Angela Sommer-Bodenburg
Der kleine Vampir und der rätselhafte Sarg Bilder von Amelie Glienke
Rowohlt Taschenbuch Verl...
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Angela Sommer-Bodenburg
Der kleine Vampir und der rätselhafte Sarg Bilder von Amelie Glienke
Rowohlt Taschenbuch Verlag
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Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, September 2000 Copyright © 2000 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Neu illustrierte Fassung der im Verlag C. Bertelsmann erstmals erschienenen Ausgabe Umschlagillustration Amelie Glienke Umschlaggestaltung Barbara Hanke Rotfuchs-Comic Jan P. Schniebel Copyright © 2000 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten Satz Adobe Garamond PostScript (PageOne) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 21.136 x Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
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Dieses Buch ist für Burghardt Bodenburg, der sich die Vampirzähne ausgebissen hat und jetzt neue bekommt (vom Zahnarzt), und für alle Leserinnen und Leser, die anderen gern mal die Zähne zeigen. Angela Sommer-Bodenburg
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Die Personen dieses Buches Anton liest gern aufregende, schaurige Geschichten. Besonders liebt er Geschichten über Vampire, mit deren Lebensgewohnheiten er sich auskennt.
Antons Eltern glauben nicht recht an Vampire. Antons Vater arbeitet im Büro, seine Mutter ist Lehrerin.
Rüdiger, der kleine Vampir, ist seit mindestens 150 Jahren Vampir. Dass er so klein ist, hat einen einfachen Grund: Er ist bereits als Kind Vampir geworden. Seine Freundschaft mit Anton begann, als Anton wieder einmal allein zu Hause war. Da saß der kleine Vampir plötzlich auf der Fensterbank. Anton zitterte vor Angst, aber der kleine Vampir versicherte ihm, er habe schon «gegessen». Eigentlich hatte sich Anton Vampire viel schrecklicher vorgestellt, und nachdem ihm Rüdiger seine Vorliebe für Vampirgeschichten und seine Furcht vor der Dunkelheit gestanden hatte, fand er ihn richtig sympathisch. Von nun an wurde Antons ziemlich eintöniges Leben sehr aufregend: Der kleine Vampir brachte auch für ihn einen Umhang mit, und gemeinsam flogen sie zum Friedhof und zur Gruft Schlotterstein. Bald lernte Anton weitere Mitglieder der Vampirfamilie kennen:
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Anna ist Rüdigers Schwester – seine «kleine» Schwester, wie er gern betont. Dabei ist Anna fast so stark wie Rüdiger, nur mutiger und unerschrockener als er. Auch Anna liest gern Gruselgeschichten.
Lumpi der Starke, Rüdigers großer Bruder, ist ein sehr reizbarer Vampir. Seine mal hoch, mal tief krächzende Stimme zeigt, dass er sich in den Entwicklungsjahren befindet. Schlimm ist nur, dass er aus diesem schwierigen Zustand nie herauskommen wird, weil er in der Pubertät Vampir geworden ist.
Tante Dorothee ist der blutrünstigste Vampir von allen. Ihr nach Sonnenuntergang zu begegnen kann lebensgefährlich werden.
Die übrigen Verwandten des kleinen Vampirs lernt Anton nicht persönlich kennen. Er hat aber ihre Särge in der Gruft Schlotterstein gesehen.
Friedhofswärter Geiermeier macht Jagd auf Vampire.
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Schnuppermaul kommt aus Stuttgart und ist Friedhofsgärtner.
Jürgen Schwartenfeger ist Psychologe. Antons Mutter hofft, dass er Anton von seiner «Fixierung» auf Vampire heilt. Was sie nicht wissen kann: Herr Schwartenfeger ist selbst brennend an Vampiren interessiert, weil er ein Lernprogramm gegen besonders starke Ängste – wie die Angst der Vampire vor dem Sonnenlicht – entwickelt hat.
Igno von Rant ist der erste Patient von Herrn Schwartenfeger, der an dem Lernprogramm teilnimmt. Anton fragt sich, ob es sich bei ihm tatsächlich um einen Vampir handelt: Igno von Rant sieht zwar wie ein Vampir aus... aber er kommt vor Sonnenuntergang in die Sprechstunde...
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Bücherfledermaus «Anton, Frau Dr. Dösig ist da!» Das war die Stimme von Antons Mutter. «J-ja», brummte Anton. Schon wurde die Zimmertür geöffnet, und die Hausärztin trat ein, gefolgt von Antons Mutter. «Du hast Windpocken?», fragte sie und stellte ihren Arztkoffer neben sein Bett. «Hm, sieht so aus», sagte Anton. Mittlerweile war sein ganzer Körper von roten Flecken übersät. Einige der Flecken hatten bereits – wie im Gesundheitslexikon beschrieben – Bläschen gebildet. «Es sind tatsächlich Windpocken», bestätigte Frau Dr. Dösig, nachdem sie ihn untersucht hatte. «Das bedeutet: Du kannst so lange nicht zur Schule gehen, bis alle Bläschen ausgetrocknet und verkrustet sind.» «Und wie lange dauert das?», wollte Antons Mutter wissen. «Oh, das kann zehn Tage oder noch länger dauern», antwortete Frau Dr. Dösig. «Was, sooo lange?», rief Anton. «Das macht dir doch bestimmt nichts aus», meinte Frau Dr. Dösig augenzwinkernd. «Gemütlich zu Hause bleiben, wenn alle anderen lernen und Arbeiten schreiben müssen – davon träumt doch jeder Schüler!» «Na ja», sagte Anton gedehnt und sah zu seiner Mutter hinüber. «Es wäre nur halb so schlimm, wenn ich mich nicht so entsetzlich langweilen würde...» «Du langweilst dich?» Frau Dr. Dösig verstaute das Stethoskop, mit dem sie Anton abgehorcht hatte, wieder in ihrer Arzttasche. «Aber du liest doch so gern, denke ich.» Das war genau das Stichwort, auf das Anton gewartet hatte!
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«Das stimmt», sagte er listig. «Ich bin eine richtige – wie sagt man? – Bücherfledermaus. Aber ich bin ziemlich minderbemittelt, leider.» «Minderbemittelt?» «Ja! Meine Mutter kann nämlich meine Lieblingsbücher nicht ausstehen und würde mir nie eins kaufen.» «Sprichst du von deinen Vampirbüchern?», fragte Frau Dr. Dösig. Sie hatte auf Drängen seiner Mutter vor einiger Zeit ein Blutbild von Anton gemacht und dabei natürlich erfahren, dass er sich brennend für alles interessierte, was mit Vampiren zusammenhing. Anton nickte. «Ja. Die würde meine Mutter nicht mal mit der Kneifzange anfassen.» «Tatsächlich?» Frau Dr. Dösig schmunzelte. «Nun übertreibst du aber!», widersprach Antons Mutter. «Ich habe lediglich versucht, dich an etwas – nun – wertvollere Literatur heranzuführen.» «Aber wenn du dich wirklich so sehr langweilst», fuhr sie fort, «werde ich dir nachher, wenn ich in die Stadt gehe, auch ein Vampirbuch kaufen!» «Aber bitte ein dickes», sagte Anton und grinste zufrieden in sich hinein.
Ein windiger Bursche Und wirklich brachte ihm seine Mutter einen dicken Sammelband mit: «Die Lady mit dem Silberblick, Vampirgeschichten für Kenner» stand auf dem pechschwarzen Umschlag. In freudiger Erwartung schlug Anton das Inhaltsverzeichnis auf. Seine Freude nahm noch zu, als er entdeckte, dass er die meisten Geschichten – so unglaublich das war! – bisher noch nicht kannte. Die folgenden Stunden vergingen für Anton wie im Flug. Nachdem er die erste, ungeheuer spannende
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Geschichte mit dem Titel «Das schwarze Etwas aus der Ahnengruft» gelesen hatte, fing er gleich die zweite an: «Das schreckliche Geheimnis der Baronin von B.»; und diese Geschichte war sogar noch spannender, noch atemberaubender. Während er las, stellte ihm sein Vater Pfefferminztee und belegte Brote ans Bett, schaltete seine Mutter die Nachttischlampe ein – aber Anton war so vertieft in sein Buch, dass er kaum auf das achtete, was um ihn herum geschah. Selbst ein neuerliches Fiebermessen – das Thermometer zeigte unverändert 38,6° an – ließ er gleichmütig über sich ergehen. Als es plötzlich an sein Fenster klopfte, war Anton im ersten Moment völlig perplex. Aber dann sah er die schwarze Gestalt draußen auf dem Fenstersims und sprang aus dem Bett. Er öffnete das Fenster und blickte in das bleiche Gesicht des kleinen Vampirs. «He, sag mal, was ist denn mit dir passiert?», meinte der kleine Vampir und ließ sich wie selbstverständlich vom Fensterbrett ins Zimmer gleiten. «Verglichen mit deinen Pickeln ist Lumpis Gesicht ja zart und glatt wie ein Kinderpopo, hihi!» «Das sind keine Pickel», erwiderte Anton. «Nicht?», kicherte der Vampir. «Furunkel, was? – Oder, noch besser: Karbunkel!» «Es sind Windpocken», erklärte Anton. «Windpocken?» Der Vampir lachte heiser. «Wahrscheinlich hast du die bekommen, weil du so ein windiger Bursche bist, haha!» «Ich?», sagte Anton nur. «Willst du damit andeuten, ich sei ein windiger Bursche?», schnaubte der Vampir. «Ha, ich bin höchstens ein windschnittiger Bursche, so superschnell, wie ich fliegen kann!»
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«Von mir aus kannst du auch ein superoberwindschnittiger Bursche sein!», entgegnete Anton. «Die Flecken jedenfalls heißen aus einem völlig anderen Grund ‹Windpocken›!» «Und aus welchem?» «Windpocken heißen sie, weil sie fürchterlich ansteckend sind. Sie werden sogar durch die Luft übertragen.» Das hatte Anton von Frau Dr. Dösig erfahren. «Ich hätte dich gewarnt, aber du bist ja ohne zu fragen reingekommen.» «Ansteckend?», wiederholte der kleine Vampir. «Du glaubst, ich könnte sie auch kriegen?» «Möglich wär’s», sagte Anton. «Aber meine Schuld ist es nicht!», betonte er. «Du hättest nicht einfach so ins Zimmer kommen dürfen.» «Wer spricht denn von Schuld?», antwortete der kleine Vampir. «Verdienst wäre passender.» «Wie meinst du das?», fragte Anton misstrauisch. «Nun...» Der kleine Vampir zupfte an seinen langen, verfilzten Haarsträhnen. «Ich wäre kein bisschen böse, wenn du diese windigen Pocken auf mich übertragen würdest.» «Wieso willst du Windpocken kriegen?», fragte Anton verdutzt. Der Vampir stieß ein kehliges Lachen aus. «Kannst du dir das nicht denken?» «Nein!» «Es ist wegen Olga!» «Olga?» «Jawohl!», sagte der kleine Vampir. Wie immer, wenn es um seine geliebte Olga ging, trat ein verklärter Ausdruck in seine Augen. «Das wäre die Überraschung für sie», schwärmte er. «Und ich könnte endlich bei Lumpi mithalten!» «Wie – bei Lumpi mithalten?»
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«Ha, dann könnte Olga nicht mehr sagen, ich würde wie ein Milchbart aussehen!» «Wie ein Milchbart?» Gegen seinen Willen musste Anton lachen. Rüdiger, ein Milchbart – das war zu komisch! «Aber du trinkst doch gar keine Milch mehr», sagte er, als er sich wieder gefasst hatte. «Allerdings!», bestätigte der kleine Vampir mit Grabesstimme und blickte dabei starr auf Antons Hals. «Ich – äh», murmelte Anton, der seine leichtsinnige Bemerkung schon bereute. «Ich finde, du siehst wie ein ganz normaler kleiner Vampir aus!» «Eben!», sagte der Vampir und stieß einen tiefen Seufzer aus. «Das ist es ja gerade, was Olga an mir stört: dass ich ganz normal aussehe und dass ich so klein bin!» Er faltete seine mageren Hände und knackte mit den Fingergelenken.
Selbstbedienungsladen «Und woher weißt du das?», fragte Anton. «Was?» «Na, das mit dem Milchbart!» «Von Richard dem Nachtragenden», antwortete der Vampir. «Er war gestern Abend wieder da und hat uns Neuigkeiten aus der Vampirwelt überbracht.»
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«Neuigkeiten aus der Vampirwelt?», fragte Anton aufgeregt. «Ja!», knurrte der Vampir. «Und?», drängte Anton. «Hat er was von Olga gesagt?» «Wäre ich sonst hergekommen?», erwiderte der Vampir. Anton stutzte. «Du bist nur wegen Olga hergekommen?» «Nein, nicht nur», sagte der kleine Vampir. «Hauptsächlich bin ich wegen deines Tuschkastens gekommen!» «Und wegen deiner Wachskreiden und wegen deiner Buntstifte», fügte er hinzu. Anton schnappte nach Luft. «Tuschkasten, Buntstifte, Wachskreiden... Ich bin doch kein Selbstbedienungsladen!» «Ach, nein?», sagte der Vampir unnatürlich sanft, und wieder musterte er Antons Hals. «Nein!», erklärte Anton mit fester Stimme. «Und wozu brauchst du überhaupt die Sachen?» «Wozu?» Der kleine Vampir lachte krächzend. «Ich mache einen Intensivkurs!»
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«Einen Intensivkurs?», wiederholte Anton ungläubig. «In der Abendschule, wie?» «Ja, könnte man so sagen.» «Und worin machst du den Kurs?», fragte Anton mit einem spöttischen Unterton. «In Sargbeschriftung vielleicht?» Jetzt grinste der kleine Vampir. «Es ist ein Intensivkurs im Sonnenmalen, veranstaltet von der Abendschule ‹Fege die Schwarte›!» «Ach so –», sagte Anton. Demnach brauchte der kleine Vampir die Sachen für das Trainingsprogramm bei Herrn Schwartenfeger! «Aber wenn du die Schwarte fegen willst, wäre ein Besen doch viel nützlicher», bemerkte er. «Spar dir deine Witze», knurrte der Vampir. «Rück lieber die Stifte raus.» «Findest du nicht, dass dein Ton etwas – hm – unpassend ist?», erwiderte Anton. «Unpassend?» «Und ob! Du kommst hier rein, schnauzt mich ständig an... Das ist wohl kaum die richtige Methode, um mich dazu zu bringen, dir meine Stifte und meinen Tuschkasten zu geben!» Der kleine Vampir starrte Anton verblüfft an. Damit, dass Anton Schwierigkeiten machen würde, hatte er anscheinend nicht gerechnet. «Heißt das, du willst mich im Stich lassen?», zischte er. «Nein, heißt es nicht», entgegnete Anton. «Aber wenn du, wie du selbst sagst, nur wegen der Sachen und wegen Olga hergekommen bist, kann man ja nicht unbedingt von Freundschaft sprechen – finde ich jedenfalls!» Der Vampir kratzte sich am Kopf, offenbar um eine Antwort verlegen. «Ich soll dich wohl auf Knien anflehen, wie?», knurrte er dann.
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«Nein! Du sollst dich wie ein Freund benehmen. Und Freundschaft», ergänzte Anton, «ist immer etwas Wechselseitiges!» Er ging zu seinem Schreibtisch und kramte in den Schubladen, bis er den Tuschkasten, die Buntstifte und die Wachskreiden gefunden hatte. «Hier!», sagte er. «Ich geb sie dir – wenn du mir dafür die Neuigkeiten aus der Vampirwelt erzählst!» Der kleine Vampir griff blitzschnell nach den Sachen und ließ sie unter seinem Umhang verschwinden. «Aber gern», sagte er mit unechter Liebenswürdigkeit. «Beim nächsten Mal.» «Das ist unfair!», protestierte Anton. «Unfair? Hast du eben nicht lang und breit erklärt, Freundschaft sei etwas Wechselseitiges? Die Sachen haben jetzt ihren Besitzer gewechselt, hihi – genau, wie du es wolltest.» «Ich an Antons Stelle würde etwas ganz anderes wechseln», sagte da eine helle, leicht heisere Stimme. «Nämlich den Freund!» Der kleine Vampir, der bereits auf dem Fensterbrett stand, die Arme zum Abflug ausgebreitet, erstarrte.
Modenschau Als er sich von seiner Überraschung erholt hatte, rief er zornig in die Nacht hinaus: «He, du hast wohl schon vergessen, wie unangenehm ich werden kann, wenn man mir hinterherspioniert!»
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«Nein, hab ich nicht vergessen», sagte die Stimme, und dann landete Anna auf dem Fenstersims. «Hoffentlich!», sagte der kleine Vampir. Anna gab keine Antwort, aber sie machte ein finsteres Gesicht.
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Anton überlegte, was der kleine Vampir wohl gemeint haben könnte. Doch er verschob die Frage auf später, wenn er mit Anna allein sein würde. «Und warum bist du dann hier – wenn du nicht spionieren wolltest?», fuhr der kleine Vampir Anna an. «Warum?» Anna sah mit einem zärtlichen Lächeln zu Anton hinüber. «Weil ich mit Anton etwas zu besprechen habe.» «Besprechen?», sagte der kleine Vampir schnippisch. «Seit wann wird auf Modenschauen gesprochen?» Anna ballte die Fäuste. «Fiesling!», zischte sie. «Ich?», tat der kleine Vampir verdutzt. «Willst du Anton etwa nicht dein neues lila Kleid vorführen?» Mit diesen Worten lüpfte er Annas Umhang, sodass auch Anton den fliederfarbenen Saum sehen konnte. Anna war rot geworden. «Du bist gemein», sagte sie. «Aber warte nur!» Und bevor der kleine Vampir wusste, wie ihm geschah, hatte Anna seinen Umhang angehoben. Überrascht stellte Anton fest, dass Rüdiger einen sonnengelben Anzug unter dem Umhang trug, einen Trainingsanzug, dessen Hosenbeine in Kniehöhe abgeschnitten waren. Verwundert betrachtete er die ausgefransten Ränder – als es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. «Das ist ja mein Trainingsanzug!», rief er. «Du hast ihn abgeschnitten, ohne mich zu fragen!» Der kleine Vampir lachte verlegen. «Das musste sein», verteidigte er sich. Dann ging er zum Gegenangriff über: «Oder möchtest du vielleicht, dass mich meine Verwandten aus der Gruft rausschmeißen?» «Nein, natürlich nicht!», sagte Anton verärgert. «Aber was hat das mit meinem Trainingsanzug zu tun?»
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«Oh, sehr viel», entgegnete der kleine Vampir. «Außerdem willst du bestimmt nicht, dass meine liebe Tante Dorothee aus deinem Anzug Putzlappen macht, oder?» «Putzlappen?» «Und ob! Wenn Tante Dorothee mitbekommt, dass ich einen Anzug in einer völlig unvampirischen Farbe trage, dann zerschneidet sie ihn – ritsche-ratsche – zu lauter kleinen Putztüchern, darauf kannst du Gift nehmen.» Anton merkte, wie ihn ohnmächtige Wut ergriff. «Davon, dass man mit fremdem Eigentum pfleglich umgehen muss, hast du wohl noch nie etwas gehört!», rief er mit rauer Stimme. «Wie bitte?», sagte der kleine Vampir in gespielter Entrüstung. «Würde ich sonst deinen Anzug so gewissenhaft vor den Augen meiner lieben Anverwandten verstecken?» «Ha, du hättest ihn überhaupt nicht in der Gruft anziehen dürfen!», erwiderte Anton erregt. «Du hättest ihn bei Herrn Schwartenfeger lassen müssen!» «Ach, wirklich?» Der Vampir knackte amüsiert mit seinen spitzen Zähnen. «Bevor du hier große Töne spuckst, solltest du dich lieber an das erinnern, was ich dir bereits vor einer Viertelstunde gesagt habe!» «Und woran soll ich mich da, bitte schön, erinnern?», knurrte Anton. Der kleine Vampir grinste. «Daran, dass ich zurzeit einen Intensivkurs mache. Und zu diesem Intensivkurs gehört, dass ich Tag und Nacht etwas Gelbes direkt auf der Haut trage!» «Zum Essen komme ich übrigens auch kaum noch», ergänzte er mit einem Blick auf Antons Hals. «Armer Rüdiger», meinte Anna. «Und das alles nur für Olga!» Der kleine Vampir lächelte geschmeichelt; trotz des spöttischen Untertons in Annas Stimme. «Ja, alles nur für Olga», bestätigte er.
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Dann sagte er leise und drohend: «Übrigens, an deiner Stelle wäre ich etwas zurückhaltender mit meinen Bemerkungen. Denk an das Kleiderlager!» «Ekel!», fauchte Anna. Anton fragte sich, von welchem «Kleiderlager» der kleine Vampir da gesprochen hatte. Es schien etwas zu sein, mit dem er Anna unter Druck setzen konnte... «So, und jetzt muss ich fliegen», erklärte der Vampir. «Sonnen malen, Dias gucken, entspannen... Ich weiß kaum noch, wo mir der Kopf steht.» «Ja, den Eindruck habe ich auch!», sagte Anna – aber so leise, dass es der kleine Vampir, der mit ein paar kräftigen Armstößen zum Fenster hinausgeflogen war, bestimmt nicht gehört hatte.
Der Nachtwind, still und leise «Mittlerweile wäre ich sogar froh, wenn Olga bald käme!», sagte sie grimmig zu Anton. Er sah sie einigermaßen fassungslos an. «Froh?» «Ja! Dann könnte Rüdiger wenigstens nicht mehr seine Loblieder auf Olga singen. Er würde sie so erleben, wie sie wirklich ist, mit all ihren Schwächen und Fehlern. Im Moment könnte man glauben, Olga wäre Gräfin Hulda persönlich.» «Gräfin Hulda?» «Ja, die Tante von Graf Dracula. Man sagt, sie wäre die Schönheit und die Sanftmut selbst gewesen.» «Gewesen?», fragte Anton. «Sie weilt nicht mehr unter uns, bedauerlicherweise.» Anna fuhr sich mit der Hand über die Augen und gab ein leises, kummervolles Schniefen von sich. «Aber Olga», fuhr sie gleich darauf mit erhobener Stimme fort, «hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit Gräfin Hulda, auch wenn sie im Nachbarschloss aufgewachsen ist!»
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«Ihr wisst immer noch nicht genau, wann sie kommt?», erkundigte Anton sich vorsichtig. «Rüdiger sagt, in dreizehn Tagen. Das hat er so im Gefühl, behauptet er.» «Ist er heute Abend wieder bei Herrn Schwartenfeger?», fragte Anton. «Garantiert. Er macht doch seinen Intensivkurs!» Anna lachte spöttisch auf. «Ich habe zwar versucht, in Ruhe mit ihm über alles zu reden – dass er nochmal über das Programm von Herrn Schwartenfeger nachdenken und nichts überstürzen soll. Und weißt du, was er mir geantwortet hat?» «Nein, was?» «Dass ich mir an die eigene Nase fassen soll! Ich wäre die Letzte, die ihm Ratschläge zu erteilen hätte. Immerhin würde ich im Schrank eines Menschen Kleider verstecken. Und wenn ich weiter schlecht über Olga sprechen würde, dann müsste er mein Kleiderlager im Familienrat melden.» «Ganz schön fies!», sagte Anton. Jetzt war ihm auch klar, welches «Kleiderlager» der kleine Vampir gemeint hatte: seinen, Antons, Schrank! Voller Unbehagen dachte er daran, dass eine Meldung im Familienrat äußerst unangenehme Folgen für ihn haben könnte: einen Besuch von Tante Dorothee zum Beispiel... «Ja, zum Sargerweichen!» Anna schüttelte ihre kleinen Fäuste. «Aber nun sollten wir von etwas anderem sprechen», sagte sie und fügte mit veränderter, zärtlicher Stimme hinzu: «Allmählich musst du ja glauben, du wärst mir vollkommen gleichgültig geworden!» «Wie kommst du darauf?» «Na ja –» Anna lächelte verschämt. «Die roten Flecken in deinem Gesicht – ich hätte dich schon längst danach gefragt. Aber ich wollte es nicht, wegen Rüdiger. Der hätte nur blöde Witze gerissen.»
