Arthur Conan Doyle
DER LEDERTRICHTER
Nr. 9 http://www.GroschenStory.de GroschenStory ist ein Gemeinschaftsprojekt von: Böhnhardt Verlag Augsburg MovieCom Köln © 2001 Böhnhardt Verlag Augsburg Originaltitel: The leather funnel (1902) Übersetzung: Martin Clauß Coverzeichnung: Thomas Hofmann http://www.phantastische-ansichten.de Heftgestaltung: MovieCom, Köln http://www.MovieCom.de Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten. Das Werk wird in elektronischer Form zum freien Download angeboten und darf nur vollständig und ohne jegliche Änderung aus gedruckt, vervielfältigt und verbreitet werden.
Arthur Conan Doyle Der Ledertrichter
Mein Freund Lionel Dacre lebte in der Avenue de Wagram in Paris. Sein Haus war dieses kleine, mit den eisernen Ge ländern und dem Rasenstück davor, auf der linken Seite, wenn man vom Arc de Triomphe kommt. Ich kann mir vorstel len, daß es lange dort stand, bevor die Straße eingerichtet wurde, denn die grau en Dachziegel waren mit Flechten be deckt, die Wände verschimmelt und vom Alter farblos geworden. Es wirkte von der Straße aus wie ein kleines Haus, fünf Fenster an der Vorderwand, wenn ich mich recht entsinne, aber es vertiefte sich in eine einzige lange Kammer auf der Rückseite. Dort hatte Dacre seine ein zigartige Bibliothek okkulter Literatur und die phantastischen Kuriositäten un tergebracht, die ihm selbst als Hobby und seinen Freunden als Unterhaltung dien ten. Er, ein wohlhabender Mann von kultiviertem und ausgefallenem Ge schmack, hatte den größten Teil seines Lebens und Vermögens darauf verwen det, all dies zusammenzutragen, was als eine einmalige Kollektion von talmudi schen, kabbalischen und magischen Werken galt, die meisten von großer Sel tenheit und hohem Wert. Sein Ge schmack neigte sich in Richtung des Wundersamen und Monströsen, und ich
habe gehört, daß seine Experimente mit dem Unbekannten alle Grenzen von Zi vilisation und Anstand gesprengt haben. Seinen englischen Freunden gegenüber machte er niemals eine Andeutung in dieser Hinsicht und schlug eher den Ton eines Schülers und Virtuosen an; aber ein Franzose, der seinen Geschmack teilte, versicherte mir, daß die schlimmsten Exzesse schwarzer Messen in dieser so weiten wie hohen Halle begangen wur den, die von den Regalen seiner Bücher und den Schaukästen seines Museums eingefaßt wurde. Dacres Äußeres verriet zur Genüge, daß sein tiefes Interesse in diesen psychi schen Dingen eher von intellektueller denn von spiritueller Art war. Keine Spur von Asketismus lag auf seinem schwe ren Gesicht, aber eine Menge geistiger Kraft wohnte in seinem gewaltigen, dom-artigen Schädel, der sich aus sei nen dünner werdenden Locken wie ein schneebedeckter Gipfel aus einer Krone von Tannen erhob. Sein Wissen übertraf seine Weisheit, und seine Kräfte waren seinem Charakter überlegen. Die kleinen hellen Augen, tief in seinem fleischigen Gesicht verborgen, funkelten voll Intel ligenz und unverminderter Neugier ge genüber dem Leben, aber es waren die Augen eines Genußmenschen und Egoi sten. Genug von ihm, denn er ist tot, der arme Teufel, gestorben in demselben Moment, in dem er schließlich das Eli xier des Lebens entdeckte. Nicht sein komplexer Charakter ist es, mit dem ich
