Maja Merling
Der Geisterschmuck
Irrlicht Band 358
Der Film, oder was immer es war, lief jetzt immer schneller vor m...
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Maja Merling
Der Geisterschmuck
Irrlicht Band 358
Der Film, oder was immer es war, lief jetzt immer schneller vor mir ab. Die Zofe löste gerade eine Kameebrosche von einem gesteiften Mieder, als ein hochgewachsener Mann in der Kleidung eines Lakaien ihr die Brosche entriß – und die Zofe wurde mit dem Dolch niedergestochen. Danach sah ich einen gewaltigen, mit Bändern und Federn und Borten verzierten Hut, er wurde von einer auffallenden, mit einer Kamee verzierten Agraffe aus kunstvoll frisierten schwarzen Locken gehalten. Eine Hand streckte sich nach der Agraffe aus, ein Dolch blitzte… und jetzt schien der Bann auf einmal von mir gelöst, ich konnte schreien, und ich hörte meine Stimme gellen: »Genug, ich halte das nicht mehr, aus!« Da befand ich mich wieder am abendlichen Fluß. Ich saß auf der Bank, hielt den Dolch in der Hand, und nicht weit von mir, vom aufsteigenden Nebel umwallt, sah ich Annabel und den Mann, der sich Umberto Urban nannte. Ich sah, wie die beiden sich innig küßten… aber mir war so, als schaue der Mann über Annabels Schulter hinweg zu mir hin. Da warf ich den Dolch zu Boden, als sei er glühendes Eisen, und lief davon, so schnell ich es in meiner unbequemen Kleidung konnte…
Als ich von Tante Constance die Nachricht bekam, daß sie auf einen Besuch von mir warte, zögerte ich nicht lange. Tante Constance war eigentlich meine Großtante, sie war schon weit über neunzig Jahre alt und ich hatte sie sehr gern. Sie lebte in einem malerischen Städtchen in Englands Süden, wo auch ich geboren und aufgewachsen bin, während ich damals, als mich Tante Constances Nachricht erreichte, in London lebte und dabei war, mir als Journalistin die ersten Sporen zu verdienen. Es war nicht ganz einfach, von meinem Chefredakteur den gewünschten Urlaub zu bekommen, denn für Journalisten gibt es ja fast immer brandeilige Aufträge, aber ich war hartnäckig, denn ich wußte, die alte Dame rief mich nicht ohne Grund. Natürlich bekam ich den Urlaub. Tante Constance wohnte in einem wunderschönen Haus am Markt. Ich hoffte, sie wie immer oben im ersten Stock am Erkerfenster sitzen zu sehen und wurde schon sehr besorgt, als mir von dort aus nicht wie sonst immer eine schmale, weiße Hand zuwinkte. So schloß ich rasch meinen kleinen Wagen ab, mit dem ich die Fahrt von London bis hierher zurückgelegt hatte, und lief über die alte hölzerne Stiege, die für mich immer noch etwas Anheimelndes hatte, nach oben. Emily erwartete mich bereits an der Wohnungstür. Emily war schon bei Tante Constance gewesen, seit ich zurückdenken konnte. Sehr viel jünger als ihre Herrin war sie wohl nicht, denn ich meine, sie hatte schon damals, als ich noch ein Kind war, genau so ausgesehen wie heute mit ihrem schneeweißen Haar unter dem Spitzenhäubchen und der immer tadellos gestärkten weißen Schürze über dem schwarzen Kleid. Die Apfelbäckchen waren jetzt vielleicht nicht mehr ganz so rosig, und ihre Sprache und auch ihre Bewegungen waren deutlich langsamer geworden.
»Wie schön, daß Sie kommen, Miss Ruth«, sagte sie herzlich. »Miss Richmond erwartet Sie schon.« »Ist Tante Constance krank?« fragte ich besorgt. »Nicht krank im eigentlichen Sinne«, meinte Emily bedächtig. »Ich glaube, sie ist nur müde. Lebensmüde, verstehen Sie? Sie hat schon seit Wochen das Bett nicht mehr verlassen.« »Das klingt aber gar nicht gut, Emily. Vielleicht kann ich sie ein bißchen aufmuntern.« »Schön wäre es, Miss Ruth. Gehen Sie nur ins Zimmer. Miss Richmond weiß bereits, daß Sie kommen.« Tante Constances Schlafzimmer war früher schon für mich etwas ganz Besonderes gewesen. Da gab es nämlich ein richtiges Himmelbett, das mich immer wieder zum Staunen verleitet hatte. Und als Kind hatte ich mir darum oft ausgemalt, daß Tante Constance bestimmt eine verwunschene Prinzessin sei. Denn wer sonst schlief schon in einem Himmelbett? Darin lag sie auch jetzt, diese zierliche alte Frau, in ihren spitzenbesetzten weißen Kissen, und mir schien, daß sie noch winziger geworden war seit meinem letzten Besuch. Aber ihre blauen Augen waren immer noch erstaunlich hell und wach, und das runzelige Gesichtchen verzog sich zu einem herzlichen Lächeln, als ich mich dem Bett näherte. »Wie schön, daß du da bist«, sagte Tante Constance und reichte mir ihre zarte Greisinnenhand. »Ich habe sehr auf dich gewartet.« »Ich bin sofort gekommen, Tante Constance«, antwortete ich und hauchte einen Kuß auf die welke Wange. »Ich weiß, Kind. Ich fürchtete nur, die Zeit würde mir knapp.« »Du bist doch wohl nicht krank, Tantchen«, sagte ich und setzte mich auf den hochlehnigen mit rotem Plüsch bezogenen Stuhl neben ihrem Bett. Ganz vorsichtig ergriff ich dabei ihre
Hand, denn ich fürchtete unwillkürlich, sie zu zerbrechen. »Mache mir keinen Kummer, Tante Constance.« »Du solltest dir keinen Kummer machen, Ruth. Ich bin so alt geworden, jetzt ist es genug. Ich will jetzt heimgehen, verstehst du? Aber ich habe noch auf dich gewartet, denn da ist noch etwas, was ich dir geben möchte. Ich wollte es dir persönlich geben. Du solltest es nicht erst aus meinem Nachlaß bekommen.« »Es tut mir weh, wenn du so sprichst, Tante Constance.« »Ach, sei nicht dumm, Ruth. Jeder muß einmal Abschied nehmen, und ich habe ja wirklich sehr lange damit gewartet, nicht wahr? Also freue dich mit mir über die lange Zeit, die ich gehabt habe, und gönne mir nun die Ruhe, nach der ich mich von Herzen sehne. Willst du einmal die Lade dort an dem Schränkchen aufziehen? Du findest darin ein flaches Kästchen. Das gib mir, bitte.« Es war ein hübsches, sehr altes Schränkchen, wie eigentlich alles in Tante Constances Haus. Und das Kästchen, das sie haben wollte, war offensichtlich auch sehr alt. Es war flach, rechteckig und mit ziemlich abgegriffenem weinrotem Leder bezogen. Tante Constance nahm es mit beiden Händen entgegen. Sie öffnete es vorsichtig, fast andächtig, warf einen versonnenen Blick hinein. Dabei hielt sie das Kästchen so, daß ich von dem Inhalt noch nichts sehen konnte. Aber das nur einen Augenblick lang. Dann hielt sie mir das geöffnete Kästchen hin. »Das gehört nun dir, Ruth«, sagte sie dabei. »Da ich keine Tochter habe, bist du die einzige rechtmäßige Erbin.« Ich blickte überrascht auf den Schmuck, der da auf dem ehemals sicher weißen, jetzt aber schon sehr vergilbten Samt lag.
»Eine Gemme«, sagte ich überrascht. »Eine wunderschöne Gemme.« »Genauer gesagt ist es eine Kamee«, berichtigte mich die alte Dame. »Es ist eine erhabene Steinschnitzerei, siehst du? Also eine Kamee. Ein vertieft in einen Edelstein eingeschnittenes Bild ist ein Intaglio, aber das sagt man heute kaum noch, man spricht allgemein von einer Gemme. Und diese Bezeichnung ist heut auch Oberbegriff für gravierte Edelsteine überhaupt.« »Donnerwetter, das klingt ja richtig wissenschaftlich, Tante Constance«, staunte ich. »Ich habe mich auch viel damit befaßt, Ruth. Immer wieder habe ich mir dieses in den kostbaren Stein geschnittene Bild angesehen, immer wieder im Laufe der Jahre. Und oft war es mir so, als würde das Bild lebendig vor meinen Augen, als bewegte die junge Dame sich und redete mit mir. Ich habe so manche Stunde damit zugebracht.« »Aber ich habe nie gesehen, daß du diesen Schmuck getragen hast, Tante Constance. Darf ich?« Ich nahm die Kamee aus dem Kästchen und betrachtete sie eingehend. Sie war wirklich wunderschön. Ich hatte mich bis dahin eigentlich noch nie mit der Steinschneidekunst befaßt, wußte nur, daß diese Kunst schon in der Antike in hoher Blüte stand. Die Babylonier und Ägypter benutzten Gemmen als Siegel, und bei den alten Griechen und Römern waren die aus mehrschichtigen Edelsteinen geschnittenen Kunstwerke als Schmuck höchst begehrt. Sie waren manchmal nur so groß wie ein Fingernagel oder noch kleiner, manchmal erreichten sie auch die Größe von mehreren Zentimetern, aber man kann sich heute kaum vorstellen, wie man in damaligen Zeiten Darstellungen mit einer so feinen Zeichnung schaffen konnte, ohne im Besitz einer Lupe zu sein, die man damals ja noch nicht kannte.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das alles, was ich gerade erzählt habe, seinerzeit tatsächlich schon wußte, als ich Tante Constances Kamee zum erstenmal sah. Inzwischen habe ich mich natürlich ausführlich mit dem Thema befaßt, so daß mir dieses Wissen über Gemmen und Kameen ganz selbstverständlich ist. Aber natürlich konnte ich da, als ich an Tante Constances Bett saß, noch nicht ahnen, daß diese Kamee gehörige Unordnung und Aufregung, ja auch Lebensgefahr in mein bis dahin gar nicht so aufregendes Leben bringen sollte. »Nein«, sagte Tante Constance, »ich habe diese Brosche niemals getragen. Und meine Mutter nicht und deren Mutter auch nicht.« »Was, so lange ist der Schmuck schon in Familienbesitz?« Das mußte ja, so überschlug ich es rasch, ungefähr seit der Zeit um die Mitte des vorigen Jahrhunderts sein. »Ja«, nickte Tante Constance, »so lange. Und niemand hat die Brosche getragen. Niemand außer der jeweiligen Besitzerin hat sie auch wohl gesehen.« »Das verstehe ich nicht.« Jetzt betrachtete ich die Kamee noch genauer. Sie war vielleicht vier bis fünf Zentimeter groß, oval, und sehr kunstvoll und verschwenderisch in Gold gefaßt. Die helle Figur von dem dunkelroten Grund stellte eine bezaubernde junge Frau dar, deren rechter Arm auf dem unteren Bildrand wie auf einer Fensterbank ruhte, während der Kopf auf die Hand aufgestützt war und das zarte Profil dem Betrachter dargeboten wurde. Offensichtlich üppiges Haar war in einem weichen Bogen nach hinten zu einem kunstvollen, tiefsitzenden Nackenknoten geschlungen, aus dem Haupthaar hatten sich ein paar auf Schultern und Nacken gleitende Korkenzieherlocken gelöst. Auf dem jungen Gesicht lag ein bezauberndes Lächeln, das erstaunlich lebendig wirkte. »Diese kleine Kostbarkeit ist also nie getragen worden?« fragte ich verwundert.
»Jedenfalls nicht, so lange sie sich im Besitz unserer Familie befindet«, nickte Tante Constance. »Jetzt gehört sie dir. Es steht dir selbstverständlich frei, es anders zu halten.« »Wie ist der Schmuck denn in den Besitz unserer Familie gekommen?« »Das möchte ich dir ja gerade erzählen, Ruth. Die Mutter meiner Mutter war in ihrer Jugend Kammerzofe im Stadtschloß der Grafen von Greystone. Du kennst das Schloß, Ruth. Es liegt im ältesten Teil unserer Stadt, gar nicht weit von hier, und es wird immer noch von der gräflichen Familie bewohnt. Nur die beiden Seitenflügel werden inzwischen von den städtischen Behörden genutzt. Dort war also meine Großmutter, sie hieß Mira, um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Kammerzofe bei der einzigen Tochter des damaligen Grafen von Greystone. Und diese junge Lady schenkte die Kamee ihrer Zofe.« »Ein so kostbares Geschenk für eine Zofe? Ist das nicht verwunderlich?« »Ich denke schon. Und ich denke auch, daß eine besondere Geschichte damit verbunden ist, die ich allerdings nicht kenne. Ich erinnere mich nur an unbestimmte Andeutungen meiner Großmutter, ich war damals noch ein ganz kleines Mädchen, daß es da eine wundersame Liebesgeschichte gegeben hat, bei dem dieser Schmuck eine Rollte spielte. Diese Liebesgeschichte soll tragisch geendet haben, und die junge Lady soll an gebrochenem Herzen gestorben sein. Vor ihrem Tod schenkte sie diese Brosche ihrer Zofe. Mira, also meine Großmutter, hütete den Schmuck wie ein Heiligtum. Niemand erfuhr von ihrem kostbaren Besitz, und so hielt es später auch meine Mutter, und seit vielen Jahrzehnten tue ich das Gleiche.« »Warum nur?« »Es ist wohl ein Geheimnis mit dieser Kamee verbunden.«
»Handelt es sich dabei um ein Bildnis der jungen Lady?« »Ich nehme es an, aber ich weiß es nicht genau. Ebenso wenig wie ich das Geheimnis kenne, das mit dieser Brosche verbunden sein soll. Es blieb bis heute ungelüftet, und mir wurde immer ganz seltsam zumute, wenn ich darüber nachdachte. Nun, Ruth, du bist eine moderne junge Frau. Du wirst dich wohl kaum mit solch wunderlichen Gedanken befassen. Aber ich dachte, du solltest doch wissen, was diese Kamee, richtiger gesagt wohl was das bezaubernde Bildnis dieser jungen Frau aus dem vorigen Jahrhundert mir, die ich als deine Großtante dir ja schon zwei Generationen voraus bin, also mir, meiner Mutter und meiner Großmutter bedeutet hat. Du wirst diesen Schmuck in Ehren halten, da bin ich mir sicher. Wenn du ihn auch nicht im Verborgenen hüten sollst. Und ich hoffe, daß du ihn später einmal an deine eigene Tochter weitergeben können wirst. Vielleicht offenbart sich dir vorher auch das Geheimnis dieser Kamee. Wer weiß.« Tante Constance hatte zuletzt sehr langsam und leise gesprochen. Sie schwieg jetzt und war wohl eingeschlafen. Ich blieb noch eine Weile neben ihrem Bett sitzen, lauschte ihren Atemzügen und verließ dann auf Zehenspitzen leise ihr Schlafzimmer. Tante Constance wachte nicht wieder auf. Sie glitt einfach hinüber in den ewigen Schlaf, und obwohl ich sehr traurig darüber war, gönnte ich ihr die Ruhe, die sie sich gewünscht hatte, und diesen friedlichen Tod. Ich war zwar noch relativ jung mit meinen fünfundzwanzig Jahren. Da denkt man in der Regel noch nicht viel über das Sterben und den Tod nach. Aber daß ein solch friedvoller Tod eine Gnade ist, war mir doch auch damals schon bewußt. Ich blieb vorerst in Tante Constances Haus. Ich hatte dort schon immer mein eigenes Zimmer gehabt, das mir auch blieb, als ich nach London ging. Jetzt war ich wohl
auch die Erbin dieses Hauses, aber darüber dachte ich noch gar nicht nach. Es waren für mich aufregende, vor allem aber traurige Tage bis zur Beerdigung, die ich selbst organisieren mußte. Eine schmerzliche Pflicht. Es wurde aber alles so, wie Tante Constance es sich wohl gewünscht haben würde, eine schöne, würdige Trauerfeier. Und danach begann für mich wieder der Alltag. Das dachte ich jedenfalls damals, aber es kam dann doch ganz anders. Ich war immer noch fasziniert von dem Schmuck, den Tante Constance mir unmittelbar vor ihrem Tod übergeben hatte. Die anderen Besitzerinnen dieser Kamee, die Frauen meiner Familie, hatten ihren kostbaren Schatz im Verborgenen gehalten. Doch für mich war es klar, daß ich anders war. Nicht, daß ich mich mit meinem neuen Schmuck bewundern lassen wollte. Aber Tante Constances Erzählung hatte mich neugierig gemacht. Nicht zuletzt war ich ja Journalistin. Ich wollte in Erfahrung bringen, was es von dieser geheimnisvollen Kamee zu wissen gab. So ging ich zuerst einmal zu einem Juwelier. Mr. Potter war ein alter, weißhaariger Herr, den ich schon als Kind gekannt hatte. Ich hatte in seinem Geschäft meine allererste Armbanduhr bekommen. Er erkannte mich gleich, als ich seinen Laden betrat, denn er war auch auf Tante Constances Beerdigung gewesen. »Was kann ich für Sie tun, Miss Morris?« fragte er mich liebenswürdig. »Ich freue mich, daß Sie mich mit Ihrem Besuch beehren.« Ich zeigte ihm die Brosche. »Sie gehörte Tante Constance«, erklärte ich. »Unmittelbar vor ihrem Tod hat sie mir diesen Schmuck geschenkt. Und sie tat dabei sehr geheimnisvoll. Schon ihre Mutter und ihre Großmutter besaßen die Brosche,
und es würde mich interessieren, ob Sie mir etwas dazu sagen können, Mr. Potter. Daß sie wunderschön ist, sehe ich natürlich selbst. Und ob sie, in Geldwert ausgedrückt, besonders wertvoll ist, erscheint mir gar nicht so wichtig, denn ich werde sie mit Sicherheit nicht verkaufen. Aber dieses Geheimnis, von dem Tante Constance sprach, hat mich sehr neugierig gemacht. Ob Sie mir dabei weiterhelfen können, Mr. Potter, weiß ich natürlich nicht. Aber Sie waren der erste, der mir einfiel, als ich überlegte, wen ich wohl fragen könnte.« »Das ist sehr schmeichelhaft für mich, Miss Morris«, lächelte der alte Herr. Er nahm die Brosche auf und klemmte sich eine Lupe vors Auge. »Ein wunderschönes Stück, in der Tat«, murmelte er wie zu sich selbst. »Ein wirklich außergewöhnlich schönes Stück. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas schon einmal gesehen zu haben in meinem langen Leben.« Er wurde still, schien noch intensiver zu schauen, nahm die Lupe ab, polierte sie bedächtig mit einem weichen Leder, wischte sich über die Augen, setzte die Lupe wieder an, schaute wieder schweigend, sehr intensiv, schüttelte den Kopf… »Ich kann’s nicht glauben«, sagte er schließlich erregt und schaute mich blinzelnd an, nachdem er die Lupe wieder abgenommen hatte, »ich kann es wirklich nicht glauben… und doch scheint jeder Zweifel ausgeschlossen. Man müßte noch einen Kollegen hinzuziehen, einen Spezialisten… Aber ich glaube eigentlich nicht, daß ich mich irre.« »Was haben Sie denn entdeckt, Mr. Potter? Etwa Tante Constances Geheimnis?« »Ich weiß nicht, was das Geheimnis Ihrer Frau Tante war, Miss Morris. Beziehungsweise, welches Geheimnis sie mit diesem Schmuckstück verband. Aber wenn das stimmt, was