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Sie trat auf Anton zu. «Tun die weh?» «Nein.» Anton wich einen Schritt zurück. «Aber die sind sehr ansteckend.» «Ansteckend? Du meinst, ich könnte sie auch bekommen?» «Das weiß ich nicht. Rüdiger hat gesagt: Er hofft, dass er sie kriegt – wegen Olga, um größer und erwachsener zu wirken.» Ein Schatten huschte über Annas Gesicht. «Rüdiger? Wenn du jemanden mit deinen Flecken ansteckst, dann möchte ich das sein, ich ganz allein!» «Hm – ich glaube nicht, dass das möglich wäre. Entweder ihr bekommt beide Windpocken oder gar keiner.» «Windpocken? Heißen sie so?» Anton nickte. «Süß!» Anna klatschte in die Hände. «Der Nachtwind, still und leise, schickt Pocken auf die Reise», reimte sie. «Psst!», flüsterte Anton. «Sonst denken meine Eltern noch, ich würde im Fieberwahn phantasieren.» «Du hast Fieber?», fragte Anna betroffen. «Ja.» «Und warum bist du nicht im Bett?» Sie schaute ihn aus großen Augen an. «Wenn man Besuch hat...» «Meinetwegen brauchst du nicht im Zimmer herumzulaufen», sagte sie. «Ganz im Gegenteil!» Anton merkte, wie er rote Ohren bekam. «Was wolltest du eigentlich mit mir besprechen?», fragte er rasch, mit belegter Stimme. «Als Erstes solltest du mein neues Kleid sehen», antwortete sie. «Ja, und dann wollte ich dir erzählen, was ich über Onkel Ignos Nachtblindheit herausgefunden habe.»
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«Über seine Nachtblindheit?» Antons Herzschlag beschleunigte sich. «Willst du mir das nicht zuerst sagen?» Anna machte einen Schmollmund. «Mein neues Kleid ist dir wohl ganz egal.» «Nein, natürlich nicht», versicherte Anton. «Es ist nur, weil – » Er hustete. «Ich bin eben sehr neugierig. Und wenn du mir zuerst von Igno von Rant erzählst, kann ich mich hinterher viel besser auf dein Kleid konzentrieren.» Das schien Anna überzeugt zu haben. «Gut.» Sie lief zu Antons Bett und machte es sich am Fußende bequem. «Komm, Anton!», rief sie und winkte ihm einladend zu. Anton nahm seinen Schreibtischstuhl, stellte ihn vor das Bett und setzte sich rittlings darauf. «Ja, und was hast du herausgefunden?», fragte er, als Anna ihn nur stumm, mit einem innigen Lächeln anschaute. «Was ich herausgefunden habe?» Sie kicherte. «Dass du mein Lieblingsmensch auf der ganzen, weiten Welt bist!» Verlegen wandte Anton den Blick ab. Er musterte seine nackten, von unzähligen Windpocken übersäten Füße. Bestimmt war sein Gesicht jetzt genauso rot wie die Pünktchen!, dachte er.
Nicht die ganze Wahrheit «Ja, und weil du mein Lieblingsmensch bist, werde ich dir nun erzählen, was ich über Onkel Ignos Nachtblindheit erfahren habe», hörte er Anna sagen. Sie holte noch einmal tief Luft. Anton sah sie erwartungsvoll an. «Also –», begann Anna. «Gestern Abend bin ich zu Tante Dorothee gegangen und habe ihr gesagt, ich müsste möglichst viel über Onkel Ignos Nachtblindheit wissen, damit ich bei der
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nächsten Sitzung des Familienrats am Montag ein gutes Wort für ihn einlegen könnte.» «Was, heute tagt der Familienrat?» «Nein, heute in einer Woche. Daraufhin hat Tante Dorothee mir anvertraut, Onkel Igno sei schon immer schwach auf den Augen gewesen. Das läge in der Familie von Rant – eine gewisse Sippenblindheit oder so ähnlich. Außerdem würde er viel lesen. Er hätte schon als Kind nächtelang nur gelesen, mit der Taschenlampe unter der Sargdecke.» «Habt ihr auch über Herrn Schwartenfeger gesprochen?», fragte Anton. «Über Herrn Schwartenfeger? Nein! Warum sollten wir?» «Aber mein Verdacht war doch, dass Igno von Rant seine Nachtblindheit durch den Lichtapparat von Herrn Schwartenfeger bekommen haben könnte!» «Du mit deinem Schwartenfeger», sagte Anna belustigt. «Mit meinem? Mit eurem!», entgegnete Anton. «Immerhin macht Rüdiger das Trainingsprogramm bei Herrn Schwartenfeger! Ich bin nur besorgt – euretwegen!» «Nur besorgt?» Anna kräuselte ihre Lippen und kicherte. «Tss, tss. Eifersüchtig bist du!» «Eifersüchtig? Etwa auf Herrn Schwartenfeger? Oder auf seinen Lichtapparat?» «Nein. Auf Onkel Igno, weil er mir schöne Kleider schenkt und weil er sich mit mir anfreunden möchte. Aber in deiner Eifersucht witterst du eben in allem Verrat.» «Allerdings!», bestätigte Anton mit finsterer Miene. «Was deinen Onkel Igno betrifft, wittere ich tatsächlich Verrat.» «Keine Sorge», antwortete Anna sehr sanft. «Ich werde dir nie untreu werden, selbst wenn Onkel Igno mir eine ganze Kleiderfabrik schenkt!» Das war das Stichwort für sie: Mit einer schnellen Bewegung streifte sie ihren Vampirumhang über den Kopf.
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Nun sah auch Anton das neue Kleid. Es war zartlila, und es saß wie angegossen. «Magst du das Kleid?», fragte Anna mit einem verschämten Lächeln. Anton nickte. «Ja», meinte er, und das war nicht einmal gelogen. Das Kleid gefiel ihm durchaus – wenngleich nicht für Anna. Zu ihr passten, seiner Meinung nach, der alte löchrige Umhang und die Wollstrumpfhosen viel besser. Anna schien zu spüren, dass Anton nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. «Und wie findest du mich darin?», fragte sie. «Dich?» Er überlegte, was er ihr sagen sollte – da näherten sich Schritte. «Das ist bestimmt meine Mutter!», flüsterte Anton erschrocken. «Deine Mutter?» Im Handumdrehen hatte Anna ihren Umhang übergezogen und war aufs Fensterbrett geklettert. «Bis bald, Anton!», sagte sie, dann breitete sie ihre Arme aus und flog davon. Anton lief zum Fenster und schloss es hastig – gerade noch rechtzeitig, bevor seine Mutter eintrat. «Was, du liegst nicht im Bett?», rief sie.
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«Nein, ich –» Anton ging zum Bett zurück und schlüpfte unter die Decke. «Ich wollte meinen Blutkreislauf in Schwung bringen», erklärte er – in Erinnerung an Tante Dorothees Worte am Wasserturm. «Deinen Blutkreislauf?», sagte seine Mutter spitz. «Wenn’s dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis tanzen, wie?» «Esel, welcher Esel?», tat Anton unwissend. «Aber mit dem Wohlfühlen, das stimmt. Ich glaube, ich habe schon fast kein Fieber mehr.» Er zeigte auf das dicke schwarze Buch neben seinem Bett. «Das liegt an den tollen Geschichten. Vampire wirken bei mir wie Medizin!» Seine Mutter verzog ihre Lippen zu einem zweifelnden Lächeln.
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«Warten wir ab, was morgen früh das Fieberthermometer anzeigt», entgegnete sie. «So, und jetzt machst du endgültig dein Licht aus!» «Das hatte ich sowieso vor», antwortete er und drückte auf den Schalter der Nachttischlampe. Im Dunkeln konnte er viel besser an Anna und den kleinen Vampir denken! Doch viel wurde daraus nicht: Kaum hatten sich die Schritte seiner Mutter entfernt, war Anton eingeschlafen.
Zeit zum Nachdenken Am nächsten Morgen hatte Anton umso mehr Zeit zum Nachdenken – und auch einen kühleren Kopf; denn seine Temperatur war auf 37,8° gesunken. Während er, gestützt von ein paar dicken Sofakissen, im Bett saß, versuchte er sich möglichst genau an alles zu erinnern, worüber er mit Anna und Rüdiger gestern Abend gesprochen hatte. Da war zunächst einmal die Sache mit dem Intensivkurs gewesen, für den der kleine Vampir – Anton knirschte wütend mit den Zähnen – seinen, Antons, Trainingsanzug zerschnitten hatte. Und später, nachdem der kleine Vampir mit Antons Tuschkasten, den Wachskreiden und den Buntstiften davongeflogen war, hatte Anna ihm berichtet, was sie über Igno von Rant herausgefunden hatte. Obwohl... herausgefunden war reichlich übertrieben!, dachte Anton jetzt. Anna war lediglich zu Tante Dorothee gegangen und hatte sie ausgefragt. Und mit dem, was Tante Dorothee ihr erzählt hatte, war Anna seiner Meinung nach viel zu rasch zufrieden gewesen.
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Dass Igno von Rants Nachtblindheit in der Familie läge, eine «gewisse Sippenblindheit», wie Anna gesagt hatte... Musste man diese Aussage nicht erst einmal in Zweifel ziehen? Und was war mit Annas Bemerkung, Igno von Rant hätte bereits als Kind viel gelesen? «Schon als Kind hat er nächtelang nur gelesen, mit der Taschenlampe unter der Sargdecke...» Ja, so ungefähr waren Annas Worte gewesen. Dieser Satz war Anton bereits gestern Nacht eigenartig vorgekommen. Und nun, im hellen Licht des Tages, fand er ihn noch viel eigenartiger. Er trank eine Tasse von dem Früchtetee, den ihm seine Mutter ans Bett gestellt hatte, und bemühte sich, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Demnach musste Igno von Rant als Kind Vampir geworden sein, genau wie Rüdiger und Anna von Schlotterstein. Doch nicht diese Tatsache war es, die Anton überraschte und verwirrte. Nein, es war der Umstand, dass Igno von Rant kein Kind geblieben war, sondern sich zu einem erwachsenen Vampir entwickelt hatte. Und hatte nicht der kleine Vampir bei ihrer allerersten Begegnung auf Antons Frage, weshalb er so klein sei, geantwortet: «Ich bin eben als Kind gestorben.»? Und musste nicht auch Lumpi bis an sein «Lebens»-Ende in der Pubertät bleiben, weil er in den Entwicklungsjahren Vampir geworden war? Anna war – seines Wissens – von den drei Vampirkindern die Einzige, bei der sich noch etwas entwickeln konnte: und zwar ihre Vampirzähne! Anton trank eine zweite Tasse Tee. Er musste jetzt in langsamen Schritten denken, durfte nichts übersehen, keine voreiligen Schlüsse ziehen.
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Die erste Möglichkeit bestand darin, dass Igno von Rant in Wirklichkeit doch erst als Erwachsener Vampir geworden war. Dann hätte er sich vor Tante Dorothee nur wichtig machen wollen, indem er behauptete, er habe schon als Kind mit der Taschenlampe unter der Sargdecke gelesen. Und dass Igno von Rant ein Meister im Aufschneiden und Einschmeicheln war, hatte er im Fall von Anna bewiesen: Mit seinen Kleidergeschenken war es ihm gelungen, sich bei Anna derart beliebt zu machen, dass sie ihn sogar «Onkel Igno» nannte! Die zweite Möglichkeit aber – hier stockte Antons Herzschlag sekundenlang – war, dass es sich bei Igno von Rant doch nicht um einen richtigen Vampir handelte... An diesem Punkt seiner Überlegungen goss Anton sich zum dritten Mal Tee ein. Teetrinken sei gut gegen Fieber und Windpocken, hatte seine Mutter gesagt, und außerdem wirke es beruhigend auf seine Nerven. Und tatsächlich, nachdem Anton auch die dritte Tasse Tee getrunken hatte, fand er seinen Gedanken, Igno von Rant könnte vielleicht doch kein richtiger Vampir sein, eher lächerlich. Falls Igno von Rant ein Mensch gewesen wäre, dann hätte Tante Dorothee das garantiert als Erste gemerkt! Immerhin war sie der gefährlichste Vampir in der Familie von Schlotterstein. Und trotzdem – Igno von Rants Aussage, er habe «schon als Kind nächtelang nur gelesen, mit der Taschenlampe unter der Sargdecke», hatte Anton in eine merkwürdige Unruhe versetzt. Es kam ihm so vor, als hätte sich der Schleier des Geheimnisses, der Igno von Rant umgab, bereits ein wenig gelüftet... In diesen Augenblick begannen die Bläschen an seinem Kinn furchtbar zu jucken – wie um Anton in die raue Wirklichkeit zurückzurufen.
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Wütend schlug er mit der Faust auf die Bettdecke. Wenn er bloß nicht diese grässlichen Windpocken bekommen hätte! Dann wäre er schon gestern Nachmittag mit seinem Rad zum Wasserturm gefahren und hätte versucht, die Villa Reinblick wieder zu finden, in der Igno von Rant – das wusste Anton seit Samstagnacht – seinen Unterschlupf hatte. Und dort, in der Villa Reinblick, würde sich nach Antons Überzeugung der Schleier des Geheimnisses vollständig lüften! Aber mit seinen Hunderten – oder waren es Tausende? – von Windpocken konnte Anton nur eins tun: sich bemühen, so schnell wie möglich gesund zu werden!
Ein Fachmann für Bäume Von nun an war Anton ein geradezu vorbildlicher Patient. Er schlief viel, las wenig und trank seinen Tee. Selbst dem heftigsten Juckreiz gab er nicht nach. Anstatt sich zu kratzen, streute er nur etwas von dem Puder, den ihm Frau Dr. Dösig verschrieben hatte, auf die juckenden Stellen. Am Donnerstag, seinem zweiten fieberfreien Tag, durfte Anton aufstehen und sich anziehen. Ja, seine Mutter schlug ihm sogar vor, im Wohnzimmer fernzusehen. Doch Anton machte von diesem ungewohnt großzügigen Angebot keinen Gebrauch; zum einen, weil das Vormittagsprogramm ohnehin nicht nach seinem Geschmack war, zum anderen, weil er etwas viel Wichtigeres vorhatte: Im Wohnzimmer nahm er sich den Stadtplan und breitete ihn auf dem Fußboden aus. Es dauerte eine Weile, bis Anton in dem Gewirr von Straßen und Plätzen den Wasserturm gefunden hatte. Nachdenklich umfuhr er mit dem Zeigefinger den roten, stecknadelkopfgroßen Kreis auf der Karte, unter dem in winzigen Buchstaben «Wasserturm» stand.
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Vor dem Turm hatten am Samstagabend Tante Dorothee und Igno von Rant gesessen, und von dort waren sie zu Ignos Unterschlupfaufgebrochen, begleitet von Anna. Sie hatten das Wäldchen in Richtung Norden durchquert und waren in eine der angrenzenden Straßen eingebogen. Aber in welche? Mit gerunzelter Stirn blickte Anton auf den Stadtplan. Drei Straßen kamen infrage: die «Kastanienallee», die «Birkenstraße» und der «Pappelweg». Er kniff die Augen zusammen und überlegte. Stellten die Namen möglicherweise einen Hinweis dar? Ja! Auf einmal erinnerte Anton sich, dass die Straße, in der die Villa Reinblick lag, von mächtigen Bäumen gesäumt gewesen war, Bäumen mit dicken, knorrigen Stämmen und ausladenden Kronen. Ein ähnlicher Baum stand auch vor seinem Haus, und von dem wusste Anton, dass es ein Kastanienbaum war. Birken dagegen – das hatte er im Biologieunterricht gelernt – besaßen einen auffallend schlanken weißen Stamm, und Pappeln waren ebenfalls hohe, schmale Bäume. Anton verzog den Mund zu einem beifälligen Grinsen: Es sah so aus, als wäre er ein richtiger Fachmann für Bäume! Und nicht nur für Bäume... Mit einem gewissen Stolz dachte er daran, dass er ganz allein herausbekommen hatte, in welcher Straße die Villa Reinblick lag: in der Kastanienallee! Zum Schluss notierte sich Anton auf einem Zettel die Straßen, durch die er fahren musste, um zur Kastanienallee zu gelangen. Es wurde eine ziemlich lange Liste, und mit jedem Straßennamen, den er schrieb, wuchs Antons Ungeduld. Am liebsten hätte er sich gleich jetzt auf sein Fahrrad geschwungen! Aber das wäre nicht sehr klug gewesen – schon wegen der neugierigen, geschwätzigen Nachbarn im Haus, allen voran Frau Miesmann.
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Nein, er würde seine Mutter fragen, ob er morgen, am Freitag, ein bisschen in der Gegend herumfahren durfte! Wie Anton erwartet hatte, machte seine Mutter ein abweisendes Gesicht. «Du willst Fahrrad fahren?», sagte sie und musterte ihn von Kopf bis Fuß. «Na ja – ich möchte meine Kondition verbessern. Ich bin schon richtig schlapp geworden in den letzten Tagen.» «Kondition» war ein neuer, viel gebrauchter Lieblingsausdruck seiner Eltern. Prompt hellte sich die Miene seiner Mutter auf, wie Anton zufrieden feststellte. «Hm, eigentlich hast du Recht», meinte sie nach kurzem Überlegen. «Die frische Luft wird dir gut tun.» «Und etwas Bewegung auch», ergänzte Anton keck. Dem konnte seine Mutter natürlich nur zustimmen. Allerdings musste er versprechen, sich nicht zu überanstrengen und nicht zu dicht an andere Kinder heranzugehen. «Du weißt, dass Windpocken mindestens eine Woche lang ansteckend sind!», schärfte seine Mutter ihm ein. Anton nickte. «Keine Sorge, ich werde niemandem zu nahe treten», versicherte er – und fügte in Gedanken hinzu: außer Igno von Rant!
Feuchte Hände Am nächsten Morgen holte Anton um kurz nach neun sein Fahrrad aus dem Keller. Als er es die Treppen hochtrug, merkte er an seinen zittrigen Beinen, dass seine «Kondition» tatsächlich zu wünschen übrig ließ. Er würde langsam fahren und Pausen einlegen müssen. Aber Anton hatte vorgesorgt: mit zwei Trinktüten, einem Käsebrot und einer halben Tafel Schokolade, die – versteckt vor Frau
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Miesmanns Späherblicken – unter seinem Pullover auf dem Gepäckträger festgeklemmt waren. Und genügend Zeit hatte Anton auch. Seine Mutter würde nicht vor zwei Uhr aus der Schule zurückkommen, und bis zur Kastanienallee waren es nach Antons Berechnungen ungefähr dreißig Minuten Fahrzeit. Doch es verging mehr als eine Stunde, bis Anton endlich das Wäldchen erreicht hatte. Er sah hinüber zu dem aus roten Backsteinen gebauten Wasserturm, der inmitten des Wäldchens auf einem Hügel stand. Der Turm war schon alt, aber unheimlich oder gespenstisch wirkte er nicht; ganz anders als die Villa Reinblick! Anton spürte, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief. Er fuhr jetzt durch eine Straße, die «Am Wasserturm» hieß. Linker Hand war eine Tannenschonung, rechts standen vereinzelt Häuser. Eine gottverlassene Gegend!, dachte er und warf einen raschen Blick auf seinen Zettel. Gleich müsste die Straße eine Biegung nach rechts machen. Und hinter der Biegung würde dann links die Kastanienallee beginnen. Anton spürte, wie seine Hände, die den Lenker umschlossen, feucht wurden. Aber es gab überhaupt keinen Grund zur Panik!, sprach er sich selbst Mut zu. Er hatte schon weitaus Schlimmeres überlebt, im wahrsten Sinne des Wortes – das grässliche Kegeln mit Lumpi zum Beispiel, damals auf der durchlöcherten Kegelbahn im Jammertal. In jener Nacht hatte Anton wirklich um sein Leben gefürchtet!
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Was sollte ihm, gemessen daran, heute Morgen – im hellen Sonnenlicht – schon passieren? Allenfalls könnte ihm in der Villa Reinblick ein Brett auf den Kopf fallen, er könnte auf der Kellertreppe ausrutschen, er könnte sich den Fuß verstauchen...
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Aber selbst auf solche Gefahren war Anton dadurch vorbereitet, dass er sich zur Erkundung der baufälligen Villa die neue Taschenlampe seines Vaters «ausgeliehen» hatte. Ihr starker Lichtstrahl würde auch noch die finstersten Ecken und Winkel des Kellers ausleuchten! Und trotzdem... sosehr Anton sich selbst einzureden versuchte, ihm könne nichts geschehen – die Angst saß ihm im Nacken und verließ ihn nicht mehr. Als er in die Kastanienallee einbog, war ihm so seltsam zumute, dass er anhalten und absteigen musste. Langsam schob er sein Rad den Gehweg entlang. Die Kastanienallee war früher bestimmt eine «feine Adresse» gewesen, darauf deuteten die Fassaden der Häuser hin: Antons Blick fiel auf hohe Fenster, breite geschwungene Treppen, ja, manche Häuser hatten sogar Säulen neben der Eingangstür. Aber die Spuren des Verfalls waren unübersehbar: Überall bröckelte der Putz, war die Farbe von den Fensterrahmen abgeplatzt, wirkten die Gärten ungepflegt. Der Eindruck, durch eine sterbende Straße zu gehen, verstärkte sich noch, je weiter Anton kam. Ob hier «Miethaie» am Werk waren?, überlegte er. Anton hatte seine Eltern schon des Öfteren über diese üble Sorte von Geschäftemachern sprechen hören. Miethaie kauften alte Häuser auf und ließen sie so lange leer stehen, bis sie unbewohnbar geworden waren und abgerissen werden durften. An derselben Stelle bauten sie dann Hochhäuser, mit deren Vermietung sie viel mehr Geld verdienen konnten. Wenn Antons Vermutung zutraf – und allem Anschein nach stand tatsächlich jedes zweite Haus in der Kastanienallee leer –, war dies genau die richtige Umgebung für einen Vampir! Sicherlich vergingen Jahre, bis ein Haus abgerissen werden durfte, und in diesen Jahren hatte der Vampir eine ziemlich störungsfreie Unterkunft.
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Geradezu ideal wurde es für einen Vampir dann, wenn der Miethai die Fenster und Türen zusätzlich mit Brettern vernageln ließ – so wie in der Villa Reinblick! Aufs Neue überlief Anton ein kalter Schauder. Aber wo war sie eigentlich, die Villa Reinblick? Noch immer hatte er sie nicht entdeckt, und jetzt wurde die Kastanienallee von einer zweiten Straße gekreuzt, dem «Erlenweg». Anton blieb stehen. Eigenartig... Am Samstag, als er Tante Dorothee, Igno von Rant und Anna bis zur Villa Reinblick gefolgt war, hatten sie den Erlenweg nicht überquert! Konnte es sein, dass die Villa Reinblick gar nicht in der Kastanienallee stand? Unsicher geworden, schob Anton sein Rad bis zum Erlenweg. Und dort bestätigte sich sein Verdacht: Die Kastanienallee endete hier, und die Straße, die sich anschloss, hieß «Zum Sportplatz». Anton war wie vor den Kopf geschlagen. Felsenfest hatte er sich darauf verlassen, dass er die Villa Reinblick in der Kastanienallee finden würde! Als Anton den ersten Schreck überwunden hatte, versuchte er sich noch einmal die Samstagnacht ins Gedächtnis zurückzurufen. Möglicherweise, dachte er, war er in jener Nacht aus einer ganz anderen Richtung gekommen... Und das bedeutete: Die Villa Reinblick könnte auch in der Verlängerung der Kastanienallee stehen, in der Straße «Zum Sportplatz»! Anton atmete auf. Demnach war er doch nicht völlig in die Irre gegangen! Er überquerte den Erlenweg, und mit Herzklopfen setzte er seinen Weg fort.
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Frisch gewagt Auch in der Straße «Zum Sportplatz» schienen die meisten Häuser leer zu stehen. Unheimlich fand Anton, dass ihm niemand begegnete, keine Kinder, keine alten Leute – wie ausgestorben war die Gegend. Auf einmal stockte Anton das Blut in den Adern; denn als vorletztes Haus auf der rechten Straßenseite erblickte er eine düstere Villa, deren Eingangstür und Fenster im Erdgeschoss mit dicken Brettern vernagelt waren. Anton zweifelte keine Sekunde daran, dass dies die Villa Reinblick war, obwohl er sie erst einmal – und nur bei Nacht – gesehen hatte. Alles war so wie in seiner Erinnerung: die schwarzen Mauern, der eingestürzte Schornstein. Sogar die Tafel an der Hauswand entdeckte Anton, wenngleich er die Inschrift aus dieser Entfernung nicht lesen konnte. Aber er wusste sie ohnehin auswendig: «Rein das Herz und klar der Blick, frisch gewagt, dann winkt das Glück –», sprach er leise vor sich hin, während er auf den schmiedeeisernen Gartenzaun mit den rostigen Spitzen zuging. Er spürte, wie ihn ein leises Grauen beschlich, als er der finsteren Villa Reinblick sozusagen Auge in Auge gegenüberstand. Und Auge in Auge war gar nicht so verkehrt: Anton hatte das Gefühl, als würde die Villa ihn beobachten – aus den schwarzen Fensterhöhlen im ersten Stock heraus schien sie ihn böse und feindselig anzustarren... Aber nein, das war Unsinn! Anton schüttelte sich, um diesen Gedanken wieder loszuwerden. Auf keinen Fall durfte er sich selbst verrückt machen!