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mich hier abzugeben habe, sondern die ser äußerst merkwürdige und unerklär liche Vorfall, der seinen Ursprung in meinem Besuch bei ihm im Frühling des Jahres ’82 hatte. Ich hatte Dacre in England kennenge lernt, denn meine Forschungen im As syrischen Raum des Britisches Museums waren zu einer Zeit unternommen wor den, als er versuchte, eine mystische und esoterische Bedeutung in den Babyloni schen Tafeln festzustellen, und diese Ge meinsamkeit der Interessen hatte uns zueinander geführt. Zufällige Bemerkun gen hatten zu täglichen Gesprächen ge führt, und diese zu etwas, das an Freundschaft grenzte. Ich hatte ihm ver sprochen, ihn bei meinem nächsten Auf enthalt in Paris aufzusuchen. Zu dem Zeitpunkt, als ich in der Lage war, mein Versprechen zu erfüllen, wohnte ich in einem Landhaus in Fontainebleau, und da die Abendzüge ungünstig verkehrten, lud er mich ein, die Nacht in seinem Haus zu verbringen. „Ich habe nur eine Couch übrig“, sagte er und deutete auf ein breites Sofa im großen Salon. „Ich hoffe, du wirst dich dort wohlfühlen.“ Es war ein sonderbarer Schlafraum, mit seinen hohen Wänden aus braunen Bän den, aber für einen Bücherwurm wie mich konnte es kein angenehmeres Mo biliar geben, und es existiert kein Geruch, der für meine Nase so erfreulich ist wie der schwache, feine Duft eines alten Buches. Ich versicherte ihm, daß ich mir
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keine zauberhaftere Kammer wünschen konnte und keine mir angemessenere Umgebung. „Die Einrichtung mag weder bequem noch konventionell sein, aber wenigstens ist sie kostspielig“, sagte er, seine Rega le betrachtend. „Ich habe mindestens eine Viertelmillion auf die Objekte ver wendet, die dich umgeben. Bücher, Waf fen, Edelsteine, Schnitzereien, Wandteppiche, Bilder - kaum eines, das nicht seine eigene Geschichte hätte, und gewöhnlich eine, die es wert ist, erzählt zu werden.“ Er saß, als er sprach, auf der einen Sei te des offenen Kamins und ich auf der anderen. Sein Lesetisch stand zu seiner Rechten, und die starke Lampe warf ei nen Ring sehr lebendigen goldenen Lich tes darauf. Ein zur Hälfte aufgerolltes Manuskript lag in der Mitte, und rund herum gab es viele schrullige Nippes stücke. Eines davon war ein großer Trichter, wie man ihn zum Füllen von Weinfässern braucht. Er schien aus schwarzem Holz gefertigt zu sein, von verblaßtem Messing gerahmt. „Das ist ein eigenartiges Ding“, be merkte ich. „Was ist seine Geschichte?“ „Ah“, sagte er, „diese Frage habe ich mir gelegentlich auch gestellt. Ich wür de eine Menge dafür geben, sie zu er fahren. Nimm es in die Hand und untersuche es.“ Das tat ich und fand so heraus, daß je ner Stoff, den ich für Holz gehalten hat-
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te, in Wirklichkeit Leder war, obwohl es das Alter bis zu einer extremen Härte ausgetrocknet hatte. Es war ein großer Trichter und mochte mehr als einen Li ter fassen, wenn er voll war. Der Messingrand umfaßte das breitere Ende, aber auch das schmale war mit Metall besetzt. „Was hältst du davon?“ fragte Dacre. „Ich nehme an, es gehörte einem Wein händler oder Bierbrauer im Mittelalter“, sagte ich. „Ich habe in England lederne Flakons aus dem siebzehnten Jahrhun dert gesehen - black jacks, wie man sie nannte - die die gleiche Farbe und Härte wie dieser Trichter aufwiesen.“
„Ich möchte behaupten, daß die Datie rung ungefähr hinkommt“, sagte Dacre, „und zweifellos wurde es auch dafür benutzt, ein Gefäß mit Flüssigkeit zu füllen. Wenn meine Annahmen aller dings korrekt sind, war es ein ziemlich wunderlicher Weinhändler, der es be nutzte, und ein sehr eigentümliches Ge fäß, das gefüllt wurde. Fällt dir nichts Ungewöhnliches am spitzen Ende des Trichters auf?“ Als ich ihn ans Licht hielt, entdeckte ich, daß an einer Stelle, fünf Inches ober halb der Messingspitze, das dünne Ende des Ledertrichters zerkratzt und einge kerbt war, als hätte jemand mit einem stumpfen Messer einen Ring hinein