ich annehme, dann wäre es eine kleine Sensation. Eine Sensation zumindest für Fachleute.« »Können Sie mir das näher erklären, Mr. Potter?« »Natürlich sollen und müssen Sie zuerst erfahren, was ich glaube. Und wenn es Stimmt, wenn sich meine Vermutung bewahrheiten sollte, dann hat diese Kamee einen ganz erheblichen Wert.« »Sie machen mich wirklich neugierig, Mr. Potter.« »Und ich bin ganz aufgeregt. Wissen Sie,’ eine solche Entdeckung macht man wirklich nicht alle Tage.« »Eine Entdeckung?« »Sehen Sie, Miss Morris, das ist so. Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß Gemmen in der Antike, vor allem im alten Griechenland, als Schmuck so hoch geschätzt waren, daß die Künstler ihre Werke signierten. Jedes Stück, und war es hoch so klein, hatte seinen eigenen Kunstwert. Auch später gab es noch hohe Blütezeiten der Steinschneidekunst, im Mittelalter zum Beispiel oder am Hof der Medici. Und dann gab es wieder eine Blütezeit im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Diese in Edelstein geschnittenen Miniaturbildnisse waren höchst begehrt. Ein Kameenschneider war im vorigen Jahrhundert ganz besonders berühmt. Er hieß Tutus Fabiani und stammte aus Florenz. Er muß ein überaus genialer Künstler gewesen sein, aber das weiß man heute praktisch nur noch vom Hörensagen, denn Fabiani soll vor seinem Tod alle seine Werke, ob sie nun verkauft waren oder nicht, wieder in seinen Besitz gebracht und sie dann zerstört haben. Warum er das getan hat? Dafür gab es wohl irgendwelche Geschichten und Erklärungen, im Moment kann ich mich aber nicht mehr daran erinnern. Jedenfalls war dieser Italiener wohl eine höchst geheimnisvolle Gestalt. Etwas aber weiß man heute noch genau – er signierte seine Werke wie seine Kollegen im
klassischen Altertum. Und dieses Zeichen, das Zeichen des berühmten, genialen Fabiani kennen wir heute noch.« Ich hatte schon begonnen, etwas ungeduldig zu werden bei den langatmigen Erklärungen des alten Juweliers, doch jetzt wurde ich wieder aufmerksam. »Soll das heißen, Sie haben dieses Zeichen auf Tante Constances Kamee entdeckt, Mr. Potter?« Der alte Herr nickte. Die Augen hinter den goldumrandeten Brillengläsern funkelten, und der weiße Spitzbart zitterte. »So ist es, Miss Morris«, sagte er mit vor Erregung heiserer Stimme. »So ist es. Wie gesagt, ich bin kein Experte, ich will es nicht beschwören, aber trotzdem denke ich, daß meine Vermutung richtig ist. Diese Brosche muß eine Arbeit des legendären Kameenschnitzers Titus Fabiani sein. Eine einzigartige Kostbarkeit, um die sich die Schmuckmuseen der Welt reißen werden. Es ist unglaublich, es ist wirklich unglaublich, daß ich dieses Werk in meinen Händen halten darf!« Ein bißchen wurde ich jetzt natürlich auch von der Erregung des alten Herrn gepackt, wenn mir auch der materielle Wert von Tante Constances Brosche nicht so sehr wichtig war. Mich reizte nun noch mehr das Geheimnis, das offenbar an der Kamee haftete, zumal ich jetzt auf eine erste Spur ihres Schöpfers gestoßen zu sein schien. Nun war ich noch mehr entschlossen, alles in Erfahrung zu bringen, was es Geheimnisvolles um dieses Schmuckstück gab, um diesen Schmuck und auch um ihren Schöpfer. »Hören Sie, Mr. Potter«, sagte ich, »ich finde es ganz großartig, was Sie mir so schon auf Anhieb sagen konnten. Das ist ja viel mehr, als ich erwartete. Aber ich möchte Sie trotzdem bitten, in Fachkreisen noch nichts von Ihrer Entdeckung verlauten zu lassen. Das würde nur unnötigen Wirbel geben, an dem ich nicht interessiert bin. Ich sagte Ihnen
ja schon, ich werde die Kamee nicht verkaufen. An diesem Entschluß wird sich nichts ändern, selbst wenn Sie mit Ihrer Vermutung recht haben und Museen sich dafür interessieren sollten. Also wirbeln wir lieber erst gar keinen Staub auf. Ich möchte allerdings gern mehr über diesen Künstler in Erfahrung bringen. Wie hieß er noch?« »Titus Fabiani.« »Den Namen werde ich jetzt wohl nicht mehr vergessen. Wissen Sie noch mehr über ihn?« »Wie ich schon sagte, Miss Morris, ich erinnere mich nicht mehr genau. Aber ich will gern versuchen, wieder mehr über ihn in Erfahrung zu bringen. Ich bin ja selbst daran außerordentlich interessiert.« »Fein, Mr. Potter. Vorerst bedanke ich mich ganz herzlich. Wir bleiben also in Verbindung.« »Sehr gern, Miss Morris. Und in der Zwischenzeit achten Sie bitte auf die Kamee. Sie ist etwas ganz Besonderes und… sie ist unersetzlich.« »Ich weiß, Mr. Potter!« lächelte ich. »Das wäre sie für mich auch, wenn sie nicht von diesem legendären Titus Fabiani geschaffen worden wäre. Für mich ist sie wertvoll und unersetzlich, weil sie ein Erbstück von Tante Constance ist.«
*
Wie gesagt, ich bin Journalistin und schon von Berufs wegen neugierig. Aber in diesem Fall wurde ich durchaus nicht nur von beruflicher Neugierde getrieben. Bereits die Andeutungen von Tante Constance hatten mein Interesse an der Brosche geweckt, und durch den alten Juwelier war es nun noch beträchtlich gesteigert worden. Was genau ich herausfinden
wollte, wußte ich gar nicht, aber daß ich nachforschen mußte, daran gab es für mich nicht den geringsten Zweifel. Mr. Potter hatte mir zwar versprochen, mich zu informieren, wenn er etwas über diesen legendären Titus Fabiani in Erfahrung bringen würde, aber das genügte mir nicht. Ich wollte nicht einfach warten, ich wollte selbst tätig werden. Und damit begann ich sofort. Von früheren Gelegenheiten wußte ich, daß es in unserer Stadt, so klein sie auch war, eine sehr gute öffentliche Bibliothek gab. Ich brauchte also nicht zu warten, bis ich wieder nach London käme, ich konnte vielmehr gleich hier mit der Arbeit, das heißt mit der Suche nach Spuren von Titus Fabiani beginnen. Das war mir sehr lieb, denn ich würde wohl noch für einige Zeit hier bleiben müssen, bis alle Fragen um den Nachlaß von Tante Constance geregelt sein würden. So hatte es mir der Notar gesagt, und so hatte ich es auch einsehen müssen. Für meine eigenen Nachforschungen wollte ich mir aber trotzdem Zeit nehmen. So machte ich mich vom Juwelier aus direkt auf den Weg zur Stadtbücherei. Sie war bereits seit einigen Jahren im Stadtschloß der Grafen von Greystone untergebracht. Ich war bisher noch nicht dort gewesen, insofern freute ich mich fast auf diesen Besuch. Mit einem kleinen inneren Lächeln erinnerte ich mich daran, wie ich als Kind oft vor dem prächtigen Stadtpalais gestanden hatte und mir sehnlichst wünschte, einmal in dieses Schloß hineinzudürfen. Aber das war natürlich ausgeschlossen, wie man mir erklärte, denn das Schloß wurde von der Grafenfamilie bewohnt und natürlich konnte man da nicht so einfach hineingehen. Jetzt war es also möglich geworden. Ob die Grafen Greystone das Schloß ganz aufgegeben hatten? Ich wußte es nicht, nahm mir aber vor, mich darüber zu informieren. Die öffentliche Bibliothek war in einem der Seitenflügel von
Greystone Palace untergebracht. Es war ein schöner, langgestreckter hoher Raum, in den ich trat, durch breite Durchgänge blickte man in die anschließenden Räume, die wohl ebenso groß waren. Die Bibliothek schien den ganzen Seitenflügel des Schlosses einzunehmen; zweifellos waren hier Tausende von Büchern untergebracht. Ein junger Mann saß hinter dem Empfangstisch. Er lächelte mir freundlich zu und fragte: »Was kann ich für Sie tun?« Mit der Hand deutete er auf einen der Stühle vor dem Empfangstisch. Ich erwiderte sein Lächeln und nahm Platz. »Ich hoffe, daß Sie mir helfen können, Mr. …« Ich blickte auf das Namensschild, das auf der Schreibtischplatte stand zur Information der Besucher. »Mr. Greystone«, las ich ab, stutzte dann aber unwillkürlich und wiederholte: »Greystone?« Mein Gegenüber lächelte. Der Mann mochte etwa um die Dreißig sein, er hatte dichtes, rötlichblondes Haar und einen Dreitagebart, der ihn, fand ich, ausgezeichnet kleidete. Er sah überhaupt sehr gut aus, und sein Lächeln fand ich ausgesprochen sympathisch. »Stimmt«, nickte der Mann. »Ich bin Brian Greystone.« »Gehören Sie…« Ich blickte mich in dem riesigen Raum um und machte mit der Hand eine unbestimmte Bewegung, »gehören Sie zu dieser Familie? Entschuldigen Sie«, fügte ich rasch und ein wenig befangen hinzu, »das ist eine sehr neugierige und wohl auch ungehörige Frage.« »Ach wo, keineswegs«, entgegnete Brian Greystone munter, »ich werde das oft gefragt. Natürlich nur von Leuten die zum erstenmal herkommen. Unsere Stammleser kennen mich.« »Ich bin tatsächlich zum erstenmal hier.« »Sehen Sie. Meine Familie ist tatsächlich Eigentümer dieses Stadtschlosses. Wir haben es teilweise an die Gemeinde verpachtet, der hohen Steuern wegen. Und mir macht es ausgesprochen Spaß, als Bibliothekar hier mitzuarbeiten.
Dieser Beruf kommt meinen Neigungen ohnehin sehr entgegen, und außerdem ist diese Bibliothek, zumindest in ihren alten Beständen, zu einem großen Teil von meinen Vorfahren zusammengetragen worden. Natürlich wird heute beständig erweitert und der Bestand auf dem laufenden gehalten, ich führe also gewissermaßen die Arbeit und die Interessen meiner Vorfahren fort. Und spare gleichzeitig Steuern«, fügte er hinzu und lachte mir vergnügt zu. Mir gefiel dieses Lachen, und ich fragte mich unwillkürlich, ob er wohl jedem Besucher der Bibliothek so ausführlich antwortete, der ihn lediglich nach seinem Namen fragte. Eigentlich mochte ich das nicht so recht glauben. Ich schmeichelte mir vielmehr selbst mit der Vorstellung, daß ich diesem Mann irgendwie sympathisch sein könnte. Möglicherweise meines Aussehens wegen, und ein solcher Gedanke gefiel mir, denn irgendwo war ich auch von Brian Greystone beeindruckt. Doch ich wollte mit meinen Gedanken nicht abschweifen. »Sind Sie mit einem besonderen Lesewunsch in unsere Bibliothek gekommen?« wurde ich gefragt. Ich nickte. »Ich suche nicht gerade eine Lektüre zum Lesen«, schränkte ich aber ein. »Ich suche vielmehr nach Informationen über einen Künstler aus dem vorigen Jahrhundert. Er hieß Titus Fabiani und muß ein sehr berühmter Kameenschneider gewesen sein.« »Ein Kameenschneider?« »Nun, man sprach und spricht wohl auch heute mehr über Steinschneidekunst. Wissen Sie, es handelt sich dabei um die Herstellung von Gemmen, also mit Relief verzierten Edelsteinen.« »Ja, das ist mir schon ein Begriff«, nickte der Bibliothekar. »Aber von einem Künstler namens… wie nannten Sie ihn noch?«
»Titus Fabiani.« »Nein, diesen Namen habe ich noch nicht gehört. Ich kann mich auch nicht erinnern, schon von ihm gelesen zu haben. Er war sehr berühmt, sagten Sie?« »Mr. Potter, der Juwelier, hat es mir gesagt. Ich muß ehrlich bekennen, ich habe diesen Namen heute auch zum erstenmal gehört.« »Nun, das beruhigt mich einigermaßen«, lächelte Brian Greystone. »Ich befürchtete bereits, eine Bildungslücke zu haben. Aber selbstverständlich will ich mich gern informieren. Irgendwo in diesen vielen Büchern wird ja sicher etwas über ihn geschrieben stehen. Wollen wir gemeinsam danach suchen?« Das hätte ich allerdings sehr gern getan, nicht nur dieses gewissen Titus Fabiani wegen. Brian Greystone selbst erschien mir im Augenblick nicht nur lebendiger, natürlich, sondern auch interessanter. Aber zu meiner Enttäuschung fiel mir gerade ein, daß ich einen Termin beim Notar meiner Tante hatte. Beinahe hätte ich diese Verabredung glatt vergessen, weil ich mich in Gedanken zu sehr mit der Kamee und nun auch noch mit dem Kameenschneider beschäftigt hatte. Dabei war es ein wichtiger Termin, und ich war froh, daß er mir gerade noch rechtzeitig eingefallen war, unabhängig davon, daß ich jetzt lieber noch eine Weile hier in der Bibliothek geblieben wäre. »Tut mir leid«, sagte ich also mit ehelichem Bedauern, »ich habe heute keine Zeit. Aber ich komme gern wieder.« »Das ist schön, und ich hoffe, Ihnen dann auch die gewünschten Auskünfte geben zu können. Darf ich Sie inzwischen schon einmal in unsere Kartei aufnehmen, und würden Sie mir dazu Ihren Namen nennen?« »Aber natürlich«, antwortete ich ohne Zögern. »Mein Name ist Ruth Morris.«
»Ach, sind Sie nicht die Nichte von Miss Richmond?« fragte Brian Greystone, während er meinen Namen in den Computer eingab. »Ich habe in der Zeitung von Ihrem Tod gelesen, was mir aufrichtig leid getan hat.« »Das ist richtig, ich bin die Nichte«, nickte ich überrascht. »Sie kannten meine Tante?« »Miss Richmond war eine sehr treue Leserin bei uns. Sie war oft hier, als es ihr noch besser ging, und sie hat viel von ihrer Nichte erzählt. Wie schön, daß ich diese Lichtgestalt nun persönlich kennenlernen durfte.« »Da muß Tante Constance ja schrecklich übertrieben haben«, lachte ich, versuchte aber nicht zu zeigen, daß ich mich freute. Ich freute mich nämlich wirklich, daß es da für mich so etwas wie eine persönliche Beziehung zu diesem Mann zu geben schien, der mich irgendwie interessierte und der mich offenbar auch nicht uninteressant fand. »Man müßte nachprüfen«, schmunzelte Brian Greystone. »Was nachprüfen?« »Ob Ihre Frau Tante übertrieben hat oder nicht.« »Später vielleicht mal«, lachte ich munter zurück. »Im Augenblick habe ich tatsächlich keine Zeit. Einen Notar läßt man nicht warten.« »Das stimmt. Ich werde inzwischen nach diesem Titus Fabiani forschen.« »Und ich erzähle Ihnen dann, warum mich dieser Mann interessiert.« »Ich freue mich darauf, Miss Morris.« Ich auch – hätte ich am liebsten gesagt, aber ich nickte nur und verließ rasch die Bibliothek und den Greystone Palast.
*
Das Gespräch beim Notar erwies sich als für mich nicht so wichtig, wie es zunächst ausgesehen hatte. Ich konnte es also gedanklich abhaken, und damit wandten sich meine Gedanken sogleich wieder dem Thema zu, das mich in den letzten Tagen so sehr beschäftigt hatte, also Tante Constances Schmuck, der Künstler, der diesen Schmuck vermutlich im vorigen Jahrhundert geschaffen hatte, und nun kam auch noch Brian Greystone dazu. Zugegeben, er gehörte nicht direkt zum Thema Schmuck, jedenfalls sah es bis dahin so für mich aus, aber meine Gedanken beschäftigten sich doch erstaunlich viel mit ihm. Ich machte noch einen Spaziergang an diesem Abend und kam dabei wieder zum Stadtschloß der Greystones. Natürlich war die Bibliothek jetzt geschlossen, und auch der ziemlich große Park, der, von einer hohen Mauer umgeben, zum Schloß gehörte und tagsüber zumindest zu einem großen Teil der Öffentlichkeit zugänglich war, war jetzt geschlossen. Ich schlenderte absichtslos an der Mauer entlang und entdeckte schließlich eine schmale Seitenpforte. Warum ich auf den alten schmiedeeisernen Türgriff drückte, weiß ich nicht. Einen abendlichen Spaziergang im menschenleeren Schloßpark hatte ich jedenfalls nicht geplant. Aber ich prüfte, ob die Seitenpforte geschlossen war… sie war es nicht, sie ließ sich öffnen. So betrachtete ich das wohl als Einladung und ging in den Park hinein. Wenn ich mich an diesen Abend erinnere, so ist mir so, als hätte ich damals gar keine andere Wahl gehabt. Es war nicht meine Neugierde, oder gar Abenteuerlust, die mich in den Schloßpark zog, es war etwas anderes, für das es aber keine Erklärung zu geben schien. Das war mir aber an jenem Abend noch nicht bewußt, und ich fragte mich, ob ich, wenn ich es gewußt hätte, weitergegangen wäre.
Doch es ist natürlich müßig, darüber nachzudenken, denn ich wußte ja nicht, was mich erwartete. Ich bin weitergegangen, ohne vorher eine Entscheidung getroffen zu haben. Der Park war schön und gepflegt, mit altem Baumbestand, Rasenflächen, die wie herrliche grüne Teppiche aussahen, und schönen Gebüschgruppen. Der Teil des Schlosses, der dem Park zugewandt war, war von seiner Architektur her wesentlich gefälliger und aufgelockerter als die relativ strenge Straßenfront. Ich hatte bereits den Seitenflügel passiert, in dem die Bibliothek untergebracht war, kam nun am Hauptgebäude vorbei und mußte unwillkürlich daran denken, in welchem Teil des ziemlich weitläufigen Gebäudes wohl Brian Greystone seine Wohnung hatte. Dabei wurde mir auch bewußt, daß ich jetzt in dem Teil des Parks war, der der Öffentlichkeit eigentlich nicht zugänglich war, und es würde mir wohl auch ziemlich peinlich gewesen sein, wenn ich jetzt und hier dem jungen Mann begegnet wäre, den ich in der Bibliothek kennengelernt hatte. Trotzdem machte ich nicht etwa kehrt, um den Park wieder zu verlassen, sondern ich ging vielmehr näher zum Schloß hin, dem westlichen Teil des Gebäudes zu. Früher hatte es da auch noch einen Turm gegeben, er war einmal sozusagen das Wahrzeichen von Greystones Palace gewesen, aber er war vor langer Zeit abgebrannt und danach abgerissen worden. Ich hatte ihn schon nicht mehr erlebt. Während ich mich also dem Schloß näherte, kam auf einmal dichter Nebel auf. Ich weiß noch, daß ich mich darüber wunderte, denn es war ein schöner, klarer Tag gewesen und nichts hatte auf drohenden Nebel hingedeutet. Aber jetzt stand er wie eine milchige Wand zwischen mir und dem Schloß, ich hatte den aufziehenden Nebel gar nicht bemerkt gehabt. Ich ging weiter, in den Nebel hinein. Es waren wohl nur ein paar Schritte – dann wurde es wieder klar um mich herum.
