sicher hast du geträumt, du hast es mir doch erzählt.« »Ja, sicher, Claire. Ich habe es dir erzählt und ich erinnere mich an alle Einzelheiten. Und darum meine ich, vielleicht habe ich es doch nicht geträumt, sondern… wirklich erlebt.« »Lucy!« stieß ich erschrocken hervor und starrte nun meinerseits die Freundin an. Zugegeben, mir war ein solcher Gedanke auch schon gekommen. Aber ich hatte ihn ganz rasch wieder verdrängt, hatte ihn einfach nicht wahrhaben wollen. Doch nun stand diese Frage im Raum. Lucy hatte sie ausgesprochen. Wir schauten uns beide an, hielten beide unwillkürlich den Atem an. »Das gibt es doch nicht, Lucy«, flüsterte ich schließlich. »So etwas kann es doch wirklich einfach nicht geben.« »Eigentlich denke ich das auch«, nickte Lucy schwer, »aber hast du eine andere Erklärung?« »Nein. Aber andererseits – so etwas Unmögliches kann ich einfach nicht glauben.« »Wissen wir denn, ob es wirklich unmöglich ist, Claire?« »Was willst du damit sagen?« »Nun, ich habe natürlich viel nachgedacht seit dieser Séance bei Mrs. Finch in London. Seit ich da diesen jungen Mann gesehen habe, der in Wirklichkeit wohl gar nicht da war. Nur ich hatte ihn gesehen, nur ich allein. Und daß ich mir nichts eingebildet habe, beweist ja wohl die Tatsache, daß ich diesen selben Mann bei unserer Ankunft hier in Northern Castle wiedergesehen habe. Und noch bedeutungsvoller finde ich es, daß ich ihn auf diesem Gemälde bei Sir Henry wiedererkannt habe. So weiß ich inzwischen sogar, wer dieser Mann gewesen
ist. Er heißt Jeremy Jordan, war ein Maler, der vor rund zwanzig Jahren für eine Weile hier auf Northern Castle gelebt hat, von dem man seitdem aber nichts mehr weiß. So weit ist doch alles richtig, oder?« »Ja, jedenfalls weiß ich es so aus deinen Berichten, und das Gemälde bei Sir Henry habe ich ja auch selbst gesehen.« »Ich habe nicht nur nachgedacht, Claire, ich habe auch alles Erreichbare über solche paranormalen Erscheinungen gelesen. Ich hatte keine Ahnung, daß das heutzutage schon fast wie eine Wissenschaft ist. Das heißt, ernstzunehmende Wissenschaftler und Forscher tun solche Berichte nicht mehr als bloße Hirngespinste ab, sondern man hält es durchaus für möglich, ja, sogar für wahrscheinlich, daß es sehr vieles gibt, was wir nicht wissen, ja, was wir normalerweise mit unseren nur fünf Sinnen gar nicht wahrnehmen können. Es gibt wohl unendlich viele Strahlungen und Ströme und Wellen und wie man das alles nennen soll, das unseren natürlichen Sinnen überhaupt nicht zugänglich ist. Das weiß man heute also und bemüht sich, hier und da mit allen möglichen Methoden vielleicht doch ein Zipfelchen Erkenntnis zu ergattern. Und ich frage mich, ob man die sogenannten Geistererscheinungen nicht auch diesem Gebiet zuordnen muß.« »Erstaunlich, wie ruhig du darüber reden kannst, Lucy.« »Ich bin überhaupt nicht ruhig. Ich zwinge mich nur zu möglichst nüchternem Nachdenken. Es muß doch eine einigermaßen plausible Erklärung geben für das, was ich erlebt habe.« »Da stellt sich mir aber noch eine andere Frage, Lucy«, meinte ich ebenso ernst und grüblerisch. »Wieso hast gerade du diesen Geist gesehen? Wieso hat er sich dir gezeigt, wieso kann er sich dir gegenüber verständlich machen? Und wir anderen, die wir ja auch im Salon von Mrs. Finch gewesen sind, haben überhaupt nichts bemerkt.«
»Ich muß eben ein gutes Medium sein, Claire. Weißt du, so nennt man besonders in der Parapsychologie Menschen, die man der außersinnlichen Wahrnehmung für fähig hält. Vielleicht gehöre ich zu diesem Personenkreis. Bis jetzt hatte ich natürlich keine Ahnung davon und würde es wohl auch nie erfahren haben, wenn ich bei Mrs. Finch, nicht dabeigewesen wäre.« »Das würde ja bedeuten, daß dieser Geist es war, der dich gefunden hat, entweder durch Zufall, oder aber er war auf der Suche nach einem Medium, durch das er sich verständlich machen wollte. Ist so etwas denn wirklich möglich?« »Wie soll ich das wissen, Claire? Aber Mrs. Finch hatte doch gerufen: ›Ist ein guter Geist in diesem Raum?‹ Vielleicht war dieser Geist von Jeremy Jordan mehr oder weniger zufällig gerade da, oder er ist diesem Ruf gefolgt, oder was weiß ich, wie solche Geister Nachrichten empfangen. Jedenfalls konnte ich ihn sehen oder, anders gesagt er konnte sich mir sichtbar machen. Jedenfalls fing damit ja alles an. Wäre ich doch bloß an dem Nachmittag nicht mit euch gegangen!« »Daran läßt sich nun nichts mehr ändern, Lucy. Aber ich denke, wir beide müssen uns darüber verständigen, wie wir uns nun verhalten sollen.« »Wieso?« »Dein Traum, Lucy! Wenn es stimmt, was du nun vermutest, daß es möglicherweise gar kein Traum war, dann bist du ja gewissermaßen eine Augenzeugin für das Schreckliche, was da geschehen ist auf dem Turm. Es wird natürlich zu einer Untersuchung kommen und du wirst sagen müssen, was du weißt.« Lucy sah mich erschrocken an. »Aber das kann ich doch nicht! Ich kann doch unmöglich sagen: ›Ich hatte eine Geistererscheinung, die mir befahl, den Grafen auf den Turm zu locken und die dann letzten Endes die Schuld daran trug,
daß der Graf in die Tiefe stürzte.‹ Insofern war es nämlich gar kein Unfall, denke ich. Wenn es wirklich so war, wie ich annehme, dann hat der Geist von Jeremy Jordan beabsichtigt, den Grafen in die Tiefe zu stürzen. Er sagte ja etwas von Rache und daß er Janet beschützen müsse. Aber nein, Claire, es ist unmöglich, daß ich das alles zu Protokoll gebe. Man würde mich ja für verrückt halten, man würde sonst etwas mit mir anstellen. Nein, das will ich nicht! Dazu bin ich absolut nicht bereit!« Lucy schaute mich entschlossen an. »Eher springe ich auch noch vom Turm!« »Ach, Lucy, sag’ doch so etwas nicht! Die Sache ist schlimm genug. Aber im übrigen glaube ich, daß du recht hast. Wir sollten wirklich nicht darüber reden. Es ist ja nicht so, daß du damit einen Schuldigen schützen würdest, denn es gibt ja keinen Schuldigen, zumindest keinen lebenden. Soll man ruhig annehmen, es handele sich um einen Unglücksfall. Auch wenn man sich das wohl kaum wird erklären können. Soll es also ruhig ein Rätsel bleiben, was der Graf in der Nacht auf dem Turm gesucht haben mag. Er ist eben auf tragische Weise verunglückt. Das muß genug sein. Und wir, Lucy, wir beide behalten unser Wissen für uns.« Lucy nickte. »Etwas anderes ist gar nicht möglich. Wir schweigen darüber. Aber trotzdem – das sagt sich so leicht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie mir zumute ist. Daß ich so etwas erlebt, miterlebt habe, daß eine Geistererscheinung mich gewissermaßen zur Komplicin gemacht hat… ich weiß nicht, Claire, wie ich damit fertigwerden soll. Die Gedanken daran werden mich wohl mein ganzes Leben lang verfolgen.« Ich nickte mitfühlend. »Ich verstehe dich gut, Lucy. Mir geht es ja genauso. Ich werde das alles auch nicht vergessen können, auch wenn ich nicht direkt beteiligt war. Aber wir müssen das irgendwie verarbeiten. Vielleicht finden wir einen
Arzt oder einen Wissenschaftler, der sich mit solchen Phänomenen befaßt, der uns das erklären und der vor allem dir helfen kann.« »Ja, vielleicht«, antwortete Lucy versonnen. »Aber da bedrückt mich noch etwas. Weiß ich denn, ob dieser Geist nicht noch etwas im Schilde führt? Ob sein Rachebedürfnis mit dem Tod des Grafen befriedigt ist? Wird er mich vielleicht noch einmal als Werkzeug benutzen wollen? Ich habe richtige Angst, Claire. Und ich kann ja auch nicht einfach vor ihm davonlaufen. Ich weiß ja nicht, wie weit seine Macht über mich reicht. Ob er mich überall finden und über mich verfügen kann.« »Ja, das kann man natürlich nicht wissen«, überlegte ich. »Aber ich kann mir doch vorstellen, daß seine Macht gerade hier auf Northern Castle besonders groß ist. Denn was auch immer sich abgespielt haben mag, wofür er sich rächen will, es scheint hier passiert zu sein. Und darum wäre es vielleicht wirklich besser, wir würden das Schloß so schnell wie möglich wieder verlassen, Lucy. Selbstverständlich lasse ich dich nicht allein, ich werde natürlich mitkommen.« Aber natürlich konnten wir nicht einfach so abreisen, obwohl wir es beide am liebsten getan hätten. Aber wir waren hier zu Gast, Janet war unsere Freundin, wir konnten sie doch nicht einfach im Stich lassen. Zumal wir ja übereingekommen waren, Lucy und ich, daß wir über die Gründe einer so überstürzten Flucht, denn das wäre es ja gewesen, nicht reden wollten. Nein, für kurze Zeit mußten wir schon noch auf Northern Castle bleiben. Zumindest mußten wir noch an der Beisetzung des Grafen teilnehmen. Und danach wäre es wohl für jedermann verständlich, wenn wir unsere Ferien hier abbrechen würden. Natürlich wollten wir mit Janet darüber sprechen, aber das mußte ja nicht jetzt sofort sein.
