Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Ein wichtiges Bauprojek...
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Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Ein wichtiges Bauprojekt auf dem Planeten Wenatchee, einer Welt in den Außenbezirken der bekannten Galaxis, droht zu scheitern. Unsummen sind bereits investiert, doch die Arbeiten kommen nicht voran. Irgend etwas scheint die Bemühungen der Terraner vereiteln zu wollen. Kein Wunder daher, daß der geplagte Chef des Büros für Extraterrestrische Angelegenheiten, dem das Projekt Wenatchee untersteht, Cliff McLane beauftragt, auf dem Planeten nach dem Rechten zu sehen. Cliff McLane und sein ORION-Team landen und arbeiten sich durch den Dschungel des Planeten. Sie schlagen den Weg ein, den vor ihnen eine unbekannte Rasse ging – und sie entdecken den Königspfad.
Alle Romane nach der großen Fernsehserie RAUMSCHIFF ORION erscheinen als Taschenbuch im MOEWIG-VERLAG.
Vom gleichen Autor erschienen bisher folgende Raumschiff-Orion-Romane: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Angriff aus dem All (T 134) Planet außer Kurs (T 136) Die Hüter des Gesetzes (T 138) Deserteure (T 140) Kampf um die Sonne (T 142) Die Raumfalle (T 144) Invasion (T 146) Die Erde in Gefahr (T 152) Planet der Illusionen (T 154) Wettflug mit dem Tod (T 156) Schneller als das Licht (T 158) Die Mordwespen (T 160) Kosmische Marionetten (O 13) Die tödliche Ebene (O 14) Schiff aus der Zukunft (O 15) Verschollen im All (O 17) Safari im Kosmos (O 18) Die unsichtbaren Herrscher (O 19) Der stählerne Mond (O 20) Staatsfeind Nummer Eins (O 21) Der Mann aus der Vergangenheit (O 22) Entführt in die Unendlichkeit (O 23) Die phantastischen Planeten (O 24) Gefahr für Basis 104 (O 25) Die schwarzen Schmetterlinge (O 26) Das Eisgefängnis (O 27) Bohrstation Alpha (O 28) Das Team der Selbstmörder (O 29) Der Raumpirat (O 30)
BAND 31
HANS KNEIFEL
RAUMSCHIFF ORION
DER KÖNIGSPFAD Zukunftsroman
Deutsche Erstveröffentlichung
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Für den Moewig-Verlag nach Ideen zur großen Fernsehserie »Raumpatrouille«, produziert von der Bavaria-Atelier GmbH, geschrieben von Hans Kneifel
Copyright © 1970 by Arthur Moewig-Verlag Printed in Germany 1970 Foto: Bavaria-Atelier GmbH. Umschlag: Ott + Heidmann design Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg Der Verkaufspreis dieses Buches enthält die gesetzliche Mehrwertsteuer
1 Über dem einsamen Mann, der breitbeinig auf dem Vorderschiff stand, spannte sich der adriatische Himmel mit seiner unwahrscheinlichen Farbe. Stille und Hitze umgaben das Schiff. In sieben Metern Tiefe waren die Strukturen des Meeresbodens zu erkennen: Felsen, Gewächse, treibende Medusen, Seegurken und sandige Ablagerungen. Der Mann trug weiße Bordschuhe, eine weiße Badehose mit orangefarbenen Streifen an den Seitennähten und eine offene, knallig orangefarbene Ölzeug-Jacke. Die Augen waren von einer großen Polaroid-Sonnenbrille verdeckt. Cliff McLane machte den absoluten Urlaub. Das hing damit zusammen, daß er versuchte, seinen Bildungsbegriff umzufunktionieren. Er sollte global statt stellar werden. Langsam trieb das Boot auf die Passage zu. Zwei langgestreckte, buchtenreiche Inseln berührten sich hier an zwei Punkten, bildeten eine fast kreisrunde Bucht mit den Fahrwassermarkierungen und den Steinmauern an den Ufern. Es waren die Inseln Ugljan und Pa‰man. Sie erstreckten sich vor der Küste des ehemaligen terranischen Staates Jugoslawien in Nordwest-Südost-Richtung. Vor der östlichen Einfahrt der Bucht lag, langsam steuerbords achtern vorbeiziehend, eine winzige Insel, die aussah wie das Oberteil einer versunkenen Felsenkugel. »Otok Mi‰njak«, sagte Cliff leise und rückte die Sonnenbrille zurecht. »Oder Insel Mi‰njak.« Die Passage näherte sich, etwa eine Achtel Seemeile breit.
Cliff lehnte sich gegen das geschwungene, chromglänzende Rohr der Reling. Vor seinen Füßen lag der Patentanker, vorschriftsmäßig festgezurrt durch einen Seilverschluß mit zwei Knoten. Mi‰njak blieb zurück. Hellbraune, weißgraue und stumpfsilberne, zerklüftete Felsen, waagrecht mit den Spuren des steigenden und fallenden Wassers verziert, darüber hellgrüne und bräunliche Gewächse, deren stechend aromatischer Geruch zum Schiff herüberwehte. Der Wind kam aus dem nordöstlichen Quadranten – bereits seit neun Uhr morgens hatte der Maestral geweht. Auf der kleinen Insel lebten drei Esel, kleine, braune Tiere, die jetzt in holperigen Sätzen vom Ufer wieder auf die Kuppe des runden Hügels hinaufkletterten. Einer von ihnen schrie derart jämmerlich, daß Cliff das Leid einer jeden lebenden Kreatur heraushörte; eine Täuschung, denn er hatte in den wenigen Tagen erleben können, daß Esel erstens völlig unmotiviert, zweitens mit verblüffender Lautstärke und drittens in einer Tonart schrien, daß man glauben mußte, sie würden geschunden und gequält. Cliff legte einen Finger auf eine der vier kleinen Tasten von weißer Farbe, die in einem Schaltelement an der Unterseite des glänzenden Rohres angebracht waren. Ein Relais knackte, ein Servomotor bewegte einen Hebel, und das Ruder des neun Meter langen Bootes schlug um einige Zentimeter aus. Diese Fernsteuerung war notwendig, wenn ein einzelner dieses Boot steuerte – vom Platz des Rudergängers aus konnte man nicht erkennen, was voraus unter dem Bug des Schiffes lag.
Cliff war heute, an einem Tag im frühen terranischen Sommer entlang dieser Breitengrade, von Zadar aus gestartet, einer Stadt mit reicher Tradition und rund einhunderttausend Einwohnern. Seit einer Woche befand sich Cliff im Archipel zwischen dem Festland und der offenen See. Er genoß diesen Urlaub in vollen Zügen und beglückwünschte sich jeden Morgen von neuem zu dieser Idee und zu dem Entschluß, sie in die Wirklichkeit umgesetzt zu haben. »Achtung, McLane!« murmelte er im Selbstgespräch. »Untiefen!« Obwohl das Boot nur einhundertzehn Zentimeter Tiefgang hatte, mußte Cliff aufmerksam bleiben. Er war zweifellos nicht der geborene Seemann, aber als ein Mann von schneller Auffassungsgabe war es für ihn nicht besonders schwer gewesen, eine Seekarte zu lesen, einen Kurs zu bestimmen und sich dein neuen Medium anzupassen – die Technik des Bootes machte ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten. Er hatte die Nova Ljubav in Zadar gechartert und mehr als einen verwunderten Blick des Eigners geerntet, als er versichert hatte, das Boot allein zu führen. Drei Wochen lang. Jetzt trieb das Boot dem Punkt entgegen, an dem sich die Küstenstreifen beider Inseln berührten. Knorrige Olivenbäume und einige Rebstöcke, einige weiße und schwarze Schafe und das grüne Boot eines Fischers. Fast mannshohe Mauern, vor Jahrtausenden angelegt, immer wieder zerstört und neu aufgeschichtet, aus den scharfkantigen Bruchsteinen der Inseln. Einige zerfallene Hütten ohne Dächer, deren Innenwände geschwärzt waren von zahlreichen Feuern, an denen man Hammelfleisch oder Fische ge-
braten hatte. Dann tauchten die weißen, gebleichten und salzverkrusteten Baumstämme auf, die sehr deutlich die Ränder der Fahrtrinne kennzeichneten. »Langsam weiter, und dann die Richtung um achtzig Grad nach Backbord ändern«, murmelte Cliff. Wieder bewegte sich das Ruder um einen winzigen Betrag. Die Bucht mit den zwei Ausgängen öffnete sich. Cliff nahm die dunkle Brille ab und stand da, bewunderte uneingeschränkt die karge Schönheit des Landstrichs. Das kleine, weiße Boot aus Kunststoff zog, deutlich sichtbar durch die Linie des Kielwassers, eine flache Kurve aus. Der Bug zeigte zuerst nach Westen, dann bewegten sich die Merkmale des Ufers zwischen den Stahlröhren vorbei, der Bug drehte sich ganz langsam nach Südwesten, dann nach Süden. Die lautlos arbeitende Doppelmaschine trieb das Boot vorwärts, auf eine weitere Schaltung Cliffs hin rotierten die Schrauben langsamer. Der Punkt, an dem Cliff ankern wollte, näherte sich. Vom südlichen Ufer her zog sich eine Doppelreihe von Rohren aus nichtrostendem, kunststoffbeschichteten Stahl in die Bucht hinaus. Zwischen den Stahlsäulen, die sich einen Meter weit über den Wasserspiegel hoben, lief ein Steg bis zum Ufer. Das Schiff fuhr durch das Gekräusel der Wasserfläche auf das Ende des Steges zu, hinterließ ein spitzwinkeliges Kielwasser. Dann erschien unterhalb des Hecks ein weißer, schaumiger Wirbel. Beide Schrauben liefen rückwärts, mit voller Maschinenkraft, fünf oder sechs Sekunden lang. Dann war die langsame Fahrt des Schiffes aufgehoben. Cliff schaltete die Maschinen ab, löste den Patentanker aus der Vertäuung und warf
ihn über Bord. Das Schiff drehte halb, fuhr an der rasselnden Ankerkette vorbei, und zwanzig Meter weiter faßte der Anker. Das weiße Boot mit dem gelben Sonnendeck drehte sich um hundertachtzig Grad, dann brachte Cliff eine Achterleine aus und belegte sie wieder an Bord. Er wartete. Eine knappe Viertelstunde später hatte er die Gewißheit, daß der Anker im Boden, der aus Gestein, Sand und Schlick bestand, gut gefaßt hatte. Das Boot würde, mit einer Leine und dem Buganker belegt, notfalls tagelang hier liegen können. Cliff zog die Hansen-Jacke in der Sicherheitsfarbe aus, legte sie sorgfältig zusammen und ging wieder nach achtern. Einen Augenblick lang blieb er neben dem bequemen Sitz vor der Steuerung stehen, warf einen langen Blick über die niedrigen Aufbauten des Bootes und betrat die Kabine über den Niedergang. »So!« sagte er voller Zufriedenheit. »Nachmittagskaffee!« Er schaltete zuerst das Kurzwellenfunkgerät ein, drehte den Zeiger auf fünfhundert Kiloherz, tastete das Rufzeichen YUS ein und nahm dann die Feineinstellung auf vierhundertvierundachtzig Kilohertz vor. Das Hydrographische Institut von Split sprach den Wetterbericht für diesen Teil der Küste und für diesen Nachmittag durch, dann den für den nächsten Tag. Das Wetter würde bleiben, wie es war – gerade sagenhaft schön. »Danke!« murmelte Cliff und schaltete den Apparat ab. Cliff sah auf die Uhr: dreizehn Uhr dreißig Minu-
ten. Er schob die Sicherheitstüren aus Kunststoff zur Seite, nahm aus den seegangsicheren Vertiefungen das Geschirr heraus und bereitete sich dann mit Hilfe des winzigen Kochers und der Vorräte im kleinen Kühlschrank und in den zahlreichen Vorratsfächern des Bootes eine ausgezeichnete Mahlzeit, die von einem Pflaumenschnaps gekrönt wurde. Anschließend trug er den Kassettenrecorder aus der Kabine hinauf an Deck, legte sich auf die Schaumstoffliege oberhalb der Maschinen und versuchte einzuschlafen. Die folgenden zwanzig Minuten, bevor er endlich schlief, dachte er nach. Einige sehr wichtige Gedanken hatten sich ihm in den letzten Wochen förmlich aufgedrängt; und in Australien, in seiner hoch gelegenen Wohnung auf ORION-Island, war er nicht in der Lage gewesen, den Komplex der Fragen durchzudenken. War er es jetzt? Hier und in dieser kargen, geschichtsträchtigen Umgebung? Zwischen den uralten Olivenbäumen und den grausilbernen Steinmauern, zwischen denen schon die Kameraden von Odysseus Feuer gemacht hatten – wenn Cliff den Sagen glauben durfte. »Jedenfalls habe ich hier die nötige Ruhe«, murmelte Cliff schläfrig. Während aus dem Kassettenrecorder antike Melodien der Landschaft Dalmatiens zu hören waren, beschäftigte sich der Raumfahrer mit seinen Überlegungen. *
Es war der Raumpirat gewesen, der Nachkomme von Frank Hoium Dougherty, dessen Auftauchen Cliff in eine nachdenkliche Stimmung versetzt hatte. Im Grund war das Problem uralt, so alt wie die Menschheit. Cliff mußte es nur für sich selbst zu lösen versuchen. Der Homo sapiens erschloß für sich selbst und die wenigen Verbündeten das Weltall und die Straßen zu den Sternen und den Planeten. Er tat dies, wie alles, was neu angefangen werden mußte, ohne die Vergangenheit so gut zu kennen, daß er aus ihr lernen konnte. Die Menschen kannten zwar flüchtig einige Rassen aus der allerfernsten Vergangenheit, dazu eine kleine Handvoll neuer Freunde, auf deren Hilfe sie rechnen konnte – aber eine genaue Konzeption, aus der Vergangenheit und Gegenwart entwickelt und gleichzeitig zukunftsweisend, hatte der Homo sapiens stellaris keineswegs. Es war auch nicht damit zu rechnen, daß er sie noch entwickeln würde. Cliff aber wußte ganz genau: »Da sich der Mensch in allen seinen Anlagen kaum verändert hat seit den Zeiten von Odysseus«, murmelte er, »ist es ein Vorteil, wenn jemand versucht, die Vergangenheit in die Zukunft zu integrieren.« Das war, fand er augenblicklich, ein faszinierender Gedanke. Vermutlich hatte ihn vor ihm schon ein weitaus Größerer und Bekannterer gehabt und auch publiziert, für ihn aber war er neu. Er feilte an den Folgerungen herum, als ihn der Schlaf nach dem Essen überraschte. Und genau um fünf Uhr endete dieser Schlaf abrupt. »Verdammt!« sagte Cliff wütend. »Das wird zum Trauma!«
Er wischte sich den Schlaf aus den Augen, richtete sich auf und tappte blinzelnd zum Niedergang. Das Deck atmete salzige, warme Luft aus, und vom Ufer her roch er wieder den Ginster und die dornigen Kletterpflanzen. Eine Hummel summte in Spiralen um den kleinen Mast und ließ sich durch die Farben der steuerbord hochgezogenen Gastlandsflagge irritieren. Cliff setzte sich auf den Rand der eingebauten, jetzt aber zurückgeschobenen Liege, schaltete das ebenfalls eingebaute Sprechfunkgerät ein und sagte bemerkenswert mürrisch: »Hier Nova Ljubav, Skipper McLane. Wen höre ich?« Eine Mädchenstimme mit unverbindlichem und unpersönlichem Tonfall sagte deutlich: »Hier radiochronische Übertragung eines Ferngesprächs durch den hydrometeorologischen Dienst in Ancona. Bitte warten Sie!« »Bleibt mir etwas anderes übrig?« knurrte Cliff vorwurfsvoll, aber er bekam keine Antwort mehr. Er schob den Lautstärkeregler des Gerätes etwas höher hinauf und hörte durch die knisternden, pfeifenden und krachenden Störungen ferne Schaltgeräusche, dann eine leise Stimme: »Groote Eylandt – bitte sprechen Sie. Teilnehmer hat sich gemeldet.« Eine böse Ahnung ergriff den einsamen Mann auf dem weißen Boot. »Hallo – dort McLane?« fragte jemand. Cliff versuchte, die Stimme zu erkennen; es war nicht Wamsler. »Ja, leider!« sagte er halblaut, dicht vor dem Mikrophon.
Die Vorahnung einer ärgerlichen Störung verdichtete sich, als Cliff hörte, wie der Anrufer weitersprach. »Cliff, hier ist Bela Rover. Sie kennen mich noch?« Cliff erwiderte schroff: »Obwohl ich leider auf der antipodischen Seite des Erdballs Urlaub mache, ist Ihre Stimme erstens gut verständlich, zweitens wie sehr moderne Musik in meinen Ohren, also außerordentlich dissonant. Was geht hier vor? Warum stört man mich?« Bela Rover, Chef des BEA, des Büros für Extraterrestrische Angelegenheiten, war ein ernsthafter, moderner junger Mann mit einem Schnurrbart und graugrünen Augen. Er ging sicherlich nicht leichtfertig mit dem Urlaub eines Oberst McLane um. Trotzdem enthielt seine Stimme einige Elemente, die Cliff davon überzeugten, daß Rover ein oder mehrere echte Probleme hatte. Die mühevolle Vermittlung dieses Gespräches trug zu dieser Überzeugung bei; es war einfacher, einen Planeten in Zehn/Ost 334 anzurufen als ein Gespräch mit einem am Anker liegenden Boot zu führen. »Ich störe Sie, weil ich ein ernsthaftes Problem habe, Cliff!« sagte Rover. »Und ich habe mich erinnert, wie Sie die Aufgabe auf dem Eisplaneten lösten.« Cliff sagte scharf: »Leider lösten, denn sonst wären Sie schwerlich auf mich verfallen.« »Etwas Wahres ist daran. Kennen Sie Wenatchee?« »Dieser Herr oder diese Dame ist mir nicht vorgestellt worden«, sagte der Kommandant wahrheitsgemäß, obwohl er sich ausrechnen konnte, daß es sich bei diesem Namen schwerlich um eine Person han-
delte. Die Antwort war dementsprechend. »Kein Herr, sondern ein Planet der Sonne Nicotras Stern My.« »Verstehe. Kenne ich nicht. Die Sonne ist mir bekannt.« Bela Rover sagte: »Wir suchen dort nach Erzen und Stahlveredlern. Wir bauen Anwucherungen von Manganknollen auf dem Meeresboden von Wenatchee ab. Wir haben dort eine Pionierabteilung von dreihundert Menschen, und die Arbeiten gehen nicht voran – wir bauen dort ein ziemlich umfangreiches und aufwendiges Projekt auf. Helfen Sie mir, Cliff?« »Ihnen allein?« fragte der Kommandant. »Vorwiegend. Ich habe dieses Projekt gestartet und trage dafür die Verantwortung. Alle Arbeiten, die zur Erschließung führen, stagnieren. Niemand weiß, warum. Ich sehe meinem Kannä entgegen.« Cliff wußte, was Rover meinte – eine deutliche Niederlage zeichnete sich ab. Für Bela Rover. »Sie brauchen mich?« fragte er ahnungsvoll. »Ja. Dringend. Sie und Glanskis, den Raguer.« Cliff warf einen sehnsüchtigen Blick aus dem Kajüteneingang hinaus. Ein großes Segel glitt geräuschlos vorbei, und Cliff konnte sich ausrechnen, daß es entweder ein hervorragender Skipper sein mußte, oder daß nach wenigen Minuten die Leinwand fallen und die Maschinen eingeschaltet werden würden, denn durch die westliche Enge der Passage zwischen Pa‰man und Ugljan kam man nur durch eine zwanzig Fuß breite Fahrrinne zwischen großen schwarzen Baken. »Wann?«
Rover sagte mit Nachdruck: »Zur Besprechung sofort, zum Einsatz in zwei Wochen. Wir können dann den Flug mit einer gewaltigen Materiallieferung koordinieren. Cliff, Sie würden nicht primär den Behörden, sondern mir einen großen Gefallen tun. Sie würden mich aus einer echten Notlage befreien.« Cliff kaute auf der Unterlippe und war versucht, Bela sofort zu helfen, aber er fragte dennoch mißtrauisch: »Was soll ich tun? Oder besser: was sollen wir tun, Prac'h und ich?« »Dort auf Wenatchee sind nur Pioniere mit Gerät stationiert. Sie sollen eine lange Piste durch eine Halbinsel und eine Brücke zu einer Insel bauen. Die Insel hat eine Bucht, in der die Verladeeinrichtungen der Manganknollen errichtet werden sollen. Die Pioniere arbeiten ziemlich nachdrücklich, aber ihr Erfolg ist gleich Null. Sie arbeiten unlustig, ohne Schwung. Die Stimmung ist auf einen absoluten Tiefstand gesunken. Was sie dort brauchen, ist ein ganz tolles Beispiel, jemand, der sie mitreißt.« Cliff fragte: »Was kostet Terra dieses Projekt?« Die genannte Zahl ließ ihn schwindeln. »Es wäre eine echte Aufgabe für Sie, Cliff, und Sie fungieren dort nur als Beispiel.« Cliff sagte: »Ich mache mit, wenn Sie erstens die Charter für dieses Boot übernehmen, wenn ich zweitens die Zeit bis Urlaubsende hierbleiben kann und wenn Sie mich zur Besprechung abholen.« Ohne zu zögern, willigte Bela Rover ein.
»Wann werde ich abgeholt?« Rover sagte, daß am nächsten Vormittag ein Hubschrauber landen und einen Ersatzmann mitbringen würde. Cliff sollte an Bord solange vertreten werden, bis er wieder zurückgeflogen werden konnte. Cliff willigte endgültig ein, und an der Reaktion Bela Rovers erkannte er, daß er diesem Mann wirklich geholfen hatte. Und außerdem wechselte Cliff nur den Planeten, nicht aber das Medium. »Das ist bereits die erste praktische Auswertung meiner Überlegungen«, sagte er zu sich, nachdem er das Funkgerät ausgeschaltet hatte. »Ich werde versuchen, das Wenige, das ich bisher auf Wasser zwischen diesen zahlreichen Inseln gelernt habe, draußen im Weltraum, auf einem anderen Planeten, geschickt anzuwenden.« Ein Projekt zur Rohstoffgewinnung war es, hatte Bela Rover gesagt. Die Erde begann also nunmehr in größerem Maß, ihre Rohstoffe von den kolonisierten Planeten zu beziehen. Sie stahl niemandem etwas, denn diese Planeten waren herrenlos – niemand lebte auf ihnen, keine Intelligenzrasse. Die Summe, die genannt worden war, schien selbst für das Büro für Extraterrestrische Angelegenheiten sehr hoch. »Also ist dieses Projekt sehr wichtig!« murmelte Cliff. Er öffnete eine Packung Fruchtsaft, goß Alkohol hinein und füllte das Glas mit Eiswürfeln auf. Dann ging er wieder hinaus auf das Achterdeck, wechselte die Bandkassette aus und setzte sich in den halben Schatten. Die Crew des stattlichen Seglers arbeitete inzwischen wie besessen, um die Fock und das Großsegel
zu bergen. Das schwache Brummen der Maschine war zu hören, und am Bug stand ein Mädchen und rief die Wassertiefe aus. Cliff nahm träge das Fernglas, beobachtete die Manöver und sah, daß der Segler haarscharf an den steuerbordlichen Baken – großen Ballonen aus schwarzgefärbtem Weidengeflecht – vorbeisteuerte und in den Srednjikanal hineinfuhr. Cliff atmete stellvertretend auf. Es waren bisher herrliche, träge Tage gewesen. Langes Schlafen, spätes Aufstehen und Schwimmen, dann ein ausgedehntes Essen bei Musik und unter der Morgensonne, anschließend Studium der Seekarten und Aussuchen eines neuen Zieles. Die Maschinen liefen an, dann raste sein kleines Boot mit dreißig Seemeilen Geschwindigkeit zwischen den Inseln entlang, suchte eine der vielen einsamen Buchten und ging schließlich vor Anker; jeden Tag an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit. Cliff las sehr viel, arbeitete an Deck und reinigte das Schiff. Er wurde braun und immer brauner, entschloß sich plötzlich, seinen Bart zu entfernen, bekam einen Sonnenbrand an den Stellen, die bisher vom Haar geschützt gewesen waren, und fühlte sich prächtig. Durch seine Schwimmübungen und die bisher von keinerlei Erfolg gekrönten Tauchversuche nahm er ab, und die Fettansätze verschwanden schneller als sie aufgetaucht waren. Und mitten in diesem Urlaub: die schon fast zur Regel gewordene Unterbrechung. »Aber diesmal ist es etwas anderes!« sagte Cliff. Es war etwas anderes. Er hatte alle Möglichkeiten, abzulehnen. Aber Bela hatte ihn persönlich gebeten, denn für Bela stand viel
auf dem Spiel. Also würde Cliff starten und Rover entlasten. Ein Entgegenkommen, das wenig Dienstliches hatte. Außerdem bezahlte dann Rover die nicht gerade billige Charter des Bootes. Cliff trank aus und schlief weiter. Der Abend kam. Hinter der verfallenen Kirche am nordöstlichen Ufer der runden Bucht zeigte sich über den Felsen, neben und hinter den knorrigen Bäumen ein heller Streifen. Er ging, hundertsiebzig Grad umspannend, über fast den halben Horizont. Die Sonne ging unter, und es sah aus, als versänke ein riesiger Ball aus Messing. Nicht die Spur einer einzigen Wolke zeigte sich am Himmel. Zwei künstliche und ein echter Stern, beziehungsweise ein reflektierender Planet, flimmerten in der mächtigen Kuppel des Himmels auf. Die beiden Raumstationen, EOS I und EOS IV und der Abendstern. »Fock herunter!« Cliff hob den Kopf; dieses Kommando war für ihn überraschend gekommen. Er hatte das alte, etwa achtzehn Meter lange Segelboot nicht kommen gesehen. Jetzt hörte er es. Das flatternde Großsegel, die Gestalten und die Masten, der Baum und die knatternde Genuafock hoben sich scharf gegen den Himmel ab, der dunkler und farbintensiver wurde. Eine etwas heisere Frauenstimme rief halblaut: »He, Skipper!« Cliff setzte die Brille auf, schob sie anschließend in die Stirn und stellte sich auf das Plastikmaterial des Kabinenaufbaus. »Ja?« fragte er zurück. Die andere Segeljacht, ein Boot von rund achtzehn Metern Länge, war inzwi-
schen auf Rufweite herangekommen. Der Steuergast fuhr mit halber Kraft ein Anlegemanöver über Heck aus. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir die Nacht über hier anlegen?« Cliff grinste, als er das Mädchen, das die Fock mit schnellen, geübten Griffen zusammenlegte und mit den Fockschot-Leinen sicherte, als Sprecherin erkannte. »Nein«, sagte er. »Die Adria ist für alle da.« »Oder für fast alle«, sagte das Mädchen. »Hält der Anker hier?« »Schlick und schwere Steine«, sagte Cliff. »Meiner hält seit Mittag unverändert. Zufrieden?« »Vollkommen.« Die Mannschaft des anderen Bootes, zwei Mädchen und zwei Männer, schien hervorragend aufeinander eingespielt zu sein. Das Manöver, bei dem das Boot sich um fast hundertachtzig Grad drehte, während Buganker und Heckleinen ausgebracht wurden, war ausgezeichnet. Die Ankerkette rasselte durch die stählernen Führungsringe des Bugs, die Leinen fielen klatschend auf die Bohlen, und Cliff kletterte entlang des Deckaufbaus nach vorn und belegte mit drei Schlägen die dicke Heckleine an dem pollerähnlichen Stahlrohr. Dann blieb er stehen und sah zu, wie die Mannschaft die Fock in dem blauen Plastiksack verstaute und das Großsegel entlang des Aluminiumbaumes zusammenfaltete und mit einem Bändsel sicherte. »Danke, Skipper!« sagte das Mädchen. Sie verschwand, als das Boot längsseits des Steges zur Ruhe gekommen war, unter Deck und kam zurück, in eine
modische weiße Frotteejacke gehüllt. »Nichts zu danken«, sagte Cliff ruhig. »Reines Entgegenkommen unter Sportsleuten!« »Es gibt auch unhöfliche Sportsleute«, gab das Mädchen zurück. »Fahren Sie dieses Schiff allein?« »Ja«, erwiderte Cliff provozierend, »ich bin Misanthrop!« »Wie aufregend!« antwortete das Mädchen. »Wären Sie sonst hier?« »Sicherlich nicht«, murmelte Cliff trocken. »Sie gestatten, daß ich mich vorstelle?« Sie lächelte, zog aus der Tasche der Segeljacke einen Kamm und begann, ihr fast weißes Haar in Form zu bringen. »Gern!« Cliff war in bester Laune; er hätte sich sogar telepathisch mit einem Kugelwesen von Caernavan't unterhalten und hätte seinen Spaß daran gehabt. Er betrachtete im letzten Licht des Abends das Mädchen und machte eine Reihe von Feststellungen, die ihn freuten. Sie war etwa siebenundzwanzig Jahre alt, hatte schulterlanges, fast weißes Haar, das ohne jeden Zweifel gefärbt war. In einem Gesicht unverkennbar römischen Zuschnitts saß eine recht prominente Nase; sie erinnerte Cliff an gewisse Gemälde Botticellis oder anderer italienischer Meister. Große, schwarze Augen wurden von langen Wimpern beschattet. Das Mädchen begegnete seinem Blick und sagte: »Ich glaube, ich habe Sie schlecht verstanden!« Cliff setzte sich auf eines der dicken, stählernen Rohre und ließ die Beine baumeln. Dann sagte er: »Ich bin ein unglückseliger Raumfahrer, den die
abendliche Flut an diesen Strand getrieben hat wie weiland Odysseus.« Das Mädchen schnippte mit den Fingern und sagte verwundert: »Richtig. Sie kamen mir bekannt vor. Sie werden doch nicht etwa der ›leidgeprüfte‹ Cliff McLane sein?« »Das ganze Inkognito ist hin!« seufzte Cliff. »Und mit wem habe ich das Vergnügen?« »Mit fast der ganzen Familie La Grange«, sagte das Mädchen. »Zwei Brüder, eine Mama und eine Tochter.« Mit dem durch die Tageshitze stark beeinträchtigten Versuch, sarkastisch sein zu wollen, sagte Cliff: »Ich ahnte nicht, daß ein junges Mädchen wie Sie schon drei Kinder hat.« Sie streckte die Hand aus, Cliff half ihr auf den Steg heraus. Sie standen nebeneinander und sahen die Boote an. »Raghilt La Grange«, sagte sie. »Im fünften Urlaubstag nach einem Jahr harter Arbeit. Wir kamen von Bari herüber. Sind Sie wirklich ganz allein hier?« »Ja«, antwortete der Kommandant. »Und es gefällt mir so gut, daß ich morgen früh mit einem Helikopter abgeholt werde. Man braucht mich wieder.« »Im Kosmos.« »Leider. So ist es.« Sie schwiegen eine Weile, während die Familienmannschaft des anderen Schiffes die letzten Arbeiten unternahm, um das hart gesegelte Boot klarzumachen. Am Mast wurde ein weißes Rundumlicht ausgebracht – ein Zeichen, daß hier ein Schiff vor Anker lag. Taue wurden aufgerollt, das Deck wurde mit Salzwasser und Lösungsmittel gereinigt, und die Unter-
haltung in italienisch gefärbtem Terranisch klang über die ruhige Bucht. Wieder wandte sich das Mädchen an Cliff. »Haben Sie schon gegessen?« Cliff zuckte die Schultern und sagte leise: »Im Urlaub bin ich genügsam. Viel Hunger habe ich nicht – nein, ich habe noch nicht zu Abend gegessen. Warum fragen Sie?« »Mama kocht. Darf ich Sie einladen?« »Mit Vergnügen«, sagte Cliff. »Ich kann aber weder einen Fisch noch Blumen mitbringen.« »Verehren Sie uns ein Exemplar Ihrer Biographie«, sagte Raghilt lächelnd und trat auf das straffe Tau, das sich zwischen Steg und Schiff spannte. Mit einem Sprung war sie an Deck. »In zwanzig Minuten?« »Aber sicher!« sagte Cliff. Nachdem er an seinem Boot einen Schalter betätigt hatte, leuchteten drei Lichter auf. Eines am Mast, von allen Seiten gleich gut zu erkennen, ein anderes über dem Steuerstand und ein drittes in der Wand der Kabine. Als der Raumfahrer aus dem vorlichen Bullauge blickte, dicht neben dem kleinen Aggregat zur Stromerzeugung, sah er die wuchtigen Messingbuchstaben am Bug des anderen Schiffes. Mit großer Verwunderung las er DEEP BLACK SEA II. »Sicher hat dieser Name eine tiefe Bedeutung«, murmelte Cliff, dann zog er sich langsam um. ›Mama‹ La Grange entpuppte sich im Licht der Kabinenbeleuchtung des anderen Bootes als eine Art ältere Schwester von Raghilt. Die beiden Brüder waren etwa zwanzigjährige junge Männer, die ebenfalls den Eindruck machten, als würden sie sich durch das
Segeln von anstrengender Büroarbeit oder ähnlichen Beschäftigungen erholen. Das ganze Schiff roch betäubend nach Essen. Nach Essen auf italienische Art. Also nach viel Essen und einer Unzahl einzelner Gerichte. Cliff blieb vor dem Kabinenniedergang stehen und fragte: »Darf ich an Bord kommen?« »Immer nur herein! Einen Aperitif?« »Mit Vergnügen.« Binnen der nächsten zehn Minuten war auf dem Achterdeck ein Tisch aufgebaut worden. Windlichter wurden angezündet, Bootsstühle herangebracht, und das Abendessen fing an. Es war ausgesprochen exzellent und enorm sättigend. Bei dieser Gelegenheit erfuhr Cliff, daß Raghilt eine der wenigen Spezialistinnen dieses Planeten für die Erforschung des Meeresgrundes war. Er kam durch das Stichwort Manganknollen darauf, das einer der Brüder gebrauchte. »Kann ich Sie um eine kurze Erklärung bitten?« fragte Cliff, ein Glas roten italienischen Sekts in den Fingern. »Mit Vergnügen – nein: nicht mit Vergnügen. Ich habe Urlaub. Wir La Granges haben uns seit einem Jahrtausend in der Ausbeutung der unterseeischen Schätze einen Namen und ein bißchen Geld gemacht. Ich bin die Spezialistin der Familie, was das Auffinden neuer Fundstätten betrifft ...« Cliff hörte gebannt zu: wieder einmal bewies sich für ihn, daß er in den Raum hinausraste, ohne die Geheimnisse dieses eigenen Planeten auch nur annähernd zu kennen. Einundsiebzig Prozent dieses Planeten Erde waren von Wasser bedeckt. Das waren dreihunderteinund-
sechzig Millionen Quadratkilometer. In dieser Wassermasse, beziehungsweise unterhalb des Meeresbodens, waren rund fünfzehn Milliarden Tonnen Kupfer und die gleiche Menge an Mangan verborgen und hatten lange darauf gewartet, bis man sie schürfen konnte. Zwanzig Milliarden Tonnen Uranium waren inzwischen festgestellt worden, und seit einem Jahrtausend baute man die Blende ab. Fünfhundert Millionen Tonnen Silber und rund zehn Millionen Tonnen Gold ... eine phantastische Kette von gewaltigen Zahlen zog an Cliff vorbei. »Die Tiefsee – daher auch der Name unseres Schiffes – arbeitete auf eine sehr merkwürdige Weise. Man entdeckte das, was ich Ihnen jetzt berichten werde, um das Jahr 2000. Aus dem Meerwasser werden Mangan und Eisen direkt ausgefällt; die Stoffe überziehen die Felsen des Meeresgrundes mit einer Kruste, die immer dicker wird und wie eine gebackene Kartoffel aussieht.« Raghilt wies auf einen Speiserest, der aus der Silberfolie hervorsah. »Etwa so. Es gibt noch heute riesige Mengen davon auf dem Boden der Tiefsee. In dieser großen Tiefe werden sie nicht von absinkenden Sedimentstoffen bedeckt und konnten seit Jahrtausenden ungehindert weiterwuchern. Diese Knollen enthalten viel Mangan, das aber relativ wertlos ist. Aber dazu holen wir auf diese Weise Kupfer aus dem Meer, Zink und Blei, Vanadium und Phosphor und Zirkonium. Das ist die Domäne der Familie La Grange.« Cliff nickte und fragte leise: »Es gibt Zufälle auf See, die lassen einen wieder an Nixen, Neptun und Klabauterleute denken.«
Mama korrigierte: »Klabautermänner, Raumfahrer!« Cliff lächelte schwach und erwiderte: »Der Zufall daran ist, daß ich gerade Sie hier traf. Hier und heute. Morgen früh nämlich kommt ein Helikopter, der mich abholt und – auf Umwegen – nach Australien bringt, in die Basis 104. Die Erde hat einen Planeten erschlossen, der ihr auf die gleiche Weise Rohstoffe liefern soll, und die Pioniere dort haben offensichtlich große Probleme. Das ist verdammt interessant – Entschuldigung, gnädige Frau.« »Das hätten Sie nicht sagen sollen, Cliff!« Cliff fragte verwundert: »Warum nicht, gnädige Frau?« »Sagen Sie auch ›Mama‹ zu mir, mein Sohn! Jetzt hat Raghilt mitten im Urlaub eine neue Aufgabe gesehen. Sie wird nicht eher aufhören, bis sie alles weiß. Am liebsten würde sie mitfliegen?« Cliff und Raghilt schauten sich an wie Verschwörer. »Möchten Sie mitfliegen?« fragte Cliff leise. »Es ist ein fast privater Flug. Ich werde dort vermutlich koordinierende und anfeuernde Arbeiten haben. Nur dadurch, daß man den Pionieren zeigt, daß auch ein Raumfahrer das kann, worauf sie stolz sind, kann man sie an der Ehre packen. Ich habe das schon einmal durchgespielt – hier wird es nicht anders sein.« Raghilt fragte: »Welcher Planet?« »Wenatchee, Planet der Sonne Nicotras Stern My.« Raghilt nickte und goß neuen Sekt in die kostbaren Gläser. Inzwischen hatte sich Cliff etwas umgesehen und fand seine ersten Vermutungen richtig. Diese
Familie war ziemlich reich. Um es genau zu sagen, sie war steinreich. Und das Schiff, sicher eine Neuauflage der alten DEEP BLACK SEA, war eine Mischung zwischen modernster und sicherster Technik und altehrwürdiger Tradition. Cliff sah viel Leder, viele goldene Wappen, kostbare Gläser und eine geräumige Kabine, in der sogar wassersichere Kopien alter Meister hingen. An und in diesem Schiff fehlte nichts, und als Cliff sich herumbeugte, um den Steuerstand mit den eingebauten Kompassen, den Barometern und all dem anderen technischen Zubehör anzuschauen, entdeckte er, daß direkt unter seinem Stuhl eine Achthundert-PS-Turbine eingebaut war. Sie konnte bei Gefahr aus dem Segelschiff eine dahinrasende Motorjacht machen. Anerkennend grinste er; mit Maschinen kannte er sich aus. »Ich interessiere mich sehr dafür«, sagte Raghilt. Eine scharfe Reaktion der Mutter war die Antwort auf diese leise Bemerkung. »Wir haben Urlaub! Lange und teuer verdienten Urlaub, Raghilt! Ich halte es für ungewöhnlich kindisch, wenn du die Erholung der Familie auf das Spiel setzt.« Raghilt murmelte: »Keine Aufregung. Wie lange bleiben Sie weg, Cliff?« Cliff zuckte die Schultern und murmelte, etwas unglücklich darüber, was seine Bemerkungen ausgelöst hatten: »Etwa drei Tage. Ich muß an einer Besprechung teilnehmen, die ein guter Freund von mir angesetzt hat. Unter seiner Regie läuft das Projekt, und er erleidet sonst Schiffbruch.«
»Sie könnten mich als Berater einsetzen«, sagte Raghilt. »Wenn es möglich ist, diesen heißen Tip auszuwerten und gleichzeitig den Urlaub nicht zu unterbrechen, dann würde ich die Erfahrung unserer Familie anbieten. Wie hoch, sagten Sie, ist die Summe der Gesamtkosten.« Cliff nannte die Summe. Er hätte damit die Adria kaufen können. Mama hob das Glas und sagte: »Einverstanden. In drei Tagen seid ihr zurück?« Cliff nickte schweigend. Sie war eine sehr gutaussehende Frau von Kultur und feiner Lebensart, und der Hinweis auf gewinnbringende Beschäftigung eines ihrer Familienmitglieder schien sie besänftigt zu haben. »Bei dieser Summe ist sicher noch ein Beratervertrag drin« meinte einer der Brüder. »Wir könnten dem Büro für Extraterrestrische Angelegenheiten unter Bela Rover sicher eine Menge Arbeit und Sorgen sparen.« Cliff lehnte sich verblüfft zurück und flüsterte: »Sie wissen alles?« »Fast alles«, sagte Toni La Grange. »Schließlich bewarben wir uns, als das Projekt gestartet wurde. Rover berief sich auf die Kenntnisse der Pioniertruppen und ließ uns abblitzen.« Cliff und Toni grinsten sich an. »Das«, sagte der Raumfahrer in plötzlicher Heiterkeit, »eröffnet für alle sehr interessante Perspektiven. Ich werde jetzt von Bord und an Bord gehen und mich ausschlafen. So, wie ich Rover zu kennen glaube, wird der Helikopter kurz nach Morgengrauen hier lärmend landen.«
Er bedankte und verabschiedete sich und verließ die DEEP BLACK SEA. Er ging auf sein kleines Boot zurück, richtete sein Lager auf der ausziehbaren, bequemen Liege und hörte noch eine halbe Stunde lang Musik und die Zehn-Uhr-Nachrichten. Dann schlief er ein. Wie ein drohendes Zeichen hing die scharfe, dünne Sichel des zunehmenden Mondes über der lagunenähnlichen Bucht, in deren leichtem Wellengang die beiden Schiffe leicht schaukelten. Es wurde kühl, und der erste Tau fiel.