Erstaunlich klar… und ich fühlte mich auch irgendwie anders. Ich kann dieses Gefühl nicht genau beschreiben, es war jedenfalls kein unangenehmes Gefühl, meine Stimmung war gut. Ich dachte natürlich nicht drüber nach. Das kam erst wesentlich später, erst als ich versuchte, eine Erklärung für das zu finden, was ich da Wundersames und eigentlich gar nicht Erklärbares erlebt hatte. Zunächst jedenfalls wunderte ich mich überhaupt nicht, als ich nun an einem der Fenster des Schlosses eine junge Frau sah. Das Fenster befand sich im ersten Obergeschoß des Hauptgebäudes, die beiden hohen schmalen Flügel waren geöffnet und die junge Dame im hellen Kleid mußte wohl auf dem Fenstersims sitzen. Sie winkte mir freundlich zu, und dieses Winken war so zu verstehen, daß ich näher heran, nein… daß ich zu ihr heraufkommen möge. Auch darüber wunderte ich mich nicht, sondern folgte der Aufforderung ohne langes Zögern. Ich stieg also die wenigen Stufen zur Terrasse hoch, überquerte sie, ohne jemandem zu begegnen, und auch im Wintergarten befand sich keine Menschenseele. Durch eine weitere Tür gelangte ich in das imposante Treppenhaus, eine elegant geschwungene breite Treppe führte ins obere Stockwerk, und obwohl es dort mehrere verschlossene Türen gab, wußte ich, hinter welcher der Raum lag, in dem die junge Dame mich erwartete. Daß ich mich nicht geirrt hatte, bemerkte ich gleich, als ich die Flügeltür mit beiden Händen geöffnet hatte und eingetreten war. Es war ein großer Raum. Er lag im Dämmerlicht, von der Einrichtung konnte ich nicht viel erkennen. Aber daran war ich auch gar nicht interessiert, denn meine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die auf der Fensterbank sitzende junge Frau. Ihre schlanke Gestalt und das zarte Profil zeichneten sich
gegen den in der Abendsonne etwas rötlichen Himmel scharf ab. Es war ein so malerisches Bild, daß es mir für einen Augenblick fast den Atem raubte. Die junge Dame wandte mir ihr Gesicht zu und lächelte. Ich glaubte, dieses schöne, feingeformte Gesicht, das von üppigem blondem Haar eingerahmt wurde, zu kennen, konnte mich aber nicht besinnen, woher diese Bekanntschaft rührte. Das Lächeln, welches die junge Frau mir zeigte, war bezaubernd. »Schön, daß du kommst, Ruth«, sagte sie. »Ich habe dich erwartet.« »Das kann doch gar nicht sein«, meinte ich verblüfft. »Ich selbst wußte ja nicht einmal, daß ich hierherkommen würde. Es scheint mir eher ein Zufall zu sein, daß ich jetzt hier bin.« »Nein, nein«, lächelte die junge Dame und rutschte von der Fensterbank hinunter, »kein Zufall. Ich wollte, daß du kommst. Weißt du, ich habe deine Anteilnahme gespürt, und das hat mir gutgetan. Ich bin nämlich sehr allein, weißt du.« »Anteilnahme?« fragte ich zweifelnd. »Das kommt mir irgendwie unwahrscheinlich vor. Ich kann mich ja nicht einmal erinnern, woher ich Sie kenne.« »Ich möchte, daß du mich Annabel nennst, Ruth. Wir sind nämlich so etwas wie Schwestern im Geiste. Und woher du mich kennst? Das weiß ich. Du hast mein Bildnis gesehen.« »Dein Bildnis?« Abermals konnte ich mich nicht erinnern und kam mir inzwischen reichlich dumm vor. Annabel lachte. »Komm, ich will es dir zeigen.« Auf einem Tischchen neben dem hohen Fenster stand ein mehrarmiger silberner Leuchter mit Wachskerzen. Annabel zündete diese Kerzen an, und erst jetzt fiel mir die prachtvolle Kleidung der jungen Frau so richtig auf. Annabel trug ein Kleid aus cremefarbener, schimmernder Seide mit ziemlich weitem Halsausschnitt und eng geschnürter Taille. Von den Hüften ab fiel der Rock weit und faltig auseinander und floß in
reichen Falten als Schleppe zu Boden. Die von der Schulter her engen Ärmel öffneten sich vom Ellenbogen ab zu einer weiten Glocke, und die dazugehörigen duftigen Unterärmel waren aus zweifellos kostbarer Spitze gearbeitet. Ein hoher Wandspiegel befand sich zwischen den beiden Fenstern. Während die bezaubernde Annabel die Kerzen anzündete, sah ich mich selbst in diesem Spiegel. Und merkwürdig, ich wunderte mich nicht einmal über mein Spiegelbild. In einem Stübchen meines Gehirns wußte ich zwar noch, daß ich Jeans und eine sportliche Lederjacke getragen hatte, als ich mich zu meinem Spaziergang aufgemacht hatte, aber meine jetzige Kleidung, nämlich die aus dem Spiegelbild, erschien mir genauso selbstverständlich. Sie war nicht so kostbar und prächtig wie die von Annabel, aber sie gefiel mir genauso gut, und ich fand mich recht ansehnlich. Mein Kleid war grün. Über den fußfreien Rock war eine Tunika aus gleichem Stoff über die Hüften gelegt, sie bauschte sich nach hinten und endete ebenfalls in einer kurzen Schleppe. Der Anblick meiner geschnürten Wespentaille machte mich richtig stolz, und auch das nach hinten frisierte und zu Locken aufgesteckte Haar gefiel mir. Wer mir wohl den teuer aussehenden Spitzenschal geschenkt haben mochte? Ich hatte keine Zeit zum Überlegen, denn Annabel war mit dem Anzünden der Kerzen fertig. Sie nahm den Kerzenleuchter hoch und nickte mir zu. »Komm mit, Ruth!« Wir verließen also das Zimmer, in dem ich Annabel getroffen hatte. Niemand begegnete uns auf dem teppichbelegten Gang, und als wir an eine Wendeltreppe gelangten, die in nicht allzu engen Kurven nach oben führte, erklärte Annabel: »Wir sind hier im Westturm des Schlosses. Ich habe hier seit einiger Zeit meine Gemächer. Salon, Boudoir und Schlafzimmer übereinander. Ist das nicht apart? Meine eigene Idee, und ich habe es mir so sehr gewünscht. Mein Vater hat die
Turmzimmer daher entsprechend für mich umbauen lassen. Mein Vater ist überhaupt großartig. Er tut alles für mich.« Wir gelangten also nach einigem Treppensteigen in den Salon, der sehr elegant eingerichtet zu sein schien, aber Annabel ließ mir keine Zeit, mich näher umzuschauen, sondern sie stieg die Wendeltreppe gleich weiter nach oben, wo wir dann in ihr Boudoir kamen. In den zahlreichen Spiegeln dieses Ankleidezimmers begegnete ich mir selbst wieder, wunderte mich aber auch jetzt nicht über meine eigene Erscheinung, sondern stellte nur nüchtern fest, daß ich zwar recht gut aussah, daß die zierliche Annabel aber bei weitem hübscher war als ich. Annabel hatte den sicher schweren Kerzenleuchter inzwischen auf eine Kommode gestellt. Sie zog eine Schublade auf und entnahm ihr ein mit rotem Leder bezogenes schmales Kästchen. Dieses Kästchen öffnete sie und hielt es mir hin. »Siehst du, Ruth«, lächelte sie, »dieses Bildnis von mir hast du gesehen.« Auf weißem Samt lag die in Gold eingefaßte Kamee. Ich wußte, daß ich sie schon gesehen hatte, aber von den näheren Begleitumständen wußte ich nichts mehr. Das bereitete mir allerdings keine Sorgen, denn als Annabel mir die Kamee jetzt zeigte, war mir durchaus nicht bewußt, daß ich genau diese Kamee in einer anderen, viel späteren Zeit gesehen hatte, und daß dazwischen fast hundertfünfzig Jahre lagen. Und wenn ich es gewußt hätte, wäre ich vermutlich nicht einmal verwundert gewesen bei dieser meiner ersten Begegnung mit Annabel. Es war mir so völlig selbstverständlich, daß ich mich mit dieser bezaubernden jungen Frau in der gleichen Zeit befand. »Siehst du, Ruth«, wiederholte Annabel eifrig, »diese Kamee hast du gesehen. Und du fandest sie so wunderschön, daß du darüber nachgedacht hast und unbedingt mehr über dieses
kleine Kunstwerk und seine Geschichte erfahren wolltest. Nun bist du hier und weißt also, daß diese in höchstem Maße kunstvolle Reliefschnitzerei ein Bildnis von mir ist, von mir, Lady Annabel Greystone. Mein Vater hat diese Kamee während seiner letzten Reise nach Florenz arbeiten lassen. Nach einer Miniatur von mir, die er auf Reisen immer bei sich trägt. Er hat mir erzählt, daß dieser Kameeschneider in Florenz ein sehr berühmter Künstler sein soll. Er heißt Titus Fabiani. Aber der Name ist eigentlich gar nicht so wichtig für mich. Wichtig für mich ist jetzt nur noch diese Brosche, die mein Vater mir geschenkt hat. Ich muß sie immer und immer wieder anschauen, ich bin entzückt von ihrer Schönheit.« »Sie könnte wohl nicht so schön sein, wenn du selbst nicht so schön wärest, Annabel«, sagte ich bewundernd. Annabel strahlte mich beglückt an. »Als Kind habe ich gelernt, daß Eitelkeit eine Sünde ist«, erklärte sie schelmisch. »Aber dir kann ich es ja verraten, daß ich trotzdem eitel bin. Ich freue mich jeden Tag, wenn ich mich im Spiegel betrachte. Und wenn ich jetzt dieses kleine, in den Stein geschnittene Kunstwerk anschaue und dabei weiß, daß ich es bin, die da so bezaubernd lächelt, ja, dann bin ich richtig glücklich.«
*
In der nächsten Szene, an die ich mich erinnere, saß ich in einer Art Laube im Park. Ein rundes Dach wurde von bewachsenen Säulen getragen, eine alte Steinbank bildete unter diesem Dach, an einen Teil der Säulen gelehnt, einen Halbkreis. Es war ein hübscher, romantischer Platz. Dieser Teil des Parks war besonders schön und gepflegt. Gebüsch von Flieder und Jasmin stand in voller Blüte und verbreitete einen
betäubenden Duft, und dicht neben der Laube gab es einen üppigen Rosenstrauch mit herrlichen, zartgelben vollen Blüten. Ich konnte mich nicht erinnern, solche Rosen jemals gesehen zu haben. Sie erinnerten mich an Blumenbildnisse der großen flämischen Meister und gehörten daher wohl einer alten, inzwischen vielleicht fast ausgestorbenen Gattung an. Auf dem Rasen schlug ein Pfau sein prächtiges Rad, Vögel zwitscherten und jubilierten in der Morgensonne – es war wirklich alles wunderschön. Ich hatte ein aufgeschlagenes Buch auf meinem Schoß liegen, ohne darin zu lesen, und mir fiel auf, daß ich wieder dieses schöne grüne Kleid trug. Die kurze Schleppe lag in Falten auf dem Steinboden und sah recht malerisch aus. Von meinem Platz aus konnte ich Greystone-Palace ins einer ganzen Ausdehnung überblicken, zumindest die hintere, die Parkfront. Mein Blick blieb am Westturm haften. Ich wußte, dort befand sich Lady Annabels Wohnung, diese drei übereinanderliegenden Räume, auf die sie so stolz war. Trotzdem kam mir der Anblick irgendwie fremd vor. Hatte ich dieses Bild nicht ohne Turm in Erinnerung? Hatte es da nicht den Brand gegeben, nach dem der Turm nicht wieder aufgebaut worden war? Mir fiel ein, daß ich mir die Frage schon einmal gestellt hatte, ohne eine befriedigende Antwort darauf gefunden zu haben. Annabel war mir dann begegnet, diese bezaubernde junge Lady. Jetzt trat sie auch gerade auf die Terrasse und kam winkend auf mich zu. Sie sah wieder ganz reizend aus in einem heute himmelblauen Kleid, dessen weiter Rock nur aus Rüschen zu bestehen schien, mit einem flotten, mit Bändern gehaltenen Hütchen auf den blonden Locken und einem koketten Sonnenschirm, mit dem sie ihre weiße Haut vor der Morgensonne schützte. Sie war ein wenig atemlos, als sie zu mir kam und sich neben mich auf die Steinbank setzte.
»Ich habe dich gesucht, Ruth«, meinte sie fast ein wenig vorwurfsvoll. »Ich fürchtete schon, du hättest mich wieder verlassen.« »Ich bin hier, wie du siehst, Annabel«, lächelte ich. »Ja, und das bedeutet eine große Freude und Erleichterung für mich. Ich brauche nämlich unbedingt eine Freundin und eine Vertraute. Ich mag zwar auch meine Zofe Mira recht gern, sie ist mir unbedingt ergeben, aber in diesem Fall möchte ich sie doch nicht ins Vertrauen ziehen. Ich habe nämlich ein Billett bekommen«, fügte sie fast verschämt hinzu. »Ein Briefchen? Etwa einen Liebesbrief?« Annabel lachte ein wenig verlegen, und ihre Wangen überzogen sich dabei mit einem zarten Rot. »Natürlich ist es nicht direkt ein Liebesbrief«, gestand sie. »Aber…« »Aber er stammt von einem Herrn, der dir sehr gefällt«, vollendete ich den Satz, den sie offengelassen hatte. Annabel nickte. »Er gefällt mir sehr«, gab sie zögernd zu. »Aber natürlich ist die Angelegenheit ein bißchen heikel für mich. Niemand weiß von ihm, verstehst du? Er ist mir auch nicht vorgestellt worden. Es ist eigentlich ganz und gar unmöglich, daß ich mich überhaupt auf ein Gespräch mit ihm eingelassen habe. Du kennst unsere Anstandsregeln, Ruth. So etwas tut eine Dame nicht.« »Aber du hast es getan.« Annabel nickte. Man sah es ihr förmlich an, in welchem inneren Zwiespalt sie sich befand. Einerseits widerstrebte es ihr sehr, etwas Unschickliches zu tun, andererseits aber schien sie dieses kleine, bisher ja noch recht harmlose Abenteuer höchst aufregend zu finden. Sich allein mit einem fremden Mann unterhalten zu haben, nun auch noch einen Brief von ihm zu erhalten, das war für eine junge Dame in Annabels Welt nahezu unvorstellbar. Und daß sie sich trotzdem darauf
eingelassen hatte, mußte für Annabel ungeheuer aufregend sein. »Ja, ich habe mit ihm gesprochen«, gestand sie beinahe flüsternd. »Ich habe mich von ihm ansprechen lassen, ich kann es selbst kaum glauben.« »Möchtest du mir davon erzählen, oder möchtest du es lieber für dich behalten?« »Ich muß darüber reden, Ruth. Ich kann das nicht länger für mich behalten. Es ist viel zu aufregend. Ich weiß, es klingt albern, und meine Erziehung verbietet mir, so zu reagieren, aber ich habe das Gefühl, ich würde platzen, wenn ich mit niemandem darüber reden könnte.« »Na, dann rede, Annabel«, lachte ich. »Ich bin hier und will dir gern zuhören.« »Würdest du mir auch helfen, Ruth?« »Helfen, wobei?« »Ihn wiederzusehen, mich mit ihm zu treffen. Weißt du, es war so«, fuhr sie fort, ohne auf eine Antwort von mir zu warten, »es war gestern beim Tennisspiel. Er muß mir heimlich zugesehen haben, während ich mit dem Tennislehrer spielte, und als ich dann für einen Augenblick auf der Bank saß, um mich auszuruhen, hörte ich seine Stimme. Eine wundervolle, überaus männliche Stimme mit einem fremdländischen Klang. Zunächst war ich natürlich zu Tode erschrocken, denn ich sah ja nicht, wer da zu mir sprach. Er sagte mir dann selbst, daß er sich in dem Gebüsch hinter meiner Bank befände, daß er also von meinen Begleitern nicht gesehen werden könne, ich mich also auch nicht kompromittiert zu fühlen brauchte. Und selbstverständlich habe ich von ihm auch sonst keine Unannehmlichkeiten zu befürchten. Natürlich wollte ich ihn dennoch zurückweisen. Ich wollte aufstehen und mich von der Bank entfernen, aber seine Stimme klang so beschwörend, und er sagte mir so
wundervolle Dinge, daß ich einfach nicht fortgehen konnte. Ich mußte ihm zuhören.« »Er machte dir Komplimente?« »Er bewunderte mich, mein Tennisspiel, er sagte, er sei hingerissen von der Art, mich zu bewegen… Es war so schön, Ruth, so überwältigend, und ich bekam so starkes Herzklopfen, daß ich fürchtete, er müsse es hören.« »Und wie ging es weiter?« »Mein Tennislehrer kam, um mich zum Weiterspielen abzuholen. Natürlich bin ich dieser Aufforderung gefolgt.« »Dann hast du den Mann, zu dem diese Stimme gehört, die dich so sehr beeindruckte, überhaupt nicht gesehen?« »Doch, als ich Tennis spielte. Da stand er nämlich neben der Bank, und als ich einmal zu ihm hinschaute, zog er höflich seinen hellen Strohhut, verbeugte sich leicht und lächelte mir zu. Er muß es gewesen sein, da bin ich ganz sicher.« »Nun ja, schon möglich. Und jetzt hat er dir also einen Brief zukommen lassen, Annabel?« »Es ist eigentlich nur eine kurze Nachricht. Er schreibt, daß er mich unbedingt wiedersehen müsse.« »Und darauf willst du eingehen?« »In deiner Begleitung, Ruth. Das ist es, worum ich dich bitte. Und ich flehe dich an, weise mich nicht ab. Begleite mich zum Tennisplatz, spiele mit mir, gib mir den Schutz deiner Begleitung. Ich weiß, ich kann dir blind vertrauen.« »Und wann soll diese Begegnung sein?« »Jetzt, heute noch. Er wartet bereits auf mich.« »Aber, wie du siehst, Annabel, bin ich nicht im Tenniskostüm.« »Wir werden uns rasch umkleiden, Ruth. Komm mit mir. Ich habe genug Tenniskleidung. Etwas davon wird dir sicher auch gefallen.«
*
In ihrem Boudoir riß Annabel einen der Schränke auf und deutete auf eine ganze Reihe langer weißer Kleider, die dort hingen. »Neuerdings trägt man ja nur noch Weiß beim Tennis«, sagte die junge Lady. »Da hat man nicht viele modische Möglichkeiten. Außerdem müssen die Tenniskleider hochgeschlossen und mit langen Ärmeln versehen sein. Na ja, wenigstens die Füße kann man unter den knöchellangen Röcken zeigen. Ich habe ganz entzückende weiße Knopfstiefeletten. Du mußt halt probieren, ob dir auch welche passen, Ruth. Bei den Kleidern habe ich keine Sorge, eines wird dir ganz sicher passen. Und außerdem habe ich mir ein Dutzend ganz süße Kapotthütchen arbeiten lassen. Suche dir einen davon aus. Wir werden wie Schwestern aussehen. Hilfst du mir beim Korsett? Ich möchte es sehr eng geschnürt haben unter dem weißen Kleid. Wenn du willst, helfe ich dir auch. Meine Zofe Mira hilft heute der Mamsell in der Küche, darum ist sie nicht hier. Aber das ist auch ganz gut. Sie würde sich wohl sehr wundern über ihre Herrin.« Annabel war schrecklich aufgeregt beim Umkleiden. Es konnte ihr offensichtlich nicht schnell genug gehen. Aber schließlich, als wir beide fertig waren, stand; sie doch eine ganze Weile vor dem Spiegel, bis das kleine, schräg nach vorn gesetzte, mit Schleifen und Blumen verzierte Hütchen richtig auf den hochgetürmten blonden Locken saß und das Kinnband gefällig genug gebunden war. Sie drehte sich dann noch einmal kokett vor dem Spiegel. »Sehe ich gut aus?« fragte sie. »Du siehst hinreißend aus, Annabel«, antwortete ich und meinte es absolut ehrlich.
Am Tennisplatz, der nahe am Fluß angelegt war, aber noch zum Park von Greystone Place gehörte, wurde Lady Annabel bereits erwartet. Sie erkannte ihren Verehrer schon, während wir uns näherten. »Sieht dieser Mann nicht toll aus?« flüsterte sie schwärmerisch. »Ich glaube, ich bin unsterblich in ihn verliebt.« »Vorsichtig, Annabel«, warnte ich. »Du weißt ja noch gar nichts von ihm. Kennst du überhaupt seinen Namen?« »Er heißt Umberto Urban«, flüsterte Annabel rasch zurück, denn wir befanden uns bereits in Hörweite. »So hat er das Billett unterschrieben, und dieser Name stand auch gedruckt auf dem teuren Büttenpapier.« Der Mann, der uns jetzt entgegenkam, sah wirklich über die Maßen gut aus. Er war wohl nicht mehr ganz jung, aber er war schlank und schien auch sportlich zu sein. Oder ob er die Tenniskleidung nur diesem Treffpunkt angepaßt hatte? Jedenfalls sah er gut aus in der langen weißen Hose, in dem weißen Hemd mit dem hohen Umlegekragen, wozu auch die weiße Krawatte und der Panama-Hut gehörten. Diesen Hut zog er jetzt höflich, er hatte pechschwarzes, lockiges Haar, und unter dem schwarzen Schnurrbart blitzten schneeweiße Zähne. Die Augen, mit denen er Annabel anstrahlte, schienen ebenfalls schwarz zu sein. »Wie ich mich freue, Sie zu sehen, gnädiges Fräulein«, sagte er und küßte Annabels Hand. Eine Spur zu feurig, fand ich, doch Annabel war hingerissen. »Sie hätten mich nicht um dieses Treffen bitten dürfen, Mr. Urban«, erwiderte sie errötend. »Eine Dame verliert leicht ihren guten Ruf.« »Bitte, Gnädigste, vergeben Sie einem armen Menschen, der vor Sehnsucht nach Ihrem Anblick, nach Ihnen, beinahe verschmachtet wäre. Natürlich ist mir bewußt, daß ich viel von Ihnen erwartet habe, aber ich konnte der Versuchung einfach
nicht widerstehen. Nun machen Sie mich zum glücklichsten Menschen unter der Sonne, weil Sie meiner flehentlichen Bitte gefolgt sind.« »Übertreiben Sie nicht ein bißchen, Mr. Urban?« »Nein, nein, keineswegs, im Gegenteil! Niemals könnte ich in Worte fassen, was ich für Sie empfinde. Darf ich Sie ein Stück begleiten? Am Fluß, gar nicht weit von hier, habe ich eine Bank entdeckt, wo wir um diese Zeit sicher ungestört miteinander reden können. Und selbst wenn wir dort gesehen werden sollten, wer könnte es Ihnen wohl verübeln, wenn Sie sich am hellichten Tag mit jemandem unterhalten, der wie Sie selbst den Tennissport liebt.« »Sie haben wohl an alles gedacht, Mr. Urban.« »Aber natürlich! Ich möchte Ihnen doch ungestört sagen können; wie sehr ich Sie verehre, und andererseits möchte ich natürlich alle Unannehmlichkeiten, die eventuell auftauchen könnten, von Ihnen fernhalten. Kommen Sie, gehen wir zu dieser Bank. Es ist ein netter kleiner Spaziergang.« Die beiden unterhielten sich, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden. Annabel schien mich völlig vergessen zu haben, und als ich mich bemerkbar machen wollte, als ich gar diesem Mr. Urban in den Weg trat, schien er mich gar nicht zu bemerken. Zunächst sah ich darin eine grobe Unhöflichkeit, aber dann, als ich ganz dicht neben ihm stand, wurde mir klar, daß er mich tatsächlich nicht bemerkte. Nicht etwa, weil er nur Augen für Lady Annabel hatte, sondern ich war für ihn überhaupt nicht da! Ich war für ihn nicht anwesend… er konnte mich gar nicht sehen! Und da Lady Annabel mich im Augenblick wohl völlig vergessen hatte, war ich für sie auch nicht mehr zugegen. Die beiden gingen angeregt plaudernd weiter. Ich setzte mich auf die Bank, auf der Umberto Urban Lady Annabel erwartet
hatte, und begann nun erstmals ernstlich über mein gegenwärtiges Dasein nachzudenken. Ich befand mich hier in einer Zeit, das war mir immerhin klar, in die ich eigentlich nicht hineingehörte. Dabei wußte ich augenblicklich aber nicht mehr viel über mein wirkliches Leben, das in einem anderen Jahrhundert stattfand, dafür tauchten nur ab und zu vage Erinnerungsfetzen auf. Aber konnte so etwas überhaupt möglich sein? Konnte man in eine längst vergangene Zeit eintauchen und dort mit den Menschen dieser anderen Zeit leben? Nein, das hielt ich natürlich für völlig ausgeschlossen. Und den Beweis hatte mir ja eben dieser Mr. Urban erbracht, der meine Anwesenheit überhaupt nicht bemerkt hatte. Aber Lady Annabel, mit ihr hatte ich doch gesprochen! Sie hatte mich sogar um Hilfe gebeten. Und hatte ich nicht im Spiegel selbst gesehen, daß ich in der gleichen Mode gekleidet war wie Annabel? Daß ich äußerlich also durchaus in diese Zeit paßte? Das konnte ich doch nicht alles geträumt haben! Oder etwa doch? War all das, was ich jetzt und hier erlebte, vielleicht nur ein Traum? Träumte ich dieses alles nur, und stellte ich diese Überlegungen jetzt auch nur im Traum an? Wenn es so war, wenn ich also wirklich träumte, dann handelte es sich aber um einen äußerst wirklichkeitsnahen Traum. Da waren ja nicht nur die Bilder, die vor mir abliefen – ich war selbst eine handelnde Traumfigur, und als solche fühlte ich mich außerordentlich lebendig. Und im übrigen, fand ich, war es ein überaus interessanter Traum, in dem ich meine eigene Rolle spielte, und ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn dieser Traum noch eine Weile gedauert hätte.
Es interessierte mich jetzt nämlich zu erfahren, ob aus der jungen Lady Annabel, die mir recht sympathisch war, und aus diesem gutaussehenden Umberto Urban, von dem ich noch gar nicht viel wußte, ein richtiges Liebespaar werden würde.
