Christian Montillon & Christian Schwarz
Der Höllenhund Professor Zamorra Hardcover Band 27
Zaubermond Verlag
Das De...
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Christian Montillon & Christian Schwarz
Der Höllenhund Professor Zamorra Hardcover Band 27
Zaubermond Verlag
Das Desaster nimmt seinen Lauf … Die Quelle des Lebens wurde vernichtet – und nun droht die Quelle des Todes! Asmodis hat Zamorra sein wahres Gesicht gezeigt, und das ist schlimmer, grausamer und mörderischer, als man es je geahnt hat. Stygia ist eines seiner ersten Opfer, und damit ist der Weg frei, auf dem nichts und niemand Asmodis stoppen kann … Professor Zamorra hat im Lauf dieser Ereignisse alles verloren, was sein Leben ausgemacht hatte: Seine Heimat, seine Freunde … seine geliebte Nicole Duval. Mit allen Mitteln versucht er nun, seine Partnerin ins Leben zurückzuholen. Nichts, was er dafür nicht tun würde, keine Erniedrigung, die ihm zu groß wäre. Ihm, dem Vasallen des Asmodis. Ihm – dem HÖLLENHUND!
Vorwort Willkommen zurück beim »Desaster-Zyklus«, der euch angenehme Unterhaltung verspricht. Oder der vielleicht auch alles andere als »angenehm« ist, je nach Blickwinkel. Leicht zu verdauen ist es jedenfalls nicht, was euch auf den folgenden Seiten geboten wird, da führen wir die Tradition der Bücher 25 und 26 fort. Fast alle von Zamorras Freunden sind tot. Nicole ist längst gestorben. Zamorra ist tiefer gefallen als es je vorstellbar war, bis hin zum Knecht des Teufels – ach ja, der Teufel: Diesen Posten hat wieder Asmodis inne, der seine jahrelange Existenz als Sid Amos nur geheuchelt hat, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, zum richtigen Zeitpunkt zur Quelle des Lebens gelangen zu können. Dort hat er, genau wie geplant, dieser und deren Hüterin den endgültigen Todesstoß versetzt und damit den Weg für die Quelle des Todes aus den Tiefen der unterdrückten Schöpfung gebahnt. Bei diesem höllischen Potpourri mischt übrigens Svantevit kräftig mit, der seine vier Gesichter vereinigen will … und die gesamte Erde samt der Hölle bedroht, was einem gewissen Asmodis wiederum gar nicht gefällt. Droht ein Desaster auch für die Höllenhierarchie? Oder ist dieses Desaster längst geschehen? Lucifuge Rofocale wurde seines Amtes enthoben und zum Mensch verwandelt. Stygia ist tot. Ein Alptraum? Könnte man meinen, und doch ist es Realität. »Wie wollt ihr Autoren am Ende da wieder rauskommen?«, hörten wir diverse Leute fragen. Keine Angst, das wissen wir. Wenn wir jemals rauskommen wollen, wer weiß das schon. Das nächste Buch, das im November erscheinen wird, verspricht der Hammer zu werden, und unser Kollege Volker Krämer ist schon am schwitzen. Denn »billig« wird die Lösung auf keinen Fall, und so manches, was in der PZ-Heftromanserie bislang wenig gereimt erschien, wird in ein ganz anderes Licht getaucht werden.
Nun wollen wir euch nicht länger von der Lektüre dieses Buches abhalten, nur noch eins vorwegschicken, und dazu ergreife ich, Christian M., das Wort. Denn mit meinem neuerlichen Beitrag zum »Desaster-Zyklus« beginnt dieses Buch, und im Romantext will ich nicht lange Erklärungen vorwegschicken, deshalb tue ich es auf diese Weise, um euch den Einstieg zu erleichtern. Also, aufgepasst: Die Hölle der Unsterblichen verging, als die Quelle des Lebens zerstört wurde. Denn die beiden sind Gegenpole ein und derselben Notwendigkeit. Mit der Zerstörung der Unsterblichenhölle kamen alle gefangenen und gequälten Auserwählten frei und kehrten an den Ort ihres Todes zurück, nur in der Jetztzeit. Sie haben durch die Zeit der Qual ihren Verstand verloren und wissen nicht, wo und wer sie sind. Meistens zumindest. Von einigen dieser Schicksale erfahren wir im sechsten Teilroman des »Desaster-Zyklus«, gleich im Anschluss. Drei Kapitel sind einzelnen Schicksalen gewidmet, und eines davon konnte nur einer schreiben: unser Freund und Kollege Volker Krämer. Kenner der Serie wissen, warum und werden das Kapitel leicht erkennen, auch ohne dass er dort explizit als Autor genannt ist. Außerdem hören wir in wenigen Seiten wieder vom »Sammler« Lucifuge Rofocale, den die MÄCHTE DES LEBENS UND DES TODES hatten töten wollen, als die Hölle der Unsterblichen verging. Er wurde nicht mehr gebraucht, behaupteten die MÄCHTE. Der listige Erzdämon überzeugte sie jedoch davon, dass er sich um seine »Kinder« kümmern müsse – eben um die Auserwählten, die orientierungslos durch die Welt(en) irren. So machten ihn die MÄCHTE zu einem Menschen und zum Sammler der Auserwählten. Doch Lucifuges Odyssee ist noch lange nicht an ihr Ende gelangt. Ihm zur Seite stehen Andrew Millings und Johannes, die beiden noch lebenden Auserwählten … will sagen, die beiden noch »echt« lebenden Auserwählten, die nie zuvor gestorben waren. Andrew war einst der Zwitter, eine Verschmelzung dreier Wesen: seines eigenen Geistes, desjenigen von Torre Gerret und des Langkas. Das Langka
war ein mysteriöser magischer Gegenstand, der hier nicht länger zu interessieren braucht, zu Torre Gerret sollen ein paar abschließende Worte verloren werden. Er war einst auch auserwählt, in derselben Generation wie Professor Zamorra. Einer von ihnen hätte den anderen töten müssen, um von der Quelle trinken zu können. Zamorra trickste dieses alte Gesetz aus und verschonte Torre Gerret. Jahrelang hörte man dann nichts von ihm, nachdem er starb und in die Hölle der Unsterblichen geführt wurde. Dann rief er um Hilfe, Zamorra und Andrew wollten ihn befreien, eine schicksalhafte Ereigniskette führte zur Entstehung des Zwitters … und schließlich zu Gerrets Rückkehr in die Hölle der Unsterblichen. Warum ich soviel darüber erzähle? Nun, logischerweise ist auch Torre Gerret unter denen, die auf die Erde zurückgekehrt sind … Das sollte genügen, um euch wieder einzustimmen auf das düstere Geschehen. Wenn ihr im sechsten Teilroman unseren Lieblingsparapsychologen vermisst, so wartet in Ruhe auf den siebten … knapp vor der Hälfte dieses Buches ist es soweit. Aber ob dieser Zamorra derjenige ist, von dem ihr lesen wollt? Der Höllenhund wartet. Levertsweiler und Wattenheim Christian Schwarz und Christian Montillon, im Juni 2008
Sechstes Buch »Eine Handvoll Zeit«
von Christian Montillon
26. Schicksal eines Auserwählten: Kerlon Er spürte die permanente Bedrohung beinahe mit jeder Faser seines ausgemergelten Körpers, doch zu sehen war davon nichts, absolut gar nichts. Der Boden, über den er schon seit Stunden – oder waren es Tage? – mit nackten Füßen schritt, war grau und trist und erinnerte ihn an unbearbeiteten Ton, der sich in einer weitreichenden Wellenflut in alle Himmelsrichtungen ausbreitete, die mitten in der Bewegung erstarrt zu sein schien. Berge oder Hügel gab es nicht, auch keine Wälder, keine Flüsse, die sich mäandernd durch die Wellentäler zogen, keine Vögel, keine Insekten, nicht einmal vertrocknete Sträucher, Grashalme oder gar Gebeine, die darauf schließen ließen, dass innerhalb der letzten fünfhundert oder tausend Jahre auch nur ein einziges Lebewesen seinen Fuß auf diese Welt gesetzt hatte. Es gab schlicht nichts außer einem schier endlosen grauen Meer, das sich bis weit zum Horizont erstreckte, der sich hinter einem feinen nebelartigen Gespinst verbarg. Darüber, als hätte ihn der Nebel ausgespieen, spannte sich ein pechschwarzer sternenloser Nachthimmel, in dessen Zenit eine schwarze Sonne prangte. Das einzige Licht, das die lehmartige Oberfläche erreichte, wurde von der Sonne abgesondert, von unzähligen Protuberanzen, die sich wie Schlangen wanden und in einem fahlen Grün leuchteten. Unter normalen Umständen hätte er Panik empfinden müssen oder zumindest Furcht; doch aus irgendeinem Grund, der sich in den Tiefen seines Unterbewusstseins versteckt hielt, war dem nicht so. Vielmehr manifestierte sich mit jedem weiteren Schritt, den er vor den anderen setzte, die Gewissheit, schon einmal auf dieser Welt gewesen zu sein. Irgendwann. Vor unendlich langer Zeit.
Vor mehr als fünfhundert Jahren? Oder waren es tausend? Hatte es damals auf dieser Welt noch Leben gegeben oder war sie schon ebenso ausgestorben gewesen wie sie sich ihm im Augenblick darbot? Er hielt für einen Moment inne, kniff die Augen zusammen und lauschte in das fahle Dämmerlicht, das den Boden kaum mehr erreichte, als könne es ihm das Geheimnis offenbaren. Nichts. Wirklich nichts? Er schüttelte den Kopf. Etwas war da, etwas, das er weder sehen noch hören konnte und das trotzdem existierte. Nein, diese Welt war nicht tot. Nicht im herkömmlichen Sinne. Doch wo befand er sich? Hatte diese Welt einen Namen? Wie war er überhaupt hierher gekommen? So sehr er sich auch bemühte, ihm schien jegliche Erinnerung an die Zeit vor seinem plötzlichen Erwachen auf dieser Welt genommen worden zu sein. Das einzige, was ihm geblieben war, waren gelegentliche kurze, bruchstückhafte Bilder, die wie Blitze vor seinem geistigen Auge auftauchten und schneller wieder verschwanden, als er ihrer gewahr werden konnte. Bilder von schrecklicher Energie, von dämonischer Bosheit und von … … ja, von den Stäben eines Käfigs. Und so setzte er einen Fuß vor den anderen, legte Meter um Meter zurück, einem Ziel entgegen, das er nicht einmal kannte. Vielleicht lag das, wonach er suchte, hinter dem Horizont, der sich von ihm genauso rasch entfernte wie er sich ihm näherte. Der Weg ist das Ziel. Wo hatte er diesen Satz schon einmal gehört? Hatte er ihn überhaupt schon einmal gehört? Er lachte. Weder Hunger noch Durst verspürte er, weder Furcht noch Ungeduld – in ihm herrschte nur eine unendliche Leere, bar jeglicher Emotion. Wer war er? Woher kam er? Wohin ging er? Und was war der Sinn seines – er stockte – seines Lebens? Lebte er überhaupt? Oder war er längst tot? Gefangen in einem Zwischenreich, auf der ewigen Suche nach Freiheit oder Erlösung?
Kerlon. Ein Gedanke, nicht mehr als ein zuckender Blitz in seinem Gehirn. War das sein Name – Kerlon? Er formulierte tonlos immer wieder diese beiden Silben, die ihm seltsam vertraut vorkamen. Und so beschloss er nach einiger Zeit, sich fortan Kerlon zu nennen. Um sich etwas abzulenken, zählte er seine Schritte. Als er bei Einhunderttausend angelangt war, hielt er erneut inne und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel spannte sich noch immer wie ein dunkles Tuch über ihn und diese Welt, doch damit hatte er gerechnet. Nur damit nicht, dass die schwarze Sonne mit den grün schimmernden Protuberanzen, die ihn immer stärker an das Schlangenhaupt der Medusa erinnerten, wie festgemeißelt genau am selben Fleck stand wie noch vor einhunderttausend Schritten, gerade so, als wäre überhaupt keine Zeit verstrichen. Gab es auf dieser Welt womöglich gar keine Zeit? Stand die Zeit nur still? Oder war die Zeit ebenfalls – tot? Er schalt sich einen Narren. Zeit war allgegenwärtig. Sie konnte nicht so einfach sterben. Oder doch? War da nicht etwas gewesen, in seinem früheren Leben, war da nicht – Wasser gewesen, in dem die Zeit geronnen war auf ewig, auf dass er … Abermals überkam ihn ein Anflug von Unbehagen. Vielleicht war es sogar schon etwas mehr – Furcht? Und wenn ja, wovor fürchtete er sich? Vor der Zeit? Vor der Ewigkeit? Vor seinen Erinnerungen, die sich vor ihm versteckten wie ein Kind, das von Geburt an immer wieder misshandelt wurde? Stäbe. Gitterstäbe. Ein Gefängnis? Er schloss die Augen, versuchte, sich das flüchtige Bild noch einmal in Erinnerung zu rufen. Schreie. Immerwährende, furchtbare Schreie.
Die Schreie der Gequälten. Seine Schreie? Als er die Augen aufschlug, bemerkte er, dass er sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt. Verwirrt ließ er die Arme sinken. Doch die Schreie verstummten nicht. Warum sollten sie auch, denn hätte es nicht umgekehrt sein müssen? Wieder presste er die Hände auf die Ohren. Schreie. Arme herunter. Noch immer Schreie. Sie kamen von überall her. War auf dieser Welt etwas erwacht? Er drehte sich einmal, zweimal um die eigene Achse. Doch da war nichts. Nichts außer diesen grauenhaften, unmenschlichen Schreien. Es dauerte einen Moment, ehe ihm bewusst wurde, dass er die Schreie nicht hörte. Nicht mit den Ohren. Er hörte sie in Gedanken. Sie kamen direkt aus seinem Kopf. Kerlons Lippen lösten sich voneinander. Er riss den Mund auf. Schrie. Schrie um die Wette mit eintausend Millionen anderer Stimmen. Doch sein Brüllen verhallte scheinbar ungehört in der Weite des grauen Wellenmeeres. Wer sollte ihn auch vernommen haben? Alles auf dieser Welt war doch tot. Sogar die verdammte Zeit war tot. Nur nicht dieser eine Teil seines Bewusstseins, auf den er liebend gerne verzichtet hätte. Kerlon rannte los. Stolperte. Rappelte sich wieder auf und hetzte weiter. Irgendwo hin. Egal wohin. Nur fort von … fort von … was eigentlich? Er konnte nicht fliehen, nicht vor sich selbst, nicht vor seinen Erinnerungen. Das Gefühl, das ihm in jenem Moment der Erkenntnis durch die Eingeweide kroch, kam nahe heran an das, was er als Angst bezeichnet hätte. Nein!, korrigierte er sich. Es war tatsächlich Angst.
Furchtbare Angst. Nun hatte er endlich Gewissheit. Und endlich eine Emotion, die er greifen konnte, die ihm Halt gab, so entsetzlich sie auch sein mochte. Er rannte noch immer. Sein Atem flog. Die Arme ruderten unbeholfen wie Dreschflegel, behinderten ihn mehr, als sie ihm nützten. Doch mit jedem Schritt, jedem Meter, den er hinter sich brachte, wurde ihr Spiel harmonischer. Schließlich keuchte er. Wie er dieses rasselnde Geräusch, das aus seinen Lungen, seiner Kehle drang, liebte, überlagerte es doch zumindest zeitweise diese unerträglichen, grässlichen Schreie, die aus der Vergangenheit direkt in seinen Schädel krochen und dort explodierten. Ja, inzwischen konnte er die Schreie sogar sehen. Sie manifestierten sich in unzähligen farbigen Blitzen, in einem Feuerwerk, das zunächst in allen Farben des Spektrums leuchtete, sich dann wie eine Spirale ineinander wand, ehe es schließlich in einem gleißenden Inferno gipfelte, das ihm die Sinne vernebelte. Er schlug lang hin. Verlor das Bewusstsein. Ja, er musste das Bewusstsein verloren haben, denn für einen winzig kleinen Augenblick war nichts mehr gewesen. Keine Schreie, keine Blitze, keine Farben, keine Emotionen. Nicht einmal Schwärze. Einfach nichts mehr. Wie sehr hatte er diesen kurzen Moment der Ruhe genossen. Wenn er doch nur einen Lidschlag länger die Möglichkeit dazu gehabt hätte … Kerlon spürte, wie sich neue Gefühle in ihm Bahn brachen. Sehnsucht, weil er sich nichts mehr wünschte als diese unendliche Stille. Wehmut und Trauer, weil da irgendetwas war, etwas, das weit in die Vergangenheit reichte und das ihn mit aller Gewalt daran hinderte, endlich Ruhe zu finden. Und Verzweiflung, weil er mit einem Mal erneut begriff, wie unendlich lange die Ewigkeit sein konnte.
Nur allmählich verebbten die Schreie in seinem Kopf, wurden leiser, doch sie verstummten nicht. Das gleißende Feuerwerk zuckender Lichtblitze hinter seinen geschlossenen Lidern verblasste mehr und mehr, doch es verschwand nicht. Als Kerlon die Augen aufschlug und wieder einigermaßen klar sehen konnte, durchzuckte es ihn wie ein Peitschenhieb. Etwas hatte sich verändert. Die Oberfläche. Mit einem Mal kam sie ihm nicht mehr glatt und eben vor, trotz der zahllosen Wellenhügel und -täler, sondern wirkte, als wären zwei in entgegengesetzter Richtung verlaufende Wellen aneinander gestoßen und maßen nun ihre Kräfte. Wie in Zeitlupe wuchsen sie in die Höhe, türmten sich auf zu einem, nein, zwei bedrohlichen Hügeln, die alsbald miteinander verschmolzen. Dies alles fand weit entfernt statt, direkt unter dem Horizont. Es schien fast, als sei die Oberfläche dieser Welt plötzlich zum Leben erwacht, als gebäre sie ständig neue Formen und Umrisse. Einbildung? Ganz sicher war es das. Während der Panikattacke war Kerlon abgelenkt gewesen, gar nicht in der Lage, auf seine Umgebung zu achten. Aber hätte ihm das Auftürmen von grauer, tonartiger Masse zu Hügeln oder einem Berg nicht auffallen müssen? Hätte er nicht irgendwelche Stöße unter der Kruste oder zumindest Vibrationen verspüren müssen? Er wischte sich über die Augen. Blinzelte. Der Berg war verschwunden. Kerlon wusste nicht, ob er beunruhigt oder erleichtert sein sollte. Er entschied sich für das letztere. Offensichtlich hatte er nur halluziniert. Kein Wunder bei dem, was ihm in den vergangenen Stunden widerfahren war. Was nun? Nach kurzem Zögern setzte er seinen Weg fort. Er hatte ohnehin keine andere Wahl. Meter um Meter schritt er voran, dem Horizont entgegen und dem grauen nebelartigen Gespinst, das sich noch immer davor befand.
Nach weiteren einhunderttausend Schritten – oder waren es bereits fünfhunderttausend? Eine Million? – hielt er abermals kurz inne. Wieder hatte sich etwas verändert. Im Gegensatz zu vorhin – welch seltsamer Begriff für eine Zeitspanne, die beinahe einen ganzen Erdentag umfasste – hatte sich der Nebel nicht von ihm fort bewegt; er befand sich nach wie vor an Ort und Stelle, während er, Kerlon, ihm ein gutes Stück näher gekommen war. Aber warum auf einmal? Warum war es ihm diesmal gelungen und vorhin – gestern – nicht? Kerlon kannte die Antwort. Er kannte sie sehr gut; er konnte im Moment nur nicht auf sie zugreifen. Sein Unterbewusstsein schwieg beharrlich. Wie ein zahnloser Greis, dem man die Zunge herausgeschnitten und die Stimmbänder durchtrennt hatte, obwohl Kerlon deutlich spürte, dass es ihm etwas mitteilen wollte. Wieder brachte er zweihunderttausend Schritte hinter sich, und wieder verstrichen zwei Erdentage. Da war er wieder, dieser Begriff. Erdentage … Befand er sich auf der Erde? Was war die Erde? Eine Welt? Ein Planet? Seine Heimat? Kerlon schüttelte den Kopf. Eine sinnlose Geste, da ihn bestimmt niemand sehen konnte. Aber ihm half sie, seine Gedanken zu ordnen und in geregelte Bahnen zu lenken. Erde. Ja, er kannte diesen Begriff, hatte ihn schon oft gehört. Früher. Kerlon war mit einem Mal davon überzeugt, dass er von der Erde stammte und dass diese Welt, über die er seit Tagen hinwegwandelte, mit Sicherheit nicht die Erde war. Doch was war sie dann? Ein anderer Planet? Eine Welt in einer anderen Dimension? Oder nur eine Illusion? Er erschrak über die Flut nüchterner Gedanken, die geradezu aus seinem Innersten quollen; doch er wusste auch, dass sich damit die verschüttet geglaubten Erinnerungen Stück für Stück wiederherstellten.
Zuerst sein Name. Dann der Käfig und die Schreie. Die Erde. Eine andere Dimension. Was wollte ihm sein Unterbewusstsein mitteilen? Wollte es ihn warnen? Und wenn ja – wovor? Vor einer Gefahr? Vor jener permanenten Bedrohung, die wie ein Damoklesschwert über seinem Haupt schwebte, seit er wieder erwacht war? Worin bestand diese Bedrohung? Kerlon richtete den Blick nach vorne, taxierte den Nebel, der kaum mehr als zehn oder fünfzehn Steinwürfe entfernt war. Halluzinierte er schon wieder oder waren da tatsächlich drei, vier humanoide Gestalten, die sich fast schwarz gegen das Grau des Nebelgespinstes abhoben? Waren es Menschen? Leidensgenossen? Oder die Bewohner dieser Welt? War er am Ende gar nicht allein? Er beschleunigte seine Schritte, rannte förmlich auf die Gestalten zu, die reglos dastanden und ihn überhaupt nicht zu bemerken schienen. Kerlon rief ihnen etwas zu, doch sie reagierten nicht. Er winkte und sprang, winkte und brüllte, so lange, bis ihm die Stimme versagte – noch immer keine Reaktion. Waren die Anderen womöglich tot? So tot wie alles auf dieser verfluchten Welt? Als er sich den Gestalten um weitere tausend Schritte genähert hatte und sie nun klar und deutlich erkennen konnte, jedes einzelne schreckliche Detail, bekam er endlich die Antwort auf seine drängenden Fragen. Die Gestalten waren tot. Zumindest hatte es den Anschein. Sie standen leblos und starr. Wie Skulpturen. Ihre hageren Körper wirkten, als habe ein wahnsinniger Bildhauer sie aus demselben Material geformt, aus dem auch die gesamte Oberfläche dieser Welt bestand: aus grauem Ton, und es schien, als ob irgendetwas den Künstler mitten in seiner Arbeit davon abgehalten hatte, sein Werk zu vollenden.
Die Gesichter der Skulpturen waren vollends modelliert – die hohe Stirn, die tief liegenden Augen mit den buschigen Brauen, die markante, scharfrückige Nase, die schmalen Lippen, das hervorspringende Kinn, selbst die hohlen Wangen, das schulterlange Haar und der kurz geschnittene Vollbart; jedes noch so kleine Detail, jede Falte war liebevoll herausgearbeitet worden. Doch je tiefer Kerlon an den Gestalten herabsah, umso ungenauer und skizzenhafter wirkten sie. Die Beine waren klobig und ungeschlacht, schienen noch Teil des tönernen Bodens zu sein, in dem sie bis zu den Knien eingesunken waren – oder aus dem sie sich erhoben. Kerlon ging langsam um die vier humanoiden Standbilder herum. Und erschrak. Die Skulpturen glichen einander wie eineiige Zwillinge, waren absolut identisch – bis ins kleinste Detail. Was jedoch noch viel erschreckender war, viel bizarrer, viel perverser … sie waren naturgetreue Nachbildungen von ihm, Kerlon, von seinem Körper, seiner Statur, seiner Physiognomie – geschaffen nach seinem Ebenbild. Wie war das möglich? In dem Moment, in dem es ihm wie Schuppen von den Augen fiel, geschah das Unfassbare. Die Skulpturen bewegten sich. Zunächst nur ganz langsam, wie in Zeitlupe. Sie schienen zu zerfließen, wie Kerzenwachs, das man über eine offene Flamme hielt. Der unheimliche Prozess begann oben, an den Köpfen, in den Gesichtern, die sich auf groteske Art und Weise verformten. Sie flossen auseinander, glitten Zoll um Zoll nach unten, große breitflächige Tropfen und Schlieren bildend, die beinahe widerwillig hinabrutschten an den Körpern, die nun ebenfalls in sich zusammenzufallen und mit der tönernen Oberfläche eine Einheit zu bilden begannen. Kerlon war vor Schreck wie gelähmt. Alles in ihm schrie, ermahnte ihn zur Flucht, doch es gelang ihm nicht, den Blick loszureißen von den grauenvoll verzerrten, zerfließenden Gesichtern der Skulpturen. Erst, als die Skulpturen beinahe vollständig in sich
zusammengesunken waren und in konzentrischen grauen Wellen über den Tonboden krochen, erwachte er aus der Lethargie. Doch da war es bereits zu spät. Sie hatten ihn umzingelt. Es waren Tausende, Abertausende von diesen tönernen, lehmartigen Wesen, die sich vollkommen lautlos aus dem Boden erhoben und sich ihm Zoll für Zoll näherten. Die meisten waren noch nicht einmal fertiggestellt, sondern steckten zum Teil bis zu den Hüften oder zur Brust noch im Boden fest, aus dem sie wie eitrige Geschwüre hervorwucherten. Er starrte in sein eigenes Konterfei – tausendfach. Und das nicht zum ersten Mal, nein. Er hatte exakt dieselbe Situation schon einmal erlebt – damals, vor vielen Hundert oder gar Tausend Jahren. Die Erinnerung sickerte unaufhaltsam aus seinem Unterbewusstsein. Zunächst sanft wie ein kleiner Bergquell, der sich irgendwann einmal in einen Bach ergoss. Der wiederum mündete in einen Fluss, dann in einen reißenden Strom, der sich unaufhaltsam durch die Landschaft fraß, sehnsüchtig nach dem Meer lechzend, bereit, sich zu vereinigen mit den unendlichen Ozeanen, auf denen Wellenberge, hoch wie zehn Schiffsmasten, ihre zerstörerische Wut an all jenen ausließen, die es gewagt hatten, ihnen zu nahe zu kommen. All seine Emotionen, seine Erinnerungen, die schreckliche Vergangenheit – all das brach über ihn herein, überschwemmte ihn mit unbändiger Gewalt. Er hieß tatsächlich Kerlon. Und er war der letzte, der den Untergang des sagenumwobenen Kontinents Atlantis überlebt hatte. Kerlon hatte fortan sein Leben der Dämonenjagd verschrieben und sich geschworen, all jene Dämonen und Schwarzblüter zur Rechenschaft zu ziehen, die dafür verantwortlich waren, dass Atlantis nach mehr als zehntausendjähriger Zivilisation für immer vom Antlitz des Planeten Erde hinweggefegt worden war. Es hatte ihn viele Jahre gekostet, Jahrzehnte, bis er die meisten Dämonen aufgespürt und mit eigenen Händen getötet hatte. Nicht
selten war er dabei nur knapp mit dem Leben davongekommen. Einzig die Drahtzieher, eine Handvoll mächtiger Dämonen, die es verstanden hatten, sich die ganze Zeit über versteckt zu halten, waren noch übrig geblieben. Es waren die, die er ohnehin nicht vernichten könnte, weil sie zur Hölle und zum Gleichgewicht gehörten, LUZIFER selbst, der KAISER, und sein Erster Lucifuge Rofocale samt dem Höllenfürsten Asmodis. Sie würden ewig sein. Doch ein Handlanger, vielleicht der letzte, der noch lebte, hatte ihn schließlich in die Falle gelockt. Phtoloor, der Golem von den Sternen, wie sich der Dämon gerne selbst nannte. Durch ein transzendentales Tor war Kerlon damals in eine andere Dimension gelangt und ebenfalls auf dieser Welt gestrandet, die eigentlich gar keine richtige Welt war, sondern ein Lebewesen, eine Amöbe von den Ausmaßen eines ganzen Planeten. Das Geschöpf der Finsternis bezog seine Nahrung aus den Protuberanzen der Dämonensonne N'k'hor – und aus der Lebensenergie derjenigen, die sich auf seine Oberfläche verirrt hatten. Auch Kerlon war der Amöbe seinerzeit zum Opfer gefallen – vor langer Zeit. Vor mehr als fünftausend Jahren … Die Flut der Erinnerungen ebbte nur langsam ab, und als er wieder klar denken konnte, hatten sich ihm die tönernen Gestalten bis auf wenige Meter genähert. Dann ging alles rasend schnell. Die graue Oberfläche riss mit einem schmatzenden Geräusch auf, teilte sich zu einem riesigen zahnlosen Schlund, aus dem ein dumpfes urwelthaftes Grollen ertönte. Im gleichen Atemzug stürzten sich die unheimlichen Gestalten auf ihn und begruben ihn unter sich. Kerlon wehrte sich verzweifelt gegen die tausendfache Umklammerung. Er kämpfte mit aller Kraft, derer sein ausgezehrter Körper noch in der Lage war. Er schlug zu, trat mit beiden Beinen wahllos in die graue Masse unförmiger Körper, doch die Wesen schienen keinerlei Schmerz zu empfinden. Im Gegenteil. Sie veränderten ihre Form ständig, wurden weich und biegsam wie Gummi, so dass Kerlons Schläge beinahe im Nichts verpufften. Gegen die Übermacht der Grauen hatte er nicht den Hauch einer
Chance. Wie eine gigantische Welle schwappten sie über ihm zusammen, drückten ihn immer tiefer in den Boden, der nun ebenfalls nachgab. Er sank ein. Tiefer, immer tiefer. Kerlon versuchte sich irgendwo festzuhalten, doch kaum hatte er etwas erwischt, einen Arm, ein Bein, einen Teil der Oberfläche, kroch ihm die graue Masse schon wieder aus den Händen. Panik wallte in ihm hoch. Er schrie. Schrie so lange, bis sich die graue Masse über sein Gesicht legte und ihm in Ohren, Nase, Mund und schließlich in den Rachen kroch. Er bekam keine Luft mehr. Erstickte. Und starb. So wie damals. Das erste, was Kerlon sah, als er wieder erwachte, war eine schwarze Sonne mit grünen Protuberanzen, die wie eine düstere Drohung über ihm am Sternenlosen Himmel prangte. Er richtete sich schwerfällig auf. Die graue Oberfläche des lebenden Planeten lag nun wieder still und friedlich vor ihm. Doch Kerlon wusste, dass der Schein trog. Das Wesen, die riesige Amöbe, lauerte nur darauf, sich bald wieder ein neues Opfer einverleiben zu können. Dann würde sie zuschlagen und ihn erneut töten. Und er, Kerlon, der Unsterbliche, würde erneut zum Leben erwachen. Immer und immer wieder. Wann es das nächste Mal so weit sein würde, entzog sich seiner Kenntnis. Im Grunde war es auch nicht wichtig. Denn das Wesen hatte Zeit. Viel Zeit. Alle Zeit der Ewigkeit. Genau wie er. Kerlon begann zu zittern, als ihm die ganze Tragweite seines
Schicksals bewusst wurde, eines Schicksals, das weit schlimmer war als der Tod. Es war der milliardenfache Tod. Die Beine des Unsterblichen gaben plötzlich nach. Er fiel auf die Knie, zutiefst erschüttert. Vergrub das Gesicht zwischen den Händen und weinte. Tränen für die Ewigkeit. Irgendwann fiel ein Schatten über ihn. Kerlon sah nicht einmal auf. Sollten die grauen Wesen ihn doch holen. Er würde sich nicht dagegen wehren. Mit etwas Glück gelang es der Amöbe, ihn zu töten. Vielleicht nicht dieses Mal, und vielleicht auch nicht die nächsten hundert Male. Aber möglicherweise in zehntausend Jahren. Wenn er schwach genug war. Kerlon wusste jedoch, dass dies nie der Fall sein würde. »Steh auf«, sagte da jemand. Kerlon hob den Kopf an und blinzelte. Eine Hand streckte sich ihm entgegen. »Steh auf«, sagte die Stimme erneut. »Es ist Zeit zu gehen.«
27. Das Licht in der Ebene Lucifuge Rofocale saß am Rand der weißen Ebene und atmete tief durch. Ja, er atmete … Inzwischen hatte er sich so sehr daran gewöhnt, dass es ihm kaum noch auffiel. Dennoch war es überaus bemerkenswert, und wenn er darüber nachdachte, lief ihm das eine oder andere Mal ein Schauer über den Rücken. Er war ein Mensch. Wie erstaunlich. Wie wunderbar. Wie herrlich. Und welche Erkenntnis. Immer wieder erschütterte es ihn bis ins Mark. Doch gleichzeitig kam die Erinnerung daran, was er früher gewesen war. Immer deutlicher erinnerte er sich an jedes Detail seiner Vergangenheit. An all die Besprechungen mit LUZIFER, als die Zeit entstand und die MÄCHTE DES LEBENS UND DES TODES eine Handvoll Zeit nahmen und sie gerinnen ließen zum Wasser, das fortan in Ewigkeit die Quelle des Lebens speisen sollte. In Ewigkeit … Ha! Diese Ewigkeit war vergangen und das Neue war entstanden, weil Asmodis, der ewige Falschspieler und Täuscher, seinen verderblichen Plan in die Tat umgesetzt hatte. Es hatte ihn viel gekostet, doch – das musste Lucifuge Rofocale nahtlos eingestehen – für den Ex-Teufel hatte es sich gelohnt. Denn er hatte nicht nur seinen alten Posten als Herrscher der Hölle zurückerhalten, sondern sich auch zum Herrn der Quelle des Todes aufgeschwungen – was immer das auch bedeuten mochte. Lucifuge Rofocale wusste nichts darüber, und ihm schien, dass nicht einmal Asmodis selbst die Bedeutung und Konsequenz des Geschehens vollends durchschaute.
Die Quelle des Todes … Wie viel Zeit hatte Lucifuge Rofocale damit verbracht, über dieses monströse Etwas nachzudenken, das sich aus den Tiefen der unterdrückten Schöpfung in die Wirklichkeit geschoben hatte. Sie war entstanden, als die Quelle des Lebens versiegte. Als die Hüterin der Quelle starb. Als Asmodis triumphierte und die neue Quelle in Besitz nahm. Für Lucifuge Rofocale hatte sich in diesen Momenten alles geändert. Denn als die Quelle des Lebens versiegte, war auch seine Hölle der Unsterblichen nach und nach zerstört worden. Seine Existenzgrundlage, wegen der das Amt in der Ordnung der Dinge geschaffen worden war, das er seit Ewigkeiten bekleidete. Nur wegen der Hölle der Unsterblichen war Lucifuge Rofocale Satans Ministerpräsident gewesen, der Oberste in den Schwefelklüften, mächtiger noch als selbst der Höllenherrscher auf dem Thron, nur dem KAISER LUZIFER selbst unterstellt. Als die Hölle der Unsterblichen zerbrach, verlor er seine Existenzberechtigung. All die Käfige hatten sich aufgelöst, in denen er die Auserwählten quälte, die vom Wasser des Lebens getrunken und schließlich doch irgendwann einen gewaltsamen Tod gefunden hatten. Die Seelen der Unsterblichen kehrten zurück an die Orte ihres Todes, auf die Erde oder auf tausend andere Welten. Sie nahmen wieder körperliche Form an, weil es für sie keinen Tod, keine Erlösung gab – sie waren Unsterbliche … Dies erst war die ganze Perfidie der Dinge, dies erst offenbarte das wahre, schreckliche Schicksal der Auserwählten – nicht nur, dass sie nach ihrem angeblichen Tod in der Hölle der Unsterblichen landeten, um dort von Lucifuge Rofocale als Satans Ministerpräsident gequält zu werden … nein, nach der Zerstörung der Quelle des Lebens und ihrem Gegenpart, der Hölle der Unsterblichen, waren sie aus dem Schöpfungsplan gefallen. Es gab für sie keinen Ort mehr, sie gehörten nirgendwo hin, waren nicht Teil der neuen Schöpfung, der neuen Ordnung der Dinge. Sie lebten, ohne Sinn und Verstand, irrsinnig durch die Äonen der Qual, die Lucifuge Rofocale ihnen zugefügt hatte. Sie wussten nicht,
wer und wo sie waren, warum sie dort waren … und selbst wenn sie erneut starben, gab es für sie kein Ende. Denn sie hatten vom Wasser des Lebens getrunken, von der im Wasser geronnenen Handvoll Zeit, die die MÄCHTE DES LEBENS UND DES TODES einst am Urgrund der Zeit sammelten und in die ewige Ordnung der Dinge einfließen ließen. Immer wieder kehrten Lucifuge Rofocales Gedanken an diesen Ursprung zurück. Die ewige Ordnung der Dinge … er hatte immer an sie geglaubt. Und war nun eines Besseren belehrt worden. Nichts war ewig. Gar nichts. Die Quelle des Lebens und Unsterblichenhölle waren vergangen. Stattdessen gab es nun die Quelle des Todes … und DIES HIER. Diese weiße Ebene, auf der Lucifuge Rofocale saß und über das Schicksal und sein Leben nachdachte. Es gab so unendlich Vieles, das er wiedergutmachen musste. Als Satans Ministerpräsident hatte er gewaltiges, grenzenloses Leid verursacht. Doch war es überhaupt seine Schuld gewesen? Diese Frage stellte er sich immer und immer wieder und kam doch zu keiner Antwort. Auch gab es niemanden, der sie für ihn beantworten konnte. Oder doch? Mussten die MÄCHTE DES LEBENS UND DES TODES nicht mehr darüber wissen? Hatten sie nicht bestimmt, was zu sein hatte und was nicht? Als die Hölle der Unsterblichen endgültig zerbrach, hatten die MÄCHTE ihn vernichten wollen, zerquetschen, auslöschen … weil er nicht mehr gebraucht wurde. Er jedoch hatte sich gesträubt, hatte sich an sein Leben geklammert. Und er hatte einen Ausweg gefunden, indem er den MÄCHTEN vorgehalten hatte, welchen Fehler sie in ihrer Planung begangen hatten. Was war nämlich mit den Auserwählten, die aus der Ordnung gefallen waren? Durfte man sie ihrem Schicksal überlassen, für das es kein Ende und kein Ziel gab? Nein – er, Lucifuge Rofocale, zeichnete für sie verantwortlich! So erteilten ihm die MÄCHTE die Aufgabe, die Auserwählten zu sammeln … und aus dem ehemaligen Ministerpräsidenten der Hölle
wurde der Sammler. Doch zu welchem Ziel sammelte er? Darauf hatte er noch keine Antwort gefunden. Als er den ersten Unsterblichen der Quelle fand, fühlte er instinktiv, dass es einen Ort gab, an den er ihn bringen musste. Eben in diese weiße Ebene, die sich in die Unendlichkeit erstreckte und die an keinem Ort lag, den Lucifuge Rofocale bestimmen konnte. Sie lag überall und nirgends im Universum. Seitdem brachte er Unsterblichen um Unsterblichen auf die Ebene. Sie kamen hier an, oft noch verstört, doch je länger sie hier waren, umso mehr heilte ihr Geist, umso mehr stellte er sich wieder her. Sie erinnerten sich, und sie fanden Frieden. Zumindest vorübergehend, denn die Ebene konnte nicht für immer ihre Heimat bleiben … Der ehemalige Ministerpräsident Satans erhob sich und wanderte über die Ebene, wie er es oft tat, wenn er nicht unterwegs war, um zu sammeln. Der Anblick inspirierte ihn und weitete seinen Gedankenhorizont. Er fühlte innere Wärme und Sicherheit, wenn er die unendliche Weite durchstreifte. »Lucifuge«, hörte er die Stimme neben sich. Er stockte. Niemand war zu sehen. Und die Stimme hatte ängstlich geklungen. Wie die eines Kindes, das nach seinem Vater rief, weil es seine Hilfe benötigte. Er schaute sich um. Nichts. »L-u-c-i-f-u-g-e- …« Da sah er, woher die Stimme drang. Er hatte lediglich an der falschen Stelle gesucht. Der Sprecher war nicht neben oder über … sondern unter ihm. Er atmete tief durch und schaute auf den Boden der weißen Ebene, direkt vor seinen Füßen. Bislang war es nie gelungen, einen Punkt in der Ebene zu fixieren. Wann immer er es versucht hatte, war der Punkt verschwommen zu einem undefinierbaren Etwas, vergleichbar einem Fleck auf einer Fensterscheibe, durch die man ein weit entferntes Objekt betrachtete. Doch nun war es anders. Da war etwas.
Etwas, das Lucifuge Rofocale bis ins Mark erschütterte, ohne dass er sagen konnte, weshalb. Die weiße Ebene … war nicht mehr nur weiß. Eine Farbschliere durchzog sie, ein schillerndes Muster, das einem Regenbogen glich, das strahlte und funkelte und Licht versprühte, das sich sofort wieder im Nichts verlor. »Was geschieht – mit mir …?«, rief die Stimme, die schon zuvor seine Aufmerksamkeit gefesselt hatte. »Wo bin ich?« Mitten aus dem funkelnden Licht schob sich die Kuppe eines Fingers. Unter dem Nagel hatte sich eine Menge Schmutz gesammelt. Der Finger wurde länger und länger, bald gesellten sich andere dazu, dann folgte eine Handfläche, auf deren Rücken die Adern blau pulsierten. »Was ist das?«, fragte die Stimme in weinerlichem Tonfall. Wenn Lucifuge Rofocale darauf nur eine Antwort gewusst hätte. Nie zuvor hatte er etwas Vergleichbares gesehen, nicht einmal während seiner Zeit als Satans Ministerpräsident, in der er glaubte, schlicht alles gesehen zu haben. Die Finger der Hand zitterten. In Höhe des Handwurzelknochens verschwand die unheimliche Erscheinung in dem regenbogenartigen Lichtstrahlen. Der Sammler und ehemalige Ministerpräsident Satans überlegte, was er tun sollte. Er bückte sich und betrachtete die Stelle genauer, an der der Arm im Nichts verschwand – oder in der Ebene. Der Übergang vollzog sich mit leichtem Flimmern, Haut und Fleisch verschwammen mit dem Licht. Er streckte den Zeigefinger aus und tippte vorsichtig genau an die Stelle des Übergangs. Ein Schauer durchzuckte seine Hand, rann den Arm hinauf und explodierte über die Schulter im Nacken. Ihm war, als werde sein Schädel förmlich auseinandergerissen, und mit einem Mal wurde die Frage stärker als je zuvor: War das die verdiente Strafe für das, was er in seiner Vergangenheit getan hatte? »Bin … ich schuldig?«, ächzte er. »W-wer … wo … hilf mir! Lucifuge, bist du es?« Er konnte sich diesem gequälten Hilferuf nicht länger entziehen. Er musste demjenigen helfen, der in der Ebene versunken war! Er
griff zu. Hörte einen Schrei. Und merkte, dass er in die Ebene gefasst hatte und damit durch den Arm! Rasch zog er seine Hand zurück, verschränkte seine Finger in denen des Unbekannten, spannte die Muskeln und zog. Der Versunkene flog ihm entgegen, als sei er von einem Katapult geschleudert worden. Rasend schnell schälte sich Zentimeter für Zentimeter aus dem Lichtflackern, die Arme, Schultern, dann der Kopf. Es war niemand anderes als Humaral, einer der Auserwählten, die er auf die Ebene geführt hatte. Der Gerettete schaute ihn aus großen Augen an. »Danke.« Lucifuge Rofocale erbebte ob der schlichten Gewalt dieses einfachen Wortes. Dann hob er den Körper komplett aus dem Leuchten. Und die Katastrophe nahm ihren Anfang.
Andrew Millings und Johannes, neben Professor Zamorra die beiden einzigen Unsterblichen der Quelle des Lebens, die noch ihr eigentliches Leben vor dem Tod führten, schritten durch HässelbyVällingby, einen Stadtteil im Nordwesten des Stockholmer Stadtzentrums. Vor ihnen zog sich ein schnurgerader, auf beiden Seiten mit ziergeschnittenen Hecken gesäumter Weg hin zum Schloss Hässelby. Sie waren auf der Suche. Wie immer, seit sie sich mit ihrem einstigen Todfeind Lucifuge Rofocale zusammengeschlossen hatten. Ungezählte hatten sie seitdem entdeckt. Die Wege, sie ausfindig zu machen, waren zahlreich. Von vielen wurde in den Medien berichtet, manche standen unter polizeilicher Beobachtung, dritte saßen im Gefängnis, wieder andere verschanzten sich in abbruchreifen Hütten oder gar in Erdlöchern. Zu manchen wies Lucifuge Rofocale die Spur, weil er ihren Aufenthaltsort erahnte. Andere machte Andrew Millings mit seinen besonderen Gaben ausfindig, die aus seiner ganz speziellen Lebensgeschichte heraus entstanden waren. Einst war er der Zwitter
gewesen, ein Wesen, verschmolzen aus seiner eigenen Seele als Auserwählter … aus der in der Hölle der Unsterblichen geknechteten Seele des Torre Gerret … und aus der Essenz des Langka, eines noch immer mysteriösen magischen Gegenstandes. Gerret war in die Hölle der Unsterblichen zurückgekehrt, als Andrew fast gestorben und von Johannes gerettet worden war. Torre Gerret … Auch er musste auf die Erde zurückgekehrt sein. Und unter allen Auserwählten nahm er eine Sonderstellung ein, denn er war nie lange in der Hölle der Unsterblichen gewesen und unter abenteuerlichen Umständen als Teil des Zwitters vor kurzem wieder daraus entkommen. Das hieß nichts anderes, als dass er vielleicht nicht den Verstand völlig verloren hatte wie alle anderen. »Warum habe ich bislang nie an ihn gedacht?«, fragte Andrew Millings. Johannes schaute ihn verwirrt an. »Wovon redest du?« Er wischte sich Schweißtropfen von der Stirn. Die Sonne brannte geradezu unbarmherzig, was auch nun, mitten im Hochsommermonat Juli, äußerst ungewöhnlich war. Stockholm war nicht gerade dafür bekannt, dass man dort Sommerurlaub machen konnte. »Torre Gerret … er war ein Teil von mir.« »Nicht von dir, Andrew«, widersprach sein Freund. »Du bist du und warst immer nur du. Als Gerret mit dir verschmolz, entstand der Zwitter. Gerret war also ein Teil des Zwitters, nicht mehr und nicht weniger.« »Lass die Haarspaltereien.« Johannes schwieg einen Augenblick. »Warum erwähnst du ihn gerade jetzt?« »Ich habe über all das nachgedacht, was wir tun. Dass wir mit Lucifuge Rofocale all die Verlorenen sammeln … wozu? Was wird am Ende mit ihnen geschehen? Manchmal frage ich mich, ob wir Lucifuge wirklich trauen können, oder ob er am Ende offenbart, dass alles nur ein höllisches Täuschungsspiel war. Was, wenn er immer noch unser schlimmster Feind ist, Satans Ministerpräsident, dem seine ewigen Gefangenen entkommen sind – und dem
ausgerechnet wir helfen, sie wieder zu sammeln?« »Er ist ein Mensch, Andrew … das beweist doch alles. Könnte er uns das vorgaukeln? Er ist kein Dämon mehr, besitzt kein schwarzes Blut, sondern …« »Das weiß ich, aber dennoch stelle ich mir …« »Und die Ebene? Wie erklärst du dir die weiße Ebene, die der schwarzen Fläche der Quelle des Todes so sehr gleicht, nur dass sie glatt ins Gegenteil geronnen ist? Das alles kann kein Trick sein, Andrew. Die Dinge ändern sich, und das in gewaltigem Maß. Nicht einmal Lucifuge Rofocale mit all seiner Höllenmacht könnte dies vortäuschen.« Andrew Millings winkte ab. »Eigentlich ging es mir darum nicht einmal. Ich dachte an all die Auserwählten, die wir schon gesammelt und die Lucifuge kraft seiner Berührung auf die Ebene geführt hat. Es sind inzwischen Tausende – und in der ganzen Zeit habe ich kein einziges Mal an Torre Gerret gedacht, obwohl er mir doch näher stehen muss als all die anderen.« Johannes lächelte schmallippig. »Könnte es vielleicht daran liegen, dass du schlicht nicht an ihn denken wolltest, weil es zu schmerzlich ist, an deine Vergangenheit erinnert zu werden? Als Zwitter hattest du Teil an seinem kranken Geist, seinem Wahnsinn.« »Er war nicht wahnsinnig wie all die anderen – nicht im selben Maß. Durch die Existenz im Zwitter war er den verderblichen Kraftströmen in der Hölle der Unsterblichen entronnen. Ich glaube, er könnte gesund sein, anders als alle anderen.« »Was macht es für einen Unterschied?« »Einen großen, mein Freund … einen sehr großen. Er ist nicht derjenige, der die Hände in den Schoß legen und sich des Lebens erfreuen wird.« »Worauf willst du hinaus?« »Er ist böse … und er wird seinen besonderen Zustand zu seinem eigenen Vorteil nutzen. Wir sollten uns um ihn kümmern.« »Denk dran, dass wir nach Stockholm gekommen sind, um einen anderen Auserwählten zu suchen.« »Es war ein vager Hinweis, der uns hierher geführt hat. Ich bin
überzeugt davon, dass wir die meisten Unsterblichen bereits gefunden haben, zumindest die meisten, die es auf die Erde verschlagen hat, weil sie damals dort starben. Dort draußen …« Er wies mit einer unbestimmten Geste in den Himmel. »Dort draußen warten womöglich noch viele, und auch in anderen Dimensionen.« »Was du damit sagen willst, ist, dass dir Torre Gerret wichtiger ist.« Millings lachte leise. »Er ist einer derjenigen, die wir finden müssen. Und wenn ich Recht habe und er tatsächlich eine Gefahr für andere Menschen bildet, sollte das so schnell wie möglich geschehen.« »Klingt vernünftig.« Johannes schaute sich um. Zu viele Menschen waren auf der kleinen Straße zum Schloss Hässelby unterwegs. Sie konnten nicht einfach von hier zur Ebene teleportieren, was ihnen dank Andrews Fähigkeiten leicht möglich war, seit Lucifuge Rofocale ihnen die direkte Erlaubnis dazu erteilt hatte. Das war für Johannes ein weiterer Beweis dafür, dass der ehemalige Ministerpräsident Satans kein falsches Spiel trieb – er hatte sich der mysteriösen weißen Ebene nicht einfach bemächtigt, sondern etwas verband ihn mit ihr; sie akzeptierte ihn offensichtlich als Herrn, denn ohne seine Erlaubnis hatte Andrew die Ebene nicht aus eigener Kraft erreichen können. »Schlagen wir uns in die Büsche«, schlug Andrew vor. »Ich teleportiere direkt in Lucifuges Nähe. Er muss von unserem Plan erfahren.« Nebeneinander schritten sie zu einem der großen Zierbüsche und gingen dahinter in Deckung. Vom Weg aus konnten sie nicht mehr gesehen werden. »Schau dir die beiden Perversen an«, hörte Johannes noch, »die verziehen sich hinter einen Busch, die schwulen Schweine! Die haben sich am Ende noch die Hände gegeben!« Dann verschwand die Umgebung. Andrew teleportierte und nahm Johannes dank des direkten Körperkontakts mit. Inmitten der weißen Ebenen materialisierten sie wieder.