*
»Wir sollten Janet jetzt nicht einfach so allein lassen«, meinte ich. »Ich bin eben im ersten Schrecken einfach weggelaufen von der Unglücksstelle, weil ich mir als Fremde da überflüssig und fehl am Platze vorkam. Aber jetzt braucht Janet uns Freundinnen vielleicht. Ich gehe schon mal vor, Lucy. Du kannst ja nachkommen, wenn du fertig bist.« Lucy nickte. »Es dauert nicht lange. Aber geh du ruhig schon mal.« An der Unglücksstelle hatte sich nicht viel verändert. So weit ich es beurteilen konnte, lag der Graf noch so, wie er gefunden worden war. Es waren nur einige Leute hinzugekommen. Unter ihnen erkannte ich den Butler. Die ganze Szene wirkte allerdings seltsam starr. Niemand tat etwas. Offenbar wartete man auf den Arzt, vielleicht auch auf die Polizei. Gerade in dem Augenblick, als ich vom Schloß her kam, näherte sich von der anderen Seite her ein Geländewagen. Ich sah, wie Janet, die bisher bei ihrem Bruder gestanden hatte, auf den Wagen zulief und dem Mann, der gerade ausstieg, um den Hals fiel. Sie schmiegte sich an ihn, barg ihren Kopf an seiner Schulter und weinte, während er tröstend und beschützend den Arm um sie legte. Auf neugierige und erstaunte Blicke achteten die beiden nicht. Das also ist Dr. Mitchell, war mir sofort klar, der Mann, den Janet liebt. Und es war ganz offensichtlich, daß die beiden wirklich zueinander gehörten. Aber dieser private Augenblick war nur kurz. Dr. Mitchell war ja als Arzt gerufen worden. Man hatte auf ihn gewartet, obwohl es inzwischen wohl jedem klar war, daß er hier nicht
mehr helfen konnte. Behutsam trennte Dr. Mitchell sich von der weinenden Janet, er sagte ein paar Worte, die aber nur für sie bestimmt waren und von uns anderen nicht verstanden werden konnten, dann ging er die wenigen Schritte zu dem Verunglückten am Fuß des Schloßturms und beugte sich über ihn. Diese erste Untersuchung war natürlich nur kurz. Sichtlich betroffen schüttelte Dr. Mitchell leicht den Kopf, er richtete sich dann wieder auf und ging auf Vigor Northern, den Sohn des Grafen zu. Janet war jetzt auch wieder bei ihrem Bruder, sie hatte ihm wohl gerade mit kurzen, hastigen Worten die Situation zwischen sich und dem Arzt erklärt. Über das ernste Gesicht des jungen Mannes war ein rasches Lächeln gezogen. Er nickte der Schwester liebevoll zu. Offensichtlich war er mit Janets Wahl einverstanden. Ich freue mich. Wenigstens in dieser Beziehung hatte Janet nun keine Schwierigkeiten mehr zu erwarten. »Es tut mir aufrichtig leid«, sagte Dr. Mitchell jetzt zu den beiden. »Graf Northern ist tot. Ich denke, Sie haben es selbst bereits gewußt, Sir. Und auch du, Janet. Mein Beileid. So, wie es aussieht, muß der Graf sofort tot gewesen sein. Genaueres könnte natürlich nur eine Obduktion ergeben. Und, ich fürchte, bei einem solchen Tod wird eine polizeiliche Untersuchung unerläßlich sein.« Vigor Northern nickte. »Unser Butler hat die Polizei bereits informiert. Ich hatte ihn darum ersucht.« »Das ist gut«, nickte der Arzt. »Dann werde ich hier wohl nicht mehr gebraucht.« »Mummy«, schluchzte Janet. »Sie weiß noch gar nichts. Vielleicht braucht sie deine Hilfe, Bob.« »Die Gräfin ist noch nicht informiert worden?« Vigor Northern schüttelte den Kopf. »Wie man mir sagte, fühlte meine Mutter sich in letzter Zeit nicht sehr gut, und sie blieb vormittags lange in ihren Gemächern. Ich habe daher die
Anweisung gegeben, daß man sie nicht wecken und noch nicht informieren solle. Sie kann hier nicht helfen, und ich wollte ihr diesen Anblick ersparen.« »Gut«, nickte Dr. Mitchell. »Sollte ich vielleicht zur Gräfin gehen und ihr die traurige Nachricht überbringen?« Vigor Northern schaute Janet fragend an, und diese nickte. »Soll ich mitkommen?« »Ja, das wäre gut.« Vigor lächelte Janet zu. Er war jetzt der neue Herr von Northern Castle. Ob ihm das überhaupt schon bewußt geworden war? Dr. Mitchell und Janet entfernten sich also, und auch der Butler zog sich mit seinen Leuten zurück, die im Augenblick ja nicht gebraucht wurden. Ich trat auf Vigor zu, der sich bei meinem Anblick zu freuen schien. »Es tut mir wirklich sehr leid«, sagte ich. Janets Bruder blickte mich an. »Danke«, sagte er ruhig. »Das ist wirklich sehr bestürzend. Ein so jähes Ende. Ich habe meinem Vater nie besonders nahe gestanden, nicht aus meiner Schuld, wie ich meine. Als Kind und als junger Mensch habe ich sogar sehr darunter gelitten. Aber jetzt frage ich mich, ob ich mich nicht vielleicht doch hätte mehr bemühen müssen. Hätte ich vielleicht doch zu einem besseren Verhältnis beitragen können? Das ist eine bedrückende Frage, zumal es jetzt ja ohnehin zu spät wäre, noch etwas ändern zu wollen.« »Dazu kann ich natürlich nicht viel sagen«, meinte ich vorsichtig. »Aber ich denke doch, daß Sie sich keine Vorwürfe machen sollten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie berechtigt sein könnten.« »Das haben Sie sehr nett gesagt, Claire. Danke.« Vigor blickte zu der Stelle hinüber, wo der Graf lag. Der Butler hatte, ehe er abzog, eine Decke über den Toten gebreitet. »Zu denken, daß dort mein Vater liegt«, sagte der junge Mann kopfschüttelnd, »zu denken, daß er auf eine so jähe Art zu
Tode gekommen ist…« Sein Blick wanderte nach oben, zu den Zinnen des Turmes hinauf. »Wieso kann er von dort abgestürzt sein? Wieso war er überhaupt in der Nacht dort oben auf dem Turm? Ob diese Fragen jemals geklärt werden könnten? Ich jedenfalls habe keine Antwort. Und ich kann mir auch überhaupt nicht vorstellen, daß die Polizei in diesem Fall sehr erfolgreich sein wird.« Ich schwieg. Ich wußte ja die Antwort. Vorausgesetzt natürlich, Lucys Traum beruhte wirklich auf Tatsachen und es handelte sich nicht einfach um Zufälle. Aber das, dachte ich mir, war vermutlich noch weniger wahrscheinlich als diese andere Deutung, die man eigentlich ja auch nur sehr schwer akzeptieren konnte. Die Polizei war immer noch nicht da, und da Vigor Northern seine Leute weggeschickt hatte und auch der Arzt Dr. Mitchell und Janet gegangen waren, hielten wir beide, der Sohn des Grafen und ich, die Totenwache bei dem Verunglückten. Dieser Gedanke kam mir unwillkürlich, und ich empfand diese Tatsache eigentlich als seltsam. Mich verband mit dem Grafen eigentlich überhaupt nichts. Aber um so mehr fühlte ich mich zu Vigor Northern hingezogen. Ich glaubte ihn jetzt nicht allein lassen zu dürfen, und ich hatte das Gefühl, daß ihm meine Gesellschaft nicht unangenehm war. Außerdem mußte die Polizei ja wohl auch bald eintreffen. Sie hatte zwar eine große Entfernung zurückzulegen bis zu diesem recht abgelegenen Schloß, aber sie mußte jetzt doch bald hier sein.
