Wolf Weitbrecht
Der Mann aus Alaska
Verlag Neues Leben Berlin
Die vorliegende Erzählung ist dem Band „Die Falle des...
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Wolf Weitbrecht
Der Mann aus Alaska
Verlag Neues Leben Berlin
Die vorliegende Erzählung ist dem Band „Die Falle des Alderamin cherei, Bd. 287) entnommen und leicht gekürzt worden. Mit. Illustrationen von Karl Fischer
ISBN 3-355-00096-5
© Verlag Neues Leben, Berlin 1986 Lizenz Nr. 303 (305/117/86) LSV 7503 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: 8 p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 010 8 00025
Rao erwachte. Er wurde sich wieder seiner selbst bewußt. Sein Gehirn signalisierte dem ganzen Körper: Du bist Rao, du erwachst jetzt, du wirst heimgeholt, bist wieder zu Hause! Es durchrieselte ihn bis in die Fingerspitzen, bis in die Haare hinein drang dieses neue Bewußtsein, das Wissen um sich, um den Astrogator Rao ... „Tausend Planetenumläufe" kam als erstes zurück in sein Gedächtnis, tausend Umkreisungen um diesen gelbleuchtenden Stern der Klasse Prixtura-EN+. Selbst diese astronomische Formel entstand wieder in seinen Gehirnzellen. Rao empfand zwar, daß er atmete, er hörte das dumpfe Pochen des Herzens, aber noch lastete eine ungeheure Schwere auf ihm, und er war außerstande, sich zu rühren. So lag er da, horchte in sich hinein, versuchte, die wirren Muster von Gedächtnisfetzen zu ordnen. Nachdenken, Besinnen, Erinnern. Ich bin Rao, ich bin der Freiwillige, der tausend Umläufe ... Zuerst blieb Rao still liegen und blickte nach oben. Da war nicht die zartorangefarbene Decke der Steuerkabine mit dem dunkelblauen ovalen Fleck, dem Konzentrationsellipsoid in der Mitte. Nein, da wogte es hin und her. Waren das. fremde Lebewesen? Wie Arme reckten sie sich. Ein leises Knarren drang an sein Ohr. Ruckartig richtete sich der Astrogator auf. Er war nicht an Bord eines heimatlichen Schiffes! Über ihm klaffte die Kapsel weit auf. Die schwankenden Gebilde waren die Spitzen von Bäumen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Es war etwas geschehen, eine Havarie! Gewaltsam hatte eine unbekannte Macht seinen Versuch beendet. Irgendein Unfall, eine große Erschütterung mußte den Öffnungsmechanismus beschädigt haben. Lächerlich, daß dies ausgerechnet im letzten winzigen Zeitabschnitt bis zur Rückstrahlung geschehen war. Rao setzte sich auf den Rand der Kapsel, die Tasche mit der Überlebensration hatte er sich über die Schulter geworfen. Er wußte, die Gegend des Planeten, in der man ihn abgesetzt hatte, war menschenleer, unwirtlich, kalt. Das war ein Teil des Programms gewesen. Man wollte die Planetenbewohner so wenig wie möglich stören. Rao wußte von ihnen, daß ihre Technik noch in den Anfängen steckte, als er teletransportiert ... Aber die allgemeinen Evolutionsgesetze würden auch hier wirken, daher die Wahl seines einsamen Ruheortes. Doch jetzt mußte er zu den Planetariern, mußte sie suchen, nur durch sie würde er überleben können. Wenn er nun hier wegging, hatte er jedoch am Tag der Rückstrahlung wieder zur Stelle zu sein, und zwar auf die winzigste Zeiteinheit genau! Zwei Dinge baute er aus der Kapsel aus und legte sie in den kleinen Beutel mit den Konzentratpillen: seinen Zeitgeber und den Standortanzeiger, der bei der Rückkehr automatisch die Koordinaten senden würde. In seiner ausführlichen Instruktion hieß es: Kontakt mit Einheimischen