Doch etwas war anders als sonst. Lucifuge Rofocale stand neben einem der Auserwählten – war es nicht Humaral? – und ein irrlichternder, regenbogenartig gebrochener Farbreigen erlosch in genau diesem Augenblick zu ihren Füßen. Dann grollte es. Eine Welle der Erschütterung durchlief die Ebene. Die vier Männer wurden von den Füßen gerissen. Alle schlugen auf dem undefinierbaren Boden der Ebene auf. Und wo eben noch die Lichteffekte zu sehen gewesen waren, breitete sich ein Fleck düsterer Schwärze aus. Humaral schrie. »Neeein!« Er schlug die Hände vor die Augen. »Falsch, es war falsch, falsch, falsch!« Die Schwärze vibrierte, waberte und begann zu kochen wie ein See aus purer, lichtloser Lava. Die ewig gleiche Ebene riss auf … Das Grollen steigerte sich zu einem Donner, zu einem ohrenbetäubenden Krachen. Dann stülpte sich der Boden auf, und die Schwärze kroch wie zähflüssiger Schleim über das Weiß. Alles erbebte. »Falsch«, schrie Humaral erneut, warf sich auf alle Viere und kroch auf die Schwärze zu. »Nein!« Lucifuge Rofocale versuchte seinen Schützling aufzuhalten, doch es war zu spät. Humaral tauchte die Hände in den Riss. »Vergib mir«, rief er und sprang. Die Schwärze verschlang ihn. Der Riss schloss sich. Das Beben endete. Das Dunkel verschwand, doch statt des reinen Weißes glitzerte der Boden in tausend Farben und stülpte sich auf, bis ein Hügel entstand. Lucifuge schrie, als leide er großen inneren Schmerz. »Er ist – tot … endgültig tot …«
28. Schicksal eines Auserwählten: Nutanka Das stählerne Ungetüm schoss mit rasender Geschwindigkeit über den trockenen Wüstenboden, röhrend und grollend wie ein verwundetes Tier, das seinen Schmerz in die Welt hinausschrie. Die Staubwolke, die es aufwirbelte und wie einen breiten Schweif hinter sich her zog, überragte das Monster um ein Vielfaches und sank nur allmählich wieder in sich zusammen. Unaufhaltsam näherte es sich dem schmalen Talkessel, der an beiden Seiten von steil aufragenden Felswänden umsäumt wurde. Obwohl es bereits Nachmittag war, brannte die Sonne mit unverminderter Kraft auf die Erde herab. Kein noch so kleines Wölkchen bevölkerte den Himmel, als ob sie sich alle davor fürchteten, im Einflussbereich der Sonne zu verdunsten. Die Luft flimmerte unentwegt und schien zu kochen, der Sand glühte förmlich unter den sengenden Strahlen, die sich nahezu senkrecht in den Boden fraßen. Die glatten Wände des Felsmassivs reflektierten das Sonnenlicht hundertfach und sorgten nicht nur dafür, dass sich die Luft immer stärker aufheizte, sondern hielten zudem jeglichen Luftzug vom Talkessel fern, jede Brise, die ein wenig Abkühlung mit sich gebracht hätte. Jeder Atemzug, jede noch so kleine Bewegung wurde in der glühenden Hitze zur Qual. Den Mann jedoch, der mit zusammengekniffenen Augen das stählerne Monstrum beobachtete, wie es in den Talkessel abbog, schien sie nicht zu stören. Im Gegenteil. Er stand vollkommen reglos da, auf einem Felsplateau, etwa siebzig Yards über dem Boden. Er schien nicht einmal zu atmen. Kein einziger Tropfen Schweiß perlte auf seinem ausdruckslosen, kantigen Gesicht, das von einer scharfen Hakennase und schmalen Lippen dominiert wurde.
Schwarzes, bläulich schimmerndes Haar fiel glatt auf seine breiten durchtrainierten Schultern. Der hagere, sehnige Mann hatte Zeit. Viel Zeit. Alle Zeit der Welt. Zuerst wollte er in Ruhe beobachten. Abwägen. Und dann entscheiden, was zu tun war. Denn einen dermaßen folgenschweren Fehler, wie er ihm damals widerfahren war, wollte er sich nicht noch einmal leisten. Von dem Plateau aus war der Mann in der Lage, das Tal fast vollständig zu überblicken, wohingegen er von unten kaum ausgemacht werden konnte, es sei denn, das Monstrum besäße übernatürliche Fähigkeiten und vermochte durch Felsen und Steine hindurch zu sehen. Unwahrscheinlich, aber es lag durchaus im Bereich des Möglichen, zumal die Vergangenheit dem Mann gezeigt hatte, dass er gut daran tat, sich stets auf das Schlimmste gefasst zu machen. Als hätte das Monster seine Gedanken gelesen, wurde es mit einem Mal langsamer. Es ächzte schwerfällig und kreischte, bevor es mit einem schnaubenden Geräusch stehen blieb und erst einmal abzuwarten schien. Kurze Zeit später stieß das Ungetüm zweimal kurz nacheinander ein gefährlich klingendes Zischen aus. In seinem stählernen Leib entstanden finstere Öffnungen, aus denen zweibeinige, humanoide Wesen ins Freie strömten. Die Brut des Monstrums? In den Mann auf dem Plateau kam plötzlich Bewegung. Er legte sich flach auf den Boden, robbte bis zur Felskante und schielte ebenso vorsichtig wie irritiert darüber hinweg in die Tiefe. Die zweibeinigen Wesen waren Menschen, so wie er: Männer, Frauen und Kinder. Doch wie sahen sie aus? Um ihre für seinen Geschmack viel zu korpulenten Körper hatten sie Kleidung geschlungen, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Hosen, die aus dem Fell eines blauen Tiers geschneidert zu sein schienen und bei den meisten nicht einmal die Knie bedeckten, dünne Hemden,
bis zur Brust aufgeknöpft, vor der silbern funkelnde Kästchen an Riemen baumelten, seltsame Kopfbedeckungen, an denen überall die Federn fehlten. Die Gesichter der Menschen lagen verborgen hinter riesigen, gläsernen Augen, die ihnen das Aussehen von übergroßen Insekten verliehen. Was war mit diesen Leuten geschehen? Hatte das stählerne Monster sie zu solchen Kreaturen gemacht, zu Sklaven, die es in seinem Bauch gefangen hielt und nun losschickte, um nach Beute auszuschwärmen? Oder waren es überhaupt keine Menschen – sondern Dämonen? Ja, ganz zweifellos musste es sich um Dämonen handeln, denn kein menschliches Wesen wäre in der Lage gewesen, mit jenem stählernen Ungeheuer in dieser Art Symbiose zu leben. Der Mann, der von seinem Versteck aus jede noch so kleine Bewegung im Talkessel mit Adleraugen verfolgte, war vor fast achtundzwanzig Sommern auf den Namen Nutanka getauft worden und gehörte dem Stamm der Anasazi-Indianer an. Ihm war bewusst, dass er sich vorsehen musste vor den dämonischen Eindringlingen, vor allem, seit er vor wenigen Stunden in seinem alten Heimatdorf wieder zu sich gekommen und dort nichts mehr so gewesen war wie vorher. Schon als er die Augen aufgeschlagen und gegen die hämmernden Schmerzen in seinem Schädel angekämpft hatte, war ihm die eigenartige Stille aufgefallen, die um ihn herum über dem ganzen Dorf lastete. Er hatte sich mit einem Ruck aufgesetzt, schneller, als es für seinen angeschlagenen Zustand gut gewesen war, und gegen die nebligen Schleier vor seinen Augen ankämpfend den Blick durch das Dorf schweifen lassen, über die flachen sandfarbenen Lehmbauten, die sich unter dem Antlitz der karstigen Felswände duckten, über den staubigen Dorfplatz, die Pueblos, die Stallungen, den schmalen, zumeist ausgetrockneten Brunnenschacht und die Wasserkanäle, die sich wie ein riesiges Netz über den Sandboden von Gebäude zu Gebäude zogen. Von dem baufälligen Zustand der Unterkünfte abgesehen, war
alles genauso gewesen wie zu dem Zeitpunkt, da er das Dorf seinerzeit verlassen hatte – mit einer entscheidenden Ausnahme: es lag leer und verlassen vor ihm. Aber ohne Zweifel war es sein Heimatdorf. Nur wo befanden sich die Menschen? Wo war sein Stamm, wo die vielen Männer, Frauen und Kinder? Wo war Horakahoo, sein Blutsbruder und Kampfgefährte, wo Alanaki, das bildhübsche Mädchen mit dem Temperament einer Wildkatze, das ihm immer wieder interessierte Blicke zuwarf, wo Chinquokee, der weise, in Ehren ergraute Häuptling, der den Stamm der Anasazi mit hartem aber gerechtem Regiment führte, wo die vielen Kinder, die im Spiel lärmend und kreischend über den Dorfplatz zu rennen pflegten, während die Frauen niederkauerten, um Körbe zu flechten? Wo waren sie alle? Stattdessen hatte sich der Dorfplatz Nutanka ebenso ausgestorben präsentiert wie die Kiva, in der sich sein Stamm so manches Mal versammelt und über die Jagd, das Land hinter dem Horizont und Manitou diskutiert hatte, wohingegen die einstigen Feuerstellen, an denen sie sich in kalten Nächten Hände und Füße gewärmt hatten, zerstört und in alle Richtungen verstreut gewesen waren. Die eingefallenen Pueblos hatten auf Nutanka sogar gewirkt, als seien sie fluchtartig verlassen und seitdem nicht wieder bewohnt worden. Das ganze Dorf strahlte etwas Morbides, Vergängliches aus. Eine grauenhafte Aura lastete über den Häusern – die Aura des Todes. Ein Geisterdorf. Das war Nutankas erster Gedanke gewesen, und immer wieder hatte er sich seitdem gefragt, was wohl mit den anderen passiert war. Hatte der Dämon, gegen den er lange Zeit gekämpft und letzten Endes doch verloren hatte, seinen Stamm vernichtet – den ganzen Stamm? War denn gar niemandem die Flucht gelungen? Ein weiterer Blick in die Runde hatte genügt, um das kurze Aufflackern von Hoffnung im Keim zu ersticken. Trotzdem hatte sich Nutanka mühsam aufgerappelt und mehr schwankend als aufrecht gehend die Häuserruinen nach Überlebenden durchsucht. Ohne Erfolg.
Erschüttert war Nutanka auf die Knie gesunken und hatte lange meditiert. Gute zwei Stunden, so hatte der Anasazi anhand des neuen Sonnenstands geschätzt. Doch plötzlich waren ihm eigenartige Spuren auf dem Sandboden aufgefallen, Fußabdrücke, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte: nur ein, zwei Zoll größer als bei einem normalen Menschen, aber durchzogen mit einem gezackten, schlangenartigen Muster. Welches Tier hinterließ solche Spuren? Kein Tier!, hatte sich Nutanka sofort korrigiert. Ein Dämon! Ma'rra'kah, der Schlangendämon? Nutanka hatte sich immer wieder mit der Faust gegen die Stirn geschlagen, doch gegen die gähnende Leere in seinem Schädel hatte es nichts genutzt. Das Letzte, an das er sich noch erinnern konnte vor seinem Erwachen, war sein selbstloser Kampf gegen Ma'rra'kah. Nachdem der Dämon seinen Blutsbruder Koronto mit seinem Schlangengift infiziert hatte, hatte dieser Höllenqualen erlitten und sich binnen weniger Tage ebenfalls in ein Reptil verwandelt. Nutanka war nichts anders übrig geblieben, als den dahinsiechenden Freund von seinem Schicksal zu erlösen und ihm mit einem Jagdmesser den Kopf abzuschlagen, bevor die Verwandlung in eine Schlange völlig abgeschlossen war. Für diese Gräueltat hatte Nutanka Ma'rra'kah furchtbare Rache geschworen und sein Leben von diesem Tag an der Vernichtung des Schlangendämons gewidmet. Zehn Winter lang hatte der Anasazi warten müssen, ehe er endlich eine Möglichkeit gefunden hatte, Ma'rra'kah in eine Falle zu locken. Mit Hilfe eines alten Schamanen hatte er den Schlangendämon heraufbeschworen, doch der hatte sich als weitaus mächtiger erwiesen als Nutanka zunächst angenommen hatte. Kaum materialisiert, war Ma'rra'kah aus dem Bannkreis gesprungen und hatte sich auf den wehrlosen Schamanen gestürzt. Der alte Indianer war sofort tot gewesen, als ihm die Pranke des Dämons die Kehle zerfetzt hatte. Nutanka war gerade noch dazu gekommen, nach der Lanze zu greifen, deren Spitze der Schamane zuvor mit einer geheimnisvollen
Tinktur beträufelt hatte. Doch die Lanze hatte den wieselflinken Dämon um ein Haar verfehlt, und so war Nutanka nur noch sein Messer geblieben, dessen Klinge er ebenfalls in die Tinktur getaucht hatte. Obwohl sich der Anasazi mit allen Kräften gegen Ma'rra'kah erwehrt und durch seine Gewandtheit so manch tödlichem Biss entgangen war, hatte der Dämon allmählich die Überhand gewonnen. In einem letzten Anflug von Verzweiflung hatte Nutanka sich nach vorn geworfen und den Dämon mit dem Messer verletzen können, doch der hatte nur gelacht. Gelähmt von der Erkenntnis, dass die Tinktur Ma'rra'kah offenbar nicht das Geringste anhaben konnte, war Nutanka einen Augenblick lang unachtsam gewesen. Der Dämon hatte ihn förmlich in Stücke gerissen. Damals. Nur wann war das gewesen? Gestern? Vor einem Sommer? Vor einem Jahr? Was war danach geschehen? Warum – Nutankas Gedanken stockten – warum war er plötzlich wieder am Leben? Und warum konnte er sich nicht erinnern, was zwischen seinem Tod und dem Wiedererwachen lag? Der Anasazi kniff die Augen so fest zusammen, dass es fast schmerzte. Er konzentrierte sich mit aller Kraft, doch die bodenlose dunkle Leere in seinem Kopf ließ sich dadurch nicht vertreiben. Ein Geräusch drang in seine Gedanken. Stimmen … Nutanka riss die Augen auf. Als sein Blick sich klärte, erkannte er, dass sich die menschenähnlichen Wesen unten im Tal zu einem Haufen zusammengerottet hatten und wie gebannt den Worten eines einzelnen lauschten, das sich davor postiert hatte. »… befinden uns nun in einem Nebenlauf des Chaco Canyon, keine dreißig Meilen vom National Historical Park und fünfzig Meilen von Albuquerque entfernt. Wie allgemein bekannt sein dürfte, wurden hier, in New Mexico, die meisten bedeutenden Hinterlassenschaften frühindianischer Kulturen ausgegraben und
…« Hinterlassenschaften? Frühindianisch? Ausgegraben? Wovon sprach das Wesen? »… anhand der C12-Analyse ziemlich genau das Alter der Funde bestimmen. Die ältesten stammen plus minus zwanzig Jahre aus dem Jahr 850 und gehören der so genannten Pueblo-Kultur an. Viele Fundstücke, vor allem Waffen wie Messer, Lanzen und Pfeile, oder Handwerksgegenstände, mit denen die Frauen Kleidung nähten oder Körbe flochten, sind noch erstaunlich gut erhalten, bedenkt man das Alter von beinahe 1200 Jahren …« Nutanka wurde schwindelig, als er diese Zahl hörte. Zwölfhundert Jahre – mehr als ein ganzes Jahrtausend – sollten jene indianischen Hinterlassen alt sein, von denen das Wesen da unten erzählte? Lag sein, Nutankas, Tod ebenfalls so lange zurück? »… haben Sie später noch Gelegenheit, wenn wir im National Historical Park angekommen sind, der, wie Sie sicherlich wissen, im Jahr 1987 in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen wurde. Dort werden Sie den berühmten Pueblo Bonito bestaunen und sich einen Überblick verschaffen können, wie die Indianer damals gelebt … Ja bitte?« Der Redner deutete auf ein männliches Wesen aus der Gruppe, das eine Hand erhoben hatte. »Sie haben eine Frage?« Der Angesprochene nickte. »Ich habe gelesen, dass in diesem Gebiet auch Anasazi gelebt haben sollen. Ist das richtig?« Durch Nutankas Adern schoss ein Strom Eiswasser, als er den Namen seines Stammes vernahm. Aber weshalb sprach das Wesen dort unten in der Vergangenheitsform? Warum tat es so, als ob die Anasazi schon lange nicht mehr existieren würden? Das einzelne Wesen nickte. »Darauf wollte ich gerade kommen. Einige Funde wesentlich älteren Datums deuten tatsächlich darauf hin, dass sich in der Gegend um den Chaco Canyon herum auch Anasazi niedergelassen hatten.« Funde älteren Datums? Nutanka stutzte. Noch älter als 1200 Jahre? »Haben sich die beiden Stämme denn nicht bekämpft?«, ertönte da eine helle Stimme.
Das Wesen, das offenbar die Rolle des Hauptredners innehatte, wandte sich einem Jungen zu, dessen aufgewecktes Gesicht mit dem verschmitzten Grinsen unter einem breitkrempigen Strohhut beinahe verschwand, und lachte kurz auf. »Nein, mein Kleiner, nicht direkt.« »Das verstehe ich nicht.« »Pass auf.« Der Hauptredner tat so, als müsse er kurz überlegen. Ganz offensichtlich suchte er nach passenden Worten, um dem Jungen, der kaum älter sein konnte als sieben oder acht Jahre, den Sachverhalt leicht verständlich erklären zu können. »Die so genannten Pueblo-Indianer existierten zwischen 850 und 1250 n. Chr., also lange Zeit, bevor du überhaupt geplant warst, mein Kleiner.« Seinen Worten folgte heiteres Gelächter aus der Gruppe, was Nutanka erst recht verwirrte. Dämonen, die lachten? Und Sklaven, die ihrem Aufseher widersprachen, Fragen stellten und dafür nicht bestraft wurden? Nutanka konnte den Gedanken nicht weiter führen, da das einzelne Wesen mit seinen Erläuterungen fortfuhr. »Die AnasaziKultur hingegen gibt es schon viel länger. Gerüchten zu Folge soll sie bereits im Jahr 1 n. Chr. gegründet worden sein und hatte ihre Blütezeit zwischen 200 n. Chr. und 850 n. Chr. Die Lebensgrundlage der Anasazi war die Landwirtschaft. Sie pflanzten Mais, Bohnen, Kürbisse und Sonnenblumen an. Und wie du dir sicher vorstellen kannst, mussten sie sich immer wieder auf schwierige Umweltbedingungen einstellen, bis im Jahr 1150 eine schlimme Dürre einsetzte, die etwa 1270 ihren Höhepunkt erreichte. Bislang fruchtbare Gebiete in den heutigen Bundesstaaten Kalifornien, Nevada, Utah und Colorado verwandelten sich in Wüsten oder Trockensteppen. Die Folge war eine große Völkerwanderung.« »Aber dann haben sie sich doch gekloppt, oder?« Der kleine Junge grinste erneut, woraufhin der Hauptredner einen hilfesuchenden Blick in die Menge warf. »So in etwa.« Der Redner setzte ein verzerrtes Lächeln auf. »Aber Scherz beiseite: Gruppen der Nun-Kultur, Vorfahren der heutigen
Ute-Indianer, drängten von Kalifornien herbei und Gruppen der Fremont-Kultur, Vorfahren der Apachen und Yuma, von Nevada und Utah. Daraufhin verließen die Anasazi-Völker ab 1270 ihre Heimat und zogen entweder zum Rio Grande, in die Sierra Madre del Norte oder auf die Black Mesa.« »Und was ist aus Ihnen geworden?« Der Junge war hartnäckig, das musste Nutanka ihm lassen. Lange konnte es bestimmt nicht mehr dauern, bis das einzeln stehende Wesen ihn für seinen Frevel bestrafen würde. Doch die Strafe kam von ganz anderer Seite. Ein geradezu widerwärtig fetter, weiblicher Dämon, der bislang schweigend hinter dem Jungen gestanden und literweise braune Flüssigkeit aus einem roten Behältnis mit weißer Schrift in sich hineingeschüttet hatte, packte ihn am Arm und wies ihn kurz, aber entschieden zurecht. Nutanka war der Ausdruck von Genugtuung nicht entgangen, der kaum merklich über das Gesicht des einzeln stehenden Wesens gehuscht war. Dadurch offensichtlich ermutigt, bedachte es den Jungen mit einem herablassenden Blick. »Du gehst doch bestimmt schon zur Schule?« Der Kleine nickte verschüchtert, sagte aber nichts. »Dann müsstest du eigentlich wissen«, der Hauptredner hob tadelnd den Zeigefinger, »dass die meisten Indianer inzwischen ein Teil unserer Gesellschaft geworden sind, und die wenigen, die sich aus alter Tradition dagegen wehren, in eigens für sie eingerichteten Reservaten leben. Oder hast du in der Schule etwa nicht aufgepasst?« Nutanka war für einen Moment wie versteinert. Teil der Gesellschaft? Reservate? Also doch! Das, was er sich in seinen schlimmsten Befürchtungen ausgemalt hatte, war eingetreten: Ma'rra'kah, dieser verabscheuungswürdige Schlangendämon, hatte die Anasazi vor über 1200 Jahren tatsächlich ausgerottet. Den Großteil der Überlebenden hatte er ganz offensichtlich mit seinem Gift infiziert und zu seinen Sklaven gemacht, den spärlichen Rest hingegen in Gefängnissen mit dem
hochtrabenden Namen Reservate zusammengepfercht, dazu verdammt, ein grausames, menschenunwürdiges Dasein zu fristen. Nur mühsam gelang es Nutanka, seine Wut zu unterdrücken beim Anblick der versklavten und wahrscheinlich degenerierten oder gar mutierten Anasazi – denn welche Erklärung sollte es sonst für ihr befremdliches Aussehen geben? –, die sich unten im Tal wie Tiere zusammengerottet hatten und nun den Ausführungen und Befehlen eines ranghöheren Dämons lauschten, der wiederum Ma'rra'kah direkt zu unterstehen schien. Was hatte dieser verfluchte Schlangendämon nur aus seinem Volk gemacht? Was war von den stolzen, anmutigen Anasazi, wie Nutanka sie in Erinnerung hatte, übrig geblieben? Nichts, rein gar nichts mehr! Und daran hatte nur er Schuld, er, Nutanka, ganz allein! Wenn er damals nicht von Ma'rra'kah überrumpelt worden wäre wie ein dummer Junge, wäre seinem Volk sicherlich ein solch grausames Schicksal erspart geblieben. Ein Knirschen riss Nutanka aus der Gedankenflut. Der Anasazi zuckte zusammen, entspannte sich jedoch gleich wieder, als ihm bewusst wurde, dass das Knirschen von seinen eigenen Zähnen stammte, die mahlend aufeinander rieben. Was auch immer mit ihm geschehen war, warum er auf einmal wieder lebte, obwohl er sich ganz genau an jedes Detail seines Todes erinnern konnte, warum er ausgerechnet an jenem Ort wieder zu sich gekommen war, an dem er damals sein Leben ausgehaucht hatte – all das rückte für Nutanka in weite Ferne. Wichtig war nur, dass er lebte. Der Anasazi zweifelte keinen Moment lang daran, dass es allein Manitus Wille gewesen war, der ihn, Nutanka, zurückkehren hatte lassen, um das zu vollenden, was ihm in seinem früheren Leben nicht vergönnt gewesen war: die Vernichtung der Dämonen und allem voran die Eliminierung Ma'rra'kahs. Oder der Wille der … er stockte – der Hüterin der Quelle? Was waren denn das für Gedanken? Mit einem Mal blitzte vor seinem geistigen Auge ein Bild auf, eine sprudelnde Quelle, aus der ihm Wasser gereicht wurde von …
Plötzlich tönte die helle Stimme des Jungen wieder durch das Tal. »Dann gibt es hier wohl gar keine Indianer mehr?« Einen Atemzug lang herrschte Schweigen, und obwohl Nutanka die Antwort bereits zu kennen glaubte, erwartete er mit Spannung die Worte des Hauptredners, der sichtlich genervt einen Blick auf sein linkes Handgelenk warf, an dem ein fremdartiger, silbern glänzender Gegenstand befestigt war. »Richtig erkannt, Kleiner. Vor über 100 Jahren haben die letzten Indianer die Gegend verlassen. Und jetzt …« »Das kann gar nicht sein. Ich habe nämlich einen gesehen. Und zwar dort oben.« Nutanka erschrak bis ins Mark, als der jugendliche Dämon direkt in seine Richtung deutete. Die Köpfe der anderen Dämonen zuckten fast gleichzeitig herum. Aus großen Augen starrten sie ihn an – feindselig, bedrohlich. Zumindest empfand Nutanka es so. Offenbar waren sie tatsächlich in der Lage, durch Fels zu sehen. »Da oben ist nichts«, sagte der Anführer schroff und wandte sich an die anderen. »Oder sieht vielleicht jemand von Ihnen einen Indianer?« Nutanka stutzte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Hatten die Dämonen ihn tatsächlich nicht erkannt oder gehörte das zu ihrer Taktik, die Opfer zu verwirren oder gar in Sicherheit zu wiegen, bevor sie erbarmungslos zuschlugen? Der Streit unten im Tal indes schien einem Höhepunkt zuzustreben, als der Junge mit einem Bein aufstampfte und rief: »Ich bin mir aber sicher. Er hat da oben gestanden und uns beobachtet. Ich hab ihn von meinem Sitzplatz im Bus aus ganz genau gesehen.« »Ich denke, es reicht jetzt, Kleiner. Schließlich sind wir nicht hier, um uns deine Märchen anzuhören, sondern sollten die Zeit besser nutzen, uns das verlassene Dorf anzuschauen, das die Indianer direkt in das Felsmassiv gebaut haben, nicht wahr?« Der einzeln stehende Dämon sah sich beifallheischend um. »Dann sind wir uns ja einig. Wenn Sie mir nun bitte folgen möchten?« Er deutete auf eine steinerne Treppe, die die Anasazi schon lange
vor der Zeit, als Nutanka selbst noch ein Kind gewesen war, in das steile Felsmassiv gehauen hatten, eine Treppe, die geradewegs in sein Dorf führte – und damit zu ihm. Nutankas Blut schien zu Eis zu gefrieren, als sich die Dämonenhorde in Bewegung setzte und zielstrebig der Treppe näherte. Sie kamen, um ihn zu holen! Nutanka konnte sich an zwei Fingern abzählen, welch grausames Schicksal ihn erwartete, wenn sie ihn erst einmal in ihre Gewalt gebracht hatten. Er robbte eilig einige Meter zurück, den Bauch noch immer fest auf den Steinboden gepresst. Erst, als er sicher von unten nicht mehr erkannt werden konnte, sprang er auf und rannte wie von Furien gehetzt zurück in sein Heimatdorf, das er noch immer wie seine Westentasche kannte. Beinahe jeder Stein, jeder Holzbalken war ihm vertraut, ebenso jedes Loch, jede Nische, jedwede Möglichkeit, sich vor seinen Feinden zu verstecken, ihnen aufzulauern und dann eine Falle zu stellen. Denn nichts anderes hatte der Anasazi vor. Er wollte die Dämonen in einen Hinterhalt locken und sie dann ein für allemal vernichten, wollte sich der großen Ehre als würdig erweisen, die ihm Manitu hatte zuteil werden lassen, indem er ihm ein neues Leben geschenkt und somit eine zweite Chance gegeben hatte, das Böse endgültig vom Antlitz dieses Planeten hinwegzufegen. Tod den Dämonen, denn nur ein toter Dämon ist ein guter Dämon! Immer wieder zuckte dieser Satz durch Nutankas Geist und brannte sich wie eine glühende Eisenstange in seine Gehirnwindungen. Als der Anasazi das Dorf erreicht hatte, hielt er einen Atemzug lang inne, um sich zu orientieren. Auf dem Dach eines flachen, lang gezogenen Gebäudes fand er ein geeignetes Versteck, von dem aus er den Dorfplatz fast vollständig überblicken und für den Fall, dass er entdeckt wurde, problemlos fliehen und erneut untertauchen konnte. Er vertraute darauf, dass sich die Dämonen bei ihrer Suche rasch
über den ganzen Pueblo verteilt haben würden und er sich folglich nur eines kleinen Teils zu erwehren hatte, der zufällig in seine Richtung gekommen war. Es mit einer Handvoll, vielleicht noch einem halbem Dutzend dieser Brut gleichzeitig aufzunehmen, traute sich der Anasazi ohne Probleme zu; er war durchtrainiert, ein erfahrener Krieger – und er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Zudem war er bewaffnet. Aus irgendeinem Grund, den er nicht kannte, trug er seit seinem Erwachen wieder genau jenes Messer an seinem Gürtel, mit dem er seinerzeit schon Ma'rra'kah verwundet hatte. Ein Zeichen Manitus! Stimmen wurden laut, gefolgt von hastigen Schritten und dem Schlurfen und Trampeln unzähliger Füße auf staubigem Boden. Die ersten Dämonen hatten das Dorf erreicht. Sie blieben stehen, legten die Köpfe in den Nacken. Dann schwärmten sie aus. Nutanka duckte sich noch tiefer in das Versteck. Seine schwitzenden Finger umschlossen fest den Griff des Messers, das er sich nun vorsichtig mit der Schneide zwischen die Zähne steckte, um bei seinem bevorstehenden Überraschungsangriff beide Hände frei zu haben. Aber noch hatten sie ihn nicht entdeckt. Noch konnte er abwarten, bis sich ihm eine günstige Gelegenheit bot. Wie geplant hatten sich die Dämonen im Nu über das gesamte Dorf verteilt. Einige inspizierten den Brunnenschacht und die ausgetrockneten Wasserkanäle, andere trampelten ungestüm über die Kiva, die Versammlungsstätte, hinweg, wiederum andere durchsuchten die Gebäude. Auf die Idee, dass er sich auf einem Dach befinden konnte, kamen sie offenbar nicht. Wie dumm und einfältig diese Kreaturen doch waren! Sie hatten nichts anderes verdient als den Tod! In diesem Moment näherten sich ihm Schritte. Schlurfend, der Großteil plump und schwerfällig, aber auch einige schnelle, leichtfüßige. Nutanka lauschte angestrengt. Drei. Es waren drei Dämonen. Den Schritten zufolge zwei ausgewachsene und ein kleinerer.
Als er über den Dachsims lugte, erkannte er ausgerechnet den vorlauten Jungen, der, die aufgedunsene Dämonin und ein nicht minder korpulentes männliches Exemplar im Schlepptau, munter die staubige Gasse entlang sprang, als könnte er kein Wässerchen trüben. In Nutankas Innerem brodelte es. Doch plötzlich, im Angesicht der drohenden Konfrontation, ergriff eine fast beängstigende Ruhe von ihm Besitz. Auf einmal war er gelassen wie nie zuvor in seinem Leben. Und eiskalt. Er erkannte sich beinahe selbst nicht wieder. Mit stoischer Geduld wartete er ab, bis der krakeelende Junge vorbeigesprungen war und sich die beiden ausgewachsenen Dämonen direkt unter ihm befanden. Er gestand ihnen noch genau zwei Schritte zu. Dann ging alles rasend schnell. Nutanka nahm das Jagdmesser zwischen die Zähne, setzte sich auf und sprang vollkommen lautlos vom Dach. Federnd kam er hinter den sichtlich arglosen Dämonen auf. Dem ersten rammte er das Messer bis zum Schaft in den Rücken. Dann drehte er die Klinge mit einem kräftigen Ruck herum. Ohne ein Geräusch von sich zu geben, sank der Dämon zu Boden. Bevor das beleibte Weibchen in der Lage war zu schreien, schlang er ihr den Arm um den Hals und schnitt ihr mit einem einzigen Hieb die Kehle durch. Auch sie starb vollkommen lautlos. Plötzlich ein gellender Schrei. »Indianer!« Nutankas Kopf flog hoch. Der Anasazi erfasste die Situation mit einem einzigen Blick. Es war der Junge, der geschrieen hatte. Und er starrte ihn an, die Augen fassungslos geweitet, das Gesicht kreidebleich. Er war offensichtlich den Tränen nahe. »Der Indianer!«, brüllte der Junge erneut. Seine Stimme kippte. »Er ist wieder da! Und er hat meine Eltern umgebracht!« Doch niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Nutanka lachte in sich hinein. Wenn die anderen Dämonen dem Jungen vorhin schon nicht geglaubt hatten, warum sollten sie es ausgerechnet jetzt tun? Pech für den Dämonenbastard …
Doch Nutanka hatte den Jungen unterschätzt. Als dieser bemerkte, dass ihm niemand zu Hilfe kam, warf er sich ansatzlos herum und rannte um sein Leben. Der Anasazi eilte hinterher. Mehr als einmal duckte sich der Junge unter Nutankas zupackenden Händen hinweg und entkam ihm nur um Haaresbreite. »Hilfe!«, schrie er immer wieder. »Warum hilft mir denn keiner?« Nutanka warf sich nach vorn und holte auf, obwohl der Junge lief wie ein Hase. Plötzlich schlug er einen Haken, rannte nach links in eine Gasse hinein. Jetzt wurde es kritisch. Der Junge rannte schnurgerade auf den Dorfplatz zu, wo sich die meisten der anderen Dämonen aufhielten. Nur noch wenige Meter trennten ihn von seinem Ziel. Der Anasazi nahm das blutige Messer aus seinem Mund und blieb stehen, holte aus, zielte. Und warf. Das Messer sauste wie ein Pfeil durch die Luft – und bohrte sich mit einem dumpfen Geräusch in den Rücken des Jungen, der gurgelnd vornüber fiel und reglos im Sand liegen blieb, wo er binnen weniger Atemzüge verblutete. Nutanka eilte zu dem Toten. Er wollte gerade das Messer wieder an sich nehmen, als ein erneuter Schrei durch das Dorf gellte. Diesmal war es eine Frau. Sie stand am anderen Ende der Gasse und deutete, am ganzen Körper wie Espenlaub zitternd, auf den Anasazi, der sich noch über den Jungen beugte. »Der Indianer«, stieß sie stockend aus, »er hat den Jungen getötet. Ich hab's genau gesehen! Er …« Die letzten Worte gingen in haltlosem Schluchzen unter. Mit einem Mal war die Hölle los. Die Dämonen schrieen und kreischten in wilder grenzenloser Panik. Sie warfen sich um die eigene Achse und rannten davon, als hätte er, Nutanka, eine ansteckende Krankheit. Es war ein heilloses Durcheinander. Mehr strauchelnd als laufend drängten die Dämonen dem Dorfausgang entgegen. Einige prügelten sich gegenseitig nieder und krochen anschließend übereinander hinweg,
andere wiederum schlugen und traten um sich, kratzten und bissen, rannten jeden über den Haufen, der ihnen im Weg stand. Kleinere, Schwächere oder Ältere wurden gnadenlos niedergetrampelt. Nicht wenige Dämonen fanden so ein qualvolles, aber verdientes Ende. Auch auf der Treppe nahm das Gerangel kein Ende. Die stärkeren Dämonen bahnten sich ihren Weg, indem sie körperlich Unterlege einfach zur Seite oder die Stufen hinab stießen. Ein weiblicher Dämon verlor das Gleichgewicht und segelte mit einem grässlichen Schrei in die Tiefe. Den dumpfen Aufprall konnte Nutanka selbst im Dorf noch hören. Der Anasazi war mit seinem Angriff gleichermaßen zufrieden wie er davon überrascht war. Niemals hätte er vermutet, dass die Dämonenbrut im Laufe der Jahrhunderte so schwächlich, so verweichlicht und so hilflos geworden war, wie er es gerade eben erlebt hatte. Ma'rra'kahs Sklaven, ehemals stolze Anasazi, waren ohne Zweifel degeneriert, nur mehr ein Schatten ihrer selbst. Nutanka zog das Messer rasch aus dem Rücken des Jungen, wischte es an dessen Kleidung ab und steckte es zurück in seinen Gürtel. Dann rannte er durch das Dorf, sprang über die Toten hinweg und postierte sich am oberen Ende der Treppe. Triumphierend verfolgte er den Rückzug der Dämonen, die noch immer vor Entsetzen schrieen und kreischten. Die ersten erreichten soeben das stählerne Monstrum, das mit einem erzürnten Brummen die Augen aufschlug, aus denen zwei gleißende Lichtblitze zuckten. Einer nach dem anderen stürzte ins Innere des Monsters, das sich keinen Atemzug später ruckelnd in Bewegung setzte und eine halbe Drehung ausführte, bevor es baumhohe Fontänen aus Sand und Staub aufwirbelte und davonraste. Der Anasazi reckte dem stählernen Ungetüm die geballten Fäuste hinterher. »Ja, flieht nur, ihr erbärmlichen Kreaturen! Und vergesst nicht, Ma'rra'kah zu berichten, dass ich, Nutanka, von den Toten zurückgekehrt bin, um ihn endgültig zu vernichten!« Er verschränkte die Arme vor der Brust; eine Geste der Würde und Erhabenheit, für die er vor langer Zeit seinen Häuptling Chinquokee stets bewundert hatte.
Nutanka konnte zu Recht stolz auf sich sein. Er hatte Ma'rra'kah eine empfindliche Niederlage bereitet, die der Schlangendämon gewiss nicht auf sich beruhen lassen würde. Sollte er nur kommen! Er, Nutanka, war bereit, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Der Anasazi blieb noch eine ganze Weile so stehen. Vollkommen reglos. Einzig sein Blick wanderte über die erhabenen Felswände, den schmalen, lang gezogenen Talkessel, über den Himmel. Er verfolgte den Lauf der Sonne, die sich allmählich dem Horizont näherte und in einem kräftigen Rot zu glühen begann. Erst dann wandte er sich um und schritt zurück ins Dorf. Nutanka stillte seinen Hunger, indem er einem kräftig gebauten Dämon das Herz aus der Brust schnitt und es roh verschlang, davon überzeugt, dass dessen Stärke, Intelligenz und Ausdauer damit automatisch auf ihn übergehen würde. Als die Dämmerung hereinbrach, hörte er plötzlich ein Geräusch. Verwundert legte der Anasazi den Kopf in den Nacken und suchte den Himmel ab. Zweifellos war dieses Rattern und Krachen aus den Wolken gekommen. Welche Teufelei heckten die Dämonen nun wieder aus? Wie aus dem Nichts hingen plötzlich drei, vier übergroße Libellen über dem Felsmassiv, deren Flügel sich mit lautem Knattern um die eigene Achse drehten. Glühende Augenpaare richteten sich auf das Dorf, wanderten über den karstigen Stein, die alten Gebäude, bis sie schließlich auch Nutanka erfassten, der reaktionsschnell aus dem Lichtkegel sprang und hinter einen Felsvorsprung hechtete. Der Indianer glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er ein Dutzend schwarz gekleidete Gestalten sah, die reglos in der Luft zu hängen schienen und dann, wie auf ein stummes Kommando, langsam herabgeschwebt kamen, während die glühenden Augen der Riesenlibellen das Dorf bis in den letzten Winkel erleuchteten. Nutanka sah sich gehetzt nach einem neuen Versteck um. Doch egal wohin er auch laufen würde – die Libellen hatten von ihrer Warte aus den besseren Überblick. Er konnte ihnen nicht entkommen.
Der Anasazi hatte keine andere Wahl. Er musste sich den Feinden stellen. Intuitiv spürte er jedoch, dass die fliegenden Dämonen keineswegs so einfältig und schwach waren wie die tumbe Horde am Nachmittag. Er musste sich vorsehen. Soeben berührte der erste Dämon mit seinen Füßen den Boden. Er ließ sich fallen, rollte geschickt über die Schulter ab und vermied es, dass das riesige Tipi, das aus seinem Rücken wuchs, ihn unter sich begrub. Mit einem Satz war der Dämon wieder auf den Beinen, löste gleichzeitig die Halterungen für das Tipi. Nutanka sah seine Chance gekommen. Er stürzte mit lautem Kriegsgeschrei aus seinem Versteck, das Messer erhoben, bereit, zuzustoßen, als der Himmel plötzlich Feuer spuckte. Kleine, grelle Lichtblitze zuckten auf, begleitet von infernalischen Donnerschlägen. Sie kamen von überall her. Nutanka blieb stehen, als sei er gegen eine unsichtbare Wand gelaufen. Bei jedem Aufblitzen wurde sein Körper kräftig durchgeschüttelt, und gleichzeitig spürte er schmerzhafte, glühend heiße Stiche, die sich tief in sein Fleisch gruben. Der Anasazi brüllte auf wie ein verwundetes Tier. Weniger vor Schmerz als vor unterdrückter Wut über die Dämonen, die wieder einmal über ihn triumphierten, und vor grenzenloser Scham und abgrundtiefer Enttäuschung, dass er sich einmal mehr als unwürdig erwiesen hatte. Nutanka spürte, wie mit jedem Tropfen Blut das Leben aus seinem Körper wich. Die Knie gaben auf einmal nach. Alles drehte sich um ihn. Der Boden schoss plötzlich auf ihn zu. Eine harte Erschütterung. Schwärze. Dann war nichts mehr. Als er die Augen wieder aufschlug, fand er sich in einer winzigen, quadratischen Stube wieder, die auf und nieder und hin und her schaukelte. Der kleine Raum bewegte sich. Ein röhrendes Brummen drang an Nutankas Ohren. Bei Manitu! Sie hatten ihn ins Innere eines dieser stählernen Ungetüme verschleppt!
Nutanka wollte sich aufrichten, doch er konnte sich nicht bewegen. Erst jetzt bemerkte er, dass er an Händen und Füßen gefesselt war und auf einer Trage lag, die links und rechts von zwei schwarz gekleideten, männlichen Dämonen gesäumt wurde, deren grimmige Gesichter schlagartig blass wurden. »Der erwacht wieder! Die hatten Recht – das ist einer von diesen Irren!«, stammelte der eine. »Hast du was anderes erwartet? Ein Typ, der sich für einen Indianer hält …« Die Luft flimmerte plötzlich, und eine Gestalt entstand aus dem Nichts. Ansatzlos packte die Erscheinung die beiden Dämonen am Hals und schlug ihre Köpfe mit einem gewaltigen Ruck gegeneinander, dass sie ohnmächtig niedersanken. Die Erscheinung befreite ihn von seinen Fesseln. Er wischte sich Blut und Gehirnmasse aus dem Gesicht. »Wer bist du?« »Schweig still!«, herrschte ihn der Fremde an. »Wir müssen verschwinden. Du hast schon genug Aufsehen erregt.« »Aber …« »Gib mir deine Hand. Los, mach schon.« Die Stimme des Fremden duldete keinerlei Widerspruch. Nutanka gehorchte.
29. Der Ewige Zweite »Was war das?«, fragten Andrew Millings und Johannes gleichzeitig. Lucifuge Rofocale antwortete nicht. Ihm blieb nur, fassungslos den Kopf zu schütteln. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Die beiden Auserwählten und der ehemalige Ministerpräsident Satans schauten auf den farbigen Hügel, der sich mitten in der Ewigkeit der weißen Ebene aufgeworfen hatte. Die Assoziation, es mit einem Grabhügel für den Auserwählten Humaral zu tun zu haben, lag nahe, zumal Lucifuge Rofocales Äußerung in diese Richtung. »Wie kommst du darauf, dass Humaral endgültig gestorben ist?«, fragte Andrew. »Er … er kann doch gar nicht sterben.« Der Sammler und ehemalige Erzdämon ballte die rechte Hand zur Faust und legte sie an die Lippen. »Ich weiß es. Ich fühle es. Dies ist das Ende für ihn.« »Er hatte vom Wasser des Lebens getrunken. Ich sage es noch einmal – nach allem, was wir wissen, kann er nicht sterben.« »Was ist das Wasser des Lebens?«, fragte Lucifuge Rofocale. »Eine Handvoll geronnener Zeit, in Wasser gelöst und in den ewigen Kreislauf der Quelle des Lebens gebracht.« Er schloss die Augen und seufzte aus tiefstem Herzen. »Die Quelle existiert nicht mehr. Der ewige Kreislauf ist durchbrochen. Keiner von uns weiß, welche Folgen das nach sich zieht. Für uns und für das gesamte Universum.« »Soll das etwa heißen, dass wir nicht mehr unsterblich sind?« Ihm antwortete nur Schweigen. Erst viel später, als die Stille beinahe unerträglich geworden war, führte der Sammler seinen unterbrochenen Gedankengang fort. »Das Wasser des Lebens wirkt noch in euch, meine Kinder. Aber ich fühle, dass es schwächer wird. Ihr seid die Verlorenen der
Schöpfung, und für euch nähert sich die Zeit des Endes. Ich dachte immer, es gibt keinen Plan für euch, aber …« »Aber was?«, entfuhr es Johannes. Er packte seinen ehemaligen Erzfeind an der Schulter. »Was haben wir eben mit angesehen? Was war das für eine Schwärze und warum hat sich Humaral hineingestürzt? Warum hat er sich bei dir entschuldigt?« »Bei mir?« Lucifuge Rofocale schüttelte den Kopf. »Er hat seine Entschuldigung nicht an mich gerichtet.« »An wen dann?« »Wenn ich das nur wüsste, mein Freund, wenn ich das nur wüsste …« Er winkte ab. »Wir werden auf diese Fragen keine Antwort finden. Während ihr unterwegs wart, habe ich noch eines meiner anvertrauten Kinder gefunden und zur Ebene gebracht. Ihr solltet ihn kennen lernen – Nutanka. Ich rettete ihn, ehe ich hier auf Humaral traf. Er ist noch verwirrt von seinem Tod und zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich ihn nicht rechtzeitig gefunden habe. Er hat einige Menschen getötet, weil er sie für Dämonen hielt. Und er starb von ihrer Hand, nur wenige Minuten, ehe ich ihn fand.« »Darum geht es«, sagte Andrew bestimmt. »Deswegen wollten wir mit dir sprechen. Wir kommen immer öfter zu spät, weil die Zeit unbarmherzig vergeht. Von Stunde zu Stunde sind die restlichen Auserwählten länger auf der Erde oder in anderen Welten von ihren Feinden umgeben oder machen sich dank ihres Wahnsinns alle zu Feinden. Wir werden einen finden müssen, der uns womöglich vor größere Probleme stellen wird als alle anderen.« »Du redest von Professor Zamorra«, vermutete Lucifuge Rofocale. »Nicht er – er gehört nicht hierher. Er ist nie gestorben und in die Hölle der Unsterblichen gelangt. Er ist wie Johannes und ich … nur dass er verschollen ist.« »Er hat seine eigene Hölle auf Erden gefunden«, meinte der Sammler, und in seiner Stimme lag tiefe Melancholie. »In meinem früheren Leben hätte ich jubiliert und es wäre mein größter Triumph gewesen, wenn ich ihm hätte so viel Leid zufügen können. Doch er hatte sich stets aus der Schlinge gewunden – bis heute. Nun ist er
ganz unten angelangt. Er dient Asmodis, er bettelt ihn an wie ein Hund und …« »Lass ihn aus dem Spiel«, sagte Andrew bitter. Er wollte nicht an den Meister des Übersinnlichen erinnert werden. Nicht ehe er Zeit fand, sich womöglich wirklich um ihn und sein Schicksal zu kümmern. »Wir können nichts für ihn tun. Es ist seine freie Entscheidung. Er ist den falschen Weg gegangen, und auch wenn er einst mein Freund war, kann ich nicht mehr zu ihm durchdringen.« »Wirklich?«, fragte Johannes scharf. »Wir haben es ja nicht einmal versucht! Seit er aus dem Irrenhaus verschwunden ist, wissen wir nichts mehr über ihn!« Andrew verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir reden nun von Torre Gerret und nicht von Zamorra! Alles zu seiner Zeit.« Der Sammler hob beschwichtigend die Hand. »Gerret war einst Teil der Kreatur, die deinen Körper bewohnte.« Andrew nickte. »Und wir müssen ihn finden, ehe er großes Unheil anrichtet, denn er ist böse und wird es immer bleiben.« »Ich kann euch nicht helfen bei der Suche«, meinte Lucifuge Rofocale. »Ich muss versuchen herauszufinden, was hier auf meiner Ebene geschieht. Wir haben etwas von großer Bedeutung beobachtet, und ich glaube, dass es ein Teil des Planes ist, der mir bislang verborgen geblieben ist. Alles muss sich irgendwie zusammenfügen – die MÄCHTE DES LEBENS UND DES TODES haben dies alles vorbereitet.« Er deutete auf den farbglitzernden Grabhügel. »Wenn du meinen Rat willst«, sagte Andrew, »dann versuche mit deinem einstigen Untergebenen Asmodis zu sprechen. Dies alles hängt mit der Quelle des Todes zusammen. Wir haben sie gesehen, oder besser gesagt den Bereich, in dem sie entstanden ist. Er glich dieser Ebene, war nur ins Gegenteil verkehrt. Das kann kein Zufall sein, Lucifuge.« »Hast du noch nie in Betracht gezogen, dass hier etwas Neues entsteht?«, fragte Johannes. »Womöglich eine … eine neue Quelle des Lebens?« »Es wird keine neue Quelle geben«, gab sich der ehemalige
Ministerpräsident Satans überzeugt. »Es kann nicht sein, denn die Voraussetzungen dazu sind nicht mehr gegeben. Die Quelle entstand, als die Zeit geboren wurde. Nie wieder wird es einen ähnlichen Vorgang geben.« »Aber was geschieht dann vor unseren Augen?« Wieder breitete sich Stille aus. Und der Grabhügel vor ihnen glitzerte in allen Farben und strahlte wie ein Regenbogen, der von besseren Zeiten kündete.