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Wenn er es am Samstag fertig gebracht hatte, nachts das Grundstück zu betreten und bis zum Hauseingang zu gehen – wohl wissend, dass sich Tante Dorothee, Igno von Rant und Anna in der Villa aufhielten –, dann war seine plötzliche Zaghaftigkeit jetzt, bei strahlendem Sonnenschein, ziemlich albern! Er sah zu den Nachbarhäusern hinüber. Sein Eindruck in der Samstagnacht war richtig gewesen: Beide Häuser standen leer. Und nicht nur das: Die Straße «Zum Sportplatz» war eine Sackgasse, wie er nun erkannte; sie endete an einem hohen Drahtzaun, hinter dem vermutlich der Sportplatz lag. Kein schlechter Unterschlupf, den Igno von Rant sich da ausgesucht hatte!, dachte Anton. Fast noch besser als ein Friedhof; denn hier gab es noch nicht mal einen Friedhofswärter, der nachts herumspionierte. Hier gab es nur einen, der spionierte: ihn, Anton! Das war einerseits beruhigend, konnte Anton doch ziemlich sicher sein, dass er nicht von irgendwelchen neugierigen Nachbarn überrascht werden würde. Andererseits würde ihm auch niemand zu Hilfe eilen... Doch diesen Gedanken, er könnte Hilfe brauchen, verscheuchte Anton rasch wieder. Jetzt kam es darauf an, ruhig zu bleiben und einen klaren Kopf zu bewahren! Er lehnte sein Fahrrad gegen die Straßenlaterne vor der Villa Reinblick und stieg vorsichtig über den Zaun mit seinen gefährlich aufragenden Spitzen. Dann ging er durch das hohe Gras auf den Hauseingang zu. Das unbehagliche Gefühl, das er dabei empfand, verstärkte sich mit jedem Schritt, aber Anton biss die Zähne zusammen. Vor dem Eingang hielt er inne und warf einen Blick auf die dicken Bretter und das massive Türschloss. Nein, durch die Haustür konnte niemand die Villa betreten; es sei denn, er hätte den passenden Schlüssel!
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Anton wandte sich nach links. Dort führte ein überwucherter Plattenweg um die Villa herum – an einem nur unvollständig vernagelten Kellerfenster vorbei. In der Samstagnacht hatte Anton durch dieses Kellerfenster ein Gespräch zwischen Igno von Rant, Tante Dorothee und Anna belauscht. Später hatte er den Lichtschein von Igno von Rants Taschenlampe gesehen und gehört, wie Tante Dorothee ankündigte, sie wolle «sicherheitshalber noch einen kurzen Blick nach draußen werfen». Daraufhin hatte es hinter den Brettern des Kellerfensters zu rumoren begonnen, und Anton war Hals über Kopf geflüchtet. Er vermutete nun, dass die Vampire dieses Kellerfenster als Einstieg benutzten. Mit sehr gemischten Gefühlen betrachtete er das Fenster, das in einem Lichtschacht lag und bei dem einige Bretter fehlten. Der Gedanke, durch dieses Fenster zu klettern, ja vielleicht sogar zu rutschen, war nicht gerade verlockend!, fand Anton. In der Hoffnung, vielleicht an der Rückfront der Villa Reinblick eine Tür zu finden, die sich öffnen lassen würde, ging er auf dem Plattenweg weiter. Doch Antons Hoffnung erfüllte sich nicht. Er kam wohl an eine brüchige Kellertreppe, aber das Schloss, mit dem die Kellertür gesichert war, wirkte fast noch stabiler als das an der Haustür. Und die Fenster zum Garten waren mit Brettern vernagelt. Auf dem Weg um die Villa herum sah Anton noch zwei Kellerfenster, aber vor beiden waren starke Eisengitter angebracht. Demnach schien das Kellerfenster auf der linken Seite – das mit den fehlenden Brettern – der einzige Zugang zur Villa zu sein!
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Anton hatte plötzlich einen ganz trockenen Hals, und der Wunsch, umzukehren und nach Hause zurückzufahren, wurde beinahe übermächtig. Aber nein! «Rein das Herz und klar der Blick, frisch gewagt, dann winkt das Glück!», ermutigte Anton sich selbst. Er sah noch einmal zur Straße. Als er nichts Verdächtiges entdeckte, kletterte er in den Lichtschacht hinein.
Todesmutig Der Lichtschacht war nicht besonders tief; bis zu den Hüften verschwand Anton darin. Er schaltete seine Taschenlampe ein, und vorsorglich richtete er ihren Strahl zuerst auf den Untergrund. Lose Steine, Holzstücke, Glas- und Tonscherben bedeckten den Boden. Etwas Ungewöhnliches war nicht dabei – kein schwarzer Stoffzipfel von einem Vampirumhang, wie Anton halbwegs erwartet hatte. Aber dann – ihm sträubten sich die Haare – erblickte er eine pechschwarze Spinne, die größte und fetteste, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Im ersten Augenblick war Anton versucht, fluchtartig den Schacht zu verlassen. Aber er zwang sich, stehen zu bleiben – und zu seiner Erleichterung lief die Spinne auf ihren mindestens fünf Zentimeter langen behaarten Beinen in eine Ecke und verkroch sich dort zwischen den Steinen. Brrr! Auch wenn Anton ein Tierfreund war und vor Spinnen im Allgemeinen keine Angst hatte... dieses schwarze Ungeheuer wäre um ein Haar zu viel für seine ohnehin schon angegriffenen Nerven gewesen! Er bückte sich, um den Einstieg zum Keller zu untersuchen. Die fehlenden Bretter hatte Igno von Rant wahrscheinlich eigenhändig herausgebrochen. Anton würde ganz bequem hindurchschlüpfen können.
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Nur... wie tief mochte es auf der anderen Seite sein? Bevor Anton sich daranmachte, das zu erkunden, blickte er noch einmal argwöhnisch zu der Ecke hinüber, in der die Spinne verschwunden war. Als sie – Dracula sei Dank! – unsichtbar blieb, leuchtete er mit seiner Taschenlampe in den Keller hinein. Unter ihm lag ein Raum, der bis auf eine alte Kiste an der Fensterwand – vermutlich hatte Igno von Rant sie dorthin geschoben – vollständig leer war. Die Wände und der Boden starrten vor Schmutz, so als wäre dies früher einmal ein Kohlenkeller gewesen. Im Lichtkegel seiner Taschenlampe konnte Anton den Staub förmlich tanzen sehen. Und ein paar dicke Motten hatte der Lichtschein auch angezogen... Er merkte, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief. Aber er hatte ja gewusst, dass die Villa Reinblick kein sehr angenehmer Ort für ihn sein würde! Und jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich vor Motten und Spinnen zu gruseln. Nein, jetzt war der Augenblick gekommen, wo Anton seinen ganzen Mut zusammennehmen musste, um das Geheimnis zu lüften, das Igno von Rant umgab! Er nahm die Taschenlampe in die linke Hand und stieg vorsichtig, mit dem rechten Fuß zuerst, in die Öffnung hinein. Der Rest war fast ein Kinderspiel. Vom Fenstersims kletterte Anton auf die Kiste, und von dort aus sprang er. Seine Füße hatten kaum den Boden berührt, da erhob sich eine Wolke von Staub. Sekundenlang hatte Anton das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und ohne dass er es verhindern konnte, musste er mehrmals laut und kräftig husten. Besorgt blickte er zur Kellertür. Es war nicht sehr geschickt, die Erforschung eines fremden Kellers mit einem Hustenanfall zu beginnen!
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Aber Igno von Rant, der – nach Auskunft von Herrn Schwartenfeger – seine Sonnenphobie zumindest teilweise überwunden hatte, würde zu dieser für Vampire äußerst frühen Stunde unmöglich wach sein!, überlegte Anton. Nein, Igno von Rant lag jetzt mit Sicherheit in seinem Sarg – unfähig, auch nur das Geringste von dem wahrzunehmen, was um ihn herum geschah! In seinem Sarg... Anton richtete den Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf die Kellertür und ging zögernd darauf zu Er kam in einen Kellergang, in dem es nach Moder und Fäulnis roch. Doch es war ein anderer Geruch als in der Gruft Schlotterstein; vielleicht, weil sich in diesen Geruch etwas unangenehm Süßliches mischte, etwas, dem Anton früher schon einmal begegnet war... Plötzlich wusste er es: Maiglöckchen, es war der fürchterliche Maiglöckchen-Duft von Igno von Rant! Und dieser Geruch wurde stärker mit jedem Schritt, den Anton machte. Wenn Igno von Rant seinen Unterschlupf tatsächlich hier in der Villa Reinblick hatte, dann musste er hinter jener Kellertür sein, die am Ende des Gangs lag! Anton spurte sein Herz stürmisch klopfen, als er vor der Tür stehen blieb und langsam die rostige Klinke hinunterdrückte. Sie gab ein schauriges Ächzen von sich, das ihm durch Mark und Bein ging.
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Doch entschlossen drückte Anton die Tür nach innen auf und leuchtete mit seiner Taschenlampe in das Halbdunkel hinein. Vor ihm lag ein großer Raum mit zwei fast blinden Fenstern, durch die nur spärliches Licht fiel. In seiner Mitte – Anton
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sträubten sich die Haare – stand ein Sarg, ein für sein Gefühl riesiger brauner Sarg. Obwohl Anton sich innerlich auf diesen Anblick vorbereitet hatte, war sein Schreck jetzt doch so groß, dass er die Tür hastig wieder schloss und sich schwer atmend gegen die Kellerwand lehnte. Am liebsten wäre er davongerannt! Aber er hatte nicht die weite Fahrt bis zur Villa Reinblick gemacht, er war nicht durch das Kellerfenster gestiegen, er hatte sich nicht bis zum Versteck von Igno von Rant vorgewagt, um dann einfach aufzugeben! Anton ballte die Fäuste. Dann machte er die Tür todesmutig wieder auf und trat ein.
Auf Armeslänge Der Sarg war tatsächlich ein ungewöhnlich großes Modell; viel wuchtiger als die Särge, die Anton aus der Gruft Schlotterstein kannte. Und er war auch viel besser erhalten!, stellte Anton fest, während er ihn langsam umrundete. An den Särgen des kleinen Vampirs und seiner Verwandten konnte niemand die Spuren übersehen, die ihr beschwerliches, ruheloses Vampirdasein im Laufe der Jahrzehnte – nein, Jahrhunderte! – hinterlassen hatte: tiefe Risse und Kratzer, Sprünge, abgebrochene Kanten und Wurmlöcher. Igno von Rants Sarg dagegen wirkte fast neu. Ja – Anton bückte sich und roch daran –, unter dem Maiglöckchen-Duft war ein beißender Holzgeruch wahrzunehmen. Auch die Bauart des Sargs war anders: Der kleine Vampir und seine Familie hatten kistenähnliche Särge mit einem flachen Deckel, der an Scharnieren befestigt war und den sie mühelos von innen aufdrücken konnten; vorausgesetzt, er war nicht festgefroren, wie es angeblich schon einmal vorgekommen war.
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Igno von Rants Sarg aber hatte einen mächtigen hohen Deckel, den Anton bestimmt nur mit äußerster Kraftanstrengung würde öffnen können. Die sechs Schrauben, mit denen der Sarg von außen verschlossen wurde, hatte Igno von Rant leichtsinnigerweise – wie Anton fand – einfach neben dem Sarg auf dem Boden liegen lassen. Igno von Rant musste sich hier im Keller sehr sicher fühlen... Anton richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf die sechs Schrauben. Sie schienen kaum benutzt worden zu sein und hatten schon Rost angesetzt. Dabei war der Fußboden ganz trocken und sauber gefegt. Komisch, dachte er, ein Vampir, der den Boden fegt... Onkel Theodor hatte zwar angeblich früher, als er noch «lebte», jeden Abend nach dem Aufwachen seinen Sarg ausgefegt. Aber das hatte er wohl nur aus Eitelkeit getan – wegen seines Haarausfalls. Anton jedenfalls konnte sich nicht vorstellen, dass einer der Vampire, mit denen er bekannt war, auf die Idee kommen würde, den Fußboden zu fegen – so staubig, wie es immer in der Gruft Schlotterstein aussah. Aber bei Igno von Rant war anscheinend alles anders! Auch der neue Sarg – hatte er den möglicherweise schon als «Hochzeitssarg» anfertigen lassen, für sich und Tante Dorothee gemeinsam? Bei dem Gedanken an Tante Dorothee machte Anton unwillkürlich einen Schritt vom Sarg weg. Konnte es sein, dass Tante Dorothee bereits jetzt neben Igno von Rant in diesem braunen Holzsarg lag? Selbst wenn sie für Anton im Augenblick keine Gefahr darstellte – allein der Gedanke, nur auf Armeslänge von ihr entfernt zu sein, ließ Anton das Blut in den Adern gefrieren. Aber das war ja unsinnig!, tadelte er sich selbst. Schließlich sollte erst am Montag im Familienrat über Tante Dorothees Zukunftspläne mit Igno von Rant beraten werden.
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Und vorher würde Tante Dorothee bestimmt nicht mit ihrem Verehrer zusammenziehen! Trotzdem... der riesige braune Holzsarg war Anton jetzt noch unheimlicher geworden, und so beschloss er, zunächst den Kellerraum zu untersuchen und erst danach den Sargdeckel zu öffnen.
Rote Tinte Der Raum machte einen verblüffend ordentlichen Eindruck. Bis auf den Sarg, einen altmodischen Schreibtisch, einen gepolsterten Stuhl, eine Truhe und ein hohes, mit einem schwarzen Tuch verhängtes Gestell war er leer. Auf dem Schreibtisch stand ein fünfarmiger Leuchter; die dunkelroten Kerzen darin waren weit heruntergebrannt. Neben dem Leuchter entdeckte Anton ein Päckchen mit Zündhölzern und einen elegant aussehenden Füller. Es sah fast so aus, als würde Igno von Rant abends beim Schein der Kerzen hier sitzen und schreiben!, dachte Anton, überrascht und verwundert. Vielleicht dichtete er rührselige Verse für Tante Dorothee? Oder er schrieb ihr glühende Liebesbriefe, wie es, zumindest in Büchern, Verliebte tun? Oder aber – Antons Herz klopfte lauter – vielleicht führte Igno von Rant ein geheimes Tagebuch. Nein, richtiger gesagt: ein Nächtebuch? Wenn das stimmte, würden darin all seine Erlebnisse, seine Gefühle und Gedanken, ja seine Pläne und Absichten stehen! Und dann brauchte Anton dieses Buch nur zu finden, um endlich den Schleier des Geheimnisses zu lüften! Er legte seine Taschenlampe auf die polierte, nahezu staubfreie Schreibtischplatte, und mit zitternden Fingern zog er die mittlere der drei Schubladen auf.
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Sie enthielt einen Schreibblock, dessen Seiten zu Antons Enttäuschung leer waren, eine kleine, fast volle Flasche – «HOLDI, der gute Fliederbeersaft, ein Geschenk von Mutter Natur» las Anton auf dem Etikett – und einen in einer großen, schwungvollen roten Tintenschrift beschriebenen Zettel. Sekundenlang stockte Antons Herzschlag. Rote Tinte! Aber die wenigen Zeilen waren eher belanglos und kein bisschen vampirhaft, wie Anton beim Lesen feststellte: «Sehr geehrter Herr Professor Piepenschnurz, hiermit erlaube ich mir, Ihnen das gewünschte Fläschchen ‹HOLDI› zu überbringen. Da ich Sie in Ihrem Quartier nicht antraf, habe ich mir erlaubt, es an der vereinbarten Stelle zu deponieren. Stets der Ihre, hochachtungsvoll Hans Egal.» Trotz seiner Aufregung musste Anton grinsen. Wahrscheinlich handelte es sich bei Professor Piepenschnurz um den Eigentümer der Villa Reinblick, und dem war – wie man bereits von draußen sehen konnte – der Zustand seiner Villa ziemlich gleichgültig! Nur dieser Kelleraum – der fiel aus dem allgemeinen Bild des Verfalls und der Vernachlässigung, das die Villa Reinblick bot, heraus. Aber für den sauberen Fußboden und den aufgeräumten Schreibtisch hier unten waren ja auch nicht Professor Piepenschnurz und Hans Egal verantwortlich, sondern Igno von Rant – und der hatte auf Anton stets einen besonders korrekten, übertrieben gepflegten Eindruck gemacht mit seinen blauschwarzen Haaren, die er mit Unmengen von Pomade frisierte, und seinem gepuderten Gesicht. Übrigens konnte die Villa noch nicht allzu lange leer stehen: Das Papier, das Hans Egal benutzt hatte, war kein bisschen vergilbt.
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Anton legte den Zettel an seinen Platz zurück und schloss die Schublade wieder. Ob die anderen Schubladen auch Mitteilungen an Professor Piepenschnurz enthielten? Vorsichtig zog Anton an dem Messinggriff der linken Schublade – sie schien zu klemmen. Er zog stärker. Doch nichts geschah. Offenbar war sie abgeschlossen. Nun probierte es Anton bei der rechten Schublade, aber auch diese ließ sich nicht öffnen. Blieben noch die Schreibtischtüren! Von einer bangen Vorahnung ergriffen, rüttelte Anton kräftig an beiden Türen – und fand seine Ahnung bestätigt: Sie waren ebenfalls abgeschlossen. Anton presste die Lippen zusammen. Die Schubladen mit Gewalt zu öffnen, kam nicht infrage; das hätte Spuren hinterlassen. Nein, er brauchte die passenden Schlüssel! Nachdenklich wandte er den Kopf und musterte den großen braunen Sarg. Igno von Rant konnte bestimmt keinen besseren Aufbewahrungsort für die Schlüssel finden als seinen eigenen Sarg!
Der Blick in den Sarg Anton drehte seine Taschenlampe, sodass ihr Lichtstrahl in die Mitte des Raums fiel. Dann ging er zögernd auf den großen Holzsarg zu. Auch wenn es nicht das erste Mal sein würde, dass Anton in einen Sarg guckte – er hatte schon den kleinen Vampir im Sarg liegen sehen, Sabine die Schreckliche und Hildegard die Durstige –, es blieb doch etwas, das ihm zutiefst widerstrebte, an das er sich nie gewöhnen würde – etwas, das ihm jedes Mal schonungslos, ja brutal vor Augen führte, wie verschieden die
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Welten waren, denen er und seine beiden besten Freunde angehörten. Und da half es Anton auch nicht viel, zu wissen, dass ein Vampir am Tage völlig ungefährlich war. Es war ein inneres Grauen, das ihn stets aufs Neue befiel – so wie jetzt, am Sarg von Igno von Rant. Antons Hände waren plötzlich ganz zitterig – als wollten sie ihm den Dienst versagen. Aber Anton musste in den Sarg gucken, schon für Anna und den kleinen Vampir musste er es tun! Er umfasste das obere Ende des Sargdeckels, und unter Aufbietung seiner ganzen Kraft versuchte er, ihn zur Seite zu schieben. Eine Weile bewegte sich der schwere Deckel überhaupt nicht, aber dann gab er Zentimeter für Zentimeter nach. Sobald die Öffnung groß genug war, um hineinzuleuchten, hielt Anton inne. Er ging zum Schreibtisch und kehrte mit der Taschenlampe in der Hand zurück. Sekundenlang spürte er eine würgende Angst, die von ihm Besitz ergreifen wollte. Doch grimmig entschlossen richtete Anton den Lichtstrahl in das Innere des Sargs... und stieß einen Schrei aus. Er hatte erwartet, einen leblos daliegenden Igno von Rant zu erblicken, der mit weit geöffneten grauen Augen ins Leere starrte. Aber stattdessen sah Anton ein paar kleine schwarze Kissen – und sonst nichts... So unglaublich es war: Igno von Rant lag nicht in seinem Sarg! Und auch die Schlüssel zum Schreibtisch entdeckte Anton nicht. Er brauchte ein paar Minuten, bis er sich wieder gefasst hatte. Stand denn nicht in sämtlichen Büchern, dass ein Vampir immer in seinem eigenen Sarg schlafen musste?, überlegte er.
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Allerdings – Anton wusste nicht, ob Vampire mehrere Särge haben durften. Vielleicht war dieser braune Holzsarg wirklich ein «Hochzeitssarg», ein Sarg «auf Zuwachs» sozusagen, und Igno von Rant hatte seinen richtigen Sarg woanders versteckt; möglicherweise gar nicht hier, in der Villa Reinblick? Aber gleich darauf fiel ihm ein, dass Tante Dorothee am Samstag ganz ungläubig gefragt hatte: «Was, du willst Anna mit zu dir nach Hause nehmen?», und wie sie auf Igno von Rants Gegenfrage: «Wieso nicht?», geantwortet hatte: «Bisher hast du immer darauf bestanden, dass wir deinen Unterschlupf geheim halten.» Das sprach dafür, dass Igno von Rant doch hier in der Villa Reinblick sein musste! Anton legte die Taschenlampe auf den Boden und wuchtete den massiven Deckel wieder über den Sarg. Dann nahm er die Taschenlampe und ging zur Tür. Auch wenn ihm bei diesem Gedanken nicht sehr wohl war... er hatte beschlossen, die düstere Villa nach weiteren Särgen zu durchsuchen; falls es sein musste, bis unter das Dach.
Höhere Gewalt Doch Anton kam nicht weit. Er entdeckte noch eine niedrige, stark verrostete Eisentür unter der Kellertreppe, aber sie war abgeschlossen. Und auch die Kellertür, oben am Anfang der steinernen Treppe, ließ sich nicht öffnen. Die Enttäuschung, die Anton im ersten Moment empfand, wich rasch einem Gefühl der Erleichterung. Immerhin war es jetzt «höhere Gewalt», die verhinderte, dass er weitersuchte! Und was die vielen verschlossenen Türen betraf: Antons Opa bewahrte in seinem Keller Dutzende alter Schlüssel auf. Mit
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diesen Schlüsseln würde Anton so bald wie möglich zurückkommen – und dann nicht allein, sondern zusammen mit Anna oder dem kleinen Vampir!
Außerdem war es schon spät – viel zu spät!, stellte Anton mit einem Blick auf seine Armbanduhr erschrocken fest: Es war kurz nach zwölf. Wenn er sich nicht beeilte, würde er erst nach seiner Mutter die Wohnung erreichen. Und was dann passieren mochte, wollte er sich lieber nicht ausmalen... Um halb zwei lag Anton wieder im Bett, vor sich sein neues Buch, «Die Lady mit dem Silberblick». Doch er hatte kaum die richtige Seite aufgeschlagen, da verschwammen ihm die Buchstaben vor den Augen, und er schlief. Aber Kranke – oder, richtiger gesagt: Genesende – brauchten eben ihren Schlaf! Das schien auch die Meinung von Antons Mutter zu sein. Als Anton am späten Nachmittag wieder
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aufwachte, stand auf seinem Nachttisch ein Tablett mit belegten Broten, geschälten Äpfeln und Weintrauben, und ein Zettel lag dabei: Lieber Anton, du hast so fest geschlafen, dass ich dich nicht wecken wollte. Ich muss jetzt wieder in die Schule fahren – wir haben Konferenz, leider. Erhol dich gut und lass es dir schmecken! Bis heute Abend, Mutti Na bitte!, dachte Anton. Nicht nur, dass seine Mutter offenbar keinerlei Argwohn hegte, was seine Radtour heute Vormittag betraf – jetzt konnte er sogar noch herrlich ungestört Vampirgeschichten lesen. Und nach der Konferenz war seine Mutter bestimmt viel zu müde, um ihn lange auszuhorchen! Er nahm sich eins der dick mit seinem Lieblingskäse belegten Brote und biss voller Heißhunger hinein. Zum ersten Mal, seit er Windpocken hatte, verspürte er wieder einen gesunden Appetit! Wie Anton erwartet hatte, fragte seine Mutter am Abend nur, ob der Ausflug nicht zu anstrengend gewesen sei und ob er sich daran gehalten habe, niemandem zu nahe zu kommen. Nachdem Anton die erste Frage verneint und die zweite bejaht hatte, seufzte sie zufrieden und kündigte mit einem entschuldigenden Lächeln an, sie werde nun schlafen gehen. «Falls du Lust hast, kannst du ja im Wohnzimmer mit Vati fernsehen», meinte sie zum Schluss, aber Anton lehnte dankend ab. Immerhin hoffte er, dass er heute Abend noch Besuch bekommen würde!