*
Doch vorher passierte noch etwas. In der Ferne, aus der Richtung, aus der vorhin der Arzt gekommen war, näherte sich in schnellem Galopp ein Reiter. Ich konnte ihn nicht erkennen, aber Vigor Northern sagte: »Da kommt Lord Stenley. Er muß wohl von einem unserer Leute benachrichtigt worden sein.« Und gerade jetzt bog Lucy um die Schloßmauer. Sie hatte den näheren schmalen Durchgang zum Nordturm, durch den ich gekommen war, wohl nicht gefunden. Sie hatte daher den größeren Bogen machen müssen und mußte jetzt auch noch einen etwas weiteren Weg zurücklegen, obwohl sie uns und die Unglücksstelle bereits gut überblicken konnte. Ich schaute ihr entgegen und sah, wie Lucy plötzlich erschrak und beide Hände vor das Gesicht schlug. Lord Stenley hatte uns inzwischen erreicht, er war im Augenblick der Unglücksstelle sogar noch ein wenig näher als wir, Vigor und ich, die wir etwas abseits standen, und da, gerade in dem Augenblick, als Lucy so heftig erschrak und ihr Gesicht mit den Händen bedeckte – da scheute Lord Stenleys Pferd, richtete sich steil nach oben und warf seinen Reiter ab. Der Lord schlug hart auf dem felsigen Grund auf und blieb stöhnend liegen. Während Vigor Northern dem Verunglückten zu Hilfe eilte, kümmerte ich mich zunächst um Lucy. Sie hatte sich an die Schloßmauer gelehnt, war kreidebleich und zitterte wie Espenlaub. Ich nahm Lucy schützend in die Arme, versuchte sie zu beruhigen. Doch Lucys Nervenkraft schien dem Ende nahe zu sein. »Da war er wieder«, weinte sie. »Hast du es nicht gesehen, Claire? Er hat sich dem Pferd in den Weg gestellt, und darum hat es gescheut und seinen Reiter abgeworfen.«
»Du meinst den Maler?« fragte ich erschrocken. Lucy nickte. »Ich halte das nicht mehr aus. Ich muß fort von hier. Was soll denn noch alles passieren?« Ich war natürlich auch mehr als bestürzt, sagte aber so ruhig wie möglich: »Komm, Lucy, wir gehen erst einmal von hier fort. Du kannst hier wirklich nicht bleiben. Gleich kommt auch die Polizei, und es ist nicht nötig, daß die Leute dich in diesem Zustand sehen.« Ich blickte zu Vigor Northern hinüber, der neben Lord Stenley kniete. Dem Sohn des Grafen waren diese Szene und Lucys Aufregung nicht entgangen. Er war sichtlich erstaunt, was natürlich gut zu verstehen war, aber eine Erklärung mußte ich ihm zumindest jetzt noch schuldig bleiben. »Ich bringe meine Freundin fort«, rief ich ihm zu. »Falls wir gebraucht werden, wir sind in unserem Zimmer. Ist es Ihnen recht?« Vigor nickte, und ich war froh, daß er keine Fragen stellte. In der Ferne war nämlich das Polizeiauto bereits zu sehen, und ich dachte, ich müßte Lucy vor amtlichen Fragen schützen, zumindest in ihrem jetzigen Zustand. Ob wir unser Geheimnis allerdings auf Dauer für uns behalten können würden, bezweifelte ich inzwischen nun aber doch. Der Unfall des Lords schien ja nun schon das zweite unerklärliche Ereignis innerhalb weniger Stunden zu sein. Wobei Lucy zwar eine Erklärung anzubieten hatte, die aber für Polizistenohren kaum glaubwürdig klingen mochte. »Komm, Lucy«, sagte ich drängend, »wir verschwinden erst einmal.« Lord Stenley war sehr schwer verletzt. Schon Dr. Mitchell, der schnell zur Stelle gewesen war, hatte ein besorgtes Gesicht gemacht. Er hatte angeordnet, daß der Verunglückte nicht bewegt werden durfte, dann hatte er einen Hubschrauber angefordert, damit der Verunglückte in eine Spezialklinik nach London gebracht werden konnte.
Schon bald kam von dort die Nachricht, daß der Lord sich beim Sturz die Wirbelsäule gebrochen hatte. Er würde für den Rest seines Lebens querschnittgelähmt bleiben. Bei den polizeilichen Ermittlungen kam es zu keinen besonderen Erkenntnissen. Natürlich konnte niemand auf den Gedanken kommen, daß es zwischen diesen beiden tragischen Geschehnissen einen engen Zusammenhang geben könnte. Der Unfalltod des Grafen blieb ungeklärt, und der Sturz des Lords schien auf eine reiterliche Unachtsamkeit des Mannes zurückzuführen zu sein, vermutlich weil Lord Stenley durch die Nachricht vom Tod seines Freundes so erregt war, daß er nicht genug auf sein Pferd achtete und es nicht unter Kontrolle hatte. Ich wußte nicht recht, ob ich froh sein sollte über diese anscheinend schon abschließenden Untersuchungsergebnisse. Lucy und ich hatten uns zwar überlegt, daß wir nichts sagen wollten über diesen vermutlichen Geist des Jeremy Jordan, aber da war es ja nur um den Tod des Grafen gegangen. Nun hatte es bereits ein zweites Unglück gegeben. Lord Stenley hatte zwar überlebt, aber er würde für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen müssen. Bestimmt ein böses Schicksal für einen so herrischen, stolzen Menschen. »Was wird denn noch geschehen?« fragte Lucy mich angstvoll. Die Untersuchungen waren bereits abgeschlossen, wie ich schon sagte, auch die Beisetzungsfeierlichkeiten waren vorüber. Sie hatten würdig, aber doch relativ still und in kleinem Rahmen stattgefunden, und nun fanden Lucy und ich, daß es wohl Zeit für unsere Abreise wäre. »Wenn ich nicht mehr hier bin«, sagte Lucy, »kann dieser Geist hoffentlich auch nichts Böses mehr anstellen. Eigentlich merkwürdig…« Lucy machte ein versonnenes Gesicht, und ich fragte:
»Was ist merkwürdig?« »Nun, ich denke gerade darüber nach. Mrs. Finch hat seinerzeit in ihrem Salon gefragt: ›Ist ein guter Geist in diesem Raum?‹ Und daraufhin hatte ich diesen Maler gesehen. Aber nach dem, was hier geschehen ist, kann man ja wohl kaum noch von einem ›guten Geist‹ reden. Andererseits, wie ein böser Geist hat dieser junge Mann, der mir so nett zulächelte, eigentlich auch nicht ausgesehen.« »Ja, wenn er wirklich so ausgesehen hat wie die Gestalt auf dem Gemälde von Lady Abigail, dann muß ich dir Recht geben, Lucy. Das scheint doch ein sehr sympathischer Bursche gewesen zu sein.« »Wieso kommt er denn jetzt her und richtet so viel Unheil an?« »Hast du nicht gesagt, er hätte von Rache gesprochen, als du ihn oben auf dem Türm gesehen hast?« »Ja, das hat er tatsächlich. Und er hat auch gesagt, er müsse Janet beschützen.« »Also könnte man vielleicht davon ausgehen, daß er einen triftigen Grund für seine Taten haben müsse.« »Wir können diesen Grund aber nicht ausfindig machen, Claire.« »Wirklich nicht, Lucy? Wir haben ja noch gar nichts versucht.« Lucy erschrak sichtlich. »Was soll das heißen, Claire? Willst du etwa dieser Frage auf den Grund gehen?« »Noch habe ich nichts dergleichen gesagt. Aber ich frage mich, ob man es nicht doch tun sollte. Immerhin könnte es für Janet wichtig sein. Denn sie hat der Geist doch erwähnt. Sollten wir nicht wenigstens mit Janets Bruder reden, Lucy? Ich finde ihn sehr sympathisch und vertrauenerweckend. Und wenn ich so darüber nachdenke, fände ich es besser, wenn er informiert wäre.«
Lucy schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Claire, nein! Möglich, daß deine Gedanken richtig sind, aber das kann ich nicht. Ich halte diese Nervenanspannung nicht mehr länger durch. Ich will nur fort von hier. Möglichst so weit fort, daß ich auch für einen Geist nicht mehr zu erreichen bin. Ich habe Angst! Ich denke nämlich, so lange ich hier bin, kann immer wieder etwas passieren. Vielleicht kommt dann sogar Janet in Gefahr. Nein, Claire, nein! Ich muß fort von hier. Und wir haben doch besprochen, daß wir nicht darüber reden wollen. Hast du das vergessen, Claire? Du mußt dich auch daran halten! Wir haben es uns gegenseitig versprochen.« »Nun rege dich doch nicht so auf, Lucy«, versuchte ich die Freundin zu beruhigen. Sie war wohl wirklich mit ihrer Nervenkraft am Ende. Die stille, ruhige und immer zuverlässige Lucy schien an einer Grenze angekommen zu sein, und ich sah ein, daß sie nicht noch mehr belastet werden durfte. »Ist ja gut, Lucy«, sagte ich daher schnell. »Das waren ja nur so Überlegungen von mir. Wenn du nicht willst, und das kann ich sogar ganz gut verstehen, bleiben wir bei unserem ersten Vorsatz und reisen ab, ohne etwas von unserem Wissen zu verraten.« Mir war nicht ganz wohl dabei, aber ich dachte, ich müsse jetzt wirklich auf Lucy Rücksicht nehmen, deren geistige Gesundheit mir höchst gefährdet erschien. Und vielleicht, hoffte ich, wäre dieser Spuk auf Northern Castle jetzt auch vorüber.
*
»Wollt ihr wirklich abreisen?« fragte Janet uns am nächsten Tag traurig. Wir hatten unsere Koffer gepackt, Lucy und ich,
und Janet war zu uns gekommen, weil sie wohl hoffte, uns doch noch umstimmen zu können. Ich war, offen gestanden, auch ein wenig bedrückt, obwohl ich mir sagte, daß dazu ja nun wirklich kein Grund bestand. Und ich konnte mir dieses Leise-traurig-sein auch nicht recht erklären. Oder, richtiger und ehrlicher gesagt, ich verbot es mir ganz einfach, darüber nachzudenken. Denn ich fand es fast schon lächerlich, daß meine Gedanken immer wieder um Janets Bruder kreisten, um den neuen jungen Herrn von Northern Castle. Ich wollte es nicht und ich wich diesen Gedanken aus, aber sie kamen immer wieder. Dabei hielt ich mich für viel zu alt und vor allem auch für viel zu vernünftig, um von einer dummen Jungmädchenschwärmerei befallen zu werden. Aber was war es dann, was mich so unruhig gemacht hatte? Ich konnte mich in so kurzer Zeit doch unmöglich verliebt haben. Einen solchen Gedanken tat ich einfach als absurd ab. Jedenfalls aber würde es gut für meinen Seelenfrieden sein, dachte ich, wenn ich Northern Castle und damit seinen neuen Herrn so schnell wie möglich verließe. Insofern paßten solche Gedanken ja gut zu Lucys dringendem Wunsch, so schnell wie möglich abzureisen. Und darum hatte Janet, als sie uns zum Bleiben zu überreden versuchte, auch keine Chance. Es war verabredet, daß der Fahrer, der uns in London abgeholt hatte, in etwa einer Stunde bereitstehen sollte, um Lucy und mich wieder zurückzubringen. »So lange habt ihr also wenigstens noch Zeit«, sagte Janet. »Machen wir noch einen kleinen Spaziergang im Schloßpark? Das Wetter ist so schön, und ich kann unmöglich einfach mit euch hier sitzen und darauf warten, daß ihr abfahren müßt. Ihr werdet mir schrecklich fehlen.« »Aber du hast doch deinen Verlobten, Janet«, warf ich ein.