*
Ich saß immer noch auf dieser Bank, als Annabel zurückkam. Ich hatte genau sehen können, wie der Mann sich mit einem galanten Handkuß von Annabel verabschiedet hatte und sich in der entgegengesetzten Richtung entfernte. Annabel aber kam strahlend und mit geröteten Wangen auf mich zu. Doch als sie mich erreicht hatte, machte sie einen entzückenden Schmollmund. »Habe ich dich nicht als meine Beschützerin mitgenommen?« fragte sie mich vorwurfsvoll. »Hättest du nicht in meiner Nähe bleiben und auf mich aufpassen sollen?« »Es sah mir nicht so aus, als ob du noch Wert darauf legtest, nachdem wir diesen Herrn getroffen hatten«, antwortete ich lächelnd. »Du schienst mich vielmehr völlig vergessen zu haben.« »Ach ja, das stimmt«, nickte Annabel schuldbewußt und setzte sich neben mich auf die Bank. »Und in Wahrheit brauchte ich deinen Schutz ja auch gar nicht. Umberto hat sich völlig korrekt benommen.« »Umberto?« »Ja, so heißt er. Habe ich es dir nicht schon gesagt? Ich liebe diesen Namen. Und ich glaube – nein, ich bin sogar überzeugt davon, daß ich auch diesen Mann liebe. Gibt es das? Kann man sich so schnell in einen bis dahin völlig fremden Menschen
verlieben? Kann man dann schon so genau wissen – kann ich so genau wissen, daß dieser Mann mein Schicksal ist?« »Ich glaube es nicht, Annabel. Ich glaube, dazu müßte man sich erst besser kennenlernen.« »Ja, das habe ich auch gedacht, Ruth, aber jetzt weiß ich es besser. Dieser Mann ist mein Schicksal. Und ich bin seines. Das hat auch er gefühlt, das hat er mir gesagt. Und seine schwarzen Augen haben mich dabei angesehen, als wollten sie mich förmlich verbrennen.« »Ach, Annabel, ich wünschte, ich könnte dich vor diesem Mann beschützen.« »Beschützen? Du willst mich vor Umberto beschützen? Vor dem Mann, den ich liebe, der mein Schicksal ist? Nein, Ruth, das kannst du nicht. Du kannst nicht in das Schicksal eingreifen. Du kannst mich ja nicht einmal davon abhalten, Umberto heute abend wiederzutreffen.« »Du hast dich wieder mit ihm verabredet?« »Ja, Ruth, ja!« strahlte Annabel. »Ich weiß natürlich, daß so etwas in höchstem Maße unschicklich ist, daß ich das auf gar keinen Fall tun dürfte. Aber Umberto hat mich so sehr gebeten, er hat mir so wundervolle Dinge gesagt, seine Augen haben mich so tief in ihren Bann gezogen – ich konnte einfach nicht anders, als ihm mein Kommen zu versprechen. Es tut mir auch nicht leid, Ruth, es tut mir kein bißchen leid. Ich weiß nicht, wie ich die Stunden bis zum Abend verbringen soll. Ich kann es kaum erwarten, wieder in die Nähe dieses Mannes zu kommen.« »Ach, Annabel«, sagte ich leise, »ich möchte so gerne froh mit dir sein.« »Bist du es denn nicht?« »Nein. Nein, ich bin es nicht. Ich habe Angst um dich, Annabel. Ich habe gar kein gutes Gefühl.«
Doch Annabel lachte fröhlich. »Du redest, wie früher meine alte Gouvernante gesprochen haben würde. Dabei bist du noch gar nicht so alt. Sag’, warst du eigentlich schon einmal so verliebt? So verliebt, wie ich es heute bin?« Ich mußte nachdenken. Kann man das überhaupt während eines Traumes, nachdenken? Ich war schließlich im Augenblick nur eine Träumende, sagte ich mir wieder. Welche Vergangenheit hat man denn als eine Figur im Traum? Ganz kurz sah ich mich wieder in diesem anderen Leben. Statt des knöchellangen weißen Tenniskleides mit eng geschnürtem Korsett darunter trug ich nun bequeme Jeans und eine Lederjacke, und mein Haar war braun und kurz geschnitten, das weiße Kapotthütchen mit Bändern und Schleifen würde dazu wohl äußerst witzig aussehen. Aber dieses flüchtige Bild zog schnell vorüber, Annabel saß wieder neben mir auf der Bank, und sie drängte mich: »Du hast meine Frage nicht beantwortet, Ruth. Du hast mir nicht verraten, ob du schon einmal so verliebt warst.« »Ich weiß es nicht«, sagte ich versonnen, »ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht bin ich sogar jetzt verliebt?« Ich sah Bücher vor mir, viele Bücher, und einen Mann mit einem rotblonden Dreitagebart. »Nein«, sagte ich, als das Bild sofort wieder verschwand, »nein, so wie du war ich sicher noch nicht verliebt, Annabel.« »Es ist ein wunderschönes Gefühl, Ruth. Aber es macht mir auch angst. Ich weiß nicht warum, aber es macht mir wirklich angst.« »Dann solltest du dieser Liebe doch besser aus dem Weg gehen, Annabel«, warnte ich noch einmal. »Du solltest glücklich werden, nur glücklich.« »Umberto ist das Glück für mich. Nach ihm kann es keine andere Liebe, kein anderes Glück mehr für mich geben. Und Umberto hat gesagt, er habe es gleich gewußt, daß man einer
solchen Liebe nicht ausweichen könne, daß ich sein Schicksal sei.« »Das hat er gewußt, als er dich beim Tennisspiel sah?« »Nein, Ruth, denk dir nur, die Geschichte ist noch viel romantischer. Umberto hat mein Bildnis gesehen. Ja, diese Kamee, die du ja auch so schön findest. Sie ist in Florenz beigestellt worden, das habe ich dir ja erzählt, und dort war sie auch für einige Tage ausgestellt. Mein Vater hatte seine Zustimmung dazu gegeben. Ist das nicht eine wundervolle Fügung des Schicksals, Ruth? In diesen wenigen Tagen hat Umberto die Kamee gesehen. Er hat sich gleich unsterblich in mein Bildnis verliebt, das hat er mir selbst gesagt, und beschlossen, nach mir zu suchen. Und er hat mich gefunden. Und er hat mich heute gebeten, die Kamee mitzubringen, wenn wir uns am Abend wieder treffen. Er habe jetzt zwar das lebende Vorbild dieser zarten Schönheit kennengelernt, sagte er, nun wolle er auch mit dem Kunstwerk vergleichen. Findest du das nicht rührend, Ruth?« »Ich weiß nicht, Annabel, ich weiß nicht. Ich habe wirklich kein gutes Gefühl.« »Ach, das ist nur, weil du eben nicht verliebt bist, Ruth. Wenn du auch einmal so richtig verliebt sein wirst, wirst du ganz anders denken. Ich wünsche dir, daß du einmal genau so glücklich wirst, wie ich es jetzt bin, Ruth.« »Das ist lieb von dir, Annabel. Und ich wünsche dir, daß du so glücklich bleibst. Daß du niemals enttäuscht werden wirst.«
*
Am Abend fand auch ich mich am Fluß ein, wo Lady Annabel sich mit diesem geheimnisvollen Mr. Urban verabredet hatte,
was mir gar nicht so ganz geheuer war. Annabel hatte mich diesmal nicht um meine Begleitung gebeten, aber ich war trotzdem da. Glaubte ich, Annabel vor ihm beschützen zu müssen? War es vielleicht auch nur Neugier? Im Traum unterscheidet man das wohl nicht so genau, sagte ich mir, denn selbstverständlich glaubte ich auch jetzt wieder, mich in einem Traum zu befinden. Die Szenerie war höchst romantisch. Silbernes Mondlicht spiegelte sich im Wasser des Flusses, leichte Nebelschwaden lagen wie ein zarter Schleier über dem Land. Ich saß bereits auf der Bank, als Annabel sich näherte, und auf der anderen Seite tauchte aus dem Nebel der Mann auf, der sich Umberto Urban nannte. Da ich von den beiden nicht bemerkt werden wollte, gedachte ich mich zurückzuziehen. Aber das ging nicht. Ich konnte mich auf einmal nicht mehr bewegen. Mein Körper tat nicht das, was ich wollte. Ich geriet darüber allerdings nicht in Panik, sondern ich sagte mir einfach, daß im Traum wohl eben andere Gesetze gelten würden. Außerdem stellte ich fest, daß die beiden Menschen, die sich jetzt gerade trafen, mich überhaupt nicht bemerkten, obwohl sie nur wenige Schritte von mir entfernt waren. Bei dem Mann hatte ich das Phänomen ja schon einmal erlebt. Doch jetzt schien auch Lady Annabel mich nicht sehen zu können. Oder war sie so verliebt, daß sie tatsächlich nur Augen für diesen Mann hatte? Obwohl ich also eigentlich etwas diskreter sein wollte, war ich nun gezwungen, die Begrüßung der beiden hautnah mitzuerleben. Daß Lady Annabel sehr verliebt war, war nicht zu übersehen. Bei dem Mann war ich mir zunächst nicht so sicher. Zwar begrüßte er Annabel äußerst liebenswürdig, er fand es großartig und äußerst mutig, daß sie seiner Bitte um dieses Stelldichein Folge geleistet habe, aber wichtiger als Annabel schien ihm die Kamee zu sein.
Jedenfalls glaubte ich das aus seiner etwas drängenden Frage nach dem Schmuck entnehmen zu können, und ich erschrak zutiefst. Zwar wurden mir auch jetzt die wahren Zusammenhänge nicht ganz klar, aber es beschlich mich eine gewisse Ahnung, die mich frösteln ließ. »Ja, natürlich habe ich die Kamee mitgebracht«, sagte Annabel gerade. »Ich habe Ihre Bitte nicht vergessen. Obschon ich nicht ganz begreife, was Sie da jetzt am Abend sehen wollen. Es ist doch dunkel. Und das Bildnis von mir ist sehr klein.« »Das Mondlicht und der vom Wasser aufsteigende Glanz werden genügen«, sagte der Mann. »Bitte, lassen Sie mich die Brosche sehen. Ich werde es Ihnen beweisen.« Annabel nestelte aus ihrem mitgeführten Täschchen das Schmuckstück hervor und reichte es dem Mann. Das lederbezogene Kästchen hatte sie nicht mitgebracht, es war ihr wohl zu groß für die kleine Tasche gewesen. Der Mann nahm die Brosche. So, wie er danach griff, glaubte ich sogar so etwas wie Gier zu erkennen. Seine Hand schien ja richtig zu zittern. Dann hielt er die Kamee aber so, daß das Mondlicht voll darauf fiel. »Ja, das ist sie«, sagte er tief aufatmend. »Das ist die Kamee, nach der ich gesucht habe.« »Ich dachte, Sie hätten nach mir gesucht?« meinte Annabel mit einem kleinen Vorwurfsvollen Ton in der Stimme. »Und nun war es in Wirklichkeit nur die Kamee?« Sie meinte diesen Vorwurf nicht ernst, das war klar zu erkennen, sie wollte wohl nur wieder neue Komplimente hören, wie sie ihr bisher so gut gefallen hatten. Ich sah, wie der Mann lächelte. »Sie haben recht, Annabel, ich habe natürlich nach Ihnen gesucht. Nach der Frau mit diesem wundervollen zarten Profil. Und, schauen Sie nur, wie
groß die Ähnlichkeit tatsächlich ist. Sehen Sie, mit welcher Kunstfertigkeit Ihre Schönheit in diesen Stein geschnitten wurde! Das ist wirklich einmalig. Glauben Sie mir, ich kann das beurteilen wie kein anderer. Ich kann die Schönheit einer Frau beurteilen, und fast noch besser erkenne ich, ob eine Kamee ein Kunstwerk ist oder nicht. Diese hier ist ein Kunstwerk, ein einmaliges Kunstwerk, und ich bin wirklich glücklich, dieses Kunstwerk, diese einmalige Kamee wieder in Händen halten zu dürfen. Dafür danke ich Ihnen, Annabel. Sie haben mich damit äußerst glücklich gemacht.« »Das klingt ja wirklich so, als ginge es Ihnen tatsächlich nur um diesen Schmuck«, sagte Annabel enttäuscht. Der Mann schien zu zögern. Er schaute die junge Lady mit einem seltsamen Blick an, einem Blick, der mich frösteln ließ, und wenn ich gekonnt hätte, wäre ich aufgesprungen und hätte mich schützend vor Annabel gestellt. Aber ich konnte mich immer noch nicht rühren. Doch jetzt lächelte Umberto Urban wieder. »Es ging mir um diese Kamee und um diese wunderschöne Frau«, erklärte er und legte Annabel einen Arm um die Schultern. »Ich habe mich danach gesehnt, diese Frau in den Armen halten zu dürfen, so wie jetzt. Und ich wollte ihr sagen, wie stolz ich bin, diese Schönheit festgehalten und unvergänglich gemacht zu haben. In dieser Kamee wirst du nämlich weiterleben, Annabel. Man wird deine Schönheit noch bewundern, auch wenn es dich längst nicht mehr gibt.« Er zog die junge Frau an sich, die sich überhaupt nicht dagegen sträubte, denn es hatte ihr wohl gefallen, was der Mann gesagt hatte. Ich aber überlegte, was er wohl damit gemeint haben mochte, als er sagte, er sei stolz darauf, diese Schönheit festgehalten und unvergänglich gemacht zu haben. Annabel schien dieser sonderbare Satz überhaupt nicht
aufgefallen zu sein, sie freute sich nur über die Schmeicheleien, die ihrer Schönheit galten. Und nun beobachtete ich entsetzt, wie Umberto Urban einen Dolch aus dem Ärmel zog, wie er weit mit seinem Arm ausholte, die blanke Klinge blitzte im Mondlicht, und ich erkannte, daß er Annabel offensichtlich erdolchen wollte, während er die schmale Gestalt im linken Arm hielt, während er ihren Mund besitzergreifend küßte und während Annabel sich ganz diesem für sie so glücklichen Augenblick hingab. Ich wollte aufspringen, dem Mörder in den Arm fallen, dieses offensichtlich geplante Verbrechen verhindern, aber ich war immer noch völlig machtlos. Ich saß fest auf dieser Bank und war zum Zuschauen verdammt. Nicht einmal rufen und warnen konnte ich. Ich schien also dazu verurteilt zu sein, einen Mord mitansehen zu müssen. Den Mord an einer bezaubernden jungen Frau, die ich gern hatte und die ich doch nicht vor ihrem entsetzlichen Schicksal bewahren konnte! Dann aber geschah etwas, das ich nicht erwartet hatte, das mich verblüffte und gleichzeitig mit großer Erleichterung erfüllte. Der Mann stieß nämlich nicht zu mit dem Dolch, er ließ den Arm mit der gefährlichen Waffe vielmehr sinken, seine Hand öffnete sich, der Dolch fiel zu Boden, und Umberto Urban, der mit Sicherheit einen Mord geplant hatte, umschloß Lady Annabel nun mit beiden Armen, preßte sie an sich und küßte sie nun mit großer Leidenschaft. »Und wenn es mich das Leben kostet«, murmelte er nach einer ganzen Weile, »ich kann es einfach nicht tun. Ich habe mich bis zum Wahnsinn in dich verliebt.« Und nach einem weiteren, sehr langen Kuß fragte Annabel ebenso atemlos wie glücklich: »Warum sollte es dich das Leben kosten, Liebster? Ich finde es wunderbar, daß wir uns
lieben, denn ich… ich liebe dich auch. Wenn ich auch noch nicht viel von dir weiß, meiner Liebe zu dir bin ich ganz sicher. Und darum brauchen wir uns auch keine Sorgen zu machen. Mein Vater wird uns die Heirat mit Sicherheit nicht verwehren, wenn ich ihn darum bitte. Mein Vater liebt mich nämlich sehr. Er erfüllt alle meine Wünsche.« »So, glaubst du?« fragte der Mann lächelnd. »Hoffentlich irrst du dich nicht, mein Herz. Aber wir wollen heute noch nicht an die Zukunft denken. Freuen wir uns dieses glücklichen Augenblicks, genießen wir ihn. Komm, machen wir noch einen kleinen Spaziergang am Fluß. Benehmen wir uns ganz so wie Verliebte.« »Aber das sind wir doch«, lachte Annabel beschwingt und glücklich. Eng umschlungen verschwanden die beiden im Nebel am Fluß.
*
Ich blieb zurück auf dieser Bank, meine Rolle als Beobachterin war eigentlich ausgespielt. Aber das, was ich für einen Traum hielt, war immer noch nicht zu Ende. Da blitzte nämlich etwas im kiesigen Ufersand, und als ich genauer hinsah, erkannte ich, daß es der Dolch war, den Umberto Urban fortgeworfen hatte. Nicht nur mein Blick – ich selbst wurde magisch von dieser Waffe angezogen. Jetzt konnte ich mich auch von der Bank erheben. Ich ging die wenigen Schritte zum Ufer hin, die Schleppe meines grünen Kleides glitt leise, raschelnd über den nebelfeuchten Boden. Ich bückte mich nach dem Dolch und wollte ihn aufheben, aber er schien so schwer, daß ich mit beiden Händen
zugreifen und mich sehr anstrengen mußte, um ihn vom Boden zu lösen und aufzuheben. Verblüfft und verwirrt betrachtete ich den blitzenden Stahl. Blut schien von ihm zu Boden zu tropfen, obwohl ich doch genau wußte, daß der Mann nicht zugestoßen hatte, daß Lady Annabel unverletzt und glücklich war. Ich selbst war ja Augenzeuge dieses Glücks gewesen. Woher dann also das Blut an diesem Dolch? Nachdenklich ging ich wieder zur Bank zurück, und schon während ich mich setzte, schien der Dolch in meiner Hand, schien die Klinge riesengroß zu werden. Sie war wie ein Spiegel, größer als ein Fernsehschirm in unserer Zeit, und dann wurde ein Fenster daraus. Oder gar eine Tür? Eine Tür, die in eine andere Welt führte? Natürlich schaute ich hindurch. Ob aus Neugier und aus freien Stücken oder ob ich den Blick einfach nicht abwenden konnte, das wurde mir gar nicht bewußt. Ich hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Denn ich fühlte mich jetzt in ein anderes Geschehen versetzt. Nur als Zuschauerin allerdings, denn mich selbst sah ich diesmal nicht. Jedenfalls schien ich irgendwo im Süden zu sein, in Italien vielleicht. Ich sah eine schöne, sonnenüberstrahlte Landschaft, ich sah schirmartige Pinien und hohe, schlanke Zypressen, und da war ein etwas erhöhter Aussichtsplatz mit einer klassischen Bank aus weißem Marmor. Das Gebüsch hinter dieser Bank war über und über mir großen, leuchtendroten Blüten besetzt, und bei genauerem Hinsehen erkannte ich, daß es Hibiskussträucher waren. So groß und so üppig blühend, wie man diese Pflanzen in unseren Breiten kaum kennt. Eine junge Frau saß auf der Bank in einem duftigen weißen Kleid und mit einem breitrandigen Sonnenhut. Genoß sie nur die schöne Aussicht, oder erwartete sie jemanden? Das war für
mich als einer unsichtbaren Zuschauerin leider nicht zu erkennen. Aber ich sah, wie eine Bewegung in das Hibiskusgebüsch hinter ihr kam. Ein. Mann, im Gegenlicht war sein Gesicht nicht zu erkennen, tauchte aus dem Gebüsch auf, in dem er sich wohl verborgen hatte, ein Arm hob sich, ein Dolch blitzte in der Sonne und fuhr der ahnungslosen jungen Frau in den Rücken. Ich sah, wie sie aufschrie, konnte es aber nicht hören, denn die Szene lief wie ein Stummfilm vor mir ab. Ich sah, wie der Mörder der in sich zusammensinkenden jungen Frau eine goldene Kette vom Hals riß, wie er kurz den ovalen Anhänger betrachtete, ihn dann wie triumphierend mit der Faust umklammerte, und wie er dann wie ein Schemen hinter dem Gebüsch verschwand. Die junge Frau sank zu Boden. Ich wollte hinzueilen, wollte schreien – aber da verschwand das Bild. Mir aber blieb keine Zeit zum Aufatmen. Eine andere Szene tauchte in diesem merkwürdigen Fenster auf, und diesmal erkannte ich mich selbst darin. Ich befand mich in einer Stadt, auf einer prachtvollen Straße. Ich trug ein pelzverbrämtes braunes Kostüm, die pelzbesetzte Schleppe des langen, engen Rockes schleifte über den Boden, dazu trug ich eine kleine Kappe und einen bauschigen Muff. Pferdedroschken belebten die Straße, und auf dem Bürgersteig bewegten sich ähnlich wie ich gekleidete Damen und Herren in eleganten Paletots, engen Beinkleidern und hohen Zylindern. Ich befand mich gerade vor einem Juweliergeschäft, als ein junger, ebenfalls sehr eleganter Herr aus der Tür trat. An seiner behandschuhten Hand baumelte ein Päckchen, der junge Mann schien überaus glücklich und froh zu sein. Ich aber sah, wie von der Hauswand, an der er anscheinend gewartet hatte, ein ebenfalls nach der geltenden Mode gekleideter Herr mit besonders hohem Zylinder sich dem jungen Mann von hinten näherte, wie er einen Dolch, den er bereits in der Hand
gehalten hatte, zückte, mit aller Kraft zustieß und dem zusammenbrechenden jungen Mann gleichzeitig das Päckchen entriß. In dem sofort entstehenden Durcheinander tauchte er blitzschnell unter. Nur ich konnte sehen, wie er gleich darauf auf der anderen Straßenseite gleichmütig an den Schaufenstern vorbeiflanierte. Natürlich wollte ich auch diesmal rufen und auf ihn aufmerksam machen, aber ich brachte keinen Ton hervor – und das Bild änderte sich wieder. Es begann jetzt schneller zu laufen, so als hätte jemand an einer altmodischen Filmkurbel gedreht. Da war ein Kostümball. Prächtig herausgeputzte Menschen tanzten mit eckigen, hastigen Bewegungen – wie gesagt, der Film lief ja zu schnell vor mir ab. Ich erkannte trotzdem einen Harlekin, der eine Schöne umgarnte. Ich sah eine Hand im schwarzen Handschuh, der ihr den Halsschmuck abriß, eine von einer dreiteiligen, den Hals umschmiegenden Halskette gehaltene Kamee, ich sah die Schöne zu Boden sinken und den Harlekin verschwinden. Das alles war entsetzlich für mich. Ich glaubte nicht mehr atmen zu können. Mein Herz pochte wie verrückt, aber ich konnte mich nicht befreien. Ich schien zum tatenlosen, stummen Zuschauen verdammt. Es war offensichtlich eine Zofe, die ich jetzt sah. In einem Bügelzimmer war sie mit dem Ordnen der Kleidung ihrer Herrin beschäftigt, auch mit diesen fast komisch wirkenden schnellen Bewegungen, denn dieser Film, oder was immer es war, lief immer schneller vor mir ab. Die Zofe löste gerade eine Kameenbrosche von einem gestreiften Mieder, als ein hochgewachsener Mann in der Kleidung eines Lakaien ihr die Brosche entriß – und auch die Zofe wurde mit dem Dolch niedergestochen.
Danach sah ich einen gewaltigen, mit Bänden und Federn und Borten verzierten Hut, er wurde von einer auffallenden, mit einer Kamee verzierten Agraffe auf kunstvoll frisierten schwarzen Locken gehalten. Eine Hand streckte sich nach der Agraffe aus, ein Dolch blitzte… und jetzt schien der Bann auf einmal von mir gelöst, ich konnte schreien, und ich hörte meine Stimme gellen: »Genug, ich halte das nicht mehr aus!« Da befand ich mich wieder am abendlichen Fluß. Ich saß auf der Bank, hielt den Dolch in der Hand, und nicht weit von mir, vom aufsteigenden Nebel umwallt, sah ich Annabel und den Mann, der sich Umberto Urban nannte. Ich sah, wie die beiden sich innig küßten… aber mir war so, als schaute der Mann über Annabels Schulter hinweg zu mir hin. Da warf ich den Dolch zu Boden, als sei er glühendes Eisen, und lief davon, so schnell ich es in meiner unbequemen Kleidung konnte.