2 Ein neues Geräusch, ein neuer Morgen: Der Helikopter kam, von Norden einfliegend, in dreißig Metern Höhe über die Bucht. Das Wasser unter ihm wurde kreisförmig nach den Rändern hin aufgewühlt und zerstäubt. Das Heulen der Turbine und das Schwirren der Schrauben brachten einen Aufruhr über die Landschaft, und auf Mi‰njak begannen die Esel wieder jämmerlich zu schreien. Cliff hatte sich wecken lassen und saß bereits beim Frühstück auf dem Achterdeck, unter dem hellen Sonnensegel. Er winkte flüchtig, als er den Kopf des Piloten hinter der gewölbten Glaskanzel sah. Der Helikopter kam näher und ging tiefer, dann setzte er mit den beiden großen Schwimmkörpern auf. Die Schraube lief aus, und die heulende Turbine schob die schwere, schnelle Electeyn-Jet näher heran. Fünf Meter vor den beiden Schiffen stabilisierte der Pilot den Flugkörper und blieb auf der Stelle stehen. Ein Außenlautsprecher knackte hart. »Ich suche Kommandant McLane!« Cliff stand auf, legte beide Hände trichterförmig an den Mund und rief laut zurück: »Ich frühstücke gerade. Möchten Sie einen Kaffee?« »Einverstanden – aber dann muß ich dieses Ding hier an Land aufsetzen!« Während Raghilt La Grange aus dem Niedergang auftauchte und ebenfalls zum Helikopter hinüberwinkte, dann mit einem weiten Sprung vom Achterdeck ihres Schiffes auf das Vordeck von Cliffs Boot übersetzte, schrie der Kommandant:
»Tun Sie das. Vorsicht, die Steine sind sehr scharfkantig!« »Verstanden!« Fünf Minuten später lief der Pilot langsam, seinen Helm unter dem Arm, auf das Boot von Cliff zu. Seine Schritte polterten über die ausgebleichten Bohlen des Steges. Er setzte sich zwischen Cliff und das Mädchen und sagte: »Ich komme von Zadar. Auf dem Flugplatz wartet eine schnelle LANCET auf Sie. Mit Piloten sogar!« »Alle Planeten«, sagte Cliff. »Bela läßt sich seine Aufmerksamkeiten etwas kosten. Mit Milch oder ohne Zucker?« »Schwarz, bitte.« Der Helikopter stand neben den beiden verfallenen Hütten im langen Schatten von Olivenbäumen. Mit deutlichem Neid, aber schweigend, musterte der Pilot die beiden anderen Personen. Cliff und das Mädchen trugen weiße Leinenhosen, dünne, weiße Bordstiefel und breite Seemannsgürtel, darüber dünne weiße Pullover, die natürlich trefflich geeignet waren, die gesunde Bräune gut zur Geltung zu bringen. Beide rochen betäubend nach teurer Sonnenschutzcreme. Griffbereit lagen die gelben Hansen-Jacken auf Deck, die Sonnenbrillen lagen neben den Kaffeetassen. Cliff fragte: »Was ist mit dem versprochenen Ersatzmann, Pilot?« »Er ist gleichzeitig mit mir von Zadar gestartet, aber von der Marina.« Die ›Marina‹ war der kleine Jachthafen im Schutz des nordwestlichen Wellenbrechers, ganz in der Nähe der modernen Alkoholbrennerei.
»Mit einem Boot, denke ich«, sagte Cliff. »Ja. Er wird in einer halben Stunde hier sein. Wir haben Anordnungen erhalten, Sie in genau drei Tagen wieder an Bord zu bringen. Und ich habe dem Eigner des Bootes bereits heute einen Scheck überbracht.« »Phantastisch«, sagte Cliff. »Wenigstens auf der Erde scheint Belas Büro ganze Arbeit zu leisten.« Sie tranken ihren Kaffee aus, dann sagte Raghilt: »Meine Familie schläft noch und bittet Sie, diesen Umstand zu entschuldigen – von Bari bis hierher war es ein hübsches Stück Arbeit. Sind wir fertig?« »Ja.« Cliff stieg noch einmal nach unten, sah sich um und kontrollierte alles, was beaufsichtigt werden mußte. Er schloß den Hahn der Brenngas-Flasche und schaltete den Kassettenrecorder aus. »Gehen wir.« Hintereinander betraten sie den Steg, gingen an Land und rochen wieder die intensiven Gerüche des Strandes. Ginster und Eselsdung, faulende Fische und Salzwasser, Fichtennadeln und Steine, die in der Sonne trockneten. Der Pilot warf Cliff einen fragenden Blick zu und brummte dann, die Tür des Helikopters offenhaltend: »Ich sollte nur eine Person zum Flughafen bringen!« Cliff deutete auf Raghilt und sagte deutlich: »Bela Rover, von dessen Büro Sie diesen Auftrag haben, wird so froh sein, wenn ich dieses bezaubernde Mädchen mitbringe, daß er Ihnen die Passage und ein gutes Trinkgeld gern zahlen wird. Kurbeln Sie Ihre Propeller an!«
»Nicht mehr mein Problem!« sagte er und drückte den Starter. Sie schnallten sich fest, warfen einen letzten Blick auf die fast regungslose Wasserfläche, den Steg und die beiden Schiffe, dann zog der Pilot den Helikopter hoch und ging auf Kurs nach Zadar. Dreißig Minuten später stiegen sie in die Stratosphären-LANCET um, die augenblicklich startete und Südostkurs flog. Sie wurden ohne jeden Aufenthalt in das Büro Bela Rovers gebracht. * Bela Rover war hinreichend überrascht, aber er beherrschte sich und zeigte kaum, wie sehr ihn der Umstand überraschte, daß Cliff in Begleitung gekommen war. Er bot ihnen Sessel, Essen und Getränke an und blieb gelassen und heiter, obwohl jeder von ihnen wußte, welche Sorgen ihn plagten. Nach dem letzten Kognak sagte Cliff: »Wir alle haben es eilig, Bela. Schildern Sie mir genau Ihr Problem.« »Ja, gern. Mit Bildern und Diagrammen?« »Ich bitte darum«, sagte der Kommandant nüchtern, und als er den zweifelnden Blick Rovers in Richtung auf das weißhaarige Mädchen sah, fügte er hinzu: »Ich habe Raghilt eingeladen, weil Sie von ihr ebenso viel Unterstützung haben können wie von mir. Sie ist sicher – fangen Sie an, bitte.« »Auf Ihre Verantwortung, Cliff?« fragte Rover, den Finger auf dem Knopf für die VideophonschirmProjektion. »Nein, auf Ihre Verantwortung. Projekt Wenatchee
wird es verkraften können.« Nacheinander erloschen die Lichter der Raumbeleuchtung, und der vier Quadratmeter große Schirm zeigte eine Reihe von Bildern. Der Planet Wenatchee im Raumkubus Sieben/West 881 von verschiedenen Entfernungen, aus verschiedenen Winkeln und mit verschiedenen Filtern und Objektiven aufgenommen. Ein Planet, fast mit den gleichen Daten zu kennzeichnen wie die Erde, aber menschenleer und nur von einer Reihe von Tieren bewohnt. Besonders reichhaltig war die Fauna und Flora des Meeres geschildert, und auf diesem Planeten waren einundachtzig Prozent der Oberfläche vom Wasser bedeckt. Es gab einen einzigen Süßwassersee, einen einzigen Fluß und einen einzigen Großkontinent, dessen Ufer ein Bild der Zerklüftung waren. »Die Pioniere nennen den Planeten ›die Welt der zehntausend Buchten‹«, sagte Bela erklärend. »Das waren die Totalansichten. Jetzt die Details.« »Wir hören!« sagte Cliff und lehnte sich zurück. Wieder einmal hatte sich bewahrheitet, daß ein global ausgelegter Bildungsbegriff wichtiger und tiefer war als ein interstellarer. Die Pioniere – und darüber hinaus viele andere Gruppen oder Ideen, Menschen und Vorhaben – scheiterten, weil sie zu wenig mitbrachten. Sie kannten die Erde nicht und versuchten, andere Welten kennenzulernen. Es mißlang meistens, und dann mußten Menschen wie Cliff McLane eingreifen, die versuchten, Erinnerungen zu integrieren und die Vergangenheit nicht isoliert zu sehen, wenn es um die Zukunft ging. »Hier ist der Kontinent, hier die Halbinsel«, sagte Bela.
Die Bilder wechselten wieder. Am Rand des Kontinents, in der Nähe des planetaren Äquators, reckte sich in westlicher Richtung eine schmale, zerklüftete und zerrissene Landzunge aus der Landmasse. Sie war aufwärts, also nach Norden, gekrümmt. An ihrem äußersten Ende lag eine noch stärker zerklüftete Insel, mittelgroß, die eine tiefe, geschwungene Bucht an der Westseite aufwies. Alles war sehr bergig und mit dichtem Wald, offensichtlich mit wild wucherndem Dschungel bewachsen. »Das ist Kyklops Finger«, sagte Bela. »So nennen die Pioniere die Halbinsel.« Das Mädchen fragte: »Und wie heißt die Insel?« »Natürlich Vulkan Island«, erläuterte Rover. »Beide Namen lassen darauf schließen, daß man Halbinsel und Insel für vulkanischen Ursprungs hält. Richtig?« Im Licht, das von dem Bild ausging und die Gesichter anstrahlte, erkannte Cliff, daß Bela dem Mädchen einen langen, nachdenklichen Blick zuwarf. Vielleicht hatte er sie erkannt, vermutlich aber wunderte er sich nur etwas. »Vollkommen richtig. Dort, in dieser Gegend, scheint es vor langer Zeit von Vulkanen geradezu gewimmelt zu haben«, sagte Bela. »Wir fanden heraus, daß der Dschungel auf alter, jetzt zerfallener Lava wuchert. Wir finden auf dieser Halbinsel sieben Berge. Der höchste ist zweieinhalbtausend Meter über dem Meeresspiegel.« Cliff schnippte mit dem Fingernagel gegen das Glas und fragte: »Und wo liegt Ihr Problem, Bela? Machen Sie
schnell – es zieht uns zurück in die blaue Adria.« »Auf Wenatchee werden Ihnen das Wasser und die Sonne noch zum Hals hinaushängen«, versprach Rover grimmig. »Das muß man sich einmal gezeichnet vorstellen!« sagte Raghilt gutgelaunt. »Ja. Oder musikalisch aufgefaßt«, murmelte Cliff. »Unser Problem ist, daß vom Kontinent, wo bereits ein Raumhafen planiert und befestigt worden ist, bis zum Ende der Halbinsel eine breite Piste für einen automatischen Gleiterverkehr eingerichtet werden muß. Das sind genau eintausend Kilometer Straße.« »Eintausend Kilometer!« sagte Cliff erstaunt. »Das ist eine gewaltige Distanz, Bela. Wie lange sollen die Pioniere daran arbeiten?« Erbittert sagte Bela Rover: »Wir haben Schiffsladungen über Schiffsladungen dorthin geschafft. Die besten und schwersten Baumaschinen, Fräsen und Rodegeräte sind dort. Diese eintausend Kilometer entsprechen einer Luftlinie von nicht mehr als dreihundert Kilometern. Nur der Raumhafen wird termingerecht fertig – sonst nichts.« Raghilt sagte halblaut: »Und vermutlich die kleine Stadt, in der die Pioniere wohnen. Sie ist sicher fertig geworden.« Trocken erwiderte Rover: »Ja. Und sie hat sich zu einer Stadt entwickelt, die im Wilden Westen hätte stehen können.« »Verlockender Job, den Sie da für mich ausgegraben haben, Bela«, sagte Cliff. »Warum fliegen Sie eigentlich nicht selbst mit?« »Ich überlege es mir noch. Kann sein, daß ich mitkomme. Aber weiter mit unseren Problemen.«
»Ihre Probleme!« sagte der Kommandant und widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Bildern und Aufzeichnungen. Er war gespannt. Die Landschaft, die er sah, ähnelte entfernt derjenigen Dalmatiens; er sah nur wenige Unterschiede, abgesehen von der Natur des wuchernden Dschungels und der Tatsache, daß sowohl Kyklops Finger als auch Vulkan Island vulkanisch waren. »Erstens: Die Pioniere schaffen es nicht, die Straße richtig zu vermessen und zu roden und zu planieren. Zweitens: Aus ungeklärten Umständen brechen wegen jeder Kleinigkeit Streit und Aufregungen los. Die Männer prügeln sich um alles, worum sich hier niemand prügeln würde.« »Also auch um Frauen?« fragte Cliff ohne jeden Sarkasmus. »Ja. Leider.« »Weiter!« »Sie sollen eine Brücke schlagen, zwischen der Insel und dem Ende der Halbinsel. Anschließend soll die Piste bis an den Rand der Bucht führen; dort sollen Verladeeinrichtungen für die Manganknollen und die anderen Materialien geschaffen werden. Davon ist im Augenblick nichts da. Wir haben wunderbare Pläne, hervorragende Vermessungsunterlagen und fast alles Material, alle Maschinen, die wir brauchen. Die letzte Lieferung geht in einigen Tagen ab – das wäre Ihr Starttermin, Cliff. Übernehmen Sie den Job?« Cliff fragte schnell zurück: »Definieren Sie ihn bitte noch einmal genau. Ich fliege ungern völlig ins Ungewisse.« »Sie sollen die Arbeiten starten, überwachen, vorantreiben und die Reibereien zwischen den Pionieren
zum Erliegen bringen. Die Termine werden ohnehin alle hoffnungslos überzogen, und ich kann Sie kaum bitten, jetzt noch für deren Einhaltung zu sorgen. Ihr Einsatz ist völlig privat, wird Ihnen aber als reine Dienstzeit angerechnet. Ich habe mich mit Wamsler und Villa verständigt. Sie sind einverstanden.« »Gut«, sagte Cliff. »Ich werde den Job übernehmen. Zusammen mit diesem Mädchen und mit dem Raguer.« »Raguer – klar. Wer aber ist dieses Mädchen?« Cliff grinste diabolisch, als er erwiderte: »Sie wird hier einen Beratervertrag mit einem angemessenen Honorar unterschreiben. Ich bin tatsächlich überzeugt, daß ihre Mitarbeit Ihnen persönlich sehr viel wird nützen können. Sie ist Raghilt La Grange.« »Nein!« sagte Bela völlig entgeistert. »La Grange.« »Aus der berühmten La-Grange-Dynastie!« bestätigte Raghilt. »Ich verspreche Ihnen, daß Cliff und ich zusammen das Projekt Wenatchee entscheidend nach vorn bringen werden.« Bela war ehrlich verblüfft, aber er war zu intelligent, um nicht zu merken, wo sich ihm deutliche Vorteile boten. Er überlegte nicht lange und sagte schließlich: »Einverstanden. Viertausend?« »Plus freie Station!« »Gut. Eingeschlagen. Wie definieren Sie Ihre Aufgabe, Miß La Grange?« »Aufspüren der Bodenschätze, sowohl der auf dem Meeresboden wie auch derjenigen darunter. Ich mache, wie auch Cliff McLane, Urlaub. Das bedeutet für Sie, daß wir eine sehr günstige Arbeitsatmosphäre
haben werden, und außerdem können wir dank unserer lässigen, undienstlichen Art die Pioniere besser an der Ehre packen. Stellen Sie sich vor – eine Frau kurbelt die ganze Aktion an. Wie das die Hunderte von Männern frustrieren wird.« »Sie haben sich Ihr erstes Monatsgehalt bereits verdient!« erklärte Bela Rover. Cliff murmelte: »Eine Straße durch den Dschungel und entlang der Berge, eine Brücke und einen Hafen. Sie rechnen mit einer langanhaltenden Ausbeutung des Planeten. Und vermutlich mit sehr hohen Förderzahlen.« »So ist es. Die Straße wird entlang der Berghänge von sieben starken, vulkanischen Erhebungen geführt. Haben Sie eine Ahnung, Cliff oder Miß La Grange, aus welchem Grund die Pioniere resignieren?« »Ich vermute es«, sagte Cliff. Das Bild auf dem Sichtschirm zeigte noch immer die schmale Landzunge und die Insel. Scharf hoben sich die Spitzen der Berge ab. Über allem lag das gleiche Licht, das Cliff auch aus seinem Adriaaufenthalt her kannte. Hell, kontrastreich und unbarmherzig am Mittag. »Warum?« »Sie halten sich für gut, was natürlich sachlich richtig ist. Und wie alle guten Mechanismen – und eine organisierte Pionierabteilung von dieser Größe ist etwas wie ein Organismus – ist das Projekt Wenatchee höchst anfällig. Jede kleinste Störung setzt eine Kettenreaktion in Gang, die schließlich den gesamten Organismus oder Mechanismus lähmt. Es sei denn, sie würde schnell abgefangen und überspielt. Wir
hatten eine ähnliche Situation auf dem Eisplaneten, auf dem wir Glanskis und seine Artgenossen fanden.« »Sie trauen sich zu, die Situationen zu entschärfen, abzufangen?« fragte Bela, halb an das Mädchen gewandt. »Ich habe dies jahrelang mit meinen hochspezialisierten Tiefseeteams machen müssen«, versicherte Raghilt. »Sind wir fertig?« »Fast«, sagte Bela. »Noch Fragen zum bisher Gezeigten, Kommandant?« Cliff murmelte: »Ich brauche das gesamte Material, zum Nachlesen und zum Betrachten in Ruhe. Sie haben sicher entsprechende Unterlagen vorbereitet.« »Natürlich. Nachher.« Die Vorführung ging weiter. Sieben Berge erstreckten sich zwischen der Landmasse des Festlandes und der äußersten Spitze der Halbinsel Kyklops Finger. Sie hatten von den ersten Vermessungsteams Namen bekommen. Mount McLane, Mount Hamden, Mount Viracocha ... Cliff stutzte einen winzigen Moment. Warum gerade Viracocha? Mount Sage I und II, Mount Throne und Last Peak. Wieder runzelte der Kommandant die Brauen. Warum bezeichneten die Männer einen der Berge als Thronsitz? Wessen Thron? Warum dieser Name an dieser Stelle, auf einem Planeten, dessen indianischer Name an und für sich Grund wäre, alles mit Namen aus dieser Terminologie zu versehen? Er schwieg, überlegte und speicherte diese Fragen in seiner Erinnerung. Er sah das Lager, die kleine Stadt der Pioniere, das Materiallager und den Raumhafen. Dreihundert Pio-
niere und eine beträchtliche Anzahl von Hilfskräften. Von Mechanikern für die Maschinen bis zur Verwaltungsangestellten. Die Arbeitszeit für dieses Projekt war auf ein halbes Jahr festgesetzt, und niemand konnte heute, einen Monat nach Start der Arbeiten, garantieren, daß die Anlagen in einem Jahr fertig sein werden. Es sah niederschmetternd aus, und Cliff begann jetzt, hier in diesem halbverdunkelten Raum, vage zu ahnen, daß nicht nur die Anfälligkeit eines hochgezüchteten organisatorischen Mechanismus daran schuld war. Da mußte es noch mehr geben. Etwas versteckte sich, entzog sich dem Zugriff der Menschen und erschreckte die Pioniere, die eigentlich vor keiner Aufgabe zurückschreckten ... hing es zusammen mit Viracocha oder Throne? Die Vorführung endete. Die Lichter wurden wieder eingeschaltet, und Cliff stand auf und reckte die Schultern. Er fühlte sich, die scheinbar unendliche Weite des Meeres gewohnt, in jedem Raum irgendwie beengt. »Gut«, sagte er. »Wir biegen es hin. Die Mannschaft der ORION VIII – haben Sie sie verständigt?« Rover nickte; für solche Aufgaben war er der Fachmann. »Ja. Ich habe Hasso Sigbjörnson, Mario de Monti, Helga Legrelle und Naomi 4603 gebeten, mitzumachen. Sie sagten alle zu. Einen Astrogator werden Sie nicht brauchen, und Ishmee war nicht zu finden. Sie ist vermutlich auf VALKYRIE. Und natürlich Commander Prac'h Glanskis. Er sagte wörtlich, er freue sich darauf, wieder mit Ihnen auf Abenteuersuche zu gehen.« Cliff nickte und grinste sarkastisch.
»Das kommt daher, weil er so lange gefroren hat. Wie hoch ist die Durchschnittstemperatur dort auf Wenatchee?« »Dreiundzwanzig Grad. Ungefähr so hoch wie im Augenblick vor der Küste Dalmatiens. Der Start der Materialflotte erfolgt in genau einundzwanzig Tagen. Ihr Start also auch. Soll ich Sie wieder abholen lassen?« Cliff nickte nur, aber das Mädchen sagte: »Ich werde veranlassen, daß meine Ausrüstung zu Ihnen geschickt wird. Sie ist ziemlich umfangreich, und auf dem Schiff habe ich nur wenig, das mir weiterhelfen würde. Packen Sie bitte alles vorsichtig in die berühmte ORION hinein.« »Wird erledigt«, sagte Rover. Raghilt stand auf. »Das ging schneller, als wir dachten. Zurück in die mittlere Adria, Cliff McLane!« Cliff ging auf den Tisch zu und nahm die umfangreiche Mappe an sich, in der die Unterlagen über das Projekt Wenatchee waren. Dann drehte er sich herum und versuchte, sein Unbehagen, das freilich nur sehr undeutlich ausgeprägt war, zu unterdrücken. »Ernsthaft? Sie wollen schon wieder zurück?« fragte Bela Rover ungläubig. »Ja«, sagte Cliff. »Wir werden die nächsten zwanzig Tage segeln oder motoren. Ich werde mich aber sehr genau mit diesen Unterlagen beschäftigen. Sie werden sehen – eine Woche nach unserer Ankunft, die übrigens möglichst geheimgehalten werden sollte, läuft auf Wenatchee alles bestens!« »Hoffentlich!« sagte Rover voller Inbrunst. Er überlegte kurz, dann rief er seine Assistentin
herein und ließ eine schnelle Verbindung herstellen. Sie führte von hier zum Startplatz der LANCET, von dort nach Zadar und schließlich per Helikopter bis zu der Bucht. Cliff rechnete nach – sie waren insgesamt vierundzwanzig Stunden unterwegs gewesen, wenn der Hubschrauber wieder neben den verfallenen Hütten landen würde. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. »Danke, Cliff. Bis jetzt. Ich hoffe, das sehr ehrgeizige Projekt kommt zu einem guten Ende.« »Bestimmt.« Cliff spürte die Müdigkeit, als sich Rover von Raghilt La Grange verabschiedete. Er kämpfte dagegen an, bis sie in der LANCET saßen und sich anschnallten. Natürlich trugen sie noch immer die Bootskleidung, und Cliffs Hände ruhten auf der Mappe mit den Unterlagen. Dann schlief er ein und erwachte erst wieder in Zadar, als die LANCET aufsetzte und die Bodenmannschaft heißen Kaffee brachte. Eine Stunde später waren er und das Mädchen wieder in ihren Booten. Es war früher Vormittag, und Cliff schlief nach kurzem Zögern weiter. Bis zum Abend. Nichts schien sich verändert zu haben. Der Ersatzmann hatte das Boot verlassen, und nur die Mondsichel war etwas breiter geworden. Cliff ließ sich mit viel Freude von ›Mama‹ einladen. Man aß lange und reichlich. Ebenso lange sprach man dem roten italienischen Sekt zu. Nacht über der Bucht: Die Sterne flimmerten weniger stark als über Australien. Der Mond wanderte über die pechschwarzen, diamantengesprenkelte Fläche. Die Nacht schien von unsichtbarem Leben erfüllt zu sein. Fische sprangen aus dem Wasser und hinter-
ließen Ringe, die sich in Teilen aufsplitterten und lauter winzige Sicheln zeigten, das Mondlicht reflektierend. Käuzchen schrien in den Bäumen, zirpende Grillen und Vögel, die Cliff nicht kannte. Ein Schaf blökte. Die Wellen plätscherten über die scharfkantigen Felsen am Ufer und schlugen gegen die Bordwände der zwei Boote. Cliff und Raghilt saßen allein auf dem Achterdeck der DEEP BLACK SEA II und unterhielten sich. »Sie machen einen leicht unsicheren Eindruck, Kommandant«, sagte Raghilt. »Woher kommt das? Ein Mann, dessen Entschlossenheit zu einem Markenartikel geworden ist?« »Haha«, machte Cliff humorlos. »Sie denken in Klischees, Teuerste.« Raghilt sah auf das Wasser hinaus, und Cliff hatte im Licht der glasummantelten Kerze Gelegenheit, ihr klassisches Profil ausgiebig zu studieren. Vermutlich hatte das Mädchen auch nur aus diesem Grund den Kopf in diese Richtung gedreht. Cliff war fast sicher. »Das wird sich ändern, wenn ich älter und – reifer werde«, sagte sie. »Aber es stimmt doch? Sie sind etwas unsicher.« »Ja«, sagte Cliff. »Unsicher über das, was uns dort erwartet. Ich hasse mythische Überlegungen, weil so gut wie alles rational erfaßbar ist. Aber gewisse Dinge sind im Augenblick noch völlig undurchsichtig.« »Die vulkanische Natur der Insel und der Halbinsel und die beiden Bezeichnungen, nicht wahr?« fragte sie. »Verdammt«, sagte Cliff und sah sich scheu um, ob Raghilts Mutter es gehört hatte. Aber Mama spülte ab und klapperte mit dem teuren Geschirr. »Sie sind
ganz schön gerissen, junge Frau!« »Das bringt die Beschäftigung mit der Tiefsee mit sich. Ich habe Ihr Gesicht beobachtet während des Vortrags von Rover. Ein nicht unsympathischer Mann, übrigens.« »Ja«, sagte Cliff. »Mir fällt nichts anderes mehr ein. Die Unruhe der Pioniere hat also Gründe. Sie fühlen sich unsicher.« »Ein Vulkan kann immer wieder einmal ausbrechen ...« »Das ist nur ein Punkt«, sagte Cliff. »Die Häuser sind erdbebensicher, und die Raumschiffe können die Menschen schnell evakuieren. Das ist es nicht allein.« »Wir werden es in siebenundzwanzig Tagen wissen. Wie ist Naomi?« »Hübsch«, sagte Cliff. »Und klug. Und ziemlich jung.« »Ein Flug der Überraschungen also.« »Vermutlich. Was steht morgen auf Ihrem Programm?« Sie lachte kurz. »Keine große Frage. Wir legen ab, lichten den Anker und segeln los. Vermutlich hinüber in die Kornatigruppe. Kap Sestrice und weiter südlich. Wir können uns in gewissen Abständen treffen. Aber darüber unterhalten wir uns morgen früh. Haben Sie einen Plan?« »Ja«, versicherte Cliff glaubwürdig. »Ich mache weiter Urlaub auf meine Art. Jeden Tag eine neue Bucht entdecken, dort anlegen und schwimmen, nachdenken und die Unterlagen studieren.« Sie stand auf und legte ihm einen Augenblick lang die Hand auf den bloßen Unterarm. Sie hatte wun-
derbar kühle Finger. »Wir werden morgen eine Serie von Buchten ankreuzen, auf der Seekarte. Und dort treffen wir uns an bestimmten Tagen. Einverstanden?« Cliff erwiderte: »Mit Vergnügen.« Als er unter dem Sonnensegel saß, im zurückgeklappten Steuermannsessel seines Bootes, über dessen Lederbezug er ein riesiges Badetuch gelegt hatte, dachte er kaum an die Gefahren und die Ungewißheit nach, die ihn auf Wenatchee erwarteten. Ein Teil von ihnen war auch von hier aus nicht zu durchleuchten. Aber dunkel fühlte der Raumfahrer in dieser Nacht, daß ihn auf dem Planeten der tausend Buchten etwas erwartete, das er nicht kannte. Etwas, das viel größer war als alles, was er bisher erlebt hatte. Vielleicht war es nur eine Art sechster Sinn für Gefahr, die ihm einen Streich spielte, aber er wurde unruhiger, je mehr er über das Projekt nachdachte. Er schüttete den Rest Whisky aus seinem Glas ins Wasser, dann zog er Schuhe, Hose und Jacke aus und sprang hinterher. Er machte in dem seichten Wasser dreißig, vierzig Züge und kletterte die Badeleiter wieder hinauf. Er trocknete sich ab, legte sich zwischen die Laken und schlief, während die Mondsichel der Stelle entgegenwanderte, an der vor Stunden die Sonnenscheibe ins Meer getaucht war. Die Stille der Nacht schloß die beiden Boote ein, machte aus ihnen winzige Zellen der Geborgenheit in einem rätselvollen Medium, das faszinierte, beunruhigte und gleichermaßen begeisterte. Der Morgen kam. Langsam und mit einer Kette weißer Wolken, die über dem mühsam aufgeforsteten
Karstgebirge hing. Schattenfelder voller winziger Strukturen huschten mit dem Wind über das Wasser, das seine Farbe von Stahlgrau bis Dunkelblau änderte. Ein neuer Tag ... * Gegen neun Uhr hatten sie eine Hitze, die schon fast lähmend wirkte. Sie trafen sich auf der überdachten Terrasse, auf der die Tische standen. Sie trugen die leichte, kühlende Expeditionskleidung und sämtliche Geräte, die sie brauchten. Ein warmer, feuchter Windhauch strich vom schwarzgrünen Dschungel heran. Der Steward fragte: »Dasselbe wie gestern, Kommandant?« Er verbarg seinen Unmut über die Gäste, die gleichzeitig mit einer Raumschiffarmada voller Robots und Maschinen, Vorräten und kleinen, transportablen Fabriken gelandet waren, nur unvollständig. Cliff grinste humorlos. »Ja, aber bitte nicht das gleiche«, sagte er. »Und, wenn möglich, etwas schneller. Sind Sie so nett?« Sein Lächeln schlug plötzlich ins Herzliche, völlig Verbindliche um. »Ja, natürlich!« stotterte der Steward verblüfft dann ging er. Die Crew der ORION VIII nahm Platz und streckte die Beine unter den Tisch. Hasso Sigbjörnson saß neben Helga Legrelle, und zwischen Cliff und Mario saß Naomi. Der Raguer saß auf dem Boden und schien es zu genießen, daß ihn Raghilt La Grange bewunderte wie einen seltenen Hund oder einen modisch gefärbten Geparden. Vor zwei Tagen war das
Schiff gelandet, seit dieser Zeit suchte das Team nach einem Ansatzpunkt. Jedenfalls beschäftigte das Erscheinen des bekannten Raumkommandanten die Pioniere seit achtundvierzig Stunden. »Was gibt es Neues an diesem schönen Morgen?« fragte Cliff und sah zu, wie die Pioniergruppe eine der riesigen Bodenfräsen heranbrachte. Naomi und Helga hatten danach verlangt. Die Crew hatte von Bela Rover jede Vollmacht. »Einen bartlosen, schwarzgebrannten Kommandanten und eine neue Idee«, sagte der Raguer. Die Geräte, mit deren Hilfe er sich mit den Menschen verständigen konnte, waren unsichtbar einoperiert worden und transponierten die Schallschwingungen in den jeweils anderen Bereich der Skala. »Ich höre.« »Wir machen einen Vorstoß. Du und ich, Cliff!« sagte der Raguer und brach spielerisch einen Ast auseinander. »Vorstoß wohin?« »In den Dschungel. Zuerst entlang der Straße, die schon besteht. Immerhin haben die Pioniere in mehr als einem Monat zweihundert Meter Straße herstellen können. Krumm und bucklig!« Sein Vorwurf bezog sich auf einen Unterschied des Straßenniveaus, der wenige Zentimeter betrug. Aber diese Schneise sollte später, mit Leitanlagen ausgerüstet, einen Verkehr mit Lastengleitern steuern können, und perfekteste Arbeit war dafür die Voraussetzung. Nur fünf andere Männer und zwei Frauen wußten, von Bela Rover angerufen, darüber Bescheid, daß die Crew der ORION hier die Arbeiten anfahren sollte. Cliff sah dem Steward entgegen, der einen
großen Wagen, mit Essen beladen, vor sich her schob und sagte leise: »Helga und Naomi nehmen die Fräse, Prac'h und ich versuchen einen Vorstoß, und was tun Hasso und Raghilt?« »Ich tauche!« erklärte die Italienerin. »Wo?« Sie grinste Hasso an und kicherte. »Im Wasser, und dort senkrecht nach unten. Ich habe nämlich eine Stelle gesehen, die mich an gewisse Seifen erinnert.« Der Bordingenieur fragte beunruhigt: »Willst du baden oder forschen?« »Seife nicht im Sinn von Reinigungsmaterial, wertester Hasso! Sondern als Fachausdruck für Ablagerungen im Meer, die durch den Transport von Material durch Flüsse entstanden sind. Schwermineralsände oder hochkonzentrierte Sände – das sind Seifen. Klar?« Hasso murmelte: »Ich danke dir für die reiche Ausstattung meiner bisher verkümmerten Allgemeinbildung.« Die Crew aß und trank langsam und schweigend. Sie alle hatten, teilweise bereits während der Urlaubstage, zum anderen Teil während des Fluges, sich mit der Landschaft und allen Problemen vertraut gemacht; Bela Rovers Material war erschöpfend gewesen. Jetzt betrachteten sie die Umgegend. Vor ihnen erstreckte sich der runde Raumhafen, auf dem die Pioniere die Schiffe entluden. Hier auf Wenatchee hatte sich bereits jetzt ein Mißerfolgs-Syndrom entwickelt, ehe man wirklich Mißerfolg gehabt hatte. Warum?