nur im äußersten Notfall. Dieser Notfall war eingetreten. Prasselnd schlugen die Flammen des Lagerfeuers in den Nachthimmel. Trotz der sprühenden Funken waren Jim Porter und Gregory McMillan nicht ins Zelt gegangen, sondern hatten es vorgezogen, draußen unter den Sternen zu bleiben, wo der beißende Rauch zwar die Augen tränen machte, aber die Stechmücken vertrieb. Obgleich Anfang Juli, war die Nacht auf dem ewigen Frostboden jenseits des Polarkreises doch kalt. Die beiden Geologen hatten die kurzen Sommerwochen genutzt, um 3
mit drei Kanus den Sheenjek heraufzuziehen, begleitet von drei einheimischen Trägem, Athapasken vom Stamme der Kutchin. Es waren schweigsame, kräftige Burschen. Jim schob Gregory die Thermosflasche mit Tee hin. „Nimm noch einen Schluck. Eine Stunde vor Sonnenaufgang ist's am kältesten." Gregory drehte sich in seinem Schlafsack aus Seehundsfellen herum und schenkte sich ein. Es war sein erster Sommer im Norden, überhaupt seine erste größere Expedition. Jim war dagegen ein alter Hase. Die Strapazen hatte der Junge, Unerfahrene tapfer ertragen, immer wieder angefeuert von der Begeisterung des Älteren für diese unberührte Landschaft hier oben. „Im Grunde genommen schneide ich mich ins eigene Fleisch", hatte Jim gleich zu Anfang ihrer Fahrt geäußert. „Ich liebe diese Stille, die knarrenden Föhren, die Blautannen mit ihren dicken Zweigen, die Lärchenwälder, die Pappeln, die klaren, kalten Seen, die kurzen heißen Sommer. Ich freue mich, wenn ein Zobel über mir in den Zweigen herumturnt. Ich bin glücklich, daß es noch so ein Stück Natur gibt. Und doch trage ich dazu bei, das zu zerstören, was mir lieb und teuer ist. Denn nach mir kommen die Bautrupps, die Bergbauingenieure. Es wird Lärm, Gestank und Unfrieden geben, Messerstechereien und Besäufnisse ... Bin ich deshalb ein Mann ohne Gewissen? Nein, wir brauchen die Rohstoffe, also was bleibt mir übrig? Und außerdem ist es mein Job." Gregory gab Jim die Thermosflasche zurück. „Kalt ist's aber um diese Zeit auch am schönsten", sagte er und zeigte gegen den übermannshohen Wald. Moose, kniehohe Heidelbeersträucher, schlanke Birken, Erlen - alles so verfilzt und verwoben, daß diese Landschaft für den Blick fast undurchdringlich war. Wie hineingespießt ragten Fichten, Tannen und Lärchen auf. „Die Sonne kommt schon wieder hoch, wie schmelzendes Glas der Morgenhimmel", fügte er hinzu. Jim nickte. „Unsere letzte weiße Nacht hier. Morgen sammeln wir noch die restlichen Proben von unserer Sprengung, und dann ..." „Hat da nicht etwas geknackt? Ein Bär oder ein Wolf?" „Wird nur der Wind gewesen sein." Gregory drehte sich wieder um. „Ich seh nichts und hör auch nichts." Doch da war es wieder, unverkennbar, das waren Schritte. Vorsichtige, tastende Schritte. So tappte kein Grizzly, so schnürte kein Polarfuchs, das waren Menschenschritte ... Gregory war nun ebenfalls aufgestanden, und die beiden Geologen traten einige Schritte zur Seite, da der Schein des Feuers sie blendete und sie den etwa hundert Meter entfernten Waldrand daher nicht deutlich erkennen konnten. Es dauerte einige Augenbicke, dann hatten sich ihre Augen an das morgendliche Zwielicht gewöhnt. „Da steht doch jemand", flüsterte Jim. „Seh ich auch", antwortete Gregory. „Vielleicht ein Fallensteller? Er wäre der erste, der uns seit Wochen hier oben begegnet." „Sieht wirklich wie ein Mensch aus", meinte Jim, „obgleich so ein Graubär, wenn er sich aufrichtet, von weitem einen Mann gut und gern vortäuschen kann." „Warte, ich werde ihm ein Zeichen geben." ' Gregory ging zum Feuer und riß einen brennenden Ast heraus, den er über seinem Kopf schwenkte. „Ein Bär reißt vor dem Feuer aus, ein Jäger wird näherkommen." Und die Gestalt kam näher. Langsam, fast zögernd, Schritt für Schritt. 4