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geschnitten. Nur an diesem Punkt war die tote schwarze Oberfläche aufgerauht. „Jemand hat versucht, den Hals abzu schneiden.“ „Würdest du das einen Schnitt nen nen?“ „Es ist zerrissen und zerfetzt. Was im mer das für ein Werkzeug war, es war einige Kraft vonnöten, um diese Spuren auf einem so festen Material zu hinter lassen. Aber was denkst du darüber? Ich bin sicher, du weißt mehr als du zugibst.“ Dacre lächelte, und seine kleinen Au gen glitzerten voller Wissen. „Beschäftigst du dich bei deinen Stu dien auch mit der Psychologie von Träu men?“ fragte er. „Ich wußte nicht einmal, daß es eine solche Psychologie gibt.“ „Mein Lieber, das Regal oberhalb der Juwelen-Vitrine ist voll mit Bänden, bei Albertus Magnus angefangen, die sich mit diesem und keinem anderen Thema beschäftigen. Es ist eine Wissenschaft für sich.“ „Eine Wissenschaft der Scharlatane.“ „Der Scharlatan ist immer ein Pionier. Aus dem Astrologen entwickelte sich der Astronom, aus dem Alchimisten der Chemiker, aus dem Mesmeristen der ex perimentelle Psychologe. Der Quacksal ber von gestern ist der Professor von morgen. Selbst so subtile und flüchtige Dinge wie Träume werden dereinst auf Systeme und Ordnungen zurückgeführt werden. Wenn diese Zeit kommt, wer
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den die Forschungen unserer Freunde in diesem Bücherregal nicht länger ein Zeit vertreib für die Mystiker sein, sondern die Grundlagen einer Wissenschaft.“ „Angenommen, dem wäre so - was hat die Wissenschaft der Träume mit einem großen, schwarzen, messing beschlagenen Trichter zu tun?“ „Das werde ich dir erzählen. Dir ist bekannt, daß ich einen Agenten habe, der stets nach Raritäten und Kuriositäten für meine Sammlung Ausschau hält. Vor ei nigen Tagen erfuhr er von einem Händ ler, der irgendeinen alten Müll in einem Schrank in einem uralten Haus auf der Rückseite der Rue Mathurin gefunden hatte, im lateinischen Viertel. Das Eß zimmer dieses alten Hauses ist mit ei nem Wappen geschmückt, Sparren und rote Balken auf goldenem Untergrund, und es stellte sich heraus, daß es sich um das Schild des Nicholas de la Reynie handelt, eines hohen Beamten von Kö nig Louis XIV. Es besteht kein Zweifel, daß die anderen Gegenstände in dem Schrank aus den frühen Tagen dieses Königs datieren. Die Theorie ist also, daß sie alle zum Besitz dieses Nicholas de la Reynie gehörten, der, so weit ich weiß, der Gentleman war, den man mit der Bewahrung und Ausübung der drakoni schen Gesetze dieser Epoche betraut hat te.“ „Also?“ „Ich würde dich bitten, den Trichter jetzt noch einmal an dich zu nehmen und
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den oberen Messingrand zu betrachten. Kannst du eine Aufschrift erkennen?“ Es gab tatsächlich ein paar Kratzer, fast ausgelöscht von der Zeit. Insgesamt schienen sie mehrere Buchstaben zu bil den, von denen der letzte gewisse Ähn lichkeit mit einem B aufwies. „Du hältst es für ein B?“ „Ja.“ „Ich ebenso. Ehrlich gesagt zweifle ich kein bißchen daran, daß es ein B ist.“ „Aber der Adlige, den du erwähntest, hätte ein R als Initial.“ „Ganz genau! Das ist das Interessante daran. Er besaß dieses seltsame Objekt, hatte aber die Initialen eines anderen darauf. Weshalb?“ „Ich habe keine Ahnung. Du?“ „Ich könnte es eventuell erraten. Er kennst du eine Zeichnung ein Stück da neben?“ „Ich würde sagen, es handelt sich um eine Krone.“ „Es ist zweifellos eine Krone. Aber wenn du es bei gutem Licht betrachtest, wirst du dich vergewissern können, daß es keine gewöhnliche Krone ist. Es ist eine heraldische Krone - ein Rangabzei chen, und es besteht aus einer Folge von vier Perlen und Himbeerblättern, das rechtmäßige Abzeichen eines Marquis. Wir ersehen daraus, daß die Person, de ren Initialen auf B endeten, das Recht hatte, diese Krone zu tragen.“