»Ich würde schon allein wegen des Kaffees eine Revolution anfangen!« bemerkte Helga lustlos und kippte ihre Tasse über das Geländer ins Freie. Eine Eidechse wurde voll getroffen und zischte wütend. »Das werde ich gleich ändern!« sagte Cliff. Als geradezu pathologischer Junggeselle konnte er einige Dinge in Perfektion; Kaffeekochen gehörte dazu. In den wenigen Stunden seit ihrer Ankunft hatten sich einige seiner Theorien bewahrheitet. Die Pioniere standen dem Dschungel und den Schluchten, den Berghängen aus erstarrter Lava und der Entfernung geradezu gelähmt gegenüber. Sie trauten sich nicht zu, Erfolg zu haben. Cliff aß seinen letzten Toast, köpfte das Ei und stand anschließend auf. »Wohin?« fragte der Raguer. »In die Küche. Ich werde den Leuten zeigen, wie man Kaffee kocht. Der erste Erfolg der Störenfriede aus der terranischen Flotte wird sich einstellen.« »Viel Glück!« murmelte Helga. Cliff ging langsam hinüber zur Kombüse. Er sah unterwegs, daß der Raumhafen und die gesamte Siedlung, einschließlich der Stell- und Wartungsplätze für die Maschinen und das Materiallager hervorragend entworfen, gebaut und angelegt waren. Es lag also nicht grundsätzlich an den Pionieren – dies waren Arbeiten, die sie im Schlaf beherrschten. Also blieb der Dschungel, blieben die Berge und die Insel. Schließlich erreichte Cliff die halbautomatische Küche und verlangte den Chef zu sprechen. Man sagte ihm, daß er noch nicht erschienen sei und vermutlich in seiner Behausung wäre und schliefe. Cliff ließ sich den Weg zeigen und ging durch die Hitze des Vor-
mittags dorthin. Er blieb an der Schiebetür stehen, drückte auf den Summerknopf und hörte eine unausgeschlafene Stimme: »Komm 'rein, Liebling.« »Aber gern!« erwiderte Cliff mit Fistelstimme und riß die Tür auf. Dann bahnte er sich einen Weg durch eine beispiellose Unordnung bis in den Schlafraum. Vor der Liege blieb er stehen. »Sie sind der Küchenchef?« fragte er. »Wer sind Sie?« Cliff blinzelte überrascht, schwieg und sah sich im Zimmer um. Sein Eindruck war richtig: eine vergammelte Bude, die genau zeigte, daß ihr Bewohner grundsätzlich ein interessierter Mensch war, aber zu nichts Lust zu haben schien, am wenigsten zum Aufräumen. Cliff schüttelte den Kopf. Dann zog er langsam die schwere Gasdruckwaffe, richtete sie entsichert auf die nackte Brust des Mannes und sagte in drohendem Tonfall: »Stehen Sie auf. Schnell!« Der Mann schüttelte den Kopf, zögerte und sagte dann knurrend: »Ich verstehe nicht, was Sie sich einbilden ...« Cliff bewegte den Lauf der Waffe zweimal und schoß zwei der Nadeln in den Kopfteil des Bettes. Zwei harte Detonationen und das Geräusch des splitternden Plastiks schienen den Raum sprengen zu wollen. Dann sagte der Kommandant mit eisiger Stimme: »Stehen Sie auf!« Der Mann schwang sich aus dem Bett und blieb daneben stehen. Cliff ging zur Seite und deutete mit
der Waffe auf die offenen Türen und Durchgänge. »Los! Hinüber zur Messe! Vor mir her. Wenn Sie nicht gehorchen, schieße ich Ihnen ins Bein, anschließend schicke ich Sie mit einem entsprechenden Bericht zurück nach Terra. Villas Spezialisten werden sich freuen, einen akuten Fall von Meuterei wissenschaftlich untersuchen zu dürfen. Los jetzt!« Etwa zweihundert Pioniere sahen das jämmerliche Schauspiel, wie der Chef ihrer Messe, im offenen Schlafanzug und mit nackten Füßen, durch den Kies und den Schlamm zwischen den Behausungen getrieben wurde. Dann verschwanden McLane und der Küchenchef in der Messe und den angrenzenden Küchenräumen. Ein zahlreiches, interessiertes Publikum fand sich ein. Cliff überwachte einen ersten Versuch, guten Kaffee zu kochen, mit der Waffe. Zehn Minuten später hatte er eine Tasse heißen, schwarzen, himmlisch riechenden Kaffees in den Fingern, probierte, noch immer die Waffe auf den Mann im Schlafanzug gerichtet. Der Kaffee war exzellent. Und dann begann Cliff zu sprechen. Zuerst leise, dann deutlicher, schließlich schrie er. Etwa zweihundert Meter entfernt, im Schatten der riesigen Fräse, standen Naomi und Helga. Naomi runzelte die Stirn, legte den Kopf schräg und fragte leise: »Was ist das? Kriegen wir heute schon morgens ein Gewitter?« Helga lächelte wissend. »Es ist nur Cliff, der sich Sorgen um einen einwandfreien Kaffee macht. Er unterhält sich wohl mit dem Küchenchef.«
Genauso war es. Seit dieser Stunde nahm die Qualität sämtlicher Getränke und Gerichte, die an rund ein halbes Tausend Menschen ausgegeben wurden, geradezu beängstigend zu. Der erste und sicherlich primitivste Grund zur Unzufriedenheit war beseitigt. Cliffs Wutanfall – übrigens ausgezeichnet gespielt – hatte etwa einhundert Zuschauer gehabt. Offensichtlich hatte sein Einsatz offiziell begonnen ...
3 Diese Welt hier, die von Nicotras Stern My beleuchtet wurde, entsprach nicht ganz den Vorstellungen, die McLane und seine Crew hatten, nachdem sie das Material über den Planeten studiert hatten. Der Raguer und Cliff gingen langsam in der Mitte der leeren, unbenutzten Gleiterpiste in westlicher Richtung. Steine, kleine Äste und Abfälle lagen auf der weißen Fläche, und um die beiden Wesen herum herrschten die Gerüche und Geräusche des Dschungels. Hier, an der Grenzlinie zwischen Kontinent und Halbinsel, bildete die senkrecht aufragende Wand des Dschungels ein regelrechtes Bollwerk, wie eine titanische Mauer. Die Piste führte von den Fundamenten der Verladeeinrichtungen am Raumhafen schnurgerade in das Halbdunkel des Waldes hinein. »So«, sagte Cliff, noch immer leicht erschöpft von seinem Gebrüll, das unerhörte Wirkungen gezeigt hatte. »Warum zögern die Pioniere. Wovor fürchten sie sich? Warum wissen sie förmlich, daß sie Mißerfolg haben werden? Diese Fragen müssen wir in den nächsten Tagen beantworten, Glanskis!« »Wir werden sie beantworten, Cliff!« versprach der Raguer. Das raubtierähnliche Wesen, das in der Lage war, eine gewisse Zeit ungeschützt im Vakuum des Weltraums zu leben, preschte los. Glanskis lief zweihundert Meter geradeaus und bewegte sich schneller und geschmeidiger als ein Leopard. Dann setzte er alle vier Tatzen ein und bremste fast auf der Stelle. Hier war die Piste zu Ende.
»Vibrationen!« sagte er. Cliff war dem Raguer hinterhergelaufen. Jetzt standen sie beide nebeneinander und horchten auf die Geräusche. »Was meinst du?« »Dieser Wald«, beantwortete der Raguer Cliffs drängende Frage. »Oder die Felsen. Etwas bewegt sich, etwas sendet Vibrationen aus. Du und die Pioniere – ihr könnt die Schwingungen bestenfalls mit Geräten feststellen, denn sie sind für eure Ohren und Nerven zu hoch. Aber ich kann mich auch täuschen ... dringen wir weiter ein?« Cliff ging ein paar Schritte und setzte sich auf einen meterdicken Holzstamm, der halb auseinandergesägt hier liegengeblieben war. Die Haut seines Gesichts brannte noch von den langen Sonnentagen im Mittelmeer – trotz der dicken Schicht lindernder Fettcreme spürte er die Stellen, an denen sich sein Bart befunden hatte. »Das wäre immerhin ein interessanter geologischer Befund«, sagte Cliff. »Ich habe keine Lust, hier ohne halbautomatisches Rodegerät einzudringen. Wir würden nichts gewinnen, wenn wir beide uns zwischen das Grünzeug stürzten. Und unter uns sind dann keine glatten Kunststoff-Flächen mehr, sondern Morast Steine und scharfkantige Lava.« »In Ordnung«, sagte der Raguer. »Holen wir uns einen Roder.« Sie gingen schnell nebeneinander auf das riesige Maschinenlager zu. Als sie es fast erreicht hatten, fuhr die mächtige, schwere Fräse an ihnen vorbei, von Naomi und Helga gesteuert. Cliff winkte mit beiden Armen, und die riesigen Gleisketten hielten ruckend an.
»Was ist los?« schrie die Turceed von oben herunter. Cliff legte die Hände an den Mund und brüllte zurück: »Fahrt auf unserer Spur entlang. Wir nehmen einen halbautomatischen Roder und versuchen, entlang der lasergesteuerten Geraden in den Dschungel einzudringen.« »Verstanden!« Die Sonne kletterte höher, und die dumpfe Hitze nahm zu. Die Kühlaggregate der Expeditionsjacken arbeiteten mit halber Kraft und machten den Aufenthalt einigermaßen erträglich. Im Urlaub hätte Cliff es empört weit von sich gewiesen, hätte er eine solche Jacke tragen sollen. Jetzt, während der Dienstzeit, war es ganz in Ordnung. Cliff suchte sich einen mittelschweren Roder aus und bekam ihn. Das Gefährt wirkte wie eine Schildkröte mit einem silbernen Panzer. Vier breite Raupenketten mit stark profilierten Gliedern sahen, durch stark gekrümmte Abdeckbleche geschützt, halb unter dem Panzer hervor. Kleine Bullaugen und Linsensätze unterbrachen die silberne, konvexe Fläche. Ein Drittel, also zweihundertvierzig Grad, der Rundung war dicht über dem Boden mit einer breiten Leiste voller Projektoren versehen. Wenn die Projektoren eingeschaltet wurden, dann heulten haarfeine Overkill-Strahlen aus den nadelartigen Spitzen und verbrannten jede Art von Materie. Auf diese Weise wurden die dicksten Bäume vor der Schildkröte umgesägt und stürzten über den dicken Rückenpanzer. Mehrere kammerartige Fortsätze in der gerundeten Fläche des Panzers bewirkten, daß die stürzenden Baumstämme in verschieden lange Stücke zersägt
wurden. Auch Laubwerk und Lianen, dünne und dicke Äste – alles wurde zerkleinert. Die Fräse, von Naomi und Helga gesteuert, würde den zerkleinerten Wald hinter der Schildkröte nach beiden Seiten ableiten. »Sitzt du bequem?« fragte Cliff. Der Raguer hatte es sich in dem Sitz des Beifahrers so angenehm wie möglich gemacht und schaltete die Sichtschirme und die Klimaanlage ein. »Einigermaßen. Wie schnell ist dieses Vehikel?« »Zwölf Stundenkilometer«, sagte Cliff und startete. Schwerfällig, aber mit ungeheurer Kraft, schob sich der Roder aus der Reihe der wartenden Maschinen hervor, nahm Kurs entlang der untersten Häuser des Lagers und fuhr durch den Schmutz, durch Bauschutt und auf einem kaum kenntlich gemachten Weg auf den Anfang der riesigen Baustelle zu. Im Abstand von hundert Metern hatten die Vermessungstrupps Laserprojektoren abgeworfen, die die Strecke der zukünftigen Piste sehr genau markierten. »Eintausend geteilt durch zwölf ... wenn wir nur kurze Pausen einlegen, können wir in hundert Stunden an der Insel sein«, sagte Cliff. Er meinte es ironisch. »Ein Traumwert.« Sie fuhren weiter. Einige Minuten später befanden sie sich, nachdem sie die Fräse überholt hatten, vor dem Dschungel. Cliff schaltete die Overkill-Sägen ein und setzte die Geschwindigkeit auf acht Stundenkilometer fest. Auf den Schirmen sahen sie, wie die Bäume und das Unterholz näherkamen, zitterten, zerschnitten wurden und zögernd stürzten, meist in ihren Kronen dadurch
festgehalten, daß sie mit den Nachbarpflanzen unrettbar verfilzt waren. Donnernd schlugen die Stämme auf den Panzer, rollten dort entlang und wurden dabei in Stücke zerteilt. »Hier. Die Hecklinse. Unsere hübschen Mädchen wissen genau, was zu tun ist.« Der Raguer wies mit seinen fast menschlichen Fingern, die zwischen den Tatzen hervorwuchsen, auf einen Videophonschirm. Hinter dem Roder fuhren Naomi und Helga, und der messerscharfe Bug der Fräse spaltete den Wall aus Holz und Gestrüpp, aus Ästen und Dreck und Blättern. Zwei kleinere Wälle schoben sich links und rechts auf zwei Ausleger hinauf, wurden dort seitwärts transportiert und fielen rechts und links der Bahn beider Fahrzeuge in den Wald zurück. Die Schneise war vier Meter breiter als der gedrungene Körper des Roders – also sechzehn Meter. Donnernd und summend, holpernd und stoßend bahnten sich die Fahrzeuge ihren Weg. Eine halbe Stunde verging, dann erreichte Cliff eine Lichtung und blieb in deren Mitte stehen. Sonne traf auf die Linsen und spiegelte sich in den Bullaugen, über die Insekten krochen. Der Dschungel war im Aufruhr – alles flüchtete. Die tiefen Geräusche der Maschinen wurden beträchtlich leiser. »Glanskis! Eine Frage auf Ehre und Gewissen«, sagte Cliff und drehte sich halb in seinem Sitz herum. »Ja, gern!« »Was meintest du mit diesen Vibrationen?« fragte der Kommandant. Er war beunruhigt und zeigte dies deutlich. Glanskis sagte mit seiner merkwürdigen Stimme,
die eine Mischung zwischen organisch erzeugten und technisch umgeformten Schwingungen war: »In unregelmäßigen Abständen sendet irgend etwas tief unter dem Erdboden Schwingungen aus. Sie sind nur von mir wahrnehmbar.« »Eine bestimmte Quelle der Schwingungen?« erkundigte sich Cliff besorgt. »Nein, nicht feststellbar. Als ob tief unten, an der Schicht, an der die Kruste in das flüssige Planeteninnere übergeht, eine Bewegung erfolgt. Die Schwingungen bewegen sich ausnahmslos im Ultraschallbereich. Sie sind nicht konkret erfaßbar, aber das Unterbewußte spürt sie genau. Das ist ein Grund, weswegen die Pioniere so ungern den Dschungel betreten. Wir sollten ihnen sagen, was wir gefunden haben – dann ist der Feind nicht mehr länger unidentifiziert. Das wird ihrer Arbeit neuen Auftrieb geben.« »Einverstanden, später ...«, sagte Cliff. »Später. Steigen wir aus, reden wir etwas mit den Mädchen. Wir haben neun Kilometer planiert, inzwischen.« »Was uns sicher sehr beliebt machen wird«, sagte der Raguer und öffnete die schwere, stählerne Tür. »Wenn Raghilt mit ihrem Boot wieder hier ist, dann werden wir sicher noch einige interessante Dinge erfahren.« »Sicher.« Sie gingen über einen dürren, trockenen Teppich kurzgeschnittener Gräser, in dem sich die stählernen Raupenketten tief eingedrückt hatten. Die OverkillProjektoren hatten hier auf der Lichtung die Funktion eines aufwendigen Rasenmähers wahrgenommen; mühsam, wie es schien, schob sich jetzt die Fräse aus dem Wald und auf die Lichtung. Die schräggestellten
Schaufeln hatten einen Meter tief den Boden aufgerissen und abgetragen. Blanker Fels trat an einigen Stellen zutage und herausgerissenes Wurzelwerk. Cliff sprach in sein Armbandmikrophon: »Anhalten. Kleine Unterhaltung in der Arbeitspause, Mädchen!« »Einverstanden, Oberst McLane!« sagte Helga Legrelle. Sie trafen sich am Rand der Lichtung, dicht neben dem wuchtigen Gerät. Aus dem aufgerissenen Erdboden kam ein merkwürdiger Geruch hervor und überflutete die freigeräumten Flächen. Es roch irgendwie nach Gas. Sumpfgas? Cliff kam schnuppernd näher und sagte dann: »Das wird jedenfalls eine Sensation werden. Vier Grünschnäbel haben es den Pionieren gezeigt.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Naomi. »Wo ist eigentlich dieses italienische Mädchen?« Der Raguer erwiderte: »Sie spürt Bodenschätze auf, um ihr hohes Gehalt als Beraterin zu rechtfertigen.« »Aha.« Eine eigentümliche Stimmung ergriff die Crew. Sie hatten neun Kilometer lang eine sechzehn Meter breite, fast schnurgerade Piste in den Dschungel gerodet. Jetzt sahen sie den Streifen, der aus schwarzem Erdreich mit hellen, darin verstreuten Holzsplittern bestand. Beide Seiten zeigten die Baumstämme, einen Wall aus Erdreich mit sehr viel Holz darunter und Steine. Lavafelsen, aufgesplittert und abgeschürft. Es war eine Spur der Vernichtung, aber sie diente einem besonderen Zweck, und der Eingriff in die Natur war sehr geringfügig. Schreiende Vögel und Kleintiere
stoben erschreckt nach allen Seiten, und die silberne Maschine brummte noch immer im Leerlauf. Weit hinten, auf dem weißen Stück fertiger Piste, sah Cliff einige Gruppen von Pionieren, die augenscheinlich aufgeregt diskutierten. Die Therapie begann zu wirken. »Machen wir weiter?« fragte Naomi. »Ja«, sagte Cliff sofort. »Bis heute abend. Dann lassen wir die Maschinen stehen und halten den Pionieren einen Vortrag. Kann es sein, Prac'h, daß die Vibrationen Kennzeichen dafür sind, daß sich dieses Gebiet in einer stark vulkanischen Zone befindet?« Der Raguer zögerte eine halbe Minute lang, dann sagte er: »Ich kenne die Vergleichswerte von meinem Heimatplaneten nicht, und die der Erde sind mir nur sehr flüchtig bekannt. Auf jedem Planeten gibt es Eigentümlichkeiten, die er mit keiner anderen Welt teilt. Ich bin der Meinung, daß die Vibrationen ein Kennzeichen von Wenatchee sind.« Helga meinte: »Welche Vibrationen, Glanskis?« Der Raguer erklärte es ihr ausführlich. Cliff war weitergegangen und kauerte sich jetzt auf die Hacken seiner leichten Stiefel nieder. Er wedelte mit der Hand das Erdreich weg und sah, je tiefer er kam, immer mehr steinerne Oberflächen. Eine Sekunde lang dachte er an die Reste eines umgestürzten Mauerwerks, dann schob er den Gedanken weit von sich. Er nahm ein Holzstück, richtete sich auf und begann die Erde und das Geröll, das mit Grasresten und abgestorbenen Blättern vermischt war, von den Steinen wegzuräumen. Schließlich, nach einigen Minuten schweißtreibender Arbeit, sah der Raumfahrer, daß
seine erste Vermutung zumindest nicht sehr falsch gewesen war. Er hatte etwas vor sich, das wie eine Mauer aussah. Er fuhr herum, riß den Arm hoch und brüllte: »Helga, Naomi, Glanskis – kommt einmal hierher!« Vor ihm lagen drei Reihen prismatisch bearbeiteter Steine im schwarzbraunen Erdreich. Sie paßten in der Art der Zyklopenbauwerke haargenau an- und ineinander. Mit einer Reihe von Sprüngen raste der Raguer heran, und die beiden Mädchen folgten atemlos. Schließlich standen sie in einem Halbkreis um Cliffs Fund. »Was ist das?« fragte Naomi. »Eine Mauer«, sagte Cliff und hob die Schultern. »Auf keinen Fall!« sagte Glanskis. »Das ist keine Mauer. Wäre es eine solche, dann würde es bedeuten, daß sie eingestürzt und zusammengebrochen wäre. Dazu liegen die einzelnen Steine aber zu nahe aneinander. Das ist eine Art gepflasterte Straße.« Cliff murmelte: »Verdammt! Du könntest recht haben.« Wie auf ein unhörbares Kommando bückten sie sich und begannen die Erde wegzuscharren. Kurze Zeit später lagen rund drei Quadratmeter jener alten Straße vor ihren Augen. Die Steine bestanden aus der erstarrten Lava dieses Gebietes und waren hervorragend genau bearbeitet. Ihre Kanten und Linien waren eindeutig polyedrisch, aber sie paßten fugenlos ineinander. Drei Quadratmeter einer befestigten Straße oder eines Platzes. Uralt und eindeutig das Werk intelligenter Wesen. »Ich fürchte, das wird Bela Rover nicht ganz ins Konzept passen«, sagte Cliff. »Ich auch. Andererseits haben wir einen dritten
Punkt, mit dem wir die Pioniere fesseln können«, sagte Helga. »Unglaublich – wir bringen die aufregenden Abenteuer mit uns. Stets ist dort, wo wir auftauchen, etwas sehr Merkwürdiges los.« Naomi grinste Cliff an. »McLane«, sagte sie. »Import und Export von Abenteuern, Merkwürdigkeiten und Sensationen in alle kosmischen Richtungen!« »So ist es recht!« murmelte Cliff. »Das wird die Generalüberraschung für die heute abend stattfindende Generalversammlung aller Pioniere.« »Was jetzt?« fragte Naomi weiter. Cliff deutete auf die beiden Maschinen und erwiderte: »Wir fahren ununterbrochen bis heute abend, bis zum letzten Licht. Die Lasergeräte werden uns den genauen Weg sagen können. Dann lassen wir uns mit einem geländegängigen Fahrzeug abholen. Und morgen widmen wir uns dem neuentdeckten Pflaster unter den Wurzeln des Dschungels.« Er nickte und ging auf die Schildkröte zu. Minuten später bewegten sich brummend und fauchend die beiden stählernen Giganten wieder tiefer und tiefer in den Urwald hinein. Meterweise kamen die vier Terraner, beziehungsweise drei Terraner und ein exotischer Gast und Freund, dem ersten Berg entgegen. Es war der Mount McLane ... * Sie schafften an diesem langen, heißen Tag eine Strecke von genau fünfzig Kilometern.
Als sie zurückfuhren – ein kleiner Wagen mit Allradantrieb holte sie ab –, sahen sie, daß ein riesiger Fuhrpark auf dem fertiggestellten Stück der Piste wartete. Plastikmaterial, Verdichter, Stahl und Betonmischer, die Bausteine der Randstreifen, in denen die Steuerleitungen für die automatischen Lastengleiter verliefen ... alles war gestapelt, und es sah so aus, als ob morgen früh kurz nach Sonnenaufgang dreihundert Pioniere wie die Wahnsinnigen zu arbeiten anfangen würden. Die Crew warf sich lange, bedeutungsschwere Blicke zu und grinste. In Cliffs Wohnwürfel, einer karg eingerichteten Behausung, wartete Raghilt La Grange auf ihn. »Guten Abend«, sagte Cliff und stellte fest, daß sie aufregend nach frischem Salzwasser und einem leichten Parfüm roch. »Ich habe schlimme Dinge gehört. Die Pioniere wollen Sie überfallen, wenn Sie sich weiter in die Arbeit mischen«, sagte Raghilt. »Entschuldige ... ich vergaß: Wir duzen uns seit dem Abend an der Pier in Skradin.« Sie hatten dort die Fischer des Ortes geschockt, als sie in einer Weinschänke zwei der Einheimischen unter den Tisch getrunken hatten. »Richtig. Ich beabsichtige nicht, mich weiterhin mit unbezahlter Arbeit zu beschäftigen«, sagte Cliff. »Aber zwölf Stunden haben genügt, um gleich vier verschiedene Dinge ans Tageslicht zu zerren.« Sie lehnte sich zurück. »Berichte, Cliff!« Während Cliff die stark verschmutzte Expeditionskleidung auszog, berichtete er in kurzen Sätzen vom Frühstückskaffee, vom Einsatz der beiden Maschinen,
von den Vibrationen und dem gefundenen prismatischen Pflaster. Nachdenklich hörte das Mädchen mit dem weißen Haar zu und sagte schließlich: »Ihr habt also den Königspfad gefunden, Cliff! Ich erwartete dies erst in einigen Tagen.« Sprachlos und verwirrt setzte sich der Kommandant. Dann murmelte er: »Der Königspfad? Was hat das zu bedeuten?« »Später, Cliff!« sagte Raghilt. Er verschwand im Bad und zog sich die leichte Hauskleidung an, dann wartete er schweigend, während Raghilt über ihren Tag berichtete. »Ich bin den ganzen Tag getaucht und habe das Meer in der Nähe der Flußmündung untersucht. Ich fand fünf verschiedene, aber gleichartig interessante Dinge heraus. Erstens: Die Schwemmsände, also die Seifen, sind sehr wertvoll. Ich kann mich nicht erinnern, daß Rover davon etwas weiß. Die Ausbeute an rund vierzig verschiedenen Metallen und Mineralien, die ich feststellen konnte, wird jede Vorstellung sprengen. Ich muß geradezu eine Prämie beantragen.« Cliff stand auf und sagte: »Wir sollten die Unterhaltung im Kasino fortsetzen. Ich kann versichern, daß wir das beste Essen bekommen, das jemals auf diesem Planeten hergestellt wurde.« Raghilt blickte ihn an und sagte leise und ernst: »An deiner Stelle, Cliff, würde ich mit solchen Prognosen vorsichtig sein. Du könntest dich sehr irren. Ich habe nämlich Ruinen gefunden.« »Ruinen?« fragte Cliff.
Jetzt wurde er wirklich unsicher. Der Königspfad oder Königsweg, Ruinen, in den Seifen vierzig verschiedene ausbeutbare Metalle oder Mineralien ... es wurde fast für einen Tag zuviel. Sie gingen nebeneinander zwischen den Würfeln des Lagers auf das Kasino zu und setzten sich zu den übrigen Mitgliedern der Crew. Sie waren bereits in eine heftige Diskussion mit einigen Chefs von Arbeitsgruppen verstrickt. Der Raguer hielt einen kurzen Vortrag über Vibrationen und Vulkanismus. »Du hast ein größeres, aber kein schlechteres Publikum«, sagte Cliff und bestellte sein Essen und diverse Getränke. Wehmütig dachte er an die Spaghetti-Orgien von ›Mama‹ La Grange zurück. »Gut. Zweitens habe ich mit meinen Detektoren ein Feld von Knollen gefunden, zwei von ihnen heraufholen und untersuchen können. Auch hier hat man Bela nichts Genaues berichtet. Die Anteile an Platin und einigen exotischen Metallen, die wir für die Technik dringend brauchen, sind wesentlich höher als angenommen. Die Erde hat sozusagen Milliarden gewonnen.« Cliff lächelte sie an. »Durch dich?« »Nur durch mich. Und durch die Erfahrung des La Grange-Konzerns und seiner besten Leute. Drittens habe ich gebadet – das Wasser ist himmlisch. Viertens habe ich die Insel umrundet und festgestellt, daß sie planetengeschichtlich sehr jung ist. Wir befinden uns, wie Prac'h eben richtig ausführte, in einem vulkanisch sehr aktiven Gebiet des Planeten. Und fünftens habe ich die Ruinen gefunden.« Sie erzählte, daß sie eine Hafenanlage gesehen habe.
Die Mauern und die Umrisse der Häuser bestanden aus dem gleichen prismatischen und polyedrischen Bauwerk, das auch schon der Raumfahrer festgestellt hatte. Es war ein kleiner, aber offensichtlich guter und sicherer Hafen für einen nicht sehr großen Ort. Das Mädchen schätzte ihn auf die Größe eines Hafens für fünfzigtausend Menschen. »Menschen?« fragte Hasso. »Zumindest humanoid aussehende Wesen. Sicher nicht größer als zwei Meter. Einige der Steine trugen einst Ringe oder andere Befestigungen, einige andere waren mit dünnem Platin überzogen – ich sah es noch ganz genau.« Cliff hob sein Glas. »Wie alt schätzt du diese Ruinen?« Die Überlegung dauerte lange, und Raghilt murmelte leise: »Vielleicht zehn Jahrtausende. Aber hier müßten wir eine Reihe von genauen Analysen anfertigen. Ich weiß es nicht. Das Lavagestein hält sich unter Wasser sehr gut, und an der Dicke des Bewuchses kann ich nichts erkennen. Von dem Hafen aus, der natürlich viel weiter unterhalb der Ebene angelegt worden war, auf der die Piste verlaufen wird, führt eine Treppe irgendwo nach oben.« »Also doch ein Königsweg.« Cliff sah Hasso an und sagte leise: »Möglicherweise offenbare ich wieder einmal eine breite Bildungslücke, aber ich weiß mit diesem Ausdruck nichts Rechtes anzufangen. Was hat das mit einem Monarchen zu tun?« »Königswege, wenn ich nicht irre, waren die Pfade, auf denen die Könige der frühen Zeiten mit ihrem
Gefolge entlangzogen. Die Wege wurden entweder vorher oder nachher ausgebaut, waren sehr wichtig und – zumindest manchmal – entlang besonders schöner Landschaften geführt.« »Danke«, brummte Cliff. »Du rechnest damit, daß wir auf diese Rasse stoßen werden? In dieser Beziehung traue ich unseren Kartographen eigentlich sehr viel zu: Sie hätten Spuren von intelligentem Leben gefunden, ohne jeden Zweifel.« Das Mädchen bekannte: »Ich weiß es nicht, Cliff. Warten wir die nächsten Tage ab.« Die Mannschaft aß, und die Chefs einzelner Pionierabteilungen warteten höflich. Der Kaffee, der zum Schluß der Mahlzeit gereicht wurde, war ausgezeichnet; Cliff hatte selten einen besseren getrunken. Und schon während des Spaziergangs von seiner Behausung hierher hatte er gemerkt, daß etwas wie ein frischer Windstoß durch das Lager gefahren war. Die Menschen waren lebhaft und aktiv, die Atmosphäre der Lähmung schien wie weggeblasen. Cliff deutete mit dem Löffel auf einen der Chefs und sagte: »Sie haben genau zugehört, was hier gesprochen wurde, Torrington?« Torrington nickte und sagte dann: »Wir werden morgen mit aller Macht anfangen. Schließlich haben Sie uns ganz schön frustriert.« Hasso lachte und sagte: »Wir wollten nur ausprobieren, ob wir es noch schaffen. Alles verlief nach Wunsch!« »Wir werden in den ersten Tagen wenig schaffen«, sagte der Pionier etwas zurückhaltend. »Wir müssen erst in den richtigen Tritt kommen. Dann aber, nach
vielleicht fünf, sechs Tagen kommen die ganz schwierigen Passagen. Ich meine die Arbeit an den Felsen, an den scharfkantigen Hängen der sieben Berge. Und was soll geschehen, wenn wir wieder auf Reste alter Bauwerke stoßen?« Cliff erwiderte: »Ich möchte sofort verständigt werden. Es kann sehr wichtig werden. Morgen sollten wir versuchen, möglichst viel von dem Pflaster sichtbar zu machen.« Der Pionier versprach: »Wir werden einen Wagen mit einem Wasserstrahlgebläse einsetzen.« Es war schon am ersten Tag gelungen: Die Pioniere fühlten sich an der Ehre gepackt und stießen jetzt in die Schneise vor, die von den Raumfahrern in den Dschungel gebrochen worden war. Wie lange aber würde die Begeisterung anhalten? Würden die unbewußten Befürchtungen mitten im Dschungel wieder ausbrechen. Cliff beschloß, abzuwarten und stets dort zur Stelle zu sein, wo es kritische Situationen gab. Jedenfalls waren die privaten Auseinandersetzungen zwischen den Pionieren schlagartig abgebrochen. Cliff stand auf; er fühlte sich etwas müde und abgespannt. Die schonungslose Hitze setzte ihm zu. »Ich nehme an, daß wir in den nächsten Tagen einige Überraschungen erleben werden. Die Arbeitspläne kennen Sie alle; ich habe nicht im geringsten vor, einzugreifen. Ich hoffe nur, daß Sie alle wissen, daß Bela Rover sich persönlich stark engagiert hat.« »Verstanden.« Die Pioniere gingen, und die kleine Crew blieb noch eine Weile sitzen und trank einen Whisky auf
Eis. Die Crew – ausgenommen die Neulinge – war unzufrieden. Sie warteten auf ein Ereignis, das sie in äußerste Spannung versetzen sollte. Diese etwas überraschende Einstellung resultierte aus den Analysen, die angesichts langer Fahrten durch den Kosmos unternommen werden konnten. Es war zu ruhig, zu glatt gegangen, zu wenig ereignisreich. Nach dem Gesetz der mathematischen Wahrscheinlichkeit und dem höchst persönlichen Gesetz der eigenen Erfahrungen fehlte dieser Donnerschlag bisher noch. Mario de Monti sprach es offen aus. »Ich gehe schlafen. Das heißt, ich versuche es. Ich werde vermutlich nicht besonders gut ruhen.« Sie standen auf und gingen. Cliff blieb auf Wunsch von Raghilt noch neben ihr auf den Stufen der kleinen Terrasse sitzen und lehnte sich an die weiße Plastikwand des Wohnwürfels. »Haben wir morgen ein Programm?« fragte das Mädchen. »Ja und nein«, sagte Cliff. »Wir werden versuchen, mehr vom Königspfad zu entdecken. Kannst du gute Unterwasseraufnahmen anfertigen? Ich würde gern den Hafen sehen. Geht das?« »Ich werde es versuchen. Weißt du, daß ich Angst habe?« Cliff setzte sich aufrecht hin und flüsterte: »Angst? Wovor, Raghilt?« »Ich tauchte ziemlich tief hinunter, und ich sah, daß aus dem Stück zwischen der Insel und der Halbinsel-Spitze ständig große Mengen von Gasblasen aufsteigen. Man kann es, besonders von einer LANCET aus, mit dem Schaum der Brandung verwechseln. Wir arbeiten auf einem Vulkan.«
»Kritische Situation!« Raghilt sah ihn voll an und zuckte die Schultern. »Möchtest du es nett verpackt – oder hörst du gern die Wahrheit?« »Die Wahrheit«, sagte Cliff. »Wir können heute nach in die Luft fliegen, weil sich die gesamte Halbinsel in Form von Feuer, Asche und Felsbrocken hebt. Wir können auch zwei Tage, drei Wochen oder fünf Jahrtausende Zeit haben. Es ist ungewiß.« »Verdammt!« sagte Cliff. »Hast du eine persönliche Schätzung dafür?« »Nein«, sagte sie. »Aber ich bin Pessimist.« »Ich auch«, meinte Cliff. »Ich nehme also an, daß sich hiermit die erwarteten Gefahren eingeschlichen haben. Danke, daß du es mir persönlich gesagt hast, Raghilt.« »Schon gut.« Unter ihnen erzeugte die Schicht zwischen harten, aber durchlöcherter Schale und glutflüssigem, magmatischem Planeteninnern drohende Vibrationen, die niemand bewußt spürte. Aus dem Meeresboden strömte Gas aus, und gerade jetzt gingen die Arbeiten los. Cliff wußte, daß die Situation gespannt war. Mitten in diesem Gedanken spürte er, wie sein Oberkörper ein wenig schwankte. Zwei Zentimeter vor, zwei zurück, und gleichzeitig war es, als ginge ein Ächzen durch die gesamte Anlage rund um den Raumhafen. Und sofort war alles wieder vorbei. »Bin ich betrunken?« flüsterte Cliff. Er wußte es besser. Eine eiskalte Angst griff auch nach ihm, und plötzlich kippte die Theorie über den schmalen Grat und war nackte Praxis geworden. Ein
leichter, ferner Erdstoß hatte die Gegend hier erschüttert. Das Epizentrum lag sicher ziemlich weit entfernt, aber die Warnung war deutlich. »Nein. Wir sitzen noch. Hoffentlich hat es niemand gemerkt ... oder sollten wir warnen?« Cliff zuckte die Schultern. Er wußte es nicht. Vermutlich war es besser, wenn er vorläufig schwieg. »Warten wir ab.« »Schon der nächste Erdstoß kann uns genau treffen!« sagte Raghilt. »Auch ich werde nachts schlecht schlafen, Cliff.« Cliff grinste und murmelte: »Denke an mich, und dein tiefer Nachtschlaf ist gesichert.« Er stand auf und ging langsam in seine Wohnhütte hinüber. Er schlief diese Nacht in Stiefeln und halb angekleidet, obwohl nichts in dieser Konstruktion ihn gefährden konnte. Die Nacht blieb ruhig, aber gegen Morgen, kurz vor Sonnenaufgang, durchzog ein übler Geruch nach ausströmendem Erdgas die gesamte weitläufige Anlage und weckte die Menschen auf. Maschinen wurden angeschaltet. Es wurde lauter und lauter. Überall fraßen sich die Gleisketten in den Untergrund und schoben die überschweren, zusammengesetzten Aggregate vorwärts. Eine gewaltige Prozession schob sich auf den Tunnel durch den Dschungel zu. Es roch nach Essen, nach Kaffee und nach Spuren des Gases, ebenso nach heißem Metall und frischer Erde. Ein Wagen brachte zwei neue Mannschaften in den Dschungel, und die Schildkröte setzte sich entlang der Markierungen in Marsch und fraß sich Meter um Meter durch Holz und Gebüsch.