Nun erkannten es die beiden deutlich: Es war ein Mensch, schlank, das schulterlange Haar nach Indianersitte durch ein breites Tuchband um die Stirn zusammengehalten. Statt einer Feder trug er einen Tannenzweig unter das Band gesteckt. Das Gewand war kuttenartig, es schien aus Leder zu sein. Die Beinkleider ebenfalls weit und locker. Ob er Mokkasins trug, konnten sie nicht erkennen. Über der rechten Schulter hing eine Art Tasche. Waffen bemerkten sie nicht. Der Fremdling blieb etwa drei Schritt vor den beiden stehen und streckte dann seine Hände aus, die Innenflächen nach oben. Er sprach kein Wort, sein Blick war gesenkt. Soweit das erste Tageslicht ein Erkennen zuließ, hatte er eine dunkle, olivfarbene Haut. Da stand er, die Hände vorweisend, mit undurchdringlicher, fast starrer Miene. Jim begrüßte ihn auf englisch. Der andere schien aufmerksam zu lauschen, gab aber keine Antwort. Gregory hatte inzwischen die drei Kutchinindianer wachgerüttelt, die sich die Augen rieben und verblüfft den Ankömmling anstarrten. „Sprich mit ihm Na-Dene", forderte Jim ihren Anführer auf. Flinker Fuchs nickte und wandte sich an die schweigende Gestalt. Dieselbe aufmerksame Miene, aber auch hier keine Antwort. Der Kutchin zuckte mit den Schultern. „Er versteht die Na-D6ne-Sprache nicht, also muß er von weit herkommen. Bis tief nach Kanada hinein, bis zum Bärensee, sprechen alle Indianer Na-Dene, die Navaho, Tlingit, Haida und Apachen", sagte er verdrossen. „Vielleicht ist er stumm?" Als habe er auf sein Stichwort gewartet, begann der Fremde zu reden. Klangvoll, in tiefem Bariton, wenige Sätze nur. Für die Geologen, aber auch für die indianischen Träger war dies unverständlich. Die Kuchin meinten, zu ihrer Stammesfamilie würde 5
er sicherlich nicht gehören, auch sei seine Kleidung nicht bestickt, und überhaupt ... Der Fremde wiederholte die unverständlichen Worte, hielt dann inne und deutete zum Feuer, dabei machte er die Bewegung des Niederhockens. „Na also", Jim lachte, „Zeichensprache wie ehedem." Seine einladende Handbewegung wurde verstanden. Der Unbekannte setzte sich. Jim wandte sich an Gregory. „Vielleicht ist er ein Hares, ein Angehöriger des Stammes der Schneehasen. Seit Jahren hat man keinen von ihnen mehr gesichtet, und er ist womöglich der letzte." Flinker Fuchs zuckte nur gleichgültig erneut mit den Schultern. „Vielleicht, vielleicht nicht. Möglicherweise ein Mensch von Schwarz und Rot, ein Zambo?" Jim wußte, daß seine drei Begleiter einer als sehr konservativ eingeschätzten Indianergruppe angehörten, die in ihrem Nationalstolz auf Mischlinge herabsahen. Auch mit der Red Power wollten sie nichts zu tun haben. Ihre Verbindung zur AIM, der amerikanischen Indianerbewegung, war mehr als locker. Und was Jim in Fort Yukon über die dort veranstalteten Meetings gehört hatte, war unklar und verworren. Doch die drei jungen Indianer hatten bereitwillig den Kontrakt mit den unbeliebten Bleichgesichtern unterzeichnet. Das war auch so ein Widerspruch, der Jim ihren Ruf als zornige junge rote Adler