„Dann gehörte dieser gewöhnliche Ledertrichter einem Marquis?“ Dacre zeigte ein eigentümliches Lä cheln. „Oder einem Mitglied der Familie ei nes Marquis“, sagte er. „So viel konnten wir eindeutig diesem Rand entnehmen.“ „Aber was hat das alles mit Träumen zu tun?“ Ich weiß nicht, ob es von ei nem Blick aus seinen Augen rührte oder von einer subtilen Andeutung in seiner Art, doch ein Gefühl des Ekels, des grundlosen Schreckens überkam mich, als ich den knorrigen alten Klumpen Leder ansah. „Ich habe mehr als einmal wichtige In formationen durch meine Träume erhal ten“, sagte mein Gesellschafter in der belehrenden Weise, die er so gern ge brauchte. „Ich habe es mir zur Gewohn heit gemacht, wenn ich über eine Sache im Zweifel bin, den betreffenden Gegen stand beim Schlafen neben mich zu le gen und auf eine Erleuchtung zu hoffen. Dieser Prozeß erscheint mir nicht beson ders geheimnisvoll, obgleich er noch nicht den Segen der orthodoxen Wissen schaft erhalten hat. Meiner Theorie zu folge behält ein Objekt, das mit einem besonderen Ausbruch menschlicher Emotion in Berührung kommt, sei es Freude oder Schmerz, eine bestimmte Atmosphäre oder Ahnung zurück, die es an ein empfindsames Hirn weiterzuge ben in der Lage ist. Mit einem empfind samen Hirn meine ich nicht ein abnormales, sondern ein geschultes, ge
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bildetes Hirn, wie du und ich eines be sitzen.“ „Du meinst, zum Beispiel, daß, wenn ich neben diesem alten Schwert an der Wand schliefe, ich irgendeinen blutigen Vorfall träumen würde, an dem das Schwert teilhatte?“ „Ein hervorragendes Beispiel, denn dieses Schwert wurde in der Tat von mir in jener Weise benutzt, und ich sah im Schlafe den Tod seines Besitzers, der in einer wilden Plänkelei starb, die ich nicht identifizieren konnte, die sich aber um die Zeit der Frondost-Kriege ereignet hat. Wenn du darüber nachdenkst, wirst du feststellen, daß die Tatsache bereits von unseren Vorfahren bemerkt wurde, wenngleich wir in unserer Weisheit sie als Aberglaube klassifiziert haben.“ „Zum Beispiel?“ „Nun, das Legen des Brautkuchens unter das Kopfkissen, um dem Schläfer angenehmere Träume zu schenken. Dies ist einer von mehreren Punkten, den du in einem kleinen Büchlein ausgeführt finden wirst, das ich gerade über dieses Thema schreibe. Aber um zurück zu un serem Gegenstand zu kommen - ich schlief eine Nacht neben diesem Trich ter und hatte einen Traum, der gewiß ein interessantes Licht auf seinen Gebrauch und seine Herkunft wirft.“ „Was hast du geträumt?“ „Ich träumte...“ Er stockte, und ein durchdringender Blick erschien auf sei nem massigen Gesicht. „Mein Gott, das
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ist ein guter Gedanke“, sagte er. „Das wird wahrhaftig ein außergewöhnlich in teressantes Experiment. Du bist selbst ein geistiges Wesen - mit Nerven, die be reitwillig auf jeden Eindruck reagieren.“ „Ich habe mich nie in dieser Hinsicht getestet...“ „Dann werden wir dich heute nacht te sten. Darf ich dich um einen sehr gro ßen Gefallen bitten? Daß du, wenn du heute deinen Platz auf der Couch ein nimmst, mit diesem Trichter neben dem Kopfkissen schläfst?“ Die Bitte kam mir reichlich grotesk vor; aber ich empfinde selbst, in meiner kom plizierten Natur, einen Hunger nach al lem, was bizarr ist und fantastisch. Ich hatte nicht den geringsten Glauben an Dacres Theorie oder irgendwelche Hoff nungen, daß das Experiment erfolgreich sein würde, und doch amüsierte es mich, dieses Experiment durchzuführen. Dacre schob mit großer Feierlichkeit ein klei nes Podest neben das Kopfende meines Sofas und plazierte den Trichter darauf. Dann, nach einem kurzen Gespräch, wünschte er mir eine gute Nacht und ver ließ mich. Ich saß einige Zeit rauchend an dem schwelenden Feuer und drehte und wen dete im Geiste die merkwürdige Andeu tungen, die ich erhalten hatte, und das seltsame Erlebnis, das vor mir liegen mochte. So skeptisch ich auch war, et was Eindrucksvolles war in Dacres Überzeugtheit, und meine außergewöhn liche Umgebung, der riesige Raum mit