»Sie verstehen wohl nicht«, sagte der Mann mit den kantigen Gesichtszügen. »Ich habe Sie nicht um etwas gebeten. Sie sind mir etwas schuldig.« Eine zitternde Stimme antwortete ihm. »Erst seit einer Woche … ich bringe das Geld, ich verspreche es!« »Herzchen, wir sind nicht bei der Wohlfahrt.« Ein tiefes Durchatmen. »Leider, leider, leider … War das deutlich genug? Leider muss ich auch von Ihnen mein Geld zurückfordern, obwohl Sie zugegeben überaus reizvoll sind.« Die blondhaarige Frau schien einige Zentimeter zu schrumpfen. »Mr. Gerret, Sie wissen doch, ich habe das Geld an das Internat gezahlt, das mein Sohn besucht. Was hätte ich denn tun sollen? Sie werfen ihn raus, wenn ich mit den Raten nicht nachkomme. Und Sie waren so freundlich, mir das Geld zu leihen.« »Freundlichkeit ist eins, Nikki – ich darf Sie doch Nikki nennen, nicht wahr?« Torre Gerret lächelte falsch. »Aber wir haben ganz klar abgemacht, dass Sie heute zurückzahlen.« »Kommen Sie … noch drei Tage! Mehr ist nicht nötig. Ich kriege es zusammen, das weiß ich genau.« »Wollen wir nicht drinnen weiterreden?« Gerret wies an der Frau vorbei in den Wohnungsflur. »Sie haben mich nicht hereingebeten, was ich nicht gerade als besonderen Akt der Höflichkeit interpretiere.« Nikki zupfte ihr Shirt zurecht, das einen beachtlichen Ausschnitt aufwies und den Blick auf die Ansätze fester Brüste freigab. »Ich bin
nicht allein, ich habe …« »Besuch? Kundschaft? Das ist mir egal!« Gerret stieß seine Schuldnerin zur Seite. Er war erst seit zehn Tagen wieder im Geschäft, aber seine alten Kontakte funktionierten immer noch. Es war leicht gewesen, wieder einen Fuß in die Unterwelt zu bekommen, und das erste Geld, das er mit äußerst zugkräftigen Zinsen verleihen konnte, hatte er von alten Bekannten eingetrieben, die mehr als erstaunt gewesen waren, nach Jahren sein Gesicht wieder zu sehen. Er hatte weniger als zwei Tage gebraucht, sich nach seinem Erwachen wieder in der Welt und der Unterwelt zurecht zu finden. »Hören Sie …« »Maul halten«, knurrte Torre Gerret, der einst den Weg zur Quelle des Lebens nicht angetreten hatte, sondern als Ewiger Zweiter hinter Zamorra zurückgeblieben war. Dennoch hatte es ihn in die Hölle der Unsterblichen verschlagen, weil er von Mächten, die er immer noch nicht begriff, auserwählt worden war. Von dieser Unsterblichenhölle war er aufgewacht – und hatte nun doch noch Unsterblichkeit erlangt. Oder besser gesagt, ewiges Leben, denn sterben konnte er sehr wohl. Doch er erwachte danach immer wieder. Was geradezu unsäglich praktisch war. Ergab es also am Ende doch noch einen Sinn, dass er auserwählt worden war. Der Ewige Zweite hatte nun einen Logenplatz eingenommen. Denn soweit er wusste, war er der einzige der Zurückgekehrten, der noch bei klarem Verstand war. Die Medien waren voll von seinen Kollegen, die den Verstand verloren hatten. Dass sie in zunehmendem Maß angeblich verschwanden, war seiner Meinung nach ein Trick der Regierung – man schloss sie weg, weil sie unheimlich waren. Man verstand sie nicht, also beseitigte man sie. Offiziell hieß es, sie würden einfach verschwinden … lächerlich. Nikki taumelte einige Schritte rückwärts und schloss dann hinter ihrem Körper die Tür, die in den Wohnraum führte. »Mr. Gerret«, flüsterte sie. »Bitte! Ich habe einen Kunden dort drin. Sie können das Geld gleich mitnehmen, sowie wir …« »Fertig sind?« Gerret lachte schmierig. »Wie viel?«
»Er wird mir zweihundert …« »Zweihundert?« Er verschränkte die Hände ineinander. »Das wird nicht genügen, Herzchen. Legen Sie eine Sondernummer ein, Nikki – tun Sie etwas, das Sie sonst nie tun würden. Es gibt bestimmt einiges, das Ihr Kunde schon immer einmal tun wollte. Locken Sie ihm Fünfhundert aus der Tasche. Dann sind Sie auf dem richtigen Weg.« Nikkis Gesicht verzog sich vor Ekel. »Was soll ich denn Ihrer Meinung nach tun?« »Fragen wir ihn doch«, sagte Gerret kühl und winkte seine Schuldnerin beiseite. Im Stillen beglückwünschte er sich zu dieser Kundin. Sie war genau die Richtige – das hatte er sofort gesehen. Sie hatten einen besonderen Blick, die Verzweifelten, die Geld aus jeder Quelle annahmen, wenn sie es nur sofort in Händen halten konnten. An ein Morgen dachten sie nicht … bis dieses Morgen sie einholte. So wie es Nikki in diesen Momenten eingeholt hatte. Nikki stand stocksteif. Sie streckte abwehrend die Hände aus. »Wir – wir können da nicht rein. Er will nicht, dass jemand ihn sieht. Sie … Sie verstehen das doch? Ich bin keine … keine gewöhnliche …« »Hure?« Gerret packte Nikki und schob sie zur Seite. »Nenn es doch beim Wort. Und doch, du bist eine, auch wenn du keinen Zuhälter hast.« »Wer zu mir kommt, weiß, dass ich Diskretion biete. Wenn Sie da reingehen, ist mein Ruf dahin.« Gerret versetzte ihr eine Ohrfeige. »Fünfhundert von ihm, fünfhundert von mir. Dann hast du schon mal einen Tausender weniger zu begleichen.« »Von Ihnen? Ich verstehe nicht.« Torre Gerret schaute ihr in die Augen, streckte dann die Hand aus und schob sie über ihrem Hosensaum unter das Shirt. Von da aus ließ er sie direkt nach oben wandern. »Du ahnst gar nicht, wie lange …« »Schick ihn fort!«, drang eine dumpfe Stimme aus dem
Wohnraum. »Oder glaubst du, ich will eurem verdammten Gelaber ewig zuhören?« »Dein Kunde mokiert sich, Nikki!« Er zerriss ihr das Shirt und starrte auf die freiliegenden Brüste. Jetzt war er ihr so nah, das sie seinen übel nach faulem Fisch stinkenden Atem riechen konnte. Als seine Finger über ihre Brust tasteten und roh über die empfindliche Warze rieben, überlief sie ein Schauer des Ekels. Trotz allem, was sie bereit war zu tun, egal wie weit sie sich erniedrigte – den Abscheu vor ihren geilen Kunden, die sie auf ein Stück Fleisch reduzierten, hatte sie nie verloren. Der einzige Schutz, den sie für ihre Seele und ihr Selbstbewusstsein fand, bestand darin sich zu sagen, dass diejenigen, die sie benutzten, noch viel erbärmlichen waren als sie selbst. In diesem Augenblick wurde die Tür von innen aufgerissen. »Du Arsch, verschwinde von hier! Sie ist meine –« Weiter kam er nicht. Gerrets Faust drosch ihm ins Gesicht. Blut schoss aus der Nase und der aufgeplatzten Oberlippe. »Bezahl deinen Teil und geh«, forderte Gerret kalt. Plötzlich kam es ihm nicht mehr auf das Geld an. Der Sinn stand ihm nach etwas anderem. Vielleicht würde er Nikki sogar die Schulden erlassen, wenn sie sich als ordentliche – Der Schuss war nicht mehr als ein Ploppen. Es dauerte eine Sekunde, bis Torre Gerret begriff, dass er getroffen war. Schmerz explodierte in grellen Schüben in seinem Knie. Er sah an sich hinab und starrte verblüfft auf das blutige, knorpelige Etwas, das aus der dicht über dem Unterschenkel zerfetzten Hose ragte. Seine Füße standen bereits in einer Pfütze aus Blut. Er knickte ein. Die Schmerzen waren höllisch. Höllisch. Höllisch … Die Hölle der Unsterblichen, blitzte es in ihm auf, und er sah rot. Er hasste es, daran zu denken, an diese schrecklichste alle Zeiten. Er zog das Klappmesser, das er bei sich trug, weil er mit ihm notfalls Nikki hatte einen Denkzettel verpassen wollen.
Übergangslos schleuderte er es aus dem Handgelenk. Nikki, die ohnehin totenbleich geworden war, schrie voller Entsetzen. Das Messer schoss als sirrender Blitz auf ihren Kunden zu. Dessen Augen weiteten sich, als es ihm bis zum Schaft in den Brustkorb drang. Er stieß ein Röcheln aus, saugte panisch Luft ein, richtete den Revolver aus. »D-du … du hast …« »Schieß doch«, ächzte Gerret voller Schmerzen. Er konnte nur hoffen, dass der andere gut zielte – denn dann würde er in wenigen Sekunden neu erwachen, ohne die furchtbare Verletzung, ohne die qualvolle Pein. Seine Seele würde den Weg zur Hölle der Unsterblichen antreten, die es nicht mehr gab. Es gab keinen Platz mehr für ihn, also würde sich sein Körper neu bilden. Neu und unversehrt. In der Tat schoss der Kerl, ehe er das Messer aus seiner Brust zog – aus seinem Herzen, wie Gerret wusste, denn er hatte genau gezielt. Dann brach er zusammen. Die Kugel traf, doch auch sie tötete Gerret nicht, sondern zerschmetterte ihm lediglich den Unterkiefer. Plötzlich war alles nur noch grelle Agonie. Er wand sich, krümmte sich, kroch auf den Toten zu, hörte Nikkis Schreie, sah sie wegwanken, in Richtung der Tür. »Bleib«, krächzte er, oder wollte es. Er wusste nicht, ob die Laute verständlich waren, die er mit dem zermatschten Etwas bildete, das einmal sein Mund gewesen war. »Töte mich!« Nikki kreischte nur, schriller als zuvor. Gerret tastete halb blind nach dem Revolver, den er durch einen blutigen Schleier eher erahnte als tatsächlich sah. Da war etwas – Metall, heißes Metall. Die Mündung. Seine Finger zitterten, als er mit dem letzten Rest seines klaren Bewusstseins die Waffe ergriff, den Lauf gegen die eigene Stirn drückte und schoss.
Nikki Sanders glaubte, den Verstand zu verlieren. Sie hatte den Tag als einen schlechten bezeichnet, weil Linderman
Ansprüche gestellt hatte, die sie sie weder erfüllen wollte noch konnte. Als dann dieser verfluchte Gerret aufgetaucht war, hatte sich die Lage drastisch verschlechtert und sie hatte geglaubt, noch schlimmer könne es nicht werden. Und nun roch sie das Blut, mit dem sich der verschlissene Teppich in ihrem Wohnungsflur langsam voll saugte. Nun lag Linderman mit einer riesigen Messerwunde im Brustkorb und gebrochenen Augen vor ihr. Nun sah sie das Schrecklichste, das sie jemals gesehen hatte – Gerrets Kopf bestand nur noch aus … Sie wirbelte herum, würgte und erbrach sich gegen die Wand. Wieder und wieder revoltierte ihr Magen, bis sie nichts mehr im Mund spürte als brennende, saure Galle. Daran, dass sie sich mitten in ihre Wohnung erbrach, verschwendet sie keinen Gedanken. War es nicht völlig gleichgültig? Der Flur musste ohnehin grundrenoviert werden. Sie kicherte schrill und unkontrolliert, als ihr diese geradezu aberwitzige und irrsinnige Überlegung durch den Kopf schoss. Was sollte sie tun? Die Polizei rufen? Doch wie sollte sie dieses Desaster erklären, ohne von ihrem kleinen, lukrativen Nebenjob zu erzählen? Andererseits würde es wohl ihr geringstes Problem sein, vor den Bullen als Hobbyhure dazustehen, die zahlungswilligen Männern ein paar Hunderter im wahrsten Sinne des Wortes aus der Hose zog. Nikki wankte ins Badezimmer, spuckte dort den letzten Rest Gallenflüssigkeit ins Waschbecken und drehte das Wasser auf. Eiskalt. Sie ließ es in ihre Hände rinnen und spritzte es sich ins Gesicht. Dann hielt sie den Mund an den Strahl, spülte einige Male aus und trank einige Schlucke, um die Magen- und Gallensäure aus ihrer Speiseröhre zu spülen. Nur mühsam minderte sich das Chaos in ihrem Kopf. Sie war kaum in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Sie durfte nicht mehr lange zögern, ehe sie die Polizei rief. Das Ganze hatte sich alles andere als lautlos abgespielt. Vielleicht hatte dieser Japaner in der Nachbarwohnung etwas gehört, dieser Nakamura.
Auch wenn er sich wohl sagte, dass die kleine Hure doch nur Streit mit einem ihrer Freier hatte und deswegen nicht nach dem Rechten sah, waren ihm die Schreie vielleicht doch zu viel geworden. Und die Schüsse dürfte er trotz Schalldämpfer auch gehört haben – sie wusste, dass er sie gerne durch die dünnen Wände belauschte und schon so einiges gehört hatte … einmal hatte er sie angesprochen und eine recht detaillierte Beschreibung des Programms gegeben, das sie am letzten Abend praktiziert hatte. Nakamura war ein widerlicher Giftzwerg, auch wenn er mit seinem Mondgesicht und dem breiten Grinsen harmlos wirkte. Er war nur auf eins aus – genug Geld beiseite zu legen, um selbst einmal Kunde bei seiner Nachbarin zu werden. Nikki legte die Hand auf die Klinke der Badezimmertür und atmete tief durch. Egal, wie sehr sie versuchte, sich gedanklich abzulenken, sie konnte sich vor der brutalen Wahrheit, die weniger als zwei Meter von ihr entfernt lag, nicht verschließen. Sie drückte die Tür auf und atmete flach. Der Gestank nach Blut war überwältigend. Der Blutsee um Linderman schillerte und glitzerte im Licht der Deckenlampe. Gerret hingegen … »Hören Sie, Nikki.« Gerret stand neben der Leiche! »Ich erlasse Ihnen Ihre Schulden, Nikki. Nehmen Sie es als Geschenk.« Sie gab einen erstickten Laut von sich. »Um die Leiche werde ich mich kümmern. Sie müssen gar nichts tun. Einfach nur stillhalten.« »A-a-aber …« Gerret bewegte den Unterkiefer mit offenem Mund, und es krachte im Gelenk. Ein Schwall übel riechenden Atems drang bis zu Nikki. »Haben Sie verstanden, Nikki? Keine Polizei, kein gar nichts. Niemand wird je davon hören. Ich halte nichts davon, wenn die Leute erfahren, dass ich von den Toten auferstehe. Ich werde die Leiche abholen lassen und …« Er grinste. »… die Schweinerei entfernen lassen. Aber wenn Sie auch nur ein Wort weitergeben, wenn auch nur die kleinste Andeutung morgen oder sonst
irgendwann sonst in den Zeitungen steht – Sie verstehen?« Vor allem verstand sie eins – Gerret bot ihr eine Möglichkeit, unversehrt aus dem ganzen Schlamassel herauszukommen. Und diese Chance würde sie sich nicht entgehen lassen, komme was wolle. »Kein Wort, Mr. Gerret.« »Sehr vernünftig.« »Und keine Schulden mehr.« Sein Grinsen verbreiterte sich. »Wissen Sie, Nikki, Sie gefallen mir. Ich überlege, ob Sie für mich arbeiten sollten. Ich könnte Ihnen eine Menge Kunden besorgen, die etwas mehr springen lassen.« »Sie sind einer von denen.« Die Worte waren heraus, ehe sie es verhindern konnte. Nun machte es auch keinen Unterschied mehr, noch mehr zu sagen. »Einer von den Wahnsinnigen, die nicht sterben können und dann wieder verschwinden. Ich … ich habe immer gedacht, das ist alles eine gewaltige Lüge der Medien.« »Verschwinden ist ein gutes Stichwort, Nikki. Noch heute Abend wird jemand kommen und die Leiche verschwinden lassen. Und nun verschwinde ich. Kein Wort, klar?« Er drehte sich um, öffnete die Wohnungstür und ging. Seit seinem Auftauchen waren nicht einmal fünfzehn Minuten vergangen. Eine Viertelstunde, die Nikki in ihrem Leben nie wieder vergessen würde.
Andrew Millings und Johannes sahen Lucifuge Rofocale nach, der über die weiße Ebene davonging – der Sammler hatte angekündigt, noch nachdenken zu wollen, ehe er tatsächlich versuchte, zur Quelle des Todes vorzudringen oder mit Asmodis zu sprechen, dem alten und neuen Höllenfürsten. »Ich bin davon überzeugt, dass ich Torre Gerrets Gegenwart spüre, wenn ich nur in seine Nähe gelange«, sagte Andrew. »Also müssen wir uns an den Ort seines Todes als Mensch versetzen – dort ist er zuerst aufgetaucht, nachdem die Hölle der Unsterblichen ihn freigegeben hat. Von dort aus müssen wir seine Spur verfolgen. Wenn wir Glück haben, ist er noch immer in der Nähe. Er starb
damals in London, als er in eine Auseinandersetzung mit Ssacah, dem Schlangendämon, verwickelt war.« »Er starb in Brakila«, wandte Johannes ein, »als der Zwitter vernichtet wurde und du beinahe ebenfalls gestorben wärst.« »Gerret war niemals in Brakila, ebenso wenig wie ich – die Person dort war der Zwitter. Gerret wird sich an die Zeit als Zwitter erinnern können, genauso wie ich … aber wir steckten damals nicht als Einzelpersonen in diesem Körper. Das Ganze war mehr als die Summe der Teile.« »Also London«, sagte Johannes und streckte die Hand aus. Mechanisch ergriff Andrew sie. Der Teleport von der Ebene an irgendeinen Ort dieser oder einer anderen Welt war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Er hatte vergessen, wie viele Auserwählte er bereits ausfindig gemacht hatte, damit Lucifuge Rofocale sie zur Ebene bringen konnte. Seit kurzem vermochte sogar Andrew selbst sie an diesen geheimnisvollen Ort zu führen. Es wurde von Mal zu Mal leichter, als erstarke die Ebene mit jedem Unsterblichen, der auf ihr wandelte. In London regnete es – oder besser gesagt, schüttete es. Binnen weniger Sekunden waren die beiden Unsterblichenjäger bis auf die Knochen durchnässt. Die Kleider klebten an ihrer Haut, und Andrew zitterte vor Kälte, weil zu allem Überfluss ein scharfer Wind durch die Straßen pfiff. »Ich hatte Recht«, sagte Andrew. »Er ist in der Stadt. Ich spüre ihn.« Durch den strömenden Regen rannte jemand auf sie zu, zog eine Kamera und schoss ein Bild nach dem anderen. »Bleibt stehen«, rief er und wischte sich triefnasse schwarze Haarsträhnen aus der Stirn. »Shit, bleibt stehen!« Johannes ahnte Übles. »Was ist denn mit dem los?« »Der hat uns gesehen, wie wir aus dem Nichts aufgetaucht sind.« Andrew seufzte und drehte sich um. »Lass uns in Ruhe, ja?« Der Schwarzhaarige stoppte direkt vor ihnen und schoss ein letztes Bild – der Blitz blendete Andrew völlig. »Gebt mir ein Interview, bitte! Ich drück Euch 'nen Fünfziger direkt in die Hand!
Was haltet ihr davon? Ich suche schon die ganze Zeit nach irgendeinem von diesen Freaks, die durchknallen und verschwinden, wie es ihnen gerade passt … he, nicht dass ich euch für Freaks halte, nein, nein … aber ich habe gesehen, wie ihr einfach so aufgetaucht seid, also könnt ihr auch wieder verschwinden. Shit, das glaubt mir keiner, aber ich hab schöne Bilder von euch, vielleicht kann ich da irgendwas machen. Hört zu, das ist die Story für mich, ich brauche die, weil …« »Langsam«, knurrte Johannes. Andrew konnte es kaum fassen – Johannes hatte dieses Wort tatsächlich geknurrt. »Hol auch mal Luft, Junge.« Wieder trat die Kamera in Aktion. »Wie macht ihr es? Was steckt hinter dieser Invasion der Wahnsinnigen?« »Komm«, sagte Andrew, legte die Hand auf Johannes' Schulter und sprang einige Hundert Meter weiter. Dass in dieser Sekunde der verhinderte Journalist wahrscheinlich halb in Ohnmacht fiel, kümmerte ihn nicht weiter. Was spielte das schon für eine Rolle? Er hatte keinerlei Beweise für das Geschehen, und selbst wenn – das Weltgefüge geriet in diesen Tagen ohnehin völlig aus dem Ruder und würde nie mehr dasselbe sein. Wahrscheinlich kam die Menschheit nicht mehr umhin, die Existenz von höheren Mächten und Dämonen bald offiziell anzuerkennen. Vielleicht war dies nicht einmal das Übelste. Sie materialisierten in einem engen Raum, der nahezu in völliger Dunkelheit lag. Nur von weit oben fiel mattes Licht. Es würde einige Sekunden dauern, bis sich ihre Augen an die herrschenden Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. »Zielgenaue Landung«, sagte Andrew zufrieden. »Hier haben wir unsere Ruhe.« »Wo sind wir?« »Sagt dir Big Ben etwas?« »Die Glocke?« »Der Turm … eigentlich The Clock Tower, aber man nennt den ganzen Turm mittlerweile Big Ben. Wir sind unter der Dachspitze, über dem Glockenraum. Hierher kommt ganz sicher niemand.« Er
wischte sich Wasser aus den Haaren. »Es ist ernst, Kleiner. Ich kann Torre Gerret spüren. Er ist in der Stadt. Vorhin waren wir ihm näher als jetzt. Ich kann seinen genauen Aufenthaltsort nicht lokalisieren, spüre aber die Richtung, in der er sich aufhält. Ich habe eine Affinität zu ihm, mehr noch als zu den anderen Auserwählten.« »Also suchen wir ihn, indem wir uns seinen Standort langsam annähern?« »Nicht nur das, Johannes. Wir werden ihn nicht nur suchen, sondern finden.«
Torre Gerret erinnerte sich der Schmerzen, die grausamer in ihm gewühlt hatten, als er es selbst seinem schlimmsten Feind zumuten wollte. Sein Knie … sein Kiefer … sein Gesicht … Noch immer erschauerte er unter der Agonie. Seine Seele quälte sich. Und er dachte wieder an die Zeit in der Hölle der Unsterblichen zurück. Wie die verderbten Kraftströme aus dunkler Magie ihn gemartert und langsam in Richtung Wahnsinn getrieben hatte. Er war krank gewesen, ein psychisches Wrack, und diese Krankheit hatte er mit in die Existenz als Zwitter getragen – und sie dort zurückgelassen. Er war frei … gesund … doch er war geschlagen mit entsetzlichen Erinnerungen. Er wusste, wie es war, verloren und verdammt zu sein. Verdammt in alle Ewigkeit … auch wenn diese Ewigkeit durch ein Ereignis beendet worden war, wie es nie zuvor Realität geworden war. Er durchschaute diese Hintergründe nicht, aber er wusste, dass er eines Tages Antworten finden würde. Gerret fragte sich, ob er den richtigen Weg ging. Hatte er nicht schon genug Fehler begangen? War sein Hass auf Professor Zamorra nicht falsch genug gewesen? Er hatte Zamorra das Leben zur Hölle gemacht, doch als er ihn in seiner größten Verzweiflung aus der Hölle der Unsterblichen heraus um Hilfe gebeten hatte, hatte der Parapsychologe nicht gezögert. Warum?
Diese Frage nagte in ihm. Warum? Warum war Zamorra letztlich auch dem Zwitter freundlich begegnet, obwohl dieser sein eigenes Spiel gespielt hatte? Warum? Lag wahre Erfüllung, wahre Heilung am Ende doch darin, für das Gute zu kämpfen? Die Schmerzen, die er vor wenigen Stunden hatte durchleiden müssen … waren sie nicht aus dem Bösen heraus entstanden? Und durfte er das Schreckliche, das das Böse schlechthin, Lucifuge Rofocale, der Ministerpräsident Satans, ihm angetan hatte, wieder mit Bösem beantworten? »Unsinn«, sagte er. »Wir müssen etwas bereden«, sagte Andrew Millings.
30. Schicksal eines Auserwählten: Gobelus Er drückte, bis der Schmerz nicht mehr auszuhalten war, bis er fürchtete, seine Augäpfel tief in den eigenen Schädel zu versenken. Als er seine Augen geöffnet hatte, da war der Beginn seiner neuen Existenz sofort zu einer Qual geworden. So grell … so monoton … durchdrungen von einer beißenden Helligkeit, die seine Sehnerven wie ein gleißender Schwall von weißem Feuer ansprangen. Er hatte geschrien, denn lange zuvor – unendlich lange? – war nur Dunkelheit um ihn herum gewesen. Und nun dies. Die flachen Hände pressten sich vor seine Augen, und durch den Schmerz hindurch bemerkte er die Schwielen, die er dort trug. Du hast die Stäbe umklammert, an ihnen gerüttelt, als wenn du auch nur den Hauch einer Chance besessen hättest, sie zu verbiegen … immer und immer wieder … du Idiot! Welche Stäbe? Was flüsterte sein Unterbewusstsein ihm da nur zu? Vorsichtig versuchte er seine Augen nun an das Strahlen zu gewöhnen, das überall zu sein schien. Es dauerte lange, sehr lange, bis seine Augenlider bereit waren, dieses Risiko einzugehen – sie erlaubten ein Blinzeln. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde es erträglicher, wenn auch nicht lohnenswerter. Riesige Gebäude, direkt neben kleinen und primitiven Hütten, daneben ein Palast, eine Kirche, eine Moschee … dann Lagerhallen – gefolgt von ganzen Straßenzügen im viktorianischen Stil … eine Pagode. Es fehlte nicht einmal ein afrikanischer Kral. Und alle waren sie weiß! Alles war weiß, unerträglich weiß. Der Straßenbelag ebenso, wie der verfluchte Milchhimmel. Und woher kennst du all die Formen und Namen dieser Gebäude? Er hatte keine Antwort darauf. Stundenlang lief er durch die
Straßen der weißen Stadt, die anscheinend keine Grenzen, kein Ende hatte. Es verwunderte ihn nicht, dass ihm kein lebendes Wesen begegnete, auch wenn er es sich gewünscht hätte – beinahe noch mehr als einen roten, blauen oder gelben Fleck, irgendwo an einer Hauswand. Himmel, wie sehr er sich danach sehnte, nach einer Ruhefläche für seine Augen. Vor einem Gebäude blieb er stehen – es wies nicht einen rechten Winkel auf, schien auch sonst nicht nach logischen Kriterien erbaut worden zu sein. Er kannte diese Bauform gut. Die typische Hausform auf ORSTER III. Ich habe dort gelebt … eine Weile zumindest. Viele der anderen Gebäude konnte er den unterschiedlichsten Welten zuordnen. Einen großen Teil der Erde. Ja, auch dort hatte er einen Abschnitt seines Lebens verbracht. Erinnerungsfetzen … sie verwirrten ihn nur noch mehr. Wie konnte man denn auf so vielen Welten gelebt haben? Das ging doch nicht. Verwundert registrierte er, dass er sich um alles Gedanken zu machen schien, nur nicht um die Frage, wo er hier war … und wie er hierher kam. Doch hier gibt es die Qual nicht – also ist es gut. Oder? War das hier vielleicht das Leben nach dem Tod? Er hatte nie wirklich daran glauben können. Ohne Plan irrte er weiter durch die toten Straßen einer toten Stadt, die kein Leben verdient hatte. Auch das seine nicht … und doch war er hier einmal absolut freiwillig geblieben. Wann? Eine Vorstellung von Zeitabläufen hatte er nicht. Waren es 15.000 Jahre her? Oder noch viel mehr? Er blieb stehen, ging in die Hocke, denn seine Füße waren eine solche Wanderung einfach nicht mehr gewohnt. Zudem wollte er in seinem Unterbewusstsein graben – er musste Antworten finden, sonst konnte ihm hier der Wahnsinn nicht erspart bleiben. Feiner Steinstaub wurde von einem lauen Wind die Straße entlang getrieben. Staub, der so unendlich alt war wie all diese Gebäude hier. Und so alt wie er selbst? Er hatte viele Welten gekannt, das war eine Erkenntnis, deren er sich sicher war. Und hier, ausgerechnet hier, war er geblieben? Es musste einen gewichtigen Grund gegeben haben.
Fünf Buchstaben … ein Wort nur … ein Name? SILLY! Waren Namen denn so wichtig? Wenn, dann als Schlüssel, die verschlossene Schubladen der Erinnerung öffnen konnten. Silly … und Gobelus. Ja, er hieß Gobelus. Zumindest hatte man ihn auf einigen Welten so genannt, Welten, in die er geslippt war, wenn er jetzt auch nicht mehr wusste, was dieser Begriff zu bedeuten hatte. Und hier hatte seine Reise also geendet? Er blickte sich um. Wie war das nur möglich gewesen. Silly? Lag in diesem Wort die ganze Wahrheit? Ruckartig kam er wieder in die Höhe, wandte sich nach links. Dorthin führte sein Weg, da war er jetzt ganz sicher. Zu einem ganz bestimmten Gebäude, das im Zentrum des kalkigen Molochs lag. Als er seine Füße zwang, sich seinem Willen zu unterwerfen, da war plötzlich ein Gefühl in ihm, das er hinter den Gitterstäben vergessen hatte: Sehnsucht. Sie war es, die ihn nun vorwärts trieb.
Das Haus war so unscheinbar. Zwischen zwei hohen Gebäuden schien es sich nahezu unsichtbar machen zu wollen. Gobelus spürte einen Schwindel, der ihn ergriff. Verunsichert und erschöpft lehnte er sich gegen die Hauswand. Ein Schwall des feinen Steinstaubs rieselte auf ihn nieder und ließ ihn einen raschen Schritt nach vorne tun. Erst jetzt bemerkte er, in welch schlechtem Zustand sich viele der Gebäude um ihn herum befanden. Diese Stadt war uralt. Was auch immer ihr Zweck gewesen sein mochte – er war längst erfüllt, vielleicht auch einfach nicht mehr erwünscht? Gobelus war sicher, dass diese Stadt in der letzten Phase ihrer Existenz war. Der Eingang zu dem kleinen Haus war schmal und nicht einmal hoch genug, um Gobelus' hohe Gestalt problemlos aufzunehmen. Als er den Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, da wusste er, was ihn im Inneren erwartete. Ein Schacht, dunkel und bedrohlich, gleichzeitig jedoch eine willkommene Ablenkung für seine Augen. Oft bin ich hier in den Weltenbauch gestiegen. Hinunter zum Ursprung. Und so oft war ich dabei nicht alleine.
Bilder zuckten in seinem Kopf auf, verblassten rasend schnell, machten Platz für andere. Er sah sich, wie er auf dieser Welt erschien – einfach so, denn er war eines der Wesen, die man auf den Welten Slipper nannte. Es gab nur wenige, die diesen Namen verdienten, denn sie schlüpften von Welt zu Welt, einfach so. Sie kamen und gingen, wie es ihnen gerade gefiel. Sie tauchten auf, blieben eine Weile, verschwanden so, wie sie gekommen waren … ohne Abschied. Die Erinnerung an dieses Leben bahnte sich nur langsam ihren Weg in Gobelus' Bewusstsein. Slipper waren beinahe überall beliebt und gerne gesehene Gäste. Sie waren ohne Aggression, sie forderten nichts, außer einem Moment der Gastfreundschaft. Gobelus wurde schmerzlich klar, wie leicht und aufregend sein Leben gewesen war. Irgendwann jedoch führte in sein Weg auf diese Welt, kahl und feindlich gegenüber jedem Leben. Doch da gab es diese weiße Stadt, die ihn neugierig machte. Neugierde kann gefährlich sein – sie tötet die Katze, so sagt man – doch manchmal belohnt sie auch. In der Stadt stand er plötzlich vor der schönsten und aufregendsten Frau, die er auf all seinen Planetenreisen gesehen hatte. Gobelus riss sich von seinen Erinnerungen los. Entschlossen begann er den Abstieg in den Schacht. So aufgewühlt er auch war, so sehr die Spotlights der Erinnerungen ihn auch quälten und gleichzeitig liebkosten, so vorsichtig blieb er. Dieser Schacht hatte immer seine Tücken gehabt. Geröll, Wurzelendungen, die oft so fein waren, dass man sie erst bemerkte, wenn sie sich um die Füße gelegt hatten … der Weg ging steil nach unten, die Sturzgefahr bestand auf Schritt und Tritt. Es hat mir den Atem geraubt, als ich sie damals sah … Es ging nicht – die Bilder waren wieder in seinem Kopf, er konnte sie nicht zurückdrängen. Silly! Wie unglaublich schön und sanft sie gewesen war. Sie, die Wächterin dieser weißen Stadt, die zu den ersten Steinmanifesten zählte, die von den Herrschern installiert worden waren. Silly! Wie freundlich sie ihn in der so kalten und hässlich unifarbenen Stadt aufgenommen hatte. Der Slipper Gobelus hatte jeden Gedanken an
seine Weltenreisen rasch vergessen. Er war hier geblieben, an einem Ort, der seinem Naturell so ganz und gar nicht entsprach. Er hasste diese Stadt, hasste alles, was Silly ihm darüber berichtete. Die große Gefahr, die in ferner Zukunft durch unzählige dieser Steingeschwüre verhindert und gebannt werden sollte … er glaubte nicht daran. Doch er liebte Silly. Und wurde der Krieger dieser weißen Stadt. Das Schachtende war erreicht. Hier hatte es immer nach Feuchtigkeit, nach Moder und Holz gestunken. Ja – gestunken! Jetzt konnte er nichts davon riechen. Vorsichtig betrat Gobelus die Wurzelhöhle. Von irgendwoher drang fahles Licht in die Kaverne, die früher von den feinen Verästelungen der Wurzel ausgegangen war. Doch die konnte Gobelus nun nicht mehr entdecken. Was er jedoch sah, das war die Wurzel. Sie sah verwittert aus, lange nicht mehr so fett und voller Energie, wie er sie in Erinnerung hatte. »Die Zeit macht auch vor mir nicht Halt. Warum störst du mich nach einer Ewigkeit?« Die Stimme klang so intensiv in seinem Kopf auf. Es war nicht mehr die befehlsgewohnte Stimme von damals, denn nun klang sie zitterig, doch sie gehörte eindeutig der Wurzel. Und alles kam wie ein mächtiger Schwall der Erinnerung zu Gobelus zurück. Er sah sich und Silly, die hier, genau an diesem Punkt gestanden hatten …
Er hörte Sillys Stimme laut und deutlich. »Aber warum? Wo liegt der Grund? Du kannst ihn mir doch nicht so einfach nehmen – ich liebe ihn doch.« Die Wurzel ließ sich auf keine Diskussionen mit der Wächterin ein. »Er ist ein Risiko für diese Stadt. Es ist etwas in ihm, dass ich hier nicht dulden kann. Eine Bestimmung, die er noch nicht einmal selbst kennt. Er muss verschwinden. Einstweilen wird ein Praetor seine Stelle übernehmen. Und nun töte ihn, wie ich es dir befohlen habe. Du musst gehorchen. Er ist
eine Gefahr!« »Töten?« Silly schrie den Wurzelkorpus an. »Dann gehe ich lieber mit ihm. Suche dir eine neue Wächterin.« Noch ehe ihre Worte verklungen waren, begann es. Sillys Körper schien in Flammen zu stehen. Gobelus wollte ihr helfen, doch eine magische Hitze hielt ihn davon ab. Sillys Mund war weit aufgerissen, und aus ihm drangen unhörbare Schreie der Qual, die sie hier zu erleiden hatte. Es endete so plötzlich, wie es begonnen hatte. Die Wächterin brach wimmernd zusammen. »Gehorche – töte ihn jetzt.« Der Kampfstab, den Silly meist bei sich trug, lag nur zwei Handbreiten von ihr entfernt. Es war eine goldglänzende Stange mit zwei nadelspitzen Enden – und der Stab verlängerte sich in den Händen eines Kämpfers, wurde so zum Speer oder einem Degen, ganz wie es erforderlich war. Gobelus half Silly beim Aufstehen. Dann handelte er blitzschnell. Der Stab lag plötzlich in seiner rechten Hand und wuchs auf eine Länge von fünf Fuß. Silly erkannte sein Vorhaben. »Nicht, das darfst du nicht tun, Liebster. Nichts und niemand darf die Wurzel angreifen.« Doch Gobelus sah rot. Er packte den Stab mit beiden Händen und stürmte auf die verhasste Wurzel zu. Und stach zu! Mit all seiner Kraft … Entsetzt taumelte er zurück, als er sah, wen er durchbohrt hatte. Vielleicht hatte Silly die Wurzel wirklich schützen wollen, vielleicht hatte die ihre Wächterin auch nur als Schutzschild benutzt … Gobelus wusste es nicht. Er wusste nur, dass er seine geliebte Gefährtin auf den Wurzelkorpus gespießt hatte …
… damals hatte der Wahnsinn mit Macht nach Gobelus gegriffen. Er sah die Tote … er konnte nicht schreien, nicht einmal weinen. Hitze schlug ihm entgegen, daran erinnerte er sich noch, doch dann war diese Welt um ihn herum verschwunden. Er hatte den Slip eingesetzt, den er in der Zeit mit Silly vollkommen verdrängt hatte. Was war danach gekommen? Da waren keine Bilder mehr, rein
gar nichts. Nur das von den Stäben eines Käfigs. »Willst du mich nun doch noch töten? Du hast gesehen, dass die Stadt zerfällt? Ja, sie gehört heute nicht mehr zum Kreis der aktiven weißen Städte. Die ersten Städte haben ausgedient. Töte mich! Mir ist es egal …« Unter der dicken Staubschicht, die sich am Fuß des Wurzelsockels befand, hatte Gobelus etwas blitzen sehen. Er schrie hysterisch auf. Es war der Kampfstab, mit dem er Silly getötet hatte. Unfassbar, doch er schien hier auf Gobelus gewartet zu haben. Mit einem Satz war er heran, packte den Stab und stach zu – der ganze Wahnsinn brach aus ihm heraus. Zehn, zwanzig, einhundert Stiche, bis er erschöpft zusammenbrach. Der Wurzelkorpus war zerfetzt. Doch Gobelus' Wahnsinn duldete keine Pause, kein Ausruhen. Wie ein Berserker stürmte er den Schacht hoch. Steine lagen überall herum. Mit verzerrten Gesicht begann Gobelus damit die Gebäude zu bewerfen. »Verfluchte Stadt – verrecke! Nun stirb doch endlich!« Immer wieder hämmerte er Steinbrocken gegen die Häuser. Einige zeigten Wirkung, denn die Stadt war schon lange dem langsamen Verfall ausgesetzt. Ein kleines Vordach brach zusammen – eine Wand fiel um. Gobelus wusste nicht wie lange er gewütet hatte, als ihn schließlich seine Kräfte verließen. Aber sein Wille, sein grenzenloser Hass und Wahnsinn … sie waren noch nicht satt. Er quälte sich wieder auf die Füße, wollte weitermachen. Eine harte Hand griff nach seiner Schulter, riss ihn zu Boden. Verwirrt starrte Gobelus in das Gesicht eines Mannes, den er noch nie gesehen hatte. Dessen Stimme war ruhig, duldete keinerlei Widerspruch, als er nach der Hand des Slippers griff. »Es ist genug. Komm jetzt mit mir … und beruhige dich.«
31. Die Vollendung der Ebene Lucifuge Rofocale machte sich bereit, einen schweren Weg zu gehen. Einen Weg, der ihn nicht nur in das gefährlichste aller Gefilde führte, sondern auch in seine ureigene Vergangenheit, die er um jeden Preis vergessen wollte. Zumindest war die Hölle bis vor kurzem das gefährlichste aller Gefilde gewesen – inzwischen war der Einschätzung des ehemaligen Erzdämons nach die Quelle des Todes wesentlich brisanter. Zumal sie noch immer am Entstehen war und niemand wusste, welches monströse Gebilde am Ende daraus hervorgehen würde. Sie war zu Materie gewordener Tod … und sie wuchs. Woher er dieses Details wusste, vermochte Lucifuge Rofocale selbst nicht zu sagen. Das Wissen war in ihm, als wäre es ein selbstverständlicher Teil seines Lebens. Früher, als er noch den Posten als erster Diener LUZIFERS bekleidet hatte, wäre nichts einfacher für ihn gewesen, als die Hölle aufzusuchen und dort in den Thronsaal des Fürsten vorzudringen. Nun jedoch war er ein Mensch – und Menschen, die noch am Leben waren, gehörten naturgemäß nun einmal nicht in die Hölle. So konnte er nicht mehr Kraft eines einfachen Gedankens zwischen den Gefilden wechseln, wie er etwa die weiße Ebene erreichte. Doch was Lucifuge Rofocale nach wie vor besaß, war sein Wissen. Er kannte selbst das letzte und unbedeutendste Details der Schwefelklüfte, wusste um jedes einzelne Geheimnis der sieben Kreise. Deshalb wollte er gerade nach Hongkong überwechseln, wo er am leichtesten einen Übergang finden würde, als er am Horizont der Ebene ein funkelndes Lichtgewitter entdeckte. Für einen Augenblick strahlte das Weiß dort intensiver als überall sonst, dann brachen Farben aus der Erde und vereinten sich zu einem regenbogenartigen Glitzern, das bis in den Himmel über der Ebene schoss.
Diesen Anblick konnte er nicht ignorieren. Er musste wissen, was dort vor sich ging – und er ahnte, was er dort sehen würde. Ein Gedanke genügte, sich an den entsprechenden Ort zu versetzen. Tatsächlich spielte sich dort genau das ab, was er erwartet hatte. Drei farbschillernde Grabhügel erhoben sich nebeneinander. Von ihnen gingen rote, blaue und gelbe Schlieren aus und zogen sich durch den weißen Untergrund. Was geschah hier? Oder was entstand hier? Dieses Wort bildete sich in Lucifuge Rofocales Gedanken: etwas entstand vor seinen Augen und überall in und auf der Ebene. Woher er diese Gewissheit nahm, wusste er nicht, ebenso wenig wie er sagen konnte, woher er wusste, dass die Quelle des Todes noch wuchs. Er erschrak, als er diese beiden Entwicklungen unwillkürlich miteinander verknüpfte. War das die Antwort? Hing die Ebene mit der Quelle des Todes zusammen, war sie gar ein Teil von ihr? Die logische Konsequenz dieses Gedankens entsetzte Lucifuge Rofocale bis ins Mark. Er hatte geglaubt, mit seinem Leben als Sammler könne er einiges Unrecht, das er an den Auserwählten begangen hatte, wieder gut machen … doch genau das Gegenteil schien der Fall zu sein! Wuchs die Quelle des Todes, indem sie die Auserwählten und das Wasser des Lebens absorbierte, das in deren Adern zirkulierte und auch ihre Seelen verändert hatte? Vergingen die Auserwählten, um der Quelle des Todes Substanz zu verleihen? War die Ebene also nichts anderes als ein Zwischenmedium, ein Kerker gewissermaßen, in dem die Auserwählten zur Schlachtbank geführt wurden? Lucifuge Rofocale schrie. Drei Grabhügel … mit demjenigen Humarals waren es vier. Und hinter diesen regenbogenfarbenen Stätten des Grauens pulsierte ein schwarzes Loch, das darauf wartete, einen weiteren Unsterblichen zu verschlingen und ihn auszulöschen. »Nein!« Der ehemalige Ministerpräsident Satans taumelte. Nun erlebte er die Hilflosigkeit, das Entsetzen, die Qual, die er im Laufe seiner
Höllenexistenz Millionen und Milliarden von Wesen zugefügt hatte. War das die Antwort der MÄCHTE DES LEBENS UND DES TODES? Wollten sie ihm auf diese Weise vor Augen führen, was er getan hatte? Sollte er auf diese Art geläutert werden? Das war unbarmherzig, widerwärtig sogar. War das der Plan der MÄCHTE, den Lucifuge Rofocale zu erahnen glaubte? Dann zeigte sich nur ihre Grausamkeit. Sie begannen die neue Ordnung mit einem Unrecht, das jedes bekannte Maß überschritt. Dabei ging es Lucifuge nicht einmal um sich selbst – er hatte es womöglich nicht besser verdient. Aber die Auserwählten, seine Kinder … sie waren also doch nicht aus dem Plan der Schöpfung gefallen, sondern erfüllten einen perfiden Endzweck. Jemand näherte sich. Der Sammler schaute auf und entdeckte Sariuga, einen Auserwählten, zu dem er eine ganz besondere Beziehung aufgebaut hatte, weil ihm eine spezielle Bedeutung in der Entwicklung zukam. Sariuga war der erste nichtmenschliche Unsterbliche, der die Ebene erreicht hatte. »Nicht du«, krächzte der Sammler tonlos. »Nicht ausgerechnet du.« Sariuga schob seinen Fischleib vorwärts, als würde er im Wasser schwimmen. Wo immer er sich auf der Ebene bewegte, bildete sie eine andere Konsistenz aus, so dass er existieren konnte. Ein wundervoller Umstand, den Lucifuge Rofocale stets positiv gedeutet hatte – doch auch er war nur Teil eines bösen Planes der Verdammnis. »Halte mich nicht auf, Sammler«, blubberte Sariuga. »Du hast mich aus Priogars Trümmern vor dem endlosen Sterben gerettet, dafür danke ich dir … aber nun habe ich endlich den Zweck und das Ziel meiner Existenz erreicht.« »Du täuschst dich!«, brüllte der Sammler, hetzte den kleinen Farbhügel hinauf, sprang seitlich an der wabernden Schwärze vorbei, die zum ewigen Grab des Auserwählten werden sollte. »Halte mich nicht auf«, wiederholte Sariuga. Lucifuge Rofocale streckte die Hand aus. »Du musst es nicht tun!