*
Ich lief und lief, fühlte mich verfolgt, hörte ein keuchendes Atmen hinter mir, das immer näher kam. Ich wollte mein Tempo beschleunigen, wollte schreien, aber beides war mir nicht möglich. »Das ist ja nur ein schrecklicher Alptraum«, glaubte ich zu wissen und mich damit beruhigen zu können, »ich muß bloß daraus erwachen, dann ist alles vorbei.« Ich wollte wach werden, wollte diesem entsetzlichen Alptraum entfliehen, aber ich konnte auch das nicht. Ich verspürte Todesangst. Kann man eine solche Todesangst in einem Traum erleben?
Ich spürte, wie ich von hinten gepackt und brutal herumgerissen wurde. Entsetzt schaute ich in das Gesicht des Mannes, in den Annabel sich so sehr verliebt hatte. Aber er sah jetzt überhaupt nicht mehr liebenswert aus, dieser Umberto Urban! Sein Gesicht war zu einer furchterregenden Fratze verzerrt, und der Griff, mit dem er meinen Arm umklammerte, tat höllisch weh. Trotz meiner Todesangst konnte ich mich noch darüber wundern, daß er mich diesmal bemerkt hatte, daß er mich sogar anscheinend für eine Bedrohung hielt, während ich bisher doch für ihn überhaupt nicht vorhanden gewesen war. Seine Stimme war keuchend und böse. »Verraten willst du mich?« keuchte er. »Kommst aus einer anderen Welt und liest in meiner Vergangenheit wie in einem aufgeschlagenen Buch? Wer gibt dir die Macht dazu? Willst du den Beschützer spielen für Annabel? Keine Sorge, ihr geschieht nichts. Ich liebe sie nämlich, verstehst du? Zum erstenmal in meinem Leben habe ich mich wirklich verliebt. Und da lasse ich mich von dir nicht stören, egal wer du bist, woher du kommst und welche Macht du hast. Mein Schicksal gehört mir! Ich will es auskosten bis zur letzten Minute. Hindernisse auf meinem Weg werden schonungslos beseitigt. So habe ich es immer gemacht, und so werde ich es auch jetzt halten.« Endlich sah ich, daß er einen großen Stein in der Hand hielt. Den Dolch, den ich am Fluß fortgeworfen hatte, schien er in der Eile nicht gefunden zu haben. Vielleicht hatte er auch nicht danach gesucht. Dieser Stein in seiner Faust war für ihn Waffe genug. Ich sah, wie er weit damit ausholte, während er mich mit dem anderen Ann wie in einem Schraubstock gefangenhielt. Er holte so weit aus, wie er konnte, schlug zu – ich sah den mächtigen Stein wie in Zeitlupe auf meinen Kopf niedersausen, ich hörte den gewaltigen Schrei des Mannes, wie wenn ein Kugelstoßer im Wettkampf die Kugel zum Flug
losläßt, ich wollte meinen Kopf in allerletzter Sekunde abwenden, wurde aber trotzdem voll an der Stirn getroffen. Ich spürte einen fürchterlichen Schmerz, und danach war alles vorbei. Ich sah nichts mehr, ich spürte nichts mehr, ich fühlte nichts mehr’……’ ich war bewußtlos.
*
Ich hörte eine Stimme. Eine sehr besorgte, aber auch sehr angenehme Stimme. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber es war schön, allein dem Klang zu lauschen. So schön, daß ich darüber wieder einschlafen wollte. Und ich wollte diese Stimme festhalten, wollte sie mitnehmen in meinen Schlaf. Aber die Stimme ließ mich nicht einfach wieder einschlafen. »Hallo, Miss Morris, bleiben Sie bitte wach!« rief sie. »Versuchen Sie, die Augen zu öffnen. Können Sie mich erkennen?« Da entschloß ich mich, die Augen wirklich zu öffnen. Widerwillig zwar, aber es mußte wohl sein. Mühsam hob ich also die Augenlider, blinzelte vorsichtig. Fürchtete ich, wieder in dieses wutverzerrte Männergesicht blicken zu müssen, in das Gesicht des Mannes, der mich niedergeschlagen hatte? Aber dazu paßte ja diese Stimme nicht, diese schöne, wohltuende Stimme, die sich bemühte, mich aufzuwecken. Jetzt öffnete ich also wirklich die Augen und blickte in das besorgte Gesicht eines Mannes. Nein, das war keine wutverzerrte Fratze. Dieses Gesicht war nett und sympathisch. Und diesen kurz geschorenen rotblonden Bart… hatte ich den nicht schon einmal gesehen?
»Erkennen Sie mich, Miss Morris?« wurde ich besorgt gefragt. »Ich bin Brian Greystone. Erinnern Sie sich? Sie haben mich in der Bibliothek aufgesucht.« Ach ja, ich erinnerte mich. Ich war in einer Bibliothek gewesen, ich hatte nach etwas gesucht, und dieser junge Mann hatte mir dabei helfen wollen. Was hatte ich gesucht? Das war sicher nicht wichtig gewesen. Ich mochte nicht nachdenken jetzt, der Kopf tat so höllisch weh. Wieso tat der Kopf weh und wo war ich hier überhaupt? Ich versuchte mich aufzurichten, aber das ging nicht. »Bleiben Sie ruhig liegen«, sagte Brian Greystone. »Gleich wird Hilfe kommen. Sie ist bereits alarmiert.« »Wo bin ich denn? Was ist passiert?« fragte ich nun doch. »Sie sind im Park von Greystone Palace, Miss Morris. Sie müssen wohl gestürzt sein, denn jetzt ist es noch sehr früh, und ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, daß Sie da bereits unterwegs waren. Oder sind Sie auch ein Freund des Joggings? Wie ich. Dies hier ist meine allmorgendliche Tour, ich war mit meinem Freund unterwegs, da haben wir Sie hier gefunden. Mein Freund hat gleich kehrtgemacht, um Hilfe zu alarmieren, und ich bin bei Ihnen geblieben. Ich bin wirklich froh, daß Sie erwacht sind. Können Sie sich erinnern, was genau geschehen ist? Sind Sie vielleicht über diesen Stein gestolpert? Er liegt tatsächlich mitten auf dem Weg.« Ein Stein? Gestolpert? Ich versuchte nachzudenken. Aber da war nichts, da kam nichts. Es war auch viel zu anstrengend. Die Augen fielen mir wieder zu – und ich wußte nichts mehr. Als ich wieder erwachte, lag ich in einem Krankenhausbett. Ich war zwar immer noch sehr müde, aber mein Kopf fühlte sich wesentlich freier an. Eine Krankenschwester stand neben meinem Bett und lächelte mir freundlich zu. »Ausgeschlafen, Miss Morris?« fragte sie gutmütig. »Ich weiß nicht«, antwortete ich vage.
Ich erinnerte mich aber gleich, daß Brian Greystone mich im Park gefunden hatte. Oder war das etwa auch ein Traum gewesen? Auch? Was hatte ich denn sonst noch geträumt? Lady Annabel erschien vor meinem geistigen Auge, und dann sah ich diesen geheimnisvollen, charmanten Umberto Urban, ich fühlte mich wieder verfolgt, niedergeschlagen… Jetzt erst wurden meine Gedanken klar, ich war hellwach. »Können Sie mir sagen, was geschehen ist, Schwester?« fragte ich. »Ich bin Schwester Margaret, Miss Morris. Ja, was geschehen ist… Genaues wissen wir noch nicht, es war ja wohl niemand bei Ihnen. Wir nehmen aber an, daß Sie bei einem Spaziergang im Park gestürzt sind. Können Sie sich an den Spaziergang erinnern?« »Ich weiß nicht recht«, überlegte ich. »Aber stimmt es, daß Mr. … daß Graf Greystone mich gefunden hat?« »Ja, das ist richtig. Er hat Sie gefunden und veranlaßt, daß Sie hierhergebracht wurden. Eine erste Untersuchung hat ergeben, daß Sie außer einer Gehirnerschütterung vermutlich keine wesentlichen anderen Verletzungen haben. Aber selbstverständlich müssen da erst noch genauere Untersuchungen vorgenommen werden, um das abschließend beurteilen zu können.« Eine Gehirnerschütterung! Ich schloß die Augen und sah unwillkürlich wieder diesen Stein auf mich zukommen. Aber, so wie ich es sah, lag dieser Stein nicht auf dem Boden und ich stürzte auch nicht auf ihn zu, sondern er wurde von einer Hand geführt. Dann sah ich wieder dieses lange grüne Kleid mit der kleinen Schleppe, das schöne, aber unbequeme lange Kleid, das mich am schnelleren Laufen gehindert hatte. »Wissen Sie, wie ich angezogen war, als man mich fand, Schwester?« fragte ich.
»Nein, ich hatte noch keinen Dienst, als man Sie einlieferte. Aber Ihre Sachen müssen ja im Schrank sein. Soll ich einmal nachsehen?« »Das wäre sehr nett, Schwester Margaret.« Die Schwester öffnete den schmalen Kleiderschrank, der zur Ausstattung des Krankenzimmers gehörte, und ich konnte vom Bett aus selbst sehen, was da auf zwei Kleiderbügeln hing. »Sie trugen Jeans und eine hellbraune Lederjacke, Miss Morris«, sagte Schwester Margaret. »Soll ich nachsehen, ob die Kleidung durch den Sturz in Mitleidenschaft gezogen wurde?« »Danke, das ist im Augenblick wohl nicht nötig, Schwester.« »In Ordnung.« Schwester Margaret schloß die Schranktür. »Haben Sie irgendeinen Wunsch, Miss Morris?« »Nein, danke.« »Dann ruhen Sie sich weiter aus. Der Arzt wird gleich zu Ihnen kommen, um mit Ihnen zu besprechen, was noch geschehen muß.« »Ja, danke.« Ich schloß die Augen, während die Schwester das Zimmer verließ. Aber ich wollte nicht wieder schlafen, obschon ich müde genug dafür gewesen wäre. Ich wollte versuchen nachzudenken, denn meine Gedanken drehten sich im Kreis, und ich war ziemlich verunsichert deswegen. Ich hatte also Jeans und die Lederjacke getragen, als man mich im Park fand! Und jetzt erinnerte ich mich auch wieder, so bekleidet gewesen zu sein, als ich mich zu dem Spaziergang aufmachte, der mich in den Schloßpark führte. War das wirklich gestern abend gewesen? Hatte ich das andere nur geträumt? Diese andere Geschichte, die ich doch erlebt zu haben glaubte. Jetzt war sie mir wieder ganz gegenwärtig. Ich erinnerte mich an alles, an jede kleine Einzelheit.
Ich sah die bezaubernde Lady Annabel vor mir, die mir stolz die Kamee zeigte, dieses wunderschöne in Edelstein geschnittene kleine Bildnis. Ich sah mich selbst, wie ich dieses schöne und kleidsame, aus einer längst vergangenen Zeit stammende grüne Kleid trug, ich sah diesen Mann Umberto Urban, der auf so unkonventionelle Weise die Bekanntschaft der Lady Annabel gesucht hatte, ich sah, wie die junge Frau sich glücklich in seinen Arm schmiegte… aber ich sah auch den Dolch. Und ich sah den Stein, mit dem ich erschlagen werden sollte. Hatte ich das wirklich alles nur geträumt? Gab es solche Träume überhaupt, in denen man förmlich mitlebte, die man in allen Einzelheiten erlebte? Ich wußte einfach nicht, was ich denken sollte. Noch vor dem Arzt kam Brian Greystone und brachte mir einen herrlichen Rosenstrauß. Einen ganzen Arm voll dichtgefüllter zartgelber, rosafarben überhauchter Blüten mit einem sehr angenehmen teeartigen Duft. Diese spezielle Rosenart hatte ich, außer auf alten Bildern, bisher nur ein einziges Mal gesehen. »Wie schön«, freute ich mich aufrichtig. »Diese Rosen sind bestimmt an der Laube im Park geschnitten worden. Ich habe sie sehr bewundert, als ich dort saß. Vor allem dieser etwas ungewöhnliche Duft ist mir aufgefallen. Ich freue mich wirklich sehr darüber, Graf Greystone. Aber Sie hätten nicht so viele Blüten von dem Busch schneiden lassen sollen. Diese Pracht im Park sollte wirklich nicht beeinträchtigt werden. Ach, entschuldigen Sie, daß ich das sage. Das klingt ja fast wie ein Tadel. Aber so war es gewiß nicht gemeint. Es ist nur, weil ich gerade diesen Platz und diesen Rosenstrauch so besonders bewundert habe. Also bitte, nehmen Sie mir meine unbedachten Worte nicht übel. Und verstehen Sie mich nicht falsch, Graf.«
Brian Greystone hatte mir die Rosen auf die Bettdecke gelegt, aber der Blick, mit dem er mich ansah, war etwas seltsam. »Schön, Sie wohlauf zu finden«, sagte er dann aber zunächst einmal sehr herzlich. »Ich habe mir große Sorgen gemacht, als ich Sie bewußtlos in unserem Park fand. Ich weiß zwar, daß das endgültige Urteil der Ärzte noch aussteht, aber jedenfalls machen Sie jetzt doch einen frischen und gesunden Eindruck. So hoffe ich also, daß man den noch ausstehenden Spruch der Ärzte nicht so sehr zu fürchten braucht.« »Das haben Sie wirklich sehr nett gesagt, Graf. Und daß Sie mich jetzt gleich besuchen kommen, ist eine ganz besondere Freude für mich.« »Das war mir ein Bedürfnis. Und da möchte ich doch gleich eine Bitte anbringen. Nennen Sie mich nicht länger Graf. Ich mag den Titel nicht besonders, und ich fände es schön, wenn Sie mich einfach Brian nennen würden. Im Gegenzug möchte ich dann gerne Ruth sagen dürfen. Wären Sie damit einverstanden?« »Aber gern«, nickte ich. Ich wunderte mich zwar ein bißchen, aber noch mehr freute ich mich. Mir war dieser rotblonde Mann mit dem modischen Bart ja vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen, und nun glaubte ich annehmen zu dürfen, daß die Sympathie auf Gegenseitigkeit beruhte. Das machte mich irgendwie froh. Brian hatte sich einen Stuhl herangezogen und sich neben mein Bett gesetzt. Der Blick, mit dem er mich jetzt ansah, war nachdenklich. »Diese Rosen«, sagte er und deutete auf die Blütenpracht auf meinem Bett, »Sie glauben also, solche Rosen schon einmal gesehen zu haben?« »Das glaube ich nicht, das weiß ich«, antwortete ich bestimmt. »Ich weiß das nämlich so genau, weil ich die Rosen, als ich sie dort im Park sah, sehr genau betrachtet habe. Sie
sind mir sofort aufgefallen, denn dieses zarte, hellrosa überhauchte Gelb, diese vollen Blüten mit den ein bißchen verknautscht wirkenden Blütenblättern – sie hatte ich bisher nur gemalt gesehen. Noch niemals in der Natur. Darum bin ich so sicher, daß ich mich nicht irre.« »Das ist merkwürdig«, antwortete Brian. »Das ist außerordentlich merkwürdig.« »Warum?« fragte ich verständnislos. Brian schaute mich fest und unverwandt an. »Daß es für Sie unwahrscheinlich ist, solche Rosenblüten schon einmal gesehen zu haben, ist richtig, Ruth. Es handelt sich nämlich um eine Züchtung aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert, die später in Vergessenheit geriet, beziehungsweise man hat sie weitergezüchtet und verändert. Es gab diese Teerosenart früher im Park von Greystone Palace, das ist richtig, und unsere Schloßgärtner haben über Jahrzehnte hinweg diese ganz besondere Teerose zurückgezüchtet. Heute wird sie in unseren Gewächshäusern kultiviert.« »Und was ist daran nun so merkwürdig?« Brian Greystone hielt auch jetzt meinen Blick fest. »Es gibt diese Rose also noch«, sagte er, »oder, richtiger ausgedrückt, es gibt sie wieder. Aber diese Laube im Park, Ruth, von der Sie sprachen, und dieses Rosengebüsch an dieser Laube – sie gibt es schon seit der Jahrhundertwende nicht mehr. Diese Laube wurde entfernt, als der Park zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts umgestaltet wurde. Seitdem gibt es dort einen ziemlich großen Weiher mit einem Springbrunnen in der Mitte. Dieser Teil des Parks ist allerdings privat geblieben, er ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht worden und ich weiß nicht, ob Sie schon einmal da waren.« »Und die halbkreisförmige Bank aus weißem Marmor, und die alten, mit Grün überwachsenen Säulen, die das runde Dach trugen – sie sind auch nicht mehr da?« fragte ich bestürzt.
»Nein, Ruth, das alles gibt es seit nahezu hundert Jahren nicht mehr.« »Aber ich habe doch selbst auf dieser Bank gesessen«, sagte ich leise, wie zu mir selbst. Brian Greystone lächelte nun. »Das ist wirklich gänzlich unmöglich, Ruth. Aber Sie müssen über ein außerordentlich ausführliches und genaues Schrifttum verfügen mit sicherlich ebenso genauen Skizzen, daß Sie sich in eine dermaßen detailgenaue Vorstellung hineindenken konnten. Mir ist solche Literatur allerdings nicht bekannt, und das wundert mich. Vielleicht können Sie mir da einen entsprechenden Hinweis geben.« Eine Vorstellung? Das alles sollte eine bloße Einbildung gewesen sein? Und Lady Annabel? Und Umberto Urban? Auch eine bloße Vorstellung? Ich wußte wirklich nicht, was ich davon halten sollte. Meine Verwirrung mußte sich wohl in meinem Gesicht widergespiegelt haben. Brian bemerkte es und nickte mir beruhigend zu. »Sie sind jetzt erschöpft, nicht wahr, Ruth? Das ist ja kein Wunder. Sie brauchen noch viel Ruhe, ich hätte nicht so lange bleiben sollen. Und natürlich sollten Sie sich auch jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen, aus welchem Buch Sie Ihre Kenntnisse über den Park von Greystone Palace besitzen. Darüber werden wir uns später noch unterhalten. Das hat aber überhaupt keine Eile. Ruhen Sie sich jetzt nur aus, befolgen Sie die Ratschläge der Ärzte, und werden Sie schnell wieder gesund. Ich freue mich darauf, denn ich hoffe, daß Sie dann etwas Zeit für mich haben werden. Wir wollten ja noch gemeinsam nach Material über diesen italienischen Künstler suchen, erinnern Sie sich? Er hieß Titus Fabiani. Sehen Sie, ich habe den Namen nicht vergessen. Ich habe zwar noch nichts über ihn herausgefunden, aber mir ist der Mann
eigentlich schon ganz sympathisch. Ihm verdanken wir doch unsere Bekanntschaft, nicht wahr? Ich weiß zwar nicht, wie Sie darüber denken, aber ich freue mich darüber.« Brian Greystone hatte sich erhoben. Er erwartete wohl keine Antwort von mir, sondern nickte mir nur lachend zu und wandte sich der Tür zu. »Bis bald, Ruth«, meinte er. »Ich schicke Ihnen die Schwester, damit sie sich gleich um die Blumen kümmert.«
*
Natürlich war ich ziemlich verunsichert, nachdem Brian Greystone mich verlassen hatte. So sehr ich mich darüber freute, die Bekanntschaft dieses Mannes gemacht zu haben, so sehr ich dieses Glücksgefühl genoß, der Zwiespalt beunruhigte mich zutiefst, in den ich geraten war. Was war da geschehen mit mir? Hatte ich die Geschichte um Lady Annabel wirklich nur geträumt? Geträumt mit allen diesen verblüffenden Einzelheiten, an die ich mich jetzt noch erinnern konnte, die ich jetzt noch wußte? Meistens vergißt man einen Traum ja gleich wieder, wenn man ihn nicht sofort aufgeschrieben hat. Und auch dann, so glaube ich es jedenfalls zu wissen, erinnert man sich nur schemenhaft. Ich aber wußte noch alles, jede Einzelheit. Lady Annabel war mir so vertraut, als wäre sie meine beste Freundin. Vor diesem Umberto Urban fürchtete ich mich immer noch. Und ich hatte Angst um Lady Annabel, weil ich glaubte, dieser Mann könne sie unmöglich glücklich machen. Ich konnte mich noch an jede Nuance unserer Gespräche erinnern, ich fand diese Kleider, die ich gesehen, die ich zum Teil selbst getragen hatte, immer
noch schön, und ich wußte ganz genau, wie diese Laube im Park von Greystone Palace ausgesehen hatte. Ich wußte, wo sie gestanden hatte, diese Laube, die es schon seit hundert Jahren nicht mehr geben sollte, ich konnte mich an den Duft der zartgelben Rosen erinnern… und das alles sollte nur ein Traum gewesen sein? Konnte man so detailgetreu träumen von Dingen, die es nicht mehr gab – die es aber früher einmal gegeben hatte? Mußte man, selbst wenn man davon geträumt hatte, nicht wenigstens vorher entsprechendes Wissen erworben haben? Ich fand keine Antwort auf diese vielen Fragen, und ich wagte auch nicht, mit jemandem darüber zu sprechen. Die Ärzte hatten ja eine schwere Gehirnerschütterung bei mir diagnostiziert. Wenn ich ihnen nun von meinem merkwürdigen Traum erzählen würde, käme man vielleicht noch auf die Idee, meinen Geisteszustand zu untersuchen. Und darauf wollte ich es nun doch lieber nicht ankommen lassen. Lieber wollte ich versuchen, den Dingen selbst auf den Grund zu gehen. Aber dazu mußte ich erst einmal wieder gesund sein und aus dem Krankenhaus entlassen werden. Glücklicherweise benötigte ich in diesem Fall nicht viel Geduld. Ich war schon bald wieder soweit hergestellt, daß ich das Krankenhaus verlassen konnte. Ich sollte mich nur noch für eine Weile schonen, legten mir die Ärzte nahe, aber ansonsten brauche ich mir über den kleinen Unfall und seine Folgen keine Gedanken mehr zu machen. Natürlich ging man davon aus, daß ich im Park gestolpert und unglücklich gestürzt sei, denn von dieser anderen Version, die mich noch immer in Schrecken versetzte, hatte ich natürlich nichts erzählt. Brian Greystone hatte mich nicht mehr besucht. Er hatte mir eine Nachricht zukommen lassen, daß er plötzlich eine unerwartete kurze Reise habe antreten müssen. Er werde sich
nach seiner Rückkehr gleich bei mir melden. Natürlich war ich froh, das Krankenhaus schon vorher verlassen zu können. Ich kehrte wieder in das Haus von Tante Constance zurück. Ich war froh, daß ich diese Wohnung hatte, denn ich wollte noch nicht nach London zurück. Nicht, bevor ich meinen merkwürdigen Traum, der mich mehr und mehr beschäftigte, aufgeklärt hatte. Emily, die alte Betreuerin von Tante Constance, empfing mich voller Freude. »Wie schön, Sie wieder hier zu haben, Miss Ruth«, sagte sie glücklich. »Jetzt sollen Sie sehen, wie schnell Sie sich unter meiner Pflege wieder erholen. So ein Leben im Krankenhaus ist doch nichts. Miss Richmond, Ihre Tante, hat auch nichts davon gehalten. Sie hat sich immer ganz auf meine Pflege verlassen und ist damit ja auch fast hundert Jahre alt geworden.« »Nun, bis dahin habe ich ja noch ein bißchen Zeit, Miss Emily«, lachte ich. »Aber im übrigen sollten Sie sich mit meiner Pflege nicht so viel Arbeit machen. Mir fehlt ja nichts mehr. Die Kopfschmerzen, die ich noch habe, sind zwar manchmal etwas lästig, aber das ist ja nur vorübergehend. Das haben mir die Ärzte versprochen.« »Ach, Ärzte, was die schon wissen! Verlassen Sie sich nur auf mich, Miss Ruth. Sie werden sehen, das ist das Allerbeste für Sie.« So brauchte ich mich also um mein körperliches Wohlbefinden nicht zu sorgen. Aber mein seelisches Gleichgewicht war doch merklich gestört. Sofort, nachdem ich in Tante Constances Wohnung zurückgekehrt war, suchte ich nach dem lederbezogenen Kästchen mit der Kamee, die in dem, was ja eigentlich wirklich nur ein Träum gewesen sein konnte, eine so große Rolle gespielt hatte. Aber ich fand weder das Kästchen noch die Kamee!