Die Piste wurde vorbereitet. Das Erdreich, verdichtet und mit Bindemitteln gehärtet, wurde mit Wasser geflutet, darüber kamen riesige Mengen Stahlbeton, der rasch abtrocknete. Eine dicke Schicht Plastikmasse wurde aufgebracht und deren Oberfläche verwandelte sich unter Druck und Hitze in ein Muster aus kleinen, erhabenen Rauten. An den Seiten wuchs eine niedrige Mauer aus Plastikformsteinen, die ineinandergehakt und mit dem Untergrund verschweißt wurden. In die oberste Reihe kamen, durch Steckverbindungen aneinander angeschlossen, die Steuereinheiten. Später einmal sollten hier einfache Kästen, die auf einem Polster aus fest eingestellten Antigravitationsstrahlen fuhren, gesteuert werden. Sie brachten die Erzknollen und die Schwersände zur Aufbereitungsanlage in unmittelbarer Nähe des Hafens. Eintausend Kilometer ... die Strecke wurde meterweise erschlossen. Das letzte war eine Kehrmaschine, die aus der schmutzbedeckten Oberfläche der Piste ein weißes Band machte. Um zehn Uhr vormittags war fast das gesamte Lager verwaist. Und genau um zehn Uhr einundzwanzig begann der zweite, harte Erdstoß. Er brachte sämtliche Metallteile zum Schwingen, setzte sich wellenförmig im Boden fort und verschwand. Alle Menschen, die sich stehend auf dem Gelände befunden hatten, mußten sich gegen die Bewegungen stemmen, einige fielen hin. Und als sich Cliff wieder aufrichtete – er war bei Mario und Raghilt neben einem kleinen, schweren Amphibienfahrzeug gelehnt –, sah er die Rauchsäule. »Der Vulkan.«
Raghilt korrigierte. »Ein Vulkan.« Der aufgestaute Druck des Erdinnern hatte sich Bahn gebrochen und einen Vulkan erschaffen. Vermutlich war die Gefahr für diesen Augenblick vorbei. Überall waren jetzt Lautsprecherstimmen und aufgeregte Funkgespräche zu hören, und der Leiter des Projektes, Paul Jonesboro, rannte auf Cliff zu. Er blieb schwer atmend am Gleiter stehen und fragte rauh: »Was tun wir jetzt? Evakuieren? Abbrechen?« »Nein«, sagte Cliff. »Weitermachen, aber rückzugbereit bleiben. Ich fliege los und werde versuchen, die Größe der Gefahr genau abzuschätzen. Ich vermute, daß es einer der Berge am äußersten Ende der Halbinsel ist, der Entfernung der Rauchwolke nach zu urteilen.« Er deutete nach Westen. Dort breitete sich aufquellend und im Wind zerfasernd, am oberen Ende einer schlanken und pechschwarzen Rauchsäule der dicke schwarze Ring aus. Aus seinen Rändern sackten lange, schwere Fahnen nach unten ab. Und langsam, wie in Zeitlupe, wirbelten riesige Fetzen losgerissener Lava hoch, drehten sich und fielen wieder senkrecht nach unten, schlugen in den Dschungel oder ins Wasser an der Küste ein. Cliff, Raghilt und Mario rannten auf die LANCET I der ORION zu. Sie kletterten hinein, schnallten sich fest, und Cliff schaltete die Maschinen ein. Mit ausgefahrenen Landestützen und offener Schleuse startete das Beiboot, und die halbrunden Kuppeln der Bullaugen glänzten im Morgenlicht. Auf der anderen Seite der Kugel aber
spiegelten sich die schwarzen Strukturen des Vulkans in den Gläsern. Mit rasend schnellem Steigflug entfernte sich die LANCET nach Westen. Der Planet Wenatchee hatte den ersten, warnenden Schlag gegen die Eindringlinge geführt. Er überschüttete sie mit Lava, Glut und Asche ...
4 Während sich die Pioniere entlang der unsichtbaren Linie in Schlangenlinien weiter in den Dschungel zwischen den sieben Bergspitzen vorkämpften und hinter sich eine breite weiße Spur hinterließen, donnerte der Vulkan unaufhörlich. Aber jetzt war er eine deutlich sichtbare Gefahr geworden, und niemand regte sich deswegen mehr als nötig auf. Die LANCET raste in zweitausend Meter Höhe nach Westen und folgte dabei der Küstenlinie der langen, zerklüfteten Halbinsel, die von oben tatsächlich wie ein gichtiger Finger aussah, mit einem langen, aufgebogenen Nagel. »Das kann zum Abbruch führen«, sagte Hasso und richtete das schwere Fernglas auf die Szene unter sich. Undeutlich erkannte er den Kopf am Anfang des weißen Bandes der Piste. »Aber es muß nicht sein. Vielleicht beruhigt sich der Vulkan wieder. Schneller, als wir ahnen«, sagte Cliff. Er hatte vor sich, in vierhundert Kilometern Entfernung etwa, die Rauchsäule. Er blickte an ihr entlang, und ... »Dampf!« sagte Raghilt aufgeregt. »Was bedeutet das?« »Meerwasser dringt in den Strom der Lava ein. Das kann zur Folge haben, daß die Insel explodiert, aber auch, daß der Magmafluß so abgekühlt wird, daß er aufhört.« Jetzt sahen sie es: Es war der Gipfel von Last Peak, der sich geöffnet hatte. Ein Teil des letzten Berges war auseinanderge-
brochen und rechts ins offene Meer hinausgefallen. Von dort aus, wo sich breite Bäche glühender Lava ergossen, schlugen haushohe Wellen zurück und löschten die ungeheure Hitze ab. Die Ufer, soweit sie zu erkennen waren, schienen sich gehoben zu haben. »Ein höllisches Schauspiel«, sagte Raghilt. »Halte dich außerhalb der fallenden Gesteinsbrokken!« warnte der Raumschiffingenieur. Die LANCET näherte sich in rasendem Flug dem Vulkan. Cliff steuerte das Beiboot in eine leichte Kurve. Er hielt sich weit von der Rauchsäule entfernt und umkreiste den Vulkan. Das Sonnenlicht wurde von den schwarzen Massen geschluckt, und die ersten schwarzen Nebelschleier trieben um das Boot. Cliff raste mitten hindurch. Er sah, wie hausgroße Felsbrocken durch die Luft wirbelten, aufbrachen und ins Meer fielen. Wellen aus Schaum, Gischt und Dampf brandeten vom Meer an die Ufer, und die Rauchsäule riß an einigen Stellen ab. Schwarz des Rauches vermischte sich mit dem Weiß des Dampfes. Die Geräusche des arbeitenden Vulkans waren so laut, daß eine Unterhaltung unmöglich wurde, je näher sie dem Rauchpilz kamen. Die drei Terraner beobachteten den zerstörten Berg sehr genau. Dampfwolken verdeckten jetzt die Lava. Drei Seiten des spitz zulaufenden Gipfels waren noch intakt. An ihren Hängen hatten sich Felsen und Gesteinsmassen gelöst und waren zu Tal gegangen. Breite Spuren der Verwüstung durchzogen das niedrige Gehölz und hatten den Dschungel teilweise verschüttet. Aus einigen breiten Spalten war Lava gesikkert, war ebenfalls wie ein langsamer Wasserfall zu
Tal gekrochen und hatte dort einen Waldbrand hervorgerufen. Dann war, durch das Toben des Meeres hervorgerufen, Wasser eingedrungen. Dampfwolken durchzogen das breite Tal und erstickten den Brand. Die vierte Seite von Last Peak war auseinandergebrochen und ins Meer gestürzt. Dort quoll in einem dreihundert Meter breiten Streifen das glühende Erdreich hervor. Es lief über die natürlichen Felsterrassen nach Norden ab und erreichte das Wasser. Augenblicklich hatten sich riesige Mengen Dampf entwickelt, die jetzt weißer und gewaltiger wurden. Das Meer tobte, und von der kleinen Insel aus – von Vulkan Island also – setzte sich ein kleiner neuer Kontinent bis weit nach Nordwesten fort. »Neues Land ... gestern bin ich hier in der Nähe noch getaucht«, sagte Raghilt. »Es haben sich riesige Flächen mit Schwersänden und Erzknollen aus dem Wasser gehoben.« Die LANCET vollendete eben die erste Umkreisung in gebührendem Abstand. Cliff steuerte um, und der Kreis wurde in entgegengesetzter Richtung fortgesetzt. Der Lärm der Wassermassen und der fauchenden Gasströme war leiser geworden. »Und darüber hinaus haben sich sicher auch weite Gebiete des Meeresgrundes gehoben!« sagte Cliff. »Das wird die Arbeit enorm erleichtern. Wir dürfen nicht aufgeben, solange nicht die Pioniere in Lebensgefahr sind.« Als sie im Westen waren und leidlich gut das Gebiet einsehen konnten, sagte das Mädchen: »Wir brauchen vermutlich nicht aufzugeben, Cliff. Dort unten ... die Natur hilft uns.«
Er folgte der Richtung, die ihre Hand wies. Die Lava versickerte im aufgewühlten Wasser. Von Westen, dorther, wo sich ein Kontinent gehoben hatte, rollten zwanzig Meter hohe Brecher heran, krachten gegen die Barrieren aus erstarrtem Gestein und schlugen dreißig, vierzig Meter daran hoch. Sie vergingen in Dampfwolken, die weggetrieben wurden. Die nächsten Wellen bereits verdampften nicht mehr, sondern rasten über die gerundeten Lavaklippen hinweg und ergossen sich in den tiefliegenden Schlund des Vulkans. Ein Kampf zwischen Feuer und Wasser begann. Vermutlich würde das Wasser siegen, aber die ungeheuren Spannungen konnten natürlich auch gegenseitigen Effekt haben. Jedenfalls fielen keine Felsbrocken mehr ins Wasser. Eine gewaltige Gassäule, teilweise brennend, teilweise aus Dampf bestehend und aus kleinen Abschnitten schwarzen Rauches, stand jetzt über dem Vulkan. Langsam wälzte sich die gewaltige schwarze Masse des Rauchpilzes in östliche Richtung und würde nach einem oder zwei Tagen das Lager erreichen. An ihren oberen Enden zerfaserte sie bereits in der Stratosphäre. »Der Hafen ... wir können ihn sehen!« sagte Raghilt. Cliff beugte sich vor. Sie hatte recht. Das gesamte Ende der Insel hatte sich um mindestens fünfundzwanzig Meter gehoben. Das war vermutlich der starke Erdstoß gewesen. Wie ein Scharnier war die Halbinsel an der Stelle, an der sie das Festland berührte, nach oben geknickt. Alle Höhenlinien waren
jetzt verändert, aber auf das Projekt würde dies wenig Einfluß haben. »Können wir landen?« fragte Hasso Sigbjörnson unruhig. »Ich versuche es!« sagte Cliff. Der alte, versunkene Hafen, den Raghilt entdeckt hatte, war etwa sieben Kilometer von dem Inferno des Vulkans entfernt. Die kleine Insel, auf der später einmal die Hafenanlagen stehen sollten, hatte sich zwar gehoben, aber nicht verändert. Man sah nicht einmal umgestürzte Bäume oder gespaltene Felsen. Cliff steuerte um die Gassäule herum, ging tiefer und flog vorsichtig, mit voll ausgefahrenen Landestützen den Hafen an. Schwarzbewachsene, sandbedeckte Flächen tauchten auf. Mauerreste und merkwürdig aussehende Gegenstände, die wie irdische Anker wirkten, hoben sich aus Schlick und Schlamm. Als die drei Terraner nur noch zwanzig Meter über der ehemaligen Mole schwebten, sahen sie, wie sich kleine Meerestiere über die Flächen flüchteten. Einige von ihnen erreichten den Rand und ließen sich ins Wasser fallen. Fetzen von weißem Dampf trieben vorbei, und ein Regen aus Rußflocken und feinem, schwarzem Sand ging über die Anlagen nieder. Dann kam eine der mächtigen Wellen und schmetterte gegen das Festland, riß Schlamm und alle möglichen Gegenstände und Ablagerungen mit sich. Auch die Tiere waren verschwunden. »Wäre ich gelandet, hätten wir das Schicksal der Seesterne und Seegurken geteilt«, murmelte der Kommandant.
»Warte noch, bis sich die See beruhigt hat!« meinte Raghilt. Cliff drosselte die Energie und ließ die LANCET dreißig Meter über der ehemaligen Hafenanlage schweben, während Hasso eine Reihe von Fotos machte. Sehr langsam lichtete sich das Dunkel, das von der Rauchwolke vor der Sonne herrührte. Die Terraner betrachteten die Hafenanlage, und als ihre Augen und Vorstellungen sich einmal an das ungewohnte Bild gewöhnt hatten, entdeckten sie neue interessante Einzelheiten. Sie erkannten einen Turm, oder besser dessen Reste. Rund, etwa fünfzehn Meter durchmessend, mit Türöffnungen und Fensteröffnungen in größerer Höhe. Die nasse, mit Gewächsen fast unkenntlich ummantelte Ruine war noch jetzt rund zwanzig Meter hoch und an den oberen Rändern zerstört. Sämtliche Öffnungen waren höher als zweieinhalb Meter, aber dafür wesentlich schmaler als ein terranisches Portal. Die Bezüge waren anders. Fremder. Eine weitere Mammutwelle verwischte das Bild, fetzte weitere Gewächse von den Mauern, riß Sand und Schlick mit sich und machte mehr Einzelheiten sichtbar. Eine Mole war angelegt worden. Auf ihr sah man noch die schweren Sockel, auf denen vor Jahrtausenden vielleicht Hebemaschinen gestanden waren. Einige der prismatischen Steine waren tatsächlich mit einer glänzender, weißgoldartigen Schicht überzogen, die nicht bewachsen war. Der Hafen hatte einstmals etwa hundert solchen Schiffen, wie Cliff eines gechartert hatte, Zuflucht
bieten können. Oder der entsprechend geringeren Anzahl größerer Schiffe. Eine breite Treppe führte neben dem Turm nach oben und setzte sich, den natürlichen Kanten und Ecken des Felsens folgend, fort bis an den Rand der Grünzone, die von hier aus nur undeutlich zu sehen war. Wieder krachte einer der Brecher über die Anlage und wirbelte einen Stein aus der Mauerkrone des Turmes. »Die erste Plattform dort oben wird von der Brandung nicht erreicht«, sagte der Kommandant. »Dort werde ich landen.« Hasso untersuchte die Gegend mit dem Feldstecher. »Einverstanden, Cliff!« sagte er. Die LANCET stieg etwas höher, machte dann eine Vorwärtsbewegung und wurde von McLane vorsichtig aufgesetzt. Die Teller der Landebeine preßten sich in den Belag aus Sand und faulenden Blättern, aus grünschwarzen Wasserpflanzen und Muschelschalen. Dann drehte sich die Tür der kleinen Schleuse auf, und ein feuchter, fauliger Geruch schlug ins Innere der LANCET. »Nicht gerade eine Herausforderung für lange Spaziergänge«, schnupperte Hasso und turnte die breite Leiter hinunter. Seine Stiefel versanken fünf Zentimeter tief im Schlick. »Pfui!« »Aus dir wird auch kein richtiger Seemann mehr!« sagte Cliff und half Raghilt hinaus. »Ist auch nicht nötig. In meinem Alter entwickelt man Vorlieben und Hobbies, aber keine Neigungen mehr, sich selbst mehr als nötig mit absolut Fremdem zu beschäftigen. Und Wasser in dieser Form war mir schon immer fremd.«
»Akzeptiert«, sagte Cliff. »Und trotzdem sind wir hier etwas Fremdem auf der Spur. Kann sein, daß wir noch mehr überrascht werden.« Sie standen nebeneinander auf einem breiten Absatz zwischen zwei Treppenabschnitten, die sich hier in einem Winkel von neunzig Grad trafen. Um sie herum sahen sie die Spuren davon, daß dieses Gelände lange Zeit unter Wasser gewesen war. Auch hier aber schimmerten mit Platin überzogene Steine aus der Masse der anderen hervor. Alles roch nach Seewasser und war unglaublich alt. »Wie alt?« Cliff stellte die Frage und erhoffte sich eine schlüssige Antwort. Zu seiner Überraschung sagte Raghilt: »Wir auf Terra haben Funde unter Wasser gemacht, die sechstausend Jahre alt waren; ich erinnere nur an Schiffsrümpfe voller Amphoren. Ich kann, glaube ich, verbindlich sagen, daß dieser Hafen älter ist als sechs Jahrtausende. Vielleicht zehn oder fünfzehn. Hier haben sich beispielsweise WenatcheeKorallen angesiedelt – sie brauchten, wenn ich terranische Maßstäbe ansetze, zwölf bis dreizehn Jahrtausende, um diese Größe zu erreichen. Sie sind eben erst gestorben, als nämlich das Gelände sich hob.« Cliff sagte: »Ein alter Hafen, eine Treppe und ein Königspfad – vielleicht finden wir noch Nachkommen dieser Intelligenzen?« »Vielleicht. Verwildert im Dschungel.« Cliff und Hasso sahen sich an. Diese Möglichkeit lag immerhin nicht allzu fern. Langsam glitt Cliffs Blick an der Treppenanlage hinauf, und er entschloß sich, einen Vorstoß zu unternehmen. Er sah sich um.
Die Helligkeit hatte zugenommen. Ein kleiner Sturm, von Regenschauern begleitet, vermutlich ein Gewitter, trieb die Rauchsäule auseinander. Dampf, Rauch und Rußfetzen, groß wie verbranntes Papier, jagten an den drei Menschen vorbei. Nach wie vor schlugen die Brecher über dem Hafen zusammen, aber jenseits der gischtenden, sich überschlagenden Wellen sah man große Flächen ruhigen Wassers. Seegang Eins nach der interstellar gültigen Skala, übernommen aus der irdischen Seefahrt. Der Lärm des arbeitenden Vulkans lag erstens weit weg zweitens hatte er tatsächlich abgenommen. Nur ein fernes, unheilvolles Zischen war zu hören. Gas und Flammen und Dampf aus dem Vulkan riefen dieses Geräusch hervor. Die Erdstöße hatten ganz aufgehört. Cliff schaltete sein Funkgerät ein und sagte deutlich: »Hier Cliff McLane. Ich rufe Commander Prac'h.« Nach Sekunden knackte der Lautsprecher. »Hier. Was ist los, Cliff? Wo seid ihr?« Cliff schilderte kurz, was sie im Verlauf der letzten neunzig Minuten erlebt hatten, dann stellte er seine Frage. »Kannst du noch Vibrationen feststellen, Glanskis?« Ohne zu zögern, antwortete der Raguer: »Nein, Cliff. Die Vibrationen, die ihr Terraner spüren konntet, waren ja schließlich groß und stark genug. Aber ich kann keine mehr im Ultraschallbereich wahrnehmen.« »Ausgezeichnet!« sagte der Kommandant. »Wo bist du?« »Ich überwache gerade die Freilegung des gestern
aufgefundenen Pflasters. Wir haben insgesamt zweihundert Quadratmeter gefunden und mit einer dikken Schicht Kunstglas überzogen. Die Piste führt genau darüber hinweg. Einige Steine habe ich zur Analyse ins Baubüro gebracht.« »Tadellos. Wir treffen uns in zwei Stunden.« »Ende.« Cliff drehte sich um und stapfte durch den nassen Schlick. Er hielt sich an den langen Gewächsen fest, setzte den Fuß auf die unterste Stufe und begann langsam die Treppe hinaufzusteigen. Die ersten Meter ging es über nasse, schlüpfrige Stufen, dann über eine dicke Sandschicht, schließlich über trockene Gräser. Je höher Cliff kam, desto reicher wurde die Vegetation, und dreißig Stufen weiter oben war sie so tropisch und verfilzt wie der Dschungel. Dornen und lange Rankengewächse hielten den Raumfahrer auf. Je höher er kam, desto seltener sah er die Steine. Sie waren überwuchert. Zehn, fünfzehn Stufen weiter oben öffnete sich wieder ein Absatz. Cliff rief hinunter: »Kommt niemand nach?« »Nein!« rief Raghilt. »Auch gut«, brummte Cliff und kletterte weiter. In den nächsten Minuten kam er bis an den Rand des Dschungels, also bis etwa auf das Niveau, auf dem die Piste verlaufen sollte. Er atmete schwer und blieb stehen. Von einem zurückentwickelten Nachkommen der Humanoiden, die diese Hafenanlage gebaut hatten, war nichts zu merken. McLane setzte sich auf einen Vorsprung und blickte hinunter. Er sah Raghilt und Hasso. Der Bordingenieur machte Aufnahmen von der Anlage, und Raghilt bearbeitete die Oberflä-
che der Steine. Cliff wurde nervös. Die Situation paßte ihm nicht. Irgend etwas daran war falsch. Drei Menschen bewegten sich in einer Dekoration, die Jahrtausende alt war. Die Dekoration war zu alt, und das Leben, das sich zum erstenmal nach langer Zeit in ihr bewegte, war zu modern. Das Bindeglied fehlte. Die Verbindung zwischen absoluter Vergangenheit und der relativen Zukunft. Seit drei Tagen fühlte sich Cliff unsicher, und auch der Ausbruch des Vulkans hatte ihn nur kurz erschreckt. Er saß hier oben, betrachtete das Gelände des Hafens und versuchte herauszufinden, ob sich die Terraner auf einer Welt breitmachten die schon besiedelt worden war, als noch die Nilkulturen herrschten. Er gab sich einen Ruck und stand wieder auf. Nur noch zehn Meter, und er konnte die Treppe in der Felswand verlassen. Langsam kletterte er weiter. Er erreichte die letzten Stufen und sah sich um. Das halbe Zwielicht, das durch den vorbeitreibenden Rauch erzeugt wurde, tauchte den Rand des Dschungels in eine fast unheimliche Beleuchtung. »Soll ich weiter den neandertalerhaften Planetarier suchen?« knurrte er unwillig. Er blieb auf dem Streifen zwischen Dschungelrand und Treppe stehen. Die Brandung war sehr leise geworden. Die Stimmen, die er eigentlich hätte hören müssen, waren restlos zum Schweigen gebracht worden durch den Vulkanausbruch. Vermutlich waren die Vögel und die anderen Tiere geflüchtet. Cliff stolperte über die scharfkantigen Lavafelsen und ging dann nach rechts, wo er eine ebene Fläche erkannte –
vermutlich ein Teil des Königspfades, der bis hierher führte. Hier wuchs nur wenig – der Wind hatte verhindert, daß sich hier viel Erdreich hatte bilden können. Langsam ging der Kommandant vorwärts. Um ihn herum war eine verdächtige Stille. Nicht einmal ein Ast knackte. Plötzlich gab es ein Geräusch. Cliff erstarrte für einen Moment und wirbelte dann herum. Ein unterarmlanges Stück Holz flog, sich mehrmals überschlagend, auf ihn zu. Er sprang nach vorn und versuchte, seine Gasdruckwaffe herauszuziehen, aber der unsichtbare Werfer ließ ein zweites Aststück auf ihn zuschnellen. Cliff rannte im Zickzack vorwärts, und plötzlich gab es einen wahren Hagel von Holzstücken und runden, schwarzen Früchten, die auf ihn geschleudert wurden. Er wurde getroffen, einmal am Bein, ein zweitesmal am Rükken. Er spürte noch keine Schmerzen, aber er rannte, so schnell er konnte, dem Rand des Dschungels vor ihm entgegen. Keuchend warf er sich neben einem Baumriesen ins Unterholz, drehte sich auf den Rükken und hatte schließlich die Gasdruckwaffe in den Fingern. »Verdammt!« flüsterte er und richtete sich auf. Die Stellen, an denen er getroffen worden waren, begannen jetzt zu schmerzen. Er suchte mit den Augen den Rand des Gebüsches ab, aber nichts mehr regte sich. Vorsichtig drehte er sich um und spähte in die Dunkelheit des Waldes. Er sah nichts. Als er den Arm anwinkelte und das Funkgerät einschaltete, hörte er Gelächter. Es kam eindeutig aus der Richtung, in der die unsichtbaren Werfer gelauert hatten. Es war hoch und schrill wie das eines Kindes.
Der Nachhall machte das Lachen, das von mehreren Personen oder Tieren stammte, zu einer Geräuschorgie. Dann hörte Cliff nur noch das Knacken von Ästen, wieder ein kurzes Gelächter ... dann nichts mehr. Er drehte sich wieder um und sagte: »Hasso? Hier Cliff.« Hasso meldete sich sofort. »Du klingst aufgeregt. Was war los?« Cliff grinste kalt und erwiderte: »Ich bin eben mit einigen Festmetern Holz und mit nußartigen Früchten beworfen worden. Der Urwald scheint unerwartet aggressives Leben zu enthalten.« »Gefahr?« fragte Sigbjörnson alarmiert. »Ich denke, jetzt nicht mehr. Ich werde versuchen, die LANCET zu erreichen. Ich komme sofort.« Hasso antwortete mit ruhiger Stimme: »Ich komme dir entgegen, Cliff.« »Ausgezeichnet.« Cliff wußte nicht, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, daß er um sein Leben kämpfen mußte. Er steckte die Gasdruckpistole wieder zurück und zog die HM 4. Dann warf er sich zurück auf den Pfad, der mit Früchten und Holzstücken übersät war. Im Laufen stellte Cliff fest, daß einige von ihnen, hätten sie getroffen, ihm den Schädel zerschmettert haben würden. Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf den Rand der Büsche, aus denen der Angriff erfolgt war, aber er wurde kein zweitesmal angegriffen. Keuchend und schwitzend erreichte er die Kante der Felsen und sprang darüber hinweg, kam schlecht auf und rutschte einige Stufen der Treppenanlage hinunter. Als er sich wieder gefangen hatte, sah er schräg unter sich Hasso, der die Waffe in der Hand hielt und
die Kante beobachtete. »In Ordnung!« schrie Cliff. »Gut!« antwortete Sigbjörnson. Cliff turnte in Rekordgeschwindigkeit die Treppen hinunter und traf nach kurzer Zeit mit Hasso zusammen. Nebeneinander gingen sie zurück zur LANCET, an deren Landebein Raghilt lehnte. Cliff berichtete. »Es scheint wirklich so zu sein, daß die ORIONCrew das Abenteuer im Schlepptau hat«, sagte die Italienerin und lächelte Cliff zu. »Waren es Menschen, Fremde oder Großaffen?« Cliff zuckte die Schultern und erwiderte zögernd: »Keine Ahnung. Dem Gelächter nach waren es entsprungene Irre.« Hasso enterte die Leiter in die Schleuse und sagte über die Schulter: »Jedenfalls haben wir hier nicht die Situation, in der wir ständig über geheimnisvolle Maschinen und großartige technische und zivilisatorische Errungenschaften stolpern. Offensichtlich sind die intelligentesten Wesen auf diesem Planeten tatsächlich einmal ausnahmsweise wir, das heißt die Terraner.« »Hoffentlich«, murmelte Raghilt. »Wohin reisen wir nun?« »In die Arme der Pioniere zurück. Und in die Nähe der ORION!« versicherte Cliff grimmig und rieb sich die Stellen, an denen ihn die Hartholzstücke getroffen hatten. Die Knochen schmerzten höllisch. *
Die Crew war vollzählig, und einige der Pioniere waren ebenfalls vorhanden. Man hatte vier der rechtekkigen Tische zusammengestellt, und rund fünfzehn Personen hatten unter dem Sonnenschutzdach der Messe Platz. Vor den Terranern standen die leeren Teller. Cliff rührte in seiner Kaffeetasse und sah zwischen Mario und Helga hindurch. Die ersten Pioniertrupps kamen zurück. Raghilt knüllte die Serviette zusammen und sagte halblaut: »Bis jetzt ist der Versuch der Urlauber, den Planeten zu erobern, ausgesprochen friedlich verlaufen.« Mario de Monti brauste auf. »Richtig! Der Fund eines Königsweges, geheimnisvolle Schwingungen, dann ein Vulkanausbruch. Schließlich ein kleiner Kontinent, der sich aus dem Meer gehoben hat und ein Angriff von Großaffen auf unseren Kommandanten. Einschließlich der Lebensgefahr, in der rund ein halbes Tausend Menschen schweben ... ausgesprochen friedlich. Ich bin gespannt darauf, was du als aufregend bezeichnest, Raggie!« Hasso und Helga lachten laut auf. »Sie sollten nicht zu lange lachen«, sagte Torrington. »Wir haben ebenfalls erstaunliche Entdeckungen gemacht.« Cliff betrachtete den Sonnenuntergang, der inmitten der riesigen Wolken aus Dampf und Rauch heute besonders attraktiv war. »Welche?« »Unsere Vermessungstrupps waren ebenso klug wie diese Rasse, von der der Königsweg stammt. Je weiter wir den Laserprojektoren folgten, desto mehr
mußten wir erkennen, daß wir nur diesem verdammten Pfad folgten. Natürlich war er häufig unterbrochen, selbstverständlich mußten wir erst den Dschungel roden, ehe wir auf die Steine stießen – aber die Trasse ist bisher die gleiche. Ausgesprochen raffiniert angelegt.« Cliff lächelte und sagte: »Wie sind Sie verfahren? Überhaupt – wieviel Kilometer können wir schon buchen?« Verschwörerisch grinsten die Pioniere. Einer von ihnen sagte voller Stolz: »Wir haben uns durch diesen dummen Vulkan nicht sonderlich stören lassen. Wir sind heute am einhundertsten Kilometer angelangt. Davon sind vierzig Kilometer fertig, und dreißig Kilometer etwa enthalten bereits die Lenkeinrichtungen.« Mario murmelte: »Das müssen wir unbedingt Bela Rover melden.« »Schon geschehen!« sagte Torrington. Einhundert Kilometer entlang einer Straße, die vor mehr als zehn Jahrtausenden angelegt und ausgebaut worden war. Die neue Piste der Terraner folgte dem Königspfad der alten Planetarier. Noch niemals hatte die Erde eine Rasse entdeckt die etwa auf dem gleichen Entwicklungsstand war wie sie selbst. Entweder waren es Kugelwesen mit einer faszinierenden Metamorphose oder Eindringlinge aus anderen Bezirken des Alls, oder Rassen aus der Vergangenheit, zu denen auch die wenigen Turceed zählten. Sogar ihre gemeinsamen Vorfahren und deren inkarnierte Gegner, die Frogs – alles kannte man. Nur eine humanoide Rasse, die als Bruderrasse bezeichnet werden konnte, sie fehlte bisher.
»Wir werden morgen an der Spitze der Rodungskommandos sein«, sagte Raghilt. »Ich kann mich ohnehin, solange der Vulkan nicht ganz zu arbeiten aufgehört hat, nicht dem Meeresboden widmen. So bin ich dafür, daß wir untersuchen, ob Cliff von Affen oder retardierten Planetariern überfallen worden ist.« Der Pionier sprang senkrecht aus seinem Sessel hoch. »Überfall!« keuchte er auf. »Natürlich, was dachten Sie?« fragte Cliff scheinheilig. »Damit verdiene ich mein tägliches Brot.« Er berichtete, was er festgestellt hatte. Helga Legrelle sprach aus, was Mario de Monti schon seit einer Weile dachte. Sie wandte sich an Cliff und sagte: »Unter dem Druck der Situation wird weitergearbeitet. Der Vulkan kann jede Stunde wieder aktiv werden. Wir haben hier den Übergang des Königsweges in die Ebene. Ihr habt das andere Ende entdeckt, den Hafen. Was werden wir in den Tälern und an den Berghängen entdecken?« »Ich rechne mit weiteren Zeugen einer sehr weit zurückliegenden Kultur. Der Stand dieser Kultur dürfte etwa mit dem terranischen Mittelalter zu vergleichen sein«, sagte Hasso Sigbjörnson. Der Raguer meinte: »Ich werde mich morgen selbständig machen. Ich habe im Gegensatz zu euch Terranern mehr und bessere Möglichkeiten mich im Dschungel zu bewegen. Einverstanden, Cliff?« Der Kommandant nickte. Einer der Pioniere legte ein Diagramm auf den Tisch und sagte laut, während er den Arm hob:
»Hier sind die Linien der Erschütterungen. Unsere seismologischen Auswertungen besagen, daß die Tätigkeit des Vulkans nahezu erloschen ist. Offensichtlich hat das eindringende Wasser doch einen KorkenEffekt hervorgebracht. Sicher aber ist, daß im Augenblick keine Gefahr droht. Wir können weiterarbeiten.« Mario deutete auf Cliff und sagte: »Wir sollten morgen einen Flug mit der ORION unternehmen und versuchen die Ausdehnung der Hebungen festzustellen. Schließlich brauchen wir die Ergebnisse, um bei den Förderungsanlagen und den Fernsteuerungen mithelfen zu können. Was werden Sie morgen schaffen?« »Mindestens fünfzig Kilometer Piste, wenn wir weiterhin dem Königspfad folgen«, antwortete Torrington. Die einzelnen Aktionen waren besprochen, und die Mannschaft zog sich zurück. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen, der aber den dünnen Schleier des Geheimnisvollen nicht zerrissen hatte. Cliffs Absicht, die Vergangenheit und deren Lehren in die Zukunft zu integrieren, war bisher gescheitert. Er schlief unzufrieden und ärgerlich ein, und die Stellen, an denen ihn die Knüppel getroffen hatten, schmerzten. Es würde wunderhübsche blaue Flecken geben. Raghilt, die dicht neben dem offenen Fenster lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, schaute durch die hauchfeine Gaze hindurch auf die Sterne. Noch immer trieben in großer Höhe Rauchwolken dahin; die Höhenströmungen verteilten die dunkle Masse. Das Lager war in äußerster Ruhe. Die vielen Ro-
bots, die inaktiviert waren, standen in den breiten Gassen zwischen den Maschinen und dem Baumaterial. Die vollautomatischen Fabrikationsanlagen hinter den aufgeblasenen Lärmschutzkuppeln arbeiteten ununterbrochen. Raghilt wußte den Gesichtsausdruck von McLane und de Monti richtig zu deuten; sie dachte nicht anders. Sie waren nervös und aufgeregt, unzufrieden und gedrückt. Niemand konnte genau sagen, warum diese Stimmung herrschte. Vermutlich warteten sie noch immer auf einen Blitz, dessen Licht die Situation erhellen konnte. Das hellere Viereck im Dunkel des Zimmers zog ihren Blick geradezu an. Sie sah hinaus, erkannte die Ecke einer anderen Behausung und den Steg dazwischen. Dahinter schwebte eine Reihe von Materialschiffen. Ein Stern bewegte sich, flimmerte ... das Mädchen mit dem weißen Haar sah ihn eine Sekunde lang nicht. Sie richtete sich halb auf, rollte das Kissen unter ihrem Kopf zusammen und sah schärfer in die betreffende Richtung. Vor den Schiffen als Kulisse bewegte sich etwas oder jemand. Raghilt La Grange ließ sich seitlich aus dem Bett fallen und schlich gebückt zum niedrigen Tisch. Dort zog sie lautlos die Gasdruckwaffe aus dem Futteral, entsicherte sie und schlüpfte wieder unter die Decke. Jemand kam näher. Vorsichtig und lautlos. Eine ziemlich große, leicht gebückte Gestalt. Als sie in den Bereich kam, in dem eine ungewisse Helligkeit herrschte – eine Plastikwand reflektierte eine Lampe – erkannte sie, daß es
kein Terraner war. Es war ein Humanoide offensichtlich mit einer fellartigen oder pelzigen Behaarung. Er ging leicht nach vorn gebeugt und betrat jetzt das Ende des Steges zwischen den Bauten. Dann blieb er stehen und orientierte sich. In seinem Verhalten lag etwas Tierisches; ruckhafte, unschlüssige Bewegungen und ein hoher Grad von Abgelenktheit. Raghilt richtete sich etwas mehr auf, geriet mit ihrem hellen Haar in die Fläche, die der Fremde einsehen konnte. Sie sah daß jene Gestalt in einer Hand etwas Dreieckiges, Langes trug. Vielleicht war es eine Waffe. Fast unhörbar kamen die schleichenden Tritte näher. Nackte Sohlen auf Plastikformteilen. Raghilt hatte keine Angst, aber sie spürte, daß sie einer Schlüsselsituation sehr nahe war. Sie versuchte, regungslos zu bleiben und zu warten. In ihrer Hand hielt sie die Waffe und richtete sie auf den näherkommenden Fremden. Jetzt sah sie mehr. Zehn Meter trennten sie noch. Ein Wesen, größer als zwei Meter. Es war ziemlich schlank und trug einen braunen Pelz, sehr dünn und mit vereinzelten schwarzen Stellen. Die Gesichtszüge konnte Raghilt nicht erkennen, aber als das Wesen wieder einmal suchend und hörbar die Luft einziehend den Kopf drehte, bemerkte die Italienerin die Zeichen dafür, daß das Wesen mehr Tier als Intelligenzwesen war. Großer, gut ausgeprägter Unterkiefer und große Zähne. Darüber eine kleine Nase und weit vorspringende Brauen. Wieder ein paar Schritte – noch fünf Meter Abstand. Raghilt kämpfte schweigend die Versuchung nieder, das Funkgerät einzuschalten und
Cliff zu rufen. Jetzt stand das Wesen unmittelbar vor dem Fenster. Sie starrten sich schweigend an. Aus den großen Nasenlöchern kam der pfeifende Atem des Wesens. Es starrte aus großen Augen das Mädchen an, und Raghilt scheute sich, zu schießen. Sie hätte den Fremden zwar nur gelähmt, aber sie brachte es einfach nicht fertig, abzudrücken. Das Wesen hob die Hand, und der lange, dreieckige Gegenstand entpuppte sich als Faustkeil von beträchtlicher Größe. Eine Minute verging. Dann gab es unweit des Hauses eine Reihe von Geräuschen, als ob zwei Männer in wahnsinniger Eile gerannt kämen. Das Wesen warf sich herum, raste den Steg entlang und warf sich mit einem riesigen Satz über ein niedriges Geländer. Es rannte den Weg zurück, den es gekommen war. »Das war aufregend!« flüsterte Raghilt und schaltete jetzt das Funkgerät ein. »Cliff?« Der Kommandant meldete sich Sekunden später mit erstaunlich wacher Stimme. Er sagte scharf: »Was ist denn mit euch los? Eben ist der Raguer mit einem Riesensatz durch die Drahtgaze meines Fensters gesprungen und rennt draußen herum, als habe ihn ein Skorpion gebissen, und jetzt rufst du an?« »Wir werden beobachtet. Zumindest bin ich beobachtet worden.« Sie schilderte die letzten Minuten. Cliff meinte erstaunlich ruhig: »So etwas Ähnliches habe ich mir gedacht. Ver-
mutlich verfolgt Prac'h dieses Wesen. Sein Vorteil ist die Schnelligkeit, und der Vorteil des Fremden ist die Ortskenntnis.« Die Jagd entfernte sich, die Geräusche wurden leiser. Der Fremde lief wie ein Weltklasseläufer. Er spurtete geradeaus durch das halbe Lager, verschwand zwischen den Baumaschinen und kam an einer ganz anderen Stelle wieder ins Freie, als es der Raguer vermutete. Dann sprang das Wesen in einer Serie von weiten Sätzen auf das Ende der Piste zu, schwang sich elegant über die seitlichen Barrieren und verschwand in der Dunkelheit zwischen den Bäumen. Prac'h blieb auf dem hellen Belag stehen und versuchte, die Verfolgung nicht abreißen zu lassen, aber er mußte erkennen, daß der andere schneller war. Als sich das raubtierähnliche Wesen umdrehte, traf eine perfekt gezielte Nuß seinen Kopf. Fauchend und knurrend wirbelte der Raguer herum, aber alles, was er noch sehen konnte, war die Nuß, die über den Belag rollte. Das Gelächter, das aus dem Wald kam, weckte einige Pioniere auf, und alle, die es hörten, erschraken. Es hatte nicht mehr wie ein hysterisches Kichern geklungen, sondern wie ein Gebell, das jemand in höchster Wut ausgestoßen hatte.