Ich werde einen Weg finden …« »Begehe nicht noch einmal denselben Fehler wie bei Humaral«, sagte das Fischwesen, spannte sich, schnellte in die Höhe, schlug einmal mit der Schwanzflosse und tauchte in die Schwärze ein. Die Schwärze gerann. Farben explodierten. Lucifuge Rofocale schlug die Hände vor die Augen. Der Regenbogen schoss in die Höhe und der Grabhügel stülpte sich auf. Das war genug. An diesem einen, letzten Tod konnte er nichts mehr ändern, aber er würde keinen weiteren akzeptieren. Die Zeit des Beobachtens war vorbei. Nun würde er handeln. Voller Wut sprang er auf die Erde, nach Hongkong, mitten in das Büro eines der erfolgreichsten Geschäftsmänner der Millionenmetropole. Der schmale Asiate, gekleidet in einen Tausend-Dollar-Anzug, wirbelte herum. »Was …« »Schweig, du Narr«, donnerte Lucifuge Rofocale mit Stentorstimme. »Erkennst du deinen Meister nicht?« Der Geschäftsmann erbleichte und sackte augenblicklich in die Knie. »Ihr … Ihr ehrt mich, höllischer Gebieter, Meister der Qual!« Lucifuge Rofocale widerte es an, die Rolle des Erzdämons zu spielen, der er einst gewesen war, doch es war die einfachste Lösung. Es ging am schnellsten, und wenn momentan etwas zählte, dann war es Zeit. Er musste schnellstmöglich in die Hölle gelangen und konnte nur hoffen, Asmodis dort anzutreffen. Es gab einige Dinge zu klären. »Führe mich sofort in deinen Beschwörungsraum und öffne das Tor zur Hölle!« »Meister … lasst mir Zeit, ein Opfer zu erwählen und es Euch zu …« »Pah!« Der ehemalige Ministerpräsident Satans winkte ab. »Wenn ich ein Opfer will, werde ich es dir mitteilen. Und diese Zeit ist vorüber! Nie mehr wirst du mir eines bringen!« »Aber …« »Du wagst es zu widersprechen?«
Der Asiate duckte sich in seiner knienden Haltung, dass er mit der Stirn den Boden berührte. »Verzeiht mir, großer Meister und Gebieter der Sieben Kreise der Hölle.« »Steh auf und öffne das Tor!« Hastig gehorchte der Satansjünger. Er tippte eine Sensortaste am Rand seines riesigen Schreibtisches, auf dem einige aufgeklappte Laptops standen. »Ming – keine Störungen für heute mehr. Alle Termine absagen! Wenn die Tür zu meinem Büro auch nur einmal aufgeht, sind Sie gefeuert, ist das klar?« Ohne auf eine Antwort zu warten, beendete er wieder die Sprechverbindung zu seiner Sekretärin im Vorzimmer. Danach tippte er eine Kombination in ein Sensor-Zahlenfeld, das ebenfalls in seinen Schreibtisch eingelassen war. Lautlos schwang ein Teil des Aktenschranks zur Seite, der die gesamte Seitenwand bedeckte. Dahinter kam eine etwa vier auf vier Meter durchmessende Kammer zum Vorschein. »Folgt mir, Meister«, sagte der Asiate unterwürfig. Lucifuge Rofocale gab nur ein Knurren von sich. Nun erwies es sich als richtig, dass er diesem Höllenanbeter vor einigen Jahren die Möglichkeit gegeben hatte, jederzeit eine Verbindung direkt in die Schwefelklüfte zu öffnen. Nur einer verfügte in ganz Asien über diese Möglichkeit – derjenige, der die Fäden der Satanskulte in diesem Bereich in Händen hielt wie kein anderer. Kurz darauf begann die Beschwörung des Asiaten, die damit endete, dass er eine Kerze entzündete und sie sich unter die Kuppe des Zeigefingers hielt, bis die Haut verschmorte, aufplatzte und ein winziger Blutstropfen hervorquoll. Er verzog vor Schmerzen und Pein das Gesicht, doch als er die Flamme ausblies, verschwand die verkohlte und blasige Brandwunde in derselben Sekunde. Im Boden vor ihnen, umgeben von mehreren Kreidekreisen, hatte sich ein schwarz waberndes Etwas gebildet. »Wünscht Ihr, dass ich mit Euch gehe?« »Du bleibst hier«, herrschte der Sammler den Teufelsjünger an, »und schließt das Tor.« Dann sprang er und verschwand aus dieser Welt.
In der Ebene brach das Weiß an immer mehr Stellen auf. Die Auserwählten näherten sich in Scharen den schwarzen Geschwulsten und sprangen hinein. Grabhügel bildeten sich, Farben schillerten, und Blitze zuckten plötzlich aus den Regenbogen. Ein Gespinst aus Licht und Farben bildete sich. ES IST SOWEIT, gellte eine Stimme über das Weite, DIE VOLLENDUNG DER NEUEN ORDNUNG STEHT DICHT BEVOR.
Lucifuge Rofocale erreichte die Hölle in einem der äußeren Kreise. Ohne zu zögern, machte er sich auf dem Weg in Richtung des Zentrums, wo der Thronsaal wartete. Um schneller voranzukommen, rannte er und nutzte die wunderbare Fähigkeit, nicht müde zu werden. So legte er schnell einige Kilometer zurück, bis er auf den ersten Dämon traf. Er stellte sich auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten ein, bis er bemerkte, wen er da vor sich hatte. Dies war Asmodis. Lucifuge Rofocale hatte sein Ziel erreicht. Oder besser, das Ziel hatte ihn erreicht, denn nicht anders war zu erklären, dass er den neuen und amtierenden Höllenfürsten so schnell entdeckt hatte. »Ich spürte dich, Luci«, sagte Asmodis, »oder das jämmerliche Etwas, das von dem einst stolzen und mächtigen Erzdämon übrig geblieben ist.« »Luci«, sagte der Sammler. »In all den zurückliegenden Äonen hättest du dich nicht getraut, mich so zu nennen.« »Nun, die Zeiten haben sich geändert, nicht wahr? Und du hast es nicht rechtzeitig bemerkt. Was du nun bist, ist jämmerlich. Wieso ich mich überhaupt mit dir abgebe, ist mir selbst unerklärlich. Vielleicht der alten Zeiten wegen.« »Aber du hast dich rechtzeitig darauf eingestellt«, sagte der Sammler bitter. »Deshalb deine Jahre als Heuchler, die du als Sid Amos verbracht hast.«
»Nur ich und der KAISER selbst haben die Zeichen der Veränderung gespürt … ist das nicht etwas, das uns beide auszeichnet? Nun, LUZIFER schweigt hinter seinem Flammenvorhang, wenn es ihn überhaupt noch gibt … aber ich habe das Beste aus dem Auftrag gemacht, den er mir gegeben hat. Ich habe ihn erfüllt und bin nun zurückgekehrt in die Hölle, mächtiger als je zuvor. Denn ich bin nicht mehr nur der Höllenherrscher und Teufel, sondern bin der Herr über die Quelle des Todes. Du jedoch … ach, lass uns am besten gar nicht erst darüber reden. Ich kann kaum glauben, dass du einst der einzige warst, dem ich Rechenschaft schuldete, weil du in der Höllenhierarchie noch über mir standst.« »Ich bin nicht hier, um zu plaudern«, sagte Lucifuge Rofocale kalt. »Du weißt mehr über die neue Quelle als jeder andere. Welche Rolle spielt die weiße Ebene? Was ist der Plan für die Auserwählten? Ich muss es wissen, und du bist der einzige, der mir diese Fragen beantworten kann.« Asmodis kicherte und stieß mit seinem Bocksfuß auf. »Du weißt es tatsächlich noch nicht – ich dachte, du bist gekommen, um dich zu beschweren. Geh zurück, Lucifuge Rofocale, und erkenne die Wahrheit! Die Ebene steht kurz vor ihrer Vollendung, das hat mir die Quelle des Todes offenbart. Ich kenne von ihr auch deine Zukunft. Geh zurück und sieh … wir werden uns bald wieder treffen, verlasse dich darauf. Die Quelle des Todes vereint unser beider Schicksale.« »Also stimmt es«, sagte der Sammler bitter. »Ich habe die Auserwählten ihrem Tod in der Quelle zugeführt …« Asmodis lachte hämisch. »Wir werden uns bald wieder sehen, wenn die neue Ordnung vollendet ist – und nun geh!« Er schnippte mit den Fingern, und Lucifuge Rofocale fühlte sich von einem Wirbelwind ergriffen, der ihn aus der Hölle entfernte und über der weißen Ebene wieder entließ. Die weiße Ebene? Nein …
32. Der Himmel der Unsterblichen Farben blitzten und ein Netz aus irisierenden Fäden lag über allem. Gestalten erschienen aus dem Nichts und versanken in pulsierender Schwärze, um sich in Farben aufzulösen und weitere Lichtblitze in die Ewigkeit zu schicken. Lucifuge Rofocale, der Sammler, stand neben Andrew Millings und Johannes. »Es begann, als wir Torre Gerret zurückbrachten«, sagte Andrew tonlos. »Was begann?«, fragte der Sammler, doch keiner der beiden Auserwählten konnte ihm eine Antwort geben. »Gerret sprang in eines der schwarzen Felder«, sagte Johannes nur, »und er schien glücklich zu sein.« Glücklich … Genau diesen Eindruck hatte der Sammler von all seinen Kindern gewonnen, die auf diese Weise den endgültigen Tod gesucht hatten. Zwei gewaltige Hände formten sich aus dem Licht, groß wie Berge. Lucifuge wusste, was das zu bedeuten hatte. Wenigstens dieses Detail konnte er zuordnen. Die MÄCHTE DES LEBENS UND DES TODES zeigten sich, um das Ende zu verkünden und die Vollendung der neuen Ordnung, von der Asmodis gesprochen hatte. DU HAST DEINE AUFGABE TREU ERFÜLLT, SAMMLER, DER DU DER MENSCH LUCIFUGE ROFOCALE BIST. DU HAST DEN ERSTEN DER AUSERWÄHLTEN GEBRACHT UND DEN LETZTEN UND GENUG ANDERE, UM DEN KRITISCHEN PUNKT ZU ÜBERSCHREITEN. DIE ANDEREN FINDEN DEN WEG NUN VON ALLEINE. DER PROZESS IST NICHT MEHR ZU STOPPEN. DIE NEUE ORDNUNG ENTSTEHT. »Es darf nicht sein! Ihr dürft die Auserwählten nicht opfern, nur damit die Quelle des Todes weiter wächst. Es ist perfide und …«
DU VERSTEHST ES NICHT, SAMMLER. DIE NEUE ORDNUNG KENNT ZWEI POLE, WIE ES SEIT JEHER WAR. GERADE DU MÜSSTEST ES WISSEN. ERINNERE DICH DARAN, WER DU WARST. Und während die Stimme in ihm hallte, verstand er und fragte sich, wie er hatte so blind sein können. In der alten Ordnung hatte es die Quelle des Lebens gegeben und ihren Gegenpol, die Hölle der Unsterblichen, der er vorgestanden hatte. Wie könnte da die neue Ordnung nur aus der Quelle des Todes bestehen? Es fehlte deren Gegenpol, die sie erst vervollständigte – der Himmel der Unsterblichen. Der Himmel, in dem sich das Schicksal der Auserwählten erst erfüllte. Nun wusste Lucifuge Rofocale, warum sie glücklich starben, warum es ein Fehler gewesen war, Humaral zurückzuziehen, warum die Ebene darauf empfindlich reagiert hatte … DU VERSTEHST ES, UNSER TREUER SKLAVE – ENDLICH VERSTEHST DU ES. DEINE KINDER FINDEN IHRE ERFÜLLUNG, UND WÄHREND DER HIMMEL DER UNSTERBLICHEN ENTSTEHT UND IHNEN FRIEDEN GIBT, WIRD AUCH DIE QUELLE DES TODES WACHSEN ALS DESSEN GEGENPOL. DIE NEUE ORDNUNG IST VOLLENDET; DEINE NEUE AUFGABE IST ERFÜLLT. »Aber was wird aus mir? Was aus diesen beiden, die nie gestorben sind?« Er wies auf Andrew Millings und Johannes. FÜR DICH HABEN WIR EINE NEUE AUFGABE, UNSER TREUER KNECHT. ANDREW UND JOHANNES MÖGEN WÄHLEN, DENN IHR SCHICKSAL IST NOCH UNGESCHRIEBEN WIE DAS DES DRITTEN NOCH LEBENDEN AUSERWÄHLTEN ZAMORRA. ER JEDOCH IST NICHT HIER, IHM KÖNNEN WIR DIE GNADE DER FREIEN WAHL NICHT GEBEN. Die riesigen Hände öffneten sich. WÄHLT DEN EINGANG IN DEN HIMMEL ODER DAS WEITERLEBEN. Kaum waren die Worte gesprochen, taten sich zwei schwarze
Strudel vor Andrew Millings und Johannes auf. Keiner der beiden zögerte auch nur eine Sekunde. Sie nickten sich zu, wandten sich dann genau gleichzeitig an Lucifuge Rofocale. »Danke«, sagte Andrew Millings. »Du warst unser schrecklichster Feind«, ergänzte Johannes, »unser Alptraum – aber du hast gezeigt, dass du bereust.« Dann sprangen sie, verschwanden und sandten ein strahlendes Funkeln in den Himmel der Unsterblichen. Dem Sammler liefen Tränen über die Wangen. »Und nun?« NUN IST FÜR DICH DIE ZEIT GEKOMMEN, DEIN REICH ZU VERLASSEN UND DEINE NEUE AUFGABE ANZUTRETEN. »Worin besteht sie? Und was meinte Asmodis damit, dass die Quelle des Todes mein Schicksal mit dem seinen verknüpft?« Noch immer standen die Hände offen und die Finger reckten sich dem Sammler entgegen. Alles explodierte in grellem Licht und Herrlichkeit. Ein Fanfarenstoß erklang. DER LETZTE AUSERWÄHLTE IST ANGEKOMMEN – NUN GIBT ES NUR NOCH DEN EINEN, DER NIE STARB. »Was ist mit Zamorra? Wo befindet er sich? Wie kann ich ihm helfen?« ES IST NICHT MEHR DEINE AUFGABE. DAS NEUE WARTET. »Was ist dieses Neue?« Die Antwort erschütterte ihn bis ins Mark. DIE QUELLE DES TODES WARTET AUF DICH, UNSEREN TREUER KNECHT. Dann schlossen sich die Finger um den Menschen Lucifuge Rofocale.
33. Der Hüter der Quelle Eine Sekunde und eine Ewigkeit später (was bedeutete schon Zeit an einem Ort, der diese negierte?) empfing der Hüter der Quelle des Todes einen ersten Gast. »Was willst du?« Der Teufel kreischte vor Lachen und fasste sich mit einer obszönen Geste an die beiden Hörner, die aus seiner Stirn ragten. »Eine Handvoll deiner Zeit fordere ich, Hüter.« Seine Stimme triefte vor Hohn. »Kannst du mir sagen, wer ich bin und was meine Aufgabe ist?« Asmodis hopste um die Gestalt, die ihn fragend ansah. »Oh, das kann ich. Vor kurzem sagte ich dir, dass wir uns wieder sehen werden. Genau genommen ist es vor sehr kurzem gewesen. Ich sagte dir, die Quelle des Todes vereint unsere Schicksale. Du hast mich nicht verstanden … doch nun bleibt dir eine Ewigkeit, darüber nachzudenken.« »Die Quelle des Todes«, wiederholte der Hüter. »Ich kenne sie. Sie ist die Welt.« »Deine Welt«, korrigierte der Teufel. »Meine ist etwas größer.« Er kicherte, als amüsiere er sich königlich. »Wer bin ich?«, wiederholte der Hüter seine Frage. »Du bist der Hüter der Quelle. Kreaturen wie du tragen keine eigenen Namen, denn sie leben nur für ihre Aufgabe.« »Kreaturen wie ich? Soll das heißen, es gibt viele, die sind wie ich?« »Viele ganz gewiss nicht … genau genommen bist du der einzige im gesamten Universum. Aber es gab eine wie dich – eine, deren Zeit vor kurzem abgelaufen ist. Ich tötete sie.« »Dann bist du mein Feind?« Asmodis peitschte mit seinem Schwanz in den Staub, in dem die Zeit endete und das Leben gerann. »Indem ich sie tötete, bereitete ich den Weg für dich. Ich sagte es doch – ihre Zeit war gekommen.
Nun hat eine neue Ordnung begonnen. Jetzt bist du der Hüter.« »Was ist meine Aufgabe?« »Glaubst du nicht, es ist an der Zeit, dass du selbst Antworten findest? Aber bitte … unserer alten Freundschaft willen: Hüte die Quelle!« Er lachte meckernd. »Was bedeutet das?« Der Teufel grinste. »Bald wird der erste Dämon kommen, dem du den Staub des Todes zu fressen geben musst, auf dass er unbesiegbar wird für die Kämpfer des Lichts.« Nach kurzem Schweigen nickte der Hüter. »Ich kann mich an meine Vergangenheit nicht mehr erinnern. Du sagtest, wir wären einst Freunde gewesen?« »Oh, oh …« Asmodis spuckte aus, und sein Speichel trocknete auf dem Boden sofort und zerfiel zu Staub. »Freunde ist vielleicht zuviel gesagt. Du warst mein Herr, aber die Dinge haben sich ins Gegenteil verkehrt. Nicht nur, was uns beide anbelangt. Nun bist du der Hüter – und ich der Herr der Quelle des Todes. Hege und pflege sie gut, mein Diener!« Der Hüter sah keinen Grund zu widersprechen. »Wenn dies meine Aufgabe ist, erfülle ich sie mit Freuden.« Der Teufel drehte sich um seine eigene Achse und verschwand in einer Schwefelwolke.
Siebtes Buch »Der Höllenhund«
von Christian Schwarz
34. Der Herr der Toten erscheint Jacmel, Haiti Die schmale Mondsichel warf nur wenig Licht auf den mitternächtlichen Totenacker. Trotzdem wurde die gespenstische Szenerie ausreichend beleuchtet. Dafür sorgten zwei Feuer, die zwischen den aufgebrochenen Grüften und windschiefen Kreuzen brannten. Beißender Rauch stieg in den finsteren Himmel und wurde von der leichten Brise zerfasert, die vom Pazifik her wehte. Der Windhauch schaffte es allerdings nicht, den süßlichen Geruch des Todes zu zerstäuben, der allgegenwärtig in der Luft hing. Gebannt starrte der hoch gewachsene Weiße auf die Gruppe Haitianer. Vierzehn Männer und sieben Frauen, allesamt Eingeweihte, saßen im Halbkreis um ein übermannshohes, massives Steinkreuz, das mit violetten Blumen geschmückt und dem mächtigsten der Totenherrscher des Voodoo, Baron Samedi geweiht war. Auf dem Querbalken lag der obere Teil eines menschlichen Totenschädels. Die leeren, schwarzen Augenhöhlen schienen irgendwo ins Nichts zu grinsen. So jedenfalls empfand es der Blanc, wie die Haitianer die Weißen nannten. Auch wenn dieser Gedanke reichlich absurd erschien. Die weiß gekleideten Eingeweihten schlugen, während sie ihre Oberkörper leicht hin und her wiegten, Steine gegeneinander. Sie taten es in einem seltsamen, Furcht einflößenden Takt, dessen hypnotischer Wirkung sich auch der Beobachter nicht völlig entziehen konnte. Er spürte ein leichtes Kribbeln im Nacken und schüttelte sich unwillkürlich. Gleichzeitig fühlte er Erregung in sich aufsteigen, die immer stärker wurde und die er schließlich kaum noch zügeln konnte. Gleich, gleich würde es so weit sein. Hatte er mit Medine endlich aufs richtige Pferd gesetzt? Oder würde ihn
auch dieser Malfacteur enttäuschen? Unwillkürlich wanderten die Blicke des Weißen zu Medine. Der etwa fünfzigjährige Mann mit dem schwarzen Vollbart und dem brutalen Gesicht kniete hinter dem Steinkreuz auf einem Vèvè. Er hatte es zuvor mit weißer Kreide höchst selbst auf den Boden gemalt. Das magische Siegel zeigte, aus kleinen Vierecken zusammengesetzt, ein stilisiertes, mit Blumen geschmücktes Kreuz auf einem Altar – Baron Samedis Zeichen. Vor Medine stand auf vier Füßchen ein kleiner Altar, auf dem ebenfalls zwei schwarze Kerzen brannten. Dazwischen befand sich eine kleine, flache Schüssel, in der eine rote Flüssigkeit schwappte. Menschenblut! Der weiße Beobachter wusste dies mit hundertprozentiger Sicherheit. Schließlich war er es gewesen, der dem Malfacteur das Blut geliefert hatte! Und so wusste er auch ganz genau, in wessen Adern es vor zehn Tagen noch geflossen war … Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin wurde die Schlagfolge bei allen Eingeweihten gleichzeitig schneller und härter. Eine Trommel setzte mit ein. Der Manmanier, der die Trommel schlug, hatte sich bisher in der Finsternis aufgehalten und trat nun aus ihr hervor. Er stellte sich hinter die Eingeweihten, die jetzt mit aller Macht die Steine gegeneinander schlugen. Das bisher leichte Klopfen, mit dem Rhythmus der Trommel dazwischen, steigerte sich zu einem derart lauten Getöse, dass es in den Ohren schmerzte. Es musste noch am anderen Ende von Jacmel zu hören sein. Ob die Menschen, die jetzt noch auf den schmiedeeisernen Balkonen ihrer alten Kolonialhäuser saßen und die laue Nachduft genossen, wohl gerade zusammen zuckten? Der Blanc lächelte höhnisch bei diesem Gedanken. Die Flammen der Feuer flackerten plötzlich und schlugen dann hoch, so, als ob eine starke Bö in sie gefahren wäre. Dabei hatte der Wind nicht um eine Winzigkeit aufgefrischt. Die Eingeweihten wirkten im Widerschein mit ihren zunehmend verzerrten Gesichtern und den schweißüberströmten Körpern jetzt wie Dämonen aus der tiefsten Hölle. Wer würde der erste sein, der heute von einem Loa geritten wurde? Und welche der Voodoo-Geister würden sich überhaupt die Ehre geben? Egal. Wichtig war nur, dass
einer der Herren der Friedhöfe erschien. Am besten Baron Samedi höchstpersönlich. Eine junge Frau, die ein Kopftuch trug und bisher ruhig hinter Medine gestanden hatte, verdrehte die Augen plötzlich so weit nach hinten, dass nur noch das Weiße, umrahmt von kleinen roten Äderchen, zu sehen war. Dabei zitterte er wie unter epileptischen Anfällen, fiel nach hinten und wand sich auf dem Boden. Immer wieder drückte sie, auf dem Rücken liegend, in obszöner Weise das Becken in die Höhe, während sie die Beine weit spreizte. »Fick mich, los. Warum fickt mich keiner?«, kreischte sie. »Samedi, der alte Bock, bringt's ja schon lange nicht mehr. Aber ich brauche das. Und wenn mich schon keiner ficken will, dann gebt mir wenigstens Rum. Oder ihr werdet es alle bereuen!« Der Blanc kniff die Augen zusammen. Täuschte er sich? Oder verschwamm der Körper der Besessenen tatsächlich in einem leichten Flimmern? War da nicht plötzlich für einen Moment lang die Figur einer fremden Frau zu sehen? Ja! Kein Zweifel. Da wand sich eine Weiße mit roten Haaren und einem schwarzen Kleid auf dem Boden. Die Haarpracht wurde zum Teil von einem Kopftuch verborgen und fiel wiederum auf einen Schal, der auf ihren Schultern lag. Er bemerkte auch ganz deutlich Halskette und Ohrringe. Das unheimlichste Utensil aber war die dunkle Brille, der das rechte Glas fehlte. Sie saß leicht schief auf ihrer Nase. Der Beobachter grinste leicht. Das war sie also. Maman Brigitte, die mächtige Herrin der Friedhöfe und Frau von Baron Samedi. Gut so. Das war doch schon mal ein toller Anfang. Sie sah tatsächlich so aus, wie sie allgemein beschrieben wurde. Und gab sich ebenso obszön. Gerade diese Obszönität war ihr Markenzeichen, ebenso wie ihre unbändige Lust auf Rum, in dem scharfe Chilischoten schwammen. Obwohl der Blanc seit langen Zeiten von ihrer Existenz und ihren Vorlieben wusste, war er ihr bisher noch nie begegnet. »Du bist so hässlich, Maman Brigitte«, murmelte er. »Aber im Bett bist du sicher 'ne Granate. Mal sehen, wenn sich's ergibt, vielleicht wird das ja mal was mit uns beiden. Ich hätte durchaus Lust, es dir mal so richtig zu besorgen.«
Die anderen Eingeweihten stöhnten und gaben quiekende Laute von sich. Dann setzte ein monotoner Singsang ein. »Herren des Kreuzes, tretet vor sie, damit sie euch sieht. Maman Brigitte ist krank, sie liegt danieder auf dem Rücken. Viel Gerede wird die Toten nicht beschwören. Doch die, die den Fluch ausgesprochen haben, werden auf den Knien büßen.« Die Priesterin, Mambo genannt, kam mit einem Krug gelaufen. Sie hieß Odette und war Medines Geliebte, das hatte der Blanc bei den Vorgesprächen mitbekommen. Odette kniete sich neben die Besessene und hielt ihr den Krug an die Lippen. Sofort lag sie still und öffnete den Mund. Die Mambo ließ den Rum hinein laufen. Maman Brigitte, die den Körper des Mediums nun vollständig übernommen hatte, trank in gierigen Schlucken. »Ah, sehr gut«, grunzte sie und richtete sich auf. Dann entblößte sie die Scham des Mediums und ließ den Rest des Rums darüber laufen. Die Totenherrscherin fasste nach einer der Chilischoten und rieb sich damit Bauch, Oberschenkel und Scham ein. Als Beweis, dass sie tatsächlich gekommen war und die Feiernden keiner Betrügerin aufsaßen. Denn nur von ihr besessene Menschen konnten den Kontakt der scharfen Schoten mit der Haut des Genitalbereichs schmerzfrei überstehen. »Mama Brigitte ist gekommen!«, rief die Mambo für alle hörbar über den Friedhof. Vor dem Friedhof hielt in diesem Moment ein altes, rostiges Auto mit Rotlicht auf dem Dach. Zwei Polizisten stiegen aus. Einer spähte neugierig über die Umfriedungsmauer, um zu sehen, welcher Houngan heute Religion machte, während der Andere sich an der offenen Autotür festhielt. Die Gesetzeshüter Jacmels hatten sich mit den Voodoo-Priestern arrangiert. Sie bekamen einen Teil der Opfergaben ab und machten ihnen dafür keine Schwierigkeiten. Da die Houngans gewisse Tage für ihre Zeremonien bevorzugten, rissen sich die Polizisten Jacmels bei der Diensteinteilung um diese Schichten. Selbstverständlich hatten sie einen Teil der »Beute« an den Polizeichef abzugeben. »Wer ist es, Francois?«
»Hm, keine Ahnung. Ich seh's nicht so deutlich.« Ein dumpfer Ruf hallte über den Friedhof. »Maman Brigitte!« Francois wurde bleich. Zwei rasche Schritte brachten ihn zum Auto zurück. »Zombification«, flüsterte er. »Lass uns abhauen.« Ti-Jean sagte erst gar nichts, sondern klemmte sich sofort hinters Steuer. Mit quietschenden Reifen startete er durch und fuhr, wie von bösen Furien gehetzt, in die Stadt zurück. Mit den Unheimlichen wollten sie absolut nichts zu tun haben. In der Zwischenzeit wusch sich Medine die Hände mit Rum. Und nahm ebenfalls einen kräftigen Schluck. »Auf dein Wohl, Maman Brigitte«, brummte er mit tiefer Stimme. Noch im selben Atemzug stieß er einen schrillen Schrei aus, schnellte in einer unerklärlichen Bewegung hoch und begann konvulsivisch zu zucken. Wie eine Marionette, der zwei oder drei Fäden gekappt worden sind, sah das aus. Damit war ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit des Blanc sicher. Der weiße Beobachter bemerkte bei dem Malfacteur das gleiche Phänomen wie zuvor bei der Frau. Plötzlich flimmerte sein Körper leicht. Aus dem Flimmern schälte sich die hoch gewachsene Figur eines finster dreinblickenden Mannes mit mulattischen Zügen über einem nabellangen, weißen Vollbart. Er trug einen Zylinder und einen korrekt sitzenden schwarzen Frack. Die großen, fast kreisrunden Augen wirkten wie zwei Fenster zur Hölle. Der Blanc hatte den Eindruck, als würde ihm der Dämonische für einen winzigen Moment höhnisch zulächeln. Dann sah er bereits wieder den zuckenden Körper Medines. Die Mambo trat neben ihn. »Baron Samedi weilt nun auch unter uns!«, verkündete sie mit lauter, klarer Stimme. Die Frauen standen daraufhin auf und warfen dem Baron Akazienblätter zu. »Schlafe wohl duftend, Baron Samedi«, sagten sie im Chor. Der Blanc nickte zufrieden. Der Totenherrscher war tatsächlich hier. Mit Medine hatte er also endlich einen Malfacteur gefunden, der nicht nur behauptete, von Baron Samedi geritten zu werden. All die, die er bisher engagiert hatte, hatten dies ebenfalls behauptet, waren aber nichts als Betrüger gewesen. Sie hatten ihm den Baron
nicht bringen können. Aber sie würden nie wieder diese Behauptung aufstellen. Alle schwammen sie nämlich längst in der Kanalisation von Port-au-Prince … Samedi stellte sein Medium steif wie ein Brett hin. Maman Brigitte trat neben ihn und begann, an ihm herumzufingern. Er wehrte sie ab. »Warum wurde ich gerufen?«, brüllte er mit Stentorstimme. Der Blanc trat vor den Totengott hin. Ohne Furcht sah er ihn an. »Ich war es, der dich hat rufen lassen, Baron Samedi«, sagte er und in seiner Stimme lag etwas Forderndes. »Ich weiß, dass es sehr gefährlich ist, ohne deine Zustimmung ein Grab zu öffnen. Deswegen fordere ich von dir die Erlaubnis, jene aus der feuchten Erde holen zu dürfen, die ich vor drei Tagen mit eigenen Händen hier begraben habe. Der Malfacteur, den du gerade reitest, wird mir dabei helfen.« »Du forderst!«, brüllte Baron Samedi und der Blanc sah plötzlich dessen hassverzerrte Züge durch Medines Gesicht schimmern. Dabei rutschte ihm der Zylinder leicht über das linke Ohr. Der Weiße sah ihn trotzig an. Der Totenherrscher schraubte seine Lautstärke urplötzlich zurück. »Hm. Ich glaube, ich erkenne dich. Bist du nicht Professor Zamorra?« »Ja.« »Der neue Liebling unseres höllischen Herrn, des Fürsten der Finsternis. Und ich soll dir erlauben, einen Zombie zu erschaffen.« »Wiederum ja.« »Wir sind damit einverstanden, wenn du mir deine lange Zunge zwischen die Beine steckst. Jetzt sofort«, meldete sich Maman Brigitte. Ihr Medium leckte sich dabei lüstern über die Lippen. Dafür kassierte sie umgehend einen Rippenstoß des Barons. »Lass das«, fuhr er sie an. Dann wandte er sich wieder dem einstigen Meister des Übersinnlichen zu. »Die Körper der Toten hier gehören mir und ich kann dir durchaus einen verkaufen. Aber billig wird das nicht, Zamorra. Ich verlange von dir 707 Gourdes*. Dazu *
haitianische Währung; ein Euro = 56 Gourdes
feinste Zigarren, Rum und Fladenbrot.« Das Absurde dieser Szene störte niemanden. Seit jeher forderten die Loas irdische Güter für ihre Bemühungen. »Das ist ganz schön teuer«, flüsterte die Mambo im Bemühen, ihren Klienten günstiger wegkommen zu lassen. Und mit Baron Samedi konnte man schließlich durchaus handeln. »Sagen wir 300?« »Du hältst gefälligst das Maul. Ich kann ganz gut für mich selbst sprechen«, fuhr ihr Zamorra in die Parade. »Geld spielt keine Rolle, Samedi. Du bekommst, was du willst. Das Geld und den anderen Mist. Ich brauche nur deine Erlaubnis. Denn als höher gestellter Dämon könntest du mir durchaus schaden.« Der Professor sah ihn lauernd an. »Aber damit eins klar ist, Samedi. Ich möchte keinen normalen Zombie erschaffen.« »Da bin ich aber mal gespannt.« Zamorra ging in die Knie und nahm die Schale von Medines kleinem Altar. Er streckte sie dem Totenherrscher hin. »Schau dir das an, Samedi.« »Das ist Menschenblut. Na und?« »Es gehört der Frau, die ich vor drei Tagen hier begraben habe. Ich werde das Blut durch den Boden ihres Grabes sickern und wieder in ihren Adern fließen lassen. Ich habe mir bereits einen Zauber zurechtgelegt.« Baron Samedi lachte brüllend, während sich Maman Brigitte auf ein Kichern beschränkte. »Und was soll das bringen?« »Ganz einfach: Wenn ich sie mit ihrem eigenen Blut wiedererwecke, wird sie so geschmeidig sein wie zuvor und nicht diese zombiehaften, eckigen Bewegungen haben.« »Wenn ich dir dabei helfe, wird das dementsprechend teurer, Zamorra. Dann verlange ich 5000 Gourdes und hundert Liter besten Rums. Dazu sieben Kisten Zigarren. Hinterlege die Sachen bei meinem jetzigen Medium.« »Abgemacht. Sie sind morgen dort.« »Gut. Du hast nun meine Erlaubnis. Ich bin gespannt.« Zamorra nickte. Er ging ein paar Schritte zu einem alten, eingefallenen Grab, das frische Erde deckte. Die Voodoo-
Gesellschaft sah ihm gespannt nach. Als er ankam, standen bereits Baron Samedi und Maman Brigitte links und rechts des windschiefen Eisenkreuzes, aus dem der Rost bereits große Zacken gefressen hatte. Zamorra sah sie in ihrer Original-Gestalt. Und hätte er nicht bereits so viel in dieser Richtung erlebt, die beiden unheimlichen Erscheinungen hätten ihn mit großer Sicherheit das blanke Grauen gelehrt. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ihm Maman Brigitte aus ihrem sichtbaren Auge zuzwinkerte. Zamorra kniete vor dem Grab nieder. Er stellte die Schüssel mit dem Blut auf einen viereckigen Ziegel, der genau über dem Herzen der Toten lag. Dann zog er mit einem magisch behandelten Stock, den er aus der Innentasche seines leichten Jacketts hervor holte, Linien, Kreise, Dreiecke und andere seltsame Zeichen in die lockere Erde des Grabs. Er ging äußerst sorgfältig vor und murmelte unablässig Zaubersprüche. Dabei wurde es immer kälter. Eine Aura baute sich auf, die die einfachen Menschen schaudern ließ. Die gemalten Zeichen vereinigten sich schließlich zu einem Bild, das verdächtig an das Sigill eines hohen Dämons erinnerte. Zamorra schloss die letzte Linie. Im gleichen Moment begann das Grab von innen in einem höllischen Rot zu glühen. Das unheimliche Leuchten durchdrang den Boden und gab dessen Geheimnisse frei. Nicht allzu tief unter der Kruste wurde ein menschlicher Körper sichtbar. Ohne irgendwelchen Schutz, auf dem Rücken liegend, ruhte er in der bloßen Erde. Eine Frau. Über dem Kopf trug sie noch die Plastiktüte, mit der sie erstickt worden war. Das Blut vor Zamorra warf plötzlich Blasen. Als sei die Schale kein Hindernis, sickerte es durch deren Boden und verschwand in der Erde. Durch das Glühen arbeitete es sich, trotzdem deutlich sichtbar, zum Leichnam der Frau durch – und verschwand in ihrem Herzen! Nun explodierte das rote Glühen in einer grellen Entladung. Die Voodoo-Jünger schrieen entsetzt. Nur Zamorra und die beiden Dämonischen sahen, wie sich das Blut vom Herzen der Frau aus in ihren Adern verteilte. Ein Zittern ging durch ihren Körper. In diesem Moment erlosch das rote Glühen. Das Grab lag so dunkel da wie zuvor. Einen Moment lang herrschte Totenstille – in
einem Sinn, wie er wahrer nicht sein konnte. Ein leises Geräusch drang in die Stille. Es hörte sich an wie das Rieseln von Erde. In diesem Moment bewegte sich der Boden auf der Oberfläche des Grabes. Etwas drückte von unten. Es sah aus, als wolle sich eine Wühlmaus an die Erdoberfläche graben. Dabei wussten alle, dass sich eine Wühlmaus momentan nicht einmal auf einen Kilometer an dieses unheimliche Stück Erde herangetraut hätte. Eine Hand durchschlug den Boden und reckte sich in den Nachthimmel. Zamorra konnte sie deutlich sehen. Die Finger bewegten sich in einem ungelenken Rhythmus, schienen sich erst wieder vorsichtig in die Welt tasten zu wollen, in der sie schon längst nichts mehr zu suchen hatten. Der Professor stöhnte vor Begeisterung, während ihn die Spannung gleichzeitig auffraß. Würde es dieses Mal tatsächlich gelingen? Das Gelenk schob sich nach, der Unterarm. Gleichzeitig durchschlug die zweite Hand die Oberfläche. Erdkrumen rieselten von den Fingern, die eindeutig nach Halt suchten. Zamorra beugte sich nach vorne und legte seine Hände in die eiskalten, klebrigen der Toten. Sofort griff sie zu, umklammerte die warmen Glieder, in denen das Leben strömte. »Los, komm schon«, flüsterte Zamorra, während er an den Händen zu zerren begann. Die Tote schien nur auf diese kleine Hilfe gewartet zu haben. Plötzlich durchschlugen Kopf und Schultern die Erde. Schräg nach vorne geneigt hing die Frau in Zamorras Griff. Ihre beiden Gesichter berührten sich fast. Ein paar Maden fielen von ihren Schultern, ein Käfer huschte in den Ausschnitt des hellgrünen Sommerkleids, das sie noch immer trug. Der Professor roch die frische Erde. Er starrte in weit aufgerissene Augen, in denen nur das Weiße zu sehen war und die durch die Plastiktüte etwas verzerrt wirkten. Der Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch. Mit unbändiger Kraft löste die Frau ihre Hände aus denen Zamorras. Dann fetzte sie sich die Plastiktüte vom Kopf. Schließlich stemmte sie sich mit beiden Händen auf den steinernen Grabrand und zog sich hoch. Stück für Stück arbeitete sie sich aus der Erde.
Zamorra, der aufgestanden und ein Stück zurück getreten war, beobachtete die Bemühungen der Toten fasziniert. »Ja, komm Baby, nur noch eine Kleinigkeit«, murmelte er und hatte die Welt um sich her längst vergessen. Es gab nur noch ihn und die Frau. Zwei Minuten später stand die Untote vor dem Grab. Ein paar ungelenke Schritte brachten sie in Richtung Feuer. Zamorra erschrak. Täuschte er sich, weil er sie nur als Schatten in der Finsternis sah? Ja, das musste es sein. Er ging hinter ihr her, berührte sie fast zärtlich. Die Untote trat in den Feuerschein. Sie sah an sich hinab, betastete sich. Nun wurde die Ungelenkigkeit ihrer Bewegungen mehr als deutlich. Ein verwunderter Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht. »Nein«, flüsterte der Professor entsetzt. Er trat vor die Zombie hin, kreiste mit seinen Armen, machte Kniebeugen und drehte den Oberkörper in fließenden, runden Bewegungen. »Da, siehst du, so musst du's machen«, schrie er die Untote an und verstärkte seine Anstrengungen noch. »So. Und so. Und so!« Baron Samedi lachte dröhnend und auch Maman Brigitte kriegte sich kaum noch ein. Die Voodoo-Gesellschaft verharrte hingegen still. Plötzlich drehte sich die Zombie wie eine Marionette und stakte auf Baron Samedi zu. Dabei stolperte sie, taumelte – und fiel der Länge nach ins Feuer. Sofort griffen die Flammen nach ihr, erfassten sie und fraßen sie innerhalb von Sekundenbruchteilen. Der zuckende Körper verkohlte, wurde tiefschwarz und zerfiel schließlich. Nichts blieb von der Untoten übrig. Zamorra schluchzte. Er schlug die Hände vors Gesicht und sank auf den Boden. Plötzlich hob er ruckartig den Kopf. Hass hatte sich in seine noch tränenüberströmten Züge geschlichen. »Samedi, du Schwein, du hast mich betrogen!«, schrie er voller Verzweiflung. »So, habe ich das?«, gab der Totengott zurück und in seinen Augen glühte es grell. »So weit ich mich erinnern kann, sagte ich lediglich, dass ich dir helfen werde. Eine Garantie, dass dein Vorhaben klappt, habe ich dir dagegen nicht gegeben, du Witzfigur. Deswegen bestehe ich auf meiner Bezahlung. Lass dir also ja nicht
einfallen, mich zu betrügen, Zamorra. Sonst wird es dir schlecht ergehen. Dann wird dich nicht einmal dein Mentor vom Höllenthron vor mir schützen können. Weißt du was? Komm einfach wieder, wenn du den richtigen Zauber gefunden hast. Das war ja wohl nichts.« Plötzlich sackte Medines Körper zusammen. Der von Jeanne folgte auf dem Fuße. Die beiden Totengeister hatten ihre Medien wieder verlassen.
35. Bruderliebe – Bruderhass Caermardhin, Wales Merlin befand sich seit Tagen in seiner unsichtbaren Burg, die sich hoch über dem kleinen walisischen Dorf Cwm Duad auf einem Berggipfel erhob. Stundenlang ging er in den riesigen Räumen umher, murmelte vor sich hin und hob hin und wieder resignierend die Arme. Zumindest hätte es auf einen Beobachter resignierend gewirkt, aber momentan gab es keinen. Und er hätte auch nicht Recht gehabt. Denn der alte Zauberer war von Resignation noch so weit entfernt wie die Räumlichkeiten der Burg von der Erde. Und das war sehr weit, denn zwischen beiden klaffte der Abgrund einer Dimension. Tatsächlich war das Innere Caermardhins um ein Vielfaches größer als die äußeren Abmessungen der Burg, da Merlin sein trautes Heim einst in mehrere Dimensionen hinein konstruiert hatte. Merlin wartete schon seit vielen Tagen darauf, dass sich der Wächter der Schicksalswaage bei ihm meldete und ihm die Audienz gewährte, um die er so dringend gebeten hatte. Denn der Zauberer musste unbedingt mit diesem Wesen, in dessen Diensten er stand, reden. Es kam nicht oft vor, aber nun hatten sich die Dinge so entwickelt: Er wusste nicht mehr weiter und hoffte, dass der Wächter ihm zumindest einen Fingerzeig geben konnte. Denn der Wächter mit seinem symbiotischen Mentalpartner namens H'gan wusste noch weitaus mehr als er um das wahre Wesen der Dinge und in seiner Gegenwart fühlte sich Merlin klein und demütig. Jeden Moment konnte das so sehnlich erwartete Zeichen von Kemran kommen, jenem Planeten, auf dem der Wächter wohnte und dann musste der Zauberer sofort reagieren. Tat er es nicht, würde es lange dauern, bis sich der Wächter wieder
zugänglich zeigte. Sehr lange. Der Alte von Kemran reagierte in so einem Fall nämlich äußerst verärgert. Plötzlich sah Merlin eine grell leuchtende Sonne in seinem Geist. Das Zeichen des Wächters! Es war so weit. Doch schon im nächsten Moment fiel die aufkeimende Euphorie des Zauberers total in sich zusammen. Denn die Sonne Kahon, um die Kemran kreiste, verfärbte sich auf einen Schlag tiefschwarz. Das Zeichen, dass Merlins Anwesenheit auf Kemran momentan unerwünscht war. Damit hatte er nicht gerechnet! Es war in vielen Jahrhunderttausenden erst ein einziges Mal vorgekommen. Immerhin bestätigte der Wächter damit seinen Ruf, völlig unberechenbar zu sein, auf eindrucksvolle Weise. Merlin keuchte. Sein Rücken war plötzlich gebeugt, als drücke ihn die Last der Ereignisse nieder. Er brauchte ein paar Minuten, bis er diesen Tiefschlag verdaut hatte. Es wäre so wichtig für ihn gewesen, mit dem Wächter der Schicksalswaage zu sprechen, denn erst einmal zuvor war das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse so sehr aus den Fugen geraten und drohte sich zu stark auf eine Seite zu neigen. Auf die Seite des Bösen nämlich. Aber vielleicht sah nur er selbst das so. Vielleicht besaß der Wächter eine völlig andere Sicht der Dinge. Oder er lag, ganz profan, in der von Eis umschlossenen Höhle auf Munar, dem Nachbarplaneten Kemrans in seiner Regenerationskammer und war deswegen unpässlich. Oder – dieser Gedanke verschlug dem Ewigkeitsweisen fast den Atem – drückte sich der Wächter gar? Wusste er auch nicht, was Sache war? Das immerhin konnte sich Merlin dann doch nicht vorstellen. Wie auch immer, es half ihm nicht weiter. Also gut, dann eben nicht. Nun bin ich wieder frei, mich um andere wichtige Dinge zu kümmern … Merlin begab sich zum Saal des Wissens, den ausschließlich Unsterbliche betreten konnten. Der Saal wirkte eher wie ein riesiges, kristallenes Gewölbe und war völlig leer – mit Ausnahme der mächtigen Kristallkugel, die im Zentrum des Saals über einem Sockel frei in der Luft schwebte. Merlin ließ seinen Blick kurz über die Kristallwände schweifen. Darin war ungeheures Wissen
gespeichert. Wissen, das menschlicher Geist nicht einmal im Ansatz begriffen hätte und das dieses magische Wesen Merlin zu einem Mächtigen machte – zumindest dann, wenn man die Dinge aus der Sicht eines Menschen betrachtete. Mächtig, pah. Wahrhaft mächtig bin ich dann, wenn ich mich einmal nicht mehr an den Wächter wenden muss und alle, wirklich alle Dinge verstehen und lösen kann. Ich arbeite daran. Aber momentan stehe ich da wie ein tumber Tor, dachte er und ließ seiner Erbitterung freien Lauf. Kristalle zerplatzten wie Glühbirnen und rieselten als Staub in allen Regenbogenfarben schimmernd zu Boden. Was nützt alles Wissen, wenn die wirklich wichtigen Dinge hier nicht gespeichert sind. Zum Beispiel, was diese Quelle des Todes ist und wie sie entstand. Noch niemals zuvor habe ich von ihrer Existenz gehört und begreife sie nicht ansatzweise. Außerdem würde ich gerne wissen, was es mit diesen ominösen Rissen auf sich hat, die sich kreuz und quer durch die Dimensionen ziehen und das Magische Universum so nachhaltig stören. Auch darauf kann ich mir keinen Reim machen. Das Problem Zamorra immerhin sollte ich lösen können … Merlin aktivierte die schwebende Bildkugel über einen Gedankenbefehl. Sie ermöglichte es dem Hausherrn, jeden Ort und jeden Menschen auf dieser Welt beobachten zu können. Und – was er bisher als strenges Geheimnis betrachtet hatte – auch alle Bereiche der Hölle. Hätten Lucifuge Rofocale und Asmodis davon auch nur den Hauch einer Ahnung gehabt, sie hätten nicht geruht, bis Caermardhin zerstört gewesen wäre. Der Zauberer befahl der Bildkugel, Asmodis zu zeigen, den alten und neuen Fürsten der Finsternis. Fast umgehend erschien er aus den wabernden Schlieren, die sich zu einem deutlichen Bild festigten. Merlin nickte zufrieden. Sein dunkler Bruder befand sich momentan im Thronsaal. Diese Gelegenheit würde er nutzen. Er ging ins genaue Zentrum der Burg, in dem sich die Dimensionen schnitten. Dieser Bereich war wirklich nur ihm zugänglich. Die anderen Unsterblichen, auch Gryf und Teri Rheken, die beiden Silbermonddruiden, wussten nicht einmal, dass es ihn gab. Und die
Höllenherrscher hätten ihn ebenfalls als Anlass genommen, die Burg dem Erdboden gleich zu machen. Denn eine der Dimensionen, in die der Zauberer die Burg hineinkonstruiert hatte, war die Hölle! Das hieß, dass er die Dimension der Schwarzblütigen von hier aus ohne Probleme erreichen und sogar beeinflussen konnte. Merlin trat auf einen Punkt in einem weiten Raum. Niemand wäre jemals auf die Idee gekommen, dass auf und in diesem Punkt die komplette Burg ruhte. Die Angel, wie er den Dimensionsschnitt nannte, war unsichtbar und konnte nur über einen magischen Schlüssel betreten werden, dessen Worte alleine er kannte. Merlin murmelte den Zauberspruch – und verschwand. So hätte es zumindest der besagte Beobachter erlebt. In Wirklichkeit wechselte der Zauberer auf eine andere Daseinsebene. Er betrat die Angel mit bangem Herzen. Einen Moment durchzuckte ihn der Gedanke, dass diese seltsamen Risse in den Dimensionen auch die Angel beschädigt haben könnten. Erleichtert atmete er auf, als er alles im Normalzustand vorfand.