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Richtig leutselig Und wirklich – als es draußen dunkel geworden war, landete eine schwarze Gestalt auf dem Fensterbrett und kam mit einem knarrenden «Guten Abend!» durch das offene Fenster ins Zimmer geklettert. Es war der kleine Vampir! «Hallo, Rüdiger!», sagte Anton. In seinen alten blauen Jeans saß er auf dem Bett, wo er «Klebrige Schatten» gelesen hatte, eine gruselige, ziemlich blutrünstige Geschichte aus seinem neuen Buch. Der kleine Vampir kam freundlich grinsend näher. Er wirkte erstaunlich gut gelaunt – richtig leutselig!, dachte Anton, der unter dem löchrigen Vampirumhang etwas Gelbes aufblitzen sah. Es war Antons Trainingshose! Der kleine Vampir nahm am Fußende des Bettes Platz und erklärte: «Ein gemütliches Zimmer!» Anton sah ihn überrascht an. Wollte der kleine Vampir ihn aufziehen? Oder steckte irgendeine List hinter dieser Bemerkung? «Wirklich, außerordentlich gemütlich!», fuhr der Vampir in schwärmerischem Ton fort. «Ich glaube, ich bin schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr hier gewesen.» «Eine halbe Ewigkeit?», wiederholte Anton verblüfft. Er rechnete nach: Genau vor fünf Tagen war Rüdiger bei ihm gewesen... «Jawohl!», donnerte der Vampir – gereizt, weil Anton es wagte, seine Aussage in Zweifel zu ziehen. Anton erwiderte nichts. In gewisser Hinsicht hatte der kleine Vampir sogar Recht!, dachte er. Es war tatsächlich eine halbe Ewigkeit her, dass Rüdiger als Freund zu Anton gekommen war. Seitdem feststand, dass Olga bald zurückkehren würde, benutzte der kleine Vampir Anton nur noch als kostenlosen
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Friseur, als Laufburschen und als Lieferanten für Sonnencreme, Buntstifte und vieles mehr. Dass Rüdiger sich plötzlich wieder für Anton und sein Zimmer interessierte, konnte zweierlei bedeuten: Entweder war etwas mit Olga passiert, das den kleinen Vampir von seiner Liebesblindheit kuriert hatte – oder aber es hing mit dem Trainingsprogramm von Herrn Schwartenfeger zusammen... Vorsichtig fragte Anton: «Brauchst du noch etwas, ich meine, für das Programm?» «Für das Programm? Nein!», antwortete der kleine Vampir dumpf. Wie er das sagte, klang es fast resigniert, fand Anton. «Habt ihr das Programm etwa abgebrochen?», fragte er besorgt. «Abgebrochen?», schnaubte der kleine Vampir. «Wofür hältst du mich! Du hättest an meiner Stelle garantiert die Flinte in den Sarg geworfen, aber ich doch nicht!» Er hustete krächzend. «Abgebrochen... das Gegenteil ist der Fall!» «Das Gegenteil?» Anton spürte, wie sein Herz schneller klopfte. «Dann war die Behandlung bei Herrn Schwartenfeger erfolgreich?» «Allerdings!» «Und du hast deine Angst vor den Sonnenstrahlen jetzt endgültig überwunden?», fragte Anton. Angesichts der Möglichkeit, das schier Unglaubliche könnte wahr geworden sein, zitterte seine Stimme vor Erregung. «Überwunden?», sagte der Vampir gedehnt. Ein verlegenes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. «Nicht direkt. – Aber ich habe sagenhafte Fortschritte gemacht, seit du nicht mehr zum Training mitgehst!», fügte er nach einer Pause prahlerisch hinzu. «Ich kann mich jetzt irrsinnig gut konzentrieren!» «So?», meinte Anton nur.
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«Und ob! Herr Schwartenfeger sagt, dass ich gewaltige Lernfortschritte mache, seitdem du nicht mehr blöd dazwischenquatschst oder andauernd Streit mit mir vom Friedhofszaun brichst.» «Sagt er das?», knurrte Anton und unterdrückte mühsam seine Wut über Rüdigers unfreundschaftliche Art, ihn, Anton, mal wieder als den Alleinschuldigen hinzustellen. Eins stand jedenfalls fest: Sein anfängliches Urteil, der kleine Vampir sei heute Abend als Freund zu ihm gekommen, war reichlich vorschnell gewesen! Trotzdem brannte Anton natürlich darauf, Einzelheiten über Rüdigers Lernfortschritte zu erfahren...
Der größte Maler unter der Sonne «Willst du mir nicht erzählen, welche Fortschritte du gemacht hast?», fragte er nach kurzem Zögern. «Aber gern», sagte der kleine Vampir. «Wenn du mich höflich darum bittest!» Anton verzog die Mundwinkel. «Also, bitte erzähl mir, welche Fortschritte du gemacht hast!» «Zuerst darfst du dir etwas angucken», erklärte der kleine Vampir großspurig. Er griff unter seinen Umhang und zog einen Stapel cremefarbiger Briefbögen hervor, um die ein dottergelbes Band geschlungen war. Aus dem eitlen Grinsen des Vampirs schloss Anton, dass es sich um Briefe von Olga handeln musste. «Liebes»briefe von Olga aber wollte Anton auf keinen Fall lesen; denn was konnten die schon enthalten außer plumper Selbstbeweihräucherung, die nur dem einen Zweck diente: den kleinen Vampir in seiner Liebesblindheit noch zu bestärken! «He, willst du nicht in das Päckchen gucken?», zischte der Vampir, als Anton sich nicht rührte.
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«Ich glaube nicht, dass Olga damit einverstanden wäre», erwiderte Anton. «Olga?» Der kleine Vampir sah Anton argwöhnisch an. «Wie kommst du auf Olga?» «Na, weil –» Anton zeigte auf die gelben Blätter. «Die Briefe sind doch von Olga!» «Nein!», fuhr der Vampir ihn an. «Es sind überhaupt keine Briefe, sondern Gemälde, Originalgemälde von mir!» «Ach so –», murmelte Anton. Rasch begann er, die Schleife zu lösen. Was Anton nun zu sehen bekam, waren allerdings keine «Gemälde», sondern eher Kritzeleien. Die ersten Blätter zeigten Sonnen mit lachenden und weinenden Gesichtern. Dann folgten Sonnen mit roten Wangen und Sommersprossen. Die Krönung jedoch waren Sonnen mit Vampirzähnen! «Toll, was?», schwärmte der kleine Vampir. «Hm – sehr eindrucksvoll», meinte Anton. Er war tatsächlich beeindruckt von der Verschiedenartigkeit der Sonnen, die Rüdiger – vermutlich unter der Anleitung von Herrn Schwartenfeger – zu Papier gebracht hatte. Andererseits kam ihm diese Überfülle seltsam, ja befremdlich vor; besonders, weil sie von einem Vampir stammte! «Du findest sie eindrucksvoll?», wiederholte der kleine Vampir geschmeichelt. Anton nickte. «Nun, das wundert mich nicht!», sagte der Vampir selbstgefällig. «Vor dir siehst du ja auch Rüdiger von Schlotterstein, den allergrößten Maler der Sonne – nein, den allergrößten Maler unter der Sonne!» Er reckte sich und lachte dröhnend. Als Anton keinerlei Kommentar abgab, kniff er, sichtlich irritiert, die Augen zusammen und knurrte: «He, so nennt man das doch: der größte Maler unter der Sonne, oder?»
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«Na ja –» Anton hatte Mühe, ernst zu bleiben. «Der größte Maler unter der Sonne – ich schätze, da gibt es noch ein paar andere...» «Andere?», zischte der Vampir. «Andere interessieren mich so viel wie –», er schnippte mit den Fingern, «wie der Friedhofsdreck unter meinen Nägeln, jawohl!» «Oh ja, das stimmt!», sagte Anton aus vollem Herzen.
Ehrengäste Von einer Sekunde zur anderen verschwand das selbstzufriedene Lächeln des Vampirs, und ein gefährliches Glitzern trat in seine Augen. «Was willst du damit andeuten?», fragte er drohend und durchbohrte Anton förmlich mit seinen Blicken. «Etwa, dass ich meine Nägel reinigen sollte? Ha, wenn sich jemand in meine Körperpflege einmischt, kann ich verteufelt ungemütlich werden!»
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Anton hüstelte verlegen. Sich in die Körperpflege des kleinen Vampirs einzumischen, war so ziemlich das Letzte, was ihm einfallen würde! Betont freundlich sagte er: «Ich meinte damit nur, dass ich noch nie so viele und so tolle Sonnen gesehen habe. Du solltest eine Ausstellung machen!» «Eine Ausstellung?», meinte der kleine Vampir nachdenklich. «Ja, die Idee ist gar nicht so übel – obwohl sie von dir kommt.» «Wirklich, eine ausgezeichnete Idee», fuhr er nach einer Pause fort. «Und genügend Platz hast du auch, wenn du all deine Klecksereien abnimmst.» «Wie meinst du das?» «Na, deine ulkigen Friedhofsbilder, die hier überall hängen.» Der Vampir kicherte. «Ich glaube nicht, dass die sich mit meinen Sonnen vertragen werden, hihi!» «Was, du willst die Ausstellung bei mir machen, in meinem Zimmer?», rief Anton erschrocken. Der kleine Vampir grinste, und sehr sanft erwiderte er: «Wo denn sonst? Dachtest du, bei mir zu Hause in der Gruft? Oder vielleicht in Geiermeiers Haus?» Er lachte krächzend. «Nein, wir machen die Ausstellung hier, und wenn alles gut geht, kann ich zur Ausstellungs-Eröffnung schon gemeinsam mit Olga kommen!» Anton blieb fast die Luft weg. «Ausstellungs-Eröffnung? Mit Olga?» «Keine Ausstellung ohne festliche Eröffnung!», erklärte der Vampir angeberisch. «Und ohne Ehrengäste», ergänzte er und rieb sich vergnügt die Hände. «Ist Olga etwa schon zurückgekommen?», fragte Anton betroffen. «Sagtest du ‹etwa›?», knurrte der kleine Vampir. «Ich... ich war nur überrascht», redete Anton sich heraus.
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«Überrascht?» Nun lächelte der kleine Vampir. «Ja, das wird eine Riesenüberraschung werden, wenn wir uns nach so langer, entsagungsvoller Zeit wieder sehen, meine Olga und ich...» «Wann genau das sein wird, weißt du aber nicht?», erkundigte Anton sich. «Wann genau?» Der kleine Vampir warf ihm einen zornigen Blick zu. Offenbar war Anton mit seiner Frage mal wieder in eins der zahlreichen Fettnäpfchen getreten. «Pah, du immer mit deinem ‹wann genau›!» Hochtrabend fügte er hinzu: «Wo Liebe ist, da ist Geduld! Aber davon hast du natürlich noch nie was gehört!» «Nein, davon hab ich noch nie was gehört», sagte Anton zähneknirschend. «Und nicht nur, dass du unpassende und unhöfliche Fragen stellst», fuhr der kleine Vampir fort. «Im Stich gelassen hast du mich auch noch.»
Abwehrstoffe im Blut «Wo?» Anton war sich keiner Schuld bewusst! «Jawohl!», donnerte der kleine Vampir und schüttelte sich die Haare aus der Stirn. «Fällt dir nichts auf?» «Nein. Was soll mir denn auffallen?» «Dass ich nicht das allerkleinste rote Pünktchen habe! Dabei hattest du mir fest versprochen, mich mit deinen windigen Pocken anzustecken. Jetzt ist es ganz allein deine Schuld, wenn Olga wieder ‹Milchbart› zu mir sagt!» «Erstens habe ich dir das nicht versprochen», wies Anton diese Unterstellung zurück. «Und zweitens kann ich nichts dafür, wenn du keine Windpocken bekommen hast. Wahrscheinlich bist du gegen Windpocken immun.»
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«Immun?», wiederholte der Vampir unzufrieden und knackte mit den Zähnen. «He, protz hier nicht mit deinen affigen Fremdwörtern herum. Drück dich gefälligst allgemein verständlich aus.» Um ein Haar hätte Anton gelacht. Dass sich der kleine Vampir derart über ein harmloses Fremdwort ärgern konnte, zeigte mal wieder eins: Hinter seinem großsprecherischen Getue versteckte er in Wirklichkeit nur seine mangelnde Weltgewandtheit! «Also, es ist so», begann er. «Wenn ich die Windpocken überstanden habe, kann ich sie nicht nochmal kriegen. Ich bin dann immun gegen Windpocken, weil mein Körper Abwehrstoffe gebildet hat. Wahrscheinlich hast du früher, in Transsylvanien, Windpocken gehabt, und deshalb sind jetzt auch schon Abwehrstoffe in deinem Blut.» Das Wort «Blut» hatte Anton ganz unbedacht ausgesprochen. Aber kaum war es ihm entschlüpft, hätte er sich ohrfeigen können. Doch der kleine Vampir zischte nur: «Ich hatte niemals Windpocken. Und Anna erst recht nicht.» «Anna hat auch keine roten Pünktchen bekommen?» «Nein!» «Vielleicht kriegt ihr sie noch», meinte Anton nach kurzem Überlegen. «Ich müsste mal meine Mutter fragen, wie lange die Inkubationszeit bei Windpocken ist.» «Die – was?», brauste der Vampir auf. Anton war rot geworden. «Na, die Zeit zwischen der Ansteckung und dem Auftreten der ersten Windpocken!» «Ach so –», sagte der kleine Vampir und kratzte sich am Kopf. «Du meinst, es besteht noch eine Chance, dass ich diese niedlichen roten Pünktchen bekomme, bevor Olga wieder da ist?» Anton nickte. «Unbedingt.»
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«Und im Übrigen», ergänzte er grinsend, «hast du doch selbst gesagt: Wo Liebe ist, da ist Geduld!» Der kleine Vampir warf ihm einen abgründigen Blick zu. «Ich muss jetzt fliegen», knurrte er und stand auf. «Warte!», sagte Anton rasch. «Ich – ich hab noch etwas sehr Wichtiges mit dir zu besprechen.» «Etwas sehr Wichtiges? Du?» «Ja. Es ist wegen Igno von Rant!» «Wegen Igno von Rant?» Der kleine Vampir grinste breit. «Ach, jetzt kommt die Eifersuchtsnummer!» «Nein!» Anton hatte Mühe, den aufsteigenden Ärger über das blasierte Getue des kleinen Vampirs zu unterdrücken. «Jetzt kommt überhaupt keine Nummer. Ich will dich nur warnen, dich und Anna.» «Warnen?» Rüdiger stieß ein krächzendes Gelächter aus. «Dass du Anna warnen willst, begreife ich ja noch. Aber dass deine Eifersucht inzwischen so schlimm geworden ist, dass du mich verdächtigst, etwas mit Igno von Rant zu haben... Anton – das ist nun wirklich ein dicker Hund!» «Darum geht es doch gar nicht!», unternahm Anton einen letzten Versuch, dem kleinen Vampir die Augen zu öffnen. «Es geht darum, dass Igno von Rants Sarg leer war!» Nach dieser Offenbarung musste Anton erst einmal tief Luft holen. Doch der kleine Vampir schien kein bisschen besorgt oder auch nur beunruhigt zu sein. «Hattest du vielleicht geglaubt, Anna würde mit drinliegen?», sagte er und lachte dröhnend. «Nein, nein», versicherte er hochtrabend. «Anna ist treu wie Gold, das kannst du mir glauben. Schließlich bin ich seit mehr als anderthalb Jahrhunderten ihr Bruder, hihi!» Mit diesen Worten ging er zum Fenster und schwang sich auf das Fensterbrett. «Aber ein leerer Sarg, mittags um zwölf – das ist doch nicht normal, jedenfalls nicht für einen Vampir!», sagte Anton im Ton der Verzweiflung.
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Rüdiger wandte den Kopf. «Normal ist vieles nicht, oder besser gesagt: sind viele nicht!» Hämisch kichernd, breitete er die Arme aus. «Fang am besten gleich mit den Vorbereitungen an!», rief er Anton zu. «Mit welchen Vorbereitungen?» «Mit dem Aufhängen der Gemälde natürlich. Ich werde nämlich bald wiederkommen und die Ausstellung begutachten!» Er lachte krächzend, dann war er verschwunden. «Fang am besten gleich an...», wiederholte Anton und ballte zornig die Fäuste. «Ja, überübermorgen vielleicht oder übernächste Woche!»
Verkehrte Welt Doch Anton begann schon am nächsten Tag mit dem Aufhängen der Bilder. Dreiunddreißig Stück waren es, die er vorsichtig mit Stecknadeln auf der Tapete befestigte. Anschließend erkannte Anton sein Zimmer kaum wieder. Nicht nur, dass es ungewöhnlich hell und heiter wirkte – man sah es Rüdigers «Gemälden» auch deutlich an, dass sie von einer ungeübten, nicht besonders talentierten Hand stammten. Wie im Kindergarten!, dachte Anton, der sich jetzt schon vorstellen konnte, was seine Eltern zu den Bildern sagen würden: Erst würden sie begeistert sein, und dann würden sie ihre Witze machen! Als sie am Abend – fein gemacht für die Oper – zu ihm ins Zimmer kamen, rief Antons Mutter erwartungsgemäß: «Ja, ist denn das die Möglichkeit: Anton hat Sonnen gemalt, lauter Sonnen!» «Gefallen sie dir etwa nicht?», tat Anton gekränkt.
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«Oh doch! Ich bin ganz überwältigt, dass du auf einmal so freundliche Bilder malst.» «Ja, wirklich», pflichtete Antons Vater ihr bei. «Nur die Maltechnik, die ist etwas schlicht. – Na ja», er lachte, «wahrscheinlich naive Kunst!» «Du hast mal wieder den Sargnagel auf den Kopf getroffen», sagte Anton. «Was mir am besten gefällt, ist, dass du diesmal auf deine grässlichen Vampire verzichtet hast!», bemerkte Antons Mutter mit einem giftigen Ton in der Stimme – ihre Reaktion auf den «Sarg»-Nagel! «Och –», meinte Anton. «Das scheint nur so.» «Stimmt.» Sie zeigte missfällig auf die Sonnen mit den Vampirzähnen. «Sonnen mit Vampirzähnen?», lachte Antons Vater. «Das ist ja verkehrte Welt!» «So? Und warum?», fragte Anton. «Ein Vampir und – Sonne, das ist doch wie...» Sein Vater suchte nach einem passenden Vergleich. «Wie du und Kultur», half Anton ihm hinterlistig aus. Antons Vater war rot geworden. «Na, hör mal! Wie kommst du denn darauf?» «Schließlich hast du selbst zugegeben, dass du ein Kulturmuffel bist!» «Ich? Würde ich dann in die Oper gehen?» Anton grinste. «Manche können beides: in die Oper gehen und Kulturmuffel sein.» Ein Kulturmuffel schien auch der kleine Vampir zu sein. Anton hatte fest damit gerechnet, dass Rüdiger sich heute Abend die Ausstellung ansehen würde, doch der Vampir kam nicht. Als Anton schließlich um halb elf sein Fenster zumachte und unter die Bettdecke schlüpfte, war er doppelt enttäuscht: weil der kleine Vampir nicht erschienen war und weil er den Krimi
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im Fernsehen verpasst hatte. Dabei hatten ihm seine Eltern ausdrücklich erlaubt, den Film zu sehen! Stattdessen war Anton in seinem Zimmer geblieben und hatte gelesen, eine Geschichte aus «Die Lady mit dem Silberblick»; eine eher langatmige Vampirgeschichte mit einem traurigen Schluss, die den Titel trug: «Fuchs, du hast die goldene Gans verloren.»
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Ob der kleine Vampir mit dem Besuch der Ausstellung warten wollte, bis Olga wieder da war? Aber gestern hatte Rüdiger noch erklärt, er werde die Ausstellung bald begutachten...
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Vielleicht machte er heute Abend wieder seine Übungen bei Herrn Schwartenfeger? Und Anna? Wo mochte sie heute Abend sein? Anton dachte an Igno von Rant und die Kleidergeschenke, die er ihr gemacht hatte – und plötzlich fühlte er, wie sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog. War das am Ende doch... Eifersucht? Er schaltete die Nachttischlampe aus und blickte zum Fenster hinüber. Die Vorhänge waren noch offen, und er sah den mit Sternen übersäten Himmel. Nein, es war vor allem Sorge!, dachte er. Sorge um Anna – und um den kleinen Vampir! Mit einem tiefen Seufzer drehte er sich zur Wand.
Kennst du mich noch? Anton war schon fast eingeschlafen, als ihn ein dumpfer Schlag gegen die Scheibe zusammenzucken ließ. Er setzte sich kerzengerade im Bett auf und horchte. Aber nichts geschah. Trotzdem spürte Anton, dass etwas, irgendetwas, da draußen auf dem Fenstersims war. Und dieses Etwas starrte zu ihm herein... Er merkte, wie ihm ein eisiger Schauder durch alle Glieder rieselte. Wenn es nun Tante Dorothee war... Oder konnte es Igno von Rant sein, der herausgefunden hatte, dass Anton den leeren Sarg entdeckt hatte? Was sollte Anton bloß tun? Ans Fenster gehen? Oder sich – in der schwachen Hoffnung, das Etwas würde wieder davonfliegen – unter seiner Decke verkriechen? In diesem Augenblick erklang ein heiseres Lachen, und dann tauchte ein Kopf im Fenster auf, ein Kopf mit schulterlangen, silbrig glänzenden Haaren, die von einer großen Schleife gekrönt wurden.
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Anton erstarrte vor Schreck. Wenn ihn nicht alles täuschte, war das Olga, Olga Fräulein von Seifenschwein, die große Liebe des kleinen Vampirs... Jetzt hörte er auch ihre dunkle Stimme: «Mach auf!», und fordernd, wie es ihre Art war, trommelte sie gegen die Scheibe. Benommen stieg Anton aus dem Bett, tappte zum Fenster und öffnete es. Olga sprang vom Fensterbrett ins Zimmer, und mit einem koketten Lächeln fragte sie: «Kennst du mich noch?» «Na-natürlich», stotterte Anton. Bestimmt war er über und über rot geworden! «Ich hab dich auch gleich wieder erkannt», säuselte Olga und zupfte an ihrer hellrosa Schleife. «So einmalig gut, wie du aussiehst! Übrigens, im Schlafanzug finde ich dich noch umwerfender als in normalen Sachen!» «Was hat denn Rüdiger gesagt?», lenkte Anton hastig ab. Olgas Schmeicheleien, die sie mit Sicherheit nur aus kalter Berechnung vortrug, waren ihm äußerst peinlich. «Ist er nicht völlig aus dem Häuschen geraten?» «Aus dem Häuschen? Rüdiger?» Olga kicherte. «Nein.» «Nicht?» «Nein.» Sie trat einen Schritt auf Anton zu und lachte ihr raues, kehliges Lachen. «Er kann gar nicht aus dem Häuschen geraten, höchstens aus dem Grüftchen. Und aus dem Grüftchen ist er nicht geraten, weil er noch gar nicht weiß, dass ich wieder da bin.» «Was, er weiß es noch nicht?» «Nein. Ich wollte nach meinem langen, entsetzlich anstrengenden Flug erst einmal dich sehen», erklärte Olga mit einem betörenden Augenaufschlag. «M-mich?» Unwillkürlich wich Anton zurück. Nicht nur, dass er sich in Olgas Gegenwart sehr unbehaglich fühlte – nun würde er es auch noch mit einem vor Eifersucht rasenden kleinen Vampir zu tun bekommen und mit einer
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gekränkten, eifersüchtigen Anna, die ihm wohl kaum abnehmen würde, dass er gar kein Interesse an Olga hatte! «Ja, dich wollte ich sehen», bestätigte Olga. «Seinen besten Freund besucht man doch immer zuerst, oder?» Anton lag es auf der Zuge, zu erwidern, dass er genau deshalb angenommen hatte, Olga würde zuallererst auf den Friedhof fliegen, um den einzigen Freund zu begrüßen, den sie seiner Meinung nach besaß: den kleinen Vampir! Aber da er keinen Streit heraufbeschwören wollte, sagte er nur: «So gut kennen wir uns doch gar nicht.» «Ja, das stimmt», rief Olga anklagend. «Weil diese Anna, dieses Milchgebiss, uns andauernd in die Quere gekommen ist!» «Anna?» «Allerdings. Du ahnst ja gar nicht, wie besitzergreifend sie ist. Ich durfte noch nicht mal fünf Minuten ungestört mit dir sprechen, stell dir das vor!» «Wann wolltest du denn mit mir sprechen?», fragte Anton überrascht. «Als ich in der Gruft Schlotterstein gewohnt habe, natürlich», antwortete Olga. «Aber Anna ist ständig hinter mir hergeflogen und hat mich bedroht, wenn ich bei dir anklopfen wollte.» «Anna hat dich bedroht?», sagte Anton ungläubig. «Und ob!» Olga nickte, was von einem heftigen Wippen ihrer Schleife begleitet wurde. «Begreifst du nun, warum wir beide uns bisher so wenig kennen lernen konnten?», flötete sie. Anton gab keine Antwort – unsicher, was er von alldem halten sollte. Falls Anna tatsächlich verhindert hatte, dass Olga ihn früher häufiger besucht hatte, so war er Anna deswegen ganz bestimmt nicht böse! «Und jetzt solltest du Licht machen», bemerkte Olga. «Damit du mich besser sehen kannst!»