Janet nickte glücklich. »Ja, das ist wahr. Ich darf mich jetzt offen zu ihm und unserer Liebe bekennen, und wir werden so bald als möglich heiraten. Aber ganz ungetrübt ist dieses Glück natürlich nicht. Ich muß immer an den Tod meines Vaters denken, und es bedrückt mich doch sehr, daß er starb, ehe wir Frieden geschlossen hatten. Überhaupt finde ich es so traurig, daß ich ein so schlechtes Verhältnis zu meinem Vater hatte, daß ich ihn nie wirklich lieben konnte. Ich denke, das ist nicht richtig, und so etwas sollte eine Tochter nicht sagen müssen. Aber bei mir ist es so, und ich kann jetzt auch keinen Versuch mehr machen, es zu ändern. Das ist wirklich schlimm für mich.« »Etwas Ähnliches hat dein Bruder auch gesagt, Janet«, sagte ich leise. »Ach, wirklich? Ja, das kann ich mir schon vorstellen. Vigor hat immer unter der Lieblosigkeit unseres Vaters gelitten. Aber ich glaube, wir machen uns beide etwas vor, wenn wir uns einreden wollen, wir hätten an diesem Zustand noch etwas ändern können. Unser Vater liebte uns nicht, und er wollte unsere Liebe nicht. Das ist es! Das war mir eigentlich schon lange klar, aber diese Endgültigkeit jetzt tut doch weh. Und genauso wird es Vigor ergehen.« »Höre ich da gerade meinen Namen?« sagte der junge Graf Northern und trat zu uns heran, die wir wie ein verlorenes Häufchen in der großen Halle von Schloß Northern saßen. In der kurzen Zeit, seit wir uns kennengelernt hatten, hatte Vigor sich natürlich überhaupt nicht verändert, und trotzdem war für mich jetzt so vieles anders. Bei unserem Kennenlernen war der junge Mann einfach nur Janets Bruder gewesen, der Bruder meiner Freundin. Doch jetzt war er Graf Northern, Familienoberhaupt eines sehr alten, einflußreichen Geschlechtes und Herr eines beträchtlichen Besitzes.
Dazu kamen noch meine persönlichen Gefühle, die sich ihm gegenüber so sehr verändert hatten. Nein, ich konnte ihm wirklich nicht mehr so unbefangen entgegentreten wie bei unserer ersten Begegnung. Zum Glück schien das aber niemand zu bemerken. »Ja, wir sprachen gerade von dir, Vigor«, sagte Janet. »Von dir und mir und unserem so seltsamen Verhältnis zu unserem Vater. Und daß sich daran nun nichts mehr ändern läßt, auch wenn wir es vielleicht wollten. Also hat es wohl auch keinen Zweck, sich noch Gedanken darüber zu machen. Ich wollte Claire und Lucy überreden, einen kleinen Spaziergang durch den Park zu unternehmen, ehe sie abfahren. Hast du Zeit, Vigor? Kommst du mit?« »Sehr gern«, nickte der junge Mann. »Eigentlich hätte ich natürlich keine Zeit. Es warten so viele Pflichten auf mich, daß mir angst und bange werden könnte. Eigentlich hätte ich jetzt eine Unterredung mit Mutter haben sollen, die mich über manches informieren will, aber man sagte mir, daß sie noch ruht. Sie hat sich wohl von den Aufregungen der letzten Zeit noch nicht erholt. So wollte ich sie also nicht stören und werde die Damen gern auf ihrem Spaziergang begleiten.« So machten wir uns also auf den Weg. Zunächst hatte ich Einwände erheben wollen, aber dann fragte ich mich, warum ich uns eigentlich die Freude verderben sollte. Von meiner Verwirrung dem jungen Grafen gegenüber ahnte ja glücklicherweise niemand etwas, und ich wollte schon aufpassen, daß ich mich jetzt bei unserem letzten Zusammensein nicht verriet. Eine andere Begegnung mit Graf Vigor Northern würde es für mich wohl kaum noch geben, und wenn ich dann später über diese Zeit auf Northern Castle nachdenken würde, so gehörte dieser Spaziergang zu viert einfach noch dazu.
Es ergab sich ganz selbstverständlich, daß Janet und Lucy vorausgingen, Vigor und ich kamen hinterher. »Ist es wirklich nötig, daß Sie schon abreisen?« fragte mich nun auch der junge Graf. »Ihre Ferien sind doch noch nicht vorüber, Claire. Janet ist über Ihre vorzeitige Abreise sehr traurig, und ich auch«, fügte er nach einer kleinen Weile hinzu. »Erlauben Sie mir, daß ich das so frei heraus sage, aber es wird ohne Sie beide sehr leer sein. Zugegeben, so war es immer auf Northern Castle, so weit ich zurückdenken kann, aber ich wünschte mir, die Zukunft würde anders. Doch allein werde ich das kaum bewerkstelligen können.« »Sie sind ja erst wenige Tage in dieser neuen, Ihnen natürlich noch ungewohnten Position, Graf…« »Stop, Claire! Wir waren übereingekommen, uns beim Vornamen zu nennen. Schon vergessen?« »Nein, vergessen natürlich nicht. Aber ich denke, so, wie die Dinge sich nun verändert haben…« »Nichts hat sich verändert, Claire. Bei mir überhaupt nichts. Das heißt, vielleicht doch… Also darf ich weiterhin Claire zu dir sagen?« »Natürlich.« Ich sagte nicht »gern«, weil ich nicht verraten wollte, wie sehr ich mich freute. Aber ich glaube, Vigor merkte es mir doch an, denn er lächelte mir sehr herzlich zu, und seine Augen strahlten. Mir wurde ganz wunderlich zumute. Konnte es möglich sein, daß meine heutige Abreise doch kein Abschied für immer werden würde? Aber rasch vertrieb ich solche Gedanken. Sie waren wirklich fehl am Platze, sagte ich mir. Nur, weil Graf Northern mir einmal freundlich zugelächelt hatte. Ich hatte gar nicht auf den Weg geachtet, den meine vorausgehenden Freundinnen inzwischen eingeschlagen hatten und denen wir, ins Gespräch vertieft, folgten. Wir waren vom Schloßhof aus in den schmalen Durchgang gekommen und
befanden uns jetzt unvermittelt am Fuß des Nordturms, ungefähr da, wo Graf Rufus zu Tode gekommen war. Wir schwiegen alle betroffen und dachten natürlich alle wieder an den Verunglückten. Lucy wurde ungeduldig. »Laß uns doch weitergehen!« bat sie und machte schon ein, zwei Schritte voraus. Wir wollten folgen, da sagte Vigor: »Moment mal, was ist denn das?« Er ging die paar Schritte zum Turm hin, und da sahen wir es auch. An der hohen, fenster- und türlosen Wand, hing ein roter Stoffzipfel. Er hatte vorher, zur Zeit des Unfalls etwa, und auch bei den dann nachfolgenden Untersuchungen mit Sicherheit noch nicht da gehangen. Der Fetzen sah aus wie der Teil eines zerrissenen Taschentuches oder… mein Herzschlag schien für einen Augenblick auszusetzen… wie das Stück von einem roten Halstuch? Unwillkürlich schaute ich zu Lucy hinüber. Sie war leichenblaß und wie erstarrt. Auch Janet machte ein verblüfftes Gesicht. Sie faßte in ihre Jackentasche und holte einen ähnlichen Stoffetzen hervor. »Schaut euch das an!« sagte sie. »Ich war heute morgen auf dem Turm, wollte mir in aller Ruhe und allein ansehen, wo Vater abgestürzt ist. Und da, es war sicher die verhängnisvolle Stelle, wo er den Fehltritt gemacht hat oder das Übergewicht bekam, man weiß ja immer noch nicht wie es passiert ist – da hing in einem Spalt der niedrigen Mauer dieser Fetzen. Ich habe ihn abgenommen und mir nicht viel dabei gedacht, aber jetzt, wo du auch so ein Stück Stoff hast, Vigor, finde ich die Sache doch ein bißchen komisch. Oder?« Die beiden verglichen ihre Funde, und es war ganz offensichtlich, daß sie von ein und demselben Tuch stammten. Es war mir unmöglich, etwas zu sagen, ich konnte nur Lucy anschauen.