Thronsaal des Fürsten der Finsternis, Dimension Hölle Merlin ging mitten durch das Multiversum. Majestätisch schritt er voran – Richtung Hölle. Er sah Milliarden Galaxien um sich herum, die wanderten, sich durchdrangen und in den wunderbarsten Farben leuchteten. Er sah Sterne entstehen und sie in gigantischen Explosionen wieder vergehen. Einen nicht fassbaren winzigen Moment lang, der gleichzeitig eine Ewigkeit dauerte, präsentierten sich ihm die Wunder der Schöpfung und er genoss diesen Anblick. Der Zauberer wusste genau, wo er hin gehen musste, um den Schnittpunkt zur Hölle zu erreichen. Noch drei Schritte, noch zwei, noch einer … Merlin verschwand aus der Angel – und fand sich in der Hölle wieder. Er trat in eine weite Landschaft, die ausschließlich aus schwarzem Wabern bestand. Darüber leuchtete ein grellroter Himmel, an dem ständig gelbe Löcher entstanden, wie Amöben
auseinander schwammen und wieder vergingen. Die Leuchtkraft reichte jedoch nicht aus, das schwarze Wabern zu erhellen. Die Strukturen dieser unheimlichen Landschaft änderten sich ständig und repräsentierten damit in genauer Weise die Dimension Hölle, die ebenfalls ständigen Veränderungen unterworfen war. Nur ganz wenige Gebiete in den Sphären der Schwarzblütigen blieben dauerhaft stabil. Auf diese Art hatte das Merlin noch in keiner anderen Dimension erlebt und er fragte sich zum zehntausendsten Mal, warum das wohl so war. Nun, er würde das Problem auch dieses Mal nicht lösen können und er hatte wahrlich andere am Hals! Merlin schritt durch die Finsternis, in der sich nur die ranghöchsten Dämonen orientieren konnten. Alle anderen kamen elend darin um, weil sie sich hoffnungslos verirrten und irgendwann von der Finsternis ausgesaugt wurden. Deswegen mieden sie diesen Teil der Hölle tunlichst, wie einige andere auch. Der Zauberer von Avalon durchschritt die Weiten der Hölle. Rangniedere Dämonen, denen er begegnete, wichen ihm voller Schrecken aus. Ein Vampir, der es wagte, ihn anzugreifen, verging unter fürchterlichem Brüllen in dem grünen magischen Netz, das blitzschnell aus Merlins Fingerspitzen geflossen war. Schließlich stand er vor einem tiefschwarzen, schroffen Berg unter einem giftgrünen Himmel. Hinter dem mächtigen Höhleneingang, der im Berg klaffte, befand sich der Thronsaal des Fürsten der Finsternis. Der Alte blickte nach oben. Hunderte von riesigen Vögeln umkreisten den Berg, sie alle musterten ihn aus glühenden Augen. Die Wächterdämonen! Fünfzehn von ihnen bildeten ein Knäuel und stürzten sich auf den Zauberer herab. Wie eine geschlossene Wand kamen sie auf ihn zu – und zögerten einen Moment. Dann ließen sie sich vor Merlin nieder. Sie alle überragten ihn um Haupteslänge und in ihren Augen blitzte es gefährlich auf. Die Blitze, die sie daraus verschießen konnten, töteten niedere Dämonen unweigerlich und auch der Höllenadel hätte daran zu knabbern gehabt. Merlin musste sich also durchaus vorsehen, vor allem, wenn die Wächterdämonen auf die Idee
kamen, gleichzeitig anzugreifen. Der Anführer trat ein Stück vor. Mächtige Stoßhörner zierten den kantigen Schädel mit dem schwarzbraunen, ledrigen Gesicht. Mächtige Schwingen peitschten die Luft. »Für einen Moment hast du uns verwirrt, Fremder. Du besitzt die Ausstrahlung unseres Herrn, aber du bist es nicht. Der Fürst der Finsternis hat dich nicht avisiert, also bist du unberechtigt hier im Inneren Kreis der Hölle und hast somit dein Leben verwirkt. Ich …« »Lass gut sein, Adax.« Asmodis trat aus dem Höhleneingang hervor. Die Wächterdämonen machten ihm ehrfürchtig Platz, als er auf Merlin zu schritt. Der Zauberer von Avalon erwartete ihn mit hoch erhobenem Haupt. In die schneeweißen Haare und den Vollbart derselben Farbe, der bis zum Gürtel reichte, fuhr ein scharfer Windstoss und ließ sie flattern. Auch der flammendrote Umhang mit dem eingestickten Pentagramm bäumte sich auf. Das gab dem Zauberer etwas erhaben Martialisches. Daran änderte auch das weiße, kapuzenlose Gewand mit dem breiten roten Gürtel, in dem ihn schon so viele gesehen hatten, nichts. Seine rechte Hand lag auf dem Griff der goldenen Sichel, die im Gürtel steckte. »Sieh einer an«, fauchte der Fürst der Finsternis. »Mein Bruder aus alten Zeiten. Was willst du hier, Merlin? Hattest du nicht einst geschworen, die Hölle niemals wieder zu betreten, nachdem du ihr den Rücken gekehrt hast?« »Ich bin gekommen, um mit dir zu reden, dunkler Bruder. Lass uns in den Thronsaal gehen. Was ich dir zu sagen habe, muss nicht jeder hören.« Asmodis zögerte einen Moment, so, als ahne er eine Falle. Dann entspannte er sich wieder. »Nun gut, so sei es. Ich erwarte dich auf dem Thron. Und du wirst dich vor mir niederwerfen, ansonsten war deine Reise hierher umsonst. Haben wir uns verstanden, Lichtbruder?« Er betonte das letzte Wort, als habe er gerade eben über etwas unglaublich Ekelhaftes gesprochen. Der Fürst der Finsternis, der das Aussehen eines riesigen Teufels mit rot glühenden Augen angenommen hatte, trat in die Höhle
zurück. Merlin wartete einen Moment und folgte ihm. Asmodis saß bereits wieder auf seinem Knochenthron, die Beine gespreizt, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt; den Ellenbogen aufs rechte Knie gestützt, ließ er das Kinn in seiner Hand ruhen. Merlin sah sich kurz um. Überall waberten magische Nebel. Der Knochenthron stand erhöht vor einer Wand und allerlei Derwische umflitzten ihn. Manche ließen sich sogar auf Asmodis' Körper nieder. Der Zauberer von Avalon trat vor den Knochenthron. Er zögerte einen Moment. »Nun?« In Asmodis' Augen blitzte es grellrot auf. Merlin ging auf die Knie und beugte Rücken und Kopf. Ein fast hysterisches Lachen gellte durch den Thronsaal und ließ reihenweise Derwische sterben. Die magischen Nebel wallten durcheinander, bildeten Fratzen verlorener Seelen ab und zeigten einen Moment lang die Seelenhalden, auf denen Peinteufel ihre Arbeit an den Verdammten taten. Asmodis verstummte. »Das reicht nicht! Auf den Bauch!« Merlin legte sich flach auf den Boden, die Arme links und rechts von sich gestreckt. »Gut, Bruder, du hast mir die Referenz erwiesen, die dem Fürsten der Finsternis gebührt. Erheb dich also wieder und nimm Platz.« Asmodis wob ein paar magische Zeichen in die Luft. Aus dem Nichts bildete sich eine Sitzgelegenheit für Merlin. Natürlich am Fuß des Thrones, weit unterhalb des Höllenherrschers, versteht sich. »Wenn du gestattest, dunkler Bruder, stehe ich lieber.« Merlin hatte sich geschmeidig erhoben. »Auch gut. Was willst du also von mir? Mir dazu gratulieren, dass ich zum Herrscher über die Quelle des Todes geworden bin? Oder einfach nur wissen, um was es sich dabei handelt? Bist du neugierig, Bruder, ja?« Merlin kam noch nicht zum Punkt. Er fixierte das Stück schwarzen, porösen Schädel, das an der Augenhöhle am linken Pfosten des Knochenthrons hing. »Das war Stygia, nicht wahr? Ich erkenne noch die letzten Reste ihrer Aura. Du hast sie also
umgebracht.« »Natürlich, was denkst du? Sie hat meinen Thron entweiht. Mein Thron, Merlin Ambrosius, seit ewigen Zeiten schon. Und hättest du mich damals nicht verlassen und der Hölle den Rücken gekehrt, wäre es heute deiner. Denn du warst damals, vor vielen Äonen, noch der Stärkere von uns beiden.« Merlin nickte, etwas wehmütig, wie es schien. »Du weißt ganz genau, dunkler Bruder, dass ich damals gar keine Wahlmöglichkeit hatte. Du und ich zusammen, hervorgegangen aus der Alten Kraft und unzertrennlich, wären zusammen so stark geworden, dass wir es sogar mit LUZIFER hätten aufnehmen können. Wir waren eine Jahrmillionengeburt, mit ungeheuerlichen Kräften ausgestattet, die die Schicksalswaage auf die Seite des Bösen hätte kippen lassen. So sah sich der Wächter der Schicksalswaage genötigt, einen von uns auf die andere Seite zu holen, um die Waage im Gleichgewicht zu belassen. Es traf mich und sogar LUZIFER, der KAISER, war damit einverstanden, denn er befahl mir höchstpersönlich, die Hölle zu verlassen. Ich nehme an, weil er unsere Macht ebenfalls fürchtete und froh war, dass wir so auseinander gerissen wurden. Erinnerst du dich nicht?« »Doch, natürlich erinnere ich mich. Ganz genau sogar«, zischte Asmodis. »Aber das ist lediglich deine Version der Dinge, die ich bis heute anzweifle. Du wolltest die alleinige Macht und hast dich deswegen freiwillig von mir getrennt. So war es. Dabei hätten wir zusammen Welten ausheben und Universen schaffen können.« »Eben, das ist es ja«, murmelte Merlin. »Trotz aller Macht, die uns gemeinsam gegeben war, wären wir doch nicht dafür geeignet gewesen und irgendwann daran zugrunde gegangen.« »Blödsinn. Die Alte Kraft, der wir nur gemeinsam trotzen konnten, hätte das niemals zugelassen.« Er schnippte mit den Fingern. »Aber es ist nun mal, wie es ist. Warum an Dingen herummäkeln, die ohnehin nicht mehr zu ändern sind. Was willst du also von mir, Merlin?« »Ich bitte dich, Zamorra frei zu geben.« »Zamorra?« Asmodis sah seinen Bruder aus alten Zeiten verblüfft
an. »Im Ernst? Was willst du denn mit dem?« »Ich brauche ihn noch, denn er hat nach wie vor eine Aufgabe zu erfüllen.« »Eine Aufgabe? Tatsächlich? Welche sollte das wohl sein? Als Kämpfer des Lichts ist das Professorlein doch schon längst nicht mehr zu gebrauchen.« Asmodis lachte meckernd. »Sollte es dir entgangen sein, dass Zamorra das getan hat, was du dir einst erlaubtest? Er hat in seinem rührenden Bemühen, seine Schnalle wieder zurück zu bekommen, schon längst die Seiten gewechselt. Schleichend, aber stetig. Steter Tropfen höhlt die Blutrinne. Die Morde, die er bereits begangen und die Seelen, die er auf unsere Halden geliefert hat, machen seine Schuld unauslöschbar und seinen neuen Weg unumkehrbar. Soll ich dir was verraten, Merlin Ambrosius, Myrddhin Emrys oder wie sie dich auch immer nach deinem Verrat genannt haben? Zamorra ist längst einer meiner besten Kämpfer auf Erden. Ein wahrer Höllenhund. Willkommen in LUZIFERS höllischen Heerscharen.« »Ich muss dir widersprechen, Bruder. Noch ist Zamorra nicht verloren, noch steht ihm der Weg des Lichts offen. Ich beschwöre dich: Er hat eine Aufgabe zu erfüllen, von der auch du einst profitieren wirst.« »Ach.« Der Fürst der Finsternis betrachtete angelegentlich seine Fingernägel. »Du redest schon wieder Blödsinn, Bruder. Zamorra hatte niemals eine wirkliche Aufgabe zu erfüllen. Du hast ihn dir damals geschnappt, um ihn bei Bedarf als Kanonenfutter verwenden zu können, um ihn einzusetzen, damit er die unangenehmen Aufgaben für dich erledigt. Das war die ganze Mission, die er für dich zu erfüllen hatte. Du hast dich ihm gegenüber autoritär, unkooperativ und geheimniskrämerisch verhalten, was mir übrigens sehr gut gefallen hat. Respekt. Da kam ein bisschen etwas von deinem alten höllischen Geist durch. Andererseits war es ein deutliches Zeichen, dass du ihn nur als Abfall betrachtet hast.« »Das stimmt nicht. Hätte ich ihn sonst zur Quelle des Lebens führen lassen und einen Unsterblichen aus ihm gemacht?«
Merlin starrte den Fürsten der Finsternis düster an. In seinen Augen glomm ein verzehrendes Feuer. Asmodis meckerte nun noch lauter, während Merlin in zunehmendem Zorn mit gezielten Schlägen der goldenen Sichel einige Derwische erledigte. Sie vergingen in kleinen goldenen Explosionen. Der Fürst der Finsternis verstummte abrupt. »Lass das gefälligst, Bruder. Du hast dich hier und jetzt nicht an meinem Personal zu vergreifen.« Merlin nickte und hörte sofort auf. »Dass du Zamorra und seine Schlampe unsterblich gemacht hast, lag doch nur daran, dass du an ihrer Schlagkraft Gefallen gefunden hast und sie noch möglichst lange als nützliche Idioten haben wolltest, nicht wahr, Bruder im Licht? Es war schließlich nicht schwer, die Wächterin der Quelle zu linken, diese alte Kuh.« »Bekomme ich ihn nun zurück oder nicht? Wenn du ihn mir gibst, hast du noch einen Gefallen bei mir gut, Asmodis.« »Hm. Das könnte gefährlich für dich werden und das weißt du auch. Du willst ihn trotzdem haben? Aber nicht etwa, weil er eine Aufgabe zu erfüllen hätte, nein. Ich durchschaue dich, Bruder. Zamorra ist das lebende Fanal, dass ich nun stärker bin als du, dass du mir nicht mehr das Wasser reichen kannst. Du kannst es nicht ertragen, dass dein Personal nun für mich arbeitet. Und das ist der einzige und wahre Grund, warum du ihn zurück haben willst. Aber du bekommst ihn nicht. Niemals wieder.« »Denk an den Gefallen.« »Selbst dann nicht. Ich brauche keinen Gefallen mehr von dir, Bruder. Ich bin längst mächtig genug, um mir das zu nehmen, was ich will. Selbst Svantevit wird mir nun nicht mehr gewachsen sein. Noch heute ziehe ich aus, um ihm endgültig den Garaus zu machen. Ich bin also eine Weile abwesend.« Der Dämonenfürst grinste hinterhältig. »Diese Zeit könntest du doch eigentlich nützen, um Zamorra wieder auf deine Seite zu ziehen. Oder?« »Ich kann und werde das ohne deine Erlaubnis nicht tun, Bruder. Denn die Quelle des Todes gibt dir eine Macht, der ich nicht
gewachsen bin. Du willst ihn mir also nicht zurückgeben. Ist das dein letztes Wort?« »Ja, das ist es. Zamorra ist nun für mich zu einer festen Größe in meinen künftigen Plänen geworden. Und weißt du was, Bruder? Er soll einst mein erster Stellvertreter auf Erden werden, denn dazu hat er durchaus das Format. Unglaublich, mit welch leichter Hand er inzwischen Menschen tötet. Als hätte er das schon immer gemacht. Und um das Ganze noch zu beschleunigen, werde ich ihn demnächst reich belohnen.« »Und wie?« »Ich denke da an etwas Besonderes, Bruder. Etwas, das ihn in den höchsten Tönen jubeln lassen wird.« Merlin kniff die Augen zusammen. Er verspürte plötzlich großes Unbehagen.
36. Hauptdarsteller überleben immer Miami, Florida »Komm, küss mich«, flüsterte der gut aussehende Mann mit den verträumten braunen Augen und zog die junge Frau in seine Arme. Mia Stewart hatte es sich vor dem Fernseher bequem gemacht und starrte auf den Bildschirm; so, wie sie es jeden Abend tat, wenn die Vorabendserie »My Life« lief. Fast mechanisch kaute sie auf den Paprikachips herum, die sie so sehr mochte. Die Bilder des küssenden Paares verschwammen, während Mias Gedanken nun endgültig in ihre Vergangenheit glitten und sie gleich darauf mit machtvollen Bildern quälten. Melanie kam vorsichtig die Treppe herunter. Immer wieder musste sie sich am Geländer festhalten. Das hatte absolut nichts mit den engen, schmalen Stufen zu tun, sondern vielmehr mit den hochhackigen Schuhen und ihrer Kleidung. Denn Mias vierzehnjährige Tochter trug derart knallenge Jeans, dass sie sich darin kaum bewegen konnte sowie ein gelbes Top, das dicht unter den bereits üppigen Brüsten endete. Was immer Melanie auch unternahm, sie tat es möglichst bauchfrei. Denn erstens war sie stolz auf ihre schlanke, durchtrainierte Figur, was für ein Mädchen ihres Alters extrem selten war, und zweitens liebte sie es, ihr Bauchnabelpiercing zu zeigen. Es bestand aus einem kleinen, silbernen Totenkopf und zwei gekreuzten Knochen darunter. »Mensch, Mum, jetzt schaust du dir den Mist ja schon wieder an«, sagte sie, während sie sich neben Mia auf den schäbigen Sessel setzte. »Langsam wird's Zeit, dass du dich mal wieder erdest. Ich hab dir schon damals gesagt, dass Hooks ein Arschloch ist und dass das nie was wird. Wie der schon immer süßlich getan hat. Ach mein Darling, Honey, ich liebe dich, da hätte ich abkotzen können. Aber
nein, du wolltest ja nicht auf mich hören. Dabei hab ich sofort gesehen, dass der dich nur flachlegen wollte …« »Mel! Jetzt reicht's aber.« Mia war längst wieder in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Zornig funkelte sie ihre Tochter an, während sie automatisch den Ausknopf auf der Fernbedienung drückte. »Pass bloß auf, was du sagst.« »Stimmt aber doch«, kam die trotzige Antwort. »Da sagt man immer, Teenager seien naiv, aber ihr Erwachsenen seid die allergrößten Naivlinge überhaupt.« Mia spürte einen Stich in ihrem Herzen. So unverschämt ihr Fräulein Tochter auch daher redete, so hatte sie doch Recht, das musste sie sich eingestehen, auch wenn sie dabei am liebsten losgebrüllt hätte. Erneut schweiften ihre Gedanken in die Vergangenheit zurück. Ihre Tochter war das Produkt eines OneNight-Stands, als sie gerade achtzehn gewesen war. Den Vater hatte sie danach nie wieder gesehen. Mia hatte ihr Studium abgebrochen und verschiedene Jobs angenommen, um ihre Tochter großziehen zu können. Einige Beziehungen, die sie während den letzten vier, fünf Jahren eingegangen war, hatten nur kurz gehalten. Melanie hatte die Typen alle weggequengelt und Mia war nicht mal unfroh darüber gewesen. Sie hatte ohnehin nur wenig Zeit für die Kerle gehabt, weil sie ihre Selbstständigkeit nicht aufgeben wollte. So richtig gefunkt hatte es allerdings vergangenes Jahr, als plötzlich Hooks Baker am Counter des Schnellrestaurants aufgetaucht war, in dem sie momentan bediente. Der Star der seit über fünf Jahren laufenden Serie »My Life« hatte auch in echt so sympathisch gewirkt wie im Fernsehen und Mia auf einen Drink nach Dienstschluss eingeladen. Sie hatte nicht geglaubt, dass er am verabredeten Treffpunkt sein würde und war nicht hin gegangen. Mit dem Ergebnis, dass er sich ihre Telefonnummer besorgt und sie am nächsten Tag angerufen hatte. Da war sie hin und weg gewesen und die Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten so heftig, dass sie sich fast übergeben hätte. Ein halbes Jahr lang hatte ihr Hooks unter größter Geheimhaltung ihrer Beziehung die unsterbliche Liebe vorgespielt und ihr den
Himmel auf Erden beschert. Er entpuppte sich als Mann, wie sie sich ihn immer gewünscht hatte: stark, zärtlich, liebevoll. Und dass er reich war, spielte auch nicht gerade die untergeordnetste Rolle. Mia war wild entschlossen, diese Beziehung gegen den Widerstand ihrer Tochter durchzusetzen. Zumal Hooks ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte, als es einmal nicht so gelaufen war und sie sich ihm verweigert hatte. Nur drei Tage später hatte sie ihn dann auf der Titelseite des »Miami Herald« gesehen – wild mit seiner Filmpartnerin knutschend. Eine Welt war für Mia zusammengebrochen, zumal Hooks erst gar nicht versuchte, irgendwelche Ausreden zu finden. »Ich bin einfach zu schade für eine einzige Frau, Baby«, hatte er gesagt und unverschämt gegrinst. »Ich dachte, du hättest verstanden, dass du mir meinen Freiraum lassen musst.« Mia hatte ihn hinaus geworfen und war danach vier Tage krank gewesen, schwer verletzt, gedemütigt. Ein gutes halbes Jahr hatte sie gebraucht, um den Schock zu überwinden. Aber sie konnte Hooks einfach nicht vergessen, egal, wie schlecht sie ihn vor sich selber auch machte. Wann immer sie Zeit hatte, schaltete Mia »My Life« ein, um ihn zu sehen. Sie konnte nicht anders, es war wie ein Zwang, auch wenn sie sich danach stundenlang schlecht fühlte. »He Mum, bist du eingeschlafen?« »Was?« Mia starrte ihre Tochter an. »Nein, natürlich nicht, Liebes.« Melanie verzog ihr hübsches Gesicht unter den schulterlangen, schwarzen Haaren, als hätte sie soeben Essig getrunken. »Sag bloß nicht immer Liebes zu mir, Mum, sonst krieg ich die Krätze. Ich bin doch kein Baby mehr. Und dann sagst du's auch noch vor meinen Freundinnen. So wie neulich in der Boutique, als wir Sandy getroffen haben. Ich hab gedacht, ich muss dir ins Gesicht springen.« »Wie redest du mit mir?« »Warum? Du sagst doch immer, ich soll's dir sagen, wenn mich was bedrückt. Und das bedrückt mich extrem. Irgendwann halten mich die Anderen noch für ein Mamakindchen.« Sie betrachtete ihre
schwarz lackierten Fingernägel. Mia seufzte. Melanie wuchs ihr immer mehr über den Kopf. Manchmal wusste sie sich nicht mehr zu wehren. »Du musst mich zu Sandy fahren, Mum. Ich hab keinen anderen Chauffeur gefunden.« Mia sah auf ihre Armbanduhr. »Das wird knapp. In einer Stunde fängt meine Nachtschicht an. Was willst du überhaupt bei Sandy?« Melanie verdrehte die Augen. »Mum, hallo, es ist Wochenende. Freitagabend. Verstehst du? Da gehen wir immer aus. Disco.« »Da läuft aber nichts mit Alkohol und Drogen, oder?« »Langsam könntest du mal 'ne andere Platte auflegen, Mum. Ich hab's nicht mit Alkohol und Drogen. Und die Anderen auch nicht. Und mit den Jungs mach ich auch noch nicht rum, wenn du's genau wissen willst.« Melanie lächelte unschuldig. »Na ja, jedenfalls nicht wirklich. Also, was ist jetzt?« Mia seufzte erneut. »Also gut, Liebes.« »Ich hab doch gerade gesagt, dass du nicht …« »Noch sag ich zu dir, was ich will«, unterbrach Mia ihre aufmüpfige Tochter mit scharfer Stimme. »Reiß dich zusammen.« »Na gut.« Melanie gab nur nach, weil sie ihre Mutter noch brauchte. Mia wusste das auch ganz genau. Sie liebte ihr Kind über alles, aber es gab Tage, da hätte sie ihren pubertierenden Spross am liebsten an die Wand geknallt. »Was ist nun?« »In diesem Ton geht gar nichts.« »Also, liebe Mum, fährst du mich bitte zu Sandy?« Melanie stand auf, umarmte Mia und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Dabei lächelte sie ganz lieb. Mia schmolz dahin. »Okay, überredet. Auch wenn's knapp wird. Aber besser ich fahr dich, als wenn du größere Strecken gehen musst.« Noch immer war Miami ein extrem unsicheres Pflaster, vor allem hier im Stadtteil Opa Locka, der als Problemviertel galt. Morde, Vergewaltigungen und Drogenhandel waren fast schon an der Tagesordnung. Mia verschwand kurz im Badezimmer, richtete sich und raffte ihre Arbeitskleidung zusammen.
»Mama, was ist jetzt? Kommst du endlich?«, quengelte es aus dem Wohnzimmer. Der aufkommende Stress ließ gleichzeitig Wut in ihr hoch steigen. Nur mühsam beherrschte sie sich. Es gab Tage, da wuchs ihr alles über den Kopf. Kurze Zeit später stiegen sie in ihren alten, schon ziemlich verrosteten Honda. Mia lenkte ihn durch die schmutzigen Straßen von Opa Locka. »Das ist total unbequem hier drin«, beschwerte sich Melanie. »Wär echt toll, wenn wir mal ein größeres Auto hätten als diese Burgerschachtel. Da brech ich mir ja irgendwann noch mal die Fußnägel ab. Und wenn wir schon mal dabei sind, Mum, könntest du dir vielleicht mal 'nen anderen Job suchen?« Mia durchfuhr es siedend heiß. »Wie meinst du das?« »Na ja, in der Disco hab ich einen Jungen kennen gelernt, der heißt Ricky. Ein absolut toller Typ, kann ich dir sagen. Dem seine Alten haben echt Kohle und irgendwie steht der total auf mich. Gestern haben wir telefoniert und er wollte dann wissen, was meine Eltern von Beruf sind. Das ist ihm wichtig, weißt du. Ich hab aber nichts gesagt, weil ich ja nicht sagen kann, dass du in einem Schnellimbiss arbeitest. Das ist für Ricky total uninteressant. Könntest du nicht mal wenigstens einen Job in einer Parfümerie oder so was annehmen? Das müsste doch gehen. Dein Bruder hat's schließlich auch zum Rechtsanwalt gebracht. Ich hab schon gedacht, ob ich ihn vielleicht als meinen Dad ausgeben soll.« Mia schluckte schwer. Schwindelgefühl überkam sie für einen Moment. »Du schämst dich also für mich«, erwiderte sie leise. Sie wagte es nicht, ihren Kopf zu drehen. »Na ja, das kommt halt nicht so cool rüber. Du würdest mir damit echt einen großen Gefallen tun, Mum.« Mia sagte nichts mehr. Sie hatte nicht die Kraft dazu. Nachdem sie ihre Tochter abgesetzt hatte, musste sie an der nächsten Ecke anhalten. Ein Weinkrampf schüttelte sie. Alles Geld, das sie unter schwierigsten Bedingungen verdiente, ließ sie ihrer Tochter zugute kommen. Melanie sollte es an nichts mangeln, lieber steckte sie selbst zurück. Geld von ihrer Mum und ihrem Bruder Jeremiah
wollte sie nicht nehmen, dazu war sie viel zu stolz. Sie hatte es immer selbst schaffen und niemals Anderen zur Last fallen wollen. Bisher hatte das immer irgendwie geklappt. Es war gar nicht leicht gewesen, wenigstens diesen Job zu bekommen. Wie viele Menschen in diesem Land hatten gar keinen? Und jetzt das … Es tat so weh. Auch wenn sie ihrem Kind nicht wirklich böse sein konnte. Teenager waren eben so, sie selbst hatte da keine Ausnahme gemacht. Mia absolvierte ihre Nachtschicht wie in Trance. Als sie kurz vor zwei Uhr nachts nach Hause kam, setzte sie sich noch vor den Fernseher. Sie war viel zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Ein Horrorfilm lief. Irgendwas mit einem Spukhaus. Da sie Horrorfilme liebte, blieb sie daran hängen. Die weibliche Heldin wurde gerade von Zombies gekidnappt und in ein Kellerverlies geschleppt. Bildschnitt. Neue Szene. Nackt und wimmernd lag die Heldin, jetzt gar nicht heldenhaft, auf einem steinernen Altar. Der Totenpriester hob mit verzerrter Fratze den blitzenden Opferdolch, um ihre Seele dem Teufel zu übereignen, der das Haus beherrschte. Keine Gefahr, dachte Mia gelangweilt. Die Hauptdarsteller überleben immer. Im letzten Moment stürmte der männliche Held ins Verlies und schlug dem Priester das Messer aus der Hand. Ein wüstes Handgemenge begann. Nun krampfte Mia doch die Fäuste zusammen. Das Telefon klingelte. Sie zuckte zusammen. Ihr Herz pochte plötzlich hoch oben im Hals. »Mist«, murmelte sie. Obwohl sie keine Lust hatte, abzunehmen, tat sie es doch. Vielleicht war es ja Melanie. »Mia, Schätzchen, wie geht es dir?« »Mum? Bist du's?« »Natürlich bin ich das, Schätzchen. Wer sollte dich denn sonst um diese Zeit anrufen? Oder gibt's da gerade wieder einen Mann?« »Gibt's nicht, Mum. Ich freu mich, dich zu hören.« »Ich freu mich auch. Geht's dir gut? Und was macht meine geliebte Enkelin?« »Die übernachtet heute auswärts. Bei uns alles klar, Mum, danke,
ich komme gerade von der Nachtschicht und bin todmüde.« Sie gähnte lang anhaltend, um ihre Worte zu unterstreichen. »Tut mir Leid, dass ich dich störe, aber um diese Zeit bist du am ehesten zu erreichen. Ich weiß ja, dass du diese Woche Nachtschicht hast.« Mia runzelte die Stirn. »Wie das?« »Ich hab vor zwei Tagen schon mal angerufen. Hat dir Melanie nichts gesagt?« »Nein, muss sie wohl vergessen haben. Was gibt's so Wichtiges, Mum?« »Du musst mich unbedingt besuchen, Schätzchen. Nimm dir ein paar Tage frei. Ich zahle dir auch den Flug. Ein bisschen Entspannung tut dir sicher gut.« »Wie stellst du dir das vor, Mum? Ich kann nicht so ohne weiteres weg. Und was soll ich mit Melanie machen? Die kann ich nicht mitbringen, weil sie zur Schule muss, das weißt du doch.« »Lass sie bei deinem Bruder. Dort ist sie gut aufgehoben.« »Warum soll ich dich gerade jetzt besuchen?« »Bei mir ist jemand eingezogen. Ich möchte, dass du ihn unbedingt kennen lernst und dann deine Meinung hören. Das ist sehr wichtig für mich.« »Was denn, ein Mann?« Ein leises Kichern war am anderen Ende der Leitung zu hören. »Ja. Warum betonst du das so? Ist das so ungewöhnlich? Ich kann dir sagen: Er ist einfach zauberhaft.« Mias Neugierde war geweckt. Mehr als das. Sie hätte nicht geglaubt, dass sich ihre Mutter noch einmal verlieben würde. Mit über sechzig! Vielleicht schadete es nicht, wenn sie nach dem Rechten sah. Nur, um zu wissen, dass auch alles mit rechten Dingen zuging. Gleich am nächsten Tag reichte sie bei ihrem Chef zwei Wochen Urlaub ein. Dafür musste sie nur einmal mit ihm schlafen. Sie tat es routiniert und hakte es gleich darauf schon wieder ab. Warum soll man nicht gelegentlich den Körper einsetzen, wenn man damit leichter durchs Leben kommt? Man muss es ja nicht übertreiben … Dann
managte sie Melanies Aufenthalt bei Jeremiah – ihre Tochter war hoch erfreut darüber, mal wieder »aus der stinkenden Bruchbude aufs Schlösschen« ziehen zu können – und holte die Flugtickets ab. Ihre Mutter hatte sie in einem Reisebüro bereits gebucht.
37. Zombies gehen ein wenig anders Jacmel, Haiti Zamorra saß an einem der einsamen Strände Jacmels im feinen, weißen Sand. Seine halblangen Haare hingen wirr in das eingefallene, schmutzige Gesicht. Er hatte den Rücken an das alte, durchgerostete Schiffswrack gelehnt, das mit schwerer Schlagseite im Boden steckte. Mit trübem Blick starrte er auf die Karibische See hinaus, die ruhig da lag in ihrem wunderschönen Türkisgrün und deren feine Wellen fast seine Füße erreichten, als sie im Sand ausliefen. Der Schiffskörper spendete ihm ein wenig Schatten, denn die Sonne, die erst eine Handbreit über den Horizont gestiegen war, brannte bereits heiß und die hohe Luftfeuchtigkeit trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Seine Finger wollten nicht ruhen. Ständig verkrallten und verdrehten sie sich ineinander. Seine Nasenflügel bebten. Die Gedanken überschlugen sich in Zamorras längst schwer krankem Hirn, zogen Schleifen und kamen zum hundertsten Mal zu ihm zurück. Dabei verdrehten sie sich ineinander, zerfaserten, machten anderen Platz, die er aber auch nicht zu Ende denken konnte. Hätte man einen roten Faden aus diesem Wirrwarr extrahieren können, hätte der ungefähr so gelautet: Ich muss einen anderen Zauber finden. Und ich finde ihn auch. Mit dem Voodoo-Blutzauber bin ich auf der richtigen Spur, das spüre ich. Ja, ich spüre es deutlich. Wahrscheinlich muss ich nur einen anderen Dämon anrufen. Asmodis, warum hilfst du mir nicht weiter? Die Zeit drängt. Gib mir noch einen Tipp. Ich bin dein treuer Diener, das weißt du genau. Und du weißt sicher auch den genauen Weg. Aber du hast viel zu tun, ich weiß. Ich habe zwar das gottverfluchte Amulett nicht mehr, aber es geht auch so, ich bin ja der Meister des Übersinnlichen, hihi, wenn ich den
Zauber nicht finden kann, dann niemand. Es gibt diesen Zauber garantiert, der weiße Frauen wieder aus dem Grab zurückkommen und sich bewegen lässt wie zuvor. Sonst hättest du das bestimmt nicht angedeutet. Aber ich muss auch was tun, natürlich. Ich kann nicht alles dir überlassen. Und dann, dann werde ich Nicis Seele beschwören, denn du bist garantiert nicht in den Himmel gegangen, nicht wahr, Nici? Du bist noch hier um mich herum, ich spüre es deutlich, ja, meine ewig Geliebte, ich kann dich spüren, denn du und ich, wir sind unzertrennlich, wir gehören zusammen. Du hast es garantiert nicht geschafft, von mir wegzukommen und wartest nur darauf, dass ich dich wieder zu mir hole. Ich vermisse dich! Und wenn ich den Zauber habe, um deinen Körper wieder in alter Frische aufstehen zu lassen, dann werde ich dafür sorgen, dass dein Geist ihn wieder übernehmen kann. Ja, Nici, das werde ich tun. Ich verspreche dir, dass ich die Möglichkeit finde, dass deine Seele wieder in deinen Körper kann. In deinen unbeschadeten Körper. Ich bin schon dicht davor. Und dann sind wir wieder vereint, so wie Gott es eigentlich will und wir heben wieder gemeinsam die Welt aus den Angeln … Das Bild des Malfacteurs Medine drängte sich in Zamorras Gedankenchaos und verfestigte sich für einen Moment. Ja, Medine, wir sind noch nicht fertig miteinander. Ich benötige deine Dienste noch ein paar Mal. Du musst mir Baron Samedi erneut in die Welt holen … Seit sich Zamorra in Haiti aufhielt, hatte er einen Malfacteur, auch Bokor geheißen, gesucht. Im Gegensatz zu den Houngans, den guten Voodoo-Priestern, übte ein Bokor ausschließlich Schwarze Magie aus und verkörperte damit die dunkle Seite des Voodoo. Dazu gehörte auch die so genannte »Zombification«, das Auferstehen lassen von Zombies. Und nur daran war der Professor interessiert. Längst hatte er den Schock überwunden, der ihn fast getötet hätte. Asmodis, sein neuer Herr, hatte ihn nämlich in die Vergangenheit, ins alte Ägypten geschickt, um ihm dort eine Waffe gegen Svantevit zu besorgen. Als Belohnung hatte ihm der Fürst der Finsternis Blut der Amazone Aella in Aussicht gestellt, in dem der Trank floss, mit dem sich die ägyptischen Götter ewiges Leben sicherten. Mit diesem Blut hatte Zamorra Nicoles Leichnam behandeln wollen. Der Professor hatte sowohl die magischen Pfeile der Pharaonengemahlin
Nefertari als auch den Schlauch mit Aellas Blut so gut in der Vergangenheit versteckt, dass sie die Jahrtausende überdauert hatten. Während die Pfeile aber unbeschadet in Asmodis' Hand gelangt waren, hatte sich Aellas Blut über die lange Zeit zersetzt; die letzten Reste hatten sich unter Zamorras Berührung aufgelöst …* Nun, dafür konnte er seinen Herrn, den Fürsten der Finsternis, nicht verantwortlich machen. Es war eben Pech gewesen. Zamorra hatte drei Tage gefiebert. Als er gerade seinem Leben ein Ende machen wollte, weil all seine hoch fliegenden Hoffnungen zerstoben waren wie eine Pusteblume im Sturm, hatte ihn Asmodis davon abgehalten, sich vom Eiffelturm zu Tode zu stürzen. Er war bereits dem gnädigen, erlösenden Tod entgegen gefallen, als ihn zwei aus dem Nichts erscheinende Teufel in der Luft packten und in die Hölle entführten. Asmodis hatte ihn im Thronsaal mit Schlägen und Tritten seine törichten Absichten ausgetrieben und ihm gleichzeitig neue Hoffnung in Aussicht gestellt. Hast du bisher noch nicht an die Kunst des Voodoo gedacht, Zamorra? Was kann dadurch wohl möglich werden, wenn es ein Eingeweihter nur geschickt genug anstellt? Hast du verstanden? Ja? Gut, ein wenig wirst du sicher experimentieren müssen, denn Zombies gehen ja nun doch ein wenig anders, als Duval das getan hat. Nicht so geschmeidig, aufreizend, sportlich. Eher, nun wie soll ich sagen, abgehackt? Roboterhaft? Ein brüllendes Lachen hatte den Thronsaal gefüllt, Asmodis hatte sich gar nicht wieder einkriegen wollen. Und Zamorra hatte, auf den Knien liegend, sabbernd in das Lachen eingestimmt. Dann aber hatte er die Anregung des Fürsten so gierig in sich aufgesogen wie die Seelenhalden der Hölle das Unsterbliche des Menschen, mit dem sie am besten brannten. Sobald er entlassen war, hatte er sich nach Haiti aufgemacht. Voodoo wurde auch in Afrika praktiziert, gewiss. Aber neuerdings wurde Zamorra von einem Handicap geplagt, das ihm schwer zu schaffen machte. Er hatte seine Gabe, fast alle Sprachen dieser Welt auf Anhieb verstehen und sprechen zu können, über Nacht verloren. Viel mehr als sein Französisch war *
siehe Zamorra HC26: »Die Quelle des Todes«
ihm nicht geblieben. So musste er sich ein Land aussuchen, in dem Voodoo praktiziert und seine Muttersprache gesprochen wurde. Haiti erfüllte beide Voraussetzungen und war deswegen geradezu ideal. Zamorra glaubte, ausgemacht zu haben, warum er nicht mehr über diese Fälligkeit verfügte. Gott hatte ihn verlassen! Ja, er wusste auch, warum. Weil er, als eines von Gottes bevorzugten Kindern, den Mörder Nicoles getötet hatte. Die Rache ist mein, spricht der Herr! Über dieses Gesetz Gottes hatte er sich hinweggesetzt und war deswegen von dem Allgewaltigen verstoßen worden. Warum also sollte er dann noch weiterhin nach dessen Gesetzen leben? Und gab ihm nicht die Hölle viel bessere Möglichkeiten an die Hand, Nicole wieder zurück zu bekommen? Das Schicksal hatte es nicht gut mit ihm gemeint. Warum also sollte er in seinem Bestreben, die alten, glücklichen Zeiten wieder zurück zu holen, Mitleid mit Anderen haben? Ohne Bedenken würde er Dutzende von ihnen opfern, denn Nicole war weit mehr wert als Tausende von ihnen. So spürte er schon lange nicht mehr auch nur den kleinsten Funken Bedauerns, wenn er jemanden tötete. Dafür freute er sich über das Lob seines neuen Herrn … Drei Polizeiwagen fuhren auf den Strand. Elf Polizisten stiegen aus. Mit Maschinenpistolen im Anschlag kamen sie näher und umstellten Zamorra schließlich. Die Mündungen der Waffen zeigten auf den Meister des Übersinnlichen, der den Kopf hob und die Polizisten anstarrte. Mit einem Schlag war sein Gedankenchaos weggewischt. Nun, da er so plötzlich in die Wirklichkeit zurückgeholt worden war, funktionierte sein Denken wieder scharf, klar und analytisch. Sie sahen lächerlich aus mit ihren hellblauen Uniformen, den grauen Hosen und den runden Hüten, die ihn irgendwie an John Wayne erinnerten; aber sie waren alles andere als lächerlich. Zamorra wusste wohl, dass die haitianische Polizei zu den berüchtigtsten Truppen der Welt zählte. Sie mordete und folterte nach Gutdünken. Und sie war durchsetzt von ehemaligen Mitgliedern der Tonton Macoutes, die nachweislich noch bis zur
Jahrtausendwende im Land aktiv gewesen waren. Die »Onkelchen Menschenfresser« waren ums Jahr 1964 herum von Diktator Francois »Papa Doc« Duvalier als Mischung aus Geheimpolizei und Schlägertruppe eingesetzt worden, um Terror im Land zu verbreiten und dadurch seine Macht zu festigen. Nachdem Duvaliers Sohn »Baby Doc« 1986 aus Haiti vertrieben worden war, hatten die mörderischen Tonton Macoutes trotzdem weiter ihr Unwesen getrieben. Der Anführer der Truppe, die ihn mit Waffen bedrohte, hatte Kampfnarben im Gesicht und sah gefährlich aus. Auch er konnte gut und gerne ein ehemaliger Tonton Macoute sein und war sicher ein harter Kerl. Aber jetzt stand ihm die blanke Angst in den Augen. Auch die anderen Polizisten wirkten unsicher. »Monsieur, Sie sind verhaftet. Kommen Sie bitte mit und leisten Sie keinen Widerstand. Wir müssten sonst von unseren Waffen Gebrauch machen.« Zamorra erhob sich geschmeidig. Sofort ruckten einige MP-Läufe hoch. Er klopfte sich den Sand aus den Kleidern. »Guten Morgen, Messieurs«, sagte er und lächelte. »Ich kann nicht gerade sagen, dass ich erfreut bin, an einem so wunderschönen Morgen mit Waffen bedroht zu werden, nachdem ich hier harmlos an Strand sitze, weil ich mir den Sonnenaufgang betrachten wollte. Sie haben übrigens einen wunderschönen Sonnenaufgang in Ihrem wunderschönen Land.« »Das ist sicher richtig.« »Natürlich. Was werfen Sie mir vor?« »Sie erfahren es auf der Polizeistation. Ich bitte Sie noch einmal, uns keine Schwierigkeiten zu machen. Dann lässt sich sicher alles regeln. Wir sind auch nur Befehlsempfänger, verstehen Sie? Ich würde nur äußerst ungern Gewalt gegen Sie anwenden, das dürfen Sie mir glauben, Monsieur.« Zamorra nickte. »Also gut. Gehen wir. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf und werde das an höherer Stelle regeln. Es handelt sich ganz sicher um ein Missverständnis.« Der Meister des Übersinnlichen musste sich in einen der
Polizeiwagen quetschen. Der Anführer gestand ihm aber zu, den Beifahrersitz benutzen zu dürfen, während normale Kriminelle in der Regel in den Fond gepresst wurden. Die Polizisten verzichteten ebenso darauf, Zamorra Handschellen anzulegen. Die Fahrt in die Stadt verlief schweigend. Zamorra hatte keine Lust zu reden und die Polizisten schon zwei Mal nicht. Sie fuhren am Hafen entlang, wo Berge getrockneter Obstschalen darauf warteten, als Zutaten für verschiedene Liköre nach Frankreich verschifft zu werden. Noch waren kaum Arbeiter zu sehen. Schließlich lenkte der Anführer, der höchstpersönlich fuhr, das Auto durch verwunschen wirkende Häuserreihen, die hauptsächlich aus bunten Kolonialbauten mit schmiedeeisern verzierten Balkonen bestanden. Vom wohlhabenden Kaffeehafen, der Jacmel im 19. Jahrhundert gewesen war, war nicht mehr viel übrig. Heute nagte die Seeluft an den Herrenhäusern, die einen windschiefen Charme verströmten, weil für deren Restaurierung niemand die nötigen Gourdes besaß. Die Polizeistation machte da keine Ausnahme. Die Gitter vor den Fenstern waren so verrostet, dass Zamorra sie mit einem Ruck hätte zerbrechen können, dessen war er sich völlig sicher. Zwei Polizisten führten ihn in das muffig riechende Gebäude und ließen ihn an einem alten Holztisch in einem kleinen Raum Platz nehmen. Ein Bewaffneter stand direkt vor dem Fenster. Als Zamorra durch Kopfbewegungen andeutete, dass er hinaus schauen wollte, trat der Mestize sofort zur Seite. Es dauerte zwei Minuten, bis die Tür aufging und der Polizeichef erschien. Er war gekleidet wie seine Untergebenen auch, trug aber statt des runden Hutes eine dunkelblaue Schirmmütze. Es handelte sich um einen Weißen mit einem gepflegten Menjoubärtchen und einem runden, freundlich aussehenden Gesicht. Über dem Gürtel drückte ein kleiner Bauch in die Welt hinaus. Irgendwie wirkte der Mann harmlos, wie der freundliche Nachbar von nebenan. Zamorra hütete sich jedoch, den Kerl zu unterschätzen. Andererseits hatte er auch keine Angst vor ihm. Er brauchte sie nicht zu haben.