nicht allzu ernst nehmen ließ. Nun gut, der Fremde war da, die Kutchin verhielten sich zurückhaltend, und je heller der Tag wurde, um so mehr wunderten sich die beiden Geologen über ihren Gast. Tee hatte er getrunken, Nahrung aber bis jetzt freundlich, doch bestimmt abgelehnt. Als die Sonne handbreit als glühender Ball über dem Wald stand, hatte er sich erhoben, war abseits gegangen und hatte dann sein Oberkleid abgelegt. Nur seinen Beutel um den Hals - sicherlich enthielt er wie bei allen Indianern sein Amulett - nahm er nicht ab. Mit ausgebreiteten Armen stand er gegen die Frühsonne gerichtet und bot seinen Oberkörper dem Licht dar. Jim fröstelte, als er ihn so sah. Die Temperatur lag zu so früher Stunde nur knapp über dem Gefrierpunkt. Doch der Fremde stand da, kein Zucken lief über die Muskeln seines schlanken, aber kräftigen Körpers, dessen Haut genauso dunkel war wie die seines Gesichts. „Sieht aus wie eine Kulthandlung", meinte Gregory. Jim hatte einen ähnlichen Eindruck. „Ein Sonnenanbster wie die alten Inkas, ist schon möglich." Als der Fremde wieder zu ihnen trat, waren beide erstaunt, wie frisch er wirkte. „Die Indianer, Gregory, waren schon immer Meister der Meditation. Autogenes Training würden wir dazu sagen." Am gemeinsamen Frühstück nahm er nun mit sichtlichem Appetit teil. Die Namen seiner Gastgeber lernte er schnell. Doch wie er heiße? Das alte Hin und Her, wie dereinst bei Robinson und Freitag. Dann begriff er. „Rao", sagte er mit seiner dunklen, wohltönenden Stimme und zeigte auf sich. „Rao." Und wo er herkomme? Eine unbestimmte, alles umschließende Handbewegung war die Antwort. Jim und Gregory nannten ihn „Rao, den letzten Hares". Sie waren überzeugt, daß ihr Gast ein - vielleicht sogar der letzte - Vertreter des Schneehasenstammes war. Doch Flinker Fuchs und seihe Stammesbrüder behandelten ihn immer noch mit 6
merklicher Zurückhaltung, ja fast mit Mißtrauen. Er war eben kein Kutchin, basta! Rao betrachtete mit gespannter Aufmerksamkeit alles, was im kleinen Lager geschah. Das Einräumen der Instrumente, das Packen der Kisten, nichts gab es, was ihn nicht interessiert hätte. Jim befürchtete zunächst, als er ihn den kostbaren Theodoliten in die Hand nehmen sah, er würde ihn fallen lassen. Aber Rao hatte geschickte Hände und begriff rasch, wo er mithelfen konnte. Jim ließ ihn gewähren, und so legte sich der letzte Hares mit großer Selbstverständlichkeit am Abend neben das Feuer zum Schlafen, nur eine leichte Wolldecke hatte er angenommen, einen Schlafsack strikt abgelehnt. * Rao lag unter dem fremdartigen Gewebe, die Augen weit geöffnet, und starrte in die Nacht. Es war klar. Die Sterne standen wie leuchtende Fackeln im Raum, fast schien es, als könne man mit bloßem Auge die Tiefe des Weltalls ausloten, so durchsichtig war die Luft. Obgleich er wußte, daß er von hier, von der nördlichen Halbkugel des Planeten aus, seinen Heimatstern nicht sehen konnte, ertappte er sich doch dabei, Vergleiche anzustellen, Vermutungen darüber, ob zum Beispiel diese hellglänzende Sternengruppe da über ihm identisch sei mit dem heimatlichen Sternbild des Flötenspielers. Doch als Astrogator wußte er auch, daß sich die Bilder verschoben hatten, daß es Mühe kosten würde, sich am Sternenhimmel zurechtzufinden. Am Sternenhimmel? Seine Gedanken kehrten blitzschnell zurück zu dieser ersten Begegnung mit den Planetariern. Sich in ihrer Welt