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Damit ich sie besser sehen kann?, dachte Anton. Dasselbe hatte der Wolf zu Rotkäppchen gesagt, kurz bevor er es gefressen hatte... Aber er verscheuchte diesen Gedanken rasch wieder und schaltete die Nachttischlampe ein.
Gut zu Gesicht «Nun?», sagte Olga und lächelte geziert. «Bin ich noch so, wie du mich in Erinnerung hattest?» Anton musterte sie. Olga war unbestritten ein sehr gut aussehendes Vampirmädchen: mit ihren großen blauen Augen, der Stupsnase und den vielen Sommersprossen. Wer sie nicht näher kannte, hätte sich leicht in sie verlieben können! Aber Anton hatte keine Lust, ihr Komplimente zu machen, und so sagte er nur: «Ja, genau so.» «Was, du merkst keinen Unterschied?», tat Olga gekränkt. «Doch.» Anton grinste. «Du hast eine neue Schleife.» Olga verzog ihr Gesicht, und für einen Moment sah sie gar nicht mehr süß und reizend aus, sondern hinterhältig und böse. Aber dann lächelte sie wieder. «Ich habe nicht nur eine neue Schleife», erklärte sie und hob ihren Vampirumhang an, damit Anton das Trachtenkleid sehen konnte, das sie darunter trug. «Findest du, dass es mir steht?», fragte sie und fasste ihn scharf ins Auge. «Oh ja», antwortete er – durchaus ehrlich. Das rote Kleid mit der weißen Schürze und dem weißen Spitzensaum fand er zwar abscheulich, aber zu Olga passte es hervorragend! «Du hast dich ziemlich verändert», meinte Olga und kicherte. «So?», sagte Anton. «Ja. Du siehst richtig erwachsen aus.» «Ich? Erwachsen?»
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«Du hast so viele hübsche Pickelchen bekommen! Ich mag Jungs, die Pickel haben!» «Ja, ich weiß», sagte Anton – nicht sehr klug, wie ihm gleich darauf klar wurde. «Du weißt es?», wiederholte Olga befremdet. «Ach so», meinte sie dann und lachte anzüglich. «Wahrscheinlich hat dir Richard der Nachtragende von meinen Vorlieben erzählt!» «Nein, nein», sagte Anton hastig. «Ich – ich hab Richard den Nachtragenden überhaupt noch nie getroffen.» «Dann muss Rüdiger mich verraten haben!», zischte Olga. «Nein, Rüdiger hat dich nicht verraten», widersprach Anton. «Er hat nur gesagt, er würde auch gern solche Windpocken wie ich bekommen.» Und als er Olgas verdutztes Gesicht sah, fügte er hinzu: «Es sind nämlich gar keine Pickel, die ich habe, es sind Windpocken.»
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«Tatsächlich?» Langsam näherte Olga ihren rechten Zeigefinger seinem Gesicht. «Ich glaube, die gefallen mir sogar noch besser», kicherte sie dabei. «Die sind wenigstens schön groß! Und hübsch schrumpelig sehen sie auch aus.» «Das kommt, weil sie jetzt heilen», erklärte Anton, der vor Olgas Zeigefinger einen Schritt zurückgewichen war. Ihr spitzer Fingernagel hatte nicht gerade angenehme Erinnerungen in ihm geweckt: an eine finstere, halb zerfallene Kegelhalle und einen wutschnaubenden Lumpi... «Heilen?», sagte Olga, sichtlich enttäuscht. «Du meinst, sie verschwinden wieder?» Er nickte. «Schade!» Sie sah ihn mitleidig an. «Wo sie dir doch so unglaublich gut zu Gesicht stehen.» «Tja – alles Schöne muss vergehen», antwortete er.
Arme Tante Dorothee Olga gab ein empörtes Schnaufen von sich. «Alles Schöne?», rief sie. «Alles Hässliche muss vergehen!» Und indem sie auf die Sonnenbilder an den Wänden zeigte, bemerkte sie voller Abscheu: «Du solltest gleich damit anfangen und diese grässlichen, geschmacklosen Kritzeleien verschwinden lassen!» «Magst du sie nicht?», tat Anton verwundert. «Nein!», fauchte sie. «Außerdem ist es reichlich taktlos, sie aufzuhängen, wenn du mich erwartest.» Anton verkniff sich ein Grinsen. «Erstens habe ich dich nicht erwartet», antwortete er. «Und zweitens: Mit den Bildern habe ich nichts zu tun.» «Und wieso hängen sie dann bei dir?» «Ich weiß nicht, ob ich dir das sagen darf...»
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«Ob du mir das sagen darfst?» Olga sah ihn aus den Augenwinkeln heraus missfällig an. «Pah», zischte sie dann, «wer sollte schon was dagegen haben!» «Der Künstler, der sie gemalt hat, zum Beispiel», entgegnete Anton betont rätselhaft. «Der Künstler?», sagte Olga. «Farbenverschmierer wäre wohl passender!» «Farbenverschmierer?» Anton hatte Mühe, nicht loszulachen. «Wenn Rüdiger das hören würde, wäre er sicherlich sehr enttäuscht!», sagte er mit einer Stimme, die vor unterdrücktem Lachen ganz heiser klang. «Rüdiger?», fragte Olga argwöhnisch. «Wieso ausgerechnet Rüdiger?» «Schließlich hat er sich die Mühe nur dir zuliebe gemacht!» «Mir zuliebe?» Olgas Blick wanderte zwischen Anton und den Bildern hin und her. «Willst du mir etwa weismachen, diese... diese Krakelbilder wären von Rüdiger?» «Weiß machen?», kicherte Anton. «Ich glaube, Rüdiger hat die Sonnen mit gelber Farbe gemalt!» Auch wenn es nicht sehr freundschaftlich war – Olgas vernichtendes Urteil über Rüdigers «Gemälde» erfüllte ihn mit einer gewissen Schadenfreude! Und immerhin hatte der kleine Vampir seine, Antons, mit viel Liebe gemalten Friedhofsbilder als «Klecksereien» bezeichnet. «Wie kommt er bloß auf solche Motive?», murmelte Olga, die kopfschüttelnd näher an die Bilder herangegangen war. «Glaubst du, Rüdiger könnte krank sein?» «Na ja», sagte Anton grinsend, «in Behandlung ist er jedenfalls...» «In Behandlung? Bei einem richtigen Arzt?», fragte Olga. «Nein, ein richtiger Arzt ist es nicht – eher ein Spezialist», erwiderte Anton.
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«Ach so!» Olga tippte sich gegen die Stirn. «Jetzt verstehe ich: Rüdiger ist bei einem Zahnarzt!» Und hämisch kichernd fügte sie hinzu: «Wahrscheinlich ist ihm ein Eckzahn abgebrochen, haha!» «Ein Eckzahn abgebrochen?» Anton musste grinsen. Die Vorstellung, dass der kleine Vampir auf einem Zahnarztstuhl saß, den Mund sperrangelweit aufgerissen, und heiser «aah» krächzte, war wirklich zu komisch. Aber rasch wurde er wieder ernst. «Nein, Rüdiger geht zu einem Psychologen», erklärte er. «Zu einem – was?» «Zu einem Psychologen. Er lässt sich dort gegen seine –» Anton brach ab. Er hatte auf einmal Zweifel, ob es klug wäre, Olga ins Vertrauen zu ziehen. Aber dann sagte er sich, dass er Olga unter Umständen sogar als Verbündete gewinnen könnte, wenn er sie in alles einweihte, und so begann er zu erzählen. Anton berichtete von den Entspannungsübungen, dem Lichtapparat, den gelben Kleidungsstücken und der Sonnenbrille, und natürlich sprach er auch von Igno von Rant und dessen Aussage, er sei gar kein Vampir. Igno von Rants Bekanntschaft mit Tante Dorothee erwähnte er, die «Ehe auf Probe» und die Villa Reinblick. Als Anton geendet hatte, stieß Olga einen tiefen Seufzer aus und sagte: «Arme Tante Dorothee!» «Arme Tante Dorothee?», wiederholte Anton. Seiner Meinung nach war es viel angebrachter, Mitgefühl mit dem kleinen Vampir zu haben! «Jawohl!», bekräftigte Olga. «Es ist doch tragisch, wenn Tante Dorothee jetzt, nachdem sie ihre Trauer um Onkel Theodor endlich über den Sargrand geworfen hat, ausgerechnet an so einen halb garen Typen gerät!» «Halb gar?» «Und ob! Behauptet von sich, er sei kein Vampir! Geht zu Fuß, hat schlechte Augen... Und dann liegt er noch nicht mal in
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seinem Sarg, sondern hat sich – wahrscheinlich aus übertriebener Vorsicht – anderswo verkrochen. Da muss einem Tante Dorothee ja Leid tun, dass sie auf so einen hereingefallen ist!» Leid tun? Tante Dorothee?, dachte Anton, nicht sehr überzeugt. Immerhin war Tante Dorothee ein erwachsener Vampir und konnte auf sich selbst Acht geben! Und außerdem: Sie machte kein Trainingsprogramm, um ihre Sonnen-Phobie zu überwinden, so wie der kleine Vampir. Und sie stand auch nicht im Begriff, sich – im Vertrauen auf den Erfolg des Programms – der Sonne auszusetzen. Er hörte, wie Olga mehrmals schniefte, und dann sagte sie mit vor Rührung triefender Stimme: «Ach, wenn ich bedenke, was Tante Dorothee alles für mich getan hat! Das Anschleichen hat sie mir beigebracht, das Zupacken. Und immer freundlich und geduldig ist sie gewesen. Stundenlang hat sie mir Unterricht im Stadtpark gegeben, obwohl ihr leerer Magen zum Herzerweichen geknurrt hat!» Anton überlief ein Schauder bei der Erwähnung von Tante Dorothees leerem, knurrendem Magen. «Und ich», fuhr Olga in anklagendem Ton fort, «habe ihr das noch nicht mal gedankt. Auf und davon bin ich geflogen, als mich Hugo der Haarige eingeladen hat, ihn nach Venedig zu begleiten.» «Hugo der Haarige?», sagte Anton überrascht. Er hatte noch nie von einem Vampir gehört, der so hieß. Offenbar war dieses Geständnis Olga gegen ihren Willen entschlüpft; denn nun blickte sie Anton finster an und fauchte: «Ja. Aber verrate es niemandem, vor allem Tante Dorothee und Rüdiger nicht!» «Keine Sorge, ich kann schweigen», sagte Anton.
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Eine Fügung Draculas Eine Pause entstand. Olga kaute auf ihren Lippen und schien nachzudenken. «Und wenn Igno von Rant nun gar kein Vampir ist?», fragte Anton vorsichtig. «Kein Vampir? Was sollte er denn sonst sein?» «Vielleicht ein – Mensch.» «Ein Mensch?», sagte Olga. «Du glaubst, Tante Dorothee würde mit einem Menschen anbandeln? Nein, das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen!» «Ich auch nicht», gab Anton zu. «Aber ich hab trotzdem so ein ungutes Gefühl – als würde mit Igno von Rant irgendetwas nicht stimmen. Und dieses Gefühl hab ich nicht erst seit gestern.» «Du hast es schon länger?» «Ja! Seit ich Igno von Rant das erste Mal getroffen habe. Und das war vor Sonnenuntergang!» «Vor Sonnenuntergang...», murmelte Olga. Anton hatte ihr das zwar schon erzählt – im Zusammenhang mit Igno von Rants Behauptung, er sei kein Vampir –, aber erst jetzt schien Olga klar zu werden, was dieser Tatbestand bedeutete. «Ja, und dann die Sache mit der Nachtblindheit», fuhr Anton fort, «und dass Igno von Rant immer zu Fuß geht. Und schließlich der leere Sarg – das ist doch alles reichlich eigenartig und verdächtig!» «Eigenartig finde ich es auch», stimmte Olga ihm zu. «Vielleicht ist es eine Fügung Draculas», meinte sie nach kurzem Überlegen. «Eine Fügung Draculas?», wiederholte Anton fragend. «Ja, weil ich jetzt die Chance habe, mich zu revanchieren», antwortete sie. «Dich zu revanchieren?», sagte Anton beklommen. Das klang nach Rache, nach – Blutrache!
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Doch Olga hatte es offenbar anders gemeint. «Ja, denn nun kann ich endlich auch einmal etwas für Tante Dorothee tun», erklärte sie feierlich. «Die Arme muss ja meinetwegen in tausend Ängsten geschwebt haben!» «Nicht nur Tante Dorothee», bemerkte Anton. Olga lächelte geschmeichelt. Vermutlich glaubte sie, Anton hätte von sich gesprochen. Dabei hatte er den kleinen Vampir gemeint und die Sorgen, die Rüdiger sich um seine geliebte Olga gemacht hatte. «Und wie willst du dich revanchieren?», fragte er. «Also...», erklärte Olga wichtigtuerisch. «Wenn tatsächlich etwas mit diesem Igno von Rant nicht stimmt und wenn ich es bin, die das aufdeckt und die Tante Dorothee gerade noch rechtzeitig warnt... das ist doch die Chance für mich, bei Tante Dorothee wieder einen guten Eindruck zu machen!» Gespannt sah sie Anton an. «Hm, ja», sagte Anton zögernd. Da war der kleine Vampir drauf und dran, für Olga seinen Kopf zu riskieren – und wem galt Olgas Sorge? Nicht Rüdiger, sondern einzig Tante Dorothee! Er räusperte sich. «Fliegen wir?» «Was, jetzt gleich?», sagte Olga. «Ja!» «Junge, Junge», kicherte sie. «Und ich dachte, du wärst schüchtern und unerfahren!»
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«Ich – schüchtern und unerfahren?» «Ja!» Sie stieß ein heiseres Lachen aus. «Wenn sich ein gut aussehender Junge, so wie du es bist, für ein Mauerblümchen wie Anna interessiert, dann kann es doch nur daran liegen, dass er total unerfahren ist – und zu schüchtern, um andere, richtig nette Mädchen kennen zu lernen!» Anton hatte einen roten Kopf bekommen. Im ersten Moment wollte er etwas Heftiges entgegnen, Anna in Schutz nehmen. Aber dann überlegte er, dass er damit gar nichts bewirken würde. Höchstens würde Olga beleidigt das Weite suchen! So verkniff er sich seinen Ärger und antwortete: «Ich wollte aus einem ganz bestimmten Grund gleich losfliegen: weil übermorgen, am Montag, der Familienrat tagt.»
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«Am Montag schon?», sagte Olga und zupfte an ihrer Haarschleife. «Ja, und dann soll entschieden werden, ob Igno von Rant probeweise in die Gruft einziehen darf.» «Ha, die haben es immer so fürchterlich eilig, die von Schlottersteins!», bemerkte Olga. «Vor allem Igno von Rant, der scheint es besonders eilig zu haben», sagte Anton. «Und deshalb sollten wir möglichst noch heute Nacht herausfinden, ob mit ihm tatsächlich etwas nicht stimmt.» «Wir?», flötete Olga. «Willst du denn auch einen guten Eindruck bei Tante Dorothee machen?» «Ich?» Anton überlief ein Frösteln. «Nein!» Olga kicherte. «Obwohl dir das mühelos gelingen würde, mit deinem langen schlanken Hals...» «Im Gegensatz zu Igno von Rant will ich aber nicht in die Gruft einziehen!», wehrte Anton ab. «Und Vampir will ich erst recht nicht werden», ergänzte er – für alle Fälle! Olga zwinkerte mit den Augen. «Du wirst schon noch auf den Geschmack kommen!» «Nein, nie!», erklärte Anton mit fester Stimme. Olga lachte aufreizend. «Das sagen alle – vorher!»
(K)ein Platz für Särge «Aber ich kann heute Abend nicht, leider», erklärte Olga nach einer Pause. «Erstens, weil ich schon verabredet bin –» «Verabredet?», fragte Anton aufgeregt. «Mit Rüdiger?» «Nein, wie kommst du auf den?», zischte sie. Offenbar wollte sie nicht daran erinnert werden, dass der kleine Vampir sie sehnsüchtig erwartete.
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«Und zweitens habe ich noch keine Unterkunft, es sei denn...» Sie machte eine Pause und blickte sich im Zimmer um. «Es sei denn, ich darf meinen Klappsarg bei dir aufschlagen!» «Bei mir?», rief Anton erschrocken. «Das geht auf gar keinen Fall.» «Und was ist mit deinem Keller?», fragte sie. «Mein... mein Vater hat gerade angefangen, etwas zu basteln», erfand er rasch eine Ausrede. «So, was bastelt er denn?», fragte Olga, ungewöhnlich sanft. «Särge vielleicht?» «Nein, ein Regal, ein Regal für – Flaschen!», stotterte Anton. «Für solche Flaschen wie dich, vermute ich», bemerkte Olga. «Wie – wie meinst du das?», sagte Anton in gespielter Entrüstung. Olga warf ihm einen frostigen Blick zu. «Rüdiger mit seinem Gruftverbot hast du wochenlang bei dir wohnen lassen. Aber wenn es darum geht, denselben Gefallen mir zu erweisen – und sei es nur für einen Tag –, dann kneifst du!» «Nein!», widersprach Anton. «Nur – du siehst ja selbst, hier im Zimmer ist kein Platz für –», er hustete, «für Särge. Und im Keller steht alles voller Holzlatten und Nägel zum Basteln.» «Wer’s glaubt...», sagte Olga. «Na ja», meinte sie dann. «Damit wäre Hugo der Haarige sowieso nicht einverstanden.» Anton horchte auf. «Hugo der Haarige? Ist der denn hier?» «Frag nicht so viel!», fauchte Olga. «Sag mir lieber, wo ich die Villa Reinblick finde.» «Wollen wir nicht doch zusammen hinfliegen?», schlug Anton vor. «Nein», entgegnete Olga barsch. «Ich werde später zur Villa fliegen. Außerdem bin ich jetzt, wie ich dir eben in aller Ausführlichkeit erklärt habe, verabredet!»
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In aller Ausführlichkeit?, dachte Anton zweifelnd. Olgas Mitteilungen waren bislang eher dürftig gewesen! Und Anton brannte darauf, mehr über Hugo den Haarigen zu erfahren, mit dem sich Olga, so viel schien festzustehen, zuerst in Venedig und danach in Wien aufgehalten hatte – und der ihr nun anscheinend sogar hierher gefolgt war! Wenn es sich aber bei Hugo dem Haarigen um Olgas neuen Freund handelte, so könnte dieser Treuebruch dem kleinen Vampir vielleicht die Augen über seine «große Liebe» Olga öffnen... «Kennst du den alten Wasserturm?», fragte er. «Klar, ich bin doch nicht blind», antwortete Olga. Nein, du nicht!, gab Anton ihr insgeheim Recht. Laut sagte er: «Also, du fliegst zum Wasserturm, und dann musst du die Straße ‹Zum Sportplatz› suchen. In dieser Straße ist es das vorletzte Haus auf der rechten Seite – eine große schwarze Villa. Die Türen und Fenster sind mit Brettern zugenagelt.» «Zugenagelt? Und wie soll ich da reinkommen?» «Durch das Kellerfenster auf der linken Seite.» Olga wirkte nicht gerade begeistert. «Kellerfenster? Na, ich werde mich mal umsehen, ob es nicht einen angenehmeren Einstieg gibt!» «So, und jetzt muss ich aufbrechen», säuselte sie. «Tut mir Leid, Anton. Aber beim nächsten Mal werden wir hoffentlich mehr Zeit füreinander haben.» «Beim nächsten Mal?», wiederholte er mit Herzklopfen. «Vielleicht schon – morgen?» «Du kannst es wohl gar nicht mehr aushalten ohne mich», meinte Olga, eitel kichernd. Anton räusperte sich. «Wir... wir könnten ja auch morgen Abend zur Villa Reinblick fliegen. Ich meine – der Familienrat tagt doch erst übermorgen!»
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Olga lachte heiser. «Ich habe viel schönere Dinge mit dir vor, als durch eine feuchte Bruchbude zu stolpern oder in leeren Särgen zu stöbern!» «S-so? Was denn?», murmelte Anton in böser Vorahnung. Olga machte eine weit ausholende Handbewegung. «Alles, was zwei sehr gute Freunde miteinander machen können: spazieren fliegen, den Mond anschauen, sich die geheimsten Wünsche und Träume erzählen...» «Und was die Villa und diesen Igno von Rant betrifft», fuhr sie mit erhobener Stimme fort, «das kannst du getrost mir, Olga Fräulein von Seifenschwein, überlassen!» Damit erklomm sie das Fensterbrett. Sie machte ein paar Armbewegungen und schwebte. «Träum was Schönes», flötete sie und warf Anton eine Kusshand zu. «Von deiner lieben Olga!», ergänzte sie und flog kichernd ab. Anton ging zum Fenster und blickte hinaus – in der bangen Sorge, sie könnte beobachtet worden sein. Doch er entdeckte niemanden, nicht einmal Olga in ihrem Vampirumhang. Erleichtert machte Anton das Fenster wieder zu, und mit dem Gefühl, dass er sich seinen Schlaf redlich verdient hatte, sank er ins Bett.
Alles live und in Farbe Müde war Anton auch noch, als ihn sein Vater am nächsten Morgen weckte. «Was, so früh schon aufstehen?», protestierte er. «Ich denke, am Sonntag darf man ausschlafen!» «Früh? Es ist gleich elf», antwortete sein Vater. «Wahrscheinlich elf Minuten vor sieben», brummte Anton. Sein Vater schmunzelte. «Ein aufregendes Nachtprogramm muss das gewesen sein.»
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«Allerdings», sagte Anton und fügte in Gedanken hinzu: und alles live und in Farbe! «Wie war’s in der Oper?», fragte er und gähnte. «In der Oper?» Sein Vater lachte verlegen. «Bestimmt nicht so dramatisch wie bei dir», sagte er dann. Dramatisch?, dachte Anton. Richtig dramatisch würde es erst noch werden: nämlich heute Abend, wenn – davon ging Anton aus – Olga zu ihm kommen würde. Seufzend stand er auf. Glücklicherweise starteten seine Eltern nach dem Frühstück zu einem ihrer ausgedehnten Sonntagsspaziergänge, und so konnte Anton wieder ins Bett gehen und bis zum Nachmittag weiterschlafen. Als es dämmerte, setzte Anton sich an den Schreibtisch; angeblich, um den in Mathematik versäumten Stoff nachzuholen. In Wirklichkeit zeichnete er: eine Vampirgruft. Olgas verächtliche Kommentare über Rüdigers «Krakelbilder» hatten ihn nämlich verlockt, zu demonstrieren, dass er kein Farbenverschmierer war. Es wurde eine tolle Gruft, je länger Anton daran arbeitete. Und Zeit genug hatte er auch, denn Olga ließ sich nicht blicken. Schließlich, kurz nach zweiundzwanzig Uhr, erschien Antons Mutter an der Zimmertür und verkündete, sie und Antons Vater würden jetzt schlafen gehen.