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den fremdartigen, oft bedrohlichen Ge genständen, die ringsherum hingen, zwangen Ernst in meine Seele. Schließ lich entkleidete ich mich, löschte die Lampe und legte mich nieder. Nach lan ger Unruhe schlief ich ein. Lassen Sie mich so präzise wie mög lich die Szenerie beschreiben, die mir in meinen Träumen begegnete. Sie steht jetzt deutlicher in meiner Erinnerung als alles, was ich mit meinen wachen Au gen gesehen habe. Da gab es einen Raum, der an eine Gruft erinnerte. Vier Spandrillen aus den Ecken endeten in einer scharfen, becherförmigen Decke. Die Architektur war roh, aber sehr sta bil. Der Raum war offensichtlich Teil eines gewaltigen Gebäudes. Drei Männer in Schwarz, mit grotes ken, kopflastigen, schwarzen Samthüten, saßen in einer Reihe auf einem von ei nem roten Teppich bedeckten Podium. Ihre Gesichter waren sehr ernst und sehr traurig. Zur Linken standen zwei Män ner in langen Gewändern mit Mappen in ihren Händen, die mit Papieren voll gestopft zu sein schienen. Zur Rechten, mich anblickend, war eine kleine Frau mit blondem Haar und erstaunlich hel len, blauen Augen - die Augen eines Kin des. Ihre erste Jugend lag hinter ihr, doch noch fiel sie nicht unter mittleres Alter. Ihre Figur war ein wenig untersetzt, und sie gab sich stolz und selbstbewußt. Ihr Gesicht war blaß, aber gelassen. Es war ein merkwürdiges Gesicht, hübsch und doch katzenartig, mit der leichten Andeu
tung von Grausamkeit um den geraden, starken Mund und das runde Kinn. Sie war in ein weites weißes Gewand geklei det. Neben ihr stand ein hagerer, eifriger Priester, der in ihr Ohr flüsterte und un ablässig ein Kruzifix vor ihr Gesicht hob. Sie wandte ihren Kopf und starrte fest an dem Kreuz vorbei auf die drei schwarzgekleideten Männer, die, wie ich fühlte, ihre Richter waren. Als ich sie anstierte, erhoben sich die drei Männer und sagten etwas, aber ich konnte keine Wörter unterscheiden, ob wohl ich mir bewußt war, daß es der Mittlere sein mußte, der sprach. Sie huschten dann aus dem Raum, gefolgt von den beiden Männern mit den Papie ren. Im selben Moment kamen einige grob wirkende Burschen in dickem Wams hereingewirbelt und entfernten zuerst den roten Teppich, dann die Bret ter, aus denen das Podest zusammenge setzt war, so daß der Raum völlig leer zurückblieb. Als eine Trennwand weg getragen wurde, entdeckte ich einige bi zarre Möbelstücke dahinter. Eines ähnelte einem Bett, mit Holzrollen an beiden Enden, und eine Winde, um sei ne Länge zu regulieren. Ein anderes war ein hölzernes Pferd. Daneben gab es noch einige andere merkwürdige Gegen stände und eine Reihe von Seilen und Flaschenzügen. Das alles erinnerte mich wenig an eine moderne Turnhalle. Als der Raum völlig geleert war, er schien eine neue Gestalt auf der Bildflä che. Dies war eine großgewachsene,
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schlanke Person, in Schwarz gehüllt, mit einem hageren und ernsten Gesicht. Die Ausstrahlung des Mannes ließ mich schaudern. Seine Kleider glänzten vor Wagenschmiere und waren mit Flecken übersät. Er bewegte sich mit langsamer, eindrucksvoller Würde, als ob er von dem Moment seines Eintretens an die Herrschaft über alle Dinge übernähme. Unabhängig von seinem rauhen Äuße ren und seiner schmutzigen Kleidung war dies nun seine Arbeit, sein Raum, ihm zu Befehl. Er trug ein Bündel dün ner Seile über seinem linken Oberarm. Die Dame musterte ihn von oben bis un ten