Der Polizeichef Jacmels stellte sich als Boniface Alexandre vor. Der Meister des Übersinnlichen lächelte. »Angenehm. Mein Name ist Zamorra. Professor Zamorra.« »Ob das hier angenehm für Sie wird, stellt sich noch heraus.« Alexandres Züge wurden plötzlich hart, fast verkniffen. Auch Zamorra beschloss nun, mit einer finsteren Miene zu punkten. »Hören Sie, Alexandre, ich würde gerne wissen, was das soll. Ich bin nicht nur ein unbescholtener Bürger, sondern darüber hinaus auch noch Franzose. Und ich möchte wissen, was mir vorgeworfen wird. Entweder Sie klären mich jetzt mal auf oder ich kann ziemlich unangenehm werden.« Mit einer herrischen Handbewegung verscheuchte Alexandre den Bewaffneten aus dem Raum. Dann setzte er sich Zamorra gegenüber an den Tisch. Fast demonstrativ griff er an den Lauf seiner Pistole und lächelte. Es war ein kaltes Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Professor Zamorra, so so. Hören Sie, Professor, meinen Leuten können Sie vielleicht Angst einjagen, mir aber nicht. Ich bin gefeit gegen diesen ganzen Humbug. Baron Samedi, Maman Brigitte, Papa Legba, Erzulie, magische Puppen, was für ein Unsinn. Nichts als abergläubisches Zeug.« Er fixierte Zamorra nun mit leicht zusammengekniffenen Augen. Der Professor wusste nun, woher der Wind wehte. »Aha.« »Ja, aha.« Alexandre setzte sich bequem in seinen Stuhl. »Wissen Sie, Professor, ich bin gebürtiger Franzose wie Sie. Aber ich lebe schon seit über drei Jahrzehnten auf Haiti. Ich habe viel vom Lebensstil und der Kultur der Haitianer angenommen. Trotzdem kann ich nicht behaupten, dass ich ein echter Haitianer geworden bin.« »Weil Sie nichts vom Voodoo halten.« Der Polizeichef nickte. Er setzte seine Mütze ab und platzierte sie sorgfältig ausgerichtet auf dem Tisch. Die Kopfbedeckung legte eine kugelrunde Glatze mit einem dünnen schwarzen Haarkranz frei. »Sie sind ein schlaues Kerlchen, Professor. Ganz richtig ist das allerdings nicht, was Sie da gerade sagten. Schauen Sie, ich bin überzeugter Christ, so wie 90 Prozent aller Haitianer auch. Während
die aber gleichzeitig auch Voodoo praktizieren, ist meine Religion ausschließlich der Glaube an Jesus geblieben. Daran haben drei Jahrzehnte Haiti nichts geändert. Immerhin habe ich mich mit dem Voodoo arrangiert, das ist hier gar nicht anders möglich. Und eigentlich ist Voodoo ja auch gar nichts Schlechtes. Gut, es werden Tiere geopfert, aber die Houngans sind, würde ich mal so sagen, doch eher Weißmagier, die das Beste für ihre Klienten wollen und sich nicht auf verbrecherisches Zeug einlassen.« »So wie die Bokor, meinen Sie.« »So wie die Bokor, ja. Mögen Sie einen Kaffee, Professor?« »Ich könnte einen vertragen, danke.« Alexandre klopfte auf den Tisch. Sofort erschien der Bewaffnete und ging postwendend, um den bestellten Kaffee zu besorgen. »Wo waren wir, Professor? Ach ja, bei den Bokor. Wie alles, so hat auch der Voodoo seine dunkle Seite. Wissen Sie, es gibt hier, vor allem auf dem Land, Geheimbruderschaften, so genannte Zobob, die Voodoo benutzen, um Reichtum und Macht zu erhalten. Und sie führen gelegentlich Zombification durch. Manchmal macht's ein Bokor aber auch auf eigene Rechnung. Nun, die Zombification ist ein durch und durch abscheuliches Ritual, wie ich Ihnen versichern darf. Manchmal werden sogar Menschen geopfert. Dabei ist das Auferstehen von so genannten Zombies nichts als Betrug. Der Magier nimmt zum Beispiel Tetrodotoxin, ein starkes Nervengift, das vor allem in Kugelfischen vorkommt, und bläst es, mit Juckpulver vermischt, dem Opfer auf die Haut. So kratzt sich der Unglückliche und das Tetrodotoxin kommt dadurch in seine Blutbahn. So wird er in einen scheintoten Zustand versetzt und begraben. Nach einigen Tagen gräbt ihn der Magier wieder aus und verabreicht dem Scheintoten ein Gegengift, meistens Atropin oder Hyoscyamin. Das Opfer erwacht wieder, aber diese starken Gifte rauben ihm sowohl seine Sinne als auch sein Bewusstsein. Der zombie cadavre ist geboren. Haha. Und er wird als billige Arbeitskraft in die Landwirtschaft verkauft. An die selbstverständlich nur, die Zombies in ihrer Nähe aushalten können.« »Ein sehr interessanter wissenschaftlicher Vortrag, wirklich.«
Zamorra, der wusste, dass das nur ein Teil der Wahrheit war, konnte sich den Hohn in der Stimme nur mühsam verkneifen. »Nicht wahr?« Der Polizeichef beugte sich nach vorne und sah nun aus wie ein zum Sprung bereiter Tiger. »Aber wem sage ich das, Professor. Sie wissen wahrscheinlich noch besser als ich, wie so was abläuft.« Der Kaffee kam. Zamorra nahm ihn mit Milch. »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Alexandre. Warum sollte ich das besser wissen als Sie?« Der Polizeichef stieß ein kurzes, trockenes Lachen aus. »Verscheißern Sie mich nicht, Professor. Verstanden? Sonst kann ich äußerst ungemütlich werden. Wissen Sie, heute Morgen wurde auf dem Friedhof die Leiche einer jungen Frau gefunden. Eine Weiße. Es handelt sich eindeutig um die Frau, mit der sie vor zwei Wochen nach Jacmel gekommen sind, Professor. Die Stadt hat zwar stolze 35.000 Einwohner, ist aber ein größeres Kaff, in das nicht so oft Fremde kommen, Weiße zumal. Hier kennt jeder jeden und Fremde fallen auf. Ich hab hier so meine Informanten und die sagen mir nun, dass die Frau bereits seit einigen Tagen nicht mehr gesehen wurde, im Gegensatz zu Ihnen. Und plötzlich finden wir sie auf dem Friedhof wieder. Ihr Körper weist übrigens schwerste Misshandlungen auf.« »Oh mein Gott«, erwiderte Zamorra und zog ein entsetztes Gesicht. »Das ist fürchterlich. Wissen Sie, ich habe Madeleine, so hieß die Frau, in Port-au-Prince kennen gelernt. Amerikanerin. Sie wollte unbedingt mit mir Urlaub am Meer machen. Aber wie das manchmal so ist, man verkracht sich wegen einer Kleinigkeit. Wir hatten Streit und sie ging weg. Seither habe ich sie nicht mehr gesehen. Sie muss danach einer dieser, wie nannten Sie die noch? Ach ja, Zobobs, in die Hände gefallen sein. Ein schreckliches Schicksal. Aber was kann ich dafür? Sie glauben doch nicht etwa, dass ich sie geschlagen habe? Für die Misshandlungen gibt es ja wohl eine natürliche Erklärung. Manchmal verprügeln die Gehilfen des Zauberers einen neuen Zombie, um ihn von seiner neuen Rolle als Arbeitssklave zu überzeugen.«
»Sieh einer an, Sie kennen sich ja sehr gut aus, Professor. Wie kommen Sie aber darauf, dass die Frau Opfer einer Zombification geworden ist? Davon habe ich nichts gesagt. Ich sagte nur, sie sei auf dem Friedhof schwer misshandelt und tot aufgefunden worden. Die Tote wurde allerdings nicht geschlagen. Sie weist vielmehr starke Würgemale am Hals auf, was darauf hindeutet, dass sie ermordet wurde. Sie ist also kein typisches Opfer einer Zombification. Das zeigt alleine schon die Tatsache, dass sie tot liegen blieb und nicht wie ein Zombie weggegangen ist.« Er stieß ein unfrohes Lachen aus. Zamorra beobachtete ihn mit versteinerter Miene. »Ja, Professor, so sieht das aus. Es dürfte Ihnen klar sein, dass Sie unter diesen Umständen unser erster Tatverdächtiger sind. Zumal Sie sich mit der Geschichte von dem Streit sogar noch selbst belastet haben.« »Ich sagte doch deutlich, dass Madeleine mich verlassen hat. Sie hat mir eine Szene gemacht und ist abgerauscht. Dafür lassen sich im Hotel sicher Zeugen finden. Wie ihre Leiche auf den Friedhof gekommen ist, weiß ich doch nicht.« »Natürlich, natürlich. Wissen Sie, Professor, ich bin schon länger hinter einer Zobob her, die sich ›Samedis Kinder‹ nennt und Menschen opfert. Und ich habe Medine im Verdacht, dass er der Bokor dieser gemeinen Mörderbande ist. Bisher konnte ich ihm aber nichts beweisen. Heute Nacht nun haben zwei meiner Beamten Medine auf dem Friedhof bei einer Voodoo-Zeremonie beobachtet. Da fielen eindeutig die Namen Baron Samedi und Maman Brigitte. Ein untrügliches Zeichen, dass es sich um eine Zombification gehandelt hat.« Alexandre klang nun sehr jovial, so, als erzähle er kleine Familiengeschichten. »Meine wackeren Polizisten, die das beobachtet haben, hätten mir niemals freiwillig davon erzählt. Sie fürchten die dunkle Seite des Voodoo und machen sich vor einem Bokor fast in die Hosen. Ich allerdings nicht. Na ja, ich habe sie belauscht, als sie der Frühschicht davon erzählten. Und sie haben auch erzählt, dass Sie, Professor, ebenfalls bei der Zombification
anwesend waren. Kein Zweifel, die haben Sie genau erkannt. So hab ich meine Männer ausschwärmen lassen, um Sie hierher bringen zu lassen. Es war gar nicht so schwierig, Sie am Strand aufzutreiben.« Zamorra beschloss, sich künstlich aufzuregen. »Eine völlig blödsinnige Geschichte. Ihre Schmalspurbullen sollten sich mal Brillen kaufen, denn anscheinend hapert's da etwas mit dem Sehvermögen. Ich war heute Nacht friedlich in meinem Hotelzimmer und habe noch friedlicher geschlafen. Das sind Verleumdungen, mehr nicht. Sie können mir weder etwas beweisen noch etwas anhängen.« »Ach ja? Wenn ich will, kann ich Ihnen alles anhängen, Zamorra. Halten Sie also den Ball schön flach. Soll ich Ihnen mal was sagen? Der Tod der Frau interessiert mich wenig. Hier in Haiti sterben jeden Tag Hunderte von Menschen im Kugelhagel von irgendwelchen Verbrecherbanden. Ich will aber Medine haben. Und Sie werden ihn mir ans Messer liefern. Oder ich werde Sie wegen Mordes an dieser weißen Frau einbuchten und vor Gericht stellen lassen. Dann sind Sie erledigt, Professor. Ich habe hier die ganze Macht, das sollten Sie begreifen. Ohne mein Wohlwollen sind Sie erledigt.« Zamorra grinste nun doch höhnisch. »Ach ja? Glauben Sie?« Alexandres Gesicht verzerrte sich. »Ihnen wird das Lachen schon noch vergehen, Zamorra. Sie scheinen sich über Ihre Lage nicht im Klaren zu sein. Dass Sie Ausländer sind, schützt Sie nicht. Ich will von Ihnen eines wissen: Was ist heute Nacht auf dem Friedhof vorgefallen? Da gab es zwar eine Zombification, aber keinen Zombie, sondern eine wirkliche Leiche, die zudem schon ein paar Tage im Boden war. Das passt nicht zusammen, das verstehe ich nicht. Was haben Medine und Sie da angestellt? Damit wir uns klar verstehen: Sie sind Franzose wie ich und ich habe keinerlei Interesse an Ihnen und Ihrem Schicksal. Ich will nur Medine. Bezeugen Sie, dass er ›Samedis Kindern‹ angehört und wo diese ihren Tempel haben und ich lasse Sie laufen. Mehr müssen Sie nicht tun.« Zamorra überlegte. Die haitianische Polizei jagte weder Bokoren noch Zobobs. Es musste sich also um etwas Persönliches zwischen
Alexandre und Medine handeln. Da der Polizeichef den Bokor jederzeit hätte umbringen können, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, ging es ihm wohl eher darum, den Tempel zu finden. Warum auch immer. Es wäre dem Professor ein Leichtes gewesen, Medine zu verraten. Aber erstens brauchte er ihn vielleicht noch einmal und zweitens wollte er sich von Alexandre nicht so einfach überfahren lassen. Einen Zamorra nagelte man nicht auf diese impertinente Art und Weise fest! Zumal er noch etwas in petto hatte. »Darf ich kurz in die Innentasche meiner Jacke fassen, Alexandre?« Der Polizeichef zögerte, denn Zamorra war sicher noch nicht auf Waffen durchsucht worden. Als Teilnehmer einer Zombification hatten seine Leute viel zu viel Angst vor ihm und sicher jeglichen Körperkontakt vermieden. Alexandres Hand lag auf seiner Pistole. Schließlich nickte er entschlossen. Zamorra holte seine Geldbörse hervor und kramte ein Schreiben heraus. Voller Triumph legte er es vor Alexandre auf den Tisch. Der runzelte die Stirn und nahm das Dokument hoch. Es zeigte das Wappen Haitis und war vom Innenminister persönlich unterschrieben. Darin stand, dass Zamorra berechtigt war, sich frei im Land zu bewegen, dass jede Behörde ihm auf Anforderung Hilfe zu gewähren habe und dass er in all seinem Tun nur dem Innenminister selbst Rechenschaft schuldig sei. Der Polizeichef wurde bleich. »Das ist eine unbegrenzte Vollmacht«, krächzte er, plötzlich unsicher geworden. »Die gibt es sehr selten. Woher haben Sie die?« »Haben Sie Tomaten auf den Augen, Alexandre? Der Innenminister persönlich hat unterschrieben. Da, sehen Sie.« Er drückte seinen Zeigefinger auf den undeutlichen Schriftzug. »Jocelerme, ich meine Monsieur Neptune ist ein guter Freund von mir. Hin und wieder, nun, lassen Sie mich das so formulieren, führe ich ein paar kleine Aufträge für ihn aus.« »Sie gehören der Geheimpolizei an?« »Tonton Macoute, meinen Sie? Aber nein. Ich bin eher so was wie
ein Innenrevisor, verstehen Sie? Ich schaue zum Beispiel, ob die Polizei auch schön brav ihren Dienst tut und sich nicht bestechen lässt. Sie wissen ja, der Innenminister ist ein integrer Mann und möchte die Korruption in den nächsten Jahren fast ausgerottet haben.« Zamorra grinste zähnefletschend. »J-ja, natürlich. Warten Sie bitte einen kurzen Moment hier, Professor. Ich bin gleich wieder da.« Boniface Alexandre erhob sich und marschierte mit der Vollmacht, die noch weit über einen diplomatischen Status hinausging, aus dem Raum. Drei Minuten später war er wieder da. Er schluckte ein paar Mal schwer. »Die Vollmacht ist echt, ich habe das überprüfen lassen, Professor. Bitte entschuldigen Sie, das konnte ich nicht wissen. Sie können natürlich sofort wieder gehen. Vielleicht kann ich mich auf irgendeine Weise erkenntlich zeigen für die kleinen Unannehmlichkeiten, die Sie erdulden mussten? Brauchen Sie vielleicht etwas?« Zamorra lächelte. »Kein Problem, Alexandre. Ich bin Ihnen nicht böse. So ein Dokument sieht man im Leben ja höchstens ein Mal, wenn überhaupt, was? Doch ja, Sie können was für mich tun. Lassen Sie Medine ab jetzt in Ruhe. Er wird in Zukunft noch eine, nun, sagen wir, gewisse Rolle in meinen Plänen spielen. Da sollte mir so ein kleiner Arsch wie Sie nicht in die Quere kommen. Haben wir uns klar und deutlich verstanden, Alexandre?« »Haben wir, Professor.« Im Gesicht des Polizeichefs zuckte es. Das einzige äußere Zeichen, wie schwer er daran zu knabbern hatte, diese Beleidigung einfach so schlucken zu müssen. Als Polizeichef Jacmels wurde er von der zentralen Polizeibehörde des Landes weitgehend in Ruhe gelassen und war fast so etwas wie ein unumschränkter Herrscher hier. Wahrscheinlich wäre es ihm sogar gelungen, Zamorra heimlich zu beseitigen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen. Aber das traute er sich nun doch nicht, da er fast sicher davon ausgehen musste, dass der Professor tatsächlich Verbindungen zu den Tonton Macoutes pflegte. Und wenn er von den »Onkelchen Menschenfressern« erst einmal mit dem Verschwinden des Franzosen in Verbindung gebracht wurde, waren er und seine Familie geliefert.
Zamorra ließ sich von einem uralten Taxi ins Hotel zurück bringen. Seine Laune war jetzt tatsächlich um einige Grade gestiegen. Er dachte daran, wie er sich die fast sechs Milliarden Euro der deBlaussec-Stiftung unter den Nagel gerissen hatte. Das war nicht besonders schwierig gewesen. Zamorra selbst hatte auf der Grundlage eines beschlagnahmten Dämonenschatzes diese Privatstiftung einst gegründet, um Opfern schwarzmagischer Umtriebe helfen und den Kampf gegen die Dämonen forcieren zu können. Er hatte sich dabei immer vorbehalten, über die Verteilung der Hilfe das letzte Wort zu haben. Da er nun selbst Opfer dämonischer Umtriebe geworden war*, hatte er sich das gesamte Vermögen einfach selbst zugesprochen und die Stiftung gleichzeitig aufgelöst. Die Stiftungsverwaltung, die er ebenfalls längst zum Teufel gejagt hatte, hatte keine Möglichkeit gehabt, dieses Vorgehen zu verhindern. Das ganze Geld ruhte nun auf mehreren Konten, die über die ganze Welt verteilt waren. Dass dadurch zahlreiche Opfer, die auf dauerhafte Unterstützung aus der Stiftung angewiesen waren, in größte Not und Elend gestürzt wurden, interessierte Zamorra nicht. Vielmehr hatte es ihn interessiert, dass Haitis Innenminister als korrupt galt, womit Jocelerme Neptune in diesem Land nun wirklich keine Ausnahme darstellte. Als Großinvestor hatte er über die Botschaft Kontakt mit Neptune aufgenommen und ihm zehn Millionen Dollar auf dessen Privatkonto in Aussicht gestellt, wenn er sich bei allerlei Vorhaben, die er im Sinn habe – natürlich völlig legalen – nicht unnötigerweise mit den staatlichen Sicherheitskräften auseinandersetzen müsse. Allzu große Überredungskunst hatte er nicht anwenden müssen. Als er Neptune den Sonderausweis des britischen Innenministeriums gezeigt hatte, in dessen Besitz er noch immer war, hatte sich Neptune nicht lumpen lassen. »Na so ein Zufall. Etwas Ähnliches stellt unser Land auch aus.« Der haitianische Innenminister hatte breit gegrinst. »Und Sie, Monsieur Zamorra, wären ganz sicher befugt, einen derartigen *
siehe Zamorra HC25: »Desaster«
Ausweis zu erhalten. Für … hm … sagen wir fünfzehn Millionen Dollar? Das ist ein fairer Preis, wie ich finde, denn er berechtigt Sie, auch Waffen in unserem schönen Land zu tragen.« Dreizehn Millionen hatte ihn der Sonderausweis schließlich gekostet. Durchaus gut angelegtes Geld, wie er fand. Noch an diesem Abend reiste Zamorra nach Port-au-Prince zurück.
38. Der Weg in den Tod Quelle des Todes, zwischen den Welten Asmodis schritt wieder über die weite Ebene, deren Untergrund keine feste Farbe besaß. Wo immer der Fürst der Finsternis auch hin blickte, bekam er innerhalb eines Augenblicks ein ganzes Konglomerat davon zu sehen. Erschien die fixierte Stelle im ersten Moment schwarz, so schimmerte sie bereits im nächsten Moment in kupfernem Weiß, giftigem Grün oder wie Stahl glänzendem Blau. Egal, wie die Farbe auch immer war, eine Konstante dazwischen gab es: das strahlend rote Blut nämlich, das aus diesem Boden quoll, sich zu einer Art fahlgelber Schleimstränge verdrehte und wieder im Nirgendwo verschwand. Asmodis seufzte. Lucifuge Rofocale, den neuen Wächter, konnte er nirgendwo ausmachen. Er wusste inzwischen genau, dass diese Ebene, wie auch die Quelle selbst, aus manifestiertem Tod bestand. Dieses Wissen war ihm zugeflossen, irgendwie, als er zum ersten Mal staunend und ehrfürchtig vor der Quelle des Todes gestanden hatte. Wie ein kleiner, verlorener Derwisch, mit eingezogenem Schweif. Manifestierter Tod! Das war etwas, das er selbst als hoch begabtes magisches Wesen nicht im Ansatz begreifen konnte. Denn auch er selbst unterlag den Gesetzen des Todes und war nicht Herr über ihn; selbst wenn der extrem langlebige Teufel in den letzten Jahrtausenden immer mal wieder diesem Trugschluss erlegen war. Nein, Asmodis konnte sich nicht in die Strukturen hinein finden, die diese Ebene errichteten. Und wollte es auch nicht. Denn sie »fühlten« sich so fremd an, unendlich machtvoll und so grauenhaft anders, dass ihn immer wieder davor schauderte. Nichtsdestotrotz akzeptierte ihn die Quelle des Todes, zu der die Ebene gehörte, als Zugangsberechtigten, wenn man das mal so
ausdrücken durfte. Ob er der Einzige war, wusste er nicht sicher, nahm es aber an. Denn dieses unglaubliche Gebilde antwortete ihm nicht nur bereitwillig auf seine Fragen, es »fütterte« ihn auch von sich aus mit Informationen, die er unbedingt benötigte. So, als sei es in der Lage, jeden seiner Gedanken zu erfassen. Davor schauderte es ihn am meisten. Trotzdem war er wild entschlossen, die Möglichkeiten der Quelle zu nutzen, um irgendwann vielleicht sogar KAISER anstelle des KAISERS zu werden. In dieser Richtung allerdings gedachte Asmodis noch eine ganze Zeitlang sehr vorsichtig zu agieren. Noch war ihm nicht klar, in welcher Beziehung der KAISER zu diesem monströsen Gebilde stand. Denn LUZIFER hatte von der Existenz der Quelle des Todes gewusst und seinen Vasallen Asmodis benutzt, um an der Geburt der Quelle mitzuwirken, ja diese überhaupt erst möglich zu machen. Also musste er annehmen, dass die Quelle in LUZIFERS Plänen eine Rolle spielte. Wenn ich es geschickt anstelle, mich irgendwann besser mit den Möglichkeiten der Quelle auskenne und diese auch anwenden kann, müsste es mir mit meinem Talent zum Intrigenspiel aber möglich sein, den KAISER auszuhebeln …, dachte Asmodis in diesem Moment. Denn LUZIFER erschien ihm doch schwach im Vergleich zur Quelle des Todes. Und das, obwohl die Quelle noch wuchs, erst im Werden begriffen war. Es schien ihm nicht abwegig, dass er, wenn er zusammen mit der Quelle größer wurde, mit dieser eine Symbiose eingehen konnte, die ihn dann endgültig zum mächtigsten Wesen des Universums werden ließ. Was wird die Quelle mit dir tun, wenn sie erst fertig ist? Vielleicht bist du selbst ja das Spielzeug in den Plänen Anderer oder das Spielzeug der Quelle, vielleicht sind beide Möglichkeiten auch miteinander verquickt, flüsterte ihm eine böse Stimme aus den Tiefen seines Bewusstseins zu. Unwillig schüttelte er den Kopf. Nein, damit wollte er sich momentan nicht auseinandersetzen. Zuerst einmal galt es das nahe Liegende zu tun. Svantevit! Dieses Monster galt es zuerst auszuschalten, denn der Vierköpfige
besaß die Macht, die Hölle zu erobern. Vor allem jetzt, da er nach vielen Jahrhunderten plötzlich doch den Übergang auf die Erde geschafft hatte, wo sein einst magisch abgetrenntes viertes Gesicht auf die Vereinigung mit den drei anderen wartete. Diese war wahrscheinlich längst vollzogen und Svantevit besaß somit wieder seine volle Machtfülle. Ein Hinweis darauf war die Dreifingerschau des höllischen Herrn. Wenn Asmodis Daumen, Zeige- und Mittelfinger in einem unmöglichen Winkel zu einem Dreieck formierte, konnte er jedes Wesen, das sich auf der Erde befand, ansteuern und sehen, was es gerade tat. Befand es sich nicht mehr auf der Erde, bekam er automatisch jenen Punkt zu sehen, an dem es sich zuletzt aufgehalten hatte. Bei Svantevit funktionierte weder das Eine noch das Andere. Wenn Asmodis ihn anzusteuern versuchte, erschien jedes Mal ein graues Nichts zwischen seinen verdrehten Fingern. Automatisch versuchte er es nun in dieser Dimension. Normalerweise klappte die Dreifingerschau nicht, wenn sich eine Dimensionsgrenze dazwischen befand, aber schließlich war der Tod allgegenwärtig und reichte in jede Dimension hinein. Er hatte bereits erfahren, dass er von hier aus mit seinem magischen Instrument die Erde ansteuern konnte. Als er Andrew und Johannes die Unsterblichen gezeigt hatte, die auf der Erde umher geisterten. Dieses Mal klappte es nicht. Asmodis sah wieder dieses graue Nichts. So schritt er einfach weiter, ohne aber verzagt zu sein. Die Quelle des Todes hatte ihm schon einmal einen Hinweis auf Svantevit zukommen lassen, beziehungsweise auf eine Waffe, mit der er zu besiegen war.* Zamorra hatte ihm die magischen Pfeile aus der Vergangenheit geholt. Sozusagen … Und Asmodis war sicher, dass ihm die Quelle selbst auch in der ungeheuer wichtigen Frage nach dem Aufenthaltsort des Vierköpfigen weiterhelfen würde. Warum hat Svantevit bisher noch nicht zugeschlagen? Asmodis wusste es nicht, wollte einer Attacke des Vierköpfigen aber zuvor kommen, um das Gesetz des Handelns in den eigenen *
siehe Zamorra HC26: »Die Quelle des Todes«
Klauen zu behalten. Und wenn er mit seinem ärgsten Widersacher fertig war, würde er sich um Zamorra kümmern. Asmodis kicherte höhnisch. Seine Stimme wurde viele tausend Mal gebrochen und kam von allen Seiten zu ihm zurück, obwohl es ihm ein Rätsel war, welche Barriere das bewerkstelligte. Doch er hatte längst aufgehört, sich in der Umgebung der Quelle des Todes noch über etwas zu wundern. Ich werde Zamorra belohnen, natürlich werde ich das. Er ist mir längst ein treuer Vasall geworden und soll also eine Belohnung erhalten, die ihm die Freudentränen durchs Gesicht treibt. Damit werde ich ihn Merlin endgültig entziehen … Zwei weitere Schritte. Direkt vor ihm erschien ein krankhaftes Gebilde, das mitten in der weiten Ebene stand. Er hätte es eigentlich viel eher sehen müssen, aber die Quelle des Todes tauchte erst aus dem Unsichtbaren, wenn man sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand. Merlin, mein Lichtbruder Merlin. Was für eine traurige Gestalt dieser alte Zausel in der Zwischenzeit geworden ist. Weiß er eigentlich noch, was er will? Zuerst verstößt er Zamorra, weil dieser ihn in einem absolut lächerlichen Versuch umzubringen trachtet, danach will er ihn plötzlich wieder zurück haben. Er scheut nicht einmal davor zurück, sich vor mir zu demütigen. Pah. So stark war er einst, als wir noch zusammen die Weiten der Hölle durchstreiften. Ich habe zu ihm aufgeschaut und von ihm gelernt. Niemand war schrecklicher und kraftvoller als er. Aber nun ist er nur noch eine verachtenswerte Kreatur. Sein Verfall setzte damals schon ein, als er sich entschloss, die Seiten zu wechseln. Unabhängig davon, ob ihm der Wächter der Schicksalswaage wirklich die Wahl ließ oder nicht. Das weiß niemand wirklich. Was ich allerdings heute weiß, ist, dass da Merlins Abstieg zur traurigen Gestalt bereits vorprogrammiert war. Hm. Eigentlich wollte ich ihn wieder auf die Seite des Bösen ziehen, aber das hat sich ja nun wohl erledigt. Die Quelle gibt mir alle Macht, die ich brauche. Zauberer von Avalon, weißt du, was ich mit dir machen werde? Zuerst erniedrige ich dich vollends, indem ich dir Zamorra auf alle Zeiten wegnehme. Und danach stürze ich dich in die Quelle, um dich eines fürchterlichen Todes sterben zu lassen. Denn dann wird nur noch für einen von uns beiden Platz auf der Welt sein …
Asmodis nickte. Drei weitere Schritte brachten ihn keinen Millimeter näher an das Ding heran, in dem sich Klötze aus pulsierendem Material und bizarre, widersinnige Formen über- und ineinander schoben. Ein menschliches Wesen wäre bei diesem Anblick umgehend dem Wahnsinn verfallen und mancher schwächere Dämon sicher auch. Asmodis schaffte es immerhin, die Quelle eingehend zu betrachten. Aber auch nur, so sein Verdacht, weil die Quelle es ihm gestattete. Asmodis, Herr und Meister, sei willkommen, wisperten plötzlich viele tausend Stimmen in seinem Kopf. Tritt unter uns, damit wir dir zu Diensten sein können. Was forderst du von uns? Zeigt mir den Aufenthaltsort des Dämons Svantevit. Verbünde dich mit uns, Herr und Meister. Ohne das Zutun des Fürsten der Finsternis ging sein Geist in die Quelle ein. Sein Körper sank zu Boden, wurde runzlig, grau und alt. Verkrümmt lag er auf dem Rücken. Blicklose Augen starrten in den Himmel, der eigentlich keiner war. Asmodis war tot.
39. Eine unheimliche Überraschung Port-au-Prince, Haiti Zamorra fuhr durch die Straßen von Port-au-Prince, die mit brodelndem Leben gefüllt waren. Immer wieder musste er Fliegenden Händlern ausweichen oder die schreiend bunten TapTaps überholen, wie die großen, schwerfälligen Pick-up-Taxis, die eher Bussen glichen, genannt wurden. Wo immer ein Tap-Tap hielt, bildeten sich sofort große Menschenmengen drum herum. Der Professor verzog das Gesicht, als er einmal allzu lange warten musste. »Geht endlich weg, ihr schwarzen Affen«, murmelte er, gab seiner aufkommenden Wut nach und hupte wild. Am liebsten wäre er ungebremst in diesen ganzen beschissenen Haufen hineingerast. Und dann den Rückwärtsgang einlegen, um die zu überrollen, die noch zucken … Schließlich erreichte Zamorra eine schöne alte Villa im gehobenen Stadtteil Petionville. Das gelbe, von zwei kleinen Türmchen gezierte Schlösschen im Zuckerbäckerstil lag am Hang, inmitten von wogendem Grün, als Zentrum eines kleinen, von hohen Bäumen beschatteten Parks. Das Grundstück war von hohen, schmiedeeisernen Gittern umgeben. Der Professor stieg aus und schloss das mächtige Tor auf, zwischen dessen Gitterstäben kunstvoll gestaltete Voodoo-Vèvès angebracht waren. Dann fuhr er seinen Wagen auf einem schmalen, gepflasterten Weg bis hin zum Haus und stellte ihn auf dem freien Platz davor ab. Selbstverständlich hatte er das Tor zuvor wieder geschlossen, nachdem er es passiert hatte. Zamorra ging ums Haus herum. Seine schlechte Laune hatte sich nicht wesentlich gebessert. Für das Zwitschern der Vögel und die betäubenden Düfte exotischer Pflanzen rund um ihn hatte er momentan keinen Sinn. Die Alte
scheint nicht zu Hause zu sein, dachte er, während er seine Haustür aufschloss. Ihr Auto war weg und auch der verdammte Köter kläffte auch nicht herum. Gut so. Aber irgendwann werde ich das Vieh doch noch mal heimlich entsorgen … Die Wohnung, die ihm Madame Cynthia Posy vermietet hatte, bildete einen separaten Teil der Villa mit eigenem Zugang. Es war nichts als Zufall gewesen, dass Zamorra die wunderschön eingerichteten Räume hatte mieten können, denn Madame Posy wollte sie eigentlich leer stehen lassen. Sie war auf das Geld nicht angewiesen. Doch der Meister des Übersinnlichen war in einem Café neben ihr zu sitzen gekommen und sie hatten sich bald darauf angeregt unterhalten. »Wissen Sie, ich bin französischer Ethnologe«, hatte Zamorra erzählt, »Professor an der Sorbonne. Und ich bleibe ein Jahr hier im Land, um den Voodoo-Kult und seine Menschen zu studieren. Momentan bin ich auf der Suche nach einem geeigneten Haus, das ich mieten könnte. Wissen Sie da zufälligerweise etwas?« »Aber natürlich, Monsieur Zamorra. Wenn Sie wollen, dann schauen Sie sich doch mal die Wohnung in meiner Villa an. Und wenn sie Ihnen zusagt, vermiete ich sie Ihnen zu einem angemessenen Preis, denn Sie sind ein sehr netter, zuvorkommender Mann.« Madame Posy hatte entzückt gelächelt. »Aber wissen Sie was? Ich bin jetzt schon sicher, dass sie Ihnen gefällt. Früher war es das Haus von zwei haitianischen Präsidenten. Man kann von dort über ganz Port-au-Prince hinweg sehen und über das Meer.« Tatsächlich war Zamorra angetan von der Villa gewesen. Und mehr noch von der Tatsache, dass Madame Posy eine Weiße war und in der entsprechenden Gesellschaft verkehrte. Das erleichterte zumindest die Auswahl seiner Opfer. Sie wurden ihm sozusagen auf dem Präsentierteller serviert. Der Professor duschte ausgiebig. Dann nahm er sich einen Whiskey aus der Hausbar und setzte sich auf die Terrasse. Dabei durchwühlte er zum wiederholten Male seine Gedanken und Erinnerungen nach geeigneten Zaubersprüchen und Dämonen, die ihm weiterhelfen konnten. Asmodis sicher nicht. Sein direkter Herr
und Meister hatte ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er bei dieser Aktion auf sich alleine gestellt sei, da er sich als Fürst der Finsternis um wichtigere Dinge kümmern müsse. Soll ich vielleicht versuchen, mit Baron Samedi selbst oder vielleicht auch mit Maman Brigitte ein Bündnis einzugehen? Hm … Motorengeräusch ertönte. Er erkannte es sofort. Madame Posys Cadillac. Der Motor erstarb. Türen klappten. Gedämpfte Stimmen ertönten. Hat Madame heute mal wieder jemanden mitgebracht? Jack, die schwarzweiße Promenadenmischung, kläffte los und kam auch schon um die Hausecke geschossen. Dort blieb er mit gesträubtem Nackenfell stehen, stemmte die Vorderpfoten ins Gras und bellte Zamorra in einem fort an. »Verpiss dich, du Mistköter«, murmelte Zamorra leise und trat in Richtung des Hundes. Jack wich erschrocken zurück, setzte seine »Ansprache« aber von etwas weiter hinten unvermindert fort. Irgendwann erwisch ich dich mal alleine. Und dann dreh ich dir den Hals um … »Jack, sei still!«, wehte Madame Posys leise Stimme um die Hausecke. Ansporn für Jack, noch lauter zu bellen. Zamorra blieb sitzen. Er wusste ohnehin, dass seine Vermieterin gleich um die Hausecke biegen würde. So war es auch. Die sechzigjährige Blondine, der man immer noch ansah, dass sie einmal eine sehr schöne Frau gewesen war, woran auch die blauen Freizeitshorts und das bunte Hawaiihemd nichts änderten, lehnte sich an die Hausecke. »Hallo Professor«, sagte sie und lächelte. »Ich freue mich, dass Sie wieder da sind. Na, wie waren die Studien im Hinterland?« Zamorra lächelte zurück, was ihm leicht fiel, da sich der Kläffer nun irgendwo in den Park verzog und endlich seine Schnauze hielt. »Hallo Madame Posy. Ich freue mich ebenfalls, Sie gesund wieder zu sehen. Nun, ich darf sagen, dass ich ziemlich erfolgreich war. Ich würde Ihnen gerne bei einem Glas Wein davon erzählen. Haben Sie Zeit? Wollen Sie sich ein wenig zu mir setzen?« »Aber gerne, Professor. Haben Sie was dagegen, wenn ich meinen
Gast mitbringe? Sie ist schon ganz neugierig auf Sie und möchte Sie unbedingt kennen lernen.« »Sie?« »Ja. Meine Tochter Mia. Sie ist gestern hier angekommen und bleibt für einige Tage zu Besuch.« »Sie haben eine Tochter? Davon haben Sie mir ja gar nichts erzählt.« Zamorra drohte scherzhaft mit dem Finger. »Und wenn sie nur annähernd so hübsch ist wie Sie, sollte ich sie unbedingt kennen lernen.« »Sie Schmeichler.« »Was wahr ist, muss auch gesagt werden. Wo wohnt denn Ihre Tochter?« »In Miami.« »Ach ja, Sie sind ja Amerikanerin.« »Also, wir sind in einer halben Stunde bei Ihnen, Professor. Wir haben einen Einkaufsbummel gemacht, wissen Sie. Mia will sich sicher erst noch etwas frisch machen.« »Natürlich.« Zamorra war nicht besonders an der Bekanntschaft mit Mia interessiert, aber wenn er damit Madame Posy einen Gefallen tat, sollte es Recht sein. Er mochte die ältere Dame nach wie vor sehr gerne. Zwanzig Minuten später näherten sich Mutter und Tochter. Zamorra hörte sie kommen, erhob sich mit dem Whiskeyglas in der Hand und setzte ein geschäftsmäßiges Lächeln auf. Die beiden Frauen bogen um die Ecke. Zuerst sah er Madame Posy. Dahinter ging ihre Tochter. Von ihr sah er nicht mehr als ein Hosenbein in Jeans und ein paar Locken langes, blondes, wallendes Haar. Mia trat neben ihre Mutter. Zamorra riss die Augen auf. Er stöhnte. Seine Finger öffneten sich, das Glas mit dem Whiskey zerschellte auf dem Terrassenboden. Kälte kroch durch seine Glieder, er spürte, wie seine Knie weich zu werden begannen. »Nici?«, flüsterte er voller Unglauben und Hoffnung zugleich. Und musste sich auf den Stuhl zurück sinken lassen. Seine Schwäche war zu groß geworden.
Zehn Minuten später war alles wieder in Ordnung. Körperlich jedenfalls. Zamorra hatte sich schnell wieder von seinem Schock erholt, nachdem die beiden Frauen sich nach kurzem Schreckmoment liebevoll um ihn gekümmert hatten. Er hatte sich auf einen momentanen Schwächeanfall hinausgeredet. Nun saß er da und seine Blicke wanderten immer wieder zu Mia. Nein, sie war nicht Nicole, konnte es auch gar nicht sein, denn seine Nici war einzigartig gewesen. Aber sie besaß eine derart große Ähnlichkeit mit ihr, wie er es niemals für möglich gehalten hätte. Gut, Mias Wangenknochen waren ein wenig höher angesetzt und etwas ausgeprägter, auch ihre Statur war etwas kräftiger als die Nicis. Aber sonst hätten die beiden sicher Zwillinge sein können. Eineiige sogar. Auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, war Zamorra doch zutiefst verunsichert. Welches furchtbare Spiel spielte das Schicksal mit ihm? War Mias Anwesenheit Zufall? Oder Absicht? War sie vielleicht sogar die Belohnung, die ihm Asmodis in Aussicht gestellt hatte? Ein billiges Imitat seiner Lebensgefährtin? Eine Fassade, an der er sich ergötzen sollte? Das wäre eine schöne Belohnung, eine wahrhaft teuflische, eher eine Strafe, aber eines Asmodis' durchaus würdig … Um auszuloten, was hier passierte, wollte Zamorra erst einmal etwas über die Vorgeschichte der beiden Frauen in Erfahrung bringen. Er merkte durchaus, dass auch Mia ihn eingehend musterte, dass sie an ihm interessiert war. In welcher Art und Weise, wusste er allerdings noch nicht einzuschätzen. »Sie wohnen also in Florida, Miss Stewart?« Er lächelte. »Ein wunderschönes Fleckchen Erde. Und Miami ist eine tolle Stadt. Ich war schon öfters dort und weiß, wovon ich rede.« Mia nickte. »Ja, toll. Wenn man in den richtigen Ecken wohnt, durchaus. In Opa Locka oder den anderen sozialen Brennpunkten ist das Leben dagegen nur hart und entbehrungsreich.« Zamorra schaute ehrlich verblüfft. »Was denn, Sie wohnen in
einem solchen Viertel? Entschuldigen Sie, aber das überrascht mich jetzt doch etwas. Ich meine, Ihre Mutter lebt hier in einem gewissen Luxus und hat Geld, wenn ich das so sagen darf.« Fast entschuldigend schaute er Madame Posy an. Die machte aber ein durchaus aufmunterndes Gesicht. »Ich meine, da müsste es doch auch für Sie leichter sein, Miss Stewart.« Er schaute beide Frauen im Wechsel an und bemerkte Verlegenheit, die sich in ihre Gesichter schlich. Mia war es, die sich einen Ruck gab. Sie lächelte Zamorra an. »Nun, Professor, das ist eine … eine Sache, über die wir nicht so gerne reden. Unangenehm, wissen Sie.« »Entschuldigen Sie, das wusste ich nicht. Antworten Sie nicht, wenn Sie nicht wollen.« Mia sah ihre Mutter an. Die nickte aufmunternd. »Also gut. Warum eigentlich nicht? Die Geschichte ist ja schließlich gut ausgegangen. Wissen Sie, Professor, mein Vater hat einer religiösen Sekte angehört, streng gläubig, die nannte sich Verkünder des Lichts. Seltsamer Name, nicht wahr? Auf jeden Fall wurde ich sehr streng erzogen, auch mit Schlägen und mit Verboten sowieso. Meine Mutter hat auch dieser Sekte angehört. Aber nur, weil mein Vater es so wollte. Und er war stark und brutal, sie konnte sich nicht gegen ihn wehren. Nicht wahr, Mum?« Madame Posy nickte betrübt. »Das ist leider wahr, mein Kind. Du glaubst nicht, wie oft ich schon bereut habe, dir nicht besser zur Seite stehen zu können.« »Weiß ich doch, Mum. Auf jeden Fall bin ich ausgebrochen und schon in jungen Jahren schwanger geworden. Das hat mein Vater mir nicht verziehen. Er wollte, dass ich mein Kind abtreiben lasse …« »Dieser Unhold«, murmelte Zamorra mitfühlend. »Ja, das war er. Und danach wollte er mir den Ungehorsam aus dem Leib prügeln. Ein Wunder, dass er das nicht schon vorher gemacht hat. Ich bin dann geflohen und bei einer Freundin untergetaucht. Da hat mich mein Vater vollends verstoßen. Und ich habe geschworen, niemals wieder etwas mit meinen Eltern zu tun
haben zu wollen. Na ja, mein Vater ist vor neun Jahren gestorben und in der Zwischenzeit habe ich mich wieder mit Mum versöhnt. Sie hat sich bei mir entschuldigt und um Vergebung gebeten. Ich … ich …« Mia schlug die Augen nieder. Madame Posy übernahm nun das Wort. »Wissen Sie, Professor, wir nähern uns zwar im Moment wieder an, aber ganz hat Mia noch nicht wieder Vertrauen zu mir gefasst. Ich verstehe das, das dauert einfach seine Zeit. Es ist ein sehr langwieriger Prozess, verstehen Sie? Sie möchte unabhängig bleiben, obwohl ich ihr hier ein gutes Leben bieten könnte. Nein, Liebes, du brauchst nicht abzuwehren, es ist nun mal so.« »Wie kam es zu ihrer Haiti-Connection, wenn ich das mal so sagen darf?« Madame Posy lächelte. »Nun, ganz einfach. Ich habe einen wunderbaren Mann kennen gelernt, zwei Jahre nach dem Tod dieses Monsters, das ich da einst geheiratet habe. Claude Posy war ein sehr erfolgreicher haitianischer Geschäftsmann. Er besaß Beteiligungen an zahlreichen Firmen im gesamten amerikanischen Raum. Und, viel wichtiger, er war das genaue Gegenteil meines verstorbenen Mannes. Wir verliebten uns und heirateten und ich ging mit ihm hierher nach Haiti. Das war auch insofern wichtig, als dass ich dadurch den Nachstellungen der Verkünder des Lichts entkommen konnte. Es gab nicht einen Tag, an dem sie mir nicht mit den schlimmsten höllischen Strafen drohten, wenn ich nicht wieder in die Sekte zurückkomme.« »Ich verstehe.« »Seine Sie mir nicht böse, Professor«, erwiderte Madame Posy, »aber ich glaube nicht, dass Sie das wirklich nachvollziehen können. Es war schlichtweg die Hölle. Und wir alle sind froh, dass wir nach so einem steinigen Weg nun wenigstens ein bisschen Frieden gefunden haben.« Mia nickte. »Auch wenn ich in ärmlicheren Verhältnissen lebe und mir kaum etwas leisten kann, geht es mir doch wesentlich besser als früher.«
»Das freut mich aufrichtig. Monsieur Posy ist den Weg allen Fleisches gegangen?« Madame Posy sah ihn nachdenklich an. »Der Weg allen Fleisches, was für ein seltsamer Ausdruck. Ich weiß allerdings nicht, ob es der Weg allen Fleisches ist, wenn man Opfer eines Voodoo-Zaubers wird.« Zamorra kniff die Augen zusammen. »Ihr Mann ist Opfer eines Voodoo-Zaubers geworden? Das haben Sie mir bisher ja noch gar nicht erzählt.« »Es hat sich nicht ergeben, Professor. Ich glaube auch nicht wirklich daran, dass es Voodoo war. Claude war allerdings davon überzeugt, dass ihn ein Konkurrent verflucht habe. Ich weiß noch genau, wie er an diesem Abend nach Hause gekommen ist. Voller Angst, mit Schweißperlen auf der Stirn. Ich bin erledigt, hat er gesagt und mir ein Foto hingelegt. Es zeigte eine Voodoopuppe, in der ein paar Schamhaare von ihm steckten. Er war sich jedenfalls sicher, dass es seine waren und dass sie ein Geschäftsmann, mit dem er um den Bau eines Gebäudes konkurrierte, aus einem Pissoir in irgendeinem Restaurant genommen habe. Professor, Sie beschäftigen sich ja mit der Materie und wissen sicher, wie Menschen reagieren, wenn sie glauben, verflucht worden zu sein.« Zamorra nickte. »O ja. Sie fallen innerhalb von einigen Tagen in sich zusammen, verlieren jeden Lebensmut und warten auf den Tod.« »Unheimlich«, flüsterte Mia. »Ja«, gab Zamorra zurück, »das ist es in der Tat. Denn meinen Erfahrungen nach funktioniert Voodoo tatsächlich, ohne dass ich sagen könnte, auf welcher Ebene. Hat Ihr Mann nicht versucht, einen Schutzzauber zu kaufen, Madame Posy?« Die nickte. »Tatsächlich hat er das. Er sagte, er sei bei einem Houngan gewesen, aber der habe ihm nicht helfen können, weil der Bokor, der diesen Zauber gemacht habe, viel zu stark sei. Claude war depressiv und hatte eine ganz graue Haut. Mein Gott, so was habe ich noch niemals zuvor gesehen. Drei Tage später habe ich ihn dann morgens im Badezimmer gefunden. Er … er lag total
zusammengekrümmt da. Tot.« Sie schüttelte sich in Erinnerung an das Furchtbare. »Hatte er irgendwelche Wunden am Körper?« »Komisch, aber das stimmt. Auf der Brust gab es Brandwunden, aber ich habe im ganzen Haus nichts gefunden, womit er sie sich beigebracht haben könnte. Und bei der Obduktion haben sie festgestellt, dass mehrere seiner inneren Organe durchbohrt waren. Ohne dass es äußere Einstiche gab. Aber das glaube ich einfach nicht, Professor. Das ist doch eine Erfindung der haitianischen Ärzte, die ihn zu einem Voodoo-Opfer machen wollten.« »Ich kann mich zu diesem speziellen Fall natürlich nicht äußern, Madame Posy. Aber es ist verbürgt, dass es diese Dinge bei anderen Opfern gegeben hat. Ihr Mann scheint tatsächlich einem VoodooZauber zum Opfer gefallen zu sein. Hm. Haben Sie sich vergewissert, dass er auch sicher begraben liegt? Ich meine, dass er nicht als Zombie zurückkommen kann?« »Nein, das lehne ich ab. Zombies sind Unsinn, ich glaube nicht daran. Claude kommt nicht mehr zurück, weder tot noch lebendig. Das ist einfach nicht möglich.« Und wie das möglich ist … Mia sah vollkommen entsetzt drein. »Ein furchtbares Land. Schon deswegen würde ich niemals mit meiner Tochter hierher ziehen. Ich … ich gestehe, dass ich Angst vor den dunklen Mächten habe, die hier wirken.«
40. Der Höllenhund Port-au-Prince, Haiti Zamorra lag auf seinem Bett und überlegte. Mia Stewart, die nur ein paar Räume entfernt von hier wohnte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie sieht Nici nicht nur ähnlich, sie hat auch die eine oder andere Handbewegung von ihr. Oder bilde ich mir das nur ein? Nein, tue ich nicht. Das ist … faszinierend. Ob sie auch nackt wie Nici aussieht? Vielleicht ist sie es ja doch? Vielleicht hat Asmodis sie für mich wiedererweckt? Aber er macht es mir nicht einfach. Natürlich nicht. Er ist schließlich ein Teufel und ich muss nun genau herausfinden, dass es tatsächlich Nici ist … Zamorra grinste debil vor sich hin, während er gleichzeitig sein Herz heftig pochen spürte. Ja, wenn sie nackt auch wie Nici aussieht, ist das der Beweis. Dann hat Asmodis sie mir wiedergebracht. Mein Herr und Meister, damit hättest du mich wahrhaft fürstlich belohnt … Der Professor erhob sich. Mit dem Trick, den er einst von einem tibetischen Mönch gelernt hatte, machte er sich unsichtbar. Er konzentrierte sich darauf, dass seine Aura die Abmessungen seines Körpers nicht mehr verlassen konnte. Übergangslos verschwand er aus der sichtbaren Welt, so, als sei eine Lampe ausgeknipst worden. Zamorra kramte den Schlüssel aus der Schublade, mit dem er sich Zutritt zu Madame Posys Räumlichkeiten verschaffen konnte. Er hatte ihn schon vor vielen Wochen heimlich nachmachen lassen, man konnte ja nie wissen, zu was das gut war. Da die Posy ihm vertraute, war es kein Problem gewesen, ihr kurz die Schlüssel zu entwenden und einen Abdruck davon in einer Knetmasse zu machen. Den Rest hatten dann Zamorras ganz spezielle Freunde besorgt. Der Professor schloss eine hohe Holztür auf und trat in ein breites
Treppenhaus, durch das man jedes Stockwerk erreichen konnte. Madame Posy wohnte im ersten. Zamorra huschte die Treppen hoch, immer zwei auf einmal nehmend. Die nächste Tür fand er unverschlossen vor, öffnete sie einen Spalt und drückte sich in den Wohnbereich seiner Vermieterin. Diffuses Zwielicht herrschte. Da viele Porzellansachen, zum Teil sehr wertvolle Vasen und Statuen, herum standen, musste er aufpassen, nicht versehentlich eine umzustoßen. Nachdem er zwei weitere Türen passiert hatte, befand er sich in einem der weiträumigen Wohnzimmer, von denen es im Haus mehrere gab. Eine Glastür führte auf eine breite Terrasse, auf der Mutter und Tochter bei eisgekühlten Cocktails saßen und sich angeregt unterhielten. Pech, ich bin noch zu früh dran, dachte Zamorra. Mal hören, was sie so reden … Er postierte sich am Durchgang und bekam so allerlei Familienangelegenheiten mit. Die Frauen waren in erster Linie damit beschäftigt, weiter ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Irgendwann gähnte Mia. »Ich bin müde, Mum. Lassen wir's für heute genug sein. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich möchte einfach nur noch schlafen. Der Caipirinha, weißt du. Irgendwie ist mir ganz schwindelig. Ich bin kaum Alkohol gewöhnt, auch wenn ich hin und wieder gerne ein Gläschen trinken würde. Aber ich kann ihn mir einfach nicht leisten.« »Vielleicht solltest du deinen Stolz langsam doch mal überwinden und dir von dem Geld nehmen, das ich dir jeden Monat schicke.« »Lass gut sein, Mum, das haben wir doch schon viele Male besprochen. Dräng mich bitte nicht, ich will nach wie vor das Gefühl haben, für mich selbst verantwortlich zu sein. Ich spare das Geld heimlich für Melanie. So schnell bekommt sie es aber noch nicht. Auch sie muss erst wissen, dass Leben Arbeit bedeutet.« »Du hast ihr noch immer nichts von mir erzählt?« »Nein, Mum. Und das soll auch so bleiben.« »Auch wenn ich's nicht wirklich verstehe, muss ich es wohl so akzeptieren.« »Ja, musst du. Sonst sind wir schon wieder geschiedene Leute, was mir allerdings schrecklich Leid tun würde. Aber nun, gute Nacht,
Mum.« Mia stand auf und berührte die Wangen ihrer Mutter flüchtig mit den eigenen. Dann ging sie in ihre Räume. Jetzt wird's interessant, dachte Zamorra, den sie soeben knapp passiert hatte. Noch immer roch er ihren leichten Schweißgeruch, der sich mit billigem Parfüm mischte. Nici, du hast früher besser gerochen, aber das kriege ich schon wieder hin, kein Problem. Wenn du erst wieder bei mir bist, dann kaufe ich dir all die Parfüms, die du so gerne magst. Oder noch besser, die kannst du alle selbst kaufen und wieder deine Einkaufsbummel machen. Und ich gebe dir meine Kreditkarte und jammere herum, dass du mich ruinierst. Aber du ruinierst mich ja nicht, das war ja immer nur Spaß, für dich hätte ich ja meinen letzten Euro geopfert … Der Professor heftete sich an Mias Fersen. Sie stieg eine Treppe hoch, denn die Gästezimmer befanden sich im zweiten Stock. Zamorra hielt sich ein Stück hinter ihr. Als sie am oberen Treppenabsatz angekommen war, trat er am unteren auf eine quietschende Diele. Mia fuhr erschrocken herum. Sie starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die Treppe und ließ ihre Blicke dann durch den Raum darunter schweifen. Zamorra, der keinen Schritt mehr tat, sah sie ein paar Mal schwer schlucken. Mit der linken Hand fasste sie sich kurz ans Herz. Schließlich drehte sie sich um und ging weiter. »Ich glaube, diese fürchterlichen Zombie-Geschichten haben mich bereits angesteckt. Ich höre schon Geister. So ein Unsinn. Reiß dich zusammen, Mia.« Zamorra ging nun entlang des Geländers. So vermied er weiteres Knarren. Die Treppe führte in einen langen, breiten Gang, an dem die einzelnen Gästezimmer lagen. Mia verschwand im zweiten auf der rechten Seite. Der Professor betrat das Nachbarzimmer. Es war geöffnet und roch muffig. Zamorra stellte sich an die Wand, die die beiden Zimmer voneinander trennte. Dann malte er mit magischer Kreide, die er aus der Hosentasche zog, einige in einem Kreis angeordnete Zeichen. Als er das letzte schloss, brachen die bisher unhörbaren Geräusche aus Mias Zimmer wie ein Orkan über ihn herein. Er verzog schmerzhaft das Gesicht. Zu laut, irgendwas muss ich falsch gemacht haben. Kein Wunder, mit der Schwarzen Magie kann
ich eben noch nicht so gut umgehen, das braucht noch seine Zeit. Aber ich lern's schon noch, Asmodis hat mir schließlich bescheinigt, dass ich große Fortschritte mache … Zamorra konzentrierte sich. Das Geräusch einer Gürtelschnalle, die geöffnet wurde. Jetzt streifte sie die Hosen herunter, zog das Shirt aus. Schritte, ein Kratzen, wahrscheinlich am Körper. Gleich darauf prasselte Wasser aus dem Duschkopf, er hörte ein wohliges Stöhnen. Der Professor zögerte nicht. Er verließ den Raum und schlüpfte in das Zimmer Mias. Ihre Kleider lagen unordentlich auf dem Boden. Der Büstenhalter und das Höschen, die sie trug, enttäuschten ihn. Er hatte Raffinesse erwartet, schwarze oder violette Seidenwäsche, vielleicht sogar einen String, so wie er es von Nicole gewöhnt war. Stattdessen sah er weiße Teile, die schon Mias Uroma getragen haben könnte. Zamorra hob das Höschen hoch und schnupperte daran. Dann warf er es mit einer abfälligen Bewegung wieder auf den Boden. Die Amerikanerin besaß einen strengen Eigengeruch, anders als Nicole. Er konnte Mia nicht riechen, im wahrsten Sinne des Wortes, auch wenn er jetzt ein seltsames Kribbeln zwischen den Beinen verspürte. Was würde im Bad auf ihn warten? Wie duschte sie? Die Badezimmertür war angelehnt. Er öffnete sie einen Spalt und trat hinein. Die Dusche in dem hellgelb gekachelten Raum bestand aus einer Glaskabine und gewährte ihm die Einblicke, die er sich erhofft hatte. Mia, die seitlich zu ihm stand, seifte gerade ihre vollen Brüste ein. Langsam, sorgfältig, mit kleinen, kreisenden Bewegungen. Dann den Bauch, den Hintern, die Oberschenkel. Schließlich wanderten ihre Finger zwischen die Beine und rieben hin und her. In diesem Moment drehte sie sich ihm frontal zu. Durch den Schaum sah er die dichten schwarzen Haare ihres großen Schamdreiecks. Mias Schambereich wirkte plump im Gegensatz zu dem göttlichen Venushügel Nicis, auf dem sie kein Härchen hatte groß werden lassen. Enttäuschung machte sich in Zamorra breit. Nein, das ist nicht Nici, das da ist eine Andere, die nur so aussieht, mit der könnte ich niemals glücklich werden. Denn die ist in jeder Beziehung anders, ich mag nichts
an ihr. Also ist sie kein Geschenk von Asmodis. Hm. Oder doch? Leidenschaftslos, eher wissenschaftlich sezierend, sah er Mia weiter zu. Sie duschte sich ab, nahm dabei ihre linke Brustwarze zwischen Daumen und Zeigefinger und stimulierte sich. Dann öffnete sie ihre Beine, hielt den Duschkopf dazwischen und genoss die massierende Wirkung der Strahlen. Schließlich stöhnte sie, zuckte ein paar Mal, ließ den Duschkopf sinken und atmete schwer. Erst danach duschte sie sich vollends ab und richtete sich fürs Bett. Zamorra huschte ins Gästezimmer zurück. Mias Sexgeschichten interessierten ihn nicht, jetzt, da er sie als »nicht Nicole« erkannt hatte. Und wenn schon, Nici hatte das immer sehr viel eleganter gelöst, manchmal auch vor seinen Augen, um ihn zu stimulieren. Und wie ich da immer abgegangen bin. Das war toll. Das hier war nur zum Gähnen … Nackt trat Mia in den Raum. Sie ging auf den Kleiderschrank zu, vor dem Zamorra stand. Mit einem raschen Schritt rettete er sich zur Seite. Denn wenn sie ihn berührt hätte, wäre seine Unsichtbarkeit sofort aufgehoben worden. Mia blieb stehen. Sie zögerte und schaute sich um. Ängstlich, wie es schien. »Komisch«, murmelte sie, »für einen Moment hab ich das Gefühl gehabt, hier sei jemand. Diese furchtbaren Schauergeschichten von vorhin machen mich ganz nervös. Ich bin froh, wenn ich wieder in Miami bin …« Sie schlüpfte in einen frischen Schlafanzug und legte sich ins Bett. Zamorra wartete, bis ihm ihre regelmäßigen Atemzüge zeigten, dass sie eingeschlafen war. Dann verließ er seinen Beobachtungsposten.