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«Und du solltest auch bald in die Federn kriechen», meinte sie. «Selbst wenn du morgen keine Schule hast, dank deiner Windpocken.» Anton grinste. «Ja, danke, Windpocken», sagte er. Er hatte zwar schon seit Tagen kein Fieber mehr, aber wegen der Ansteckungsgefahr sollte er noch eine weitere Woche zu Hause bleiben. Nachdem Antons Eltern zu Bett gegangen waren, wurde es sehr still; in der Wohnung, im ganzen Haus. In dieser Stille merkte Anton, dass er immer müder wurde – obwohl er doch eigentlich hellwach hätte sein müssen. Er sah zum Fenster hinüber. Hatte es Sinn, noch länger auf Olga zu
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warten? Ihm fiel ein, dass sie gestern Abend keineswegs zugesagt hatte, heute zu kommen. Und auf seinen Vorschlag, gemeinsam zur Villa Reinblick zu fliegen, hatte sie nur geantwortet: «Das kannst du getrost mir, Olga Fräulein von Seifenschwein, überlassen.» Getrost... Durfte Anton sich wirklich darauf verlassen, dass Olga in der Villa Reinblick gewesen war und versucht hatte, das Geheimnis des leeren Sargs zu ergründen? Er wusste ja noch nicht einmal, ob sie den Wasserturm tatsächlich kannte. Ihr schnippisches «Ich bin doch nicht blind» hatte Anton nicht unbedingt überzeugt! Und selbst wenn Olga den Wasserturm und die Villa Reinblick gefunden hatte... war sie auch im Keller gewesen? Anton dachte an ihr neues rotes Trachtenkleid mit der weißen Schürze und den weißen Spitzen am Saum und an ihre hellrosa Schleife. Würde ein so eitles, gefallsüchtiges Vampirmädchen wie Olga mit seinem neuen Kleid in ein finsteres Kellerloch voller Spinnweben hinunterrutschen...? Und falls Olga doch etwas herausgefunden haben sollte – vielleicht hatte sie ja einen zweiten, weniger staubigen Einstieg zur Villa Reinblick entdeckt –, würde dann der Familienrat überhaupt davon erfahren? Immerhin hatte Olga ihren Klappsarg gar nicht in der Gruft Schlotterstein aufgestellt, sondern irgendwo außerhalb, wahrscheinlich gemeinsam mit Hugo dem Haarigen. Mit plötzlicher Klarheit erkannte Anton, dass er sich etwas vorgemacht hatte, als er Olga für seine Verbündete hielt. Nein, es gab niemanden außer ihm, der das Verhängnis, das Igno von Rant möglicherweise über die Sippe derer von Schlotterstein bringen würde, noch abwenden könnte. Anton stand allein, ganz allein...
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Frei und leicht wie ein Vampir In diesem Augenblick nahm er einen schweren, süßlichen Geruch wahr. Anton erschrak. Aber es war nicht der unangenehme Maiglöckchen-Geruch, den er von Igno von Rant kannte. Es war ein Rosenduft: der Duft von Mufti Ewige Liebe – Annas Parfüm! «Anna!», rief er aus und stürzte ans Fenster. Doch der Fenstersims war leer. Verwirrt ging Anton zu seinem Schreibtisch zurück. Sollte der Rosenduft aus dem Fläschchen gekommen sein, das Anna ihm zu Weihnachten geschenkt hatte? Anton verwahrte es in der untersten Schublade, hinter einem Stapel alter Schulhefte. Er zog die Schublade auf. Aber hier roch es nur nach Papier und Tinte. Anton erinnerte sich daran, was Anna damals über ihr neues Parfüm gesagt hatte: Die Wirkung von Mufti Ewige Liebe sei, dass sie sich nie mehr einsam fühlen würden. Vielleicht war der Rosenduft ein geheimes Zeichen, dass Anton zur Villa Reinblick fliegen sollte, weil er dort Anna treffen würde? Und mit Anna über Igno von Rants leeren Sarg zu sprechen, war unter Umständen die letzte Chance, das Verhängnis noch aufzuhalten... Anton nahm das Fläschchen, öffnete den Schraubverschluss und tupfte sich ein paar Tropfen von Mufti Ewige Liebe hinter die Ohren. Anschließend schraubte er das Fläschchen wieder zu und stellte es in die Schublade zurück. Der Rosenduft war nun fast überwältigend und verstärkte den Eindruck, Anna wäre tatsächlich im Raum. Anton spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Sollte er es tatsächlich wagen, allein loszufliegen – im Vertrauen darauf, dass es ihm gelingen würde, Anna zu finden?
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Aber hatte er denn überhaupt eine Wahl? Für Anna und Rüdiger ging es möglicherweise um Kopf und Kragen, und wenn Anton davor nicht die Augen verschließen wollte, musste er etwas unternehmen, und zwar noch in dieser Nacht! Mit vor Aufregung zitternden Fingern holte er den Vampirumhang aus dem Schrank und streifte ihn über. Auf Zehenspitzen ging er zur Tür und schloss sie ab. Er stieg aufs Fensterbrett, machte ein paar zögernde Armbewegungen, und langsam, fast im Zeitlupentempo, erhob er sich in die Luft. Anton bewegte seine Arme kraftvoller – und flog. Ein Gefühl ungeheurer Gelöstheit durchströmte ihn: Er hatte die Erdenschwere abgestreift, war frei und leicht wie ein Vogel, nein, frei und leicht wie ein Vampir! Aber seine Freude wich rasch einem Gefühl der Beklemmung. Sabine die Schreckliche, Wilhelm der Wüste, Elisabeth die Naschhafte und all die anderen Vampire fielen ihm ein, die inzwischen ihre Schlupfwinkel verlassen hatten. Ihnen durfte Anton auf keinen Fall begegnen! Voller Unbehagen sah er sich um. Es war eine mondhelle Nacht, und über ihm leuchteten die Sterne. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie verloren er unter diesem hohen, weiten Himmelszelt war. Ein ehrfürchtiger Schauer überlief ihn, der sein Herz schneller schlagen ließ. Aber nein, es war nicht gut, darüber nachzudenken! Er musste sich auf Anna konzentrieren und auf seinen Flug zur Villa Reinblick! Anton presste die Lippen zusammen und schlug die Richtung ein, in der das Haus von Herrn Schwartenfeger lag; denn dies war der einzige Weg zur Villa Reinblick, bei dem er sicher sein konnte, dass er sich nicht verfliegen würde.
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Duftübertragung Ohne jeden Zwischenfall erreichte Anton das Haus, in dem Herr Schwartenfeger seine Praxis hatte. Als er bemerkte, dass im Erdgeschoss die letzten beiden Fenster erleuchtet waren, verlangsamte er seinen Flug. Sollte Herr Schwartenfeger um diese Zeit noch einen Patienten haben – am Ende gar den kleinen Vampir? Aber das ließ sich ja herausfinden... Anton landete im Vorgarten hinter einem Busch und blickte zu den Fenstern des Sprechzimmers hinauf. Die dicken Tüllgardinen waren zugezogen, aber er wusste aus Erfahrung, dass man sehr gut hindurchspähen konnte, wenn im Zimmer Licht brannte. Dazu musste man sich nur auf einen der gemauerten Fenstervorsprünge setzen. Während Anton noch überlegte, ob er hochklettern oder lieber fliegen sollte, wurde ihm auf einmal bewusst, dass im äußersten Winkel des rechten Fensters eine kleine dunkle Gestalt saß... In diesem Augenblick ertönte ein Kichern, und eine helle Stimme flüsterte: «Guten Abend, Anton!» «Anna!», sagte Anton. Diesmal war sie es wirklich! Lautlos kam sie zu ihm heruntergeflogen. «Das war Gedankenübertragung», meinte sie zärtlich. «Nein, Duftübertragung!» «D-Duftübertragung?», stotterte Anton. Ausgerechnet hier, vor dem Haus von Herrn Schwartenfeger, auf Anna zu treffen, noch dazu, bevor Anton überhaupt begonnen hatte, richtig nach ihr zu suchen – das kam so unerwartet, dass er einen Moment lang nicht wusste, was er denken sollte. «Ja, Duftübertragung!» Sie kicherte wieder. «Den Duft habe ich schon gerochen, als du noch in der Luft geschwebt hast. Mufti Ewige Liebe rieche ich meterweit, nein, kilometerweit!»
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«Kilometerweit?», wiederholte Anton mit rauer Stimme, um überhaupt etwas zu sagen. «Ja, weil niemand auf der ganzen Welt so duften kann, außer uns beiden!» «Tatsächlich?», sagte Anton. Bestimmt gab es Tausende verschiedener Rosenparfüms! Aber da er Anna auf keinen Fall kränken wollte, sprach er das lieber nicht aus. «Niemand außer dir und mir», bestätigte Anna und hielt ihm ihre Hand entgegen. Ein starker Rosenduft stieg Anton in die Nase. «Du... du hast Mufti Ewige Liebe auch benutzt?», fragte er; nicht gerade einfallsreich, wie er selbst merkte. Anna lächelte und nickte. «Ich benutze es immer, wenn ich mir wünsche, du wärst bei mir.» «Ach, ja?» Anton hustete verlegen. Dass Anna ihre Gefühle immer so... unverblümt ausdrücken musste! Doch sie schien sein Husten missverstanden zu haben, denn nun fuhr sie ihn an: «Du weißt anscheinend gar nicht mehr, was ich dir über die besondere Wirkung von Mufti Ewige Liebe anvertraut habe!» «Oh doch!», widersprach Anton. «Du hast gesagt, dass wir uns nie mehr einsam fühlen würden. Und deshalb –» Er machte eine Pause. «Und nur deshalb habe ich heute Abend Mufti Ewige Liebe benutzt!», erklärte er dann mit fester Stimme. «Ehrlich?» Ein Lächeln huschte über Annas Gesicht. «Außerdem sollte es mir helfen, dich zu finden», fügte Anton hinzu. «Mich zu finden?», wiederholte Anna. «Und warum?» «Weil –», Anton zögerte. «Weil ich etwas ungeheuer Wichtiges mit dir besprechen muss.» Anna kicherte. «Oh, mir schwant etwas: Anton der Eifersüchtige hat Neuigkeiten über meinen lieben Onkel Igno!»
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«Nein, äh – ja!», stotterte Anton, den eine Art Verzweiflung gepackt hatte. Dass Anna ihm bereits jetzt Eifersucht unterstellte – noch ehe Anton ihr seine Beobachtungen in der Villa Reinblick überhaupt mitgeteilt hatte –, das ließ es fast aussichtslos erscheinen, ernsthaft mit Anna über Igno von Rants leeren Sarg zu sprechen. Wahrscheinlich würde sie behaupten, er habe aus lauter Eifersucht Igno von Rant in seinem Sarg einfach «übersehen»! Während Anton noch fieberhaft überlegte, wie es ihm gelingen könnte, Anna davon zu überzeugen, dass er keineswegs eifersüchtig war, und gleichzeitig das Kunststück fertig zu bringen, Anna damit nicht zu kränken, wurde es auf einmal links von ihm hell. Er fuhr herum und sah, dass im Treppenhaus das Licht angegangen war. Im selben Moment wurde er von Anna am Umhang gepackt. «Das ist Rüdiger!», flüsterte sie.
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«Rüdiger?», sagte Anton bestürzt. Den kleinen Vampir hatte er über dem unerwarteten Zusammentreffen mit Anna völlig vergessen. «Dann... dann war er bei Herrn Schwartenfeger?» «Ja!» Anna duckte sich und zog Anton zu sich herunter. «Aber er darf uns unter keinen Umständen sehen», flüsterte sie. «Er weiß nämlich nicht, dass ich heimlich zugucke, wenn er seine Übungen macht.» «Du kommst öfter hierher?» «Ja, sooft es geht. Und ich habe auch schon eine Menge gelernt. – Aber jetzt psst!» Anna legte einen Finger auf den Mund. Anna sah, wie der kleine Vampir aus der Eingangstür trat, gefolgt von Herrn Schwartenfeger. Unwillkürlich hielt er den Atem an. Der kleine Vampir gab dem Psychologen die Hand, machte eine schiefe Verbeugung und sagte mit knarrender Stimme: «Also, bis zum nächsten Mal!» «Wenn du weiterhin so rasante Fortschritte machst, wirst du bald keine Übungsstunden mehr brauchen», antwortete Herr Schwartenfeger. «Glauben Sie wirklich?» «Ja! Sechs oder sieben Stunden noch, dann dürfte deine Sonnen-Phobie geheilt sein.» Sechs oder sieben Stunden?, dachte Anton, dem bei diesen – wie er fand, höchst Besorgnis erregenden – Aussichten das Herz bis zum Hals schlug. «Jetzt könnte deine kleine Freundin ruhig kommen – die, für die du so eifrig trainiert hast», meinte Herr Schwartenfeger und lachte wie über einen gelungenen Scherz. «Könnte?», zischte Anton. «Ha, wenn ihr wüsstet!» «Wie meinst du das: Wenn ihr wüsstet?», hörte er Anna argwöhnisch fragen. Erst in diesem Moment begriff Anton, was ihm da herausgerutscht war!
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«Ich, äh –» Er räusperte sich betreten. «Ich erklär’s dir gleich», flüsterte er. «Wenn Rüdiger weg ist.» Der kleine Vampir war zur Straße gegangen. Auf dem Fußweg blieb er noch einmal stehen und nickte Herrn Schwartenfeger zu. Dann wandte er sich nach links und bog in den schmalen Weg ein, der am Haus vorbeiführte – nur wenige Meter von dem Busch entfernt, hinter dem sich Anna und Anton versteckten. Schaudernd hörte Anton, wie der Sand unter Rüdigers Schritten leise knirschte. Stoff raschelte, und anschließend war ein Geräusch wie von großen, schwirrenden Flügeln zu vernehmen. Danach war alles still. In diese Stille fiel das Zuschlagen der Eingangstür wie eine kleine Explosion. Um ein Haar hätte Anton aufgeschrien.
Erzähl weiter! «Rüdiger ist weg!», bemerkte Anna sehr bestimmt. «Jetzt kannst du mir erzählen, was du mit deinem rätselhaften ‹Wenn ihr wüsstet› gemeint hast.» «Ja-ja, sofort», murmelte Anton. Er sah zum Haus hinüber. Das Licht im Treppenhaus war erloschen, nur die beiden Fenster des Sprechzimmers waren noch erleuchtet. Vermutlich trug Herr Schwartenfeger gerade die Ergebnisse der nächtlichen Sitzung in sein dickes schwarzes Buch ein... «Sollten wir nicht besser woandershin gehen?», schlug er vor; hauptsächlich, um Zeit zu gewinnen. «Nein!», erwiderte Anna ungewohnt schroff. Anton musterte sie überrascht. Immerhin – eine gereizte Anna war ihm lieber als eine, die andauernd kicherte! Ob sie jetzt bereit war, ihm ernsthaft zuzuhören?
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«Aber es ist ziemlich viel, was ich dir erzählen muss», wandte er ein. «Dieser Platz ist genauso gut oder genauso schlecht wie jeder andere auch», antwortete Anna. «Also dann...» Anton atmete tief durch. ‹Wahrheit ist die beste Verteidigung› – gab es nicht ein Sprichwort, das so lautete? Rundheraus erklärte er: «Olga war gestern bei mir.» «Wie bitte?», sagte Anna. Dann lachte sie heiser. «Nein, das glaube ich nicht. Das behauptest du nur, um mich eifersüchtig zu machen!» Anton schüttelte den Kopf. «Olga hat gestern Abend an mein Fenster geklopft. Ich habe geöffnet und –» Er brach ab. Annas Entgegnung, das habe er gesagt, um sie eifersüchtig zu machen, hatte ihn auf eine Idee gebracht. Wenn er nun das Spiel «Eifersucht» einfach mitspielte allerdings auf seine Art...? Ja, die Idee war hervorragend! Er brauchte Annas Eifersucht auf Olga nur kräftig zu schüren, und schon würde Anna den Ehrgeiz entwickeln, Olga zu übertrumpfen, indem sie selbst das Geheimnis um Igno von Rant und seinen leeren Sarg aufklären wollte! «Erzähl weiter!», verlangte Anna ungeduldig. «Hm, ich weiß nicht, ob das richtig ist», tat Anton verschämt – in der Absicht, Annas Neugier weiter anzustacheln. «Ob es richtig ist?» Anna gab ein entrüstetes Schnauben von sich. «Meinst du vielleicht, verschweigen wäre besser?» «Na ja –» Anton hatte Mühe, ernst zu bleiben. «Wenn es dich doch nur aufregen oder kränken würde...» Anna ballte die Fäuste. «Ich will alles wissen, was zwischen euch vorgefallen ist!» «Wenn du darauf bestehst –», meinte Anton und räusperte sich umständlich; auch dies ein Schachzug, um Anna noch gespannter zu machen. «Ich habe dir ja schon früher gesagt,
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dass ich einen gewissen Verdacht gegen Igno von Rant habe», erklärte er dann und fügte mit wichtiger Miene hinzu: «Olga hat mich nun in meinem Verdacht bestärkt!» «Olga?», wiederholte Anna verblüfft. «Kennt sie Onkel Igno denn auch?» «Nein. Aber seit gestern Nacht ist sie ihm auf der Spur!» «Auf der Spur? Inwiefern?» «Nun...» Anton räusperte sich wieder. «Olga findet es ebenfalls sehr verdächtig, was ich ihr über Igno von Rant berichtet habe: seine Nachtblindheit, dass er immer nur zu Fuß geht, dass er schon als Kind mit der Taschenlampe unter der Sargdecke gelesen hat... Ja, und vor allem der leere Sarg – das hat Olga am meisten beunruhigt.» «Welcher leere Sarg?!» «Na, der Sarg von Igno von Rant! Der war vollkommen leer, als ich am Freitagmorgen reingeguckt habe!» «Am Freitagmorgen?» Anton nickte. «Ja! Und dass Igno von Rant am Vormittag nicht in seinem Sarg liegt – diese Tatsache findet Olga ganz besonders verdächtig.» «Olga, Olga», zischte Anna. «Jeder Vampir würde das verdächtig finden!» «Du denn auch?», fragte Anton. Zum ersten Mal schien Anna das, was Anton ihr über Igno von Rant erzählte, nicht auf die leichte Schulter zu nehmen! Sie reckte ihr Kinn. «Ich sowieso!» Anton verkniff sich ein Grinsen.
Anna die Eifersüchtige «Und Olga ist jetzt in der Villa Reinblick?», forschte Anna. «Das weiß ich nicht», antwortete Anton wahrheitsgemäß.
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«Aber du hast doch gesagt, Olga sei ihm auf der Spur!», beharrte sie. «Ja, schon. Nur, wie sie das anstellen will, das hat sie mir nicht verraten. – Oder findest du, ich hätte Olga begleiten sollen?» Nun musste Anton doch grinsen. Anna warf ihm einen grimmigen Blick zu. «Nein, natürlich nicht!», fauchte sie. «Ich werde zur Villa Reinblick fliegen», kündigte sie nach kurzem Überlegen an. «Allein?», fragte Anton betroffen. «Ja, allein», bestätigte sie. «Aber... ich würde gern mit dir zusammen hinfliegen!», wandte Anton ein. Anna schüttelte energisch den Kopf. «Nein. Es ist schlimm genug, was bereits passiert ist!» «Was bereits passiert ist?», wiederholte Anton. «Ja! Dass Olga an dein Fenster geklopft hat und dass du sie reingelassen hast!» «So schlimm, wie du denkst, war es nun auch nicht.» «Das sagst du nur, weil Olga, dieses gemeine Biest, dir gestern Abend den Kopf verdreht hat!», erwiderte Anna scharf. «Glaub mir, Anton: Jedes Treffen mit dieser Heuchlerin ist ein Treffen zu viel für dich!» Anton biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. «Ich glaube etwas ganz anderes», sagte er. «Nämlich, dass du eifersüchtig bist!» «Eifersüchtig?», zischte Anna. «Ich bin viel mehr als bloß eifersüchtig! Oder soll ich etwa tatenlos mit ansehen, wie Olga sich zwischen uns drängt?» Sie blickte Anton aufgebracht, beinahe drohend an. «N-nein», antwortete er hastig. «Das sollst du nicht.» Annas Gesichtszüge entspannten sich.
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«Keiner wird uns auseinander bringen», versicherte sie und schüttelte ihre Fäuste, «am allerwenigsten Olga Fräulein von Seifenschwein!» Dann, ganz verändert, fügte sie mit einem zärtlichen Lächeln hinzu: «Bis bald, Anton!» «Du willst schon los?» «Ja.» «Und der leere Sarg?» «Warte auf mich in deinem Zimmer», antwortete sie. «Ich werde kommen, wenn ich etwas herausgefunden habe!» Damit verschwand sie zwischen den Sträuchern. Anton zögerte einen Moment. Doch es schien ihm nicht sehr klug zu sein, Anna heimlich zur Villa Reinblick zu folgen, und so beschloss er, nach Hause zurückzufliegen. In seinem Zimmer angekommen, fühlte Anton sich hundemüde. Aber da er annahm, dass Anna ihn nicht lange warten lassen würde, wusch er sich zuerst im Bad sein Gesicht kalt ab. Danach setzte er sich im Schlafanzug an den Schreibtisch, um seine Vampirgruft zu vollenden – in der Hoffnung, das Zeichnen würde ihn wach halten. Doch es trat genau das Gegenteil ein: Anton hatte kaum den ersten Vampirsarg mit einer stattlichen Anzahl von Wurmlöchern versehen, als ihm die Augen förmlich zufielen und er nur noch zum Bett tappen und sich auf die Matratze sinken lassen konnte. Ein heftiges Rütteln an seiner Schulter weckte ihn. Verschlafen fuhr er in die Höhe und brummte: «Ja, und was ist mit dem leeren Sarg?» «Mit dem leeren Sarg?», wiederholte eine spöttische Stimme. Schlagartig begriff Anton, dass es gar nicht Anna war, die neben dem Bett stand, sondern seine Mutter! Und es war auch nicht mehr Nacht, sondern heller Morgen...
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«Kein Wunder, dass du wieder einen Albtraum hattest», sagte seine Mutter jetzt in vorwurfsvollem Ton. «Bei deinem nächtlichen Zeitvertreib.» Anton erschrak. Sollte sie etwa gemerkt haben, dass er gestern Nacht noch unterwegs gewesen war? «Von welchem Zeitvertreib sprichst du?», fragte er. Sie deutete mit einem Kopfnicken auf den Schreibtisch. «Für solche widerwärtigen Malereien wie die da müsste dir deine Nachtruhe wirklich zu schade sein.» «Ach, du meinst das Bild...» Anton atmete auf. In seiner Erleichterung entgegnete er keck, in gespielter Empörung: «Das hättest du überhaupt nicht sehen dürfen!» Sie nickte finster. «Ja, das kann ich mir lebhaft vorstellen, dass deine Friedhofsmalereien das Tageslicht scheuen.» «Nein, nicht deshalb. Es ist geheim.» «‹Geheim›? ‹Gemein› wäre wohl passender!» Anton grinste breit. «Es ist geheim, weil ich es dir zum Geburtstag schenken will!» Sekundenlang war seine Mutter sprachlos. Dann wandte sie sich verärgert ab und ging zur Tür. «Dein Frühstück steht in der Küche», erklärte sie knapp. «Ich komme heute früher nach Hause, die letzten beiden Stunden fallen aus.» Damit verließ sie das Zimmer. Die letzten beiden Stunden? Anton rechnete schnell nach. Unter diesen Umständen konnte er nur bis 12 Uhr schlafen! Er stellte den Wecker auf Viertel vor 12 und zog sich die Decke über den Kopf. Leider gelang es Anton nicht, wieder einzuschlafen. Er musste an Anna denken – und warum sie nicht gekommen war. Ob sie ihn vergessen hatte? Vielleicht hatte sie auch nichts über Igno von Rant und das Geheimnis des leeren Sargs herausgefunden? Oder war sie mit Olga in Streit geraten?
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Annas Bemerkung «Ich bin viel mehr als bloß eifersüchtig» fiel ihm ein – und wie sie mit blitzenden Augen geschworen hatte: «Keiner wird uns auseinander bringen, am allerwenigsten Olga Fräulein von Seifenschwein.» Ob sie etwas gegen Olga unternommen hatte? Schaudernd dachte Anton an die grässlichen Eifersuchtsdramen, über die manchmal in der Zeitung berichtet wurde... Aber nein, sagte er sich dann, Vampire hielten zusammen. Sie hatten zwar auch Streit, genau wie Menschen. Doch sie würden sich bestimmt nie gegenseitig etwas antun!
Von wegen... Glückswürfel! Nun war Anton so wach, dass er seufzend aufstand und in die Küche marschierte. Fast fühlte er sich verlockt, zur Schule zu gehen; dann würde die Zeit bis zum Sonnenuntergang wenigstens etwas schneller verstreichen! Aber nachdem er gefrühstückt und sich wieder ins Bett gelegt hatte, schlief er glücklicherweise noch einmal ein. Und auch der Nachmittag verging beinahe wie im Flug, weil überraschend Henning vorbeikam. Henning war nicht gerade Antons bester Freund – eigentlich überhaupt kein «Freund» –, aber der Einzige, der ihn besuchen durfte, weil er die Windpocken schon vor Anton bekommen hatte. Ja, vermutlich war er es gewesen, der Anton angesteckt hatte. Sie spielten «Mensch-ärgere-dich-nicht» und «Fang-denHut», und Anton gewann unablässig. «Der Würfel ist manikürt!», rief Henning schließlich wütend und warf ihn in die Luft.