zurechtzufinden war wichtiger für sein Überleben als alle glänzenden und funkelnden Sternbilder. Rao war über ihren äußeren Anblick nicht überrascht gewesen. Natürlich trugen sie andere Kleidung als ihre Vorfahren, deren Telebjlder er vor seiner Landung p.uf dem ewigen Frostboden gesehen hatte. Aber die bisherigen Erfahrungen.seiner Welt waren so, daß Intelligenzen einander ähnelten, zumindest wenn sich das Leben unter ähnlichen ökologischen Bedingungen entwickelt hatte. Doch er war darüber erschrocken, daß sich hier offenbar zwei Gruppen von Intelligenzen gegenüberstanden, zumindest die einen von den anderen abhängig waren und man ihn den Abhängigen zuordnete. So hatte er das Verhalten dieser beiden weißgesichtigen Männer gegenüber den anderen drei und ihm gedeutet. Bisher war Rao so etwas noch nicht widerfahren. Zwar waren die Sagen und die Geschichtsbücher voll von derartigen Schilderungen, von Ausbeutern und Sklaven, von Kriegen und Unterdrückung. Aber konkret war noch keiner von Räos Generation mit einer derartigen Klassengesellschaft konfrontiert worden. Diese drei Dunkelgesichtigen waren ihm nicht gut gesinnt, zumindest behandelten sie ihn an diesem ersten Tag gleichgültig, ja manchmal schien es Rao, als ob sie ihn bedauerten. Anders diese weißen Männer mit den merkwürdigen Namen Jim und Gregory. Je mehr der Tag fortschritt, desto öfter hörte er sie rufen: „Rao, komm her!" Und ihre Gesten waren eindeutig: Er war für sie ebenfalls ein „Indianer", wie sie die Dunkelgesichtigen nannten. Rao grübelte lange. Eines war sicher: Er durfte nicht sagen, woher er kam. Er wollte in diese Rolle eines Indianers hineinschlüpfen und sie nach bestem Können ausfüllen, das schien ihm das sicherste. Unheimlich war es dem Astrogator Rao, unwirklich kam ihm das vor, hier am Feuer zu liegen, zusammen mit fünf fremden Lebewesen, zuge7
deckt mit einem ihm unbekannten Gewebe. Er hatte Tage vor sich, von denen er nur eins wußte: Er würde am Leben bleiben, würde Rao, der letzte Haresindianer, sein und mußte lernen, seine Fähigkeiten, all seine Kombinationsfähigkeit und Ausdauer in die Waagschale zu werfen, damit sie zu seinen Gunsten ausschlug. Er hatte durchzuhalten, dazusein zur festgelegten galaktischen Sekunde, heimzukehren zu den Brüdern ... Die kleine Gruppe war glücklich in Fort Yukon angelangt. Die Kisten wurden versandt, die Dinge abgewickelt, und eines Abends stellte Gregory die Frage: „Jim, was wird mit unserem letzten Schneehasen? Möchtest du ihn nach Anchorage und weiter vielleicht bis nach Kansas City mitschleppen?" Jim kratzte sich den Schädel. „Ich weiß nicht. Er schüttelt ja jedesmal sehr energisch den Kopf, wenn ich ihn frage, wann er wieder in die Wälder ziehen will. ,No, no, no!' Das hat er am schnellsten gelernt. Doch ich fühle mich irgendwie für ihn verantwortlich. Er möchte in die Städte; du weißt ja, wie er alle Zeitungsbilder förmlich mit den Augen verschlingt, um dahinterzukommen, wie wir weißen Männer in den künstlichen Wohnbergen leben. Er will die Flugmaschinen sehen, all das, was er vom Bildschirm her weiß, trotz des ewigen Geflimmers hier oben, wegen des miesen Empfangs. Der geht nicht mehr in den Wald, der nicht. Ich dachte, vielleicht können ihn die Jungs im Museum für amerikanische Geschichte brauchen, einen waschechten Indianer, das wäre schon was, so als Erklärer für Schulklassen. Ich kenn den Direktor dort, da hätte er einen Job." 8