Lucy brach in Tränen aus. »Er läßt mich nicht fort«, schluchzte sie. »Er duldet es nicht. Er braucht mich noch, sagt er. Aber ich schaffe es nicht, ich habe solche Angst!« Ich war auf Lucy zugeeilt, hatte sie in den Arm genommen, versuchte sie zu beruhigen und war doch selbst voller Aufregung und Angst. »Ruhig, Lucy, ganz ruhig«, bat ich. »Es wird schon nichts mehr passieren. Hab keine Angst. Du bist ja nicht allein.« Janet schaute uns verständnislos an, und auch Vigor war zu uns herangetreten. »Gibt es für diese beiden roten Tuchfetzen vielleicht eine Erklärung, die meine Schwester und ich nicht kennen?« fragte er ernst. Ich gab keine Antwort, schaute Lucy an, die leise vor sich hin schluchzte. »Was meinst du, Lucy?« fragte ich schließlich behutsam. »Wäre es jetzt nicht doch an der Zeit zu reden?« Lucy blickte mich gequält an. »Ich glaube, es ist jetzt nicht mehr allein unsere Entscheidung, Lucy!« fuhr ich etwas drängender fort. Meine Freundin nickte und wischte sich die Tränen ab. »So ist es wohl«, sagte sie ergeben. »Ich wollte davonlaufen – aber es geht nicht.« »Darf man mal fragen, wovon hier überhaupt die Rede ist?« fragte Janet leicht gereizt. »Zum Rätselraten bin ich im Augenblick nämlich überhaupt nicht aufgelegt.« »Du hast recht, Janet. Verzeih, wenn wir beide uns im Augenblick vielleicht etwas seltsam benehmen. Und auch Sie, Vigor, nehmen Sie es uns bitte nicht übel. Es gibt da wirklich etwas, worüber wir nicht reden wollten. Aber das war wohl falsch«, gab ich zu. »Wollten Sie deswegen auch so schnell abreisen?« »Ja.«
»Und dieser Entschluß ist jetzt hinfällig?« Ich blickte Lucy an, die mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin schaute, und entschied für sie mit: »Wenn wir Ihre Gastfreundschaft noch länger in Anspruch nehmen dürfen, Vigor, so reisen wir jetzt noch nicht ab. Vielleicht werden wir… vielleicht wird Lucy wirklich hier noch gebraucht. Wir werden Ihnen das erklären.« »Gut. Dann schlage ich vor, daß wir uns in die Bibliothek zurückziehen und dort miteinander reden. Sagst du inzwischen Bescheid, daß wir den Fahrer heute nicht mehr brauchen, Janet?« »Das tue ich wirklich gern!« sagte Janet erfreut und wandte sich bereits ab. »Aber wartet mit dem Reden, bis ich auch dabei bin.« Lucy war erst ein wenig zusammengezuckt, als Vigor Northern die Bibliothek vorschlug, denn von dort aus hatte sie den Grafen auf den Turm locken müssen. Aber dann gab sie sich einen Ruck, nickte mir zu, und wir gingen in die Bibliothek, die mit ihren hohen Bücherwänden, den alten Ledersesseln und den dicken Teppichen noch einer der gemütlichsten Räume im Schloß war. Janet traf beinahe gleichzeitig mit uns ein. Wir setzten uns alle, nur als Vigor Northern in dem hohen Lehnsessel am Kamin Platz nehmen wollte, bat Lucy hastig: »Bitte nicht dort hinsetzen!« Der junge Graf blickte erstaunt, aber ich konnte mir schon denken, warum Lucy das gesagt hatte. Dort hatte wohl Graf Rufus lesend gesessen, als Lucy gekommen war, um ihn auf den Turm zu holen. Vigor Northern fragte nicht weiter. Er setzte sich in einen anderen Sessel und blickte uns erwartungsvoll an. »Kannst du beginnen, Claire?« fragte Lucy leise. »Na gut«, nickte ich.
Ich schaute die beiden an. »Du, Janet, und auch Sie, Vigor – Sie müssen sich auf eine sehr seltsame Geschichte gefaßt machen. Im Grunde genommen ist sie unglaublich. Darum wollten wir auch nicht darüber reden, Lucy und ich. Aber nach dem, was nun alles geschehen ist, darf wohl nicht länger geschwiegen werden. Ich glaube sogar, daß diese roten Tuchfetzen eine deutliche Aufforderung für uns sind. Meinst du nicht auch, Lucy?« Lucy schaute mich an. »Ganz bestimmt, Claire. Da gibt es noch etwas, was aufgeklärt werden muß. Ich weiß es jetzt ganz sicher.« »Du bist… informiert worden?« »Ja. Und ich habe jetzt auch keine Angst mehr.« »Das ist gut. Dann steht unseren gemeinsamen Nachforschungen also nichts mehr im Wege. Janet, erinnerst du dich an die spiritistische Sitzung bei Mrs. Finch in London?« »Und ob ich mich daran erinnere, an diesen verrückten Hokuspokus. Aber warum fängst du jetzt davon an? Haben wir hier nicht andere Probleme?« »Es hängt damit zusammen, Janet«, erwiderte ich ernst. »Im Grunde nahm es damit seinen Anfang. Das heißt, Lucy wurde eine Figur in diesem Geschehen, das wir alle nicht begreifen. Und es ergab sich dann so, daß Lucy mich ins Vertrauen zog. Ich hoffe, Vigor«, wandte ich mich an den Grafen und versuchte ein kleines Lächeln. »Sie haben genügend Geduld, unserer Geschichte zuzuhören, und halten uns nicht für überspannte, durchgeknallte Wesen.« »Ich weiß, daß Sie das nicht sind, Claire. Also fahren Sie fort.« Also sprach ich, zunächst so knapp wie möglich, von der Männergestalt, die Lucy in Mrs. Finchs Salon gesehen hatte. Ich erzählte, daß diese gleiche Gestalt ihr zuwinkte, als wir im
Wagen bei unserer Ankunft über die Schloßbrücke von Northern Castle fuhren, und daß sie den Mann dann später auf dem Gemälde bei Sir Henry wiedererkannt hatte. »Auf dem Porträt von Tante Abigail?« fragte Janet überrascht. Sie hatte bisher atemlos und beeindruckt zugehört, und ich fand es fast bewundernswert, daß sie mich bisher nicht unterbrochen hatte. Immerhin bekommt man ja nicht jeden Tag von einem Geist erzählt. Lucy antwortete nun. »Ja, Janet. Auf diesem Bild erkennt man in der Ferne einen lachenden, winkenden Mann. Erinnerst du dich?« »Und ob ich mich erinnere! Was glaubt ihr wohl, wie oft ich schon vor diesem Bild gestanden und es mir angeschaut habe. Es ist mein Lieblingsbild. Und du glaubst nun…« »Ich bin sogar ziemlich sicher, Janet. Es ist dieser Mann, den ich gesehen habe. Und durch Sir Henry weiß ich inzwischen sogar, wie er heißt. Er heißt Jeremy Jordan, und er war Maler.« »Richtig. Er hat dieses Bild gemalt. Und auch noch einige andere hier im Schloß. Und du glaubst wirklich, sein Geist ist dir erschienen?« Nun klang doch Ungläubigkeit in Janets Stimme mit. Vigor Northern mischte sich ein. »Lasse deine Freundin bitte weiterreden, Janet.« »Es ist gar nicht ganz einfach«, sagte Lucy leise. »Und eigentlich kann ich es selbst immer noch nicht glauben.« »Lassen Sie hören, Lucy. Damit wir gemeinsam überlegen können.« Jetzt erzählte Lucy also von dem, was sie zunächst für einen Traum gehalten hatte. Sie berichtete, wie sie in die Bibliothek geschickt wurde, um den Grafen mit einer falschen Nachricht auf den Turm zu schicken. Sie berichtete, wie sie dem Grafen gefolgt war, der oben auf der Plattform von Jeremy Jordan erwartet worden war. Sie berichtete von dem bösen Streit der
beiden Männer, wie der Graf seinen offensichtlichen Feind wütend angreifen wollte, dann aber ins Leere stieß und mit einem Schrei nach unten stürzte. »Ich dachte, es sei nur ein schrecklicher Alptraum gewesen«, flüsterte Lucy erstickt. »Aber als Claire dann kam und mir sagte, der Graf sei wirklich tot…« Lucy schüttelte sich, schaute Janet und den jungen Grafen ratlos an. Beide waren sehr ernst, schienen Lucys Glaubwürdigkeit nicht anzuzweifeln. »Wenn ich mich recht besinne«, sagte Vigor langsam, »trägt der Maler auf dem Bild ein rotes Halstuch.« »Das stimmt«, bestätigte Lucy. »Und dieses rote Tuch trug er auch, als ich ihn sah. Aber eben – gerade eben, als er mir zu verstehen gab, ich müsse über das, was ich weiß, mit Ihnen reden… da trug er dieses rote Halstuch nicht mehr.« »Du willst damit doch nicht sagen, Lucy…« Janet war aufgesprungen und zu einem der Lesetische an der Wand gelaufen. Dort hatte Graf Vigor die beiden Fetzen achtlos niedergelegt. »Doch, Janet«, flüsterte Lucy erstickt. »Das muß das zerrissene Halstuch von Jeremy Jordan sein. Wie er es geschafft hat, es in unsere Welt zu übermitteln, weiß ich nicht. Aber es sollte wohl ein Signal, ein Beweis, eine Aufforderung sein. Wir alle müssen für ihn etwas in Ordnung bringen.« »Sie wissen nicht, um was es sich handelt, Lucy?« »Nein. Er hat mir zu verstehen gegeben, daß ich ein gutes Medium für ihn bin, daß ich seine Botschaften also in unsere Welt vermitteln kann. Aber er bedeutete mir auch, daß seine Energie nicht unbegrenzt ist. Seine Erscheinungen sind also wohl immer mit ganz großen Kraftanstrengungen für ihn verbunden.« »Aha. Warum haben wir den zweiten Teil des Halstuches am Fuß des Turmes gefunden?«
»Das weiß ich nicht genau. Aber…« »Ja, Lucy, bitte, fahren Sie doch fort!« »Dort unten ist doch auch Lord Stenley verunglückt«, schaltete Janet sich ein. »Hatte Jeremy Jordan etwa auch damit etwas zu tun?« Lucy nickte. »Ja, Janet. Ich habe es gesehen. Er stand plötzlich vor dem Pferd des Lords. Das Pferd scheute und warf seinen Reiter ab. Das Weitere ist ja bekannt.« »Ja, das Weitere weiß ich.« Vigor schaute schweigend, nachdenklich vor sich hin. Aber Janet war ganz aufgeregt. »Siehst du denn die Zusammenhänge nicht, Vigor?« rief sie. »Da muß es einmal etwas gegeben haben. Dieser Geist wolle sich rächen, hat er gesagt, und die Rache scheint unserem Vater und Lord Stenley gegolten zu haben. Die beiden waren ja dicke Freunde. Außerdem wollte er mich beschützen. Ist doch so, Lucy, nicht wahr?« »Ja, das hat er gesagt. Er müsse dich beschützen.« »Wovor hat er aber nicht gesagt?« »Nein.« »Dann frage ich mich, wovor er mich beschützen wollte. Vor Lord Stenley vielleicht, der mich heiraten wollte? Vor Vater, der mich zu dieser Heirat zwingen wollte? Aber warum wollte er mich schützen, warum? Was habe ich denn mit diesem Maler zu tun, der schon so lange tot ist? Wir müssen Mummy fragen, Vigor! Sie muß doch etwas wissen!« »Vielleicht«, nickte der Graf. »Vielleicht weiß sie etwas. Ich kann es mir aber nicht recht vorstellen. Außerdem möchte ich sie nicht unnötig aufregen. Aber es gibt noch jemanden, den wir fragen können. Onkel Henry. Er lebt schon seit Jahrzehnten auf Northern Castle. Und wenn es da einmal etwas gegeben hat, das zu dieser Geschichte paßt, dann müßte er es doch wissen. Würdest du ihn bitten, zu uns zu kommen, Janet?