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Gelassen sah Anton zu, wie der Würfel auf dem Teppich landete und unters Bett rollte. «Manikürt?», wiederholte er dann grinsend. «Bist du sicher, dass es das ist, was du sagen wolltest?» «Und ob!», bestätigte Henning. «Ich lasse mir von dir nichts vormachen!» «Das Vormachen dürfte mir auch schwer fallen», sagte Anton und grinste noch mehr. «Besonders, wenn der Würfel gar keine Finger hat und erst recht keine Fingernägel.» «Wie – Fingernägel?», fragte Henning verständnislos. Anton genoss den Triumph. «Ich schätze, du meinst nicht ‹manikürt›, sondern ‹manipuliert›!» Henning war rot geworden. «Hab ich doch gesagt», knurrte er. «Und jetzt muss ich sowieso nach Hause.» Er stand auf und ging zur Tür. Anton sah ihm nach. Normalerweise hätte er darauf bestanden, dass Henning den Würfel wieder hervorholte. Aber da Anton gestern Nacht zu bequem gewesen war, den Vampirumhang im Schrank zu verstecken und ihn stattdessen nur unter das Bett gestopft hatte, musste er sich diesmal selbst 97
bemühen – leider! Er schaltete die Nachttischlampe ein – es hatte schon zu dämmern begonnen – und schob sich bis zu den Schultern unter das Bett. Da lag der Vampirumhang. Anton streckte den Arm aus und zog ihn zu sich heran. Doch den Würfel entdeckte er nicht; nur ein paar dicke Staubflocken und ein herausgerissenes Blatt aus einer alten Fernsehzeitung. Während er noch überlegte, ob er tiefer unter das Bett kriechen sollte – dagegen sprach, dass er ein halbes Dutzend anderer Würfel besaß, dafür sprach, dass gerade dieser Würfel ein ausgesprochener Glückswürfel zu sein schien –, klopfte es plötzlich an sein Fenster. Anton schreckte hoch – und stieß einen Schrei aus: Er war mit dem Hinterkopf gegen eine Sprungfeder gestoßen! Eine Weile glaubte er Sterne zu sehen. Aber dann ließ der Schmerz nach, und er konnte wieder klarer denken. «Von wegen... Glückswürfel!», meinte er zähneknirschend und kroch langsam unter dem Bett hervor. Er stand auf und blickte zum Fenster hinüber. Im Halbdunkel sah er schemenhaft eine kleine Gestalt. Einen Augenblick lang dachte er, es könnte Olga sein. Aber dann erkannte Anton freudig, dass es Anna war.
Blutiger Ernst Er öffnete das Fenster. «Hallo Anna», sagte er mit rauer Stimme. «Guten Abend, Anton», antwortete sie. Und nach einem raschen Blick auf die Bilder an den Wänden sagte sie: «Ach, bei dir hat Rüdiger seine Sonnengemälde aufgehängt? Dann komme ich natürlich gern zu seiner Ausstellungs-Eröffnung. Aber erst einmal haben wir etwas Wichtiges vor!» «Etwas Wichtiges vor?»
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«Ja, ich will dich abholen. Bist du fertig?» «Wie – fertig? Und warum willst du mich abholen?» «Gleich tritt der Familienrat zusammen, und ich finde, dass du auch dabei sein solltest!», sagte Anna voller Stolz. «Ich? Beim Familienrat?», wiederholte Anton entsetzt. Das konnte nur ein Scherz sein! Doch Anna nickte und sagte: «Wir müssen uns beeilen! Rüdiger und Lumpi haben schon angefangen, die Särge aufzustellen.» Für einen Moment verschlug es Anton die Sprache. Demnach war es gar kein Spaß, es war Ernst, blutiger Ernst... «Nein!», rief er mit sich überschlagender Stimme. «Ich will nicht zum Familienrat, auf gar keinen Fall!» Anna machte einen Schmollmund. «Aber Anton», meinte sie, «wenn ich dir nun sage, dass du überhaupt keine Angst haben musst.» «Nein!», erwiderte Anton erregt. «Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich zu einem Vampirball gehe, auf dem Hunderte von Vampiren sind – oder ob ich zu zehn Vampiren in die Gruft steige!» «Sieben!», verbesserte Anna. «Es sind nur sieben. Also, erst mal ich, dann Rüdiger, Lumpi, meine Mutter, Hildegard die Durstige, mein Vater, Ludwig der Fürchterliche, meine Großmutter, Sabine die Schreckliche, und Wilhelm der Wüste, mein Großvater...» «Das beruhigt mich kein bisschen», entgegnete Anton. «Und selbst wenn es deine Verwandten sind», fügte er hinzu. «Ich bin doch nicht lebensmüde!» «Nein?», sagte Anna sehr sanft. «Nein!», bekräftigte Anton. Mit etwas ruhigerer Stimme fuhr er fort: «Je weniger in der Gruft sind, umso genauer können sie mich beäugen! Und dann werden sie merken, dass ich ein Mensch bin, auch wenn ich mich noch so gut schminke und verkleide!»
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«Verkleiden? Wer spricht denn von verkleiden?», antwortete Anna. «Du kannst so gehen, wie du bist: als Anton von Bohnsack der süße Neugierige!» Jetzt war Anton erst recht verblüfft. «Ich soll mich nicht verkleiden?» «Nein!» Anna kicherte. «Du wirst meine Verwandten gar nicht sehen. Du wirst sie nur hören, weil du nämlich nebenan sein wirst, in unserem neuen, noch nicht ganz fertig gestellten Notausgang.» «Ach so», murmelte Anton. «Und dort wirst du dann Ohrenzeuge meiner mitreißenden Rede werden!» «Deiner mitreißenden Rede?» «Ja. In dieser Rede werde ich meine Bedenken gegen die Aufnahme von Igno von Rant in unsere Gruft vortragen!» Sie kicherte heftig, wahrscheinlich schon im Vorgefühl ihres geplanten Auftritts. Anton gab keine Antwort. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander.
Leider hast du Eltern! «Meine Rede muss dich doch interessieren!», sagte Anna, nun mit einem leichten Vorwurf in der Stimme. «Immerhin hast du mich dazu gebracht, Igno von Rant hinterherzuspionieren.» «Sie interessiert mich ja auch!» «Aber?» «Nun...» Anton räusperte sich. Er wollte nicht als Angsthase dastehen, am allerwenigsten vor Anna, die den Beinamen «die Mutige» führte. «Glaubst du nicht, dass es für mich gefährlich werden könnte?» «Gefährlich? Aber meine Verwandten sind doch alle in der Gruft.»
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«Ja, bis auf Tante Dorothee!» «Tante Dorothee ist am Anfang auch dabei», erwiderte Anna. «Schließlich muss sie ihren Antrag stellen und die Gründe nennen, weshalb Igno von Rant in die Gruft aufgenommen werden soll.» «Eben!», sagte Anton beklommen. «Und danach kommt sie zu mir in den Notausgang und –» Er brach ab. Ein Frösteln überlief ihn. «Zu dir?» Anna lachte leise. «Ich habe selbst gehört, wie Tante Dorothee sich mit Igno von Rant verabredet hat. Sie wollen sich am Wasserturm treffen und in der ‹Verliebten Kastanie› mit rotem Sekt anstoßen, dass der Antrag auch durchkommt. Nein, Anton, ich werde dir schon rechtzeitig Bescheid sagen, und dann kannst du völlig sicher nach Hause zurückfliegen, verlass dich drauf!» «Hm, wenn du meinst, dass nichts schief gehen kann...» «Ich weiß es!» «Also gut, ich komme mit», sagte Anton. «Aber erst muss ich noch mit meinen Eltern reden.» «Wie –» Annas Augen verengten sich. «Du willst deine Eltern einweihen?» «Nein, natürlich nicht. Ich muss sie nur um Erlaubnis fragen, wenn ich um diese Zeit nach draußen will.» «Ja, leider.» Anna seufzte. «Leider hast du Eltern!» Anton grinste. Aber meine Eltern beißen wenigstens nicht!, dachte er. «Warte unten auf mich, am Spielplatz», sagte er nach einer Pause. Dann fiel ihm noch etwas ein. Er lief zu seinem Bett und kehrte mit dem Vampirumhang zurück. «Würdest du den für mich mitnehmen? Sonst muss ich ihn an meinen Eltern vorbeischmuggeln.» Anna lächelte zärtlich. «Ich würde alles für dich tun, das weißt du doch.»
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Im Wohnzimmer lief schon der Fernseher. Ein alter Spielfilm wurde gezeigt, in dem – ein glücklicher Zufall! – der Lieblingsschauspieler von Antons Mutter die Hauptrolle spielte. So kam es, dass sie auf Antons Mitteilung, er müsse nochmal mit dem Fahrrad zu Henning fahren und ihn etwas wegen der Mathematik-Aufgaben fragen, nur mit einem zerstreuten «Aber bleib nicht zu lange weg» reagierte. Es war kaum zu fassen! Anton hatte mit einer zähen Diskussion gerechnet, und nun das... Ein Liedchen pfeifend, verließ er die Wohnung. Unten angekommen, verwandelte sich seine gute Laune allerdings rasch in eine gespannte, ängstliche Erwartung.
Gute Nachbarschaft Anna erwartete ihn am Eingang des Spielplatzes. «Und du glaubst wirklich, dass mich deine Verwandten nicht entdecken werden?», fragte Anton. «Und ob ich das glaube!», sagt Anna. «Selbst meine Verwandten können nicht durch Steine hindurchgucken.» «Durch Steine?» «Ja. Noch wird der Zugang zur Gruft von ein paar Grabsteinen versperrt. Sie sollen erst morgen oder übermorgen Nacht entfernt werden, wenn wir unseren neuen, unseren zweiten Notausgang einweihen!» «Ihr habt jetzt zwei?», fragte Anton überrascht. Anna nickte. «Aus Sicherheitsgründen. Wir haben als Erstes unseren alten Notausgang wieder instand gesetzt – du weißt ja, den, der in dem Brunnen endet.» Anton nickte beklommen – in Erinnerung an jene Nacht, als er die Gruft durch den Notausgang verlassen hatte und ihm die Kerze plötzlich ausgegangen war...
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«Ja, und danach haben wir mit dem Bau des neuen Notausgangs begonnen», fuhr Anna voller Stolz fort. «Und der ist so toll geworden, dass er bestimmt unser HauptNotausgang wird. – Er führt übrigens direkt zu einem Komposthaufen», fügte sie vertraulich hinzu. Beinahe hätte Anton «igitt» geschrien: Kompost, das war doch Abfall – faulig riechende Blumen und vermoderte Kränze! Aber Vampire hatten ja bekanntermaßen andere Vorstellungen, was gute Nachbarschaft betraf... «Der Komposthaufen, ist das nicht ein ziemlich belebter Platz?», wandte er ein. «Belebt?» Anna kicherte wieder. «Ja, Mäuse gibt es reichlich – und Spinnen und Käfer und Würmer... und ein paar Ratten natürlich auch.» «Tiere meinte ich nicht», erwiderte Anton mit einem Schaudern. «Ich dachte an die Friedhofsbesucher mit ihren Blumen und Kränzen.» «Ach, die gehen zu den Abfalltonnen vorne, am Eingang des Friedhofs», sagte Anna. «Wenn jemand bis zu uns kommt, dann ist es höchstens der Friedhofsgärtner, Schnuppermaul, und den hat Lumpi fest im Griff.» «Er hat ihn fest im Griff?», wiederholte Anton und dachte an Lumpis riesige Pranken mit den kräftigen Fingern und den krallenartigen Nägeln... «Nicht so, wie du glaubst!», antwortete Anna. «Sie treffen sich auf dem Friedhof, gehen ein bisschen spazieren und unterhalten sich. Meine Großmutter hat Lumpi dafür sogar eine Ausnahmegenehmigung erteilt.» «Eine Ausnahmegenehmigung?» «Ja, weil uns Lumpi auf diese Weise vertrauliche Informationen über unseren ärgsten Feind verschaffen kann. Nur so haben wir überhaupt erfahren, dass Geiermeier in vier bis fünf Wochen seinen Dienst wieder antreten wird.» «Was? Ist Geiermeiers Kur etwa schon zu Ende?»
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«Ja, leider», bestätigte Anna mit finsterer Miene. «Aber jetzt müssen wir fliegen», sagte sie. «Sonst verpassen wir den Anfang der Sitzung.» Sie bewegte ihre Arme unter dem Umhang, und rasch gewann sie an Höhe. Anton, der fürchtete, den Anschluss zu verlieren, folgte ihr, so schnell er konnte.
Für Vampire kein Problem Erst als sie die alte, graue Friedhofsmauer erreicht hatten, verlangsamte Anna ihren Flug. Überrascht stellte Anton fest, dass der hintere Teil des Friedhofs – der Teil, in dem die Gruft Schlotterstein lag – schon fast wieder so wild aussah wie früher, vor den «Renovierungsarbeiten» von Friedhofswärter Geiermeier. Tja, dachte Anton, das hatten die Vampire Herrn Schwartenfeger und seiner Bürgerinitiative ‹Rettet den alten Friedhof› zu verdanken! Wenn man sich nur energisch genug einsetzte, war es also durchaus möglich, selbst Umweltzerstörern vom Schlage eines Geiermeier das Handwerk zu legen. «Warte hier auf mich», hörte er Anna flüstern. «Ich will erst mal nachsehen, wie weit meine Verwandten mit den Vorbereitungen sind.» «Hier?» Unter sich erblickte Anton das spitze, kegelförmige Dach der Kapelle. «Ja! Ich werde mich beeilen», versprach Anna und flog auf eine Gruppe dunkler Tannen zu. Anton steuerte die Kapelle an und landete. Eng an die Mauer gedrückt, blieb er stehen. Hoffentlich kommt Anna wirklich bald wieder! dachte er und blickte sich voller Unbehagen um. Tagsüber war der Friedhof ein angenehm ruhiger Ort, eine Stätte des Friedens, aber nachts...
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Allein die Geräusche: dieses Knacken und Knistern, dieses Rascheln und Rauschen, dieses Wispern wie von Geisterstimmen! Und dazu die Vorstellung, dass nicht weit von ihm entfernt sieben – nein, mit Tante Dorothee waren es acht! – Vampire eine Zusammenkunft abhielten... Jetzt berührte ihn etwas an der linken Schulter. Anton schrie auf. Aber zum Glück war es Anna.
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«Komm», flüsterte sie, «die Sitzung fängt in wenigen Minuten an.» Auffordernd sah sie ihn an. «Und der Notausgang?», sagte Anton. «Was ist damit?», antwortete Anna.
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«Wird mir auch bestimmt nichts passieren?», fragte Anton mit belegter Stimme. «Nein!» Sie lächelte. «Du kannst mir vertrauen.» «D-das tue ich auch», stotterte Anton und ergänzte in Gedanken: Sonst wäre ich überhaupt nicht hier! «Komm!», sagte Anna noch einmal und fasste ihn am Arm. «Gerade den Anfang sollten wir nicht versäumen.» Sie ging voraus, und Anton folgte ihr zögernd. Anna führte ihn bis fast zum Ende des alten Friedhofs. Vor einem mindestens zwei Meter breiten und einen Meter hohen Hügel, der mit Brennnesseln bewachsen war, hielt sie inne. Das musste der Komposthaufen sein! Erstaunlicherweise war der Geruch, der von den vermoderten Pflanzen ausging, gar nicht so schlimm. Es roch eher herbstlich, fand Anton. Er sah, wie Anna einen großen, mit Moos überzogenen Baumstumpf anhob, der links, am Fuß des Komposthaufens lag. «Hier beginnt unser neuer Notausgang», erklärte sie und fügte stolz hinzu: «Gut getarnt, nicht wahr?» Anton nickte. Im Gegensatz zu dem flachen Stein, der früher das Einstiegsloch zur Gruft Schlotterstein bedeckt hatte, würde er den Baumstumpf allerdings kaum von der Stelle bewegen können. «Der ist bestimmt sehr schwer», meinte er. Anna kicherte. «Kein Problem. Ich werde ihn für dich über das Loch schieben, sobald du im Notausgang bist.» «Hm, ja...» Anton schluckte. Ihm war plötzlich ganz seltsam zumute. Wenn er den Baumstumpf nicht allein zur Seite schieben konnte, dann würde er dort unten in der Falle sitzen... Andererseits – Anna hatte gesagt, er könne ihr vertrauen, und es gab keinen Grund, an ihren Worten zu zweifeln. «Ist... ist es nicht viel zu dunkel, wenn der Baumstumpf vor dem Loch liegt?», fragte Anton, um den grässlichen Moment des Abstiegs hinauszuschieben.
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«Zu dunkel?» Anna lachte leise. «Ich habe an alles gedacht!» Damit reichte sie Anton eine Kerze und ein Päckchen Streichhölzer. «Ja, also dann –» Anton warf noch einen Blick in die Runde, aber die schauerliche Friedhofsumgebung war auch nicht dazu angetan, ihm Zuversicht einzuflößen. Er trat an die Öffnung des neuen Notausgangs und riss ein Streichholz an. Es flammte auf. Doch Antons Hände waren so zittrig, dass es gleich wieder ausging. «Ich würde sie erst unten anzünden, im Notausgang», sagte Anna sanft. «Hier oben ist es zu windig.» Windig?, dachte Anton. Es war beinahe windstill! Aber vermutlich wollte Anna ihn nicht merken lassen, dass sie wusste, wie aufgeregt und nervös er war. «Gut», sagte er mit rauer Stimme. Er setzte sich neben die Öffnung und streckte seine Beine vorsichtig in den Schacht. «Du ziehst mich doch wieder rauf, oder?», fragte er. «Aber ja!», versicherte Anna. «Wie besprochen!» Anton atmete noch einmal tief durch – und sprang.
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Stimmen von drüben Seine Füße berührten einen weichen Untergrund. Sand rieselte herab, Anton direkt in den Kragen. Er schüttelte sich. «Du kannst die Kerze anzünden!», hörte er Annas Stimme über sich. «Ja!» Noch immer zitterten ihm die Finger, aber diesmal erlosch die kleine Flamme nicht. Und selbst wenn!, dachte Anton. Die Schachtel mit den Streichhölzern war noch fast voll.
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«Ich schiebe jetzt den Baumstumpf vor das Loch», kündigte Anna an. «Bis gleich, Anton!» «Bis gleich, Anna», sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Hoffentlich! Er hörte, wie etwas Schweres – der Baumstumpf – vor den Einstieg gelegt wurde. Danach war es still. Still wie im Grab!, dachte Anton, und eine Woge der Angst erfasste ihn. Aber nein, sagte er sich dann, er durfte seiner Angst nicht nachgeben! Er hob die Kerze und sah sich um. Es war ein recht geräumiger Gang, in dem er sich befand; so hoch, dass Anton aufrecht darin stehen konnte. Und er musste auch bedeutend länger als der alte Notausgang sein – zwanzig oder fünfundzwanzig Meter, schätzte Anton. Langsam ging er weiter. Nach wenigen Schritten gelangte er an eine Treppe, die aus vier großen Steinquadern bestand und die ihn noch tiefer in die Erde hinabführte. Die Vampire hatten offenbar viel Zeit für den Bau aufgewendet: Der Boden und die Wände waren sorgfältig geglättet, und allerlei «Höhlenmalereien» schmückten die Wände: Herzen, große, grinsende Vampirmünder, Schlangen, Fledermäuse und Feuer speiende Drachen. Zuerst vernahm Anton keinen Laut. Aber nach einer Weile hörte er ein undeutliches Gemurmel, das zunahm, je weiter er kam. Schließlich konnte er sogar ein paar Brocken des Gesprächs aufschnappen: «Nein, hier!», rief eine Stimme. «Und Anna?», antwortete eine zweite. Dann machte der Gang eine Biegung, und hinter der Biegung stand Anton unvermittelt vor einer Wand aus ineinander geschobenen Grabsteinen. Ohne nachzudenken, nur einer Eingebung folgend, blies Anton die Kerze aus.
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Hinter den Grabsteinen musste die Gruft Schlotterstein liegen! Und wirklich: Anton sah zwischen den Steinen Licht schimmern. Ihm schlug das Herz bis zum Hals. Er drückte sich gegen die Wand aus kühler Erde und zwang sich, ruhig zu bleiben. Plötzlich ertönte drüben eine Glocke. Es war ein tiefer, dumpfer Ton – wie ein Ruf aus dem Totenreich... Anton sträubten sich die Haare. Nun sagte jemand: «Hiermit erkläre ich die Sitzung unseres Familienrats für eröffnet. Möge Dorothee vortreten und ihren Antrag stellen.» Durch die dicke Mauer aus Grabsteinen klang die Stimme sonderbar gedämpft. Dennoch konnte Anton jedes Wort verstehen. Und er glaubte sogar, die Stimme erkannt zu haben: Wenn er sich nicht täuschte, gehörte sie Sabine der Schrecklichen! Ein Schauder lief ihm über den Rücken. «Wartet!», rief da eine helle Stimme; unverkennbar Anna. «Ihr könnt doch nicht ohne mich anfangen!» «Oh doch, das können wir», erwiderte eine Frauenstimme. Es war Tante Dorothee! «Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der hört das, was übrig bleibt», bemerkte sie und fügte giftig hinzu: «Möchte wissen, was du noch zu erledigen hattest. Der Nahrungsbeschaffung kann es in deinem Fall wohl kaum gedient haben. Reichlich pflichtvergessen von dir, sich draußen herumzutreiben, wenn unser Familienrat zu einer Sondersitzung zusammentritt!» Bei diesen gehässigen Worten zuckte Anton erschrocken zusammen. «Sei doch nicht immer so streng mit ihr, Dorothee», ließ sich jetzt eine Männerstimme vernehmen. «Immerhin ist Anna noch
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sehr jung. Da kann es schon mal passieren, dass sie beim Spielen die Zeit vergisst.» Ob das Annas Vater gesagt hatte, Ludwig der Fürchterliche? «Beim Spielen?» Tante Dorothee lachte höhnisch. «Ein Vampir, der etwas auf sich hält, spielt nicht! Außerdem ist Anna ein gewähltes Mitglied des Familienrats, und allein aus diesem Grund müsste sie sich vorbildlich benehmen.» «Das habe ich auch!», erwiderte Anna würdevoll. «Aber das werdet ihr schon merken, wenn wir über Tante Dorothees Antrag beraten!» «Ja, lasst uns mit der Sitzung beginnen, nun, wo alle da sind!», sagte Sabine die Schreckliche. Es war still geworden – gruselig still! fand Anton, und unwillkürlich hielt er die Luft an.
Der Antrag «Also...», begann Tante Dorothee. «Hiermit stelle ich, Dorothee von Schlotterstein-Seifenschwein, den Antrag, Herrn Igno von Rant, zurzeit wohnhaft in der Villa Reinblick, probeweise in unsere Familiengruft aufzunehmen. Herr Igno von Rant ist mir in verhältnismäßig kurzer Zeit ein inniger Freund und Vertrauter geworden, und zum ersten Mal seit jenem finsteren Tag, an dem ich meinen über alles geliebten Gatten, den ach! so guten und unvergesslichen Theodor von Seifenschwein, verloren habe –» Tante Dorothee brach ab und schluchzte herzergreifend. «Zum ersten Mal seit jenem schrecklichen Tag», fuhr sie dann mit bewegter Stimme fort, «habe ich wieder Trost und Zuspruch gefunden und blicke voller Hoffnung in die Zukunft! Herr von Rant und ich denken nun daran, einander die Hand fürs Leben zu reichen», erklärte sie nach einer Pause
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gefühlvoll. «Wenn wir geprüft haben, ob wir uns auch im allnächtlichen Einerlei etwas zu sagen haben.» Nun schnäuzte sie sich. Es war das einzige Geräusch, das Anton hören konnte. Den übrigen Vampiren schien Tante Dorothees Rede die Sprache verschlagen zu haben. Schließlich sagte Sabine die Schreckliche gerührt: «Wir danken dir für deine offenen Worte, liebe Dorothee. Hat noch jemand eine Frage, bevor wir über den Antrag beraten?» «Ja, ich!», rief eine heisere Stimme, die Anton sogleich als die des kleinen Vampirs erkannte. «Ich möchte wissen, ob Herr von Rant schnarcht.»
«Ob er schnarcht?», wiederholte Sabine die Schreckliche. «Ich glaube, du hast den Ernst der heutigen Sitzung nicht ganz begriffen, Rüdiger!» «Wieso? Ich finde Rüdigers Frage sogar sehr wichtig», meldete sich eine mal hoch, mal tief krächzende Stimme zu Wort. Kein Zweifel, das war Lumpi! «Falls Herr von Rant schnarcht, sollte er meiner Meinung nach lieber im neuen Notausgang kampieren, möglichst weit weg von unserer Gruft!»