Dabei glaubte ich genau zu wissen, in welche Schublade des hübschen Schränkchens in meinem Zimmer in Tante Constances Wohnung ich das kostbare Erbstück getan hatte. Dort hatte ich natürlich zuerst nachgeschaut, aber leider ohne Erfolg. Dann suchte ich weiter in dem Zimmer, das ich bewohnte, ließ keine Lade, keinen Schrank, keinen Winkel aus, und suchte dann genau so gründlich in Tante Constances Wohnung. Schließlich mußte ich einsehen, daß die Kamee tatsächlich nicht da war. Dann überlegte ich, wann und wo ich die Kamee bewußt zuletzt gesehen hatte. Der Juwelier, Mr. Potter, fiel mir wieder ein. In sein Geschäft hatte ich die Kamee mitgenommen, ihm hatte ich sie gezeigt. Sollte ich sie vielleicht dort gelassen haben? Ich konnte mich zwar nicht daran erinnern, aber möglich wäre es immerhin. Mr. Potter hatte ja schon von der außerordentlichen Kostbarkeit dieses Schmuckstücks gesprochen. Vielleicht hatte er mir angeboten, diese Kostbarkeit in seinem Safe zu verwahren. Wie gesagt, ich konnte mich nicht daran erinnern, aber ich wollte eine solche Möglichkeit doch nicht gänzlich ausschließen. Es war noch relativ früh am Nachmittag, eine passende Zeit also, um Mr. Potter in seinem Laden aufzusuchen. Ich machte mich gleich auf den Weg.
*
Mr. Potter empfing mich hocherfreut. »Ich habe von Ihrem Unfall gehört, Miss Morris«, sagte er lebhaft. »Als ich mich erkundigte, sagte man mir, Sie bräuchten viel Ruhe und sollten
möglichst nicht gestört werden. Darum habe ich sowohl auf meinen Besuch als auch auf einen Anruf verzichtet, obwohl ich Neuigkeiten für Sie habe. Wie schön, daß Sie jetzt zu mir kommen.« »Sie haben Neuigkeiten?« fragte ich gespannt. »Ja, Miss Morris. Das heißt, es sind nicht direkt Neuigkeiten, aber ich habe Erstaunliches über Titus Fabiani in Erfahrung bringen können. Daran sind Sie doch sicher noch immer interessiert, nicht wahr?« »Aber natürlich, Mr. Potter. Was weiß man denn noch über diesen alten Künstler?« Mr. Potter lächelte verschmitzt. »Das Wort alt stimmt insofern, als der Mann vor langer Zeit lebte, Miss Morris. Alt geworden ist er aber nicht. Er starb nämlich, wie man so schön sagt, in der Blüte seiner Jahre. Um es genauer zu sagen, er wurde hingerichtet.« »Er wurde hingerichtet?« »Richtig, Miss Morris. Aber ich will Ihnen alles erzählen, was ich inzwischen erfahren habe. Also, dieser Titus Fabiani war ein wirklich begnadeter Künstler. Er war sehr berühmt zu seiner Zeit. Berühmt unter anderem auch deswegen, weil er nicht sehr viele Kunstwerke geschaffen hat. Aber die wenigen Kameen, die von seiner Hand stammten, waren so außerordentlich vollendet und schön, daß sie praktisch unvergleichlich waren. Und nun kommt das Tragische an der Geschichte. Tragisch für den Künstler, aber auch tragisch für die Menschen, die diese von ihm geschaffenen Kunstwerke erwarben.« »Jetzt machen Sie mich aber wirklich neugierig, Mr. Potter.« »Ja, hören Sie nur gut zu. Dieser Titus Fabiani war nicht nur genial, er muß in gewisser Weise auch geistig gestört gewesen sein. Er verliebte sich nämlich in seine Kunstwerke. Nicht etwa nur so, wie es wohl jeder Künstler tut, der sich über seine
Arbeit freut und mit ihr zufrieden ist, nein, Titus Fabiani war besessen. Er verkaufte seine Arbeiten zwar zu immensen Preisen, aber danach brachte er sie immer wieder in seinen Besitz.« »Wie denn das? Kaufte er sie wieder zurück?« »Nein, durchaus nicht. Er brachte sie in seinen Besitz, ohne daß jemals jemand erfahren sollte, daß die Kameen wieder bei ihm waren. Es war vielmehr so, daß sich um die Kameen von Titus Fabiani ein Aberglaube rankte. Es hieß nämlich, daß der Erwerb einer Kamee von Titus Fabiani dem Besitzer Unglück bringen würde. Die Besitzer sollen nämlich samt und sonders ermordet worden sein.« »Na, das ist ja eine tollte Geschichte. Gibt es irgendwelche Beweise dafür?« »Die Verurteilung und Hinrichtung des Künstlers dürften wohl Beweis genug sein. Er war es nämlich, der jedenfalls wurde ihm das in seinem Prozeß nachgewiesen, der die Käufer oder Erwerber seiner Werke ermordete. Und zwar so geschickt, daß er nie in Verdacht geriet. Und da die bei seinen Morden geraubten Kameen nie wieder auftauchten, weil er sie unter Verschluß hielt, geriet er nie unter Verdacht. Nur einmal hat er wohl einen Fehler gemacht. Er wurde gefaßt und nach einem aufsehenerregenden Prozeß hingerichtet.« Ich hörte gespannt zu. Ich kann zwar nicht sagen, daß ich die Zusammenhänge bereits begriff, aber da kam doch so eine Ahnung in mir auf, die mich mehr und mehr erregte. »Über diesen Prozeß und die Hinrichtung gibt es noch Urkunden?« fragte ich gepreßt. »Ja, das ist tatsächlich urkundlich bewiesen. Es ist auch dokumentiert, daß Titus Fabiani vor seiner Hinrichtung alle seine Arbeiten zerstört hat. Das hat er selbst erklärt. In seinem Wahn gönnte er niemandem den Anblick solcher Schönheit.«
Mr. Potter schaute mich triumphierend an. »Begreifen Sie, was das bedeutet, Miss Morris? Begreifen Sie, was für eine Sensation es ist, daß nun doch eine Kamee dieses genialen Steinschneiders aufgetaucht ist? Man wird es in der Fachwelt nicht fassen können. Bitte, zeigen Sie mir die Kamee doch noch einmal. Ich bin mir meiner Sache zwar ganz sicher, aber ich möchte mich unbedingt noch einmal überzeugen, daß es sich wirklich um eine Arbeit von Fabiani handelt. Außerdem möchte ich diesen außerordentlichen Anblick noch einmal genießen.« Der Bericht von Mr. Potter hatte mich natürlich ungemein erregt. Aber jetzt wurde mir wieder der eigentliche Grund meines Kommens bewußt. Ich wollte doch Mr. Potter fragen, ob er den Schmuck in einem Safe hätte. Doch seine Frage nun machte meine Hoffnung schon zunichte. Trotzdem sagte ich noch vorsichtig, ich sei der Meinung, ich hätte den Schmuck hier bei Mr. Potter gelassen, damit er ihn sicherer aufbewahren könne als ich selbst. Mr. Potter war entsetzt. »Großer Gott, Miss Morris, wie können Sie so etwas fragen? Die Kamee ist nicht bei mir! Ich habe sie Ihnen zurückgegeben, nachdem Sie sie mir gezeigt hatten. Mit großem Bedauern zwar, aber Sie wollten sie wieder mitnehmen. Sollten Sie sich daran nicht erinnern können? Haben Sie etwa Zweifel?« »Nein, nein«, beruhigte ich den aufgeregten Mann. Ich wußte ja, daß er recht hatte, denn was er sagte, entsprach genau dem, woran auch ich mich erinnerte. »Jetzt, wo Sie es sagen«, behauptete ich gepreßt, »erinnere ich mich natürlich. Ganz klar, Mr. Potter, ich habe den Schmuck wieder mitgenommen. Die Brosche liegt wohl zu Hause bei mir im Schrank. Entschuldigen Sie bitte meine dumme Frage. Ich wollte Sie gewiß nicht aufregen.«
»Ist schon recht, Miss Morris. Aber im Augenblick hatte ich wirklich einen gehörigen Schrecken bekommen. Und ich flehe Sie an, achten Sie auf dieses einmalige und wirklich unersetzliche Kunstwerk. Am besten sollten Sie es wirklich von einem Fachmann in einem sicheren Safe aufbewahren lassen, wenn Sie sich nicht doch entschließen sollten, es an ein Museum zu verkaufen. Dann aber bitte nur an eines der berühmtesten Schmuckmuseen, Miss Morris! Auf den Anblick dieser Arbeit hat die ganze Welt ein Anrecht, meine ich.« »Ich werde es mir gut überlegen, Mr. Potter«, lächelte ich bedrückt. Dann verließ ich den Laden. Natürlich blieb das erneute Suchen nach der Kamee in Tante Constances Haus erfolglos. Der Schmuck war wirklich nicht mehr da. Ich war ratlos, konnte mir das Verschwinden der Kamee nicht erklären. An einen möglichen Diebstahl dachte ich nicht einmal, denn es war nicht in Tante Constances Haus eingebrochen worden, außerdem wußte ja niemand von dieser Kostbarkeit, und Emily war ohnehin über jeden Verdacht erhaben. Ist es verwunderlich, daß ich nun noch mehr über das nachgrübelte, was ich für einen Traum halten mußte? In diesem unerklärlichen Traumgeschehen jedenfalls, das mich so sehr beschäftigte, hatte die Kamee eine entscheidende Rolle gespielt. Die bezaubernde Lady Annabel war nicht nur die Besitzerin, sondern sogar das Vorbild für diese Steinschneiderei gewesen. Sie hatte mir ihr Bildnis so voller Stolz gezeigt. Und dann… ja dann war dieser geheimnisvolle Umberto Urban auf der Bildfläche erschienen. Er hatte nach der Bekanntschaft mit Lady Annabel gesucht, sich dann aber doch anscheinend noch mehr für diese Kamee interessiert. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen!
Umberto Urban hatte Lady Annabel und die Kamee gesucht! Ich hatte ja selbst zugehört, wie er ihr die Geschichte erzählte. Wie er Lady Annabel sogar beschwichtigen mußte, weil sie enttäuscht war, für ihn nicht so wichtig gewesen zu sein wie die Kamee. Und dann hatte ich mit ansehen müssen, wie dieser Mr. Urban den Dolch zog, wie er Lady Annabel ganz offensichtlich ermorden wollte. Es dann aber doch nicht tat, weil er sich gegen seinen Willen in sie verliebt hatte. Und ich erinnerte mich wieder an die schrecklichen Bilder, die ich wie in einem Film auf der blanken Dolchklinge gesehen hatte. Und ich spürte wieder die Angst, als dieser Mann mich deswegen verfolgte und mich mit dem Stein erschlagen wollte. Ich saß an dem schönen Schreibsekretär in Tante Constances Haus, den ich noch einmal und natürlich vergeblich durchsucht hatte, und hielt unwillkürlich den Atem an. Dieser Umberto Urban… ob es möglich war, daß er der jungen Lady einen falschen Namen genannt hatte? Daß er in Wirklichkeit jener Titus Fabiani war, der sich wieder in den Besitz dieser von ihm geschaffenen Kamee setzen wollte? So wie er die anderen in Edelschein geschnittenen Kunstwerke auch wieder an sich gebracht hatte, nämlich durch Mord? Mich überlief es siedendheiß bei diesen Gedanken. Ich wollte mir einreden, meine Phantasie schlage inzwischen wohl wahre Purzelbäume. Aber gleichzeitig wußte ich auch, daß ich es mir nicht so leicht machen durfte. Bei nüchterner Überlegung mußte ich mir nämlich sagen, daß mein Gedankengang durchaus nicht so verrückt war, daß er die Geschichte vielmehr ziemlich genau auf den Punkt brachte. Und ich konnte den Gedanken sogar noch weiter fortführen. Mr. Potter hatte erwähnt, daß Titus Fabiani nicht nur ein genialer Künstler, sondern auch so etwas wie ein genialer Mörder gewesen sei, denn man kam ihm nie auf die Spur. Er geriet
nicht einmal in Verdacht. Nur einmal habe er einen Fehler gemacht und sei daher gefaßt worden. Ich zwang mich zur Ruhe bei meinen Überlegungen, denn ich geriet in äußerste Erregung. War es denkbar, daß dieser Fehler darin bestand, daß er sich ehrlich in Lady Annabel verliebt hatte? War er daher unvorsichtig geworden? Er hätte je als Umberto Urban gleich nach dem Mord an Lady Annabel wieder untertauchen können. Der Name war falsch, einen Umberto Urban hatte es nie gegeben, und Titus Fabiani war weit fort. Er würde sehr bald wieder in Florenz am öffentlichen Leben teilnehmen. Möglicherweise würde man dort seine Abwesenheit überhaupt nicht bemerkt haben. Ja, so hätte es sein können. So war es sicher auch geplant gewesen. Aber dann hatte die Liebe dem Besessenen und wahrscheinlich in seiner Art auch wahnsinnigen Künstler einen Streich gespielt. Einen Streich, der ihn schließlich das Leben kostete. Das alles waren logische, folgerichtige Gedanken, und ich war schließlich sogar überzeugt, daß es so gewesen sein mußte. Aber woher wußte ich das alles überhaupt? Ich baute meine Theorie ja schließlich nur auf meinen Traumerlebnissen auf. Denn außer diesen Traumerlebnissen und dem, was Mr. Potter berichtet hatte, besaß ich ja keinerlei Anhaltspunkte. Ich wußte wirklich nicht mehr, was ich denken sollte. Was war da nur mit mir, meinem Kopf, meinem Bewußtsein geschehen? Wie konnte ich mich mit Gedanken, mit Problemen quälen, die es eigentlich für mich doch überhaupt nicht geben konnte? Ich lebte schließlich jetzt, um die Wende zum einundzwanzigsten Jahrhundert hin, und das, was meine
Gedanken im Augenblick ganz ausfüllte, war in einer Zeit vor ungefähr hundertfünfzig Jahren geschehen! So etwas gab es doch nicht! Gewiß, man konnte im Traum in eine andere Zeit entführt werden. Aber könnte man dabei auch Dinge sehen und erfahren und sogar miterleben, die wirklich geschehen waren, von Personen, die in der anderen Zeit wirklich gelebt hatten, konnte man dabei etwas erfahren, was man im wahren, im augenblicklichen Leben überhaupt nicht wußte? Von dem man in unserer Zeit vielleicht gar nichts wissen konnte? Die Gedanken drehten sich wirbelnd in meinem Kopf, und ich sagte mir: »Paß auf, Ruth, daß du nicht noch völlig verrückt wirst. Oder bist du es vielleicht schon?« Dann fiel mir ein, daß es einen Punkt gab, den ich doch nachprüfen konnte. Die bezaubernde junge Frau in meinem Traum hatte sich Lady Annabel genannt. Sie war die einzige Tochter des damaligen Grafen Greystone, und sie hatte in Greystone Palace gewohnt und gelebt, in jenem Schloß also, das heute noch in unserer Stadt existierte. Und auch diese Grafen Greystone gab es noch, und in ihrer Familiengeschichte mußte es eine Lady Annabel geben, wenn das, was ich immer noch für einen Traum halten mußte, etwas mit echtem Geschehen zu tun hatte. Da fügte es sich ja gut, daß ich Brian Greystone bereits kennengelernt hatte. Es würde also kein Problem sein, ihn nach Lady Annabel zu fragen.
*
Der junge Graf war zwar zurück von seiner Reise, wie ich erfuhr, als ich am nächsten Morgen in der Bibliothek
vorsprach, aber er war noch nicht in der Bibliothek erschienen, ich könnte jedoch auf ihn warten. Das wollte ich auch tun, und so setzte ich mich an einen der Leseplätze. Um in einem Buch zu blättern oder gar zu lesen, dazu fehlte mir allerdings die Ruhe. Ich saß also nur da, wollte mich entspannen, denn seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus, seit ich mich also besonders intensiv mit der Kamee beschäftigte, vor allem aber seit meinem Gespräch mit Mr. Potter, dem Juwelier, lebte ich in einer ganz besonderen Spannung. Das änderte sich auch nicht, als ich nun in der Bibliothek auf Brian Greystone wartete. Meine Gedanken drehten sich natürlich auch jetzt wieder um die Kamee, um Lady Annabel, vor allem aber um diesen Titus Fabiani, welcher der böse Urheber all dieses dramatischen Geschehens zu sein schien. Des Geschehens allerdings nur, mußt ich mir sagen, welches zu einer Zeit, also im vorigen Jahrhundert, sich abgespielt hatte. Wieso ich, rund hundertfünfzig Jahre später, ungewollt Zeugin und sogar beinahe Opfer hatte werden können, dafür gab es für mich natürlich keine Erklärung. Ich saß in der Bibliothek, wartete auf Brian Greystone, und schaute dabei nur so vor mich hin, ohne etwas Bestimmtes zu beachten. Vor mir, in meiner Blickrichtung, war die innere Längswand des großen, langgestreckten Raumes. Die Fensterfront befand sich in meinem Rücken. Die Längswand selbst sah ich natürlich nicht, denn sie war vom Boden bis zur Decke hinter Bücherregalen verborgen, und natürlich waren diese Regale auch mit Büchern vollgestellt. Während ich also nun so dasaß und vor mich hinschaute, fiel mir auf, daß es in dem großflächigen Regal mir gegenüber eine etwa türbreite senkrechte Unterteilung gab. Sie war wirklich nicht auffallend, die waagerechten Bücherreihen waren nicht
einmal unterbrochen. Aber ich sah, daß es da eine gewisse Unregelmäßigkeit gab. Warum ich von meinem Platz aufstand und diese Stelle näher untersuchen wollte, weiß ich nicht, denn eigentlich lag nicht der geringste Grund dafür vor. Vermutlich handelte da wieder mein Unterbewußtsein – irgend etwas, das ich mir nach wie vor nicht erklären konnte. Jedenfalls erhob ich mich, ohne die erstaunten Blicke der jungen Dame am Empfangspult zu beachten, ging zu der Bücherwand und berührte, ohne erst lange suchen zu müssen, eine hinter Büchern fast verborgene, von außen wirklich kaum zu bemerkende schmale Leiste. Und ich wunderte mich dann auch nicht, daß ein Teil des Bücherregals dabei lautlos zur Seite glitt, daß ein schmaler Durchgang entstand, den ich ohne zu zögern benutzte. Daß sich die Bücherwand hinter mir wieder schloß, bemerkte ich überhaupt nicht. Ich befand mich in einem engen Flur, der zu einer ebenso schmalen Treppe führte. Durch kleine Fenster, die sich irgendwo in der Höhe befanden, drang etwas Tageslicht ein, gerade so viel, daß ich erkennen konnte, daß dieser Teil des Gebäudes mit Sicherheit nicht mehr benutzt wurde. Alles war mit einer dicken grauen Staubschicht bedeckt, ganze Vorhänge von dichten Spinnweben versperrten manchmal fast das Durchkommen, und die Luft war so stickig und abgestanden, daß mir das Atmen schwerfiel. Das alles war mir höchst unangenehm, normalerweise ist mir Schmutz in jeder Form zuwider, und auf Spinnweben reagierte ich nahezu allergisch. Aber in diesem Fall kam mir nicht einmal der Gedanke zurückzugehen, und Schmutz und Spinnweben registrierte ich nur, ohne mich davor zu ekeln. Die Treppen waren aus Holz und sichtlich altersschwach, und ich wußte nicht, warum ich hinaufstieg. Aber ich tat es. Ich
ging einfach weiter, bis ich die oberste Treppenstufe erreicht hatte, und über einen dort oben noch schmaleren Flur ging ich an einigen Türen vorbei, ohne sie überhaupt zu beachten. Die letzte Tür im Gang war wohl das Ziel, ich öffnete sie ohne zu zögern und betrat einen kleinen Raum. Es war sicher eine der früheren Dienstbotenkammern, stellte ich fest, und noch während ich es dachte, verwandelte sich meine Umgebung. Ich blieb zwar in der Kammer, und diese wurde auch nicht größer, aber Schmutz, Staub und Spinnweben waren plötzlich nicht mehr zu sehen. Da stand ein Bett in der Ecke mit weißen Kissen und einer aufgeschlagenen Decke. An dem kleinen Fenster gab es duftige weiße Vorhänge, ein dunkler Nachthimmel war dahinter zu erkennen. Ich erinnerte mich flüchtig, daß ich die Bibliothek im Schloß doch am Morgen betreten hatte. Aber das schien auch mir jetzt gar nicht wichtig zu sein. Jedenfalls wunderte ich mich nicht im geringsten. Auf einer schmalen, bescheidenen Kommode befand sich ein Kerzenleuchter… und plötzlich war da auch eine junge Frau, mehr ein junges Mädchen in einem schlichten weißen Nachthemd, das gerade dabei war, die einzige Kerze in dem Leuchter anzuzünden. Von meiner Anwesenheit schien die junge Frau keine Kenntnis zu haben, sie bewegte sich völlig unbefangen. Und nun öffnete sich auch die Tür hinter mir, durch die ich gerade eingetreten war. Unwillkürlich machte ich einen Schritt zur Seite, unhörbar und unsichtbar für die Bewohnerin dieser Kammer – und es war Lady Annabel, die den Raum betrat. Ich wunderte mich auch jetzt nicht. Es gab überhaupt keine Gemütsbewegung bei mir, ich war wohl nur zum Beobachten dort, warum auch immer. Das junge Manchen erschrak aber sichtlich über den für sie völlig unerwarteten Besuch. »Mylady!« rief sie fast entsetzt.