Er würde vielleicht erschrecken, wenn wir uns zu viert auf den Weg zu ihm machten.« Janet war schon zur Tür geeilt. »Kommst du mit, Lucy? Du weißt doch, Onkel Henry hat es immer so gern, wenn du ihm hilfst.« Lucy war bereits aufgesprungen, und die beiden verließen sehr eilig die Bibliothek. Vigor Northern schaute mich ruhig an. »Eine merkwürdige Geschichte«, sagte er. »Sie halten sie aber nicht für bloße Phantastereien, Vigor?« »Nein, natürlich nicht. Dafür glaube ich Sie beide schon zu gut zu kennen. Obschon ich natürlich meine Schwierigkeiten habe, das alles als Tatsache hinzunehmen.« »Ja, das hatte und das habe ich auch. Aber denken Sie daran, Vigor, es gibt inzwischen einen Toten und es gibt einen Schwerverletzten.« »Ja, das sind Tatsachen, die man nicht außer Acht lassen darf. Wir werden sehen, ob Sir Henry etwas zur Aufklärung dieser Geschichte beizutragen hat.« Wir warteten beide schweigend, und da schien etwas Vertrautes zwischen uns zu sein, das mich trotz all der Aufregung und Ungewißheit froh machte. Vigor lächelte mir zu. Ob er auch so etwas empfand? Als Sir Henry dann kam – Lucy schob seinen Rollstuhl – hatten die beiden den alten Herrn schon in groben Zügen aufgeklärt. Er schien gar nicht so sehr überrascht zu sein, wie ich es erwartet hatte. Ob das auf sein hohes Alter zurückzuführen war, oder hielt er solche Geistererscheinungen ohnehin gar nicht für so ungewöhnlich? »Jeremy Jordan also«, sagte er, nachdem er uns allen freundlich zugenickt hatte. »Ist er also doch zurückgekommen.«
»Das klingt ja gerade so, als ob du darauf gewartet hättest, Onkel Henry«, meinte Vigor Northern mit einem leisen Lächeln. »Das habe ich auch, mein Junge, das habe ich auch! Und da gab es jemanden, der noch viel intensiver gewartet hat als ich. Der schließlich aus lauter Kummer gestorben ist.« »Aus Kummer gestorben? Wer war das, Onkel Henry? Etwa Tante Abigail?« Janet hatte sich auf einen Hocker zu Sir Henrys Füßen gesetzt. So mochte sie als Kind wohl oft gesessen haben. Der alte Herr strich ihr mit der Hand zart über das Haar. »Ja, es war Abigail«, sagte er versonnen. »Sie hat gewartet und gehofft… Aber Jeremy kam nicht zurück.« »Hat sie den Maler geliebt, Onkel Henry?« »Ja, sie hat ihn wirklich geliebt. Und er sie. Es war eine Freude, diese beiden jungen Menschen zu sehen. Sie waren füreinander bestimmt, das spürte man. Sie war so glücklich, meine kleine Abigail, so unsagbar glücklich.« »Und dann? Was ist aus dieser Liebe geworden?« »Eine Tragödie, Janet. Eine große Tragödie.« Vigor mischte sich ein. »Darf ich raten, Onkel Henry?« fragte er mit bitterem Lächeln. »Diese Liebe war natürlich unakzeptabel für die Familie. Habe ich recht? Der Maler wurde mit Schimpf und Schande davongejagt, nicht wahr?« Sir Henry nickte traurig. »Es war vielleicht noch schlimmer. Für Abigail viel schlimmer. Abigails Bruder, Graf Rufus, hatte die Angelegenheit in die Hand genommen. Er berichtete, als Jeremy Jordan von einem Tag auf den anderen verschwunden war, er habe dem Maler eine große Summe Geldes geboten, die diesem dann aber nicht einmal hoch genug gewesen sei. So habe man regelrecht gefeilscht, bis Jeremy Jordan sich seine Liebe zu Abigail für sehr viel Geld habe abkaufen lassen. Dafür habe er versprochen, Northern Castle unverzüglich zu
verlassen und nie wieder etwas von sich hören zu lassen. Ich glaube, die arme Abigail hat bis zu ihrem Tod nicht an diesen Verrat geglaubt. Sie konnte einfach nicht glauben, daß der Geliebte Geld für das Versprechen genommen haben sollte, sie zu verlassen und niemals zurückzukehren. Sie wurde sehr krank, sie kam monatelang nicht mehr aus ihrem Schlafzimmer heraus. Und danach habe ich sie nur noch einmal gesehen, ehe sie starb. An gebrochenem Herzen, sagte man. Und ich glaube, so war es auch.« »Arme Tante Abigail«, flüsterte Janet erschüttert. »Und der Mann, den sie liebte, ist tatsächlich nicht zurückgekommen?« »Nein, Janet. Man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Bis jetzt. Bis auf das, was deine Freundin von ihm zu berichten hat.« »Aber wenn… wenn er jetzt nur als Geist zurückkommen konnte«, flüsterte Janet mit blassen Lippen, »dann würde das ja heißen, daß er tot ist.« Sir Henry nickte schwer. »Ja, Janet, das habe ich damals schon befürchtet. Ich habe damals schon die Vermutung gehabt, daß Jeremy Jordan das Schloß und Abigail gar nicht verlassen hat. Dafür haben die beiden sich viel zu sehr geliebt. Möglich, daß Abigails Bruder ihm wirklich Geld geboten hat. Aber Jeremy Jordan war viel zu stolz, es anzunehmen. So etwas hätte er bestimmt nie getan. Möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß er daraufhin ermordet wurde. Wie gesagt, das vermutete ich nur, aber ich hatte keinerlei Beweise. So mußte ich schweigen. Ich konnte ja den Earl of Northern nicht beschuldigen, ohne das Geringste gegen ihn in der Hand zu haben.« »Und welche Rolle spielte Lord Stenley in diesem bösen Spiel?« fragte Vigor Northern. »Lord Stenley wollte Abigail heiraten. Und Rufus schien dem Freund seine Schwester versprochen zu haben. Ich glaube, er
stand bei ihm wegen einer üblen Sache im Wort. Rufus Northern war in seiner Jugend ein übler Spieler, müßt ihr wissen. Er machte immense Schulden, und Lord Stenley, der sehr reich und unabhängig war, bürgte für ihn. Im Gegenzug wollte er die schöne Schwester des Grafen, aber Abigail verschmähte ihn. Sie verschmähte den stolzen Herrn eines einfachen, mittellosen Malers wegen. Stenley war tief in seinem Stolz getroffen. Ob er wirklich geglaubt hat, er bekäme Abigail doch, wenn der Maler erst einmal weg wäre? Nein, er hat sie nicht bekommen. Abigail ist gestorben. Sie wollte wohl nicht mehr leben.« »Ob der Lord mich darum heiraten wollte?« überlegte Janet. »Weil er Tante Abigail nicht bekommen hat? Aber das kann doch wohl nicht sein. Was habe ich denn mit Tante Abigail zu tun? Ich habe sie ja wirklich noch nicht einmal gekannt.« »Nun, eine Verbindung könnte man da schon herstellen«, meinte ich. »Wenn Graf Rufus, aus welchen Gründen auch immer, dem Lord seine Schwester versprochen hatte, die dieser dann nicht bekam, so könnte er dann später vielleicht seine Tochter verlangt haben. Ich gebe ja zu, das klingt ziemlich unwahrscheinlich und irgendwie an den Haaren herbeigezogen, aber irgendeine Verbindung muß es da doch wohl geben.« Der alte Sir Henry nickte. Er blickte auf die zu seinen Füßen sitzende Janet hinunter. »Ja, es muß eine Verbindung geben«, wiederholte er meine Worte. »Ich ahne auch, welche Verbindung es sein könnte. Ich habe es immer geahnt, all die Jahre hindurch, aber ich habe keinen Beweis. Und ich habe die, die es wissen muß, nie gefragt. Wenn niemand darüber reden wollte, wenn beschlossen worden war, Schweigen zu bewahren, dann glaubte ich auch schweigen zu sollen.« »Glaubst du das immer noch, Onkel Henry?« fragte Janet. »Du klingst so geheimnisvoll.«