Zamorra schlich in seine Wohnung zurück. Dort genehmigte er sich noch einen Whiskey. Seine Gedanken rasten, drehten sich dabei immer wieder im Kreis. Diese Mia ist doch ein Geschenk von Asmodis, sie muss es einfach sein. Ich muss nur erkennen, was ich mit ihr machen soll. Natürlich. Es ist so einfach. Mein Herr und Meister hilft mir nicht direkt, aber er hat mir jemanden geschickt, mit dem die Voodoo-Zeremonie
endlich klappt. Ja, das muss das Geheimnis sein. Er will, dass ich etwas mitdenke und es erkenne. Ja, Asmodis, ich bin deinem Geschenk dicht auf der Spur. Ein tiefer Schluck Whiskey, ein Grunzen. Die toten Frauen müssen nicht nur weiß sein, damit sie sich durch einen Voodoo-Zauber wieder richtig bewegen können, sie müssen auch wie Nici aussehen. Nur so kann ich sie später wieder beseelen. Ja, ich kann den Zombie astrale von Nicole nur wieder in den Zombie cadavre* transferieren, wenn der Körper so aussieht, dass die Seele ihn wieder erkennt. Das hätte ich gleich erkennen müssen. Oh, was war ich doch für ein Idiot. Aber jetzt, wo ich die richtige Spur gefunden habe, werde ich dich bald wieder in meinen Armen halten, Nici. Bald, bald. Nur ein bisschen musst du noch in dieser schrecklichen Finsternis aushalten, dann bist du wieder bei mir … Zamorra verließ das Haus und klemmte sich hinter das Steuer seines Wagens. Er fuhr in die Altstadt von Port-au-Prince, deponierte dort einen Koffer in einem Bankschließfach und fuhr dann weiter nach Cité Soleil, dem schlimmsten und gefährlichsten Slum der haitianischen Hauptstadt. Er lenkte den Wagen ein Stück durch die unglaublich schmutzigen Straßen, die sich zwischen dicht an dicht stehenden Wellblechbaracken dahin zogen. Überall lag Dreck, Abfall und Kot, es stank bestialisch hier. Überall brannten Kerzen, denn die elektrische Beleuchtung funktionierte schon lange nicht mehr. Ein gespenstischer Schein lag über den Straßen des Slums. Tausende von Menschen bewegten sich hier oder saßen vor ihren Hütten, kleine Kinder wühlten in den Dreckbergen herum. Hunde bellten, von irgendwo her tönte ein schriller Schrei, ein paar Schüsse knallten. Kaum einer zuckte erschrocken zusammen. Schwer bewaffnete Gangs junger Männer und Frauen patrouillierten auf den Straßen. Sie mordeten nicht nur in schöner Regelmäßigkeit, sie trugen ihren Terror seit neuestem auch in alle anderen Teile der Stadt. Entführungen und Lösegelderpressungen gehörten ebenso zu ihrem Metier wie Drogenhandel und Prostitution. Kaum ein Fremder hätte sich hier herein getraut, das tat nicht einmal die
*
siehe Zamorra HC25: »Desaster«
Polizei. Lediglich Soldaten der UN-Stabilisierungsmission, kurz Minustah genannt, drangen mit gepanzerten Fahrzeugen hier ein und lieferten den Banden einen erbitterten Straßenkampf, um das Übel endgültig auszurotten. Momentan sah Zamorra aber keine Blauhelme. Gut so. Sie wären ihm ohnehin nur in die Quere gekommen. Er selbst hatte die Gangs in dieser Ecke Cité Soleils nicht zu fürchten. Denn er stand unter dem Schutz des mächtigsten Gangführers, der hier praktisch alles kontrollierte. Denn Zamorra zahlte gut für die Aufträge, die er Remissain the Ravix und seinen Ratten erteilte. Sehr gut sogar. Ravix' Zeichen, ein Zombieauge in einem Drudenfuß, als Kette frei auf der Brust getragen, schützte ihn vor Angriffen anderer. Ein mit einer MP Bewaffneter tauchte wie ein Schatten neben Zamorras Oldsmobile auf. Der Professor bremste und ließ die Scheibe herunter. Der Mulatte mit den wulstigen Lippen und den dämonischen Augen, die ihn fast wie einen Zombie wirken ließen, starrte mit versteinertem Gesicht auf den Professor. »Ich will zu Ravix.« Der Gangster nickte knapp und verschwand zwischen den Menschen, die ihm ängstlich Platz machten. Ein Junge, der nicht schnell genug zur Seite kam, bekam einen Stoß mit dem Lauf ab. Schreiend krümmte er sich zusammen. Zamorra grinste. Ein paar Minuten später fuhr ein alter Chevy in die Straße ein und hielt hinter Zamorras Wagen. Der Professor kannte die Prozedur schon. Er stieg aus und in das Auto hinter ihm ein. Da er einer der besten Kunden Ravix' war, durfte er auf dem Vordersitz Platz nehmen und wurde höflich behandelt. Die Kappe, die er über den Kopf gezogen bekam, musste aber auch er sich gefallen lassen. Ravix' Sicherheitsbedürfnis war riesig, denn er zählte zu den meist gesuchten Köpfen der UN-Blauhelme. Einmal hätten sie ihn beinahe erwischt. Seither war er irgendwo in Cité Soleil abgetaucht. Zamorras Eskorte verhielt sich schweigsam, während der Fahrer den Wagen aus den dicht besiedelten Bezirken des Slums lenkte. Zamorra bemerkte es immer wieder daran, dass der Geräuschpegel, den viele Menschen dicht beieinander verursachten, abnahm und
schließlich sogar ganz verstummte. Nach gut einer Viertelstunde wurde der Professor an den Armen ein Stückweit durch die Kanalisation geführt, ehe es einige Stufen nach oben ging. Schließlich durfte er die Kappe wieder abnehmen. Er stand in dem verschwenderisch eingerichteten Wohnzimmer, das er schon gut ein Dutzend Mal gesehen hatte und das in einem Slum wie Cité Soleil niemand erwartet hätte. Zamorra setzte sich in einen der großen, bequemen Sessel, denn dafür hatte ihm der Hausherr eine generelle Erlaubnis erteilt. Vor ihm stand ein ausgesuchter Whiskey auf dem Tisch. Er trank ihn in einem Zug aus und seufzte behaglich. »Gutes Tröpfchen, nicht wahr? Ich weiß doch, was Sie mögen, Zamorra.« Ein Farbiger war ins Zimmer getreten, ein wahrer Hüne. Zamorra schätzte den Mann mit dem durchtrainierten, sehnigen Körper, den kurzen, schwarzen Locken, dem gepflegten Rundbart und den stechend wirkenden, kalten Augen auf etwa zwei Meter zehn. Ein knapp sitzendes Muskel-Shirt bedeckte seinen Oberkörper und ließ Arme mit mächtigen Muskeln sehen. Im Gürtel seiner Shorts trug Ravix zwei Pistolen und zwei Messer spazieren. Er war eiskalt und skrupellos. Menschenleben bedeuteten ihm nichts und er wäre sicher ein gefährlicher Gegner gewesen. Im Zweikampf hätte er gegen Zamorra allerdings wenige Chancen gehabt. Nun, man musste nicht alles ausprobieren. Es war allemal besser, Ravix auf der eigenen Seite zu wissen. Der Gangster setzte sich Zamorra gegenüber und ließ sich ebenfalls einen Whiskey und Zamorra einen zweiten bringen. Ein etwa zwölfjähriges, verängstigt dreinschauendes Mädchen kam herein. Mit ihren zu Rastazöpfchen gebundenen Haaren und den bunten Blumenspangen darin war sie ausgesprochen hübsch. Zamorra wusste, dass sie Jocelyn hieß und eine so genannte Restavek war, eine Kindersklavin, wie sie zu Hunderttausenden in haitianischen Haushalten arbeiteten. Sie wurden geschlagen, gedemütigt, ausgebeutet, oftmals vergewaltigt. Ravix hatte ihm Jocelyn sogar schon einmal angeboten, um sich mit ihr vergnügen zu können, als er sie eingehend gemustert hatte. Zamorra hatte das
aber abgelehnt. Er war doch kein Pädophiler! »Waren Sie das letzte Mal mit unserer Arbeit zufrieden, Zamorra?« »Was? Oh ja, natürlich, Monsieur Ravix, mehr als das. Sie haben perfekt gearbeitet.« Der Professor grinste und prostete dem Gangsterboss zu. »Deswegen bekommen Sie nun den nächsten Auftrag von mir.« »Das höre ich gern. Um was geht es?« »Das werde ich Ihnen gleich erzählen, mein Lieber. Zuerst, würde ich vorschlagen, wickeln wir den finanziellen Teil ab. Ich habe Ihnen bereits hunderttausend amerikanische Dollar am üblichen Ort hinterlassen.« »Wie großzügig. Dafür hole ich Ihnen auch den Teufel aus der Hölle.« Remissain the Ravix grinste selbstgefällig, zog blitzschnell eine Pistole, hielt sie hoch und sah am Lauf entlang. »Den Teufel aus der Hölle holen kann ich durchaus selbst, mein Lieber. Sie sollen mir mehr die irdischen Sachen erledigen.« Ravix kicherte. »Netter Scherz, Zamorra. Also. Was und wann?« Zamorra erläuterte ihm die Sache. Ravix stimmte zu. »Kein Problem, das kriegen wir schon in den Griff.« »Gut. Was machen übrigens Ihre Freunde von der Minustah?« Ravix' Lächeln endete wie ausgeknipst. »Die Blauhelme verursachen mir momentan beträchtliches Zahnweh. Sollten Sie noch nicht mitbekommen haben, dass die momentan häuserkampferprobte Soldaten in die Slums schicken, um die Gangs auszurotten? Wir liefern ihnen gerade einen regelrechten Kleinkrieg hier in Cité Soleil. Dass wir den gewinnen werden, ist keine Frage. Aber lästig ist es trotzdem, ich verliere momentan mehr Leute, als mir lieb ist.« »Das ist doch kein Eingeständnis von Schwäche?« »Hüten Sie Ihre Zunge, Zamorra«, zischte Ravix und seine Augen funkelten gefährlich. »Auch Sie dürfen mich nicht der Schwäche bezichtigen. Selbst Goldesel können eines Morgens mit abgeschnittenem Schwanz erwachen, verstehen Sie mich?«
Buh, ich bin der böse Mann, dachte Zamorra amüsiert. Er verspürte nicht die geringste Angst ob dieser Drohung. Wenn's hart auf hart kam, würde Ravix immer das Geld der Ehre vorziehen. Aber mal sehen, du Vollidiot, vielleicht gebe ich ja bei Gelegenheit der Minustah einen Tipp. Damit täte ich doch tatsächlich ein gutes Werk, wenn ich ein Schwein wie dich ausliefern würde. Wenn sie dir bis dahin nicht ohnehin schon den Arsch aufgerissen haben …
Mia Stewart lag im Bett. Es war bereits halb vier Uhr morgens und sie konnte trotz des Alkohols, der in ihren Adern kreiste, nicht einschlafen. Das hing ganz sicher nicht mit dem Jetlag zusammen, denn Miami und Haiti befanden sich praktisch in der Nachbarschaft. Vielmehr lag es an dem Professor, der bei ihrer Mutter eingezogen war. Er wühlte ihr Innerstes auf und ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Mia starrte an die Decke, auf der sich durch das Licht- und Schattenspiel allerlei geheimnisvolle Muster gebildet hatten. Noch nie zuvor hatte sie einen derart gut aussehenden Mann getroffen, der gleichzeitig so intelligent, charmant, witzig und schlagfertig war. So eine perfekte Mischung stellte der Liebe Gott sicher nur alle zehntausend Jahre auf die Erde. Sie fand ihn … toll. Dabei war die erste Begegnung äußerst unangenehm für sie gewesen. Zamorra hatte sie gesehen, sie unverhohlen angestarrt und einen Schwächeanfall erlitten. Das war ihr unerklärlich gewesen. Nun aber wusste sie es und wieder lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Das Gespräch, das sie mit ihrer Mutter gestern Abend geführt hatte, kam ihr zum wiederholten Male in den Sinn. »Kannst du dir einen Reim drauf machen, Mum, warum es Zamorra so umgehauen hat, als er mich sah?« Madame Posy nickte zögerlich. »Ja, mein Liebes, ich denke schon.« Mia verzog das Gesicht. »Tatsächlich? Ich dachte eher, dass das eine rhetorische Frage meinerseits gewesen sei. Raus mit der Sprache, Mum. Was geht hier vor?« »Na ja«, Madame Posy zeigte plötzlich mehr als nur leichte
Verlegenheit, »weißt du, ich habe mich mit dem Professor natürlich auch über seine private Situation unterhalten. Er hat mir erzählt, dass er mit der großen Liebe seines Lebens zusammengelebt hat. Sie hieß Nicole und ist von islamischen Terroristen ermordet worden. Die haben das Schloss, in dem Zamorra in Frankreich wohnte, irrtümlich für den Aufenthaltsort des heiligen Grals gehalten und es mit Raketen in Schutt und Asche gelegt. Wahnsinn, nicht? Zamorra sagte, dass er den Verlust Nicoles lange nicht überwunden hätte. Aber jetzt sei es so weit wieder gut, er lenkt sich mit seiner Arbeit ab. Zamorra macht ethnologische Studien, weißt du.« »Ich weiß, Mum. Das hat er heute Nachmittag bereits erzählt. Komm endlich zum Punkt.« Mia funkelte ihre Mutter an. »Ja, Liebes, natürlich. Ich habe mich natürlich angeboten, Zamorras Wohnung sauber zu halten und da bin ich zufällig auf einige Fotos von dieser Nicole gestoßen.« »Ach ja? Du hältst das Haus sicher nicht persönlich sauber, das macht Dienstpersonal. Du hast also in Zamorras Wohnung geschnüffelt, weil du neugierig warst, stimmt's? Das hast du früher schon immer so gemacht.« Madame Posy lächelte verlegen. »Jetzt bist du aber ungerecht mit mir. Wie auch immer, ich habe die Bilder gesehen …« »Ja, und?« »Es war vielleicht nicht richtig, aber ich habe mir eins genommen. Ich … ich konnte nicht anders.« »Ich glaube das einfach nicht. Du bestiehlst deine Mieter? Das darf ja wohl nicht wahr sein.« »Nein, normalerweise würde ich das niemals tun. Schau …« Madame Posy zog ein Foto aus einem Buch, das auf dem Tisch lag und reichte es ihrer Tochter. Mia nahm es und betrachtete es kurz. »Ein Foto von mir. Wo ist denn das entstanden?« »Das bist nicht du. Das ist Nicole.« Mia zuckte zusammen. Eiskalte Schauer arbeiteten sich langsam ihren Rücken hinunter. Sie schluckte und betrachtete das Bild nun genauer. Tatsächlich. Die Frau, die verschmitzt in die Kamera
lächelte, hätte ihre Zwillingsschwester sein können. Aber es gab doch kleine Unterschiede. So winzig allerdings nur, dass sie erst bei intensiver Betrachtung auffielen. Es war … unheimlich. Mia hatte das Bild zurückgegeben und sich geweigert, weiter über das Thema zu sprechen. Plötzlich war ihr ein ganzer Kronleuchter aufgegangen. Ich hab tatsächlich gedacht, Mum hätte sich in den Professor verliebt und will jetzt wissen, was ich von ihm halte. Aber sie hat mich hierher kommen lassen, weil sie mich mit ihm verkuppeln will. Sie glaubt wohl, dass ich bei Zamorra aufgrund dieser großen Ähnlichkeit Chancen habe. Das Biest will mich mit ihm verkuppeln. Hm, ob ich tatsächlich Chancen hätte? Immerhin hat er mich für morgen Abend zum Essen eingeladen. Aber das ist sicher eher harmlos. Ich weiß nicht, er ist wirklich ein wunderbarer Mann, so richtig zum Verlieben. Diese Ausstrahlung, einfach umwerfend. Aber will ich mich überhaupt verlieben? Nein, das lass ich lieber sein, das würde doch nur eine riesige Enttäuschung. Ich jedenfalls könnte nicht mit einem Mann zusammen leben, der meinem geliebten Ex-Partner so ähnlich sieht. Da würde ich ständig an ihn erinnert und würde nur vergleichen … Mias Gedanken jagten sich, drehten sich im Kreis, kamen immer wieder zurück. Es war schwül, sie schwitzte am ganzen Körper und hätte eigentlich schon wieder unter die Dusche steigen können. Wenn das mit Zamorra etwas würde, müsste ich dann in diesem Land bleiben? Wahrscheinlich schon. Oder würde er mit mir nach Florida kommen? Hier bleiben möchte ich auf jeden Fall nicht. Haiti ist … unheimlich. Heute nach dem Duschen hatte ich sogar das Gefühl, nicht alleine in meinem Zimmer zu sein. Das war so real. Ganz anders, als ich das immer nach Horrorfilmen empfinde. Am liebsten würde ich schon morgen wieder abreisen. Aber ich warte mal ab, wie der Abend mit Zamorra wird. Er ist sicher romantisch und hat viel Gefühl und Fantasie. Und Melanie ist bei meinem Bruder ja gut aufgehoben. Ob er sie akzeptieren würde? Ja sicher. Und sie ihn? Ich denke, dass er sie locker um den Finger wickeln könnte. Aber was denke ich dafür einen Blödsinn? Irgendwann am frühen Morgen, als bereits die ersten Sonnenstrahlen ins Zimmer fielen, schlief Mia schließlich doch ein. Nach unruhigem Schlaf, der mit schlimmen Albträumen gefüllt war, erwachte sie erst wieder um die Mittagszeit.
Die Zeit bis zum Abend wollte nicht vergehen. Mia fieberte ihrem Date mit Zamorra geradezu entgegen. So schaute sie, ob sie ihn vielleicht »zufällig« im Garten traf. Aber er war nicht da. So schnappte sie sich ihre Mutter und fuhr mit ihr zwei Stunden in die Stadt. Irgendwann gegen sechs Uhr sah Mia den Professor vor das Haus fahren. Ihr Herz klopfte, sie spürte das Blut in ihr Gesicht steigen, was sie fast widerwillig zur Kenntnis nahm. Pünktlich um acht Uhr holte Zamorra sie ab. Er hatte sich in Schale geworfen. Weißer Anzug, rotes Hemd, er sah einfach umwerfend aus. Aber auch sie sah zum Anbeißen aus. Mit dem Geld ihrer Mutter hatte sie sich ein graues Kleid geleistet, das auf raffinierte Weise ihre Formen betonte, elegant aussah, aber trotzdem leicht war. »Ich bin sicher, dass der Abend mit Ihnen ein riesiger Spaß wird, Mia«, sagte Zamorra und lächelte sie verheißungsvoll an. Sie fuhren in die Innenstadt. Zamorra parkte ganz in der Nähe des Champs de Mars, des größten Platzes von Port-au-Prince. Sie stürzten sich in brodelndes Leben. Überall waren Menschen unterwegs. Viele feierten auf den Straßen. Trotzdem herrschte eine gewisse Eleganz vor. Zamorra führte Mia in eine Seitenstraße. In der Häuserfassade lag, etwas unscheinbar, das »21«, ein hellblaues, sechsstöckiges Gebäude im Kolonialstil. Kurz darauf betraten sie das »21«, dessen erste Etage von griechischen Säulen und einer Balustrade geschmückt wurde; über dieser stand eine lange Reihe holzgeschnitzter, winkender Menschen. »Sehr originell«, sagte Mia ehrlich erfreut. »Nicht wahr? Ich freue mich, dass es Ihnen gefällt.« Zamorra grinste. »Und das Essen werden Sie geradezu mögen. Das 21 gehört zu den drei besten Restaurants in Port-au-Prince, definitiv. Hier bekommt nicht jeder einen Platz, da muss man schon eine gewisse Reputation vorweisen können.« »Die Sie ja anscheinend haben.« »Ja. Geld öffnet einem hier viele Türen.« Mia fühlte sich zum ersten Mal etwas unwohl. Diese angeberische Arroganz hätte sie bei Zamorra nicht erwartet.
Das »21« bot seinen Besuchern Gastlichkeit in insgesamt zwölf prächtigen, verschieden eingerichteten Räumen auf fünf Etagen an. Ein elegant gekleideter Kellner führte die neuen Gäste in ein prächtig ausgestattetes Zimmer im Erdgeschoss. Zamorra hatte einen Tisch im Main Dining Room bestellt. Sie bekamen gleich den ersten links vom Eingang, in einer holzgetäfelten Nische. Alle anderen Tische waren besetzt. Gedämpftes Gemurmel zog durch das Restaurant, dienstbeflissene Kellner eilten zwischen den Tischen hin und her. Der Professor zog einen Stuhl nach hinten. »Darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen?« Mia lächelte. Das war er wieder, der angenehme, zuvorkommende Zamorra. Sie bestellten Fisch und Weißwein und der Professor wollte alles über ihr Leben in Miami wissen. Er erwies sich als aufmerksamer Zuhörer. Ganz langsam bog Mia das Gespräch in die andere Richtung. Vor allem Zamorras große Liebe interessierte sie brennend. »Sie sind allein stehend, Professor? Ich kann mir vorstellen, dass es bei Ihrem Job nicht zu einer Familie gereicht hat.« Er lächelte. »Stimmt. Nicht mal zu einer Frau. Die sind mir alle weggelaufen, weil ich immer wenig Zeit für sie hatte.« Das Lächeln erlosch abrupt. »Nein, Mia, das stimmt nicht. Das war ein Scherz. Es ist … wie soll ich sagen, sehr seltsam, dass ich Sie getroffen habe. Ausgerechnet Sie.« »Ach ja? Darf ich das als Kompliment verstehen?« Mia tunkte die Fischsoße mit dem Weißbrot. Sie schmeckte ausgezeichnet. »Durchaus. Es ist so. Na ja, Sie würden es nicht glauben, ach, ich weiß auch nicht so richtig, wie ich das sagen soll.« Er lächelte nun wie ein großer Junge. Sie schmolz dahin. »Ach was, ich zeig Ihnen einfach ein Foto von Nicole, dann werden Sie's verstehen.« Er kramte in der Innentasche seines Jacketts. Fünf Männer betraten den Raum. Sie trugen leichte graue Jacketts über Jeanshosen und Humphrey-Bogart-Hüte. Suchend sahen sie sich um. Mia sah dem Vorderen direkt ins Gesicht. Sie fröstelte plötzlich. Kalte Augen, die wie die eines Zombies wirkten, starrten
sie für einen Moment an. Schnell sah sie weg. Einer der Kellner eilte zu den Männern hin. »Messieurs, kann ich Ihnen helfen? Haben Sie reserviert?« Der Mann mit den Zombieaugen hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Mia sah es deutlich. Sie versteifte. Ihre Augen weiteten sich. Mit einer routinierten Bewegung zog der Kerl die Waffe über den Hals des Kellners. Blut spritzte. Der Unglückliche brach röchelnd zusammen. Im selben Moment zog der Mann neben Zombieauge eine MP unter dem Jackett hervor. Er richtete die Waffe in den Raum und zog sofort durch. Die Ingram MAC-10 ratterte los. Sie spuckte Tod und Verderben unter die Gäste. Mia sah aus den Augenwinkeln, dass ein Gast am Nachbartisch entsetzt das Gesicht verzerrte. Dann erschien ein roter Fleck auf seiner Schläfe. Gleichzeitig kippte er mit dem Stuhl weg. Zamorra sprang hoch. Er warf den Tisch um und zog Mia dahinter. Die Gäste im Raum schrieen nun in heller Panik. Manche sprangen hoch und versuchten zu flüchten. Andere gingen ebenfalls unter den Tischen in Deckung oder warfen sich auf den Boden. Gläser und Teller zersprangen unter den Einschlägen der NeunMillimeter-Geschosse, der Kronleuchter im Hintergrund kassierte zwei Volltreffer. Ein Scherbengewitter ging auf die Gäste nieder, vermischt mit den Holzsplittern, die die Kugeln aus der Holztäfelung hackten. Auch die Bildergalerie an der Wand im Hintergrund erwischte es. Die gerahmten Fotos fielen reihenweise herunter. Eine Frau, die mit weit aufgerissenen Augen zwischen den Tischen umherirrte, bekam einen Querschläger direkt in den Hals. Ein Mann, nicht weit von ihr, tanzte unter den Kugeln, die seine Brust zerfetzten. Der Killer leerte das Zweiunddreißig-Schuss-Magazin in kleinen Feuerstößen, während nun auch seine Kumpane mit Pistolen um sich schossen. Mia kniete zusammengekrümmt hinter dem Tisch und hielt die Hände über dem Kopf. Sie hechelte wie ein junger Hund vor Panik und vor Todesangst. Zamorra hatte sich halb schützend über sie gelegt. Plötzlich erschienen zwei der Killer direkt neben dem Tisch.
Zamorra kassierte einen Tritt in die Rippen, der ihn aufstöhnen ließ. Einer der Kerle zerrte Mia brutal hoch. Sie schrie wie irr und schlug und trat um sich. Das Gesicht des Mannes verzerrte sich kurz. Er holte aus und schmetterte ihr den Pistolenlauf an die Schläfe. Mia versteifte, seufzte und brach zusammen. Ihr Peiniger musste über Bärenkräfte verfügen. Er warf sie sich über die Schulter, als sei sie eine Puppe. »Los, weg jetzt!«, befahl Zombieauge. Der Killertrupp stürmte, immer noch wild um sich schießend, ins Freie. Dort verschwand er in einer finsteren Seitenstraße und danach in der Kanalisation. Viele Menschen wurden Zeugen dieses Geschehens. Die Killer durften aber sicher sein, dass nicht einer den Mund aufmachen würde. Zu groß war die Angst vor der Macht der Gangs.
Auch der alte Mann mit dem wallenden weißen Haar und dem ebenfalls weißen Bart, der bis zum Gürtel reichte, griff nicht ein. Er stand vor einem Baum und beobachtete die Szene mit verschlossenen Blicken. Für einen Moment krampfte sich seine Hand um die Sichel, die er im Gürtel der weißen Kutte trug. Obwohl er den Blicken der Menschen frei zugänglich gewesen wäre, sah ihn dennoch niemand. Hätte ihn jemand gesehen, hätte er sich sicher gewundert, warum weder das Haar des Geheimnisvollen noch dessen roter Umhang von dem Wind erreicht wurden, der ziemlich stark durch die Straßen wehte. Merlin wartete.
Zamorra erhob sich keuchend und klopfte sich den Anzug ab. Das Restaurant sah aus wie ein Schlachtfeld und nichts anderes war es auch. Tote lagen herum, Verletzte schrieen, überall war Blut und Zerstörung. In der Ferne hörte er die Sirenen von Polizeiautos. Er kümmerte sich nicht weiter darum. Unbeachtet verließ er die Stätte des Todes. Er bestieg sein Auto und fuhr in das Viertel Fontamara. Hier standen noch uralte Kolonialhäuser aus der Zeit, als Port-au-
Prince 1749 durch französische Zuckerrohrpflanzer gegründet geworden war. Nicht mehr alle der teilweise als Paläste angelegten Gebäude waren bewohnt, jedenfalls nicht von Menschen. Ratten und anderes Ungeziefer fühlten sich dagegen sehr wohl darin. Das Viertel war gefährlich. Doch bisher hatten die Gangs Zamorra in Ruhe gelassen. Als er in eine finstere, schmutzige Straße fuhr, kam plötzlich ein alter Caddy aus einer Seitenstraße geschossen und stellte sich quer vor Zamorras Oldsmobile auf die Straße. »Verdammt«, fluchte der Professor und stieg in die Eisen. Mit quietschenden Reifen bremste das Oldsmobile, schlingerte und kam gerade noch vor dem Caddy zum Stehen. Wütend stieg Zamorra aus. Aus dem Caddy stiegen vier Jugendliche, zwei Männer und zwei Frauen. Im Schein einer alten Straßenlaterne, die hier wundersamerweise noch funktionierte, konnte er sie deutlich erkennen. Zamorra schätzte, dass sie nicht älter als sechzehn, siebzehn waren. Die Kerle hatten noch nicht einmal einen richtigen Bart im Gesicht. Aufreizend langsam kamen sie näher. Der Professor erwartete sie. Er war wild entschlossen, sich nicht lange aufhalten zu lassen. Das würde allerdings schwieriger werden als gedacht. Aus dunklen Hauseingängen näherten sich weitere vier Männer. Sie alle kreisten Zamorra ein und grinsten ihn höhnisch an. »Wen haben wir denn da?«, fragte der Anführer, ein sehnig wirkender Schwarzer mit mächtigen Muskeln an den Oberarmen. Er trug lediglich eine knappe, armfreie Weste. »Ein neues Gesicht in unserem Revier. Und dazu noch ein Weißarsch. Ist dir nicht klar, dass das ein böses Ende für dich nehmen kann, Weißarsch, hm? Wir wollen nämlich keine Weißärsche in unserem Gebiet. Und auch niemand anderen Fremden.« Das Mädchen an seiner Seite lachte hysterisch. »Geh mir sofort aus dem Weg, Jüngelchen. Oder du wirst es bereuen«, knurrte der Professor. »Von deiner Sorte fresse ich jeden Morgen drei zum Frühstück.« Der Anführer versteifte. Auch das Mädchen hörte auf zu lachen.
»Wie, auch noch frech werden, du Weißarsch. Damit hast du dein Todesurteil gesprochen. Wir werden dir nämlich jetzt die Kehle aufschlitzen. Nicht wahr, Jungs?« »Ja, werden wir«, sagte ein Anderer. Plötzlich blitzte ein Messer in seiner Hand. Zamorras Faust flog blitzschnell vor. Sie krachte mit voller Wucht ins Gesicht des Anführers. Der gurgelte und brach zusammen. Gleichzeitig drehte sich der Professor weg. So entging er der ersten Attacke des Messerstechers. Schreie wurden laut, die Gangster fielen über Zamorra her. Einer bekam ihn am Hemd zu fassen und riss daran. Zamorra setzte ihn mit einem seitlichen Ellenbogencheck außer Gefecht, während er den Dritten mit einem Kopfstoß zu Boden schickte. Der Vierte kassierte einen Kung-Fu-Tritt vor die Brust. Gegner Nummer fünf bekam ihn im Bereich der Schulter am Anzug zu fassen und zog, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gleichzeitig spürte der Professor einen Stich an der Seite. Das machte ihn nur noch wütender. Ein Schlag mit dem angewinkelten Unterarm schräg nach hinten saß direkt im Gesicht des Gangsters. Er ließ los und taumelte weg. Der sechste floh, als seien Furien hinter ihm her. Die beiden Mädchen standen hingegen wie angewurzelt. Zwei der Angreifer lagen bewegungslos da, drei stöhnten und bewegten sich, darunter auch der Anführer. Die Wut in Zamorra zog sich an einem einzigen Punkt zusammen und explodierte mit zerstörerischer Wucht. Zwei Sätze brachten ihn neben den Anführer. Mit Tritten in die Seite und in den Magen traktierte er den Wehrlosen. »Da, du Schwein, das hast du dir redlich verdient.« Ein weiterer Tritt traf ihn mitten ins Gesicht. Etwas knackte. »Nicht, hören Sie auf!«, schrie das eine Mädchen voller Panik. »Sie bringen ihn ja um. Bitte. Sie haben doch längst gewonnen …« Sie fasste mutig seinen Arm. Zamorra hielt inne. Er starrte sie an. Dann setzte er seine Faust zwischen die großen, weißen, bittenden Augen. Das Mädchen sank zusammen wie vom Blitz gefällt, während das andere nun ebenfalls flüchtete.
Tötungslust überkam Zamorra. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, die Welt auf alle Zeiten von dieser Brut hier zu befreien. Dann ließ er es aber bleiben. Eine weitaus wichtigere Aufgabe wartete auf ihn. Er stieg in seinen Wagen, rammte den Caddy zur Seite und fuhr weiter.
Der alte Mann mit dem ewigkeitsjungen Ausdruck im Gesicht atmete auf. Er steckte die Sichel, die er bereits in der Hand gehalten hatte, wieder in den breiten Gürtel zurück, der über seiner weißen Kutte lag.