„Aber er hat keine Papiere. Flinker Fuchs sagte, er sei kein Athapaske. Wir müssen zur Indianeragentur, damit er so einen Wisch bekommt und einen bürgerlichen Namen." Jim dachte nach. „Warum ist er nicht wieder in den Wäldern verschwunden, so gespenstisch, wie er aufgetaucht ist? Nein, er will mit. Heute war er wieder auf dem Rollfeld, nicht ein Hauch von Verwunderung auf seinen Zügen. Es ist schon erstaunlich, diese stoische Ruhe der Rothäute." „Da kommt er gerade an", sagte Gregory. „Versuch's noch ein letztes Mal mit ihm! Er ist ja störrisch wie ein Muli!" Jim nickte, erhob sich, ging Rao entgegen, und Gregory beobachtete, wie er mit ihm auf und ab ging, ihm dabei freundschaftlich den Arm um die Schultern legte. Rao schüttelte den Kopf, gestikulierte, machte sich von Jim los, ergriff einen der Koffer, lud ihn sich auf die Schulter und paradierte so vor Jim. Gregory sah, wie Jim lachte und Rao einen leichten Schlag zwischen die Schulterblätter gab. Rao setzte den Koffer ab und lachte ebenfalls. „Überzeugend warst du sicher nicht", empfing Gregory seinen Kollegen, als dieser sich wieder zu ihm gesellte. Jim seufzte. „Ich bring es einfach nicht übers Herz. Wir nehmen ihn mit." „Vielleicht gibt das für den Indianeragenten in Anchorage eine kleine Sensation, wenn wir da vom Sheenjek den letzten Schneehasenindianer mitbringen." Gregory stand auf. „Wirst sehen, wir kommen seinetwegen noch in die Zeitung." So trat Rao die Reise mit an. Als sie in der größten Hafenstadt des Bundesstaates Alaska ankamen, hatten sich die beiden Geologen schon so an ihn gewöhnt, daß es für sie fast selbstverständlich war, wie rasch und geschickt er ihnen beim weiteren Aufarbeiten und Verpacken ihrer geologischen Materialien half. Es war phänomenal, wie schnell Rao lernte. Er verstand und sprach bereits so viel Englisch, daß er sich verständlich machen konnte. Auf Fragen nach seiner Heimat antwortete er stets: „Ich komme aus den Wäldern, hörte eure Sprengung, und nun bin ich da." Am nächsten Tag ging Jim mit Rao zur Agentur für Indianerangelegenheiten, und sie verließen das Büro mit einem Papier, das besagte, Rao Hares sei Bürger der Vereinigten Staaten, beheimatet im Bundesstaat Alaska, wohnhaft in der Region Sheenjek. Das genügte, um für Rao ein Flugticket zu kaufen. Nach der nicht ganz einfachen Abwicklung der Expeditionsangelegenheiten flogen sie ab nach Kansas City. Von dort waren die beiden Geologen im Auftrag der Kansas Oil Company losgezogen, nach Erdöl zu suchen. Auch auf dem Airport von Kansas City war es erstaunlich, mit welcher Gelassenheit Rao, der letzte Hares, alles über sich ergehen ließ, sogar die Fragen einiger cleverer Reporter, die schnell herausbekamen, daß die Erlebnisse dieses Indianers, des letzten Schneehasen, mehr Zeilen hergaben als Jims und Gregorys geologische Erkundungen. Auch beim Chefgeologen der Kansas Oil wurde Rao bestaunt, befragt, ja bewundert, aber eine Tätigkeit, eine Verwendung? Man hatte genug Arbeitslose, und nicht nur unter den Coloured people. , Das erstaunte Rao zutiefst. Coloured people, farbige Leute, das waren er, die anderen Indianer, die Menschen mit den schwarzen Gesichtern und krausen Haaren, die Braunhäutigen. Das hatte er rasch begriffen. Und daß diese weißen sich etwas Besseres 9