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Die Erwähnung des neuen Notausgangs ließ Anton zusammenzucken; dabei war es doch nur ein Vorschlag von Lumpi! «Du hast gerade Grund, dich über andere aufzuregen», erwiderte Tante Dorothee spitz. «Wenn du wüsstest, wie laut du manchmal schnarchst: zum Ohrenverstopfen!» «Du hast meine Frage nicht beantwortet», bemerkte der kleine Vampir; reichlich vorlaut, wie Anton fand. «Schnarcht Herr von Rant nun oder schnarcht er nicht?» «Woher soll ich das wissen», zischte Tante Dorothee. «Gerade deshalb wollen wir ja zusammenziehen.» «Wahrscheinlich, um herauszufinden, wer von euch beiden am lautesten schnarcht», antwortete der kleine Vampir und lachte krächzend. «Rüdiger, du hältst jetzt mal zehn Minuten lang den Mund!», sagte da Sabine die Schreckliche energisch. «Oder du zwingst mich, dich von der Sitzung auszuschließen!» «Schon gut», brummte der kleine Vampir. Anton, der sich den Ton in der Familie von Schlotterstein viel rauer vorgestellt hatte, war überrascht, wie geduldig die erwachsenen Vampire mit den Vampirkindern umgingen. «Hat jemand noch eine Frage, ich meine: eine richtige Frage?», ließ sich Sabine die Schreckliche jetzt vernehmen. Ein mehrstimmiges «Nein» war zu hören. «Doch, ich», sagte da eine Männerstimme, die Anton bekannt vorkam. Wenn ihn seine Erinnerung nicht täuschte, gehörte sie Wilhelm dem Wüsten. «Mir ist noch unklar, aus welcher Sippe Herr von Rant eigentlich stammt.» «Aus welcher Sippe?», wiederholte Tante Dorothee und hüstelte verlegen. «Tja, Herr von Rant ist leider nicht allzu mitteilsam, was seine Herkunft anbetrifft. Ich denke, dass er einer – nun, etwas zweifelhaften Nebenlinie entstammt, die zu erwähnen ihm peinlich ist; vor allem, da er in eine so altehrwürdige Vampirsippe wie die unsrige einheiraten will!»
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«Aber angesichts der bedrängten Lage, in der wir Vampire uns heute befinden –» sie seufzte tief, «sollten wir, meiner Ansicht nach, weniger darauf achten, ob ein Vampir aus den richtigen Kreisen stammt, sondern viel mehr auf den Charakter, den er hat!» «Ein weises Wort!», lobte die Männerstimme. Es entstand eine Pause. «Möchte noch jemand eine Frage stellen?», erkundigte sich Sabine die Schreckliche. Als niemand antwortete, sagte sie: «Gut. Dann bitte ich jetzt Rüdiger, Tante Dorothee nach oben zu führen, damit sie dort den Beschluss des Familienrats abwarten möge.» Anton biss sich erschrocken auf die Lippen. Hatte Anna nicht gesagt, sie würde Tante Dorothee begleiten, und zwar zur «Verliebten Kastanie», wo Tante Dorothee sich mit Igno von Rant treffen sollte? «Was, ich?», rief der kleine Vampir. «Allerdings», bekräftigte Sabine die Schreckliche. «Immerhin hast du einiges wieder gutzumachen bei deiner Tante.» «Ich wollte eigentlich gehen!», ertönte da Annas Stimme. «Du? Nein, Rüdiger wird Tante Dorothee begleiten», erklärte Sabine die Schreckliche. «Oder möchtest du etwa, dass der Familienrat ohne dich über den Antrag beschließt? Das würde mich, ehrlich gesagt, sehr befremden!» «Natürlich will ich das nicht», antwortete Anna schnell. «Ich dachte nur, wir könnten mit der Abstimmung noch etwas warten.» «Warten, warten!», rief Tante Dorothee entrüstet. «Wir haben schon lange genug gewartet, Herr von Rant und ich! Los, Rüdiger, marsch!» Stimmengewirr setzte ein, Särge wurden gerückt.
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Annas Rede Anton merkte, wie ihm die Zähne aufeinander schlugen – und das lag nicht nur an den niedrigen Temperaturen. Wenn sich nun der kleine Vampir draußen vor der Gruft einfach davonstehlen würde, sodass Tante Dorothee möglicherweise doch hierher, in den neuen Notausgang käme... Bei diesem Gedanken war es Anton, als würde sich eine eisige Faust um sein Herz schließen. Ein erneutes Zittern überlief ihn. Aber vielleicht war es Anna gelungen, im Durcheinander des Aufbruchs noch ein paar Worte mit Rüdiger zu wechseln? Wenn der kleine Vampir wusste, dass er, Anton, sich im neuen Notausgang aufhielt, würde er Tante Dorothee wohl kaum aus den Augen lassen! Mittlerweile war es hinter den Grabsteinen wieder ruhig geworden. In diese Stille hinein sagte Sabine die Schreckliche feierlich: «Und nun, meine Lieben, wollen wir über Dorothees Antrag beraten. Sollte einer von euch Bedenken gegen die probeweise Aufnahme des Herrn von Rant in unsere Gruft Schlotterstein haben, so möge er sie jetzt vortragen – oder für immer schweigen!» Während Sabine die Schreckliche sprach, hatte Anton nicht gewagt zu atmen; als wäre er derjenige, der gleich vortreten und seine Einwände äußern müsste. «Ich habe Bedenken», sagte da Anna. Lumpi kicherte. «Bestimmt ist sie sauer, weil sie nicht mehr die Anstandsdame spielen kann, hihi!» «Sei ruhig, Lumpi!», fuhr Sabine die Schreckliche ihn an. «Oder du wirst Rüdiger draußen Gesellschaft leisten!» Oh nein, bloß nicht!, dachte Anton bestürzt. «War ja nur ein Scherz», knurrte Lumpi. «Auch du scheinst den Ernst der heutigen Sitzung nicht recht begriffen zu haben», tadelte Sabine die Schreckliche. Dann,
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nach einer kurzen Pause, fuhr sie fort: «Du, Anna, wirst uns hoffentlich Gründe nennen können! Denn du weißt ja: Eine rein gefühlsmäßige Abneigung reicht nicht aus, um im Familienrat das Wort gegen jemanden zu erheben!» «Es ist nicht ‹rein gefühlsmäßig›», erklärte Anna. «Ich habe etwas über Herrn von Rant herausgefunden – und das ist, glaube ich, ziemlich beunruhigend.» «Beunruhigend?», wiederholte Lumpi und lachte krächzend; trotz der Ermahnung seiner Großmutter. «Wahrscheinlich hat sie rausgekriegt, dass er eine Perücke trägt, haha!» «Lumpi, dies ist meine letzte Warnung!», sagte Sabine die Schreckliche mit ungewöhnlicher Schärfe. «Er trägt keine Perücke», entgegnete Anna hoheitsvoll. «Aber das ist es nicht, was ich meine.» Sie sprach nicht weiter – vermutlich, um Lumpi zu strafen. «Was dann?», drängte Sabine die Schreckliche. «Ihr wisst doch, dass mir Herr von Rant ein Kleid geschenkt hat», begann Anna. «Als Dank dafür wollte ich ihm auch etwas schenken. Und weil er sich so für unseren Ratgeber ‹Vampir werden, aber richtig!› interessiert hat –» «Was, du hast ihm unseren Familienratgeber geschenkt?», fiel ihr Sabine die Schreckliche ins Wort. «Nein, nicht geschenkt», erwiderte Anna. «Nur geliehen.» «Nur? Sträflicher Leichtsinn ist das, unseren Ratgeber für werdende Vampire aus der Hand zu geben!», rief Hildegard die Durstige. «Stell dir vor, wenn er verloren ginge – welch ein Verlust das wäre für die nachfolgenden Vampirgenerationen!» Die nachfolgenden Vampirgenerationen?, dachte Anton beklommen. Wen konnte sie damit wohl gemeint haben...? Im Übrigen, er hatte noch nie etwas von der Existenz eines derartigen Ratgebers ‹Vampir werden, aber richtig!› gehört! «Ja, das habe ich mir dann auch überlegt», sagte Anna. «Und deshalb bin ich gleich gestern Nacht zur Villa Reinblick geflogen, um mir unseren Ratgeber wiederzuholen.»
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«Braves Mädchen», lobte Sabine die Schreckliche. «Da es dir Leid getan hat, soll dir dein unbedachtes Ausleihen von Familieneigentum verziehen sein. Aber nun verrate uns, was du in der Villa entdeckt hast!» «Also, kurz nach Mitternacht kam ich an», setzte Anna ihre Rede fort. «Vorsichtig stieg ich durch das Kellerfenster und gelangte in den Raum, in dem der große braune Sarg von Herrn von Rant steht. Ich zündete die Kerzen in dem fünfarmigen Leuchter an und guckte mich zuerst auf seinem Schreibtisch um. Aber leider waren alle Schubladen abgeschlossen, bis auf eine, und in der lag nur ein Zettel. Vielleicht bewahrt Herr von Rant ‹Vampir werden, aber richtig!› in seinem Sarg auf?, dachte ich. Ich stemmte den schweren Deckel hoch, und was sah ich?» «Ja, was?», rief Ludwig der Fürchterliche. «Da lag tatsächlich unser Familienratgeber», verkündete Anna. «Aber ich sah noch etwas!» «Noch etwas?», rief Sabine die Schreckliche. Anton fand, dass Anna es meisterlich verstand, ihre Zuhörer in Spannung zu versetzen. Die Luft schien förmlich zu vibrieren! «Ja, noch etwas», bestätigte Anna. «Am Fußende entdeckte ich ein Messingschild!» «Wie das?», fragte Sabine die Schreckliche irritiert. «Seit wann haben Särge Messingschilder?» «Eben!», sagte Anna. «Jetzt war ich auf einmal misstrauisch geworden. Ich nahm den Kerzenleuchter und hielt ihn so, dass sein Licht auf das Schild fiel. Und was las ich da?» Aufs Neue machte sie eine Pause. «Was? Was denn?», riefen mehrere Stimmen. «Ich las: ‹Johann Holzrock, Erdmöbel, Modell I a›.» «Erdmöbel? Modell I a?», wiederholte Sabine die Schreckliche.
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«Ja! Daraufhin guckte ich mir den Sarg genauer an. Ich stellte fest, dass er aus nagelneuem Kiefernholz bestand, nicht ein einziges Wurmloch hatte und dass überall klebriges, eklig riechendes Harz ausgetreten war!» «Harz? Pfui!», rief Ludwig der Fürchterliche. «Ich kenne keinen Vampir, der sich freiwillig in einen neuen Sarg legen würde – am allerwenigsten in einen aus Kiefernholz, das sich so leicht verzieht und so ätzend frisch riecht!» «Vielleicht ist Herrn von Rant ein kleines Missgeschick in seinem alten Sarg passiert», meinte Lumpi. «Vielleicht hat er geraucht, und dann zisch...» «Unsinn!», schnaubte Sabine die Schreckliche. «Du weißt genau, dass Vampire niemals rauchen!» «Aber ich würde gerne wissen, was Modell I a zu bedeuten hat», fügte sie, offenbar nachdenklich geworden, hinzu. «Und Erdmöbel – welch ein albernes, neumodisches Wort für unsere schönen, althergebrachten Särge!» «Was Modell I a bedeutet, werde ich schon bald herausgefunden haben», erklärte Anna, «wenn ich nämlich mit Johann Holzrock gesprochen habe!» «Was, du willst mit einem Menschen sprechen?», rief Hildegard die Durstige. «Nur, wenn ihr es mir erlaubt», antwortete Anna, «und nur von der Telefonzelle aus.»
Die Abstimmung Anton hörte, wie verschiedene Stimmen erregt aufeinander einsprachen, aber er verstand lediglich Satzfetzen wie «das ist doch gefährlich», «ich finde, sie sollte es tun», «Vertrauen ist gut, Misstrauen ist besser». «Ich habe eine Frage!», ertönte da die Stimme von Wilhelm dem Wüsten.
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Es wurde still in der Gruft. «Ich möchte wissen», hob Wilhelm der Wüste an, «was dieser Johann Holzrock überhaupt mit dem Antrag von Dorothee zu schaffen hat! Oder bin ich etwa schon zu alt, um das zu begreifen?» «Nein, nein», versicherte Anna hastig. «Aber irgendetwas stimmt nicht mit dem Sarg von Herrn von Rant, das ist dir doch klar geworden, Großvater, oder?» «Ja, doch», brummte Wilhelm der Wüste. «Ich möchte nun unbedingt herauskriegen, was mit dem Sarg nicht stimmt. Und das kann ich nur, wenn ich noch ein paar Nachforschungen anstelle. Und deshalb möchte ich, dass wir unsere Entscheidung, ob wir Tante Dorothees Antrag annehmen oder nicht, um eine Woche verschieben – bis zum nächsten Montag!» Anna machte eine Pause. «Und bis dahin werde ich Genaueres wissen, das verspreche ich euch!», ergänzte sie. «Mir wäre es lieber, wenn Lumpi diese Nachforschungen führen würde», bemerkte Hildegard die Durstige. «Immerhin ist er der Ältere.» «Ich?», schrie Lumpi auf. «Oh, Dracula, nein! Im MännerMusikverein proben wir gerade unsere neuen Lieder, da kann ich unmöglich fehlen!» «Außerdem fände ich es gegenüber Anna ungerecht», fügte er scheinheilig hinzu. «Schließlich hat sie das Schild entdeckt. Also sollte sie auch die Chance haben, die Sache mit dem Sarg ganz allein aufzuklären.» «Hm, unter Umständen wäre ich bereit, die Entscheidung um eine Woche hinauszuschieben», sagte Sabine die Schreckliche. «Nur – wie erläutern wir es Dorothee, ohne dass sie sich abgelehnt oder beargwöhnt fühlt?» «Ach –», meinte Anna gedehnt. «Zu uns Kindern sagt Tante Dorothee immer: Gut Vampirding will Weile haben.» «Das ist wahr!», ließ sich Ludwig der Fürchterliche vernehmen. «Man sollte wirklich nichts überstürzen, vor allem
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eine Entscheidung von dieser Tragweite nicht. Und bevor nicht alle Unklarheiten in Bezug auf Herrn von Rants Sarg beseitigt sind...» «Ich schlage vor, dass wir abstimmen», sagte Sabine die Schreckliche. Ein Gemurmel setzte ein, dann war wieder Sabine die Schreckliche zu hören: «Also, stimmen wir ab. Wer dafür ist, die Entscheidung über Dorothees Antrag bis zum nächsten Montag zu vertagen, der hebe jetzt die Hand.» Atemlose Stille trat ein. In dieser Stille vernahm Anton plötzlich ein leises Geräusch. Es klang, als schnalze jemand mit der Zunge. Er fuhr herum – und hätte beinahe aufgeschrien: Hinter ihm stand eine schwarz gekleidete Gestalt und grinste breit, sodass die kräftigen Eckzähne gespenstisch aufleuchteten. Anton erstarrte. «Wie ich sehe, seid ihr alle dafür!», hörte Anton wie aus weiter Ferne Sabine die Schreckliche sagen. «Damit ist die Entscheidung über Dorothees Antrag bis zum nächsten Montag aufgeschoben.» Klatschen und zustimmende Rufe wurden laut.
Über alle Särge «Nun komm schon!», zischte die Gestalt. «Oder willst du vor unserer Gruft Wurzeln schlagen?» «N-nein», stotterte Anton, dem ein Stein vom Herzen gefallen war: An der heiseren Stimme hatte er den kleinen Vampir erkannt! «Und wohin gehen wir?», fragte er, während er hinter dem Vampir durch den Notausgang tappte. «Zu dir nach Hause natürlich», antwortete der kleine Vampir. «Aber beeil dich! Bevor meine Verwandten aus der Gruft kommen, müssen wir über alle Särge – äh, Berge sein!»
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«Kann ich Licht machen?», bat Anton. «Licht? Du denkst wohl, du wärst bei dir zu Hause im Keller, wo man nur auf einen Schalter drücken muss!» Der kleine Vampir kicherte. «In einem echten Vampir-Notausgang gibt es kein elektrisches Licht, merk dir das!» «Nein, ich meinte die Kerze», erwiderte Anton. «Du hast eine Kerze?» «Ja.» Anton war klug genug, nicht zu erwähnen, dass er sie von Anna bekommen hatte. «Na schön, mach sie an», sagte der kleine Vampir leutselig. «Aber wenn wir am Ende des Notausgangs sind, musst du sie wieder ausblasen!» Erleichtert zündete Anton die Kerze an. Nun kam ihm der Notausgang nicht mehr ganz so unheimlich vor. «Und wo ist Tante Dorothee?», fragte er und versuchte, mit den Augen das Halbdunkel vor ihnen zu durchdringen. «Tante Dorothee? Die sitzt jetzt mit Igno von Rant unter der ‹Verliebten Kastanie›», antwortete der kleine Vampir und rieb sich belustigt die Hände. Hochtrabend ergänzte er: «Wie du siehst, kannst du dich auf mich, deinen besten Freund, verlassen. Übrigens, du darfst mir ruhig ein bisschen dankbar sein!» «Dankbar?» «Allerdings! Immerhin war ich selbstlos genug, zuerst Tante Dorothee bis zum Wasserturm zu begleiten und anschließend den weiten Weg hierher wieder zurückzufliegen – und das nur deinetwegen!» So selbstlos nun auch nicht!, erwiderte Anton insgeheim. Trotzdem sagte er: «Ich bin dir ja dankbar», und fügte hinzu: «Dir und Anna.» «Anna?» Der Vampir warf ihm einen unfreundlichen Blick zu. «Wie kommst du auf Anna?» «Hat sie dir nicht gesagt, dass ich im neuen Notausgang bin?»
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«Doch. Aber was hat das mit uns zu tun?» «Ach, nichts», sagte Anton schnell. «Es ist mir nur so eingefallen.» Streiten wollte er sich mit dem kleinen Vampir nicht, am allerwenigsten hier, im Notausgang! «Nur so eingefallen?», knurrte der Vampir. «Pass lieber auf, dass du nicht hinfällst, jetzt kommen nämlich Treppen!» Aber Anton hatte die vier Steinquader längst bemerkt. Mit Herzklopfen dachte er, dass es von dort nur noch wenige Schritte bis zum Baumstumpf und zum Komposthaufen waren... «Mach die Kerze aus!», befahl der kleine Vampir. Anton gehorchte. Er hörte, wie Rüdiger den schweren Baumstumpf zur Seite schob. In dem Mondlicht, das nun hereinfiel, konnte er den kleinen Vampir flink und behände wie ein Eichhörnchen den Schacht hochklettern sehen. Dann war Rüdiger verschwunden. Nach einer Weile, die Anton entsetzlich lang vorkam, erschien das totenblasse Gesicht des Vampirs im Einstiegsloch. «He, wo bleibst du denn?», fauchte er. «Ich steh mir hier die Beine in den Bauch!» «Wo soll ich schon bleiben!», sagte Anton. «Im Notausgang natürlich! Ich kann nicht so gut klettern wie du.» «Tatsächlich?» Der kleine Vampir grinste breit. «Dann muss ich dich wohl raufholen.» Er streckte Anton seinen Arm entgegen und zog ihn hoch. «Und deine Verwandten?», murmelte Anton und spähte hinüber zu der hohen Tanne, unter der sich früher das Einstiegsloch zur Gruft Schlotterstein befunden hatte. «Sind die noch unten, in der Gruft?» «Ja, aber bestimmt nicht mehr lange», antwortete der kleine Vampir. «Los, komm, Anton!» Mit ein paar kräftigen Armstößen schwang er sich in die Luft.
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Anton folgte seinem Beispiel, wenn auch etwas zaghafter.
Sag Mutti gute Nacht Vor Antons Haus flog der kleine Vampir eine Kurve – als sei er entschlossen, gleich wieder umzukehren. «Kannst du nicht noch ein bisschen bleiben?», fragte Anton nach einem Blick auf das erleuchtete Wohnzimmerfenster. «Ich... ich muss nämlich klingeln!» «Klingeln?» Der kleine Vampir verzog die Lippen zu einem schadenfrohen Grinsen. «Na dann – ich wünsche Glück!», meinte er. «Du könntest doch draußen warten!», versuchte Anton es noch einmal. Er hatte das Gefühl, dass er Beistand brauchen würde – und sei es auch nur die Anwesenheit des kleinen Vampirs auf dem Fensterbrett! Doch der Vampir schüttelte den Kopf. «Nein, ein anderes Mal. Ich habe noch einiges vor heute Nacht.» Er lachte krächzend, dann segelte er davon. «Mein bester Freund, ja ja!», sagte Anton wütend. Er landete auf dem Spielplatz, zog den Vampirumhang aus und stopfte ihn, so gut es ging, unter seinen Pullover. Langsam trottete er auf die Haustür zu. Sie war nicht abgeschlossen, stellte er überrascht fest. Ob es noch so früh war? Anton hatte seine Armbanduhr zu Hause vergessen, und so wusste er nicht, wie lange die Sitzung des Familienrats gedauert hatte. Oben angekommen, klingelte er – mit sehr gemischten Gefühlen. Antons Vater öffnete die Tür. Ein schlechtes Zeichen!, fand Anton und schlüpfte in ängstlicher Erwartung an seinem Vater vorbei in den Flur. Sein Unbehagen wuchs noch, als aus dem Wohnzimmer unterdrücktes Schluchzen an sein Ohr drang.
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Im Zeitlupentempo schlich Anton auf die Wohnzimmertür zu – als ihn plötzlich sein Vater von hinten am Ärmel festhielt. Anton blieb stehen. Nun ist sowieso alles zu spät!, dachte er und fühlte sich wie ein ertappter Sünder. Nun würde sein Vater den Vampirumhang unter dem Pulli hervorziehen, seine Mutter würde aus dem Wohnzimmer kommen, ihm mit Tränen in den Augen heftige Vorhaltungen machen und irgendeine fürchterliche Strafe verkünden... Da hörte er seinen Vater leise und vertraulich sagen: «Geh nicht ins Wohnzimmer, Anton! Du weißt doch, der Film mit Muttis Lieblingsschauspieler... Am Ende des Films stirbt er, und deshalb –» er hüstelte, «deshalb muss Mutti so weinen. Es ist besser, du sagst ihr vom Flur aus gute Nacht!» Anton starrte seinen Vater an – fassungslos über diese völlig unerwartete glückliche Wendung. Dann begann er zu grinsen. «Ach so, deswegen weint sie...» Er trat an die Wohnzimmertür, rief: «Gute Nacht, Mutti!», und marschierte vergnügt in sein Zimmer.
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Angela Sommer-Bodenburg, Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie, 12 Jahre Grundschullehrerin in Hamburg, lebt in Hidden Meadows, Kalifornien, USA, wo sie schreibt und malt. Veröffentlichungen: «Der kleine Vampir» seit 1979; «Das Biest, das im Regen kam», 1981; «Wenn du dich gruseln willst», 1984; «Die Moorgeister» 1986; «Julia bei den Lebenslichtern», 1989; «Florians gesammelte Gruselgeschichten», 1990; «Schokolowski», seit 1991; «Hanna, Gottes kleinster Engel», 1995; «Das Haar der Berenice», 1997; «Der Fluch des Vampirs», 1998; außerdem mehrere Gedichtbände und Bilderbücher. Übersetzungen in 30 Sprachen. Verfilmung: 13-teilige internationale TV-Serie «Der kleine Vampir», 1986/87; «Der kleine Vampir 2», 13-teilige WDR-Fernsehserie, 1992/93; Theaterstück «Der kleine Vampir»; «Der kleine Vampir. Das Musical», 250 Aufführungen seit April 1998. Internationaler Kinofilm «The Little Vampire», Premiere Herbst 2000. Angela Sommer-Bodenburg hat ihre eigene Website: http://www.AngelaSommer-Bodenburg.com
Amelie Glienke: Studium der Malerei und der freien Grafik bei Professor Georg Kiefer, Hochschule der Künste in Berlin; arbeitet als Grafikerin, Zeichnerin und (unter dem Namen HOGLI) als Karikaturistin in Berlin und hat zwei Kinder. Sie illustrierte u. a. die «Geschichten ab 3» von Hanne Schüler (Band 20.149, 20.267, 20.330, 20.397, 20.478), «Hexen hexen» von Roald Dahl (Band 20.587), «Der Sprachabschneider» von Hans Joachim Schädlich (Band 20.685) und «Der Summstein» von Lydia Hauenschild (Band 20.928).
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