mit einem suchenden Blick, aber ihre Miene blieb unverändert. Sie war selbst bewußt - trotzig sogar. Ganz anders der Priester. Sein Gesicht war geisterhaft weiß, und ich sah den Schweiß auf sei ner hohen, gekrümmten Stirn glitzern und rinnen. Er hob seine Hände im Ge bet und unterbrach sich ständig, um der Dame fieberhafte Worte zuzuflüstern. Der Mann in Schwarz trat nun vor, nahm eines der Seile von seinem linken Arm und band die Hände der Frau zu sammen. Sie hielt sie ihm gehorsam ent gegen, als er es tat. Dann packte er ihren Arm mit einem groben Griff und führte sie zu dem hölzernen Pferd, das sich als ein wenig höher als ihre Taille erwies. Auf dieses wurde sie gelegt, mit ihrem Rücken nach unten und dem Gesicht zur Decke, während der Priester den Raum vor Schrecken bebend verlassen hatte. Die Lippen der Frau bewegten sich
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rasch, und obwohl ich nichts hören konn te, wußte ich, daß sie betete. Ihre Füße hingen zu beiden Seiten des Pferdes her ab, und ich sah, daß die bereitstehenden Rauhbeine die Seile an ihren Knöcheln und die anderen Enden an eisernen Rin gen im steinernen Boden befestigt hat ten. Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich diese ominösen Vorbereitungen sah, und trotzdem war ich gebannt von der Faszination des Grauens und konnte meine Augen nicht von dem seltsamen Schauspiel abwenden. Ein Mann hatte den Raum mit einem Eimer voll Wasser in jeder Hand betreten. Ein weiterer folg te mit einem dritten Eimer. Sie wurden neben dem hölzernen Pferd abgestellt. Der zweite Mann hielt einen hölzernen Schöpflöffel - eine Schüssel mit einem geraden Stiel - in der anderen Hand. Die sen reichte er dem Mann in Schwarz. Im selben Moment näherte sich einer der Kerle mit einem dunklen Gegenstand in der Hand, der mich selbst im Traum mit einem vagen Gefühl der Vertrautheit er füllte. Es war ein lederner Trichter. Mit schrecklicher Energie stieß er ihn hinein - aber ich konnte nicht mehr. Meine Haa re standen zu Berge vor Grauen. Ich wand mich, kämpfte, ich durchbrach die Fesseln des Schlafes und stieß mit einem Schrei zurück in mein eigenes Leben, fand mich in der gigantischen Bibliothek liegend, zitternd. Das Mondlicht flutete durch das Fenster und warf seltsame sil berne und schwarze Formen auf die ge-
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genüberliegende Wand. Oh, was für eine gesegnete Erleichterung, als ich feststell te, daß ich zurückgekehrt war ins neun zehnte Jahrhundert - zurück aus dieser mittelalterlichen Gruft in eine Welt, in der Menschen Herzen in ihrer Brust tru gen. Ich setzte mich auf meiner Couch auf, mit jedem Glied bebend, mein Kopf schwankend zwischen Dankbarkeit und Grauen. Sich vorzustellen, daß solche Dinge jemals getan wurden - daß sie ge tan werden konnten, ohne daß Gott die Schurken erschlug! War das alles Ein bildung, oder stand es tatsächlich für et was, das in den schwarzen, grausamen Tagen der Geschichte dieser Welt ge schehen war? Ich ließ meinen zucken den Kopf auf meine zitternden Hände
sinken. Und dann, plötzlich, schien mein Herz in der Brust stillzustehen, und ich konnte nicht einmal schreien, so groß war mein Entsetzen. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit des Raumes auf mich zu. Was den Geist eines Menschen zu Grunde richtet, ist ein Schrecken, der auf einen Schrecken folgt. Ich konnte nicht nachdenken, ich konnte nicht beten, ich konnte nur dort sitzen wie ein eingefro renes Bild, und die dunkle Gestalt an starren, die durch den großen Raum kam. Und dann bewegte sie sich in den wei ßen Pfad des Mondlichts, und ich atme te wieder. Es war Dacre, und sein Gesicht zeigte mir, daß er so verängstigt war wie ich.