dünkten, war ihm schon am Sheenjek und noch mehr in Anchorage deutlich geworden. Doch hier, in diesem eleganten Büro der Kansas Oil, hörte Rao zum erstenmal, daß auch unter den Weißgesichtern solche existierten, die keine Arbeit hatten. Aufgefallen war ihm das in den ersten beiden Tagen hier nicht. Also war sein erster Eindruck ungenau gewesen, es mußte noch etwas anderes Trennendes geben - nicht nur die Hautfarbe. Rao nahm sich vor, dahinterzukommen, was dies war und warum es nicht nur unter den Farbigen Arbeitslose gab. Denn was arbeitslos zu sein bedeutete, hatten ihm beim Abschied die Kutchinträger erklärt, neidisch darauf, daß er mit den Geologen mitfliegen durfte, sie aber nun einen neuen Job suchen mußten, und der war schwer, sehr schwer zu finden. Raos Gedanken wurden durch den Chefgeologen unterbrochen. „Was soll mir ein Wilder aus den fernsten, frostigsten Wäldern? Wenn Sie wollen, Jim, behalten Sie ihn bei sich, für den nächsten Trip dorthinauf. Aber mehr als fünfzig Dollar im Monat kann ich Ihnen dafür nicht zulegen." Dann drehte er sich brüsk um und begrüßte herzlich einen eben eingetretenen elegant gekleideten Mann, einen Mann mit deutlich dunkler Gesichtsfarbe. Das Gespräch mit Jim und Rao war für ihn beendet. Jim schlug draußen vor der Lifttür Rao freundschaftlich auf die Schulter. „Fünfzig Dollar, ein lukratives Angebot, weiß Gott ...!" Doch als er Raos Miene sah, hielt er inne. „Was ist denn los, Schneehase! Ist dir nicht gut?" Rao schluckte. „Ich verstehe nicht ..., der Mister, der da hereinkam ..." „Ah, Mister Bolden, der stellvertretende Finanzmanager, was ist mit ihm?" „Aber er hat doch dunkle Haut - und war trotzdem das, was ihr einen Boß nennt." „Das ist's, was dich verwundert hat?" Jim lachte schallend. „Es gibt sie auch, die farbigen Rechtsanwälte, Ärzte, Finanzleute, so wie du eben einen gesehen hast. Aber das sind die Ausnahmen, die verschwindend geringen Ausnahmen, mein Lieber! Mußt dich schon daran gewöhnen, nicht alles ist immer so, wie man es dir und mir weiszumachen versucht." Rao nickte stumm. Ein merkwürdiger Planet, auf dem er nun zu überleben hatte. Blieb nur noch das Museum für amerikanische Geschichte. Nachdem Jim ihn dort angeschleppt hatte, wollte man Rao behalten, auf Probe. Ein echter Indianer als Führer durch die ständige Ausstellung des Museums, das konnte ein Zugmittel werden. Was er dort sollte, was man von ihm erwartete, tjegriff Rao nie so recht. Eines war für ihn wichtig: Auch dort hielten sie ihn für einen Indianer, und es war völlig logisch, daß er sich anstrengte, soviel wie möglich über diese „Rothäute" zu erfahren. Sein Ruf als Ureinwohner Alaskas erleichterte es ihm, scheinbar naiv klingende Fragen zu stellen. So erfuhr er, daß diese Amerikaner schon den Mond betreten hätten, was den Roten noch nicht gelungen sei. Das waren aber andere Rote als die Rothäute, zu denen man ihn zählte. Man nannte sie auch Kommunisten, und sie waren in diesem Land, in dem er sich befand, wohl sehr unbeliebt. Gleichzeitig, das hatte Rao schnell gespürt, wußte man im Grunde genommen kaum etwas Konkretes über sie. Im Museum für amerikanische Geschichte erschloß sich Rao eine schlimme Vergangenheit seiner roten Brüder. So etwas hatte er bis zur Stunde noch nie erfahren, daß ein Volk nur wegen anderer Hautfarbe und anderen Bräuchen um des nackten Vorteils willen so bis aufs Hemd ausgeraubt wurde! Wie paßte das in den Rahmen der 10