41. Das Opfer Port-au-Prince, Haiti Irgendwann kam Mia Stewart wieder zu sich. Alles tat ihr weh, sie spürte Blutgeschmack im Mund. Als ihr Blick wieder klar wurde, sah sie, dass sie sich in einem alten, muffig riechenden Keller befand, der von zwei trüben Funzeln beleuchtet wurde. Neben ihr kauerte eine zweite Frau, eine Farbige, mit angezogenen Knien an der Wand und starrte blicklos irgendwohin. »Hallo«, sagte Mia, aber die Andere reagierte nicht. Es klopfte irgendwo. Mia zuckte zusammen. »Hallo«, sagte sie noch einmal. Zwischen den Weinregalen, in denen noch ein paar alte Flaschen lagerten, trat eine dritte Frau hervor. Tiefschwarz, hübsch wie sie selbst und die Andere, aber mit zerrissenem Kleid und Blutspuren im Gesicht. Sie sagte etwas auf Französisch, aber Mia verstand kein Wort. »Do you speak English?« Die Andere nickte und stellte sich radebrechend als Mereille Lafontant vor. Sie war wie Mia und die dritte Frau, die sich auch jetzt nicht äußerte, weil sie wohl unter starkem Schock stand, nach dem Überfall aus dem »21« entführt worden. »Was wollen die mit uns?«, fragte Mia ängstlich. Mireille lachte kurz und humorlos. Sie setzte sich neben die Amerikanerin. »Schätzchen, du nicht wissen, was in Haiti los? Gangs hier ganz schlimm, morden, rauben, entführen Menschen, um Geld zu bekommen.« »Ah, Kidnapping.« »Ja, so das heißen in deine Sprache. Kidnapping. Weiß nicht, warum ich kidnapping wurde. Bin mit diese Mann zum ersten Mal ausgegangen, vielleicht er haben Geld. Aber ich nicht seine Frau, er
sicher nichts geben für mich. Deine Mann reich?« Mia schüttelte den Kopf. »Ich glaube schon. Aber Zamorra ist auch nicht mein Mann. Ich bin ebenfalls zum ersten Mal mit ihm ausgegangen.« Sie stöhnte, als sie sich bewegte. Das Kreuz tat ihr weh. »Hm. Wenn nicht bekommen Geld für uns, dann wir vielleicht werden verkauft als Sklavinnen zu reiche Gangsters.« Mia sah Mireille entsetzt an. »Das geht nicht. Ich bin Amerikanerin. Man wird mich suchen. Die Polizei wird uns schon raus hauen.« »Die Polizei? Die bekommen oft Geld von den Gangsters und helfen denen. Suchen nicht nach dir, bloß weil du Ami-Frau bist.« Mia fühlte sich plötzlich noch elender als zuvor. »Kommen wir hier nicht raus?« »Glaube nicht, habe keine Loch in Wand gefunden.« Mireille brachte ein schräges Lächeln zustande. Dann kümmerte sie sich um die dritte Frau und Mia schloss sich an. Sie schafften es aber nicht, sie aus ihrem Schockzustand zu lösen. Um sich die Zeit zu vertreiben, erzählten sie sich ihre Geschichten. Den groß gewachsenen bärtigen Mann in der weißen Kutte mit dem aufgestickten Pentagramm, der an den Regalen stand und ihnen zuhörte, bemerkten sie nicht. Nur Mia schien eine Ahnung zu haben, dass sich etwas hier befand, denn immer wieder wanderten ihre Blicke exakt zu der Stelle, die der alte Zauberer von Avalon besetzte. Die Frauen wussten nicht, wie lange sie hier fest saßen, aber einige Stunden waren es sicher. Irgendwann öffnete sich die Tür, ihre Entführer kamen herein. Sie fächerten auseinander und starrten die Frauen mit finsteren, zum Teil gierigen Mienen an. In ihren Händen hielten sie Pistolen und Messer. Mia ahnte, dass sie tatsächlich nichts Gutes zu erwarten hatten. Ihre Knie zitterten und ihre Zähne klapperten hörbar aufeinander. Zombieauge sagte etwas zu seinem ihm am nächsten stehenden Kumpan. Dann trat er vor Mireille hin und sprach sie an. Sie zögerte ein wenig. Dann kniete sie sich vor Zombieauge hin und begann, an
seiner Hose herumzunesteln. Die anderen Männer grinsten. Bitte nicht, dachte Mia voller Panik, bitte, bitte nicht … Mireille holte das Glied des Mannes hervor. Bevor sie es in den Mund nehmen konnte, setzte ihr Zombieauge die Pistole auf die Stirn und drückte ab. Der Schuss krachte ohrenbetäubend in dem Gewölbe, Mireille kippte nach hinten und blieb verkrümmt liegen. Die Männer lachten, während Mia glaubte, in einem der Horrorfilme gelandet zu sein, die sie sich immer so gerne angesehen hatte. Ein Kerl mit einigen tiefen Narben im Gesicht bückte sich zu der zweiten Frau hinunter und schnitt ihr die Kehle durch. Sie starb lautlos. Mia schrie wie am Spieß, als sie die Gangster aus dem Gewölbe zerrten und durch zwei weitere Räume zwangen. Sie erreichten einen kleinen Raum, der von einem Stein in der Mitte dominiert wurde. Die Frau erstarrte und fixierte ihn. Ein seltsamer Stein. Auf einem quadratischen Sockel befand sich eine amboßförmige Auflage mit vier eisernen Ringen an der Seite. Seltsame Zeichen waren in die Oberfläche geritzt. Mia glaubte, um den Stein herum rostrote Flecken auf dem Boden zu erkennen. Zombieauge trat dicht vor sie hin. Er stank nach Knoblauch, aber das registrierte sie nur am Rande. Ein Messer blitzte vor ihren Augen auf. Mia gurgelte und schloss mit ihrem Leben ab. Trotzdem unternahm sie einen letzten Versuch. »Bitte nicht. Ich tue alles, was ihr wollt. Alles. Aber lasst mich am Leben. Ich habe eine Tochter zu Hause, die mich braucht. Bitte …« Stattdessen zog Zombieauge das Messer blitzschnell an ihrer Brust herunter. Er zerschnitt das Kleid, ohne ihre Haut auch nur zu ritzen. Dann fetzte er es herunter und zwang sie, auch BH und Höschen auszuziehen. Als sie nackt und zitternd da stand, packten sie drei der Entführer, drückten sie auf den Stein und banden sie an den Ringen fest. Ohne ein weiteres Wort verließen sie den Raum. Mia lag für einige Momente starr. Das war ein Albtraum, nichts als ein böser Albtraum, aus dem sie jeden Moment wieder erwachen würde. Und wie sie dieses Erwachen herbei sehnte! Was ihr hier widerfuhr war mehr, als ein Mensch aushalten konnte. Aber es war
kein Albtraum. Die beginnende Kälte, die ihren Körper schleichend durchströmte, machte ihr klar, dass sie sich mit realen Geschehnissen abzufinden hatte und wenn diese noch so bitter waren. Mia begann, an ihren Fesseln zu zerren, ohne allerdings den geringsten Erfolg zu haben. Sie keuchte und stöhnte und ließ ihrer Verzweiflung schließlich freien Lauf. Tränen strömten, ohne dass sie diese trocknen konnte. Der letzte Horrorfilm, den sie gesehen hatte, kam ihr in den Sinn. Auch dort hatte eine junge Frau auf dem Opferstein gelegen und Mia hätte sich nicht mal im Traum vorstellen können, dass es so etwas auch in Wirklichkeit gab. Die Frau war gerettet worden, weil der Held im letzten Moment aufgetaucht war. Würde nun auch Zamorra im letzten Moment hier auftauchen? Oder doch zumindest die Polizei? Was Melanie wohl gerade macht? Und warum habe ich schon wieder das Gefühl, ein alter weißhaariger Mann steht im Raum und beobachtet mich? Plötzlich ging die Tür auf. Mia durchfuhr es siedend heiß. Sie drehte den Kopf. Ihre langen, blonden Haare flossen den Opferstein hinunter. Die Amerikanerin glaubte ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Zamorra trat in den Raum! Er sah mitgenommen aus, das rote Hemd an der Brust zerrissen, ein Ärmel des Anzugs fehlte komplett. Natürlich! Der Professor hatte sich bis zu ihr durchgekämpft, hatte den Kidnappern schwere Gefechte geliefert und war siegreich geblieben. Hauptpersonen werden immer im letzten Moment gerettet … »Zamorra, endlich«, flüsterte sie. »Ich habe so auf Sie gewartet.« Zamorra grinste irr. »Da könntest du allerdings aufs falsche Pferd gesetzt haben, Süße.« Der Professor ging zur hinteren Wand, an der ein kleines Regal stand. Ein unterarmlanges, leicht gebogenes Messer, das eher schon einem Schwert glich, lag darauf. Er nahm es und ging zum Opferaltar zurück. Dabei glitt er durch das Schemen eines alten, weißhaarigen Mannes, der sich ebenfalls bereit machte. Er zog die goldene Sichel aus dem breiten Gürtel und stellte sich ans Kopfende des Opfersteins. Zamorra trat an die Seite des Altars und flüsterte
schwarzmagische Beschwörungen. Sie hörten sich so furchtbar an, dass Mia vor lauter Grauen in eine kurze Ohnmacht sank. Schläge auf die Wange holten sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Die Wirklichkeit? Im Hintergrund des Raumes gloste ein tiefroter Nebel, der immer neue, fürchterliche Höllenfratzen ausbildete. Sie lachten höhnisch, keiften, griffen mit ihren Nebelklauen gierig nach Mia. Wir warten auf deine Seele, Mia!, hörte sie zehntausend Stimmen zugleich in ihrem Kopf widerhallen. Das Kichern, Raunen und Wispern raubte ihr fast den Verstand. Wir werden sie in die Hölle mitnehmen und sie den Peinteufeln übergeben. Und die Qual wird von Ewigkeit zu Ewigkeit nicht mehr enden … Mia fand noch ein Mal kurz einen Weg aus diesem irrational anmutenden Geschehen, das ihren Verstand langsam aber sicher fraß. In diesen wenigen Augenblicken war sie sich nun der ganzen, furchtbaren Tragweite bewusst. Der Überfall im Restaurant war von Zamorra inszeniert worden! Mit dem einen Ziel, sie zu entführen und hierher zu bringen. Die beiden anderen Frauen waren nichts als ein Ablenkungsmanöver für die Polizei gewesen. Sie war einem Monster in die Hände gefallen! »Bitte, Professor, lassen Sie mich gehen«, flüsterte sie. »Ich verrate Sie auch nicht. Ich … ich habe doch eine Tochter, die mich braucht.« Zamorra reagierte nicht darauf. Er fasste das Messer mit beiden Händen und hob es hoch über den Kopf. »Um Gottes Willen!«, schrie Mia und zog die Beine an. Gleichzeitig drehte sie den Kopf weg und schloss die Augen. »Um Satans Willen«, intonierte der höllische Chor. »Gott ist lange tot …« Zamorra keuchte. Das Messer fuhr herab. Nur die Hauptpersonen werden gerettet, durchzuckte es Mia in ihren letzten Momenten. Ich war mein Leben lang keine. Immer nur Verliererin …
Gierig griffen die Höllischen nach der Seele, die sich von Mias
Körper löste. Und voller Enttäuschung brüllten sie auf, als sie ins Leere glitten. Eine goldene Sichel kam herangerauscht, nahm Mias Unsterbliches in sich auf und entzog es dadurch für alle Zeiten dem Zugriff der Hölle. Das ist das Einzige, was ich momentan für dich tun kann – Zamorra, dachte Merlin. Er schleuderte einen Blitz aus seinen Fingerspitzen in die Phalanx der Seelenteufel, denen plötzlich Panik in den grausigen Gesichtern stand. Das rote Glosen explodierte in einer grellgrünen Entladung. Dann war da nichts mehr außer der Wand. Merlin nickte zufrieden und nahm Mias Seele mit nach Avalon. Doch zuvor entriss er ihr einen winzigen Funken und schickte ihn in den toten Körper zurück. Du wirst dich noch wundern, mein dunkler Bruder Asmodis …
42. Etwas geschieht … Jacmel, Haiti Zamorra tröstete Madame Posy, die über die Entführung ihrer Tochter eigentlich untröstlich war. Sie machte sich den Vorwurf, die Schuld daran alleine zu tragen: Schließlich war sie es gewesen, die Mia nach Haiti gelotst hatte. Nach einer Glanzleistung in Sachen Scheinheiligkeit fuhr Zamorra nach Jacmel zurück. So beschwingt war er schon lange nicht mehr gewesen. Er hörte Jazzmusik im Autoradio und klopfte hin und wieder sogar den Takt auf dem Lenkrad mit. Endlich würde er den Erfolg haben, der ihm schon lange zustand, dessen war er sich völlig sicher. Mia Stewart war ein Geschenk des Teufels. Ihr fast identisches Aussehen würde ihm den richtigen Weg weisen. Wenn er Mias Körper in alter Pracht und Herrlichkeit wieder auferstehen lassen konnte, dann würde das auch bei Nicole klappen. O ja, er hatte schon den richtigen Zauber gehabt. Es kam aber darauf an, dass auch das Opfer aussah wie Nicole. Eine Verkehrskontrolle riss ihn aus seinen wirren Gedankengängen. Er entging einer länger andauernden Untersuchung, indem er einem der »Gesetzeshüter« eine stattliche Summe Gourdes zusteckte. Danach konnte er umgehend weiter fahren. Ravix' Männer hatten Mias Leiche bereits gestern bei Medine abgeliefert. Es war noch keine halbe Stunde her, dass der Professor den Malfacteur angerufen hatte. »Ja, Monsieur, natürlich habe ich sie bereits der Erde übergeben, ganz wie Sie gesagt haben. Sie wird noch einen weiteren Tag ruhen, bevor ich Baron Samedi wieder auf mir reiten lasse. Ich erwarte Sie.« Zamorra bezog sein altes Hotelzimmer in Jacmel. Am liebsten
hätte er die Zeremonie schon diese Nacht durchführen lassen, aber es war keine Nacht für Voodoo. Medine weigerte sich und verwies darauf, dass morgen die Zeichen sehr viel günstiger standen. Nach Einbruch der Dämmerung zog die Voodoo-Gesellschaft lachend und lärmend zum Friedhof. Die Einheimischen, die dem kleinen Zug begegneten, wandten sich schaudernd ab, als sie Medine erkannten. Und so manch einer schlug heimlich das Kreuzzeichen. »Bokor, bleib uns vom Leib«, flüsterten sie oder »Malfacteur, mit dir wollen wir nichts zu tun haben. Zombification ist ein Verbrechen an der Schöpfung und hat nichts mit unserer Religion zu tun.« Zwei Stunden vor Mitternacht begann Medine die Zeremonie, die Zamorra bereits sattsam bekannt war. Es dauerte nicht allzu lange, bis der Malfacteur von Baron Samedi geritten wurde. Seine anscheinend prahlerischen Worte, er sei schon seit langem mit dem Herrn der Gräber verheiratet und eines von dessen bevorzugten Medien, erwiesen sich wieder einmal als wahr. Samedi erwies sich dieses Mal aber als ziemlich eintönig, er sagte nicht viel. Außer, dass er von Zamorra ein paar Liter Rum haben wolle. Dann habe er seinen unheiligen Segen. Zamorra triumphierte innerlich. Baron Samedi hielt sich auf Anweisung Asmodis' zurück. Der Totengott durfte den großen Augenblick, der nun gekommen war, nicht durch seine bekannte Eigenwilligkeit stören oder gar zunichte machen! Medine hatte Mias Körper – Zamorra weigerte sich, von einer Leiche zu sprechen – in der Nähe der Friedhofsmauer vergraben. Zamorra kniete vor dem nicht markierten Grab nieder. Er stellte die Schüssel mit dem Blut, das er auch Mia abgezapft hatte, auf den viereckigen Zeremonialziegel, den Medine genau über dem Herzen der Toten platziert hatte. Zamorra verließ sich da ganz auf den Malfacteur. Und da auch Baron Samedi nichts sagte, hatte das alles wohl seine Richtigkeit. Der Professor führte die Zeremonie durch, die schon die tote Madeleine wieder aus dem Boden geholt hatte. Wieder begann das Grab von innen in einem höllischen Rot zu glühen, das den Boden
darüber durchdrang. Im Gegensatz zum letzten Mal konnte Zamorra den Körper der Toten aber nicht deutlich erkennen. Ein Flimmern hüllte ihn ein, während Mias Blut aus der Schüssel in die Erde sank. Das Glühen erlosch. Zamorra wartete in fiebriger Erregung, bis sich der Boden auf der Oberfläche des Grabes bewegte. Der Körper arbeitete sich langsam aus dem Grab. Zwei Minuten später stand die Frau vor ihm, vom Schein der Feuer angeleuchtet. Zamorra schrie auf. Laut und schrill. Dann sank er zusammen.
Château Montagne, Frankreich »Was hast du bloß, Fiffi? Hör jetzt endlich auf zu bellen.« Der kleine Hund, eine Promenadenmischung wie sie im Buche stand, tat seinem Herrn den Gefallen nicht. Immer wieder bellte der Vierbeiner mit dem dichten grauen Fell den Hang hoch – genau dort hin, wo sich im Mondlicht gegen den etwas helleren Himmel die bizarr wirkenden Trümmer des ehemaligen Châteaus wie ein finsteres Kunstwerk erhoben. Jean Bertrand konnte es noch immer nicht fassen, dass dieser erhabene Bau, der viele Jahrhunderte lang den Montagnes als Heimstatt gedient hatte, dem Erdboden gleich gemacht war. Die meisten Bewohner hatte der Raketenangriff das Leben gekostet, Zamorra hatte allerdings überlebt. Bertrand war der Ansicht, dass der Professor dadurch das größte Pech von allen gehabt hatte, denn er war über die Tragödie wahnsinnig geworden. So flüsterten es sich auf jeden Fall die Menschen hier zu, denn der Eine oder Andere hatte den Professor in den Tagen und Wochen danach gesehen. Wenn man ihren Worten glauben durfte, erinnerte an ihm nicht mehr allzu viel an ein menschliches Wesen; Zamorra gebärdete sich eher wie ein wildes Tier. Er sollte sogar versucht haben, das Grab von Mademoiselle Nicole aufzubuddeln, woraufhin er in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen worden war …
Jean Bertrand fühlte einen Schauer über seinen Rücken laufen. Seit klar war, dass sich der irre Professor nicht mehr in der Gegend hier herum trieb, ging er öfters mit seinem Hund hier oben am Montagnehang spazieren, bevorzugt in der Dunkelheit. Denn der ältere, allein stehende Mann hielt es für durchaus möglich, dass Zamorra auf Château Montagne einen märchenhaften Schatz gehütet hatte, wie sich manche Leute verstohlen zuflüsterten. Außer ihm wagte es aber wohl niemand, immer mal wieder des nachts durch die Trümmer zu gehen, in der Hoffnung, dass der Einsturz einen Teil des Schatzes freigelegt hatte, vielleicht sogar den ganzen! Im Gegensatz zu den Anderen hatte er nämlich keine Angst vor den Geistern der Toten, die sich noch immer hier oben herumtreiben sollten. Was hatte Fiffi nur? Jean Bertrand wollte nachsehen. Der ehemalige französische Meister im Karate fühlte sich noch immer fit und kannte auch vor lebenden Dieben und Ganoven keine Angst. Zusammen mit seinem Hund stieg er den Hang vollends hoch, vorbei an mächtigen Steinblöcken, die schon viele hundert Meter weiter unten im Weinberg steckten. Bertrand fand es schade, dass Zamorra dieses Schicksal ereilt hatte. Der Professor war immer ein sehr volkstümlicher Mann gewesen, ohne Starallüren oder dieses Zeug. Er selbst hatte ihn einmal getroffen, während eines Festes, das der Schlossherr für die Bewohner der näheren Umgebung gegeben hatte. Auch die charmante Mademoiselle Nicole, die immer nackt im Château herumgelaufen war, um den Butler und den jungen Rhett Saris zu verführen, was er aber lediglich für ein böses Gerücht hielt, hatte sich damals als sehr zugänglich erwiesen. Warum mussten so nette Leute so schlimm enden? Na ja, auch er wusste schließlich nicht, was ihn einmal erwartete … Fiffi blieb stehen und knurrte. Sein Nackenfell war steil aufgestellt. »Na so was«, murmelte Bertrand, »was hast du bloß?« Oben angekommen orientierte sich der Mann kurz. Nur von dieser Seite aus war das Trümmerfeld des Châteaus zu betreten. Hier war der Friedhof der Montagnes angelegt gewesen, mit einer kleinen
Kapelle und einem Gitterzaun drum herum. Mademoiselle Nicole war hier noch zur letzten Ruhe getragen worden, bevor das Château kurze Zeit später in sich zusammen gestürzt war. Der Gottesacker war dabei kaum in Mitleidenschaft gezogen worden. Bertrand stutzte. Er kniff die Augen zusammen. Unterlag er einer Sinnestäuschung? Irgendwo auf dem kleinen Friedhof leuchtete es grellrot. Als ob ein gigantisches, ewiges Licht angegangen wäre! Der Mann fröstelte plötzlich. Nein, keine Halluzination. Fiffi war nun doch noch neben ihm aufgetaucht, stemmte die Vorderpfoten in die Erde und bellte wie verrückt in Richtung des roten Leuchtens. Es war … Angst einflößend. Bertrand spürte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. War das nicht ungefähr dort, wo Mademoiselle Nicole ihre letzte Ruhe gefunden hatte? Letzte Ruhe? Was um Gottes Willen war das? Wie hingezaubert stand ein riesiger Mann neben dem Grab. Bertrand konnte jede Einzelheit wahrnehmen, obwohl er eigentlich viel zu weit weg war. Lange, weiße Haare, weißer Vollbart, eine weiße Kutte mit rotem Umhang. Eine Aureole aus silbernem Licht umgab den Unheimlichen, der nun den Kopf wandte und Bertrand direkt anzublicken schien. Verschlossen und abweisend wirkte sein Gesichtsausdruck. »Und am Ende sitze doch ich am längeren Hebel, mein dunkler Bruder Asmodis«, glaubte Bertrand eine tiefe, weise klingende Stimme zu vernehmen. Dann war der Weiße von einem Moment zum anderen wieder verschwunden – und mit ihm das rote Glühen, von dem Bertrand ahnte, dass es tief aus der Erde gekommen war. Wie hätte der Mann auch wissen können, dass er richtig lag und dass exakt zum selben Zeitpunkt in Haiti das Grab einer gewissen Mia Stewart im selben Rot aufgeleuchtet hatte? Jean Bertrand spürte Druck auf dem Herzen. Sagte man nicht, dass Zamorra mit Teufeln und Dämonen im Bunde war? Was hatte er da soeben gesehen? Er drehte sich um und stieg, so schnell er konnte, den Hang wieder hinab. Sein Hund, nunmehr winselnd und sichtlich verstört, folgte ihm auf dem Fuße.
Nie wieder werde ich diesem verfluchten Château näher als einen Kilometer kommen, das schwöre ich …
43. Zamorras Belohnung Jacmel, Haiti Zamorra saß auf dem Boden, direkt neben einem Totenschädel. Schwäche kroch durch seinen Körper. Und gleichzeitig wahnsinnige Freude. Wiedersehensfreude! Triumph. Rührung. Glückseligkeit. Die Frau, die soeben dem Grab entstiegen war und nun noch etwas eckig und steif, aber dennoch ungleich beweglicher als jeder Zombie auf ihm zu kam, war nicht Mia Stewart. Es war Nicole. Seine Nici. Kein Zweifel möglich. So wie er die kleinen Unterschiede zwischen Mia und Nicole sofort bemerkt hatte, so sah er nun, dass Nicole wiedergekehrt war. Ihr Körper, ihr Gang, jedes winzige Detail stimmte. Kurze blonde Haare rahmten ihr Gesicht, während ihre Scham – im Gegensatz zu den schwarzen Haaren Mias – nur einen leichten blonden Flaum aufwies. Natürlich. Nicole war ihr ganzes Leben rasiert gewesen, aber die Haare von Toten wuchsen bekanntlich noch etwas nach. Zamorra rappelte sich auf. Er zitterte am ganzen Körper. Tränen traten in seine Augen. »Nici, Nici, meine liebe Nici«, stammelte er. »Alles hat sich gelohnt, was ich getan habe. Ich habe dich aus der grässlichen Schwärze zurück zu mir geholt …« Die dem Grab Entstiegene blieb vor Zamorra stehen. Wortlos, mit starrem, nach vorne gerichteten Blick. In einer rührend hilflosen Geste legte der Professor seine Hand an ihren Oberarm und zog sie wieder zurück, so, als habe er etwas Verbotenes getan. Schließlich fasste er sich ein Herz, umarmte Nicole und zog sie zu sich her. Fest
drückte er den eiskalten Körper an sich. Die Auferstandene blieb steif, kippte durch den Ruck fast um. Zamorra konnte sie gerade noch abfangen. Die Kälte, die schmierige, seifige Haut machten ihm nichts aus. Im Gegenteil. Er glaubte, noch nie zuvor etwas Schöneres, Erhabeneres gefühlt zu haben. Er brachte seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr. »Meine über alles geliebte Nici«, flüsterte er heiser. »Jetzt sind wir wieder zusammen. Nichts kann uns mehr trennen, nichts mehr. Was soll uns noch passieren? Wir haben sogar den Tod überwunden, das ewige Vergessen. Willkommen zu Hause. Ich habe dir das Leben zurückgegeben, aber du auch mir. Du bist nichts ohne mich und ich bin nichts ohne dich. Ich lasse dich ab jetzt nie wieder los.« So innig verschlungen standen sie fast eine Stunde da. Alleine auf dem windigen Friedhof. Die Voodoo-Gesellschaft hatte sich längst aufgelöst, die Menschen waren von Grauen erfüllt in die Stadt zurückgegangen. Mit Zombies zu leben war noch einmal etwas völlig Anderes, als einen zu lieben. Keinem Haitianer wäre es auch nur im Entferntesten eingefallen, einen Wiedergänger zu umarmen. Der Weiße war verrückt – oder ein Dämon. Immer wieder drückte Zamorra Nicole einen Kuss auf die Lippen, versuchte sogar, seine Zunge dazwischen zu schieben. Ihre Zahnreihen machten seinem Bemühen ein Ende. Den Käfer, der über seine Zunge krabbelte, bemerkte er zwar, ignorierte ihn aber. Es war ihm egal. Irgendwann löste sich Zamorra wieder von seiner zurück erhaltenen Gefährtin. Sie hatte in der ganzen Zeit nicht einen Finger gerührt, nicht den leisesten Ton gesagt. Er nahm ihre Hand. »Komm«, sagte er, »lass uns nach Hause gehen. Das Leben erwartet dich.« Nicole drehte sich. An seiner Hand ging sie neben ihm vom Friedhof. Zamorra verfluchte Medine, dass dieser ihn im Stich gelassen hatte, aber ernstlich böse konnte er dem Malfacteur nicht sein. Dazu war er viel zu glücklich. Wo sollte er jetzt Kleider für Nici hernehmen, wenn ihm Medine keine bringen konnte? Mit dieser dramatischen Wendung hatte er schließlich nicht rechnen können. Er führte Nicole zu seinem Auto.
»Setz dich auf den Vordersitz und warte auf mich, mein Herz. Ich bin gleich wieder da.« Er hielt ihr die Tür auf. Nicole stieg ein und blieb tatsächlich sitzen, den Blick starr nach vorne gerichtet. Zamorra eilte zu den nächsten Häusern und kaufte einer Frau ein buntes Kleid ab und streifte es Nicole noch im Auto über. Es sah aus, als würde er eine bewegliche Schaufensterpuppe anziehen. Im Auto stank es zwischenzeitlich nach Tod und Verwesung. Zamorra roch es zwar, nahm es aber mit Humor. »In der Badewanne bekommen wir das schon weg, wir zwei«, sagte er und kicherte. »Das bekommen wir schon weg. Gut, was? Ja, ich weiß schon, du musst dich erst wieder in die Welt der Lebenden hineinfinden, Nici. Ganz klar. Aber ich gebe dir so viel Zeit, wie du brauchst, es hat keine Eile. Schließlich leben wir beide ja ewig. Irgendwann wirst du wieder über meine Scherze lachen können, das schwöre ich dir.« Als Zamorra mit Nicole ins Hotel wollte, verwehrte ihm der entsetzte Portier den Zutritt. Nur ein hohes Trinkgeld verhinderte, dass er sofort die Polizei rief. Zamorra war nachsichtig mit ihm, während er ihn zwei Tage zuvor wohl noch eigenhändig umgebracht hätte. Der Professor und der Portier einigten sich darauf, dass Ersterer sofort seine Sachen aus dem Zimmer holte und das Hotel verließ. Zamorra ging darauf ein. Nicole ließ er wieder im Wagen zurück. Als alles abgewickelt war, brach er Richtung Portau-Prince auf. Zu was hatte er eine Wohnung dort? Die ersten Tage würde er also dort mit Nici verbringen. »Ich werde dich vor Madame Posy verstecken müssen, das ist klar«, murmelte er halb in Richtung des Beifahrersitzes. »Sonst glaubt sie noch, ihre Tochter ist zurück. Aber ich hab sie umgebracht, weißt du. Für dich, Nici. Und ich hab noch viel mehr für dich getan, das darfst du mir glauben.« Zamorra fuhr beschwingt durch die Nacht. Noch bevor er Port-au-Prince erreichte, übermannte ihn plötzlich eine tiefe Müdigkeit. Er lenkte das Oldsmobile auf einen einsamen Parkplatz zwischen Bäumen. »Ich will kein Risiko eingehen, weißt du, Nici«, brabbelte er.
»Nicht dass ich noch in den Graben fahre oder auf einen Lastwagen drauf, jetzt, wo ich dich wiederhabe. Das ist doch auch in deinem Sinne, oder? Also dann, gute Nacht, schlaf schön.« Er beugte sich zu ihr hinüber und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust, denn im Auto war es so kalt wie in einem Kühlhaus. Trotzdem fröstelte er nicht. Umgehend fielen ihm die Augen zu. Er schnarchte sogar ein wenig. So glücklich, entspannt und ausgeglichen war Zamorra seit Nicoles Tod nicht mehr eingeschlafen. Das war deutlich auf seinem Gesicht abzulesen.
Port-au-Prince Als Zamorra im Wagen erwachte, tat ihm alles weh. Er streckte sich und lächelte dabei seine Beifahrerin an. Die saß noch immer so, wie zum Zeitpunkt seines Einschlafens und starrte nach vorne durch die Scheibe. »Guten Morgen, Liebes. Da bist du ja, ich freue mich. Weißt du, einen Moment dachte ich, das alles sei ein böser Traum und ich wache auf und du bist gar nicht wirklich da. Sollen wir irgendwo etwas frühstücken?« Keine Antwort. »Ach so, ja, ich hab vergessen, dass ich ja erst noch deine Seele in deinen Körper zurückholen muss. Entschuldige. Aber das holen wir schnellstmöglich nach, ich versprech's dir.« Zamorra stieg aus, dehnte sich ein paar Mal in der morgens schon glühenden Sonne und fuhr dann weiter nach Port-au-Prince. Als er aufs Grundstück der Posy-Villa fuhr, sah er, dass Madames Wagen fehlte. Gut so. Das passt. Dann kann ich dich in Ruhe verstecken, Nici … Zamorra führte die Untote in seine Wohnung. »So, und jetzt steigen wir erst mal in die Wanne und ich seife dich ab. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht wieder eine wohlriechende Blume aus dir machen könnte …« Nicole stieg gehorsam in die Wanne. Auf seine Befehle reagierte
sie wie ein gehorsamer Hund. Mehr aber auch nicht. Immerhin. Etwas später trocknete er sie von oben bis unten ab. »So, das riecht schon besser. Komm, ich schalt dir den Fernseher ein. Setz dich davor und schau, was in der Welt so los ist. Schlafen wirst du sicher nicht wollen, das hast du ja lange genug getan.« Die Untote ging zur Couch und setzte sich. »Ich muss dich eine Weile alleine lassen, Liebes. Missis Posy ist gekommen, weißt du, ich sehe ihren Wagen. Ich werde sie mal besuchen und fragen, ob sie schon weiß, was aus Mia geworden ist. Das ist ihre Tochter, weißt du. Sie sieht dir sehr ähnlich.« Zamorra ging hinaus und klingelte bei Madame Posy. Die ältere Dame öffnete ihm völlig übernächtigt und verweint. »Gibt's was Neues von Ihrer Tochter?« Sie schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Kommen Sie doch bitte rein, Professor«, sagte sie mit brechender Stimme und gab die Tür frei. Er trat ein und ging vor ihr her ins Wohnzimmer. Auf einer Kommode standen gerahmte Bilder. Sie zeigten eine fremde, mäßig hübsche Frau mit einem halbwüchsigen Gör. »Wer ist denn das?«, fragte Zamorra. Madame Posy starrte ihn an, als sei er grünweiß gepunktet. »Aber … aber das ist doch Mia, meine Mia, Sie kennen sie doch, Professor.« Zamorra kniff einen Moment die Augen zusammen. Der Blitz soll mich treffen, wenn ich die Frau da schon mal gesehen habe … »Aber natürlich«, erwiderte er, obwohl er sich absolut keinen Reim auf die seltsame Aussage machen konnte, »Mia, klar. Verzeihen Sie, mir geht's wie Ihnen, ich bin total durcheinander. Ich mache mir solche Sorgen. Und zugleich Vorwürfe, dass ich die Entführung nicht habe verhindern können.« »Das müssen Sie doch nicht, Professor. Sie sind nicht schuldig, glauben Sie mir.« Madame Posy setzte sich. Sie war nur noch eine Handvoll Elend, zusammengefallen, rapide gealtert. Zamorra verspürte wenig Mitleid. Ein alter Spruch seines Herrn fiel ihm ein: Mit Schwund muss gerechnet werden … Absolut richtig. Immer wieder wanderten seine Blicke zu den Bildern. Das gab es
doch nicht! Was lief hier falsch? Wirkliches Interesse hatte er an der Aufklärung dieser Frage aber nicht. Genauso wenig an Madame Posys Ausführungen, dass sie gerade von der Polizei käme, dass man Mia aber noch nicht gefunden habe, dafür die beiden anderen entführten Frauen. Tot, ermordet, in einem Hinterhof. »Die Polizei meint, dass das eine Warnung an mich ist oder an Sie, Professor. Demnächst wird eine Lösegeldforderung eingehen und wenn wir nicht bezahlen, endet Mia wie die beiden anderen.« Was man keinesfalls hoffen wolle, erwiderte Zamorra. Warum war er überhaupt hierher gekommen? Die Alte ödete ihn an. Er hatte Wichtigeres zu erledigen.
Horseshoe Manor, Grafschaft Kent, England Zamorra saß in seinem Sessel und schaute zufrieden auf den Kamin mit dem Bärenfell davor. Er hatte den Raum so nachbauen lassen, wie er einst in Château Montagne ausgesehen hatte. Seit einem halben Jahr wohnte der Professor mit Nicole nun schon in dem abgelegenen, herrschaftlichen Anwesen, das er sich nach seinem Abschied aus Haiti gekauft hatte. Nicoles Körper hatte er als Leiche in einem Sarg nach Frankreich überführen lassen, weil es keine andere Möglichkeit gegeben hatte. »Nici!«, rief Zamorra. Die Tür ging auf. Nicole kam herein. Mit starrem Blick, ohne eine Miene zu verziehen, ging sie auf Zamorra zu und blieb vor ihm stehen. Sie trug ein knappes Höschen und ein noch knapperes Topp. Zamorra lächelte selig. »Setzt dich dort auf das Bärenfell, Nici.« Nicole ließ sich darauf nieder. »Bärenfell«, gurgelte sie und strich über das flauschige Haar. »Ja, nicht wahr, du erinnerst dich an unser Kaminzimmer? Auf dem Bärenfell haben wir uns immer geliebt, wenn uns danach war. Hier haben wir die glücklichsten Stunden verlebt. Das wird wieder so sein.«
»Geliebt …« »Ja, geliebt.« Zamorra glitt zu Nicole aufs Fell, drückte sie auf den Rücken, legte sich neben sie und streichelte sie zärtlich. Dann zog er sie vollends aus. Irgendwann lag er keuchend neben ihr. Nicole hingegen sah ziemlich unangestrengt aus. Fast teilnahmslos blickte sie zur Decke. »Das war wunderschön«, flüsterte Zamorra. »Schön.« Der Professor lächelte. »Ja. Wie toll du schon wieder sprichst, Nici. Ich bring dir alles bei, bald bist du wieder ganz die Alte. Wir haben alle Zeit der Welt dafür.« Ganz kurz kamen ihm die Bilder ihrer Neubeseelung in den Sinn. Nachdem er ihren Körper auf dem Pariser Flughafen abgeholt hatte, war er mit Nicole zum Château Montagne gefahren. An ihrem Grab hatte er in einer magischen Zeremonie ihren immer noch dort herumspukenden Geist eingefangen und in ihren Körper transferiert. Seither lebte Nicole wieder vollständig, sie war in der Lage zu reden, wenn auch nur in einzelnen Worten. Aber das bekamen sie schon wieder hin. Sie brauchte einfach Schlüsselerlebnisse, um sich an ihr früheres Leben zu erinnern. Dann würde irgendwann wieder alles gut, dann würde das Sprechen schon wieder von alleine kommen. Am nächsten Morgen duschte der Professor Nicole, zog sie an und setzte ihr eine grüne Perücke auf. Dann führte er sie durchs Haus. Erste Station war die Küche. Missis Etherby war bereits am Kochen. Zamorra hatte sie eingestellt, weil sie Madame Claire, der Köchin auf Château Montagne, ziemlich ähnlich sah. Denn Nicole sollte möglichst viel so vorfinden wie einst auf dem Schloss seiner Väter. »Guten Morgen, Sir«, begrüßte die beleibte, rotwangige Missis Etherby die beiden Herrschaften. »Ich hoffe, Lady Nicole geht es heute Morgen den Umständen entsprechend gut?« »Gut«, gurgelte Nicole. »Ja, danke der Nachfrage«, erwiderte Zamorra freundlich und fasste Nicole am Oberarm. »Sie scheint heute einen guten Tag zu haben.« Die offizielle Version lautete, dass Nicole nach zwei schweren Schlaganfallen nicht mehr richtig sprechen und nur noch
eingeschränkt gehen konnte. Auch andere Zimmer waren ganz ähnlich wie in Château Montagne eingerichtet. Zamorra wurde nicht müde, Nicole durchzuführen und ihr kleine Geschichten zu erzählen, was einst in diesen »vorgefallen« war. »Weißt du noch, wie du mich immer genannt hast?« »Gnannt hast.« »Chéri. Du hast mich immer Chéri genannt. Sag Chéri.« »Schri.« Der Professor strahlte. »Ja, toll, das sprichst du wunderbar aus, schon viel besser als die letzten Tage. Und weißt du was? Zur Belohnung machen wir heute einen Einkaufsbummel. Wir fahren nach London. Na, wäre das was für dich?« »Für dich.« »Ja. Weißt du noch? Du hast immer gesagt, du hast nichts anzuziehen und brauchst dringend wieder was Neues. Und weißt du, was ich dann immer gesagt habe? Na?« »Na.« »Ich hab immer gesagt, du frisst mir das letzte Haar vom Kopf und wegen dir muss ich noch meine Weinberge verkaufen. Oder so was in der Art. Wir haben uns immer geneckt damit.« Am späten Vormittag brachen sie tatsächlich nach London auf. In der New Bond Street, Europas heißester Modemeile, zog Zamorra Nicole durch die verschiedensten Modegeschäfte und kaufte ihr allerlei Fummel und etliche Perücken. Seine untote Begleiterin stand wie immer nur dabei und ließ alles über sich ergehen. Eine Woche später brachte Zamorra mitten in der Nacht eine gefangene Vampirin an, die in den Dörfern der Umgebung ihr Unwesen getrieben hatte. Er hatte sie in einer Dorfdisco aufgespürt, sich als vermeintliches Opfer präsentiert und sie dann, als er sie buchstäblich am Hals hatte, mit einem Amulett schachmatt gesetzt, denn es handelte sich nur um ein äußerst schwaches Exemplar der Nachtkinder. Der Professor zog die Vampirin, bei der es sich um eine hübsche Frau mittleren Alters handelte, aus dem Kofferraum. Rot geäderte
Augen funkelten ihn an. Die Vampirin fauchte und drehte wie wild den Kopf, hackte mit ihren langen Augzähnen nach ihm, aber er lachte nur ob der Lahmheit ihrer Bewegungen. Das Amulett um ihren Hals lähmte sie. »Was willst du von mir?«, sagte sie langsam und schleppend. »Lass mich gehen oder du hast meine ganze Sippe auf dem Hals.« »Ja und? Sollen sie nur kommen. Ich habe keine Angst vor ihnen. Ich rotte sie alle aus, denn ich bin der Welt größter Dämonenjäger.« Er legte ihr einen Strick um den Hals und zog sie hinter sich her in einen leer stehenden Stall. Dort band er sie fest. Dann ging er ins Haus und holte Nicole. Wie immer folgte sie ihm willig. Eine trübe Lampe beleuchtete die Vampirin, die sich in eine Ecke drückte. Unverhohlene Angst flackerte in ihren Augen, als sie den angespitzten Pfahl in Zamorras Händen bemerkte. »Was … willst du tun?«, krächzte sie und zerrte verzweifelt an ihren Fesseln. »Ich hab dir ja schon erzählt, dass wir früher Dämonen und anderes schwarzblütiges Ungeziefer gejagt haben, Nici«, sagte Zamorra. »So was wie dieses Biest da. Das ist eine Vampirin. Und Vampire gehören – was?« »Was.« »Gepfählt natürlich.« »Pfählt.« »Ja, gepfählt. Schau mir gut zu, ich zeige dir, wie's geht. Vielleicht hilft dir das weiter.« Mit gezücktem Pfahl ging er auf die sich windende Vampirin zu. »Nein, tu das nicht«, gurgelte sie. »Lass mich leben und ich werde dir immer eine treue Dienerin sein. Das können wir mit einem Bluteid besiegeln.« »Leben? Du nennst das, was in dir ist, Leben?« Zamorra lachte höhnisch. »Das ist kein Leben. In dir sitzt der Tod.« »Und was ist mit dieser da? Die ist so tot wie ich, wenn du diesen Maßstab ansetzen willst.« Wut stieg in Zamorra hoch. »Nein!«, brüllte er. »Nici lebt. Und du nicht. Ich mach dich alle, du Ungeheuer.« Er nahm den Pfahl in
beide Hände und stieß ihn blitzschnell waagrecht nach vorne. Zielgenau bohrte er sich ins Herz der Vampirin. Die riss Augen und Mund weit auf und zerfiel innerhalb von Sekunden zu Staub. »Ungeheuer«, sabbelte Nicole. Zum ersten Mal seit Wochen spürte Zamorra gelinde Verzweiflung in sich hochsteigen. Drei Wochen später hatte er noch immer nicht die geringsten Fortschritte erzielt. Es war bereits Nacht. Zamorra schenkte sich ein Glas Wein ein und ging damit ins Kaminzimmer. »Komm, Nici, wir machen uns einen schönen Abend auf dem Bärenfell. Was magst du trinken?« Sie stand neben ihm. Er schaute sie lauernd an. »Trinken.« »Ja, trinken!«, brüllte er plötzlich los. »Verdammt noch mal, du dumme Kuh sollst mich nicht immer nachäffen wie ein Papagei. Sprich endlich normal. Was muss ich denn noch alles tun, damit du endlich wieder in die Welt zurück findest?« Mit einem Knurren warf er das Weinglas gegen die Wand, stieß Nicole vor die Brust, so dass sie ins Taumeln kam und ging dann nach draußen. Er kickte gegen den eisernen Stiefelzieher vor der Eingangstür und stauchte sich dabei den Zeh. Zamorra stieg in seinen Bentley. Ziellos fuhr er durch die Nacht. Was mache ich hier eigentlich?, ging es ihm durch den Kopf. Ich hänge mich mit jeder Faser meines Körpers rein, um Nicole wieder in die Welt zurück zu holen. Ich habe die Seiten gewechselt und mich zum Dämonenknecht erniedrigt. Ich habe sogar gemordet. Und für was habe ich das alles getan? Damit ich mich jede Nacht an einen eiskalten Körper schmiege? Damit ich in stumpfe, seelenlose Augen blicke, in denen ich meine eigenen Verbrechen erkennen kann? Dieses … dieses Wesen macht keine Fortschritte, es kann nur einzelne Wörter nachplappern, es … es hat keine Seele. Und wird nie wieder eine haben. O mein Gott, ich erkenne es nun mit klarem Blick: Auch hier habe ich mich gegen deinen Willen versündigt, indem ich versucht habe, den Tod, den du wie das Leben gibst, auszutricksen. Aber nun ist es genug. Ich will wieder zu dir zurück finden, Gott, verstehst du? Ich bereue zutiefst, was ich getan habe. Nimm mich
wieder auf, ich verspreche dir, dass ich wieder gut mache, was ich an dir verbrochen habe … Bittere Tränen strömten aus Zamorras Augen. An einem kleinen Wäldchen musste er anhalten, denn ein Weinkrampf schüttelte seinen ganzen Körper durch. Er wagte es nicht einmal mehr, sich mit den eigenen Händen anzufassen, denn es graute und ekelte ihn vor sich selbst. In diesen Momenten hatte Zamorra seinen Entschluss längst gefasst. Er beruhigte sich, drehte den Wagen und fuhr nach Horseshoe Manor zurück. Sein erster Weg führte ihn ins Arbeitszimmer. Danach ging er ins Kaminzimmer, wo die Untote noch immer so stand, wie Zamorra sie verlassen hatte. »Nicole«, flüsterte er und sein Herz pochte hoch oben im Hals. Er stellte sich hinter sie, damit er ihr nicht ins Gesicht sehen musste. Dann hob er das Schwert, das in seinem Arbeitszimmer, in dem er nie etwas gearbeitet hatte, an der Wand gehangen war. Mit einem Streich trennte er der Untoten den Kopf vom Rumpf. Er kugelte über das Bärenfell und blieb vor dem Kamin liegen. Ausdruckslose Augen starrten ihn an. Aber das waren sie auch vorher schon gewesen … Zamorra fühlte eine mächtige Welle von Schwäche in sich hochsteigen. Trauer. Sentimentalität. Unbändige Wut. Wut auf das Schicksal, das ihn so sehr beutelte. Denn zu guter Letzt hatte er nun auch noch den Körper schänden müssen, den er einst so sehr geliebt hatte. Wie sollte ein einzelner Mensch das aushalten? Zamorra brach zusammen.
44. Immer nur Schachfigur Caermardhin, Wales Asmodis kam aus der Quelle des Todes zurück. Sein Geist wechselte in seinen Körper über und ließ diesen wieder erblühen. Er verließ die Ebene mit einem zufriedenen Grinsen. Nachdem er es mit Hilfe der Quelle geschafft hatte, Svantevit aufzuspüren, hatte er sich einen lange währenden Kampf mit dem Superdämon geliefert und ihn schließlich mit Hilfe der Pfeile, die Zamorra, sein willfähriger Diener, für ihn aus der Vergangenheit geholt hatte, besiegen können. Dabei hatte ihm die Quelle eine ihrer ungeheuren Möglichkeiten offenbart. Mit ihrer Hilfe konnte er seinen Geist aufsplittern und in vielen hundert Körpern gleichzeitig agieren, ohne dass er den Überblick verlor. Nun, Svantevit war zwar noch nicht endgültig besiegt, aber doch in seine eigene Dimension zurückgeworfen. Ohne Möglichkeit, wieder in diese Welt wechseln zu können. Und das war tatsächlich ein Grund zur Zufriedenheit. Asmodis kehrte in die Hölle zurück. Nun wollte er sehen, wie sich Zamorra entwickelt hatte. Wenn es zu seiner Zufriedenheit geschehen war, würde er ihn schon demnächst belohnen. »Neiiiiin!«, schrie der Fürst der Finsternis voller Wut, als ihm die Tragweite der Geschehnisse in aller Deutlichkeit bewusst wurde. »Merlin, mein Ränke schmiedender Bruder, das wirst du mir büßen!« Weil es noch immer Fehler im Magischen Universum gab, rannte Asmodis nach Wales, genauer nach Cwm Duad. Merlins Burg Caermardhin thronte normalerweise unsichtbar auf dem Berg über dem kleinen Dörfchen, allerdings nicht für ihn. Asmodis sah die Festung seines Bruders immer und jederzeit. »Merlin«, brüllte er, als er davor stand. »Lass mich ein. Ich habe mit dir zu reden!«
Nichts geschah. »Sofort machst du mir auf, Bruder! Ich weiß, dass du da bist.« Plötzlich fielen die magischen Sperren. Asmodis raste ins Innere. Der Zauberer von Avalon empfing ihn in irgendeiner unbedeutenden Kammer. »Was wütest du so herum, dunkler Bruder? Ist irgendwas passiert?«, fragte der Weißgekleidete scheinheilig. »Das weißt du ganz genau. Du hast Zamorra dabei unterstützt, dass er Duval wieder erwecken konnte. Das aber hätte niemals geschehen dürfen, denn mit ihr ist seine Ausgeglichenheit zurückgekommen und sein Wahnsinn allmählich von ihm gewichen. Er hat Duval erneut getötet, nicht wahr? Und er hat sich meinem Einfluss dadurch endgültig entzogen. Dabei wollte ich ihn demnächst zum Dämon erhöhen. Das wäre meine Belohnung gewesen.« Merlin lächelte. »Nicht nur dir hat er sich entzogen, dunkler Bruder. Auch ich habe keinen Einfluss mehr auf ihn. Sein Körper sitzt erneut in einer psychiatrischen Anstalt, aber sein Geist schwebt in Sphären, die auch ich nicht erreichen kann.« »So, und wo?« »Ich weiß es nicht. Ins Reich des Todes ist er aber nicht eingegangen, so viel immerhin vermag ich zu sagen.« Erneut lächelte der Zauberer und brachte den Höllenfürsten damit an den Rand der Weisglut. »Nun, Bruder, hast nicht du selbst ihm geraten, Experimente mit Zombies zu machen, um Nicole wieder unter die Lebenden zu holen?« Eine Schwefelwolke drückte aus Asmodis' Nüstern. »Ja. Aber ich wollte ihn damit nach seinem Selbstmordversuch lediglich motivieren und habe gleichzeitig gehofft, dass er dadurch viele Menschen tötet, um deren Seelen der Hölle zu überantworten. Dadurch sollte er endgültig auf die dunkle Seite kippen. Ich wollte doch nicht, dass er mit seinen Zombieexperimenten tatsächlich erfolgreich ist. Und er hätte es auch niemals sein können, wenn du ihm nicht geholfen hättest. Wie hast du das angestellt?« Merlin ging im Raum hin und her. »Ja, dunkler Bruder, ich gebe es
zu, denn auch du sprichst in aller Offenheit zu mir. So, wie es in alten Zeiten war, als wir keinerlei Geheimnisse voreinander hatten. Ich habe, nachdem du ihm diesen Vorschlag gemacht hast, die Möglichkeiten gesehen, die entstehen, wenn Zamorra Duvals Körper tatsächlich wieder zurückbekommt. So habe ich dich bei unserer Audienz in der Hölle leider ein kleines bisschen belügen müssen. Denn es war natürlich meine Absicht, dir Zamorra wieder zu entreißen, denn er darf niemals endgültig für die Hölle arbeiten. Nachdem du mir freundlicherweise erzähltest, dass du längere Zeit abwesend sein würdest, habe ich gewusst, dass es nun geschehen muss. Zamorra war in Haiti. Um Duvals Körper dorthin zu transferieren, brauchte ich eine Frau mit der Fähigkeit des magischen Austausches. Das war mir schon von Anfang an klar. Denn es gibt noch immer diese seltsamen Fehler im Magischen Universum und so habe ich einen anderen Weg als den direkten gesucht.« »Ja, natürlich, einen, der dich selbst nicht in Gefahr bringt. Du kannst dich also ebenfalls nicht gefahrlos auf den Kurzen Wegen bewegen. Und bei dieser Art des Transports hätte Duvals Körper für alle Zeiten verloren gehen können. Dein Plan wäre gescheitert. Ich verstehe so langsam.« Asmodis schleuderte eine Flammenlanze aus seinem rechten Auge. Merlin fing sie aus der Luft. In kleinen flirrenden Sternchen ging sie zu Boden. »Lass das, Bruder, hier in Caermardhin hast du nichts zu melden. Wo war ich? Ach ja, ich hatte mich im Saal des Wissens kundig gemacht und tatsächlich eine einigermaßen passende Konstellation gefunden. Eine Frau namens Cynthia Posy hatte eine Tochter in Miami. Diese Tochter, Mia, besaß die Fähigkeit des magischen Austausches. So habe ich die Madame Posy mit Zamorra zusammengebracht, um die Saat zu legen. Und als du dich in die Quelle des Todes begabst, habe ich Madame Posy ein Bild Nicoles finden lassen und ihr die Illusion vermittelt, sie würde ihrer Tochter Mia fast aufs Haar ähnlich sehen. Und ich flüsterte ihr ein, Mia nach Haiti zu holen, um sie Zamorra vorzustellen. Nun, auch Zamorra sah in Mia eine starke Ähnlichkeit zu Nicole, was ebenfalls meiner
Illusion zu verdanken war. Dies war der zentrale Punkt meines Plans, denn Zamorra sollte sicher sein, dass er ausgerechnet Mia für den eigenen Erfolg opfern muss. Er glaubte, wegen ihrer Ähnlichkeit zu Nicole, in Wirklichkeit musste er es aber tun, weil sie die Fähigkeit des magischen Austausches besaß.« »Ja, das verstehe ich ja. Langweile mich nicht damit, Bruder. Du bist ein noch größerer Ränkeschmied als ich.« »Danke. Ich liebe es, wenn Pläne funktionieren. Vor allem meine eigenen.« Merlin lachte laut. Es hallte von allen Wänden wider. »Ich erspare dir den Rest trotzdem nicht, dunkler Bruder. Es funktionierte tatsächlich. In dem Moment, als Zamorra Mias Leichnam beschwor, tauschte ich ihn mit dem Nicoles aus. Ich gebe zu, dass ich bange Momente zu überstehen hatte, denn auch dieser Austausch ist schließlich ein Vorgang innerhalb des Magischen Universums. Aber es funktionierte, den hohen Mächten sei Dank. Ich hatte zuvor Mias Seele vor der Hölle gerettet, so wie ich übrigens schon weitere Seelen von Zamorras Opfern gerettet habe. So wird er, trotz seiner Morde, auch auf diesem Wege nicht der Hölle verfallen, falls du darauf spekuliert haben solltest.« »Du … du …« »Ja?« »Ach, vergiss es. Man muss es sich auch mal eingestehen, wenn man eine Schlacht verloren hat. Doch der Krieg ist noch lange, Bruder im Licht. Und ich werde ihn gewinnen. Mit Hilfe der Quelle des Todes.« »Das ist ferne Zukunft. Nachdem ich also Mias Seele gerettet hatte, kappte ich mit der Sichel diese magische Fähigkeit, die in ihr schlummerte, ab. So konnte ich den Austausch vornehmen, aber das habe ich ja, glaube ich, bereits gesagt. Zamorra wollte dann bei Nicoles Grab ihren Geist beschwören, von dem er irrigerweise glaubte, er würde dort noch immer herumspuken. Aber Nicole ist tot, auf alle Zeiten. Ihre Seele ist in einer Welt, die wir beide nicht erreichen können, Bruder. Zamorra erwischte also nicht Nicoles Seele, sondern die des unglücklichen Raffael Bois. Die war noch immer um den Weg, war aber im Zuge der Zerstörung des Châteaus
ebenfalls wahnsinnig geworden. Tja. Zamorra hat also Monate lang mit seinem Diener zusammen gelebt.« »Das hat was.« Asmodis und Merlin kicherten. Irgendwo fanden sie immer doch auch noch einen gemeinsamen Nenner. »Ja. Und es kam tatsächlich so, wie wir es beide vorausgesehen haben, dunkler Bruder. Durch die Anwesenheit der Duval wurde Zamorra wieder ausgeglichen und ruhig, sein Wahnsinn schwand allmählich, sein Verstand kehrte wieder zurück. Leider konnte auch ich nicht vorhersehen, dass er durch das erneute Töten ihres Körpers in eine noch tiefere Krise rutscht. Nun haben wir beide nichts mehr von ihm. Da ich ihn aber dir entzogen habe, ist es ein Sieg für mich.« »Ist es das wirklich? Deine Schachfigur im Ringen der Mächte ist nun wohl auch für dich verloren. Nun, eines Tages werde ich dich töten, Merlin Ambrosius«, murmelte Asmodis. »Eines Tages …« ENDE des dritten Teils
Der »Desaster-Zyklus« wird fortgesetzt mit Buch 28: »Weg ins Gestern« von Volker Krämer