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„Warst das du? Um Himmel Willen, was ist geschehen?“ fragte er mit beleg ter Stimme. „Oh, Dacre, ich freue mich so, dich zu sehen. Ich war drunten in der Hölle. Es war entsetzlich.“ „Dann warst du es, der schrie?“ „Und ob ich das war.“ „Ich habe durch das Haus geklingelt. Die Bediensteten haben alle Angst.“ Er strich ein Streichholz an und entzündete die Lampe. „Ich denke, wir können das Feuer wieder zum Brennen bringen“, fügte er hinzu und legte einige Holz scheite auf die Glut. „Guter Gott, mein lieber Freund, wie weiß du bist! Du siehst aus, als hättest du einen Geist ge sehen.“ „Das habe ich - mehrere Geister.“ „Der Ledertrichter hat also gewirkt?“ „Für alles Geld, das du mir bieten könn test, würde ich kein zweites Mal neben dem höllischen Ding schlafen.“ Dacre kicherte. „Ich habe erwartet, daß du damit eine lebendige Nacht haben würdest“, sagte er. „Du hast es mir heimgezahlt, denn dieser Schrei war nicht das angenehm ste Geräusch um zwei Uhr morgens. Ich entnehme dem, was du sagst, daß du die ganze scheußliche Geschichte gesehen hast.“ „Was für eine scheußliche Geschich te?“
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„Die Wasserfolter - die ‚Außergewöhn liche Befragung‘, wie sie in den erquick lichen Tages des Sonnenkönigs genannt wurde. Hast du bis zum Ende durchge halten?“ „Gottseidank nein. Ich erwachte, bevor sie richtig begann.“ „Ah, umso besser für dich. Ich stand es bis zum dritten Eimer durch. Naja, es ist eine alte Geschichte, und sie sind längst alle in ihren Gräbern, also was spielt es für eine Rolle, wie sie dorthin kamen? Ich nehme an, du hast keine Ahnung, was du da gesehen hast?“ „Die Folter einer Verbrecherin. Sie muß eine furchtbare Übeltäterin gewesen sein, wenn ihre Strafe in einem Verhält nis zu den Vergehen stand.“ „Nun, diesen kleinen Trost haben wir“, sagte Dacre, wickelte sich in seinen Morgenmantel und kroch näher ans Feu er. „Sie stand in einem Verhältnis zu ih ren Vergehen. Das heißt - falls ich recht habe, was die Identität der Dame anbe langt.“ „Wie kannst du je ihre Identität ken nen?“ Als Antwort nahm Dacre einen alten, in Velinpapier gebundenen Folianten aus dem Regal. „Hör dir das mal an“, sagte er. „Es ist Französisch des siebzehnten Jahrhun derts, aber ich werde eine grobe Über setzung dazu liefern, während ich lese. Dann wirst du selbst entscheiden, ob ich das Rätsel gelöst habe oder nicht.“
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„‚Die Gefangene wurde vor die Große Kammer und das Parlament gebracht, angeklagt wegen des Mordes an ihrem Vater Master Dreux d‘Aubray und ihren beiden Brüdern MM. d’Aubray, von de nen einer ein Zivilleutnant, der andere ein Berater im Parlament war. Es schien schwer zu glauben, daß sie wahrhaftig solch schändliche Taten vollbracht hat te, wenn man sie sah, denn sie war von mildem Äußeren und kleinem Wuchs, mit heller Haut und blauen Augen. Doch das Gericht, das sie für schuldig befand, ver urteilte sie zur gewöhnlichen und außer gewöhnlichen Befragung, damit sie gezwungen werde, ihre Komplizen zu verraten. Hiernach sollte sie in einem Karren zum Place de Greve gebracht werden, wo man ihr den Kopf abschla gen, ihren Leib verbrennen und ihre Asche in die Winde verstreuen würde. Das Datum dieses Eintrages ist der 16. Juli 1676.’“ „Das ist interessant“, sagte ich, „aber nicht überzeugend. Wie willst du bewei sen, daß diese beiden Personen ein und dieselbe sind?“ „Dazu komme ich noch. Die Erzählung fährt damit fort, das Verhalten der Frau während der Befragung zu beschreiben. ‚Als der Scharfrichter sich ihr näherte, erkannte sie ihn an den Seilen, die er in seinen Händen hielt, und sie hielt ihm sofort ihre eigenen Hände entgegen und betrachtete ihn, ohne ein Wort zu sagen.‘ Na, wie steht es damit?“ „Ja, so war es.“