»Ja, das finde ich auch«, warf Vigor Northern ein. »Und das gefällt mir nicht, Onkel Henry. Was auch immer damals geschehen sein mag. Wenn es auf uns heute noch Auswirkungen haben sollte, dann kann und darf man daraus kein Geheimnis mehr machen. Du weißt selbst, was jetzt geschehen ist, Onkel Henry. Vater ist zu Tode gekommen, Lord Stenley ist verunglückt und wird sein Leben im Rollstuhl beschließen müssen – es sieht so aus, als gäbe es da einen Zusammenhang –, du selbst hast von einer lange zurückliegenden Affäre berichtet… nun erzähle uns bitte auch den Rest. Was könnte deiner Meinung nach bis in unsere Zeit nachwirken?« Sir Henrys Hand lag immer noch auf Janets Kopf. Er ließ ihre schönen blonden Locken durch seine Finger gleiten und sagte schließlich: »Es steht mir nicht zu, darüber zu reden. Aber ich bin auch der Meinung, daß nun Klarheit geschaffen werden muß. Du als das neue Familienoberhaupt kannst die Wahrheit natürlich verlangen, Vigor.« »Dann betrifft es also die Familie?« »Natürlich. Darüber reden wir doch die ganze Zeit.« Der alte Herr spielte immer noch mit Janets Locken, und Janet hielt lächelnd still. Sicher wurden bei ihr Kindheitserinnerungen wach. Und ich… ich hielt plötzlich den Atem an. Mir war da ein Gedanke gekommen, der wirklich atemberaubend war. Wo hatte ich in letzter Zeit gerade solche blonden Locken bewundert? Es waren keine lebendigen Locken gewesen, sondern gemalte. Es waren Lady Abigails Locken, auf dem Gemälde bei Sir Henry! Goldblond und glänzend waren sie, diese Locken, genau wie die von Janet. Sicher, diese beiden Frauen gehörten zur gleichen Familie, eine Familienähnlichkeit wäre also nicht
ungewöhnlich. Aber andererseits, Lady Myrna, Janets Mutter, hatte dunkles Haar. Dunkelhaarig war auch Graf Rufus gewesen. Und auch Vigor Northern war nicht blond. Könnte es sein, daß Janet gar nicht die Tochter von Graf Rufus und seiner Gemahlin war, daß Lady Abigail ihre Mutter, daß Jeremy Jordan ihr Vater war? Das war ein atemberaubender Gedanke. Und Vigor schien in diesem Augenblick die gleichen Überlegungen anzustellen. Er fixierte den alten Herrn im Rollstuhl. »Du sagtest, Onkel Henry, Abigail wäre sehr krank gewesen nach dem Verschwinden des Malers. Sie wäre monatelang überhaupt nicht aus ihrem Schlafzimmer herausgekommen.« »Das stimmt, Vigor.« »Und was war während dieser Zeit mit Lady Myrna, unserer Mutter?« Sir Henrys Hand bewegte sich jetzt nicht mehr auf Janets Kopf. »Was soll mit Lady Myrna gewesen sein?« fragte er tonlos. Auch Janet war jetzt aufmerksam geworden. Sie spürte die Spannung, die im Raum lag. Sie richtete sich auf, blickte von Sir Henry zu ihrem Bruder und wieder zurück. »Lady Myrna war ebenfalls leidend zu dieser Zeit«, sagte Sir Henry leise. »Sie ließ sich nur selten blicken. Nun ja, das war ja die Zeit, in der Janet nun bald geboren wurde.« Da war er genannt worden, dieser Name, und ich glaube, in diesem Moment hielten wir alle den Atem an. Doch bei Janet war die Schrecksekunde, so etwas war es sicher für sie, nur kurz. Sie sprang auf, packte den alten Herrn bei den Schultern. »Das alles ist also kurz vor meiner Geburt passiert, Onkel Henry?« »Sicher, Janet. Das heißt, Lady Abigail ist erst kurze Zeit später gestorben.« »Ja, aber dann… dann könnte ja…«
»Mehr weiß ich leider nicht, Janet, glaube mir. Und auch du mußt mir glauben, Vigor, daß ich wirklich nichts Genaues weiß. Ich habe meine Vermutungen, ja, aber es sind eben nur Vermutungen.« Janet war zu ihrem Bruder gegangen. Offensichtlich war sie sehr verwirrt. »Denkst du dasselbe wie ich, Vigor?« fragte sie leise. »Denkst du auch, daß ich vielleicht gar nicht deine Schwester bin?« Auch der junge Graf war sehr ernst. »Ich habe wirklich den gleichen Gedanken«, gab er zu. »Willst du die Wahrheit erfahren, Janet?« »Natürlich will ich das!« »Gut, dann komm! Wir beide gehen zu Gräfin Myrna. Sie allein kennt die Wahrheit. Und sie wird sie uns jetzt sagen. Vielleicht ist das überhaupt der Grund ihrer augenblicklichen Krankheit. Vielleicht belastet auch sie die Vergangenheit zu sehr.« Zu dritt blieben wir in der Bibliothek zurück. Es war nicht so verabredet, aber es erschien uns ganz selbstverständlich, daß Vigor und Janet zurückkommen würden, um uns zu berichten. Es war natürlich unsicher, wann das sein würde, aber wir waren nicht ungeduldig. Wir hatten ja Zeit. Schweigend hingen wir unseren Gedanken nach. Sie beschäftigten sich wohl alle mit dem unglücklichen Liebespaar. Die Vorstellung, daß Janet wirklich die Tochter dieser beiden Menschen sein könnte, war wirklich faszinierend. Sie würde aber auch manches erklären. Die Lieblosigkeit des Grafen Rufus zum Beispiel. Auch diese unverständlichen Worte, die er gebraucht hatte, als Janet sich seinen Plänen widersetzen wollte: »Du wagst es, so zu mir zu reden, gerade du? Ist das die Dankbarkeit, die du uns schuldest? Du schuldest mir Dankbarkeit, mir und meiner Frau, daß wir uns deiner erbarmt, daß wir dir ein Heim
gegeben haben.« Und dann hatte er seine Frau, die Gräfin, angebrüllt: »Ich bin es leid, dieses Theater! Nur deinetwegen habe ich damals nachgegeben, habe zugelassen, daß das Kind bei uns aufwächst. Ich hätte es nicht tun sollen. Es war mir von Anfang an zuwider.« Das hatte er also gemeint, dieser Graf Rufus. Janet war überhaupt nicht sein Kind, und sie war auch nicht das Kind seiner Frau. Lady Abigail hatte es geboren, der Maler Jeremy Jordan war sein Vater, und vermutlich hatte Lady Myrna darauf bestanden, dieses arme Würmchen, dessen Mutter kurz nach der Geburt gestorben war, und dessen Vater man verjagt hatte, als eigenes Kind anzunehmen. Natürlich hatten wir die Bestätigung dafür noch nicht, aber ich war ganz sicher, daß es so gewesen sein mußte. Sir Henry hatte Lucy beobachtet, die ganz ruhig in einem der Sessel saß und still vor sich hin schaute. »Was werden Sie tun, Lucy, wenn Sie wieder nach London zurückkehren?« Lucy blickte auf. »Es ist noch nicht alles getan«, sagte sie versonnen. »Ich bin wohl wirklich als ein Medium, als eine Art Mittler hierhergeholt worden. Und so sehr mich das zunächst geängstigt hat, so denke ich nun doch, daß es so sein mußte. Aber alles ist noch nicht erledigt. Etwas bleibt noch zu tun, vor dem ich aber keine Angst mehr haben muß, das weiß ich jetzt.« »Ja, Lucy, es war wohl wirklich eine Art Fügung, daß Sie zu uns gekommen sind. Man muß dankbar sein dafür. Aber wenn dann nun alles vorbei sein wird, was werden Sie dann tun?« »Ich werde meine Ausbildung abschließen und dann meinem Beruf nachgehen. Ganz einfach«, sagte Lucy schlicht. Sir Henry nickte vor sich hin. »Ich wollte Sie um etwas bitten, Lucy. Kommen Sie zu mir.« »Zu Ihnen? Als Pflegerin?«
»Nicht unbedingt, Lucy. Natürlich sollten Sie Ihre Ausbildung abschließen. Und ich werde Ihre Hilfe sicher nötig haben, wenn Sie dann bei mir wären. Aber ich möchte Sie nicht als Pflegerin, Lucy. Sehen Sie, ich bin allein, ich habe niemanden. Ich gehöre zwar zur Familie, aber… es wäre so schön, wenn ich eine Tochter hätte, Lucy. Ich möchte Sie adoptieren dürfen, in Ihnen meine Tochter sehen, jemanden, der dann zu mir gehört, der für mich sorgt, und für den auch ich sorgen darf. Sehen Sie, ich bin zwar hier nicht der Schloßherr, aber…« »Bitte, reden Sie nun nicht von Geld, Sir Henry!« bat Lucy rasch. »Das würde mich verletzen.« »Einverstanden, Lucy. Lassen wir dieses Thema also. Aber sonst… würden Sie sich mit einem solchen Gedanken anfreunden können? Würden Sie mit mir auf Northern Castle leben wollen? Wir könnten auch gemeinsam reisen, wenn Sie das möchten. Ich brauche zwar Hilfe, aber pflegebedürftig bin ich noch längst nicht. Es würde mir Freude machen, Ihnen die Welt zu zeigen. Aber Sie brauchen sich natürlich nicht sofort zu entscheiden. Denken Sie nur einmal über meinen Vorschlag nach. Wollen Sie das tun?« Lucy nickte, Sie war ganz verwirrt. Mit einer solchen Entwicklung hatte sie selbstverständlich nicht gerechnet. Aber ich war doch schon ziemlich sicher, daß sie den Vorschlag dieses netten alten Herrn annehmen würde. Lucy stand ganz allein im Leben. Wie schön für sie, dann jemanden zu haben, der zu ihr und zu dem sie gehörte. Sie würde dann sogar auf Northern Castle zu Hause sein – und ich muß sagen, darum beneidete ich sie fast ein wenig. Ich würde ja bald mein Bündel schnüren und mich endgültig verabschieden müssen, und schon der Gedanke daran machte mich unendlich traurig. Es war natürlich nicht das an sich recht düstere Schloß, dem meine traurigen Gedanken galten, es war