»Wieso kommen Sie zu mir? Wieso haben Sie nicht nach mir geschickt?« »Ich habe meine Gründe, Mira«, erklärte Lady Annabel. »Ich möchte, daß wir ungestört sind, wenn ich mit dir rede, und das sind wir hier gewiß.« »Aber sicher, Mylady«, antwortete Mira eifrig. Sie räumte schnell ihre schwarze Dienstbotentracht fort, die über dem einzigen Stuhl gehangen hatte, und schob diesen Lady Annabel hin. Annabel nahm Platz, und auch sie bemerkte nichts von meiner Anwesenheit. Ich erschrak über das Aussehen der jungen Frau, die bei unserer früheren Begegnung ja fast meine Freundin geworden war. Lady Annabel war immer noch jung, und sie war immer noch sehr schön, aber die glückliche, lebensfrohe junge Frau suchte ich in ihr vergebens. Annabel war abgemagert und erschreckend bleich. Riesengroß wirkten ihre schönen Augen in dem so schmal gewordenen feinen Gesicht, und den üppigen blonden Locken fehlte jeglicher Glanz. Es war wohl ebenfalls ein Nachtgewand, das sie trug, nur war es wesentlich üppiger und eleganter als das bescheidene Hemdchen von Mira, ihrer Zofe. Überdies hätte Lady Annabel sich zusätzlich in einen langen, breiten Kaschmirschal gehüllt. Trotzdem schien sie erbärmlich zu frieren. Es tat mir wirklich im Herzen weh, diese junge Frau so verändert zu sehen. Aber natürlich gab es nichts, das ich für sie tun konnte. »Komm, Mira, setz dich zu mir«, sagte die Lady jetzt und deutete auf einen niedrigen Hocker, der neben dem Bett stand. »Ich möchte, daß du mir gut zuhörst. Und lauteres Sprechen fällt mir schon recht schwer.« »Ach, Mylady!« seufzte Mira und schien fast den Tränen nahe, »warum haben Sie sich auch so angestrengt. Der Gang über die Treppe war doch viel zu beschwerlich für Sie. Und
hier in meiner Kammer ist es auch nicht warm genug. Sie werden sich noch den Tod holen.« Annabel lächelte schmerzlich. »Den Tod brauche ich mir nicht mehr zu holen, Mira, er ist bereits in mir. Und er läßt mir nur noch kurze Zeit. Das spüre ich genau, und darum bin ich hergekommen.« Lady Annabel hatte den weichen Kaschmirschal bisher mit beiden Händen über der Brust gehalten. Nun löste sie eine Hand und ich sah überrascht, daß sie darin das mit rotem Leder bezogene kleine Kästchen hielt. »Ich wollte dir dieses bringen, Mira«, sagte sie. »Ich werde bald sterben, das weiß ich… Nein, widersprich nicht, du weißt es ja auch. Und ich brauche keinen Trost. Das Leben hat für mich keinen Sinn mehr, ich bin sogar froh, daß es zu Ende geht.« »Aber warum nur, Mylady, warum? Sie sind doch noch so jung!« »Ja, jung bin ich wohl, Mira. Ich habe aber trotzdem schon alles hinter mir, was das Leben mir zu bieten hatte. Weißt du, ich bin glücklich gewesen, unvorstellbar glücklich sogar, und um nichts in der Welt würde ich auf dieses erlebte Glück verzichten wollen. Auch wenn es letztlich nur kurz war und mein Herz daran zerbrochen ist. Ich glaube, Mira, nicht vielen Menschen wird ein solches Glück zuteil, wie ich es erfahren durfte, und den frühen Tod als Preis dafür zahle ich gern. Ich habe geliebt und bin mit gleicher Leidenschaft geliebt worden, und nun folge ich meinen Geliebten bereitwillig und gern in den Tod.« »Aber wieso, Mylady?« fragte die Zofe Mira hilflos. »Wieso weiß niemand von Ihrer schicksalhaften Liebe? Natürlich habe ich die Veränderung an Ihnen bemerkt. Und natürlich habe ich gesehen, wie glücklich Sie waren. Aber wenn^ es da einen Mann gab in Ihrem Leben, so weiß ich nichts von ihm. Sicher weiß ich, daß es einer Zofe nicht zukommt, in die
Herzensgeheimnisse ihrer Herrin eingeweiht zu werden, aber eigentlich habe ich doch so nahe bei Ihnen und mit Ihnen gelebt, daß ich, ohne deswegen neugierig zu sein, etwas gemerkt haben müßte. Aber das war nicht so. Und ich glaube fast sogar, daß auch sonst niemand etwas weiß. Daß Sie sich nicht einmal mit dem Herrn Grafen, Ihrem Vater, anvertraut haben.« Lady Annabel nickte mit einem traurigen Lächeln. »Du bist eine gute Beobachterin, Mira. Es ist tatsächlich so. Niemand hat von meinem Glück erfahren, und niemand soll auch von meinem großen Unglück wissen. Dieses Geheimnis nehme ich mit ins Grab. Aber hier, Mira«, und nun öffnete sie das Kästchen, im Licht der einzelnen Kerze wirkte die Kamee auf dem weißen Samt fast lebendig, »diese Brosche möchte ich dir geben, Mira.« Die Zofe erschrak fast, und ihr Kopf, der sich über das Kästchen gebeugt hatte, zuckte kaum merklich zurück. »Das ist doch viel zu kostbar für mich, Mylady! So etwas kann eine einfache Zofe unmöglich annehmen!« Die junge Lady nickte versonnen und wandte den Blick nicht von der Bildschnitzerei. »Du hast recht, Mira«, sagte sie, »dieses ist eine wirkliche Kostbarkeit. Und eigentlich will ich sie dir auch gar nicht zum Geschenk machen. Ich will dich nur bitten, sie aufzubewahren. Denn ich glaube, bei dir könnte sie sicher sein.« »Wie soll ich das verstehen, Mylady?« »Es ist tatsächlich schwer zu verstehen, Mira. Und richtig erklären kann ich es dir selbst nicht. Dieser Schmuck bedeutet mir viel, außerordentlich viel. Mein Vater hat ihn mir geschenkt, und ich weiß inzwischen auch, wer dieses Kunstwerk geschaffen hat. Ich habe den Künstler kennengelernt. Und ich möchte, daß dieser so genial bearbeitete Edelstein mich und meine Zeit überdauert.«
»Aber das wird er doch, Mylady. Solche Edelsteine und auch solche aus ihm gearbeiteten Kunstwerke sind unvergänglich.« »Eigentlich schon, Mira«, nickte Annabel schmerzlich. »Aber dieser Kamee droht die Vernichtung.« »Das begreife ich nicht!« »Du brauchst es auch nicht zu begreifen, Mira. Ich will dich damit nicht belasten. Aber es ist so, daß ich diese Brosche unbedingt vor der Zerstörung bewahren möchte. Nicht nur, weil sie so schön und kostbar ist. Es ist meine Schönheit, die hier festgehalten wurde. Weißt du, Mira, wenn man so kurz vor dem Tod steht wie ich, dann ist es wohl keine Sünde mehr, wenn ich gestehe, daß ich eitel war. Daß ich stolz war auf meine Schönheit, obwohl sie doch nicht mein Verdienst war, sie wurde mir ja nur geschenkt. Aber ich möchte, daß etwas von dieser Schönheit zurückbleibt. Ich sterbe so jung, ich kann meine Schönheit nicht an eine Tochter weitergeben, also bleibt nur diese Kamee von mir. Sie soll und sie wird meine allzu früh vergangene Schönheit überdauern.« »Das wird sie gewiß, Mylady«, beteuerte Mira mit tränenerstickter Stimme. »Aber warum bringen Sie die Kostbarkeit dann zu mir? Zu einer kleinen unbedeutenden Zofe? Ihr Vater, der Graf, wird sie bestimmt in großen Ehren halten.« »Ja, das würde er natürlich«, nickte Lady Annabel. »Aber ich weiß, er könnte sie nicht beschützen. Das kann ich dir nicht erklären, Mira, du mußt es mir nur glauben. Diese Kamee umgibt ein Geheimnis, das ich selbst nicht kenne. Eine Kraft geht von ihr aus, für die es wohl keine Erklärung gibt, aber ich weiß von dem Vorhandensein dieser Kraft, die mir selbst schon gedient hat. Ich weiß nicht, ob und wie man diese Kraft beeinflussen kann, ich weiß nur, daß sie vorhanden und weit stärker als unsere menschlichen Möglichkeiten ist. Im Augenblick möchte ich diese Kraft aber auszuschalten
versuchen, weil sie sich, das weiß ich, gegen mein Bildnis richtet. Aber trotzdem kann und will ich diese Kraft, die stärker ist als alle unsere menschlichen Möglichkeiten, auch nicht zerstören. Darum gebe ich dir diese Brosche zur Aufbewahrung, Mira. Das heißt, sie soll dir gehören, solange du lebst, aber ich bitte dich dennoch, trage diesen Schmuck nie und sprich zu niemandem davon. Erst wenn du ihn einmal an deine eigene Tochter weitergeben wirst, sollst du deiner Tochter das Nötigste darüber erzählen. Ich kann dir natürlich nicht verbieten, Mira, den Schmuck zu tragen, oder ihn auch zu verkaufen. Und ich weiß auch nicht genau, was dann geschähe. Aber ich fürchte, die Brosche würde dir dann Unglück bringen. Und davor könnte ich dich dann nicht beschützen. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?« »Nicht ganz, Mylady«, schluchzte Mira fassungslos. »Aber ich will alles so tun, wie Sie es gesagt haben.« Mira nahm das rote Kästchen mit der Kamee, sie warf einen langen Blick darauf, dann klappte sie den Deckel zu und verbarg das Kästchen in der untersten Schublade ihrer Kommode. »So ist es recht«, sagte Lady Annabel und erhob sich mühsam. Ich bemerkte erschüttert, wie schwach sie wohl schon war, und dann erschütterte es mich noch mehr, wie sich ihre schmale Gestalt, ja wie sich das ganze Bild vor mir aufzulösen begann. Alles wurde langsam in einen grauen Nebel gehüllt, die beiden Frauengestalten verschwanden im milchigen Dunst, die Konturen lösten sich auf… Da sprang ich, ohne mögliche Folgen zu bedenken, in diese sich auflösende Szene hinein. Ich machte die wenigen Schritte bis zu der Kommode, es gelang mir sogar noch, die unterste Schublade aufzuziehen und das rote Lederkästchen
herauszunehmen, ich spürte es in meiner Hand, es war also nicht nur ein Produkt meiner Phantasie, und ich hatte nur den einen Wunsch, diese Kammer jetzt schnell zu verlassen, die jetzt wieder grau und muffig wurde. Das nackte Bettgestell und die Kommode verschwanden fast wieder unter Staub und Schmutz, und hinter den undurchsichtig gewordenen kleinen Fensterscheiben – jetzt ohne Vorhänge – versuchte das Tageslicht sich Eingang zu verschaffen. Ich schien also endlich wieder in meine Zeit zurückgekehrt zu sein – oder, umgekehrt zu sagen, meine Zeit schien wieder zu mir zurückgekommen zu sein… oder war ich bloß aus einem Traum erwacht? Einem Tagtraum womöglich? Jedenfalls riß ich die Tür der Kammer auf, wollte schnell wieder ins Treppenhaus, hinunter in die Bibliothek.
*
Noch ehe ich die Treppe erreicht hatte, kam mir Umberto Urban entgegen. Der Mann, von dem ich nun wußte, daß er eigentlich Titus Fabiani geheißen hatte. Und ich wußte zugleich, daß mein Anteil an dem Geschehen, so unbegreiflich und unerklärlich es mir auch war, noch nicht zu einem Ende gekommen war. Titus Fabiani trat mir in den Weg. Er war nicht mehr so elegant gekleidet, wie ich ihn in Erinnerung hatte, sondern er trug nur einfache, formlose und ungebügelte Hosen und ein etwas angeschmuddeltes, am Hals offenes Hemd. Vermutlich war das die Kleidung, die man ihm im Kerker gelassen hatte. Aber trotzdem sah er immer noch umwerfend gut aus, und ich konnte selbst jetzt noch Lady Annabel verstehen, daß sie sich so leidenschaftlich in diesen Mann verliebt hatte.
Als ich aber in diese schwarzen Augen blickte, erschrak ich zutiefst. Denn daraus flackerte mir zweifellos gefährlicher Wahnsinn entgegen. Aber Fabianis Blick hatte mich nur kurz getroffen. Seine Augen saugten sich vielmehr an dem roten schmalen Kästchen fest, das ich mit beiden Händen umklammert hielt. »Endlich habe ich diese Spur wiedergefunden«, keuchte Fabiani. »Sie war verschollen für mich. So sehr ich auch gesucht, all meine Kraft aufgewandt habe, sie zu finden. Ich konnte nicht zur Ruhe kommen deswegen, soweit unsereinem überhaupt Ruhe vergönnt ist.« Er lachte jetzt sogar, es war ein dumpfes, hohles Lachen, und gleichzeitig griff er nach dem Kästchen. »Her damit!« herrschte er mich an. »Das ist das letzte, was ich noch erledigen muß. Dieses Werk von mir muß zerstört werden, wie alle anderen auch. Nichts darf von mir übrig bleiben. Keiner soll sich an solcher Kunst erfreuen dürfen, denn kein Sterblicher ist es wert.« Mit ausgestreckten Armen kam er mir ganz nahe. Ich glaubte bereits seine Berührung zu spüren. Der Blick seiner schwarzen Augen war jetzt wie Eis, und eisig glaubte ich es auf meiner Haut zu fühlen. Ich war für einen Augenblick wie gelähmt vor Entsetzen. Ich dachte an die vielen Morde, die dieser Mann in seinem Leben begangen hatte, ich dachte an den Stein, mit dem er auch mich hatte töten wollen. Und ich wurde wieder von dieser panischen Furcht erfaßt, einer Furcht, die mich zu lähmen drohte. Nur noch Zentimeter trennten seine Hände von dem Kästchen, das sich mit aller Kraft umklammerte. Das Gesicht des Mannes verzog sich bereits zu einer triumphierenden Fratze… da endlich wurden meine Gedanken wieder aktiv.
Ungeachtet dessen, daß ich ja wirklich nicht wußte, was da eigentlich passierte, daß ich für das ganze Geschehen um die Kamee keine Erklärung hatte, wurden meine Gedanken doch wenigstens insofern wieder klar, als ich mir in Erinnerung rufen konnte, daß Titus Fabiani und ich ja in Wirklichkeit durch Welten getrennt waren. Er hatte im vorigen Jahrhundert gelebt, ich lebte jetzt. Und wie immer auch eine Verbindung zwischen uns beiden hatte zustande kommen können, so war es doch unwahrscheinlich, jedenfalls sagte ich mir das, daß dieser Mann aus einer anderen Zeit jetzt und hier Gewalt über mich haben könnte. Ich wußte das natürlich nicht genau, aber ich wollte es glauben, denn nur so hoffte ich entkommen zu können. Es kostete mich ungeheure Überwindung, meinen Überlegungen eine Tat folgen zu lassen. Aber vielleicht war es auch gut, daß ich keine Zeit zum Überlegen hatte. Noch während Titus Fabiani also die Hände ausstreckte, er mir das Kästchen mit der Kamee entreißen wollte, machte ich einen energischen Satz nach vorn. Ich hatte mir nämlich gesagt, daß er ja unmöglich leiblich dort sein konnte, wo ich ihn sah, daß er ja nur so etwas wie ein körperloses Phantasiegebilde sein konnte… also würde er mir auch keinen körperlichen Widerstand entgegensetzen können. Obschon es doch wirklich so aussah, als versperrte er mir den Zugang zur Treppe. Ich machte also einen Satz nach vorn, direkt auf diese Gestalt zu, fürchtete natürlich trotzdem, gegen diesen Körper zu prallen, aber zu meiner grenzenlosen Erleichterung war da tatsächlich nichts. Es war einfach unvorstellbar! Aber ich rannte wirklich durch Titus Fabiani hindurch, erreichte die Treppe, rannte, fast besinnungslos vor Angst, die morsche, verstaubte Treppe hinunter. Ich fühlte mich verfolgt, hörte hinter mir gräßliche
Flüche in einer mir unbekannten Sprache, und rannte die endlose Treppe hinunter um mein Leben. Schließlich stolperte ich, stürzte, dachte, nun hätte mich diese andere Macht doch eingeholt, ich wollte mich verzweifelt fallenlassen, mich in mein Schicksal ergeben… da fühlte ich mich von zwei starken Armen aufgefangen, und ich verlor das Bewußtsein.
*
Das Erwachen war dann aber recht angenehm. Zunächst glaubte ich mich zwar noch immer verfolgt, denn die Arme, die mich umschlangen, mußten ja die von Titus Fabiani sein. Ich wollte mich losreißen, wollte noch einmal versuchen, dem Verhängnis zu entkommen, obschon es nun doch keine Hoffnung mehr zu geben schien. Da hörte ich diese Stimme. Diese schöne, wohlklingende Stimme, die mich schon einmal ins Bewußtsein zurückgerufen hatte. »Nicht doch, Ruth«, sagte diese Stimme. »Wovor laufen Sie denn fort? Es ist alles in Ordnung, niemand bedroht Sie. Und außerdem bin ich jetzt da.« Da öffnete ich die Augen und blickte in das besorgte Gesicht von Brian Greystone. Und ich sah, daß wir auf dieser uralten, durch Staub und Schmutz fast zusammenbrechenden Treppe saßen. Brian Greystone hielt mich im Arm, und das war ein sehr schönes Gefühl. Er lächelte mir zu, als er sah, daß ich die Augen geöffnet hatte. »Na, wieder da, Ruth?« fragte er zärtlich. »Sie kamen ja die Treppen heruntergestürmt, als sei die ›Wilde Jagd‹ leibhaftig hinter Ihnen her. Was war denn nur los?«
Ich blickte mich um. »Sie haben nichts gesehen, Brian?« fragte ich, immer noch ein wenig skeptisch. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Ruth, nichts. Ich sah nur Sie, und ich muß schon sagen, Sie hatten ein bewundernswertes Tempo aufgelegt. Wollen Sie mir sagen, was Sie in einen solchen Schrecken, in eine solche Panik versetzt hat?« Jetzt erst bemerkte ich, daß ich immer noch diese rote Kästchen umklammert hielt. Das Kästchen, das wußte ich ja, in dem sich die Kamee befand. Trotzdem öffnete ich es jetzt rasch, um mich zu überzeugen. Ja, die Kamee lag auf dem vergilbten Samt. Ich schloß das Kästchen rasch wieder, und mich durchlief unwillkürlich ein Schauder. Hielt ich doch hier den Beweis in der Hand, daß ich mir nichts eingebildet hatte, daß ich mir nicht einfach einreden konnte, ich hätte wieder so etwas wie einen Tagtraum erlebt. Ich hielt die Kamee in der Hand, die verschwunden gewesen war… ich hatte also wieder etwas erlebt, für das es keine rationale Erklärung gab. »Wie sind Sie hierhergekommen, Brian?« fragte ich, nachdem ich mich vorher geräuspert hatte, um meiner Stimme wenigstens eine gewisse Festigkeit geben zu können. »Darüber wundere ich mich selbst«, meinte Brian Greystone und ließ mich nicht aus den Augen. »Ich kam in die Bibliothek, und dort sagte man mir, Sie seien dagewesen und hätten nach mir gefragt. Und dann erzählte die junge Kollegin mir, Sie seien plötzlich aufgestanden, zur Bücherwand gegangen, die sich, wie von Geisterhänden bewegt, vor Ihnen geöffnet habe, Sie seien hindurch gegangen und nicht wieder zurückgekommen. Ich wollte diese Geschichte kaum glauben, obschon es mir natürlich klar war, daß es sich um ein tatsächliches Geschehen handeln mußte, denn die junge Dame am Empfang hätte es natürlich nicht gewagt, mir irgendeinen Bären aufzubinden.