5 Aus einer Spalte am Grund des planetaren Ozeans stieg, wie überquellende Lava aus dem tätigen Vulkan, ein Gesteinsstrom nach oben. Er floß nach beiden Seiten ab und drückte den Kontinent mit der ausladenden Halbinsel von der riesigen Tiefseeplatte weg. Der Kontinent und jene Platte – ein unterseeisches Gebiet von der halben Größe des annähernd runden Kontinents – entfernten sich im Jahr um zehn Zentimeter voneinander, oder um einen Meter in einem Jahrzehnt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die diese Vorgänge klar bewiesen, waren natürlich neuesten Datums. Die Kartographen, die Wenatchee untersucht hatten, konnten durch vergleichende Reihenmessungen diesen Umstand klar erkennen. Und noch einen zweiten. Analog zu den seit langem beobachteten Kontinentalverschiebungen auf der Erde sahen sie auch an ihren Instrumenten, daß auch hier eine in NordsüdRichtung verlaufende Längsschlucht auf dem Meeresboden bestand. Entlang dieser Trennlinie fanden sie eine Reihe von erloschenen und noch tätigen Vulkanen. Sie entdeckten untermeerische Inseln, die ihr Entstehen vulkanischen Ausbrüchen verdankten. An dieser Stelle war also die Kruste des Planeten Wenatchee sehr dünn und gab dem Druck des flüssigen Planeteninnern besonders leicht nach. Der Tiefseegraben verlief genau zwischen der Insel Vulkan Island und der offenen See. »Wenn es zutrifft, daß durch einen Spalt im Erdinnern Magma nachdrückt, dann müßte das geologi-
sche Alter der Gesteinsschichten zunehmen, je weiter sie von dem Graben entfernt sind«, sagte Helga Legrelle. »Die Kartographen und die später arbeitenden Vermessungsleute haben auch das klar herausgefunden.« »Obwohl«, schränkte Cliff ein, »die interessanten Schichten meistenteils von Lava bedeckt waren.« »Die Lava, auf der der Dschungel wuchert, ist eine halbe Million Jahre alt«, sagte Torrington. »Plus einiger Schichten, die erst einen Tag alt sind. Was sagen die ständigen Beobachter?« fragte Raghilt. Die Pioniere hatten weit draußen ein schnelles Boot magnetisch verankert. Einige Fachleute beobachteten unausgesetzt mit dem bloßen Auge, mit Feldstechern und mit telemetrischen Instrumenten den Vulkan und das Ende der Halbinsel, um bei deutlicher Gefahr sofort warnen zu können. »Bisher alles ruhig. Vielleicht haben wir Glück. Die Bauten wären ohnehin erdbebensicher hergestellt worden – das stand schon ganz am Anfang im Konzept des Projektes«, meinte Torrington. »Gut. Ich gehe jetzt, und wenn nichts passiert, bin ich heute abend wieder zurück!« Mario de Monti sah den Raguer an, der neben Cliff und Raghilt stand. Die Gruppe befand sich an einem schweren amphibischen Fahrzeug, das auch auf einem Antigravpolster ohne Bodenberührung arbeiten konnte; in der Technik ein halbes Raumschiff. Der Raguer, ausgerüstet mit nur wenig Instrumenten und einer Gasdruckwaffe, deren Schäftung speziell für ihn entwickelt worden war, tänzelte unruhig herum und zeigte Mario sein Gebiß. »Ich weiß, wie furchtbar du in deiner Wut bist«,
sagte Mario sarkastisch. »Lauf in den Urwald – vielleicht fängst du heute einen dieser Urwaldaffen.« »Vorsicht!« warnte Raghilt und strich nachdenklich über die silbergraue Lederhaut des Wesens. »Sie werfen mit Kokosnüssen.« »Und wie sich zeigte, sehr genau!« murmelte Prac'h. »Einverstanden. Aber entferne dich nicht allzu weit von der Piste. Ich möchte dich gern unversehrt wiedersehen.« Ohne Antwort lief das raubtierähnliche Wesen schnell und leichtfüßig davon. Der Raguer umrundete das Fahrzeug, rannte an einer Gruppe von Technikerinnen vorbei und lief auf das Ende der Piste zu. Er verschwand zwischen den frisch gegossenen Fundamenten der weiträumigen Verladeeinrichtungen. Die Arbeiten hatten schon seit dem frühesten Morgen angedauert, und stündlich zeigten sich wichtige Fortschritte. Die Pioniere hatten sich gefangen. Raghilt sah auf die Uhr und meinte: »Es wird langsam Zeit für Cliff und mich. Wir wollen versuchen, einige Bodenproben von dem gehobenen Kontinent einzubringen. Ihr kümmert euch um die Spitze der Arbeitsgruppen?« Mario de Monti saß bereits im Führerstand des schweren Wagens und winkte nach unten. »Ja. Und das besonders schnell.« Helga Legrelle, Naomi und Hasso kletterten nach oben und schlossen die allseitig transparente Kuppel. Cliff und Raghilt gingen einige Schritte zurück, und das kastenförmige Mobil setzte sich in Bewegung. Sechzehn kleine Räder mit übertrieben starkem Profil
drehten sich und trieben die Maschine nach vorn. Sie nahm denselben Weg, den auch der Raguer gelaufen war. Minuten später verschwand der silbergraue Wagen zwischen den Mauern des Urwaldes. »Merkwürdig. Alles ist leer. Niemand scheint da zu sein, und dennoch wird gearbeitet.« Cliff sah zu, wie die Robots, von denen die wenigsten menschenähnlich aussahen, arbeiteten. Sie waren für eine bestimmte Teilaufgabe innerhalb des Ganzen programmiert, und die einzelnen Programme griffen ineinander ein. Nur wenige Menschen waren zu sehen. Gerade startete ein leeres Raumschiff zurück nach einer der Basen, auf der es wieder beladen werden würde. »Unter Umständen können wir sogar die Termine halten«, sagte Cliff. »Gehen wir. Aber ... ich kann nicht tauchen, Raghilt. Das habe ich nicht gelernt.« »Ist auch nicht nötig. Ich brauche jemanden, der die Geräte bedient.« »Das werde ich können«, sagte Cliff. Sie gingen schnell zu der Anlegestelle hinunter, die in der kleinen Bucht zwischen Festland und Halbinsel untergebracht war. Dort waren auf einem schnellen, großen Motorboot die Geräte und die Ausrüstung untergebracht, die Raghilt benötigte. Cliff setzte sich hinter das Steuer, ließ die Turbinen an und brachte das Boot in einem verwegenen Manöver aus der Bucht hinaus aufs Wasser. Auch heute herrschte nur mäßiger Seegang. »Welcher Kurs?« fragte er. Raghilt gab die Gradzahlen an, und das Boot hob sich aus dem Wasser, zuerst vorn, dann stellte es sich hinten auf die Tragflügel, und zusätzlich zu den
Schrauben arbeiteten die Düsen. »Welche Entfernung?« »Siebzig Seemeilen!« »Also rund eine Stunde.« Während das lange Boot dicht über die Wasseroberfläche dahinraste, ging Raghilt hinunter in die Kabine und zog sich um. Sie testete ihre Geräte durch und kam wieder zurück, in einen orangegelben Schwimmanzug gehüllt. Nur die Flossen, die Maske und der schwere Gürtel fehlten. Sie setzte sich neben Cliff und sah von Zeit zu Zeit ins Wasser. »Immer geradeaus auf Kurs bleiben«, sagte sie. »Selbstverständlich, Kapitän La Grange«, sagte der Raumfahrer. * Seit der Zeit, als sich das Leben aus dem Wasser hob, mußte gerade dieser zweihundertfünfzig Kilometer lange und an seiner dicksten Stelle sechzig Kilometer breite Streifen Land fruchtbar gewesen sein. Gerade die Trennungslinien zwischen Wasser und Land waren besonders schön, gesund und boten vielen Tieren Schutz und Nahrung. Das war heute nicht anders als vor Millionen Jahren. Und irgendwann war hier eine intelligente Rasse aufgetaucht. Während der Raguer sich seinen Weg durch den Dschungel bahnte, dachte er darüber nach, woher diese Wesen gekommen waren. Waren sie aus den Affen herausgewachsen, also ein Endpunkt der Evolution? Oder stammten sie, wie viele andere Rassen, aus
der Vergangenheit und waren hier abgesetzt worden? Wie verlief die Kurve ihrer Entwicklung? Und zu welcher Klasse war dieses affenartige Wesen zu rechnen, das er gestern nacht verfolgt hatte? Commander Prac'h Glanskis lief weiter. Der Boden des Dschungels war hier mit einem dikken, weichen Teppich aus Blättern bedeckt, die wie abgebrochene Nadeln aussahen. Jahrhundertelang war dieser Teppich gewachsen, jedes Jahr ein paar Millimeter. Nichts wuchs hier, außer einigen Pflanzen mit pfahlartigen Wurzeln, die wie silberne Sonnenblumen aussahen. Zwanzig Kilometer weiter links arbeiteten die Pioniere an einem fast fertigen Teilstück der Piste, und weitere zehn Kilometer weiter rechts befand sich die zerklüftete Küste. Glanskis wußte nicht, was er suchte, aber er würde jede noch so winzige Beobachtung entsprechend auswerten. Jedenfalls strebte er jetzt in sehr schneller Gangart einen Weg zum Ufer an. Wenn sich Reste einer intelligenten Rasse erhalten hatten, dann in unmittelbarer Nähe des Wassers. Schräg vor ihm ragte der Mount Throne auf. Ein riesiger Berg mit glatten Flanken, auf denen sich dreieckige Bewuchszonen abzeichneten. Glanskis blieb stehen, als er den Rand einer Lichtung erreichte und zog aus einer der Taschen das zusammenschiebbare Fernrohr hervor. Er suchte die Flächen vor sich ab, die im vollen Morgenlicht lagen. Felsen in allen Formen und Farben. Je höher sich die Pflanzen hinzogen, desto kleiner wurden sie. Aber knapp unterhalb des Gipfels, vielleicht zweihundert Meter darunter, entdeckte Glanskis eine Insel von riesigen, alten Bäumen und vielen
dunkelgrünen Büschen. Das Gebiet lag im Windschatten; wenn der häufige Westwind ging, dann erreichte er diese Baumgruppe nicht. Der Raguer merkte sich diese Beobachtung, steckte das Fernrohr wieder zusammen und lief weiter. Einige Minuten später stemmte er alle vier Beine gleichzeitig gegen den Boden und bremste seine rasenden Sprünge in einer Wolke aus hochgerissenen Nadeln ab. Vor ihm hörte der Dschungel auf. Zwischen den Stämmen, die hier ziemlich kümmerlich wuchsen, war eine Gasse von etwa zwölf Metern Breite. Der Königspfad? »Schon möglich«, sagte der Raguer. Er lief langsam näher, blieb in der Mitte des unbewachsenen Streifens stehen und sah, daß hier eine dicke Schicht angewehter Nadeln jedes Wachstum unmöglich gemacht hatte. Weiter vorn, in Richtung zum Ufer, wuchsen vereinzelte Grasbüschel. Der Raguer setzte seine Krallen ein und wühlte in die Nadeln eine Grube hinein, er bewegte die Vorderpranken rasend schnell, wie ein grabender Hund, und die Nadeln und Erdreich, kleine Steine und faulendes Holz flogen in hohem Bogen nach hinten. Minuten später hatte Glanskis eine Reihe prismatischer Steine freigelegt. »Ja. Er biegt hier ab.« Der Raguer war wie alle anderen, die sich mit diesem Projekt beschäftigten, der Überzeugung, daß der Königsweg sich in Längsrichtung durch die gesamte Halbinsel hinzog. Vermutlich befand er sich auf einer Abzweigung. Ohne Zweifel hatte dieser Nebenpfad ein Ziel. Gleichzeitig mit dieser Überzeugung erfaßte den Raguer ein deutlicher Verdacht.
»Ich werde beobachtet!« sagte er. Nichts regte sich. Die unzähligen kleinen Tiere, von denen er viel hörte, aber kaum etwas gesehen hatte, schwiegen jetzt, als sei ein riesiges, schreckliches Tier aufgetaucht, vor dem sie Angst hatten. Vor Glanskis hatten sie sich bisher nicht gefürchtet. Er lief langsam weiter. Jetzt nach Norden, eindeutig der Küste entgegen. Der Streifen unbewachsenen Bodens schlängelte sich entlang der Lavafelsen, die schon jetzt eine dumpfe, feuchte Hitze verströmten. Der Königspfad beschrieb eine Kurve, dann schwang er sich über einen mächtigen Lavawall, sank auf der anderen Seite wieder herab und unterquerte eine schwere, wuchtige Lavabrücke, die aussah, als sei sie aus riesigen Tropfen geschmolzenen Wachses zusammengesetzt. Ihr Kamm war bewachsen, und ein Schleier von stark riechenden Pflanzen hing herunter. Glanskis warf sich durch diesen natürlichen Vorhang, setzte wieder auf und sprang nach links. Etwas hatte ihn gewarnt. Vielleicht ein Geräusch oder etwas, das er gesehen, aber nicht richtig identifiziert hatte. Keine Sekunde zu früh. Ein polyedrischer Stein prallte mit furchtbarer Wucht genau auf die Stelle auf, an der er sich eben noch befunden hatte. Glanskis zog die Gasdruckwaffe aus der Spezialhalterung und duckte sich zwischen die Pflanzen und die scharfkantigen Lavablöcke. Er wartete. Die Stille war beängstigend. Sämtliche Sinne des raubtierartigen Wesens waren aufs äußerste angespannt, und die Finger, die sich zwischen den Ballen der Pranke hervorgeschoben hatten, umfaßten die Waffe. Mindestens zwei Minuten vergingen, dann
bewegte sich zwischen den Gewächsen am Kamm der Lavabrücke etwas. Zwei oder drei schwere Gestalten huschten dort vorbei, bogen die Sträucher und Lianen zur Seite, und dann sprang aus fünf Metern Höhe einer der Fremden auf den Boden. Er drehte sich rasend schnell um sich selbst und erstarrte, den Blick auf Glanskis gerichtet. Der Raguer sah das Wesen scharf an. Seine großen Augen hinter der kuppelartigen Hornschicht zwinkerten nicht einmal. Sie bohrten sich förmlich in den unsteten Blick des großen, schlanken Wesens, das sich sechs Meter von ihm entfernt befand. War es ein Affe – oder etwas, das auf diesem Planeten diesem Vergleich entsprach? Oder war das Wesen tatsächlich intelligent. Auf alle Fälle war es nackt. Ohne Kleidung. Ein Merkmal, das nicht unbedingt für den Status des Primaten sprach. Ein Körper von rund zweihundertdreißig Zentimeter Größe. Dunkelbraun behaart, mit einem kurzen Fell, das an einigen Stellen abgeschliffen war, an anderen wieder fast blauschwarz. Unter den Achseln, an den Schultern und in der Leistengegend. Große, bewegliche Ohren richteten sich jetzt auf den Raguer. Die Augen lagen unter tiefen Brauenwülsten, die Nase war platt und klein und mit riesigen Nasenlöchern, aus denen ein pfeifender Atem kam. Das Kinn war wuchtig und breit, die Zähne des Gebisses sagten einiges über die Nahrung aus. Fleischfresser und Vegetarier zugleich. In der Hand hielt der Riese mit den langen, schmalen Muskelsträngen unter dem Pelz einen riesigen Flintstein mit frisch abgeschlagener Doppelklinge. Obsidian oder ein ähnliches Material.
Vorsichtig erhob sich Glanskis auf drei seiner Pranken. Das fremde Wesen machte entsetzt einen senkrechten Satz von mindestens einem Meter Höhe, dann schwenkte es die Arme und begann zu kichern. Der Laut war so plötzlich und unerwartet gekommen, daß der Raguer kurz erschrak. Langsam ging das Wesen rückwärts, bis es an den Pflanzenvorhang stieß. Immer noch schnatterte es grell und hoch. Der Laut konnte Wut oder Angst gleichermaßen ausdrükken. Prac'h bewegte den Kopf, und seine Augen suchten die Umgebung um ihn herum und über sich ab. Nichts. Nur direkt vor ihm, auf der Lavabarriere, bewegten sich die anderen Tiere. Der Raguer machte einen Versuch. Er sagte langsam: »Ich bin nicht dein Feind, Fremder.« Das kichernde Schreien vor ihm steigerte sich bis zur Unerträglichkeit. Prac'h hatte den deutlichen Eindruck, als ob das Tier wahnsinnig zu werden drohte. Dann brach das schreiende Kichern ab, und mit einem Satz stolperte das braunhaarige Wesen durch den Pflanzenvorhang. Von oben wurden Holzstücke und Nüsse geworfen, aber der Raguer wurde nicht getroffen. Langsam stand er auf, wagte sich aus seiner Deckung hervor und lief schnell einige fünfzehn Meter weiter dem Ufer zu. Die Fremden waren verschwunden. »Wenn ich das erzähle, wird es wieder niemand glauben können«, sagte er leise zu sich. »Mehr als merkwürdig.« Auch er hatte vollkommen vergessen, eines der
Wesen zu lähmen, um es in Ruhe untersuchen und gegebenenfalls Kontakt aufnehmen zu können. Er steckte die Waffe wieder in die Tasche des Traggeschirrs zurück und sicherte sie gegen das Herausfallen. Dann, nach einem langen Blick zurück, setzte er sich wieder in Marsch. Er hatte jetzt den Eindruck, daß diese Wesen die Straße bewachten. Warum taten sie das? Hatten sie Angst, daß die Eindringlinge etwas entdeckten, das sie besser nicht sehen sollten? Cliff war angegriffen worden, als er den Hafen erkundete, und jetzt dieser Zwischenfall – der Raguer wußte nicht, was er davon halten sollte. Er verschob jeden weiteren Versuch der Analyse auf einen späteren Zeitpunkt und rannte weiter. Wie ein hungriges Raubtier bewegte er sich am äußersten Rand des Königspfades, dicht neben dem Dschungel, der hier allerdings den Charakter eines offenen Hochwaldes hatte. Der Weg führte in verwirrenden Windungen ständig bergauf. Eine Stunde verging, ohne daß etwas geschah. Dann, nach einer letzten Biegung entlang der Flanke von Mount Throne, stand der Raguer vor dem zyklopischen Bauwerk. »Phantastisch!« sagte er. Der Ausblick war einzigartig, und der Grund, weswegen ihn niemand kannte, war ebenfalls klar. Hier riß der Berghang plötzlich ab und fiel steil bis zum Wasserspiegel einer kreisrunden Bucht. Zwei Drittel der Bucht waren von dieser natürlichen Mauer abgeschirmt, und das letzte Drittel führte zwischen Felsen in einem engen Kanal hinaus zur See. Vermutlich war die Einfahrt so schmal, daß man sie selbst aus größter Nähe übersah. Die Bucht selbst war in
drei terrassenartige Abschnitte eingeteilt. Der oberste war bewachsen, und zwischen den Pflanzen, die hier üppig wuchsen, sah Glanskis die Reste von niedrigen Mauern. Diese Zone war durch eine bewachsene Ringmauer von der nächsttieferen Terrasse getrennt, und an vielen Stellen führten Treppenanlagen hinunter. Die Steinmauern und Pfeiler überwanden einen Höhenunterschied von rund fünfzehn Metern. Die tiefere Ebene stand unter Wasser. Auch hier hatten die Brecher, die der hochgehobene Kontinent ausgelöst hatte, das Gelände überflutet. Fische lagen herum und stanken in der Sonne. Aber trotzdem waren noch die Anlagen zu sehen, die den mächtigen Widerpfeiler für die Brücke bildeten. Die Brücke. Sie begann zwei Meter vor Glanskis und führte wie ein halbierter Regenbogen bis auf die Insel innerhalb der Bucht hinunter. Die Insel war nicht groß, von ihr bis zum Rand der Bucht zog sich ein Viadukt hin, der ebenfalls mit Meerespflanzen bedeckt war. Also hatte sich auch dieses Gelände um einen geringen Betrag gehoben – gestern morgen. Die Brücke schien zu zerbrechlich und zu grazil zu sein, als daß sie den Raguer tragen konnte. Aber die einzelnen Bögen bestanden aus ineinandergehängten Lavasteinen. Blitzartig huschte ein Gedanke durch die Überlegungen des Raguer. Er hatte sich vor Tagen mit Cliff unterhalten. Dabei hatte er, rein zufällig, gehört, daß vor vielen Jahrhunderten Steine mit Metall verbunden worden waren. Vielleicht auch hier. Jedenfalls hatte diese Brücke den Jahrtausenden ohne nennenswerten Schaden widerstanden. »Los, hinunter!«
Dort, wo die Brücke und der anschließende schmale Viadukt das Festland berührten, stand ein Bauwerk, das wie ein antiker irdischer Tempel wirkte. Der Raguer lief langsam bis zum Scheitelpunkt der Brücke, und zwischen einzelnen herausgebrochenen Steinen entdeckte er, daß seine allererste Vermutung richtig gewesen war. Hantelartige Metallklammern verbanden die Steine, die entsprechend ausgehöhlt waren. Da das Metall federte und die Steine nicht besonders groß waren, hatte diese Bauweise eine kleine Ewigkeit aushalten können. Gras und Pflanzen, kleine Bäume und viele dunkelblaue Büsche wucherten zwischen den Steinen. Prac'h glitt vorsichtig über den Scheitelpunkt hinweg und kletterte dann die breiten Stufen hinunter. Viele waren geborsten, einige mit Platin überzogen und unbewachsen, sie glänzten im Sonnenlicht. Die Strahlen erreichten eben das Wasser des sandigen Ufers. Zwischen den Wellen und der untersten Steingalerie befand sich ein dicker, fast schwarzer Wall von Schwemmgut, das über Jahrtausende hinweg immer wieder angeschwemmt und weggerissen worden war. Meter um Meter wand sich jetzt eine Wendeltreppe nach unten. Eine seltsame Stimmung überkam Glanskis. Er drang in eine Zone ein, die einmal Zentrum des Lebens gewesen war. Jetzt herrschte hier eine kühle, mythische Atmosphäre. Das, was er sah, war seit Jahrtausenden unbewohnt gewesen. Irgendwann hatten hier Menschen oder Menschenähnliche gelebt, gearbeitet und sich gesonnt. Sie hatten auch den Tempel gebaut und diese Brückenkonstruktion. Endlich war er unten.
Hier roch es nach Brackwasser, faulendem Fisch und verdorrenden Pflanzen. Er musterte die Anlage am Fuß der spiraligen Konstruktion. Sie bedeckte die gesamte Insel. Die Bucht durchmaß etwa zweitausend Meter. Hundert Meter von der senkrecht abfallenden Wand entfernt befand sich die Insel. Sie hatte einen Durchmesser von mehr als fünfzig Metern. Das Urgestein, aus dem sie bestand, war mit der seltsamen, prismatischen Struktur der zyklopischen, polyedrischen Bauweise bedeckt, sah aus wie eine Scheibe. Überall sah Glanskis die Metallklammern, von denen nur wenige verrostet waren. Sie konzentrierten sich zum Mittelpunkt und verschwanden im Schaft der Wendeltreppenanlage. »Sie waren jedenfalls begnadete Baumeister!« sagte er leise. Überall lagen tote Meerestiere herum und faulten in der Sonne. Ihre farbenprächtigen, bizarren Formen hatten die Leuchtkraft verloren und verdorrten langsam. Ein stechender Jodgeruch breitete sich aus. Schwärme von Fliegen und Insekten erzeugten Geräusche, als ob hier schwere Aggregate laufen würden. Glanskis drehte sich herum und watete durch den Schlick und die Algen auf der Oberfläche des Viaduktes. Hier waren auf Pfeiler aus gerundeten Steinen, die mit breiten Metallbändern befestigt waren, dicke Lavaplatten gelegt worden. Einige mußten schon vor langer Zeit geborsten sein, andere wieder zeigten sich unversehrt. Etwa dreihundert Meter weit führte der Viadukt auf die unterste der ringförmigen Ebenen. Das Funkgerät, das an Prac'hs linkem Oberschen-
kel angeklammert war, summte auf. »Ja?« meldete sich das Wesen vom Planeten Terrossian. »Hier Cliff und Raghilt. Wo steckst du, Glanskis?« Er sagte es ihnen. »Ich bleibe heute hier«, fuhr er dann fort, und ohne die Antwort abzuwarten: »Ihr solltet ebenfalls hierher kommen. Ich habe eine ganze kleine Stadt gefunden und einige Attraktionen, die auch euch interessieren werden. Wie geht es mit eurer Arbeit?« Cliff meinte trocken: »Raghilt taucht, und ich bediene die Hilfsgeräte. Wir kommen ebenfalls mit ausgezeichneten Nachrichten zurück.« »Ich werde euch jetzt schildern, wie ihr fahren müßt«, sagte der Raguer. Während er mitten auf dem Viadukt stehenblieb, schilderte er ihnen die Bucht und die Möglichkeit, sie von der Wasserseite her zu betreten. Er schloß mit dem Hinweis auf den Tempel, den er in Kürze betreten würde. Cliff war hochinteressiert und versprach, so schnell wie möglich zu kommen. »Ende, Cliff?« »Ende. Paß auf, daß dir nichts geschieht!« »Selbstverständlich.« Jeder weitere Schritt scheuchte riesige Schwärme von Fliegen auf, die metallisch glänzten. Sie versuchten, sich auf der Haut des Raguer niederzulassen, aber sie war zu dick und zu glatt. Langsam kam das Ende der Platten in Sicht, dann betrat der Fremde das Ufer. Direkt vor ihm ragten die glatten Mauern des tempelartigen Bauwerkes hoch.
»Nur Mut!« murmelte Raguer. Ein kastenförmiger, flacher Bau mit falschen Säulen an der Front. Auch hier waren einzelne Steine mit Edelmetall verblendet. Glanskis ging näher heran. Als er vorsichtig über die einzelnen Steinebenen nach oben ging, verschoben sich die Perspektiven. Die Säulen warfen harte Schatten, und der Raguer sah, daß die Mauern vollkommen glatt gearbeitet waren. Außerdem waren dort wo sie an den Innenraum stießen, große Öffnungen. Sie hatten verhindert, daß der Innenraum voll angeschwemmtem Sand oder Schlick war. Zwischen zwei Säulen entdeckte Prac'h einen Eingang. Die Türflügel waren aus Holz gewesen, und jetzt waren nur noch die Angeln zu sehen. Sie waren oxydiert und stark von der Korrosion zerfressen. »Vorsicht.« Der Raguer nahm die Waffe in die Hand und schob sich an der Säule vorbei zum Eingang. Als er ihn erreichte, wurde er geblendet. Irgendwo vor ihm stand eine starke Lichtquelle. Er schloß die Augen und bewegte sich entlang der Innenwand nach links. Die Blendung hörte sofort auf. Als Glanskis wieder die Augen öffnete, sah er die Anlage etwas genauer. Sie war oben geöffnet. Es gab kein Dach. Es hatte auch niemals eines gegeben. Immer stärker wurde die Überzeugung, daß es sich wirklich um eine Art Sakralbau handelte. Zuerst sah er die Säule in der Mitte des Raumes, dicht vor der Stirnwand. Sie trug untereinander sieben runde Konkavspiegel, die aus Platin bestanden. Diese Spiegel waren so ausgerichtet, daß sie zu ver-
schiedenen Sonnenständen genau in den Eingang hineinleuchteten. Sie fingen das Sonnenlicht ein, bündelten es und warfen es in diese Richtung. Zweifellos überlappten sich die Wirkungsbereiche, so daß fast den ganzen Tag über jeder, der hier eintreten wollte, geblendet wurde. »Faszinierende Idee. Dumm waren sie auf keinen Fall!« sagte der Raguer. Er sah sich weiter um. Das Tageslicht kam nicht nur von oben, sondern auch von allen Seiten, nämlich durch die Aussparungen an den Unterkanten. Auch der Boden war spiegelglatt. Der Wind und zuletzt das Wasser hatten nicht zugelassen, daß sich Ablagerungen bildeten, auf denen Grassamen oder kleine Pflanzen wuchern konnten, die später zum Nährboden für größere Bäume oder Büsche hätten werden können. In halber Höhe der Mauern zog sich ein Band aus Halbreliefs hin; es war auf den ersten Blick völlig erhalten. Offensichtlich begann es links neben dem einzigen Eingang, der ebenso hoch und schmal war wie die Pforten im alten Turm des Hafens. »Bilder ...?« Glanskis richtete sich auf, legte die Vorderbeine an die Wand und betrachtete das Fries. Es zeigte, zwar roh und wenig künstlerisch, aber von seltsamer Eindringlichkeit einer natürlich empfundenen Welt, offensichtlich das Medium Wasser in verschiedenen Versionen. Zuerst als Welle, dann als Medium für Fische und Tang, schließlich als Brandung. Sehr naturalistisch aufgefaßt, mit wenigen sparsamen Linien aus dem obsidianartigen Stein des Vulkans geschnitten und anschließend hochpoliert. Das vierte Bild
zeigte etwas, das wie ein Pseudopodium aussah. »Wenn das der Kommandant sieht, wird er glatt wahnsinnig!« sagte Glanskis laut. »Das ist die Darstellung des Momentes, wie sich das Leben aus dem Wasser auf das Land hinaus fortsetzt. Alle Achtung vor den ausgestorbenen Wesen hier. Sie waren wirklich intelligent.« Die Bilderreihe setzte sich fort. Das nächste Bild zeigte, wie ein urweltlicher Fisch sich auf das Land hinauswagte und in der heißen Sonne elend zugrunde ging. Ein anderes Lebewesen offensichtlich erreichte den Rand des Dschungels. Die folgenden Darstellungen schilderten, ständig besser werdend und feiner gearbeitet, wie sich in verschiedenen Stufen der Evolution endlich das Intelligenzwesen des Planeten erhob. Die letzten Passagen schilderten den Bau erster, primitiver Behausungen, wohl auch auf dieser Halbinsel, und das letzte Bild zeigte den Bau dieses Tempels. Glanskis verweilte vor dem vorletzten Bild. Es zeigte den Typ der Planetarier von Wenatchee. Gewisse Ähnlichkeiten zu den affenartigen Wesen, die ihn überfallen hatten, waren vorhanden. Die Größe war das erste und wichtigste Merkmal. Die Planetarier mußten mindestens zweieinhalb Meter groß gewesen sein. Bei Cliff hatte Glanskis gewisse Bilder aus Ägyptens altem Reich gesehen – so ähnlich hatten sich diese Wesen auch dargestellt und geschildert. Sie waren ohne Fell. Ferner waren sie nicht ganz nackt, aber sie schienen zur Zeit, als diese Bilder entstanden waren, noch immer ein sehr inniges Verhältnis zum Wasser gehabt
zu haben. Kein Bild war ohne wenigstens symbolischen Bezug zum Wasser. Sonst war in dieser Erinnerungsstätte nichts mehr enthalten. Der Raguer ging langsam durch das Lichtbündel hinaus in den Gestank und die Hitze des späten Vormittags. Hier unten, am Grund der Felsabstürze, herrschte die Vergangenheit. Nur die Pflanzen lebten; kein einziges großes Tier war zu sehen außer einigen faulenden Fischen. Die Wellen schlugen glucksend gegen die Mauern, der Schlick trocknete aus, und rundherum sah man die Linien der verschiedenen Wasserstände. Glanskis wartete auf Cliff. * Cliff sah, wie durch die verzerrenden Linien des Wassers ein orangefarbener Körper nach oben trieb. Die großen Schwimmflossen bewegten sich wie die eines Fisches oder eines großen Meeressäugetieres. Er hielt die Leiter fest und half Raghilt ins Boot. Sie schob die Maske vom Gesicht, und Cliff drehte die Hähne der Gasflaschen zu. Raghilt atmete ein und aus und sagte mit rauher Stimme: »Ich kann die Fische wirklich nicht begreifen – was sie an einem Daueraufenthalt im Wasser finden, wird mir immer unverständlich bleiben.« Cliff grinste und nahm ihr den schweren Gürtel und die Flaschen ab. »Etwas herausgefunden?« Raghilt deutete auf die See hinaus. Dort schossen jetzt die Bojen auf, an denen die Detektoren hingen. »Das war der letzte Vorstoß. Die Lage der einge-
zeichneten Felder von Schwerkonzentratsänden hat sich nicht geändert. Aber die Metalle und Minerale, die darin enthalten sind, zeigen nach meinen Analysen eine weitaus höhere Konzentration. Außerdem habe ich einige Dinge festgestellt, die den Bearbeitern entgangen sind. Ich hatte mehr Proben, die ich untersuchen konnte.« Cliff warf ihr das riesige weiße Badetuch zu und murmelte: »Es ist die alte Geschichte. Die Kolonisation wird einfach zu überhastet vorangetrieben. Übrigens – wir fahren heute nicht zurück zum Lager.« Sie zog überrascht die Brauen hoch. »Sondern?« »Der Raguer hat einen Tempel entdeckt, beziehungsweise eine Anlage, die ebenso alt ist wie der Hafen. Die Bilder dort schildern, daß diese Rasse erkannt hat, daß sie aus dem Wasser kam.« »Ist er angegriffen worden?« fragte Raghilt. Sie trocknete sich flüchtig ab und verschwand nach unten, um sich umzuziehen. Cliff schaltete die Maschinen an und fuhr nacheinander die zehn Bojen an, holte sie und die daran hängenden Instrumente ein und suchte dann auf der Karte den Kurs, der las Boot in die Nähe der kleinen, neuentdeckten Bucht bringen würde. Raghilt setzte sich neben ihn und half ihm. »Soll ich ein paar Konserven öffnen?« fragte sie. Cliff schüttelte den Kopf. »Koche Kaffee«, sagte er. »Wir laufen jene Bucht an und bleiben dort. Dann haben wir Zeit und Gelegenheit, etwas ausführlicher zu tafeln. Ich glaube auch, daß uns der Appetit vorübergehend im Stich lassen
wird, wenn das alles wirklich so sensationell ist, wie Glanskis sagte.« »Gut. Einverstanden.« Die Instrumente hatten sich selbst ihren Weg gesucht. Ihre mechanischen Greifer hatten die Knollen der ausgeschiedenen Metalle an sich gerissen und einige von ihnen gespeichert. Eine Qualitätsanalyse hatte bereits überraschende Ergebnisse erbracht, jetzt besaßen sie mindestens dreißig verschiedene Metallkonzentrationen von sechzehn verschiedenen Fundorten. Cliff und Raghilt öffneten die Behälter und legten die schweren Knollen, die fast so groß wie kleine Orangen waren, in einen Probenkasten. Langsam trieb das Boot den alten Kurs zurück. »Mädchen«, sagte Cliff nachdenklich. Sie hob die Brauen und sah ihn schweigend an. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Cliff sehr leise. Raghilt hob die Schultern und breitete die Arme aus. »Ausgezeichnet. Meine Aufgabe hier ist nach der Analyse beendet. Merkwürdig, daß du immer wieder in dieses alberne ›Sie‹ zurückfällst.« Cliff grinste kurz. »Es ist meine sprichwörtliche Scheu vor gutaussehenden Mädchen«, sagte er. »Besonders während Ausnahmesituationen auf fremden Planeten.« »Das glaubst nicht einmal du selbst«, sagte sie. »Mit oder ohne Zucker?« »Mit«, sagte der Kommandant. »Bin ich auf dem richtigen Kurs?« Sie war inzwischen in der Kabine und kippte den festgemachten Kanister. Aus dem Rohrstutzen rann Frischwasser in einen Topf.