„Sie starrte ohne eine Regung auf das hölzerne Pferd und die Ringe, die so viele Glieder verdreht und so viele Schmer zensschreie erzwungen hatten. Als ihre Blicke auf die drei Eimer Wasser fielen, sagte sie mit einem Lächeln: ‚All dieses Wasser muß hergebracht worden sein, um mich zu ertränken, Monsieur. Ich nehme nicht an, daß Sie vorhaben, sie eine Person von meiner Statur alle schlucken zu lassen?‘ Soll ich die De tails der Folter vorlesen?“ „Um Himmels Willen, nein!“ „Hier ist ein Satz, der dir mit Sicher heit zeigen wird, daß das hier Beschrie bene dieselbe Szene darstellt, die du heute Nacht erblickt hast: ‚Der gute Abt Pirot war aus dem Raum geeilt, unfähig, die Qualen mitanzusehen, die seine reui ge Sünderin zu erleiden hatte.‘ Über zeugt dich das?“ „Voll und ganz. Es kann keine Frage geben, daß es sich tatsächlich um das selbe Ereignis handelt. Aber wer ist dann diese Dame, deren Äußeres so anziehend und deren Ende so fürchterlich war?“ Für die Antwort kam Dacre zu mir und stellte die kleine Lampe auf den Tisch, der an meinem Bett stand. Er hob den unheilvollen Trichter und drehte den Messingrand, so daß das Licht darauf fiel. Aus dieser Blickrichtung betrachtet schien die Gravur deutlicher als letzte Nacht. „Wir sind uns bereits einig, daß dies das Abzeichen eines Marquis oder einer
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Marquise ist“, sagte er. „Wir haben auch geklärt, daß der letzte Buchstabe ein B ist.“ „Es ist zweifellos so.“ „Ich schlage dir jetzt vor, daß die an deren Buchstaben von links nach rechts folgendermaßen lauten: M, M, ein klei nes d, A, ein kleines d, und dann das Schluß-B.“ „Ja, ich bin sicher, du hast recht. Ich kann die beiden kleinen d’s recht deut lich erkennen.“ „Was ich dir heute Nacht vorgelesen habe“, sagte Dacre, „ist die offizielle Aufzeichnung der Gerichtsverhandlung von Marie Madelaine d’Aubray, Marqui se de Brinvilliers, einer der berühmte sten Giftmischerinnen und Mörderinnen aller Zeiten.“ Ich saß still da, überwältigt von der außergewöhnlichen Natur des Vorfalles und von der Vollkommenheit des Bewei ses, mit dem Dacre seine wirkliche Be deutung offengelegt hatte. In vager Form erinnerte ich mich an einige Details des Lebenslaufes dieser Frau, an ihre unge zügelten Ausschweifungen, den kaltblü tigen und langwierigen Mord an ihrem kranken Vater, den Mord an ihren zwei Brüdern aus belanglosen Gründen. Mir fiel auch ein, daß ihr mutiges Ende das Grauen ihres Lebens ein wenig aufwog und daß ganz Paris in ihren letzten Stun den mit ihr gefühlt und sie als Märtyre rin gesegnet hatte, nur wenige Tage, nachdem es sie als Mörderin verfluchte.
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Ein Einwand, nur ein einziger, kam mir in den Sinn. „Wie kamen ihre Initialen und ihr Rangabzeichen auf den Trichter? Sicher reichte die mittelalterliche Huldigung des Adels nicht so weit, Folterinstrumen te mit Adelstiteln zu schmücken?“ „Derselbe Punkt verblüffte mich auch“, sagte Dacre, „aber dafür gibt es eine ein fache Erklärung. Der Fall weckte enor mes Interesse zu seiner Zeit, und es gibt nichts natürlicheres, als daß La Reynie, der Oberhaupt der Polizei, diesen Trich ter als grausiges Souvenir behielt. Es kam nicht oft vor, daß sich eine franzö sische Marquise der außerordentlichen Befragung unterziehen mußte. Daß er zur Belehrung anderer ihre Initialen darin eingravieren ließ, war für ihn gewiß voll kommen naheliegend.“ „Und das hier?“ fragte ich und deutete auf die Spuren am ledernen Hals. „Sie war eine grausame Raubkatze“, sagte Dacre und wandte sich ab. „Ich denke, es ist klar, daß ihre Zähne, wie die anderer Raubkatzen, so stark wie scharf waren.“
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- Ende
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Eine Legende von Amazonen
von
Morris Düsterhoff
erscheint am
7. Dezember 2001
bei
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Dies ist die Geschichte der jungen, wilden Arlandera. Heimlich in den Künsten des Krieges ausgebildet, begibt sie sich auf die lan ge, gefahrvolle Suche nach dem legendären Königreich der Ama zonen... „ ... seine Hand krallte sich in ihren Arm. Im nächsten Augenblick spürte er die Spitze des Schwertes an seinem Hals. „Was ... „ „Halt doch endlich deinen widerwärtigen Mund!“ schrie Arlandera haßerfüllt. Sie bemerkte den verwunderten Blick, mit dem er den glänzenden Stahl ihres Schwertes musterte. „Ich sehe, dir gefällt mein Schwert. Ein mächtiges, geheimnisvolles Metall. Wahrscheinlich Zauberei. Es stammt aus einem fernen Reich, dem Lande der Amazonen. Sie sind die Töchter des Krieges, geboren aus den Strömen von Blut, die auf den Schlachtfeldern dieser Welt vergossen wurden. Du verdienst die Ehre, durch eine solch edle Waffe getötet zu werden, eigentlich gar nicht!“ Sie blickte in sein schleimiges, unsicheres Grinsen, sein narbiges Gesicht, in dem verwirrte Hoffnung aufkeimte, und zuckte die Ach seln. „Andererseits: was soll’s ...“
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