Also ging ich selbst zur Bücherwand, zu dieser Stelle, die mir genau gezeigt wurde, und dabei fiel mir ein, daß dahinter das zu den früheren Dienstbotenkammern gehörende Treppenhaus sein mußte. Beides war nicht mehr benutzt worden, seit man vor Jahrzehnten diese Bibliothek eingerichtet hatte, und war wohl mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. Wie konnten sie nur davon wissen, Ruth? Das würde ich doch wirklich gern erfahren.« »Ich habe es nicht gewußt«, sagte ich leise. »Wieso, das verstehe ich nun wirklich nicht.« »Das ist auch nicht zu verstehen, Brian. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie verwirrt ich selbst darüber bin. Ich würde allen Ernstes an meinem Verstand zweifeln, wenn ich nicht dieses Kästchen hier in der Hand halten würde. Aber daß ich es habe, daß ich es tatsächlich geholt habe, macht alles noch viel komplizierter.« »Ich begreife nichts von dem, was Sie sagen, Ruth.« »Natürlich nicht, Brian. Wie sollten Sie auch. Ich habe bisher noch mit niemandem darüber gesprochen. Würden Sie mir zuhören, wenn ich Ihnen die Geschichte von Anfang an erzähle?« »Natürlich, Ruth, sehr gern. Ich wollte Sie sogar darum bitten. Spielt Greystone Palace in Ihrer Geschichte eine Rolle?« Ich nickte. »Ja, hier hat sich alles abgespielt. Oft dachte ich, das alles sei nur ein Traum. Dann manchmal mußte ich es für Wirklichkeit halten, wie auch jetzt wieder… ich weiß wirklich nicht mehr, was ich denken soll, Brian. Ich bin völlig durcheinander. Und ich weiß nicht, wie ich aus diesem Zustand herauskommen soll. Ob man mir da überhaupt helfen kann.« »Ich will es versuchen, Ruth, wenn Sie mir nur Ihr Vertrauen schenken. Zu zweit trägt sich alles viel leichter. Und vieles
sieht schon ganz anders aus, wenn man es erst einmal ausgesprochen hat. Doch ich denke, hier diese schmutzige Treppe dürfte nicht der richtige Ort für ein doch sicher länger werdendes Gespräch sein. Machen Sie mir die Freude und kommen Sie mit in den bewohnten Teil unseres Hauses. Mein Butler wird uns einen ordentlichen Tee zubereiten und wir können völlig ungestört, in einer angenehmeren Umgebung als hier, miteinander reden.« »Sehr gern«, nickte ich, ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen. Ich wollte tatsächlich so schnell wie möglich fort von diesem unfreundlichen Ort, wo ich wieder einmal nackte Todesangst ausgestanden hatte. Wir gingen also vorsichtig die letzten Stufen der altersschwachen Treppe hinunter, Brian hielt dabei fürsorglich meine Hand, und das tat mir unendlich gut. Unten im Flur klopften wir uns gegenseitig den Staub von der Kleidung, soweit das möglich war, und die Tür, die in die Bibliothek führte, war dann auch rasch gefunden, denn von dieser Seite vom Flur aus war sie ja nicht zugestellt. Natürlich machte die junge Dame am Empfang ein ziemlich verblüfftes Gesicht, als wir beide durch die Bücherwand wieder in den Raum kamen. Niemand hatte ja bisher etwas von diesem Durchgang gewußt. Doch Brian Greystone, der ja ihr Vorgesetzter war, gab ihr keine nähere Erklärung, so sehr sie auch darauf wartete. »Ich bin vorerst im Schloß zu erreichen, Miss Miller«, sagte er nur. »Aber nur für dringende Fälle. Den Dienst müssen Sie und Ihre Kollegen heute noch einmal allein machen.« Brian Greystone hatte seine Wohnräume im ersten Stock des Hauptgebäudes. Er führte mich in einen nicht sehr großen, behaglich eingerichteten Salon. Als er mir gerade einen der gemütlichen Sessel anbieten wollte, schmunzelte er. »Ich glaube, wir haben
es beide nötig, uns erst ein wenig frisch zu machen«, sagte er mit leisem Lachen. »Der Teil von Greystone Palace, den Sie gerade besucht haben, glänzte wohl nicht vor Sauberkeit.« Und zu dem jetzt eintretenden Butler sagte er: »Zeigen Sie Miss Morris doch bitte, wo sie sich ein wenig erfrischen kann, Parker. Ich habe es wohl auch nötig. Und anschließend bringen Sie uns dann Tee hierher.« Der Butler führte mich, ohne vorher noch eine Frage gestellt oder auch nur eine Miene verzogen zu haben, in ein modern ausgestattetes Bad, »Sie finden hier alles, was Sie brauchen, Miss Morris«, sagte er und ließ mich allein. Als ich vor den Spiegel trat, wußte ich nicht recht, ob ich erschrecken oder lachen sollte. Ich hatte Spinnweben im Haar, mein Gesicht war nicht ganz sauber, das Kostüm, das ich trug, war durch das bloße Abklopfen nur unvollkommen vom Staub der Treppe befreit worden, und alles in allem sah ich wahrhaftig nicht gerade adrett aus. Nach kurzem Anklopfen betrat eine freundliche junge Frau den Raum. »Der Butler hat mich geschickt«, sagte sie. »Ich soll Ihnen behilflich sein.« »Das ist wirklich nett«, antwortete ich leicht verlegen. Mir war mein Zustand unangenehm. Aber die junge Frau erwartete wohl gar keine Erklärung. Sie half mir geschickt und freundlich, und dann konnte ich auch wieder mit meinem Spiegelbild zufrieden sein. Als Brian und ich uns im Salon wiedertrafen, mußten wir beide herzhaft lachen. Das tat mir gut. Da war so ein Gefühl von echtem Verstehen zwischen uns, von gleicher Wellenlänge, und gerade in dieser Situation war das für mich außerordentlich wohltuend. Der Butler brachte den Tee, Brian übernahm selbst das Einschenken, und dann saßen wir uns entspannt gegenüber.
»Bitte, Ruth«, begann Brian. »Ich möchte, daß Sie mich richtig verstehen. Ich will keineswegs in Sie dringen und Sie veranlassen, mir etwas zu erzählen, was Ihnen vielleicht unangenehm wäre. Oder über das Sie aus irgendeinem Grund nicht reden möchten. Wenn Sie allerdings jemanden brauchen, der zuhört, der vielleicht auch etwas zu sagen weiß, so bin ich ganz für Sie da.« »Ja, Brian, ich brauche jemanden. Ich werde allein nicht mehr fertig mit dem, was ich verarbeiten muß. Und ich denke sogar, daß ich gerade mit Ihnen reden sollte.« »Das freut mich.« »Irgendwie betrifft es Sie nämlich auch, Brian.« »Schade. Ich dachte, Sie wollten darum mit mir reden, weil ich Ihnen besonders sympathisch bin.« Brian sagte das mit so drolliger Enttäuschung, daß ich unwillkürlich lachen mußte. Und aus diesem Lachen heraus antwortete ich: »Natürlich sind Sie mir auch sympathisch. Aber das ist in diesem Fall nicht einmal so wichtig.« »Das ist sogar sehr wichtig, Ruth. Sogar außerordentlich wichtig für mich. Wenn man sich nämlich in jemanden verliebt, dem man unsympathisch ist, so könnte das doch schon einige Probleme mit sich bringen.« Ein warmes, äußerst angenehmes Gefühl durchströmte mich. Ich hätte mich diesem Gefühl gern hingegeben, hätte es gern ausgekostet, aber ich sagte mir, daß es dazu noch zu früh sei. Und vielleicht war das von Brian ja auch nur so dahingesagt. Ich wollte und konnte dem jetzt nicht auf den Grund gehen. Ich hatte mich zum Reden entschlossen, und das war für mich im Augenblick das allerwichtigste. »Hat es in Ihrer Familie einmal eine Lady Annabel gegeben, Brian?« fragte ich, ohne auf seine vorherige Bemerkung einzugehen. »Sie müßte vor langer Zeit gelebt haben, etwa vor hundertfünfzig Jahren.«
Brian schaute mich erstaunt an. »Natürlich habe ich nicht unseren ganzen Familienstammbaum im Kopf«, sagte er dann zögernd, »aber ich denke – ja, da gab es gewiß eine Lady Annabel.« »Wissen Sie etwas von ihr?« »Sie war wohl so etwas wie eine tragische Gestalt, wenn ich mich recht besinne. Sie muß sehr schön gewesen sein, ist aber jung gestorben. Sie war unverheiratet, gehört nicht zu meinen Stammüttern.« »Wissen Sie, ob ein Bild von ihr existiert?« »Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht in unserer Ahnengalerie.« Ich nahm das rote Lederkästchen, das ich immer noch nicht aus der Hand gelassen hatte und klappte den Deckel auf. »Das ist Lady Annabel Greystone«, erklärte ich, während ich Brian die Kamee auf dem weißen Samt hinreichte. Brian nahm das Kästchen entgegen und betrachtete aufmerksam die Kamee. »Wunderbar«, meinte er begeistert. »Wirklich wunderschön. Aber woher wollen Sie wissen, daß dies Lady Annabel ist? Soweit ich sehe, gibt es hier keinerlei Hinweise.« »Gerade das ist die Geschichte, von der ich Ihnen erzählen will, Brian«, sagte ich ernst. »Eine höchst merkwürdige, geheimnisvolle und eigentlich ganz und gar unglaubliche Geschichte. Einen Teil davon haben Sie ja sogar miterlebt.« »Nun bin ich aber wirklich neugierig, Ruth.« »Das kann ich verstehen. Und ich will Sie jetzt auch nicht länger auf die Folter spannen. Ich will Ihnen der Reihe nach alles erzählen, was ich erlebt habe, und was ich dazu noch in Erfahrung bringen konnte.« »Ich bin ganz Ohr, Ruth.« Ich begann also damit, wie ich von Tante Constance, die ja eigentlich meine Großtante war, die Brosche bekommen hatte, und daß Tante Constance mir dabei erzählte, ihre eigene
Großmutter, die in ihrer Jugend Kammerzofe bei Lady Annabel Greystone gewesen war, diese Kamee von ihrer Herrin erhalten hatte. Tante Constance hatte nicht viel mehr gewußt, nur daß diese junge Lady sehr unglücklich gewesen sein und an gebrochenem Herzen gestorben sein sollte. Und daß es um diese Kamee ein Geheimnis geben müßte. »Mit dieser Auskunft gab ich mich natürlich nicht zufrieden, Brian«, sagte ich mit einem kleinen, fast schuldbewußten Lächeln. »Immerhin bin ich Journalistin und daher schon von Beruf aus neugierig. Nach Tante Constances Tod ging ich also zu einem Juwelier und zeigte ihm das kleine Kunstwerk. Mr. Potter geriet in helle Entzückung über diese, wie er sagte, einzigartige Schönheit, und dann glaubte er sogar eine Signatur zu entdecken, die ihn in allergrößte Aufregung versetzte. Da hörte ich zum erstenmal den Namen Titus Fabiani. Das, so weiß ich inzwischen, ist ein sehr berühmter Kameenschneider im vorigen Jahrhundert gewesen, er arbeitete in Florenz. Dieser Schmuck hier ist eine Arbeit von ihm und zwar seine einzige noch heute existierende Arbeit. Denn Titus Fabiani hat alle seine Werke bis auf dieses eine vor seinem Tod vernichtet. Er wurde übrigens hingerichtet.« »Hm, eine interessante Geschichte«, nickte Brian. »Aber bisher trotzdem eigentlich nicht aufregend. Was kommt also noch?« »Jetzt kommt der unheimliche Teil der Geschichte, Brian. Das, was mir widerfahren ist und wofür es wohl keine Erklärung geben kann.« »Ich höre, Ruth.« Ich erzählte also weiter. Wie ich den abendlichen Spaziergang im Park von Greystone Palace machte, wie diese junge Dame, die Lady Annabel war, mir von Ihrem Fenster aus zuwinkte, und wie ich dann anscheinend so etwas erlebte, was man heute einen Zeitsprung nennt.
Ich erzählte, wie ich in eine andere Zeit geraten war, wie ich mit Lady Annabel lebte und mit ihr sprach, daß ich in der gleichen Mode gekleidet war wie sie und daß ich mit ihr erlebte, wie sie diesen Mann kennenlernte, der sich Umberto Urban genannt hatte, der aber in Wahrheit Titus Fabiani war und sich nur wieder in den Besitz dieser von ihm geschaffenen Kamee setzen wollte. Ich berichtete dem nun doch ziemlich beeindruckten Brian Greystone, wie Lady Annabel sich unsterblich in diesen Mann verliebte, wie auch Titus Fabiani sich von seiner Liebe mitreißen ließ, wie er die junge Lady darum nicht wie seine anderen Opfer ermordete und daß er dadurch gefaßt, entlarvt und schließlich als vielfacher Mörder hingerichtet wurde, während Lady Annabel tatsächlich an gebrochenem Herzen starb. »Wie gesagt, Brian«, bemerkte ich leise, »das habe ich zum Teil miterlebt, was ich natürlich nicht erklären kann, zum Teil habe ich es von dem Juwelier, Mr. Potter, zum Teil aber auch von Lady Annabel selbst erfahren.« »Und was geschah heute, Ruth? Was hat Sie auf unserer alten, längst vergessenen Dienstbotentreppe so erschreckt?« »Die Kamee war verschwunden, Brian. Ich konnte mir dieses Verschwinden nicht erklären und war gekommen, um Sie nach Lady Annabel zu fragen. Vielleicht würde ich so eine Spur finden, hatte ich mir gedacht. Nun, Sie waren nicht da, ich fand diese Tür, ohne nach ihr gesucht zu haben, irgendwie war ich wohl auch wieder geführt oder gerufen worden, ich ging über die Treppe nach oben, fand die Dienstbotenkammern und kam so in die Kammer der Zofe Mira, die, was ich ja wußte, die spätere Großmutter meiner Großtante Constance war. Die Kammer war adrett und wohnlich eingerichtet, eine Kerze brannte, und diese junge Mira bereitete sich wohl gerade darauf vor, ins Bett zu gehen. Da erschien Lady Annabel, bereits sterbenskrank und ungemein traurig aussehend. Beide
junge Frauen wußten nichts von meiner Anwesenheit. Lady Annabel brachte ihrer Zofe diese Kamee, in diesem Kästchen. Es sollte eine Erinnerung für die Zofe sein, wenn auch nicht direkt ein Geschenk. Mira sollte die Kamee vielmehr aufbewahren und beschützen, sie vor der drohenden Zerstörung bewahren. Darum sollte sie die Brosche niemals tragen, und auch nicht darüber sprechen. Von Tante Constance weiß ich, daß Mira sich daran gehalten hat, Brian. Sie hat diese Kamee niemals getragen, hat sie vor ihrem eigenen Tod an ihre Tochter weitergegeben, also an die Mutter meiner Großtante, die sich genau so verhielt, und Großtante Constance hielt es ebenfalls so. So hat sie es mir erzählt. Erst ich habe die Tradition durchbrochen. Erst durch mich kam diese Kamee also wieder ans Tageslicht.« »Und Sie meinen, Ruth, das hatte Folgen?« »Nun ja, wie sonst soll ich das erklären, was ich erlebt habe? Die Zofe Mira legte dieses Kästchen im Beisein von Lady Annabel in die Schublade ihrer Kommode. Das sah ich. Und gleich darauf begann die Szene, die ich auf so unerklärliche Weise gesehen, vielleicht sogar miterlebt hatte, sich aufzulösen. Die ganze Kammer begann in einem grauen Nebel zu verschwimmen. Da sprang ich ohne zu überlegen in diese Szene hinein, ich konnte die Kommode erreichen, die Schublade aufreißen und dieses Kästchen hier«, – ich deutete auf das Kästchen, das Brian in der Hand hielt –, »ich konnte dieses Kästchen an mich nehmen. Dann wollte ich zurück, in die Bibliothek, wo ich Sie zu finden hoffte.« »Ich war aber schon unterwegs zu Ihnen, Ruth. Ich war ja bereits im Treppenhaus.« »Wohl noch nicht sofort, Brian. Denn oben auf dem Flur begegnete mir Titus Fabiani. Ja, wirklich, der Spuk war immer noch nicht zu Ende für mich. Titus’ Reden konnte ich immerhin entnehmen, daß er keine Ruhe finden konnte, ehe er
nicht dieses sein letztes Werk zerstört habe. Er war wohl auf eine gewisse Art wahnsinnig. Besessen und wahnsinnig. Nun endlich war es ihm möglich geworden, die Spur der Kamee wiederzufinden. Er sah dieses Kästchen in meiner Hand, er wollte es mir entreißen, aber ich… ich rannte buchstäblich durch ihn hindurch die Treppe hinunter, wurde von ihm verfolgt, hörte seine gräßlichen Flüche… ja, und dann haben Sie mich aufgefangen, Brian. Das, was vielleicht ein Spuk war, vielleicht aber auch nicht, war verschwunden. Aber dieses Kästchen hier, dieses Kästchen mit seinem wertvollen, unersetzlichen Inhalt hielt ich noch immer in der Hand. Und es ist immer noch hier… Das also ist die ganze Geschichte.« Brian Greystone schaute mich lange schweigend an. »Eine merkwürdige Geschichte, in der Tat«, sagte er dann. »Für die Sie natürlich auch keine Erklärung wissen.« »Natürlich nicht, Ruth. Wie sollte ich das auch erklären können.« »Ich habe oft gedacht, daß das alles nur Träume waren, besonders deutliche, gegenständliche Träume, Tagträume manchmal auch. Aber ich muß doch glauben, daß das nicht als Erklärung genügen kann. Besonders nicht nach dem heutigen Erlebnis. Denn wie bin ich wieder in den Besitz dieser Kamee gekommen? Sie ist kein Traum, und sie ist keine Einbildung. Ich habe sie in der Hand gehalten, ich habe sie mitgebracht aus Miras Kammer, und jetzt halten Sie sie in der Hand. Das ist doch keine Einbildung mehr! Das ist doch kein Traum!« Brian Greystone schaute den so kunstvoll bearbeiteten Edelstein in seiner Hand an. »Nein«, sagte er versonnen, »das ist wirklich kein Traum. Das ist eine äußerst merkwürdige Geschichte.« »Was soll ich denn jetzt nur tun?« fragte ich verzagt. Brian schaute mich an. Es lag unendlich viel Wärme in seinem Blick. »Müssen Sie denn überhaupt etwas tun, Ruth?«
»Wie meinen Sie das?« »Nun, ich denke, wenn das alles einen Zweck haben sollte, so ist dieser jetzt erfüllt. Lady Annabel wollte, daß ihr Bildnis, das einzige, das von ihr existierte, nicht zerstört werden sollte. Vielleicht wollte sie auch, daß die Nachwelt von ihrer Liebe zu diesem Titus Fabiani erfuhr, wer weiß. Beides ist jetzt erreicht.« »Ich verstehe Sie nicht ganz, Brian. Nur Sie und ich wissen bisher von dieser Liebe. Und ob Titus Fabiani nicht vielleicht doch noch einmal die Kraft aufbringen wird, sich dieser Kamee zu bemächtigen?« »Das glaube ich kaum, Ruth. Natürlich kann ich das nicht beweisen, aber mein Gefühl sagt mir, daß dieses wohl der letzte Versuch gewesen sein muß. Vor allem dann, wenn man die Kamee seinem Einflußbereich entzieht.« »Wie sollten wir normale Sterbliche ohne übernatürliche Kräfte das denn können?« Ich hatte das ein wenig ironisch gesagt, meinte es aber doch ziemlich ernst. »Hatten Sie bestimmte Pläne mit dem Schmuck, Ruth?« fragte Brian zurück. »Möchten Sie ihn tragen, oder wollen Sie ihn verkaufen, so wie es Ihnen der Juwelier ja wohl geraten hat?« »Aber nein, beides kommt nicht in Frage«, sagte ich mit Nachdruck. »Schon Tante Constance hatte es ja angedeutet, und jetzt durch Lady Annabels Worte weiß ich es ganz genau, diese Kamee war kein Geschenk an die Zofe Mira. Sie sollte nur aufbewahrt und vor dem Zerstörungswahn von Titus Fabiani beschützt werden. Mira und die Frauen, die nach ihr kamen, haben sich daran gehalten. Und ich möchte den Edelstein nun Ihnen zurückgeben, Brian. Sie sind das heutige Familienoberhaupt der Grafen Greystone, also sollte dieses Erbstück auch wieder in Ihren Besitz übergehen.« »Ist das Ihre ehrliche Meinung, Ruth?«
»Aber natürlich.« »Dann schlage ich folgendes vor: Wir befolgen den Vorschlag des Juweliers. Wir stiften – wir beide gemeinsam, verstehen Sie – wir stiften dieses ja wohl wirklich einmalige Stück einem Schmuckmuseum. Ich werde mich entsprechend umhören, es sollte wirklich ein bedeutendes, international bekanntes Museum sein. Und zugleich mit der Kamee übereignen wir diesem Museum dann die Geschichte nicht nur dieses kleinen einzigartigen Kunstwerkes, sondern auch die tragische Liebesgeschichte von Lady Annabel. Damit haben wir ihren Herzenswunsch Erfüllt. Sie und ihre Schönheit werden unvergessen bleiben, sie sind in diesen Stein geschnitten und werden mit ihm weiterleben. Was halten Sie von dem Vorschlag, Ruth?« »Ich denke, er ist sehr gut.« »Dann sind Sie also einverstanden. Das freut mich. Und ich hätte dann da auch noch einen anderen Vorschlag. Ich hoffe, er wird Ihnen ebenso gefallen.« »Das kann ich natürlich erst sagen, wenn ich diesen Vorschlag kenne.« »Wir beide haben uns ja gewissermaßen durch Lady Annabel und ihren Schmuck kennengelernt. Ich möchte darin gern so etwas wie eine Fügung sehen. Ja, ja«, lächelte er, »auch Männer können romantisch sein. Ich wußte zwar schon vorher von Ihnen, nämlich durch die schwärmerischen Erzählungen von Ihrer Tante. Aber wer weiß, ob wir uns ohne Lady Annabel jemals kennengelernt hätten. Und nun möchte ich nicht, daß sich unsere Wege wieder trennen, Ruth. Greystone Palace ist viel zu groß für einen Junggesellen, das Schloß braucht eine Herrin, und ich, Ruth, ich brauche jemanden zum Liebhaben. Könntest du dir vorstellen, diejenige zu sein? Du brauchst nicht sofort zu antworten, aber ich möchte, daß du schon einmal darüber nachdenkst, damit du nicht ganz so
überrascht bist, wenn ich dich das nächste Mal frage. Oder…« Brian ergriff meine Hand, rückte mir ganz nahe und schaute mir tief in die Augen, »oder weißt du die Antwort schon jetzt? Es muß doch einen Grund gehabt haben, warum Lady Annabel dich in dieses Haus geholt hat.« »Das war doch die Kamee«, widersprach ich leise. »Nein, Ruth, nicht nur die Kamee. Ich denke, das Schicksal hatte da auch seine Hand im Spiel. Unser Schicksal, Ruth. Nicht nur das von Lady Annabel. Wollen wir dieses Schicksal gemeinsam aufnehmen, Ruth? Wollen wir uns und anderen beweisen, wie glücklich man in Greystone Palace sein kann? Sag ja, Ruth, bitte.« Aber dann ließ Brian mir nicht einmal mehr die Zeit, um ›ja‹ zu sagen. Er nahm mich dann einfach in die Arme.