»Bei mir?« fragte sie. Cliff setzte die Geschwindigkeit des Bootes um einige Seemeilen hinauf und beobachtete die Kompaßanzeige. Fern am Horizont tauchte links von der dünnen, blauschwarzen Rauchwolke des Vulkans das Festland wieder auf. Es begann der kurze Abend der Äquatorialgegend. »Unter anderem Südost zu Ost?« »Richtig. Immer schön gerade.« Cliff fragte: »Bei dir?« »Das auch«, sagte sie. Später, als es etwas kühler wurde und sie sich die orangefarbenen Jacken anzogen, um sich gegen den schneidenden Fahrtwind zu schützen, kam Raghilt mit zwei Bechern wieder in den Steuerstand. Sie setzte sich neben Cliff auf den breiten Sitz und lehnte sich an ihn, bis sie vorsichtig in den Fjord einbogen, der sie zu der Bucht führte. Cliff bremste mit rückwärtslaufenden Schrauben und steuerte das Boot an die Stelle des Viaduktes, an der der Raguer ungeduldig auf sie wartete. Die Tampen flogen vom Vorschiff, und Glanskis befestigte sie zwischen den Steinen an den Metallspangen. »Tatsächlich«, sagte Raghilt, »ein Tempel.« Cliff belegte das Schiff auch achtern und kletterte auf die Steine. Er streckte den Arm aus und half Raghilt an Land. Schlagartig kam die Erinnerung an die Adria wieder und an viele ähnliche Manöver. Sie gingen nebeneinander auf den Tempel zu, im Licht des Abends sahen sie die Reliefs an den Wänden und erkannten, daß diese Rasse geradezu unglaublich intelligent gewesen sein mußte.
Cliff sagte später: »Es waren nur wenige. Und sie haben sich extrem schnell entwickelt. Offensichtlich begriffen sie viele Dinge weitaus schneller als damals der primitive Mensch. Und sie begriffen auch, daß sie aus dem Wasser kamen. Ihre Nachkommen lebten nur an Land. Degenerierten sie deswegen?« »Es ist zu denken«, sagte der Raguer. »Habe ich bei euch an Deck noch einen Platz, an dem ich schlafen kann?« »Natürlich.« Sie machten, solange es das schwindende Licht noch gestattete, einen Spaziergang durch das verwilderte Gelände und wuschen dann ihre Stiefel in der Bucht ab. Als auf dem Boot die wenigen Lichter ausgeschaltet wurden, standen oben am Abfall der Felsen die schwarzen Gestalten der Affenartigen. Sie stierten auf das Boot herunter. Schließlich, gegen Mitternacht, riß das gellende Gelächter die Terraner und das Wesen von Terrossian aus dem Schlaf. Es war gespenstisch.
6 Drei Tage später: Die Piste nach Mount Sage II führte durch eine trostlose Einöde von faszinierender, wilder Schönheit. Hier waren die schweren, schildkrötenartigen Rodungsmaschinen sinnlos geworden. Einhundertachtzig Kilometer fertiger Piste lagen zwischen dem Raumhafen und dem kleinen Lager des Vorauskommandos. Die letzten fünf Kilometer waren noch nicht eingeebnet worden. Die Maschinen kämpften sich aus dem Tal des Dschungels über die Flanke des Berges hinauf, Meter um Meter. Sie traversierten den Berghang und mußten Mount Sage II fast um zwei Drittel umrunden, ehe sie durch das Tal den nächsten Berg erreichten. Die Planer hätten es vorgezogen, den Raumhafen wesentlich weiter in der Nähe von Vulkan Island anzulegen, aber das war so gut wie unmöglich. Die sechs rissigen, schroffen Erhebungen hätten die Starts und Landungen der Robotschiffe unmöglich gemacht. »Dort müssen wir hinauffahren!« sagte Mario de Monti. Er deutete nach vorn. Eingehüllt in eine Wolke schwarzen Staubes und brodelnden schwarzen Gases arbeitete die riesige Felsfräse. Durch Laserstrahlen gesteuert, operierte auch sie mit Overkill-Projektoren. Der Aufenthalt in ihrer Nähe war lebensgefährlich. »Kannst du nicht auf Schwebebetrieb umschalten?« fragte Helga. Die Räder des Fahrzeugs wirbelten schwarze Staubwolken auf. Die Sicht wurde behin-
dert. Bald sah die Crew wie in Tusche getaucht aus. »Nein. Zu steil. Ich unterstütze schon mit dem Sperrgetriebe.« Die mächtige Maschine vor ihnen schnitt ein Rastermuster in die Felsen, fuhr dann Arme aus und schnitt quer vor sich, neunzig Grad versetzt, eine zweite Linie durch die Felsen. Aus den Rastervierekken wurden Würfel aus Fels, die von dem Pflug des Gerätes weggeschoben wurden. Sie rollten die Felswand hinunter und fielen in den Dschungel und den schmalen Cañon hinunter. »Wir haben einen Hafen und einen Tempel und Gartenanlagen gefunden. Wo haben eigentlich diese ersten Planetarier gewohnt?« Hasso sah Naomi an. »Keine schlechte Frage. Genau danach suchen wir jetzt. Leider steht unsere LANCET uns erst in wenigen Minuten zur Verfügung, nämlich, wenn wir einen geeigneten Landeplatz ausfindig gemacht haben.« Cliff startete gerade jetzt vom Raumhafen aus mit der LANCET. Sie wollten heute nachsehen, aus welchem Grund gerade unterhalb des Gipfels von Mount Throne eine derart auffällige Konzentration hoher und alter Bäume beobachtet werden konnte. Da sich hier im letzten Abschnitt der Straße nur geringe Landemöglichkeiten boten, fuhren sie von der Stelle, an der sie übernachtet hatten, talwärts bis zum Ende der ausgebauten Piste. »Vorsicht. Du wirst sonst in Würfel geteilt«, sagte Raghilt. Mario bremste und rief dann über Funk den Fahrer der riesigen Maschine an. Er sollte sie für einige Mi-
nuten abschalten, bis sie mit dem Wagen vorbeigefahren waren. Der Fahrer verstand, lenkte seine Maschine dicht an die Felswand und stellte die OverkillProjektoren ab. »Danke.« Über die holperige, teilweise abschüssige Fläche steuerte Mario de Monti den Wagen vorsichtig an dem Giganten vorbei, sah, daß feiner Schotter den Rest der Straße bedeckte und gab Gas. Er stob in einem geradezu kriminellen Tempo abwärts und bremste schleudernd, als er zwischen den Fahrzeugen am Ende der weißen Piste stand. »Ohne Schonung von Mensch und Gerät!« sagte Raghilt vorwurfsvoll. »Du wärst der richtige Skipper für die DEEP BLACK SEA!« Mario lachte sie an. »Danke, kein Bedarf. Ich verlasse mich ungern auf den Wind. Zwischen den Sternen hat man auch nur seine Maschinen.« »Diese Raumfahrer!« entrüstete sich Naomi. Sie stiegen aus. Mario fuhr den Wagen zwischen die geparkten kleinen Fahrzeuge, begrüßte einige der Pioniere und versuchte, mit der Fähigkeit des Bishayr festzustellen, ob sie noch von diesen unbewußten Ängsten heimgesucht wurden. Er entdeckte nichts. Auch Naomi, die die Natur ihrer Gedanken las, entdeckte keine untergründigen Ängste mehr. Es sah so aus, als ob sich die Männer nur ihrer Aufgabe widmeten. Wenn das aber in regelrechte Arbeitswut ausartete, dann bedeutete es auch wieder deutliche Gefahr. »Nichts!« sagte Naomi leise zu Mario. Der Erste Offizier nickte ihr zu.
»Alles klar – bisher. Wir sind aber noch lange nicht fertig.« »Das weiß ich. Es kann sich innerhalb von Stunden ändern.« Sie gingen in den Schatten. Fünf Terraner, die hier keine deutlich definierte Aufgabe hatten und versuchten, dieser Halbinsel Stück für Stück ihres Geheimnisses zu entreißen. Hasso beobachtete den Rand des Urwaldes. »Insgesamt fünfzehn Überfälle durch diese verwilderten Affenmenschen«, sagte er. »Und – nicht einmal machte jemand den Versuch, einen der Angreifer zu betäuben. Wir müssen einfach herausfinden, ob sie Tiere oder Intelligenzen sind.« Raghilt deutete nach oben. »Vielleicht gelingt es mit Hilfe von Cliffs LANCET«, sagte sie. Langsam landete das Beiboot. Cliff und der Raguer befanden sich darin, und die anderen Mitglieder des Teams kletterten an Bord. Es wurde sehr eng, denn eigentlich war die LANCET nur für vier Personen eingerichtet. Cliff wartete, bis alle saßen – Raghilt kauerte auf dem Rücken von Glanskis, der neben der offenen Schleuse lag. Dann schaltete Cliff, schloß die Schleuse, und schwerfällig hob das Beiboot ab. »Bitte achtet darauf, ob hier irgendwo diese Steinzeitler herumturnen«, sagte der Kommandant. »Ich möchte nicht, daß während des sechzehnten Überfalls wirklich etwas passiert.« Die verschiedensten Gruppen waren überfallen worden. Es sah deutlich danach aus, daß diese rätselhaften Wesen mit den Flintsteinen und ihrem braunen Fell
die Ränder des Königspfades bewachten. Die Crew oder einzelne ihrer Mitglieder und auch vereinzelte kleine Pionierabteilungen waren überfallen und mit Nüssen, Steinen und Holzknüppeln beworfen worden. Immer dann, wenn sie sich zu wehren begannen, flohen die Fellwesen unter gellendem Kichern. »Ich vermute, daß eine Art Kollektiverinnerung sie an die gepflasterten Pfade bindet«, sagte Raghilt. »Nach so langer Zeit?« wandte Helga ein. »Wir wissen nicht, was seit dem Aussterben der wirklichen Planetarier und heute geschehen ist. Vielleicht finden wir noch Informationen. Undenkbar jedenfalls bleibt für mich, daß vor zehn oder fünfzehn Jahrtausenden die Rasse schlagartig ausgestorben sein soll.« Hasso zuckte die Schultern und beobachtete die kahlen Berghänge, die vorbeihuschten. Der Schatten des kugelförmigen Beibootes turnte über die Felsritzen und die Vorsprünge. »Höhe?« fragte der Raguer. »Einundzwanzighundert Meter«, sagte Cliff, nachdem er einen schnellen Blick auf die Instrumente geworfen hatte. »Das ist ungefähr die Höhe, die ich geschätzt habe. Gehe um den Berg herum«, sagte Glanskis fast gleichgültig. »In Ordnung.« Die LANCET schlug einen Kurs ein, der sie dreißig bis fünfzig Meter von dem Felsmassiv entfernt um den Gipfel herumbringen würde. Fast sechshundert Meter unter dem Beiboot verlief die Wachstumsgrenze in Form von niedrigen, verkrüppelten und winderodierten Dschungelpflanzen. Dann kam die erste
Mauer in Sicht. Sie war fast ohne Übergang auf einen Felsvorsprung gebaut und folgte den Windungen der Lavafelsen. Auch dieser Berg war das Werk eines vorzeitlichen Vulkans. »Hier ist es.« Ruhig traf Cliff die Feststellung. Er drehte sich halb in seinem Sessel und studierte die Mauer und die Felsvorsprünge. Auch hier oben erhob sich ein zyklopisches Bauwerk. Dahinter waren die Bäume. Cliff zog die LANCET um dreißig Meter höher und schwebte langsam auf die Konstruktion zu. Er suchte einen Landeplatz. In der Kabine sprach niemand – jeder von ihnen schaute gebannt auf das hinunter, das er sah. Es war auf den ersten Blick noch sinnverwirrender als die spiralige Brücke und der Tempel der Bucht. Stück um Stück – die Geheimnisse lichteten sich. Aber gaben sie wirklich Informationen her? »Ich lande auf dieser Fläche zwischen den beiden Dreiecken«, sagte Cliff. Hasso warf einen Blick auf das Ziel. »Ja. Das ist ziemlich risikolos«, meinte er. »Ich habe immer Angst, das gesamte Zeug bricht ausgerechnet dann zusammen, wenn wir es betreten«, sagte Naomi leise. »Es hielt Jahrtausende, und es wird noch ein paar Jahre halten. Nicht einmal der Vulkanausbruch hat es nennenswert beschädigen können.« Helga nickte Raghilt zu. Die LANCET verharrte einige Sekunden über der abstürzenden Mauer, schwebte dann zwischen den Kronen zweier wuchtiger Bäume hindurch und schräg auf eine Platte aus weißen Steinen zu. Sie
stammten nicht aus diesem Massiv, mußten also von weither transportiert worden sein. Dreiecke und Treppen ohne Ende erhoben sich aus dieser Ebene. Andere Treppen führten wieder hinunter. »Achtung.« Die LANCET setzte auf und federte tief durch. Die Schleuse glitt auf, und Mario kletterte als erster die Leiter hinunter und half den anderen. Dann standen sie im Schatten des Fluggerätes und bewunderten die Aussicht. Sie blickten bis zum Raumhafen, der allerdings nur noch vage zu erkennen war. Unter ihnen: Dschungel und Felsen, das weiße Band und darauf, kleiner als Ameisen, die Fahrzeuge der Pioniere. Ein schneidender Wind heulte hier durch einige Felsen und um die seltsamen geometrischen Formen, aber die Kronen der Bäume bewegten sich nicht einmal. Über ihnen war der Gipfel, der die treibenden weißen Wolken zu zerschneiden schien. Raghilt sagte: »Es gibt sicher wenig interessantere Orte, aber eine Menge wesentlich gemütlicher Plätze.« Naomi erwiderte etwas gereizt: »Du kannst nicht alles haben. Entdeckungen kosmischer Natur in der Umgebung von Luxushotels sind selten. Entschuldige, Raghilt, aber mich nimmt diese Szene mehr gefangen, als ich vertrage.« Mario beschwichtigte: »Wir sind seit Tagen alle nicht ohne Gründe übernervös. Mir geht es nicht anders. Du kannst es in meinen Gedanken feststellen. Ein blödsinniger Planet!« Cliff murmelte: »Das ist auch die Meinung der Pioniere. Ich glaube,
sie freuen sich auf den Tag, an dem sie Wenatchee verlassen können. Ich habe einen Vorschlag.« Helga sagte abwartend: »Laß hören?« »Wir untersuchen mit äußerster Vorsicht diesen Komplex hier. Ich beginne zu ahnen, wozu er gedient haben mag.« Sie verstreuten sich. Der Raguer sprang mit einigen Sätzen über die höchstgelegene Ebene und verschwand über eine Treppe. Nur Raghilt blieb in Cliffs Nähe und ging auf eines der hochkant stehenden Dreiecke aus weißem Stein zu. Sie lehnte sich daran und betrachtete die vier anderen Dreiecke, die in verschiedene Richtungen wiesen. In der Mitte der Anlage befand sich ein kleiner Turm, dessen Außenflächen ebenfalls glattpoliert waren. Er besaß zwei Eingänge, und als Cliff davorstand, sah er, daß eine Reihe von Steinen genau auf einige verschiedene Punkte des Himmels ausgerichtet waren. »Was ist das hier?« fragte Raghilt. »Eine Stätte der Meditation?« Cliff grinste kurz; er erinnerte sich an seine Wohnung in ORION-Island und an die stillen Stunden der Meditation, die er dort verbrachte. »Nein. Eine Stätte der Beobachtungen«, sagte er. »Meine Hochachtung vor den Planetariern wächst immer mehr.« Was wurde beobachtet? Cliff kannte solche Bilder. Schon im fünfzehnten Jahrhundert nach der Zeitenwende hatte der Tartarenfürst Ulugh Beg eine Sternwarte ohne Fernrohre erbaut. Er konnte, nur mit Hilfe von Winkelberechnungen, im Jahr 1437 den Sternkatalog von Ptole-
mäus berichtigen; jener ptolemäische Katalog entstand vermutlich hundert Jahre vor Null als erstes Produkt praktischer Astronomie durch Hipparch. Eine ähnliche Anlage hatte die Crew hier gefunden. Die Planetarier hatten nicht nur Schiffe und Häfen gebaut, einen Königspfad längs durch die Halbinsel gelegt, sondern sie beobachteten und berechneten damals sogar die Gestirne und deren Bahnen. Sie hatten sicher nicht viel Freude gehabt; zwei Planeten des Systems waren nicht zu sehen, ein Mond fehlte, und nur zwei andere Planeten konnten beobachtet werden. Mit bloßem Auge, verstand sich. Anerkennend nickte Cliff, während seine Hand über die glattgefegten Flächen strich. Er sagte: »Diese Menschen beobachteten die Sterne. Sicher berechneten sie auch deren Bahnen. Vielleicht finden wir Zeichnungen. Sie könnten sich in der Höhenluft hervorragend gehalten haben. Schade, daß Atan nicht mitkam ... das ist sein Fachgebiet.« Langsam ging Cliff auf der weißen Fläche umher. Er visierte entlang der Geraden auf den Steinecken, sah entlang der Treppen nach unten und rechnete überschlägig aus, daß hier gedachte Linien zu insgesamt vierzig Sonnen führten. »Erstaunlich.« Er blieb vor Raghilt stehen und legte ihr die Hände auf die Schultern. Sie lächelte kurz und deutete dann nach unten. »Ich habe keine Treppe gesehen, Cliff«, sagte sie. »Wie kamen die Astronomen hier herauf?« »Keine Ahnung«, sagte Cliff. »Vielleicht waren sie gute Bergsteiger.« Die gesamte Anlage war wie eine große Kanzel an
den Berghang geklebt. Ihr Untergrund bestand aus massivem Lavagestein. Mount Throne bestand, wie fast die gesamte Halbinsel, aus urzeitlichem Vulkanmaterial. Auf den schroffen Felsvorsprüngen waren die Mauern errichtet worden. Auch hier stellte die Crew wieder fest, daß die alte Technik angewendet worden war. Steine waren wie in einem gigantischen Baukastensystem durch Metall miteinander verbunden und verzahnt. Das astronomische Bauwerk auf Mount Throne bestand aus drei Ebenen. Die oberste Ebene war nichts anderes als ein System aus Treppen, schrägen Flächen und Säulen. Von jedem Punkt der Oberfläche konnte man unsichtbare Linien zu anderen auffallenden Zeichen ziehen. So ließen sich direkt und indirekt unzählige Sterne anmessen. Dieses vorzeitliche Astrolaboratorium wuchs wie ein Penthouse aus den beiden anderen Ebenen hervor. Langsam ging Cliff eine der breiten Treppen nach unten. Er befand sich in einer Art Park. »Raghilt! Prac'h!« rief er. Er sah sich um. Die Hälfte eines längs geteilten Ovals – das war der Grundriß der zweiten Ebene. Hier befanden sich lauter steinerne Würfel von Hausgröße. Sie hatten ein gemeinsames Dach, eben die Bodenfläche der Sternwarte. Zwischen den Würfeln und der abschließenden Mauer befanden sich die Bäume und die Büsche, das Erdreich und zahllose Pflanzen. Hier oben schienen nur Insekten zu leben. »Ja? Hier bin ich!« Raghilt stand neben ihm. »Sie haben einen Park angelegt. Und erstaunlich, wie wenig er verwildert ist.« »Ja. Vielleicht wird er ...«
Raghilt sah ihn erschrocken an, dann faßte sie in einer Reflexbewegung an den Gürtel und legte die Hand auf den Kolben der Waffe. Auch der Raguer tauchte auf. Er hatte den letzten halben Satz mitangehört. »Vielleicht wird der Park gepflegt?« fragte er laut. »Sehen wir nach.« Cliff ging entschlossen auf den gerundeten Gürtel zu. Das Erdreich, das damals mühsam hier herauftransportiert worden war, befand sich in einer Art Graben zwischen steinernen Begrenzungen. Je näher der Kommandant herankam, desto vorsichtiger wurde er. Die Gräser und die Erde zwischen den Wurzeln waren erstaunlich gut gepflegt. Er sah nur wenig altes, vertrocknetes Laub. Jemand war hier gewesen und hatte die Anlage gepflegt. Cliff drehte sich um und sagte: »Vorsicht! Wir sind vielleicht nicht allein hier. Unter Umständen fordern wir den unsichtbaren Gärtner heraus.« Er schaltete das Funkgerät ein und rief die Crew, gab seine Warnung durch. »Aber ... hier ist niemand«, sagte der Raguer. »Ich bin durch die gesamte Anlage gelaufen.« »Aber vielleicht kommt jemand«, sagte Raghilt lakonisch. »Diesmal werde ich sicher schießen.« Langsam gingen sie entlang der Bäume. Sie sahen ihre ersten Eindrücke voll bestätigt. Der Boden aus weißem Stein war sauber. Keinerlei Abfälle lagen hier, nicht einmal heruntergebrochene Steine oder Staub. Das Gras war an einigen Stellen geschnitten, und als sich Raghilt hinunterbeugte und die Halme prüfend durch ihre Finger gleiten ließ, merkte sie,
daß die Schnitte mit einem ziemlich stumpfen Instrument durchgeführt worden waren. Stumpf natürlich im Vergleich zu irdischen Geräten. Vermutlich hatten die kichernden Affenmenschen dazu ihre großen Flintkeile benutzt. Raghilt richtete sich auf und starrte Cliff voll ins Gesicht. »Angst?« fragte der Raumfahrer. »Nein«, sagte das Mädchen und zog die Waffe halb aus der Schutzhülle heraus. »Noch nicht. Aber ich fühle mich unbehaglicher als in hundert Metern Tiefe über unsicherem Grund.« »Dazu ist kein Grund«, sagte Glanskis. »Ich bin ja bei euch.« Raghilt erwiderte lakonisch: »Danke.« Sie gingen weiter. Der Umstand, daß sie als erste denkende Wesen seit Jahrtausenden diese Anlagen betraten, war ihnen voll bewußt. Sie ahnten auch, daß sie an Orten voller Geheimnisse standen. Aber sie hatten seit dem zweiten Tag nach ihrer Ankunft auf Wenatchee ständig das Gefühl, als ob Unsichtbare sie beobachteten und jede ihrer Bewegungen sorgfältig registrierten. Merkwürdigerweise identifizierten sie diese schweigende Bedrohung nicht mit den pelzigen Riesenaffen, sondern dachten daran, daß vielleicht noch undegenerierte Nachkommen der einstigen Baumeister ihnen auf Schritt und Tritt folgten und sie sogar aus der Ferne beobachteten. Dieses Gefühl verbot sozusagen eine jede natürliche Reaktion. Die Überlegungen hierzu liefen nicht im Bewußtsein ab, sondern unbewußt. Und das war auch einer der Gründe, weswegen die Pioniere nicht recht an ihre Aufgabe herangehen wollten. Nur die Angst vor der Blamage trieb sie jetzt an. Pioniere und Raumfahrer
standen sich schon seit jeher besonders kritisch gegenüber. Jetzt erreichten sie das Ende der geschwungenen Anlage. Hier hörten die Bäume auf, und zwischen den Büschen zog sich ein breiter Pfad aus Steinen bis zur Mauerbrüstung. Cliff nahm die Hand des Mädchens und ging geradeaus, während der Raguer suchend zwischen den Pflanzen hindurchschlich. »Man könnte Höhenangst bekommen«, bekannte der Raumfahrer. Er beugte sich über die Brüstung. Seine Finger zuckten zurück, als er die breiten Metallbänder berührte. Sie waren glühend heiß von der Sonneneinstrahlung. Ungehindert ging der Blick eineinhalbtausend Meter senkrecht herunter – und die Aussicht war einzigartig. »Von hier oben haben die frühen Baumeister ihr Reich sehr genau überblicken können«, sagte der Raguer, der seine Vorderpranken auf die Steine stützte. »Ja. Wir werden vermutlich noch mehr solcher Ausgucke finden. Aber wo wohnten sie eigentlich?« »Der Dschungel wird die Siedlungen überwuchert haben«, meinte Raghilt. Sie sahen den Raumhafen und ein startendes Schiff sowie die Piste und die arbeitenden Pioniere, die kaum mehr mit dem bloßen Auge zu erkennen waren. Vom Hang des nächsten Berges wehte ein Schleier schwarzen Staubes herüber. Weit hinter ihnen stand eine hauchdünne Linie fast senkrecht in der Luft. Es war die Rauchwolke des Vulkans, der seit seinem ersten Ausbruch schwieg. Cliff lehnte gegen den Stein über der senkrechten Felswand und versuchte sich auszurechnen, ob diese Halbinsel einst
auch ein Opfer der Kontinentalverschiebung werden würde, die entlang des Tiefseegrabens stattfand. »Willst du hier Wurzeln schlagen?« fragte Raghilt ungeduldig. »Keineswegs«, sagte Cliff. Sie drehten sich um und gingen zurück in den Schatten. Die würfelförmigen Bauwerke, von denen die Sternwarte getragen wurde, schienen sie zu erwarten. Von den anderen Mitgliedern der ORIONCrew war nichts zu sehen. Cliff ging nacheinander durch alle Räume. Sie besaßen die gleichen, hohen und schmalen Eingänge und die Fensteröffnungen, die für menschliche Begriffe zu hoch angesetzt waren. Abgesehen von den Treppen und rätselhaften Steinkonstruktionen waren die Räume leer. Die Sonne schien in einige von oben hinein, andere waren dunkel. An einer Wand entdeckte Cliff schließlich eine Abbildung des Sternenhimmels. »Ich sträube mich gegen die Vermutung, die hysterisch kichernden Affen könnten die Nachkommen der Baumeister sein«, sagte der Kommandant und fuhr mit der Hand über die goldenen Nägel, die zwischen den dunklen Stein geschlagen waren. Mindestens fünfhundert von ihnen symbolisierten die sichtbaren Sterne einer Hemisphäre, und Cliff murmelte: »Hasso soll das Bild aufnehmen. Wir können es dann mit den heutigen Sternkarten vergleichen.« »Wozu?« fragte Glanskis. »Um aus den Abständen, also den Differenzbeträgen, festzustellen, wann diese Mauer mit Nägeln oder Sternen versehen wurde. Das ist eine sehr genaue Analyse.« »Ich verstehe!« sagte Glanskis.
Dreißig Minuten später hatten sie ihren Rundgang durch die zweite Ebene von oben beendet. Auch hier gab es keinerlei Spuren des Verfalls. Es war aufgeräumt und gesäubert worden. Vor nicht allzu langer Zeit. Im Süden der Anlage führte eine breite Steintreppe auf die unterste Plattform, auf deren Dach sich die Wurzeln der Bäume erstreckten. Sie betraten einen einzigen großen Raum, der durch mindestens einhundert Säulen gestützt und unterteilt wurde. Und die Säulen waren nicht glatt, sondern bearbeitet. »Schon wieder eine Überraschung!« knurrte Cliff. Die anderen Mitglieder der Crew standen vor verschiedenen Säulen und schauten sich die naturalistischen Figuren an. Rund hundert Gestalten hielten die Decke, indem sie einen oder beide Arme dagegenstützten oder mit dem Kopf einen Stein hochstemmten. Der Durchmesser einer jeden Figur betrug rund einen Meter, die Höhe etwa drei Meter. Cliff sah fassungslos zu, wie ein breiter Sonnenstrahl durch ein Viereck in der Wand hereinfiel, vom hellen Boden reflektiert wurde und zwei der nächststehenden Säulen anstrahlte. Mit einem Höchstmaß an Realität war hier ein kranker Mann gezeigt. Sein Gesicht trug die Zeichen unaussprechlich grausamer Schmerzen. Sein Körper war verstümmelt. Die gesamte Körperoberfläche war von Geschwüren und Wunden verunstaltet. Der Bildhauer schien entweder Arzt oder Sadist gewesen zu sein; er zeigte auch die geringsten Einzelheiten. War dies ein Hinweis? »Faszinierend und abstoßend«, murmelte Raghilt leise. Sie hielt sich an Cliffs Arm fest, aber ihr Blick
hing unverändert an der anderen Säule. Hier war es eine Frau. Offensichtlich jung und schön – aber auch sie wand sich in Todesqualen. Ihr Körper war mit einer Menge scheußlicher, kleiner Tiere bedeckt, die sich in ihn hineinfraßen. Die Darstellung erreichte in der dritten Skulptur einen Höhepunkt der Grausamkeit. Der Künstler hatte faszinierend genau beobachtet und jede seiner Beobachtungen getreu weitergegeben. Langsam und schweigend gingen die ORION-Leute von Stützpfeiler zu Stützpfeiler. Überall die gleichen Scheußlichkeiten. Was konnte daraus gefolgert werden? »Ich muß hier hinaus!« flüsterte Raghilt. »Das ist etwas zuviel.« »Verstehe«, sagte Cliff. Plötzlich schienen alle genug zu haben. Die Crew kam wortlos und zutiefst erschrocken ins Freie und ins Licht der Sonne. Cliff lehnte sich gegen die Mauer und drehte den Kopf – und erschrak ein zweitesmal. Direkt vor ihm begann die Brücke. Sie schwang nach unten und überspannte eine Entfernung von mehr als fünfzig Metern. Neben ihm stand jetzt Raghilt, und Naomi kam hinzu. »Wir sollten nicht mehr hinein«, sagte sie leise. Auf ihrer Stirn standen Schweißtropfen. »Das ist zu grauenvoll für uns.« Cliff nickte schweigend und atmete tief durch. Er spürte, wie der Bann des unaussprechlich Fremden langsam von ihm wich. Helga murmelte: »Was war das? Eine Darstellung der letzten Tage dieser Rasse? Oder eine Szenerie von Folterungen?«
Hasso erwiderte ruhig; er hatte sich von allen am schnellsten gefaßt: »Wir wissen es nicht. Wir haben keine schriftlichen Aufzeichnungen gefunden. Und die Affenmenschen werden es uns nicht sagen können. Suchen wir weiter.« Mario spuckte aus und knurrte: »Aber nicht mehr dort in dieser steinernen Folterkammer. Sie waren nicht nur exzellente Baumeister, sondern besaßen eine ausgesprochen weitreichende Phantasie.« Wer konnte sicher sein, daß diese Darstellungen nicht der Phantasie entsprungen, sondern die Dokumentation von Wahrheiten bildeten, angefertigt für Nachkommen oder spätere Entdecker? »Jedenfalls können wir den Vermessungsingenieuren ein negatives Kompliment machen«, sagte Naomi. »Sie haben dies alles großzügig übersehen.« Cliff deutete auf die Kamera, die an Hasso Sigbjörnsons Handgelenk baumelte und sagte: »Hasso, bitte gehe nach oben und mache eine Reihe von Aufnahmen von dem Sternenhimmel in Form von Goldnägeln vor einer Obsidianwand. Wir brauchen das Bild zur Altersbestimmung.« »In Ordnung.« »Für viele mag die Erkenntnis vielleicht schmerzlich sein«, sagte Naomi und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Aber auch die Moral ist saisonbedingt und unterliegt der Mode. Was wissen wir über die Mode der frühen Baumeister dieser Halbinsel? Fast nichts.« Cliff stimmte zu. »Sogar noch weniger. Aber wir sollten diese Brücke untersuchen.«
»Ja, sicher.« Cliff und Mario gingen unter dem Vordach aus Stein auf die Widerlager der Hängebrücke zu. Mit jedem Schritt veränderten sich die Perspektiven. Eine mächtige Kette aus geschmiedeten Gliedern begann hier. Genauer: zwei Ketten. Sie waren im Stein verankert und verblendet. Vier Sicherungen hatten verhindert, daß die Kette aus den Steinen sprang. Die einzelnen Glieder waren weder verrostet noch irgendwie beschädigt, denn sie waren mit Gold überzogen. Wie ein durchhängendes Doppeltau verbanden die Ketten diesen Teil des Berges mit einer weniger steil abfallenden Wand. Zwischen den beiden festen Punkten bestand ein Zwischenraum von mehr als fünfzig Metern, und die Kette hing um ungefähr fünfundzwanzig Meter durch. Von den beiden Trageketten gingen dünnere, ebenfalls vergoldete Ketten nach unten und waren in U-förmige Metallplatten eingehängt, die ihrerseits durch lockere Ringe aneinander befestigt waren. Eine goldene Brücke. »Beachtlich«, sagte Mario. »Ich schlage vor, daß zwei von uns die Brücke und die Treppensysteme dort untersuchen, und der Rest landet mit der LANCET am Fuß der Anlage.« »Einverstanden!« sagte Hasso. »Ich habe mich ohnehin schon gefragt, was wir als nächstes unternehmen wollen.« »Jetzt weißt du es«, sagte Cliff. »Mario?« »Mit Vergnügen!« sagte der Erste Offizier. »Ich komme sonst völlig außer Form. Treppensteigen soll gesund sein.« Raghilt deutete nach unten, wo der Felsabsturz in
das Dunkelgrün des Dschungels überging. »Besonders solche Treppen, die ins Nichts führen. Viel Glück!« Raghilt und Naomi, Hasso und Helga sahen zu, wie Cliff und Mario vorsichtig das Ende der Hängebrücke betraten. Der Raguer schien mit sich zu kämpfen, dann machte er einen Satz und sprang hinter den beiden Männern her. Langsam begann die Brückenkonstruktion zu schwingen. »Vorsichtig!« brüllte Cliff. Hasso sagte kopfschüttelnd: »Ich dachte zuerst, dies sei eine goldene Brücke. Jetzt sehe ich, daß es eine Eselsbrücke ist.« Er drehte sich um und ging langsam zurück, bis er zu einer Treppe kam. Sie führte auf die oberste Plattform. Dort stand die LANCET, und die Crew ließ sich genügend Zeit, ehe sie startete. Cliff, Prac'h und Mario wurden sehr lange Zeit für den Abstieg brauchen. * Sie befanden sich jetzt in der erbarmungslosen Helligkeit, die von der Sonne am Mittag kam. Cliff bekämpfte ein Gefühl der Unsicherheit – sie standen in der Mitte der durchhängenden Brücke, und der Raguer bewegte sich langsam und vorsichtig auf das andere Ende zu. Es ging wieder aufwärts, und die Kettenglieder klirrten bei jedem Schritt. Die ganze Konstruktion bewegte sich wie ein Seil unter den Schuhen des Seiltänzers. »Das waren irre Typen!« sagte Mario verdrossen. »Ihnen ist nichts Besseres eingefallen, als diese Kon-
struktion zu errichten. Ich verstehe nicht, wie sie es so lange Zeit ausgehalten hat.« Cliff tastete sich weiter vorwärts, dem Raguer nach. Prac'h schien die Situation zu genießen. Dann war er der einzige des Teams. »Sie ist nicht belastet worden. Und sie ist auch nicht gerostet.« Vor und neben ihnen ragten die nackten, sonnendurchglühten Felsen auf. Trotzdem kam ein eiskalter Wind von unten und pfiff durch die Kettenglieder. Der Abgrund war erschreckend. Mehr als eintausend Meter tief würde hier jemand fallen, wenn er zwischen den senkrechten Ketten hindurchrutschte. Das konnte leicht geschehen, wenn einer von ihnen stolperte. Der Raguer blieb stehen und unterbrach den Schwingungsrhythmus der Brücke. Er drehte den Kopf und lief: »Habt ihr etwa Angst?« »Nein«, sagte Cliff sarkastisch. »Wir überlegen uns gerade, wie es sich hier im Tiefpunkt der Brücke wohnen mag. Ich trage mich mit Umzugsplänen.« Fast verächtlich antwortete das Raubtierwesen: »Hier könntest du ausgezeichnet meditieren, Kommandant McLane.« »Ich ...«, begann Cliff, aber er wurde unterbrochen. Es gab ein hartes, nachhallendes Geräusch, wie ein Glockenschlag. Ein kopfgroßer, gezackter Lavabrokken war mitten auf die Brücke geprallt, zersprang dort, und die Splitter fielen langsam nach unten. Staub breitete sich auf der Aufschlagstelle auf. Mario und Cliff blieben stehen und schauten nach oben, aber sie konnten nichts erkennen. Cliff fühlte, wie
seine Haut eiskalt wurde, und sein Herzschlag schien auszusetzen. »Los!« sagte er heiser. »Schnell weiter!« »Affenmenschen?« fragte Mario und setzte sich in Bewegung. »Vielleicht«, flüsterte Cliff. Mit mächtigen Sätzen schnellte sich der Raguer los und raste förmlich die Steigung aufwärts. Er erreichte das Ende der Brücke, die unter seinen Sprüngen wieder zu schwingen begann. Cliff und Mario hasteten weiter, sie hielten sich mit beiden Händen rechts und links an der dicken Kette fest. Unter ihren Stiefeln klirrten die Ringe der Bodenplatten. Ein Geräusch ließ den Chefkybernetiker aufschauen. »Cliff!« schrie er. »Schneller! Eine Lawine!« Der Kommandant vergaß plötzlich jede Angst, jedes Gefühl der Unsicherheit und begann zu rennen. Er rutschte leicht aus auf dem glatten Metall, aber der Steinschlag rasselte, krachte und dröhnte genau zwischen ihn und Mario. Mario stand da, klammerte sich links an der Kette an und sah nach oben. Als der letzte kleine Stein auftraf, begann auch er zu rennen, stolperte über das Geröll und fiel. Cliff warf sich vorwärts, und er sah, wie sich Mario drehte, langsam in den Knien zusammensackte und hart gegen die rechte Seite der Brücke fiel. Er schlang instinktiv die Arme um die Kettenglieder, und als seine Stiefel die Haftung endgültig verloren, fiel er hart in die Kette hinein. Sie spannte sich unter seinen Schulterblättern, die Arme waren außen um die Glieder geschlungen. »Festhalten!« rief der Kommandant. Marios Füße suchten einen neuen Halt, schleuder-
ten die Steine weg und traten endlich fest auf. Cliff war neben Mario, gab ihm die Hand, und die Finger der Männer verhakten sich ineinander. Cliff sah, daß Marios Gesicht kalkweiß geworden war, und ihm erging es sicher nicht anders. Mit einem letzten verzweifelten Spurt retteten sie sich in den Schutz der massiven Felswand. Keuchend setzte sich Mario auf eine Stufe. »Verdammte Neugierde!« sagte er heiser. Dann schirmte er mit zitternder Hand die Augen ab und spähte nach oben. »Nichts«, sagte Cliff. »Vermutlich nur ein Steinschlag.« »Ich wette, es waren unsere kichernden Freunde.« Sie schwiegen und sahen die Brücke an. Einige der heruntergebrochenen oder geschleuderten Steine bewegten sich noch. Sie rollten langsam bis zur Krümmung herunter, torkelten zwischen den senkrechten Ketten hin und her und fielen endlich. Das Geräusch des Aufschlags war nicht zu hören. Schließlich hatte die Brücke durch ihre Schwingungen auch das letzte Geröll von sich heruntergeschüttelt. »Mann!« sagte Cliff. »Wir leben gefährlich. Zittern deine Knie auch so?« »Ja«, sagte Mario. »An Treppensteigen ist im Moment nicht zu denken.« »Ich weiß nicht, was ihr habt«, schloß der Raguer. »Zuerst drängt ihr euch ins Abenteuer und dann, wenn es wirklich spannend wird, werdet ihr halb bewußtlos.« Cliff drehte sich zu ihm herum und setzte sich dann neben Mario. Er sagte grimmig: »Reize mich nicht, Freund Prac'h. Sonst bist du der
erste Raguer, der von mir in diesen Abgrund geschleudert wird!« Sie zogen sich auf den ersten Absatz zwischen den im Zickzack nach unten führenden Treppen zurück, atmeten tief ein und aus und versuchten, ihren Schrecken zu vergessen. War es ein Überfall der Affenwesen? Oder tatsächlich ein Steinschlag? Oder steckte etwa noch mehr dahinter? Sie wußten es nicht.