natürlich mehr der junge Schloßherr. Doch darüber würde ich mit niemandem reden können. Vigor und Janet kamen zurück. Janet hatte verweinte Augen, aber sie wirkte ganz und gar nicht unglücklich. »Es stimmt«, sagte sie und blickte uns strahlend an, »ich bin Abigails Tochter, und Jeremy Jordan war mein Vater. Graf Rufus hätte mich damals einfach weggeben wollen, ich hätte als Findelkind aufwachsen sollen, aber Mummy – Lady Myrna hat ihn gewissermaßen gezwungen, mich auf dem Schloß zu behalten. Womit sie ihn zwingen konnte, hat sie uns nicht gesagt, aber ich glaube, sie hatte ein sehr unglückliches Leben an der Seite dieses Mannes. Sie war wirklich lieb zu mir, und sie wird für immer meine geliebte Mummy bleiben, aber daß Graf Rufus nicht mein Vater ist, darüber bin ich richtig froh. Und nun haltet euch fest! Es gibt nämlich noch eine Sensation!« Auffordernd blickte sie Vigor Northern an, und dieser nickte lächelnd. »Ja«, sagte er, »Mutter hat gleich auch noch ihr zweites Geheimnis gelüftet. Das kam wirklich sehr überraschend für mich, denn in der Beziehung war ich völlig ahnungslos. Aber letztendlich bin auch ich froh.« »Nun mache es nicht so spannend, Vigor!« drängte Janet. »Nun sag schon, daß Graf Rufus auch nicht dein Vater war.« »Tatsächlich, das habe ich eben gerade erfahren.« Vigor schüttelte mit leisem Lächeln den Kopf. »Auch das erklärt natürlich vieles. Die Lieblosigkeit und Härte des Grafen auch mir gegenüber. Ich bin nämlich der Sohn seines Bruders. Meine Mutter war in erster Ehe mit dem ältesten der NorthernSöhne, mit Graf Winston, verheiratet. Dieser verunglückte sehr jung, noch vor meiner Geburt, aber ich war bereits gezeugt. Mein Großvater überredete meine Mutter, den jüngeren Bruder ihres Mannes zu heiraten. Sie tat es, und so kam ich als Sohn von Graf Rufus zur Welt, ohne es wirklich zu sein. Graf Rufus
selbst war unfähig, Kinder zu zeugen. Ja, ich muß wirklich sagen, so eine gewisse Befreiung ist dieses Wissen tatsächlich für mich. Mein wirklicher Vater, Winston, muß ein ganz anderer Mensch gewesen sein. Genauso wie Abigail, die Schwester der beiden. Rufus war das schwarze, wohl auch das böse Schaf der Familie. Meine Mutter hat diese Ehe mit ihm sehr bereut. Sie ist nie wieder glücklich geworden.« »Das wußte sogar ich nicht«, gestand Sir Henry kopfschüttelnd. »Aber es freut mich, es freut mich wirklich. Daß du Winstons Sohn bist, Vigor, ist großartig. Er war ein prächtiger Kerl, ich werde dir viel von ihm erzählen können. Wir waren nämlich gute Freunde, mußt du wissen, Winston und ich.« »Niemand redet mehr von Jeremy Jordan«, warf ich ein. »Weiß denn wirklich niemand, was aus ihm geworden ist?« Janet blickte mich traurig an. »Nein, Claire, das scheint wirklich niemand zu wissen. Auch Mummy weiß nichts anderes als das, was Graf Rufus überall erzählt hat, daß er dem Maler Geld gegeben habe, damit er verschwände und nie wieder zurückkäme. Sie hat das nicht geglaubt und auch nicht Abigail, aber tatsächlich war und blieb Jeremy Jordan verschwunden. Doch ich will sein Schicksal jetzt unbedingt aufklären. Was meinst du, Lucy, ob wir die Wahrheit herausfinden können?« Lucy schaute ausdruckslos vor sich hin. »Ich sehe den Turm«, sagte sie monoton, »ich sehe die Stelle, wo Graf Rufus zu Tode gestürzt ist. Und ich sehe, wie Lord Stenley herankommt. Sein Pferd hält genau auf diese Stelle zu. Es scheut und wirft seinen Reiter ab. Und nun sehe ich die Mauer, den unteren Teil der Mauer des Nordturms. Es ist nichts da, nichts Auffälliges, aber jetzt… ja, jetzt sehe ich dieses rote Tuch. Es wird wie von unsichtbaren Händen an dem
Mauerstück befestigt, wo wir es gefunden haben. Und dieses Bild bleibt. Ich sehe nur noch die Mauer und dieses Tuch.« Lucy schwieg. Wie erwachend blickte sie uns an. Aber ich sprang wie elektrisiert auf. »Als du mir von deinem Traum erzähltest, Lucy«, rief ich, »da hast du auch Worte des Grafen zitiert, die ich nicht vergessen habe. Der Graf hatte demnach gesagt, als er den Geist des Jeremy Jordan sah: Das gibt es nicht, du bist tot! Elendiglich umgekommen in diesem Loch, das ich selbst zugemauert habe! Hat er das nicht gesagt, Lucy?« »Ja«, nickte Lucy schwer. »Genauso hat er es gesagt.« Vigor Northern hatte bereits zum Telefon gegriffen und auf einen Knopf gedrückt. Er war mit dem Butler verbunden. »Kommen Sie sofort mit einem der Handwerker zum Nordturm!« sagte er kurz. »Und bringen Sie Hammer und Meißel mit! Solche, mit denen man auch bequem Mauerwerk aufstemmen kann.« Wir brauchten nun nichts mehr zu sagen. Eilig und schweigend verließen wir alle die Bibliothek. Lucy schob Sir Henrys Rollstuhl. Wir kamen fast gleichzeitig beim Turm an, wir und der Butler mit dem Handwerker. Vigor hatte sich die Stelle in der Mauer gut gemerkt, wo er den roten Tuchfetzen gefunden hatte. Er trat an die Mauer, zeigte auf den Gesteinsbrocken und fragte dann Lucy: »War es hier?« Lucy nickte. »Genau da war es.« »Also«, wandte Vigor Northern sich an den Handwerker. »Schlagen Sie hier ein Loch in die Mauer. Dies ist etwa Schulterhöhe, das Loch muß bis zum Boden reichen. Aber beginnen Sie unbedingt hier oben.« Der Handwerker begann unverzüglich mit der Arbeit. Vigor blieb dicht neben ihm stehen, und ich legte meinen Arm schützend und stützend um Janet. Ich hatte bemerkt, wie sie
zitterte. Der Handwerker arbeitete mit kräftigen Schlägen. Natürlich dauerte es eine Weile, bis er den ersten Stein so gelockert hatte, daß er ihn aus der Mauer herausziehen konnte. Man sah etwas Weißes in dem Loch, den Teil eines Totenschädels, und gleich darauf vernahm man ein hohles Poltern. Der Totenschädel verschwand, offenbar war das Skelett zusammengebrochen. Janet schrie auf, klammerte sich an mich, und Vigor wandte sich uns mit blassem Gesicht zu: »Sie sollten Janet fortbringen, Claire. Wir kennen jetzt die Wahrheit, aber dies hier sollte sie nicht bis zum Ende sehen.« »Er war mein Vater«, schluchzte Janet. »Hier ist er also gestorben. Und er wollte, daß wir es wissen.« »Ja, Janet, so, ist es wohl«, sagte ich. »Er hat uns auch seinen Mörder gezeigt, und er hat sich an Lord Stenley gerächt, der vermutlich der Anstifter zu dieser Schandtat war. Aber komm, wir sollten wirklich nicht mehr hierbleiben.« Der Rest ist schnell erzählt. Das am Fuß des Turms eingemauert gewesene Skelett wurde einwandfrei als das des Malers Jeremy Jordan identifiziert. Diese traurigen sterblichen Überreste bekamen einen würdigen Platz neben Lady Abigails Grab. Janet forderte für sich das Recht, das Grab ihrer Eltern allein betreuen und pflegen zu dürfen. Sie hat die Erschütterung über den grausamen Tod ihres Vaters bald überwunden, zumal sie an Dr. Mitchell eine wirklich gute Stütze hat. Lucy hat nach reiflicher Überlegung das Anerbieten des Sir Henry angenommen. Sie wohnt mit ihm inzwischen auf Northern Castle und macht einen sehr zufriedenen Eindruck. Und ich? Ja, als ich abreisen wollte, hat Vigor mich gefragt, ob ich ihm wohl helfen wolle, die Düsternis aus dem Schloß zu vertreiben. Jüngere und glücklichere Menschen sollten künftig dort leben. Und vor allem sollte es endlich wieder
Kinderlachen geben zwischen den dicken Mauern von Northern Castle. Ich fand, daß das eine wunderbare Idee war. So haben Vigor und ich geheiratet, und der nächste Herr von Northern Castle, der künftige Erbe, wird nun bald das Licht der Welt erblicken. Er wird von sehr glücklichen Eltern in Empfang genommen werden.