7 Es bestand die Möglichkeit, daß die Kartographen, die den Planeten Wenatchee untersucht und erforscht hatten, eine falsche Klassifizierung abgegeben hatten. Vielleicht gab es in anderen Gebieten dieses Kontinents intelligentes Leben, das seine Fühler bis hierher ausstreckte. Dagegen stand die Summe der Beobachtungen. Es waren, abgesehen von dem rätselhaften Benehmen der neandertaloiden Wesen, nur Funde aus der Vergangenheit gemacht worden. Cliffs Versuche, die Vergangenheit in die Zukunft zu integrieren, schienen ziemlich sinnlos und überflüssig. Aber im Augenblick dachte er wirklich nicht daran. »Was jetzt?« fragte Mario leise. Er schien sich inzwischen gefangen zu haben. »Abwärts!« meinte der Raguer. Ungefähr eintausend Meter ging es im Zickzack abwärts. Rund zwanzig Stufen entlang der Felswand auf der einen, dem Abgrund auf der anderen Seite. Dann kam ein Zwischenstück, etwas tiefer in den Felsen hineingeschlagen. Cliff ging als erster und drückte sich eng an den Felsen. Er vermied nach Möglichkeit, auf die andere Seite zu sehen und konzentrierte sich auf die steinernen Stufen. Der Raguer schien dies alles als großartigen Spaß zu sehen; er sprang mit sichtlicher Begeisterung hinter Cliff her. Mario machte den Schluß. Sie gingen rund eine halbe Stunde abwärts, drehten sich um hundertachtzig Grad, gingen den nächsten Absatz und waren erschöpft, als sie nach vierzig Minuten die erste Pause machten. Sie setzten sich nebeneinander an die Fels-
wand. Die Sonne brannte ihnen ins Gesicht, und mitten durch die Sonnenscheibe ging die Silhouette der goldenen Brücke. »Den Rest dieses Einsatzes«, sagte Mario schwitzend, »werde ich nur noch in Fahrzeugen zurücklegen.« »Ich auch, Mario«, murmelte Cliff. »Wir sind noch lange nicht unten.« Sie standen auf und kletterten weiter. Stunden schienen vergangen zu sein, als sie unten ankamen. Die LANCET stand da, und die anderen Crew-Mitglieder warteten, sichtlich nervös. Alle drei Ankömmlinge warfen sich der Länge nach in den Schatten. »Wenn ich das gewußt hätte!« stöhnte Cliff. »Ich weiß jetzt alles über Stufen!« »Aber wenig über Wenatchees Ureinwohner«, sagte Hasso. Die LANCET stand auf einem schmalen Streifen Geröll zwischen Dschungel und Felswand. Von hier aus waren nur einige der Treppen zu erkennen, sonst nichts. Aus dem Wald kamen die vielfältigen Geräusche des Tages, und langsam erholten sich die drei Bergsteiger. Raghilt sagte: »Ich höre hier drüben eine Quelle. Ich muß etwas trinken, sonst verdorre ich. Kommst du mit, Naomi?« »Ja«, sagte die Turceed, und sie gingen aus dem Schatten des Beibootes über die aufgehäuften Splitter der Lava. Cliff stand auf und lehnte sich an die Landestütze des Bootes. »Ich muß in die ORION und einen Bericht an Rover abschicken. Außerdem dürften einige unserer Analy-
sen fertig sein. Wir sollten gleich starten.« »Einverstanden«, antwortete Mario. »Gehst du an die Steuerung?« Cliff nickte. Zuerst stieg Helga ein, setzte sich und schnallte sich fest. Dann kletterte Hasso ins Innere hinein und aktivierte die Maschinen. Mario folgte, und der Raguer sprang hinein. Cliff berührte gerade die vierte Sprosse der Leiter, als er in unmittelbarer Nähe das gellende Gelächter eines Affenmenschen hörte. Die Mädchen! Er erstarrte und überlegte fieberhaft. Vielleicht waren sie überfallen worden. Man hatte beobachtet, daß das Heiligtum durch das Betreten der Fremden geschändet worden war und rächte sich nun. Cliff sagte hastig: »Prac'h! Ihr andern startet und holt Verstärkung, klar?« Hasso und Mario verstanden augenblicklich. Cliff zog die Gasdruckwaffe, als der schwere Körper des Raubtierwesens neben ihm ins Geröll federte. Sie liefen schweigend auf die Stelle zu, an der die beiden Mädchen in der Wand des Dschungels verschwunden waren. Der Raguer machte einige Sätze, warf sich herum und schoß mit einem gewaltigen Satz zwischen zwei Büschen hindurch. Cliff beachtete seine schmerzenden Füße nicht einmal mehr, sondern stürmte vorwärts. Federnd klatschten Zweige und Blätter in sein Gesicht. Schlagartig befand er sich, aus der Helle kommend, im Halbdunkel des Waldes. Eine Spur abgebrochener Äste und ein Durchgang zwischen hohen Gräsern, Lianen und Buschwerk kennzeichnete den Weg des Raguer.
Cliff raste hinterher. Nach ungefähr einhundert Metern stolperte er durch eine flache Sumpfpfütze. Die Quelle schoß hier fast senkrecht aus dem Boden und versickerte zwischen den üppig wuchernden Pflanzen. Die Spuren eines wilden Kampfes waren zu sehen – niedergedrücktes Gras, Trittspuren, abgerissene Äste und einer von Raghilts Handschuhen. Der Raguer sprang durch die Luft und landete neben Cliff, bespritzte ihn von oben bis unten mit Wasser und Dreck. »Ich habe die Spur!« sagte er. »Los!« »Ausgezeichnet.« Das Raubtierwesen rannte los, Cliff folgte ihm. Er lief mit angewinkelten Armen und versuchte, auf dem schmalen, kaum erkennbaren Pfad nicht auszurutschen. Sie wußten nicht, wieviel der Affenmenschen vor ihnen waren, und ob sie selbst nicht beobachtet oder verfolgt wurden. Cliff überprüfte die Waffe. Keuchend und schwitzend lief er hinter dem Raguer her, der sich wie ein silberner Schatten durch den Wald bewegte. Minuten vergingen ... Der Pfad krümmte sich um Wurzeln und Stämme, über Felsbrocken, die bis zur Unkenntlichkeit bewachsen waren, und über Reste uralter Mauern. Cliff registrierte das alles, während er, langsamer werdend, dem Raguer folgte. Weitere Zeit verging. Die Affenmenschen hatten die beiden Mädchen entführt, das war jetzt klar. Wozu? Wohin? »Prac'h!« rief Cliff leise. Dreißig Schritte später stolperte er und wäre fast gegen seinen Freund gefallen. »Ja?« fragte Prac'h.
»Kannst du sie sehen oder spüren?« »Ja«, sagte der Raguer. »Sie sind nicht weit von uns entfernt. Wenn ich dir einen Rat geben darf: zuerst feuern, dann fragen. Ich erledige es auf meine Art.« »Verstanden. Du führst an?« »Ja. Sie sind wirklich dumm. Nur große Affen.« Cliff nickte und holte mehrmals tief Luft. Dann begann er wieder zu laufen. Insekten schwirrten um sein Gesicht, Vögel und andere Tiere schrien. Sie schienen sich einer Lichtung zu nähern oder jedenfalls einem Gebiet ohne viel Bäume. Das Licht von vorn nahm zu, und die Dichte der Bäume wurde geringer, je länger sie dem kurvenreichen Pfad folgten. Der Pfad selbst wurde fester, und einzelne Steine tauchten zwischen den Pflanzen und dem Erdreich auf, abgeschliffen und glänzend durch die Berührung mit ungezählten nackten Füßen. Es war dasselbe Pflaster, aus dem auch der Königspfad bestand. Wieder schloß Cliff auf und stand neben dem Raguer. Glanskis flüsterte durch seine mechanischen Membranen: »Leise. Es riecht nach Wasser.« Sie hatten von oben, von der zweiten Ebene des Sternwarte-Geländes aus, einen Geländeeinschnitt im Dschungel bemerkt. Aber sie hatten nicht gesehen, daß es ein Fjord sein konnte. Jedenfalls wuchs links von ihnen eine verfallene Mauer aus dem Unterholz. »Nach rechts. Und wenn du einen von ihnen siehst – sofort schießen.« »Ja«, sagte Cliff. Sie hatten es zwar mit primitiven Lebewesen zu tun aber mit einer gewaltigen Überzahl von ihnen. Und sie wußten genau, daß sie sehr schnell und sehr
stark waren. Was dieses merkwürdige Kidnapping bedeutete, würden sie in Kürze erfahren können. Sie setzten sich wieder in Bewegung, diesmal wesentlich leiser, vorsichtiger und langsamer. Vor ihnen tauchten die Umrisse einer U-förmigen Lichtung auf, deren östlicher Rand als Kante abfiel. Von dort her kam der Geruch nach Wasser und ein Gestank, der an eine Hühnerfarm erinnerte. Cliff schlug mit der flachen Hand leicht auf den Rücken des Raguer. Glanskis blieb stehen und drehte den runden Raubtierkopf. »Ich rufe die LANCET!« flüsterte Cliff, winkelte den Arm an und schaltete das Funkgerät ein. »Hasso hier!« kam die Antwort. Cliff hatte den Lautsprecher sehr gedrosselt und flüsterte jetzt eindringlich: »Bitte sucht einen Landeplatz, östlich von der Felswand, an der Westseite des breiten Fjordes. Wir sind hier. Und seid vorsichtig.« »Verstanden. Zwei Roder voller Pioniere kommen nach.« »Ausgezeichnet. Ende.« Sie schlichen geduckt weiter. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen und sahen sich um. Von den Spitzen der höchsten Bäume an fielen die Pflanzen des Dschungels auf einen gemeinsamen Mittelpunkt zu an Höhe ab. Am Innenrand der Lichtung standen nur noch Büsche. Zwischen ihnen erhoben sich bereits die Reste von Mauern. Die Mauern und verfallenen Bauten ihrerseits stiegen wieder an, bis sie etwa in der Mitte der Lichtung den höchsten Punkt in der verzierten und bewachsenen Pyramide eines Turmes erreichten. Überall waren jetzt jene Af-
fenmenschen aufgetaucht. Sie hasteten in langen Sprüngen, über Stege aus Steinquadern und Mauerdurchbrüche, entlang umgestürzter Baumstämme auf den östlichen Rand der Lichtung zu. Alles geschah lautlos. Kein Kichern, keiner der gellenden Schreie, keine Gespräche. Aber auch kein Zeichen von Raghilt und Naomi. »Was haben sie vor?« fragte der Raguer. Jetzt konnte Cliff zeigen, ob er die Vergangenheit in die Zukunft integrieren konnte. »Vermutlich stellen sie etwas mit den Mädchen an. Ich glaube, sie wollen beweisen, daß sie in der Lage sind, den Königspfad und die entsprechenden Reste ihrer einstigen Kultur zu schützen.« »Aha. Wo ist Hasso mit der LANCET?« »Keine Ahnung«, sagte Cliff. »Vorwärts.« Sie huschten zwischen hohen Gräsern und in der Deckung von Mauern in der gleichen prismatischen Bauweise, die sie schon kannten. Sie sahen dekorative Elemente in den Stein geschnitten, die ihnen neu waren. Hier hatte sich einmal eine der vergessenen Städte oder Siedlungen befunden. Jetzt waren davon nur noch überwucherte Ruinen und ein betäubender Gestank nach faulenden Abfällen und Kot übriggeblieben. Dazu standen die hervorragend gepflegten Anlagen an anderer Stelle in krassem Gegensatz. Unbemerkt konnten Cliff und Glanskis weitere zweihundert Meter vordringen. Sie schlichen links um die Lichtung herum, bewegten sich ständig im Grenzgebiet zwischen den ersten höheren Mauern und dem Dschungelrand. Jetzt herrschte eine erwartungsvolle, gespannte Stille. »Dort drüben!« sagte Cliff und deutete mit dem
Lauf der Waffe nach vorn. Vorsichtig richteten sie sich auf. Sie sahen in den großen Hof einer Ruine hinein, der mit der Kante des Geländes abschloß. Auf jedem freien Platz auf Mauerkronen und Zweigen, auf Säulenstümpfen und eingebrochenen Dächern, auf dem Boden und auf Steinen standen und saßen die primitiven Bewohner dieser Siedlung. Sie schwiegen und starrten auf etwas, das außerhalb des Sichtbereiches von Cliff und Glanskis lag. Offensichtlich die Mädchen. Was hatten die Affenmenschen vor? »Wir kommen bis zu dieser Doppelsäule, ohne gesehen zu werden«, sagte Glanskis. »Ich habe eine Idee«, flüsterte Cliff zurück. »Später.« Es waren etwa einhundert Meter bis dorthin. Cliff lief, schlich und robbte dicht vor Glanskis zwischen den Steinen durch das Gras. Einige Minuten lang fürchtete der Kommandant, entdeckt zu werden, aber das Interesse der Affenmenschen konzentrierte sich ausschließlich auf das Zentrum der Versammlung. Der Raguer richtete sich neben Cliff auf, und er sah, daß der Kommandant den Strahler in der linken Hand hielt. Die Rechte hielt die Gasdruckwaffe mit den betäubenden Nadelgeschossen. Jetzt sahen sie es. Die beiden Mädchen lagen bewußtlos da. Sie waren förmlich mit Lianen umschnürt. Vor und neben ihnen standen zehn oder fünfzehn der braunpelzigen Affenmenschen und hielten Faustkeile in den langen Händen. Ein fürchterlicher Verdacht wurde in Cliff verstärkt.
»Sie sollen umgebracht werden!« murmelte der Raguer. »Ja. Und zwar will man sie in den Fjord werfen«, sagte Cliff heiser. Er überlegte sich, wie er vorzugehen hatte. Wo, zum Teufel, blieb die LANCET? Er wagte nicht, das Funkgerät einzuschalten, um sich nicht zu verraten. Noch immer schwiegen die Affenmenschen und rührten sich nicht. Sie starrten die beiden Gestalten an, die umwickelt wie die Mumien waren. Ein urweltliches Rachefest, aber ohne Tänze oder Trommeln. Offensichtlich waren die Primitiven dazu nicht mehr oder noch nicht fähig. »Horch!« Ein heulendes Geräusch kam hinter den Bäumen hervor. Dann schwebte die LANCET mit ausgefahrenen Landestützen und eingeschalteter Landesirene heran. Die großen Landescheinwerfer flammten auf, wurden abgeblendet und flammten wieder auf. Die Affenmenschen wurden unruhig, bewegten sich unsicher und schauten hoch. Das schimmernde, strahlende Etwas kam näher, wurde größer, das Heulen intensivierte sich, und gleichzeitig standen Cliff und der Raguer auf und zielten. Natürlich hatten Hasso und Mario klar erkannt, worum es ging. Sie versuchten, die Fremden zu erschrecken. »Zu den Mädchen!« sagte der Raguer laut und sprang. Cliff zielte sorgfältig und feuerte in Sekundenabständen nacheinander zehnmal. Die Affenmenschen, die jene zusammengeschnürten Bündel umstanden, sackten zusammen. Als der erste fiel, erhob sich ein Geheul und Geschnatter. Ungefähr fünfhundert Pri-
mitive kicherten wie die Wahnsinnigen, kreischten und flohen nach allen Richtungen. Die Sirene der LANCET wurde leiser und lauter. Mit langen Sätzen sprang der Raguer im Zickzack zwischen den fliehenden und angreifenden Wesen umher und näherte sich den Mädchen. Cliff gab ihm Deckung. Ein riesiger Affenmensch mit langen, schwarzen Armen und einem hellen Haarschopf griff nach einem Lavabrocken, hob ihn auf und zielte lange nach dem Raguer. Als sich seine Arme senkten, sah ihn Cliff, drehte die Waffe um zwanzig Grad und drückte den Auslöser. Krachend warf die Waffe eine Nadel aus, die dem Affen in die Brust drang. Der Steinbrocken fiel nach drei Metern Flug herunter und traf einen anderen Primitiven genau auf den Fuß. Heulend und kreischend rannte er los, blind und mit den Armen rudernd wie eine Windmühle. Er krachte in vollem Lauf gegen einen Säulenstumpf und blieb liegen. Cliff schwang sich über die Doppelsäule. Während die LANCET näherkam und auf den kleinen freien Platz neben den Bündeln voller Lianen zusteuerte, erreichte das Gellen der Sirene seinen Höhepunkt. Ein unbeschreibliches Chaos herrschte. Überall sprangen die Primitiven umher, sie wußten nicht mehr, wohin sie fliehen sollten. Vermutlich machte die Sirene sie vollkommen verrückt. Einzelne von ihnen verschwanden zum Rand der Lichtung, andere wurden von der Masse der Flüchtenden über den Rand des Abgrunds gestoßen und fielen kreischend aus dem Sichtbereich der Terraner. Langsam näherte sich die LANCET dem Boden. Mario de Monti hing auf der ausgefahrenen Leiter und feuerte
mit der Gasdruckwaffe gezielt in die Menge. Er schoß einen Kreis um die Mädchen frei. »Cliff! Hierher!« schrie der Raguer. Er umrundete die Mädchen und schlug, wenn sich einer der Affenmenschen näherte, mit seinen furchtbaren Pranken nach ihm. Cliff lief langsam auf den Mittelpunkt des verfallenen Hofes zu. Er merkte nicht mehr, wie eindringlich es hier stank. Der Kommandant gab Schuß um Schuß ab, bisher hatte er die HM 4 noch nicht einzusetzen brauchen. »Verstanden. Ich komme!« brüllte er. Als er zehn oder fünfzehn Meter von den Mädchen entfernt war, zerfetzte ein furchtbarer Schlag die Stille. Gleichzeitig fielen einzelne Steine aus den Kronen der uralten Mauern. Cliff taumelte, stolperte über einen Körper und fing sich wieder. Er erreichte die Mädchen, steckte die HM 4 ein und kauerte sich nieder. Langsam, die Waffe im Anschlag, drehte er sich um einhundertachtzig Grad. Ein zweiter Donnerschlag erschütterte die Umgebung, und das kreischende Geheul der Wesen nahm zu, wurde aber von dem Grollen aus der Luft übertönt. Cliff riß das Messer aus dem Stiefelschacht. Der Raguer umkreiste die Dreiergruppe vorsichtig und in kurzen Sprüngen. Mario raste vom Ende der Einstiegsleiter heran, feuerte mehrmals und hielt mühsam das Gleichgewicht, als ein weiterer Erdstoß die Ruinenstadt erschütterte. Schwärme von Fliegen erhoben sich und schwirrten hinaus über das Wasser des Fjordes. Cliff setzte das Messer an, schob es vorsichtig zwischen den Lianen hindurch und schnitt dann die stärksten Stränge durch. Es dauerte einige Minuten, bis er
Naomi von ihren pflanzlichen Fesseln befreit hatte. »Mario, Helga ... kümmert euch um sie.« »Verstanden!« Mario hob, selbst schwankend, das Mädchen auf und lief auf die LANCET zu. Cliff kniete neben Raghilt und schnitt mit aller Kraft durch das Geschlinge der Lianen. Die pflanzlichen Fasern sprangen mit schwirrenden Geräuschen. »Der Vulkan!« schrie jemand. »Ich komme!« Überall verschwanden die Affenmenschen im Dschungel. Die Erde bebte und schüttelte sich, und aus den Ruinen lösten sich pausenlos Steine und Pflanzen. Ein Baum neigte sich zeitlupenhaft langsam, riß sich von dem Gewirr der an ihm haftenden Schmarotzer los und krachte donnernd auf eine Mauer nieder. Staub und Steine wirbelten hoch. Irgendwo hatte wieder ein Vulkan zu arbeiten begonnen. »Schnell!« Die letzte Liane um die Knöchel Raghilts wurde zerschnitten. Cliff bückte sich riß die Arme des Mädchens hoch und warf sich den regungslosen Körper über die Schulter. Der Kommandant stand auf, kam auf die Beine und ging mit seiner Last auf die LANCET zu. Hasso war in dem Beiboot geblieben, tippte kurz auf den Knopf der Sirene. Ein jaulender Ton durchschnitt das Grollen, Poltern und Krachen des fernen Vulkans und der stürzenden Mauern. Dies war Hassos Signal, daß er genau verfolgte, was sich vor dem Beiboot abspielte und startbereit war. Mario de Monti schleppte den Körper von Naomi über die Einstiegsleiter hoch und befestigte ihn mit den breiten Sicher-
heitsgurten im Sitz. Selbst die Schiffszelle der LANCET schwang unter den Erdstößen mit. Helga enterte die Leiter, und sie und Mario nahmen Cliff den Körper des Mädchens ab. Der letzte war der Raguer, der einen der bewußtlosen Körper der Affenmenschen mit seinen Kiefern hochstemmte, ohne ihn – abgesehen von einigen Druckstellen – zu verletzen. Cliff schrie: »Abheben, Hasso!« Gleichzeitig heulten die Maschinen auf und hoben die überlastete LANCET hoch. Das Beiboot schlingerte in den ersten Metern, dann fing es sich und ging in einen regelmäßigen Steigflug über. Cliff hielt sich an der Wand fest und starrte nacheinander durch drei der kuppelförmigen Fenster hinaus. Er erkannte in dem Himmel ringsum nicht die kleinste Rauchwolke. Unter sich sah er die Lichtung kleiner werden, und das Wasser des Fjordes tauchte in seinem Blickfeld auf. Die Wasseroberfläche war vom Felsabsturz der Siedlung etwa zweihundert Meter entfernt. Erneut war das Land unter ihnen in Bewegung geraten. Aber – welcher Vulkan war ausgebrochen? Mit Hilfe Helga Legrelles gelang es ihnen innerhalb von fünf Minuten, Naomi und Raghilt wieder aufzuwecken. Sie waren betäubt worden, und der Luftmangel während der Zeit, in der sie zusammengeschnürt dagelegen hatten, hatte diesen Zustand verlängert. Naomi sagte stockend: »Sie wollten uns umbringen ... opfern ... ich konnte sehr undeutliche und dumpfe Gedanken ... feststellen, Cliff.«
Cliff und Raghilt wechselten einen langen, schweigenden Blick. »Wir haben nichts gemerkt«, sagte Raghilt. »Sie schlugen uns an der Quelle bewußtlos. Ihr habt euch, scheint es, reichlich Zeit gelassen.« Der Raguer hob eine Pranke und korrigierte: »Ihr seid nicht länger als zehn Minuten, höchstens eine Viertelstunde dort in dem antiken Burghof gefesselt gewesen.« »Nicht länger?« »Nein«, sagte Cliff. Er hatte im Augenblick nichts zu tun. Er suchte aus den Vorräten des Tiefkühlfachs sechs Portionen Kaffee heraus, erhitzte sie schnell und riß dann die Beutel mit dem Alkohol auf. Zucker und Milch kamen dazu, und die belebenden Getränke brachten die Mädchen wieder voll zu sich. Hasso Sigbjörnson entschloß sich nach kurzer Überlegung, mit dem Beiboot im Lager zu landen, wo sich mehrere Ärzte befanden. Für heute hatte er sein persönliches Pensum an Abenteuern erledigt – nach seiner Meinung. Und noch immer war die Luft von dem Dröhnen erfüllt, das keine Quelle zu haben schien. »Ich werde mich darum kümmern«, sagte Mario und schaltete das Funkgerät ein. Er rief zuerst die Pioniere im Lager an und schilderte, in welchem Zustand sich die Crew gerade auf dem Luftweg näherte. Dann wählte er das Vermessungslager auf Least Peak. »Wir haben hier die Erschütterungen eines Vulkanausbruchs registriert. Ist bei Ihnen etwas zu sehen?« Der Chef des kleinen Kontrollagers erwiderte zu ihrer größten Überraschung:
»Nein. Hier hat die Erde nur kurz und unbedeutend gebebt. Wir sehen nichts außer einer langen, quer über den Horizont verlaufenden weißen Wolke, die schnell größer wird.« Cliff rief laut. »Über dem Wasser?« Die Antwort: »Ja. Draußen auf offener See. Jenseits der Sichtgrenze unserer besten Objektive. Zufrieden?« »Nein«, sagte Mario. »Haben Sie Kontakt mit den anderen Kommandos?« Die LANCET raste in vierhundert Meter Höhe mit höchster Geschwindigkeit auf das Lager zu. Zwischen den Füßen der Mannschaft lag verkrümmt der dunkelbraune Körper des Primitiven. Regungslos. Die Lähmung würde rund zwanzig Stunden anhalten. »Ja. Wir haben vor einigen Minuten einen Kontrollanruf gemacht. Auf dem Festland und der Halbinsel gibt es derzeit keine erkennbare vulkanische Tätigkeit.« »Auch auf Vulkan Island nicht?« fragte Mario. »Nein.« »Gut. Ausgezeichnet. Beachten Sie bitte weiterhin diese Wolke. Wir haben Grund zu einer ganz bestimmten Annahme. Wir sind im Lager zu finden ... Ende.« Er schaltete ab. * Als die Crew dicht neben der ORION VIII landete, hatte die Nervenanspannung klar erkennbar nachge-
lassen. Es hatte keine Toten, keine Verletzten und nur sehr geringen Sachschaden gegeben. Die Pioniere mit ihren schweren Maschinen arbeiteten pausenlos weiter und fraßen sich weiter der Spitze der Halbinsel entgegen. Cliff legte seinen Arm um Raghilts Schulter und fragte leise: »Wie fühlst du dich?« »Kopfschmerzen. Sonst keine besonderen Meldungen, Kommandant. Was haben wir durch diese riskanten Aktionen gewonnen?« Cliff deutete nach rechts. Dort stand ein geländegängiger Wagen, in den gerade eine weiße Bahre hineingeschoben wurde. Auf der Bahre lag der bewußtlose Affenmensch, durch breite Bänder an den Metallverstrebungen festgehalten. Er wurde in das kleine Lazarett des Lagers gebracht. Die Ärzte, die ihn umstanden, schienen teils erschrocken, teils neugierig zu sein. »Einsichten«, sagte Cliff. »Und einige Möglichkeiten, festzustellen, ob diese Wesen die Nachkommen der frühen Baumeister waren oder sind. Oder einfach nur ihren Intelligenzquotienten zu bestimmen.« Hasso sah hinauf zur ORION und murmelte: »Wir sollten Aufklärung fliegen«, und, nachdem Mario ihm zugestimmt hatte, »denn die Entfernung, in der die Wolke sich bildete, ist für die LANCET doch etwas zu weit.« »Genau das werden wir machen«, sagte Cliff. »Aber vorher bringen wir unsere beiden Mädchen zum Arzt.« Einige Minuten später stand die Crew wieder vor dem silbernen Diskus.
»Außerdem müssen wir eine persönliche Botschaft an Bela Rover schicken. Wir starten sofort.« »In Ordnung.« Der Zentrallift fuhr zweimal auf und ab, dann befand sich die Crew, wenn auch nicht vollzählig, an Bord. Hasso verzichtete darauf, in den Maschinenraum zu gehen und setzte sich auf Atan Shubashis Platz. Mario blieb hinter Cliff stehen und sah zu, wie die Maschinen und Instrumente angeschaltet wurden. Sichtschirme und die Scheibe des zentralen Bildschirms flammten auf. Die alten, wohlvertrauten Geräusche waren zu hören. »Lift einziehen und verriegeln!« sagte Cliff. Hasso schaltete mehrmals und versicherte: »Das Schiff ist startklar. Fliegen nach Sicht und Handzeichen?« Cliff grinste und antwortete: »So sei es.« Summend erhob sich der Diskus, stieg senkrecht bis zu einer Höhe von einhundert Metern und startete dann nach Westen. Das Bild auf dem Schirm verkleinerte sich, die Übersicht wurde größer und genauer Helga verließ das Funkpult, nachdem sie die Geräte auf die Wellenlängen des Sprechfunkverkehrs zwischen Lager und Arbeitsgruppen justiert hatte und stellte sich neben Mario de Monti. Der Raumhafen war deutlich zu erkennen. Überall erfolgten die abschließenden Arbeiten. Die Ränder des Platzes wurden befestigt, die Kontrollgebäude eingerichtet und technisch ausgerüstet, und der erste Relaissatellit umkreiste bereits den Planeten. Er sollte mithelfen, den Funkverkehr zwischen den später in ununterbrochener Folge startenden und landenden
Robot-Raumschiffen zu erleichtern. Die Abfüllanlagen für die Konzentrate aus den Schwemmsänden und den Metallknollen der Tiefsee entstanden, bei einigen wurden schon die Dachkonstruktionen aufgebracht. Neben ihnen mündete die weiße, fertige Piste in den Raumhafen. Hasso sagte halblaut: »Fliege bitte die Piste entlang, aber nicht zu schnell, Cliff!« »Einverstanden«, sagte der Kommandant. Hier innen hörten sie nichts von dem brausenden und donnernden Geräusch, das in der Luft lag. Sie sahen auch noch nichts von der gewaltigen weißen Wolke, die weit draußen über der offenen See entstanden war. Der Schatten der ORION glitt über die weiße Fläche. Hasso schaltete einige Vergrößerungen ein und spiegelte sie in die kleinen Monitoren ein. Einige Fahrzeuge mit Materialnachschub waren unterwegs und fuhren mit hoher Geschwindigkeit dem vorläufigen Endpunkt entgegen, der nach den Schätzungen der Crew zwischen Mount Sage II und Mount Viracocha lag. Kleine Kommandos ebneten die Ränder neben der Piste ein. Sie schütteten Erdreich, Steine und alle übriggebliebenen Reste vom Straßenbau zu einer geraden, mit schrägen Ablaufrinnen zum Dschungel hin versehenen, Fläche auf und glasierten deren Oberfläche durch Anwendung von breitgefächerten Laserstrahlen. Auch das geschah halbautomatisch und unter Verwendung von vielen Spezialrobotern. Die ersten Windungen begannen, das Land fing an in die bergige Zone des Mount Last Peak überzuge-
hen. Die Piste schnitt den Abhang, vollführte entlang der Bergwände einige scharfe Kurven, und auch hier waren schon die seitlichen Steuereinrichtungen angebracht. »Tadellose Arbeit«, sagte Helga. »In den wenigen Tagen ist fast zuviel erreicht worden.« »Jedenfalls ist das Lager fast ständig leer, und die Arbeitsmoral hat sich um einen hohen Prozentsatz gebessert«, sagte Cliff zufrieden. »Trotzdem – wir stehen noch immer in der Phase der Anfänge.« Die Straße senkte sich wieder hinunter in das Dschungelgebiet zwischen dem ersten hohen Berg und dem Mount Throne. Sie sahen die Bergfestung mit dem Observatorium und die goldene Brücke. Die schwarzen Wolken aufsteigender Staubmassen bewiesen, daß das letzte Stück dieser Piste sich bereits wieder der nächsten Senke näherte. Von hier aus führte nur ein grob planierter Weg weiter bis zur letzten Baustelle, die kurz vor der ersten Anhöhe des Mount Viracocha lag. »Weiter!« Überall wurde fieberhaft gearbeitet. Sie sahen die Menschen und die Maschinen, die sich Meter um Meter weiterarbeiteten. Bis die Truppe den Felsabfall zwischen dem Ende der Halbinsel und der Insel Vulkan Island erreichten, waren noch rund sechshundert Kilometer Piste auszubauen. Und eine Brücke ... sicherlich das schwierigste Experiment dieser Gesamtplanung. Cliff zog das Raumschiff höher und setzte gleichzeitig die Geschwindigkeit herauf. Der flache, aufleuchtende Diskus zog rasend schnell über die Halbinsel hinweg und erreichte deren Ende. Cliff beob-
achtete aufmerksam den zentralen Bildschirm, und er kannte natürlich sämtliche Karten dieses Landstrichs und ungezählte Fotografien. Plötzlich beugte er sich vor, und dann vollführten seine Finger eine Serie schneller Schaltungen. Die ORION kippte nach rechts ab und ging mit gedrosselter Geschwindigkeit in eine scharfe Rechtskurve. Der Diskus richtete sich wieder auf und ging auf den alten Kurs zurück, sobald dreihundertsechzig Grad ausgeflogen waren. Dann schaltete Cliff erneut, und ganz langsam trieb das Schiff nach Westen. Es hatte fast zweihundert Meter an Höhe verloren und befand sich jetzt noch zweihundertfünfzig Meter über dem unruhigen Wasser. »Was ist los?« fragte Hasso. Cliff deutete auf die automatischen Kameras, die nicht eingeschaltet waren. »Der Vulkanausbruch hat neues Land erzeugt«, sagte Cliff verblüfft und tippte mit dem Zeigefinger auf die Scheibe des Bildschirms. »Hasso, richte bitte die Kameras auf diese Ansicht und mache ein paar Stereofotos. Ich gehe später, für Detailaufnahmen, tiefer und näher heran.« Helga, Mario und Hasso standen hinter ihm und betrachteten das Bild, das der Zentralschirm wiedergab. Zwischen Vulkan Island und Kyklops Finger waren fünfzehn kleine, runde Lavainseln aufgetaucht. Sie verbanden in einer Zickzacklinie das Festland und die Insel. Es würde leicht sein, auf ihnen die Pfeiler einer Brücke zu errichten. Die Kameralinsen richteten sich auf die Inseln, und klickend arbeiteten die Verschlüsse. Langsam sank die ORION ab, schwebte
rückwärts bis an die Stelle, an der sich das Gesicht der Halbinsel verändert hatte. Dann drehte Cliff das Schiff um hundert Grad. Der Vulkan hatte den Berg gespalten, ein Drittel der Masse in die See geworfen und dieses Drittel durch eine runde, terrassenförmige Barriere aus Lava wieder ersetzt. Schwarzer Stein, an einigen Stellen noch dampfend, erstreckte sich, konvex gekrümmt, um das Ende der Insel. Dann begannen die schwarzen Inseln. Langsam flog die ORION zurück. Jede Insel wurde mit den Kameras und verschiedenen Filtern von allen Seiten aufgenommen. Gleichzeitig liefen die Radargeräte mit, die Loteinrichtungen, und topographische Aufnahmen ergänzten Hassos Arbeit. Nach einigen Minuten sagte der Bordingenieur: »Fertig. Hundertvierzig Aufnahmen über alle Bereiche.« »Die Pioniere werden sich freuen, und das Projekt kann noch früher fertigwerden«, meinte Helga. »Und jetzt: die weiße Wolke.« Cliff nickte. »Du sagst es. Ich nehme an, dies ist unsere größte Überraschung.« Die ORION beschleunigte wieder, stieg höher und höher und raste in viertausend Metern Höhe über dem Meeresspiegel der Wolke entgegen. Sie war größer geworden, breiter und wesentlich höher. Eine gewaltige Barriere, rund und kompakt wie Gewitterwolken, schob sich von Westen nach Osten. In einigen Tagen würde die Wolke das Festland erreicht haben.
Sie war zweiundneunzig Kilometer entfernt. Nach kurzer Flugzeit war das Schiff über der Wolke. Hasso und Mario nahmen Messungen vor und sagten die Ergebnisse laut durch. Das elektronische Bordbuch lief durch die Aufnahmeköpfe, jedes Wort wurde gespeichert. »Ausdehnung über Längsachse: eintausend Kilometer mit einer Fehlergrenze von plus-minus fünf Prozent.« Nach einigen Sekunden: »Dicke: sieben Kilometer und dreihundert Meter.« Das Schiff kreiste langsam über der Wolkenbank. Der Schatten des Diskus war auf den schneeweißen, gerundeten Formen gut zu erkennen. Die Wolke bewegte sich mit dem Wind, und die Formen änderten sich langsam. Nach Westen hin fiel die Höhe der Barriere aus Wasserdampf langsam ab und endete dicht über dem Wasserspiegel, der von einem intensiven Dunkelblau war. »Höhe: dreitausend Meter.« »Danke«, sagte Cliff. »Ich nehme an, ihr wißt, was diese Wolke zu bedeuten hat?« »Ich glaube ja«, sagte Helga. »Ich nehme an, die unterirdische Erdspalte ist aufgerissen. Wasser vermischte sich mit Magma, Dampf entstand, und das Meerwasser begann zu kochen.« Mario grinste, als er sah, wie Cliff die ORION im Steilflug dorthin steuerte, wo seiner Meinung nach der Dampf entstand. »Das gibt uns die Chance, ein Netz auszuwerfen und eine Menge Fische zu fangen. Sie sind bereits gesotten. Was würdet ihr zu Delphin blau sagen?« »Nach Art der ORION oder nach Gärtnerinnen
Art?« erkundigte sich Cliff sarkastisch. »Nach Art der Pioniere«, schloß Hasso. »Mit Lavageschmack.« Die ORION stand jetzt dreißig Meter über dem Wasser. Die Wellen hatten eine außergewöhnliche Höhe erreicht und brachen sich an den Spitzen. Tote Fische und andere Meerestiere trieben an der Oberfläche. Aus dem Wasser schossen mächtige Dampfsäulen. Und hier wütete ein Sturm, der das Schiff hin und wieder voll traf und leicht erschütterte. Die Crew sah die ersten Zeichen dafür, daß sich hier weitere Landmassen hoben. Offensichtlich war die Evolution des Planeten noch in einem relativ frühen Stadium, und die Erdkruste war noch nicht zur Ruhe gekommen.
8 Zwei Stunden später erkannten sie, daß sie Zeugen eines geschichtlichen Ereignisses gewesen waren. Hier entstand ein neuer Kontinent ... Entlang des Tiefseegrabens, der einen deutlichen Einschnitt zwischen zwei riesigen Erdschollen markierte, hob sich langsam das Gebirge. Der flüssige Kern des Erdinnern blähte sich hier auf und schob den Kontinent und ein riesiges Plateau auseinander. Der Kontinent war schon seit Millionen Jahren hoch aus dem Meer gehoben worden, das unterseeische Plateau wurde erst jetzt aus der Tiefe ans Tageslicht gestemmt. Und zwar geschah das so, daß die Bergmasse, unterseeisch, hochgehoben wurde. Sie riß eine gewaltige Scholle aus Basalt mit sich und kippte diese schräg aus dem Wasser hoch. Schon erschienen hier und dort unterhalb der Dampfwolke die Gipfel der Berge. »Kannst du die Infrarot-Geräte nicht noch etwas genauer einstellen?« fragte der Kommandant. »Nein«, sagte Hasso. »Es geht nicht besser. Aber wir sehen genug – hier ist schon der fünfte große Gipfel. Und vor ihm schieben sich gerade zwei kleine heraus.« Direkt unter ihnen lag das Epizentrum des Bebens, das den ganzen Planeten erschütterte. Merkwürdigerweise schien der Rand des Kontinents nicht besonders schwer unter diesem Geburtsvorgang zu leiden, denn keine einzige aufgeregte Meldung kam über Funk. In der Stunde hob sich das Gelände um einen Me-
ter, hatte Mario mit Hilfe des Komputers ausgerechnet. Von diesem Wert konnte man ausgehen. Tatsächlich bewiesen die Karten des Planeten, daß die obersten Spitzen dieses unterseeischen Gebirgszuges nur etwa zweihundertfünfzig Meter unter dem Wasserspiegel gestanden hatten. Wie groß die Scholle war, konnte im Augenblick nur vermutet werden. »Aber ... ist das nicht gerade das Gebiet, das als Arbeitsbereich für die Unterwasserrobots ausgewiesen ist?« fragte Helga plötzlich. »Das bedeutet eine gänzlich neue Perspektive«, sagte Hasso. »Sie wollten die Minerale doch aus der Tiefsee holen?« Cliff sagte nach kurzer Überlegung: »Dies besagt nichts. Tiefsee gibt es noch genügend auf diesem Planeten. Vermutlich wird man, sobald die Scholle aufgetaucht ist, auch Bodenfahrzeuge einsetzen müssen. Aber das alles sind ausschließlich technische Probleme der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Sind wir fertig?« »Ja«, sagte Mario. Eine Welt der Überraschungen. Die Vulkantätigkeit würde in der nächsten Zeit noch mehr interessante Dinge zum Vorschein bringen. Dies waren aber Probleme, an deren Lösung die Crew weder mitarbeiten konnte noch wollte. Vorläufig sah es so aus, als ob der Auftrag voll erfüllt worden war. Die Arbeiten gingen zügig voran, und vermutlich konnten die Termine sogar eingehalten oder nur geringfügig überschritten werden. »Zurück ins Lager. Zu unseren Damen und dem Neandertaler!« sagte Cliff und tätigte die notwendi-
gen Schaltungen. Die ORION beschleunigte, stieß durch die Dampfbarriere und raste nach Westen. * Cliff McLane lag in seinem Kommandantensessel. Er hatte die Augen geschlossen und die Füße auf das Armaturenbrett gelegt. Cliff dachte nach. Er tat dies schon seit Stunden und mit Hilfe von einer Flasche Sekt. Zu fünfzig Prozent hatte er dies bereits geschafft – die Flasche war halb leer. Cliff ließ die Probleme und die Beobachtungen, seine Gedanken und Pläne, die verschiedenen Denkansätze und Vermutungen der letzten Wochen an sich vorbeiziehen. Aus den großen Lautsprechern der Bordsprechanlage kam Musik, ziemlich laut eingestellt. Ein Stück von Johann Sebastian Bach, arrangiert für Synthesizer von Tomas Peter. Cliff stand auf, ging zum Funkpult und schaltete den Schreiber ein, blockierte aber die Sendekanäle. Dann begann er langsam zu tippen. »McLane an Bord der ORION VIII an Büro für Extraterrestrische Angelegenheiten, persönlich an Bela Rover. Dringend ... high speed ... Meldung: Laufende vulkanische Tätigkeit auf offener See, Kartenquadrate Sieben/Alpha und Beta ... ebenso am Ende der Halbinsel. Arbeiten nicht beeinträchtigt, sondern von den Pionieren als besondere Herausforderung aufgefaßt. Arbeit geht unter StressSituation schneller und reibungsloser voran. Vierhundert Kilometer Piste, Raumhafen und Verladeeinrichtung fertig und betriebsbereit. Sämtliche persönlichen Probleme zwischen den Pionieren schlagartig berei-
nigt, durch intensive Arbeit und durch Trennung der Arbeitsgruppen. Projekt geht zügig voran. Analysen von Miß La Grange beweisen, daß Konzentration, Qualität und Quantitäten sämtlicher Metalle und Mineralien ungleich höher als berechnet. Auch die Fundgebiete sind ausgedehnter. In den nächsten Jahren werden neue und erweiterte Techniken angewendet werden müssen. Wir konnten einen der affenähnlichen Bewohner der Halbinsel fangen und untersuchen. Die Analyse ist noch nicht fertig. Besuch von Bela Rover und einigen Planungsfachleuten dringend erforderlich. Im Augenblick keinerlei Probleme. Gezeichnet: Cliff McLane ... Ende.« Cliff murmelte: »Schließlich ist die Wiederherstellung von Rovers Seelenfrieden in unserem preiswerten ORIONService eingeschlossen.« Er stellte sorgfältig die Frequenz ein und ließ den Text durchlaufen. Dann kehrte er wieder auf seinen Platz zurück. Nachdenklich sah er die Fotos durch, die auf dem Sichtschirm lagen, scheinbar achtlos durcheinandergeschoben. Er nahm sie in die Hand und versuchte sie zu ordnen, und ständig ging ihm seine Formulierung durch den Kopf. Wie konnte er das alles, was er aus der Vergangenheit der Erde wußte, hier anwenden zu einer sinnvollen Auflösung der Fragen. Laborbericht, las er. »Ha«, murmelte er. »Wir hatten also doch recht. Der Intelligenzquotient der Primitiven liegt bei zwanzig. Dabei wurde bereits umgerechnet, denn die Vielzahl der Tests versagte.« Ein Geräusch störte ihn; er kannte es. Jemand schob die abgerundete Tür des kleinen Lifts zurück und
betrat die Steuerkanzel. Es war Raghilt. Sie hatte sich, ebenso wie Naomi, vollständig erholt. »Hier bist du!« sagte sie leicht vorwurfsvoll. »Hier bin ich immer«, antwortete er, »wenn ich nachdenke.« Sie sagte: »Zum Nachdenken, scheint mir, ist es etwas zu früh. Oder bin ich nur zu früh gekommen?« »Du bist nicht zu früh gekommen«, sagte Cliff. »Und zum Nachdenken ist es selten zu spät.« Er sah zu, wie sie sich auf der breiten Lehne des Kommandantensessels niederließ, dann runzelte er die Stirn. Was hatte sie gesagt? Cliff murmelte, heiser vor Aufregung: »Wiederhole bitte deinen zweiten Satz, Raggie!« Sie runzelte die Brauen und sagte halblaut: »Ich fragte dich, ob ich zu früh gekommen sei, Cliff!« Cliff biß sich auf die Unterlippe und sagte langsam und nachdenklich: »Das ist es, Raghilt! Genau das ist es!« Sie verstand kein Wort und fragte völlig entgeistert: »Was ist was?« Cliff lehnte sich zurück und zog sie zu sich heran. Er fragte im Tonfall eines Dozenten: »Wir haben eine These über die Häufigkeit der Vulkanausbrüche. Was besagt diese Überlegung?« Sie zuckte die Schultern und erwiderte, noch immer nicht sicher: »Zwei Thesen. Erstens fördert, wie auch bei Terra, der Tiefseegraben die Drift der Kontinente. Die Kruste des Planeten wird also in den nächsten Jahrzehn-
ten oder Jahrtausenden weiter auseinandergeschoben werden. Dies ist ein Teil der planetaren Geschichte. Zweitens bedeutet die starke vulkanische Tätigkeit, daß dieser Planet noch jünger als errechnet ist. Der Dschungel und die Lava, die Vulkane und ein Großteil der Tierwelt entspricht – wenn auch in anderen Normen – derjenigen, die vor mehreren Millionen Jahren auf der Erde herrschte.« Cliff grinste breit und murmelte: »Das hast du tadellos aufgesagt. Du bist also auch der Meinung, daß wir ein frühes Stadium der Planetengeschichte betreten haben?« »Ja. Jetzt weiß ich, worauf du hinauswillst!« »Wie schön«, sagte Cliff zufrieden. Sie lachten sich an, und Cliff warf die Fotos achtlos auf den Zentralschirm zurück. »Wir haben Spuren entdeckt«, sagte Cliff leise. Er war plötzlich ernst geworden. »Spuren einer Rasse, die auch zu früh kam und bald wieder ging. Wenn diese Halbinsel restlos erschlossen sein wird, werden wir mehr Indizien für genau diese These finden.« Raghilt sagte: »Sie starben vor etwa fünfzehn Jahrtausenden. Wenn die Bilder richtig gedeutet werden, starben sie am Unvermögen ihres Verstandes, mit den Möglichkeiten des Lebens fertig zu werden. Sie schienen buchstäblich an ihrem eigenen Übermut zu sterben, der sich in einer pervertierten Art von Degeneration äußerte. Ist das auch deine Meinung?« »Ja, etwa.« Dann deutete er mit dem Zeigefinger genau auf ihre Nasenspitze und sagte mit Nachdruck: »Jede weitere Beobachtung wird mehr Fakten erbringen. Jeder Fakt wird meine Theorie bestätigten.
Was wettest du mit mir?« »Ich wette nicht«, sagte sie. »Möglicherweise gewinnst du!« »Möglicherweise«, sagte Cliff. »Die Rasse kam aus dem Wasser, legte einen langen, mühevollen Weg der Evolution zurück und erhob sich schließlich auf eine sehr hohe Stufe der Kultur. Darauf hielt sie sich eine Weile ganz gut, erstellte alle die Bauwerke, die wir fanden und sicher noch eine Menge mehr – denke an die Ruinenstadt im Dschungel, an der Felskante zum Fjord. Dann trat offensichtlich ein Bruch auf, und dieser Bruch war der Anfang des Niederganges jener Kultur. Sie verfielen mehr und mehr. Sie starben langsam aus.« Raghilt flüsterte, offensichtlich beeindruckt: »Nicht alle starben aus. Einige blieben übrig.« Cliff hob das Foto, das Hasso von der Ruinenstadt aufgenommen hatte. Der Kommandant deutete auf die zerfallenen überwucherten Mauern und sagte: »Sie lebten weiter. Sie lebten, beziehungsweise vegetierten dahin. Nach und nach, von Generation zu Generation, also rund fünfzehn Jahrtausende lang, verkümmerten alle intellektuellen Fähigkeiten. Die Nachkommen der frühen Baumeister sind heute auf der Stufe von primitiven Urwaldaffen.« Schaudernd erinnerte sich Raghilt an die Minuten, die sie, von Lianen umwickelt, am Rand der Klippe gelegen hatte. Sie sagte halblaut: »Aber nicht ganz.« »Nein«, sagte der Kommandant. »Merkwürdigerweise haben sich einige instinkthafte Reste erhalten. Ohne zu wissen, was sie eigentlich taten, schützten
sie den Königspfad und die Ruinen ihrer Vorfahren. Sie warfen mit großen Nüssen, mit Lavabrocken und Steinen und mit Knüppeln. Ihre Intelligenz ist so niedrig, daß sie als Rasse entweder untergehen werden oder weitere Jahrtausende brauchen, um sich unendlich langsam wieder nach oben zu entwickeln.« »Daran kann etwas sein«, sagte das Mädchen mit dem weißen Haar. Diese Halbinsel war noch voller Reste der Vergangenheit. Wie auch auf der Erde würden hier Forschungen und Ausgrabungen noch sehr viel aus der vergangenen Kultur zutage fördern. Ständig würde man auf die kreischenden und kichernden Horden der Affenmenschen stoßen, und schon wieder zeigte sich ein Problem. Die Lösung aber hatte auch nichts mehr mit Cliff und seinem Team zu tun ... er konnte bestenfalls Ratschläge geben. In einem halben Jahr würde das Projekt anlaufen. Ununterbrochen würden dann die Gleiter das Material in die Raumschiffe bringen. Roboter waren dann, abgesehen von einer kleinen terranischen Wartungsmannschaft, die einzigen Vertreter der Erde. Cliff fragte: »Haben die Mediziner und Psychologen die Untersuchungen beendet?« Raghilt nickte. »Ja. Sie warten darauf, daß du dich bei ihnen bedankst.« »Ich sehe keinen Grund, weswegen sie den armen Affen noch länger verwirren sollten. Gehen wir hinunter.« Er schaltete die Bordsprechanlage aus sortierte
schnell die Fotos und legte dann den Arm um Raghilts Schultern. Sie fuhren mit dem Zentrallift hinunter und gingen über den weißen Beton des Raumhafens. Er war inzwischen fertig geworden. Nur zwischen den Behausungen der Pioniere, die bald abgebaut werden würden, herrschte noch der übliche Morast. Langsam gingen sie auf die kleine Klinik zu und wurden in den Raum geführt, in dem der Affe untergebracht war. Der Psychologe sagte: »Wir haben ihn schon darauf vorbereitet. Er hat durch das Fenster den Weg bis zum Dschungel gesehen und wird fliehen, sobald wir ihn losmachen.« Cliff lehnte sich gegen einen Labortisch und betrachtete den Affen. Der Primitive starrte ihn an. »Wie reagiert er?« fragte Cliff. »Unverändert«, war die Antwort. »Seit dem Augenblick, in dem wir ihn aufweckten, blieb er mißtrauisch, voller Angst und mit plötzlich ausbrechenden Phasen der Aggressivität. Er verweigerte die meisten Tests, weil er sie nicht begriff. Er wird so froh sein, wieder in seinen Dschungel zurückzukehren, wie wir, ihn loszuwerden. Sie müssen wissen, Kommandant ...« Cliff unterbrach grinsend und schloß: »... er stinkt.« »Schauderhaft.« Cliff sah zu, wie einer der Mediziner die Tür weit öffnete. Licht und Wärme drangen in den Raum, der in klinisch sterilem Weiß gehalten war. Der Affe kauerte in einem Winkel, und zwei leichte Schutzschirme hielten ihn dort fest. Einer der Schirme wurde abge-
schaltet, und für den Primitiven war die Tür frei. »Ich wäre nicht so stolz darauf«, sagte Cliff voller Bosheit zu dem Psychologen, »daß wir nicht so stinken. Stellen Sie sich vor, wenn diese fröhlichen, unbeschwerten Geschöpfe Seife, Zahnbürsten und Handtücher benützen würden. Dafür haben sie prächtige Gebisse. So hat alles seinen Vorteil und Nachteil.« Ärgerlich antwortete der Psychologe: »Wie recht Sie doch haben, Kommandant.« Der Affe war aufgesprungen und drückte sich fest an die Wand. Er musterte aus seinen riesigen Augen die Menschen, spähte zur offenen Tür und sah dahinter das ausgestorbene Lager und den Rand des Dschungels. Er schrie aufgeregt, kicherte und kreischte kurz, dann war er mit einem Sprung bei der Tür. Er hob die langen Arme, schrie nochmals auf und raste davon. In Zickzacksprüngen rannte er entlang des Raumhafens, auf die Piste zu und an Robotern vorbei, die ihn nicht beachteten. Die Gestalt wurde kleiner und verschwand schließlich im Dschungel. »Zufrieden?« fragte Raghilt. »Du solltest besser unseren Freund fragen. Er ist sicher zufrieden«, sagte der Raumfahrer. Dieses Problem war gelöst. Andere waren geblieben. * Seit Tagen herrschte Nebel, Nässe, Dunkelheit und Unlust. Der Wind hatte sich gedreht, nur um wenige Grad. Ein Tiefdruckgebiet war von der See her eingezogen und lag über Halbinsel und Festland. Die Ter-
raner, die hier arbeiteten, fühlten direkt körperlich, wie ihre Laune von Stunde zu Stunde sank. Alles faulte und war mit einem haarfeinen, grünen Pilz überzogen. Es gab die ersten Kurzschlüsse in den Maschinen. Nebel ... Dampf ... Noch immer vermischten sich Magma und Wasser, weit draußen auf der See. Eine durchgehende Decke aus Wasserdampf zog sich von dem Rand der Tiefseespalte bis weit in das Festland hinein. Trotzdem gingen die Arbeiten weiter. Kilometer um Kilometer wurde der Landschaft entrissen. Vor drei Wochen war die Crew gelandet. * Und fast in der gleichen Sekunde, als das Raumschiff mit Bela Rover an Bord aufsetzte, empfing Cliff in der ORION einen Funkanruf von Commander Prac'h Glanskis. Cliff meldete sich, drehte die Lautstärkeregler weit auf und sagte dann: »Was hast du entdeckt, Glanskis?« Das raubtierähnliche Wesen von Terrossian hatte sich zur Spitze der vorgeschobenen Arbeitskolonnen bringen lassen und suchte dort, in der Nähe von Mount Hamden, die Gegend ab. Glanskis sagte: »Ich habe ein weiteres Bildband entdeckt. Hervorragend erhalten, oberhalb einer breiten, natürlichen Felsleiste angebracht. Du solltest es dir ansehen. Unbedingt. Du kannst mit der LANCET kommen.« Cliff zögerte. »Ich sehe gerade, daß Rover landet.
Soll ich ihn mitbringen?« fragte er. »Unbedingt. Er wird dann gleich Gelegenheit haben, den Männern des Vorauskommandos einige Komplimente zu machen. Die Stimmung ist hier auf dem Nullpunkt, und ›verdammtes Magma‹ ist das einzige, das ich seit einem Tag höre. Übrigens habe ich den obligatorischen Angriff der Affenmenschen schon hinter mir. Ich habe sie mit einigen Feuern, die der Strahl der HM 4 hervorrief, vertrieben.« »Gut. Ich bringe ihn mit. Wo bist du?« Glanskis beschrieb Cliff die Stelle, an der er sich befand. Cliff zog die Karte zu sich heran und fand schließlich die Stelle. Er war mehrmals über dieses Gebiet geflogen und konnte sich ziemlich genau vorstellen, an welcher Wand dieses Relief sich befand. Es wurde nur bei einem bestimmten Stand der Sonne durch die Schatten der Skulpturen sichtbar. »Verstanden. Eine Stunde, Glanskis.« »Gut. Ich warte. Ende.« Cliff schaltete den Komputer ab, mit dessen Hilfe er versucht hatte, die Quantitäts- und Qualitätsanalysen von Raghilt La Grange zu berechnen. Dann verließ er das Raumschiff und ging schnell auf die Gruppe um Bela Rover zu. »Chef«, sagte er, »es wird nichts mit dem Empfangskomitee. Sparen Sie sich die Feierlichkeiten – steigen Sie ein.« Die beiden Männer begrüßten sich sehr herzlich, und Cliff erklärte, worum es ging. Als er versicherte, daß in zwei Stunden alles vorbei sein würde, erklärte sich Rover damit einverstanden, mitzufliegen. Cliff nahm Mario und Raghilt mit, und zu viert kletterten sie in die LANCET I, die hier bereits als Expeditions-
flugapparat bekannt war. Cliff setzte sich ans Funkpult, und Mario steuerte. Bela Rover stand noch völlig unter dem Eindruck der ersten Beobachtungen, die er aus großer Höhe über Infrarotgeräte gemacht hatte. Die Dunstglocke nahm nur sehr langsam an Dichte ab. Dicht über dem Boden herrschte etwa fünfhundert Meter freie Sicht. »Kommandant McLane«, sagte Rover, »ich muß mich bei Ihrer Crew und bei Ihnen sehr bedanken. Sie haben zwar nicht die Erde, aber mich gerettet. Und das ist schließlich auch etwas!« Cliff sagte trocken: »Das kostet Sie auch eine hübsche Summe ... indirekt.« »Sie ist es wert. Und für die Nachricht in Ihrem Funkspruch muß ich mich bei Miß La Grange besonders bedanken. Wir werden bei gleichem Aufwand sehr viel mehr fördern können. Das Projekt Wenatchee amortisiert sich wesentlich schneller.« Mario de Monti antwortete: »Sie haben noch keinen Überblick, Mister Rover, aber Sie werden auf diesem Planeten noch eine Menge Überraschungen kassieren. Unter anderem ist Wenatchee ein großes und ergiebiges Feld für Anthropologen. Wir fanden eine Kultur und Zivilisation, die zu früh kam und bereits wieder gegangen ist. Sie kam aus dem Wasser und endete auf dem Land – im Dschungel.« »Wird dieses Bildband, von dem Ihr exotischer Freund sprach, einen weiteren Hinweis geben?« »Ja«, sagte Raghilt. »Alles, was hier gefunden wird, unterstützt diese Erkenntnis von Oberst McLane.« Sie flogen ungefähr eine Stunde durch den dünnen
Tiefnebel. Der Chef hatte genügend Gelegenheit, die Fortschritte der Arbeit zu sehen. Er diskutierte mit den drei Mitgliedern der Crew und sah ein, daß sein Erscheinen hier gerade zur rechten Zeit erfolgte. Er mußte die Pioniere zum zweitenmal begeistern. Er konnte sich eine Menge Händedrucke und lange Reden sparen, wenn die Nebeldecke aufriß – aber daran war im Augenblick nicht zu denken. Mario sagte warnend: »Mount Hamden, Cliff!« Cliff nahm das Mikrophon auf, schaltete das Funkgerät ein und wählte die Frequenz der Armfunkgeräte. Er rief den Raguer. »Ich kann euch sehen«, sagte die Stimme. »Immer in dieser Richtung weiter, aber um dreihundert Meter höher.« Irritiert fragte Rover, während Mario die LANCET hochzog: »Ist dieser Raguer auch Bergsteiger?« »Ja. Er kann fast alles!« sagte Raghilt. »Sie sollten ihm ein vergoldetes Halsband schenken. Aus der ersten Produktion Wenatchees.« »Gemacht!« Das Beiboot schwebte langsam auf die Bergwand zu. Deutlich war jetzt das breite Felsband zu sehen, etwa dreihundert Meter lang und dreißig Meter tief. Der Raguer lief wie ein silbergrauer Schatten unruhig hin und her. Undeutlich sahen sie die Rechtecke, in denen sich irgendwelche Formen abzeichneten. Mario steuerte zuverlässig und präzise und landete direkt neben Glanskis. »Was hat eigentlich dieses Schlagwort vom Königspfad zu bedeuten?« fragte Bela Rover, während sie die Leiter hinunterkletterten.
Cliff erklärte: »Entlang einer Straße, die mehr als fünfzehn Jahrtausende alt ist, bauen Ihre Leute eine hochmoderne Piste. Der Pfad der frühen Könige ist so alt wie dieses Bildband hier.« Sie begrüßten Glanskis. »Aufsehenerregend!« sagte Glanskis. »Einfach sensationell. Das große Abenteuer der Entdeckung.« Er führte sie nach links. Dort begann das Bildband. »Drei Meter hoch, also etwas mehr als lebensgroß«, sagte er im Tonfall eines Fremdenführers. »Und sehr authentisch.« »Aber ...«, sagte Raghilt. Die Skulpturen an der Felswand entsprachen weder dem Erscheinungsbild der primitiven Affen noch den Bildern in der untersten Ebene des Observatoriums. Sie sahen ganz anders aus. Und auf eine erschreckende Weise realistisch. Cliff murmelte: »Sieben ...!« Direkt vor seinen Augen war eine Hand. Sie besaß sieben Finger, zwischen denen sich dünne Schwimmhäute spannten. Cliff senkte den Kopf und sah an dem Bild herunter. Auch die Füße besaßen sieben Z ehen, ebenfalls mit Schwimmhäuten. Dieses Wesen hier war gerade aus dem Wasser gekommen, im Sinn des Wortes. Es hielt in der linken Hand einen langen, schlanken Dreizack, auf dem ein Fisch aufgespeert war, um den sämtliche Angler des Mittelmeeres den frühen Bewohner dieser Halbinsel glühend beneidet hätten. »Ein Fischer«, sagte Bela Rover. »Überdies ein erfolgreicher«, knurrte der Kommandant.
Das Bild strahlte eine gewisse Ruhe aus, die Überzeugung des Künstlers, hier ein ehrliches Dokument seines Modells hinterlassen zu haben. Überzeugend realistisch war auch der Robbenpelz des Wesens dargestellt. Der Kopf war eine Mischung zwischen Homo sapiens, Wolf und Robbe – eine faszinierende Mischung, die bei näherem Zusehen ineinander verschmolz und einen Kopf von eigenartiger Wirkung ergab. Das Wesen war nackt und kraftvoll dargestellt worden. »Das korrigiert einige Ansichten«, meinte Raghilt. Cliff sagte: »Diese primitiven Affen haben sich von ihren frühen Vorfahren noch weiter entfernt, als geschätzt wurde. Sie haben nur fünf Finger. Und es ist kaum anzunehmen, daß sie sich die anderen zwei abschlugen oder daß sie zu intensiv an den Nägeln kauten.« Mario ging einige Schritte weiter nach rechts und murmelte: »Immer witzig und zu Scherzen aufgelegt, unser Kapitän!« Das zweite Bild zeigte wiederum die enge Verwandtschaft zwischen dem Wasser und den Wesen. Tauchen, Fischen und Schwimmen, die Erfindung des Bootes und wieder die ersten Versuche, an Land zu gehen – das waren die Themen der insgesamt sieben Bilder. Hier wurde, hauptsächlich im Hintergrund und in den winzigen Detailausführungen, eine Unmenge von Informationen über die erste Zeit dieser Zivilisation geliefert. Das siebente Rechteck zeigte, wie die ersten Meter des Königsweges gebaut wurden. »So«, sagte Cliff. »Hier haben Sie die Pioniere – archaische Ausführung!«
Rover grinste zufrieden. »Ich werde veranlassen, daß in Kürze einige Teams hier abgesetzt werden, die systematisch nach Resten dieser Kultur suchen. Ist es eigentlich bewiesen, daß wir auf Wenatchee keine intelligenten Wesen antreffen werden?« Höflich antwortete Mario de Monti: »Wenn einmal die ORION-Crew weggeflogen ist, besteht zu dieser Annahme keinerlei Grund mehr.« Und Cliff schloß: »Ich habe den Eindruck, daß wir sehr bald starten werden, Bela. Sind Sie mit dieser Regelung einverstanden?« »Voll und ganz«, sagte Rover. Raghilt versuchte, jenseits des grünen Randes des Dschungels das Wasser zu erkennen und murmelte: »Dann werden wir Sie zu Ihren fleißigen Pionieren hinunterbringen, und dort können Sie darüber nachdenken, wie die Wasserdampfwolke über der Halbinsel beseitigt werden kann. Dies scheint mir nämlich das einzige wirkliche Problem im Augenblick zu sein. Cliff?« Der Kommandant drehte sich zu ihr herum und zog die Brauen hoch. »Ja?« »In der Adria herrscht noch immer schönes Wetter. Unsere gesunde Bräune nimmt ab, fürchte ich.« »Das ist ein Argument«, sagte der Raguer. »Darf ich mitkommen?« »Kannst du schwimmen?« fragte Raghilt zurück. »Selbstverständlich. Notfalls schlage ich dich sogar im Tauchen – ohne Gerät.« Sie sahen sich an und begannen zu lachen.
Nachdem alles fotografiert worden war, kletterten sie zurück in die LANCET I. Mario de Monti brachte das Beiboot sicher hinunter an den Anfang der Piste, und eine große Gruppe von schlechtgelaunten Pionieren empfing Bela Rover. Die Crew hatte den Eindruck, daß er sich sehr anstrengen mußte, sie wieder zu beruhigen und damit den Fortgang der Arbeiten zu sichern. Das alles war nun nicht mehr länger Aufgabe der Crew. Sie hatte, wenn sie wieder auf Terra landete, mehr als vier Wochen Einsatz hinter sich und somit Anspruch auf einen angemessenen langen Urlaub. Raghilt hatte eine sehr hohe Prämie verdient, und das würde ›Mama‹ La Grange versöhnen. Und Cliff McLane hatte ein sehr genau überlegtes Programm. Zwei Tage später startete die ORION VIII mit der gesamten Crew zurück zur Erde. Sie traf rund sieben Tage später in der Basis 104 ein, und die Besatzungsmitglieder verabschiedeten sich voneinander. »Bis zum nächsten Einsatz!« sagte Mario. Cliff grinste und erwiderte trocken: »Der so sicher kommt wie morgen die Mittagssonne.« Cliff brauchte nur einen einzigen Tag, um Australien zu verlassen; Bela Rover hatte für diesen Fall genau die richtigen Anordnungen getroffen und sich sogar die Mühe gemacht, sie zeitlich aufeinander abzustimmen. Cliff begann seinen neuen Urlaub dort, wo er den alten beendet hatte. In Zadar. Die Nova Ljubav lag noch in der Marina festgemacht an vier Tauen. *
Sie befanden sich seit drei Stunden in einer Bucht ohne Namen. Keine Seekarte sagte aus, wie sie hieß. Die Bucht war so leer wie die gesamte Insel – und sie war ebenso schön und karg. Cliff hatte seine Bordstiefel angezogen, um sich vor den scharfen Kanten der Steine zu schützen. Er turnte entlang des Ufers, suchte Schwemmholz zusammen und trug einen riesigen Haufen von dürren Ästen zwischen die Felsen nahe des Ufers. Er suchte in den tiefen Taschen der Hansen-Jacke und fand das Feuerzeug. Er hatte gespürt, daß das Holz noch etwas feucht war; gestern hatte es wohl kurz geregnet. Ein Gewitter vermutlich. Er ging zurück zum Beiboot, schleppte den Plastikkanister mit dem Gemisch für den Außenborder heran und überlegte grinsend, daß auch dies eine Art Integration der Vergangenheit in die Zukunft war ... niemand verwendete mehr gemischbetriebene Motoren. Nur die Fanatiker und die Seesportler. Er schüttete einen halben Liter der gelben Flüssigkeit über seinen sorgfältig geschichteten Holzstoß, stellte den verschlossenen Kanister hinter einen Felsen und sprang zurück, nachdem er ein Knäuel Papier angezündet und mitten in den Stoß geworfen hatte. Mit einer dumpfen, kurzen Explosion entzündete sich das Gemisch – das Feuer brannte. »Warum tanzt du? Ich höre keine Musik!« rief Raghilt vom Boot aus. Sie trug einen der kleinsten Bikinis, die Cliff je gesehen hatte. »Aus feuertechnischen Gründen!« sagte Cliff laut. Das Schiff war auf unkonventionelle, aber sehr wirksame Weise in der kleinen Bucht vertäut: von Heck und Bug spannten sich zwei zwanzig Meter
lange Tampen bis zu annähernd runden Felsen. Sie hielten, leicht durchhängend, das Schiff geradezu fabelhaft sicher fest. Kein noch so starker Wind, der nachts vielleicht aufkommen würde, konnte das Boot mehr als um drei oder vier Meter versetzen. Cliff brüllte zum Boot hinüber: »Wo bleiben die Steaks?« Raghilt hob die Fleischstücke hoch. Sie waren bereits fertig gewürzt und sahen ungeheuer verlockend aus. Sie sollten an Land gegrillt und an Bord gegessen werden. »Hier. Hol sie dir!« Cliff überlegte. Dies war ein sehr schwieriges Problem. Raghilt wollte nicht herüberschwimmen, und er fühlte sich in der Nähe des heißen Feuers im Augenblick sehr wohl. Der Rauch war würzig, denn das verbrennende Harz in der schwarzen Rinde der Pflanzen roch gut. Glanskis war irgendwo – Cliff wußte nicht, was er tat oder vorhatte. Vermutlich suchte er auf der leeren Insel nach Überresten prähistorischer Siedler oder nach dem großen Abenteuer. »In Ordnung!« rief er. Er sprang ins Wasser, das hier nur einen Meter tief war, schwang sich ins Beiboot und warf den Zweitakter an. Mit rotierender Schraube und einer Wolke verbrannten Öls knatterte der Hilfsmotor mit dem Kunststoffboot hinüber zum Schiff. Cliff hob den Grillrost, die Gewürze und das Olivenöl ins Boot, nahm dann die riesigen Steaks entgegen und vollführte ein sehr kühnes Wendemanöver. Eine Minute später schrammte der flache Kiel des Bootes wieder auf die Steine. Als eine Stunde später die Steaks fertig waren, hörte Cliff ein Gebrüll, das einen Löwen erschreckt
hätte. Er fuhr herum. Glanskis. Er tauchte zwischen dem weißen Boot und dem Ufer auf. In seinem Rachen hielt er einen Fisch. Cliffs Augen quollen aus den Höhlen, als er das riesige Exemplar sah. Glanskis paddelte mit seinen merkwürdigen Schwimmbewegungen auf das Ufer zu, dann hatte er Grundberührung und schüttelte sich wie ein Hund. Der Fisch schlenkerte hin und her. Der Raguer trabte bis zu Cliff, musterte anerkennend das Feuer und legte den Fisch vorsichtig auf einen der weißgewaschenen Felsen ab. »Goj«, sagte er. Cliff fragte verwundert: »Warum beschimpfst du mich, Prac'h?« Der Raguer schüttelte in sehr menschlicher Weise den Kopf und sagte: »Goj oder Orhan. So wird dieser Fisch, Gewicht vierundzwanzig terranische Pfunde, hier genannt. Vielleicht kennst du ihn unter dem Namen Gelbschwanz?« Cliff erwiderte düster: »Ich kenne ihn nicht. Aber ich kenne deinen schlechten Charakter, Freund! Du willst sicher andeuten, daß du ihn, von mir ausgenommen, gewürzt und gebraten, allein verzehren willst?« »Mit Gräten!« versicherte Glanskis. Auf dem Vordeck kauerte Raghilt und wusch das Geschirr ab. Sie lachte laut. Niemand konnte sie hören. Sie waren allein. Ein Zustand, den Cliff immer mehr zu schätzen lernte, je älter er wurde. Besonders unter derartigen Umständen. ENDE