technischen Entwicklung, zu Atomkraft, Laser, Mikrotechnik und Fernsehen? Denn diese Ausplünderung war beileibe keine historische Reminiszenz, das wurde Rao rasch klar. Sie bestand fort bis auf den heutigen Tag, und nicht nur die Indianer waren die Opfer. Da gab es Puertorikaner, Mischlinge und allein Millionen Schwarze. Alles, was nicht blütenweiß sei, wäre minderwärtig, hatte ihm ein blonder, sommersprossiger Assistent im Museum in fröhlicher Munterkeit erklärt. Das Leben bei Jim befriedigte ihn immer weniger. Gut, er hatte sein Essen, eine Existenzgrundlage, einen Job. Viele, auch weiße Amerikaner, bangten davor, ihre Arbeit zu verlieren. Als er einmal fragte, ob es bei den angeblich so feindlichen Roten auch Arbeitslose gäbe, erhielt er eine ihn höchst verwundernde Antwort, dort existiere keine Arbeitslosigkeit, weil der Staat alles beherrsche. Der Verlust der Freiheit sei der Preis, den man drüben dafür zahlen müsse, Arbeit und Wohnung zu haben. Doch wer könne sich dort zum Beispiel eine Ferienreise nach Honolulu leisten? Niemand! Eingesperrt seien sie drüben, damit sie nicht vergleichen könnten, wie frei und ungebunden das Leben in der westlichen Welt sei! Rao ging daraufhin gedankenvoll nach Hause. Natürlich traute er seinem Gewährsmann, dem Sommersprossenjüngling, keine großen Geistesqualitäten zu. Aber als er vorsichtig bei Jim nachforschte, kam dieselbe Dutzendmeinung zum Vorschein. Eines Tages kam ein kräftiger, etwas finster aussehender junger Mann mit straffem blauschwarzem Haar ins Museum und fragte nach Rao Hares. Das farbige, mit schwarzroten Mustern bestickte Band, das er um den Kopf trug, wies ihn als einen Osageindianer aus. Rauchendes Rohr, so war der Name des Besuchers, musterte Rao lange und • stellte ihm dann einige Fragen, so nach dem Massaker in Wounded Knee, wo 1890 Sitting Bull getötet worden war. Was er davon wisse, ob Rao die Pläne der Regierung kenne, den Indianern ihre Reservationen erneut zu stehlen, denn viele der zweihundertsiebenundsechzig Reservationen seien sehr reich, ob Rao dies bekannt sei? Natürlich wisse er das, gab der letzte Hares zur Antwort. Allein sechzig Prozent aller Energievorräte der USA lägen auf Indianerland, davon neunzig Prozent des Urans, dreißig Prozent der Kohle ... Rao zählte noch mehr auf, der Osage hörte ihm mit wachsendem Interesse zu. „Weißt du vielleicht auch, wie viele Verträge die Weißen mit den Indianern abgeschlossen und wieder gebrochen haben?" erkundigte er sich. „Mit unseren Vorvätern wurden insgesamt dreihundertneunundachtzig Verträge geschlossen", erwiderte Rao wie aus der Pistole geschossen, und er begann die wichtigsten Passagen zu zitieren. Rauchendes Rohr war befriedigt. Er senkte seine Stimme und sagte zu Rao: „Es ist ausgezeichnet, daß du das alles kennst und aufzählen kannst. Dir ist doch sicher bekannt, daß wir uns nichts mehr gefallen lassen wollen, daß zum Beispiel die Navahos sich mit"2weiundzwanzig anderen Stämmen aus zehn Bundesstaaten zu einem ,Rat über die Energievorräte der Stämme' zusammengeschlossen haben? Weißt du auch, daß sich die Weißen bereits militant gegen uns organisieren? Über hunderttausend sind es schon, die sich brüsten, Indianergegner zu sein und die Kugel im Lauf zu haben. Du kennst das doch: Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer!" 11
Rao nickte. Es schauderte ihn, schrecklich war dies, aber die roten Brüder waren eindeutig im Recht. „Wir brauchen dich, Rao Hares", fuhr Rauchendes Rohr fort. „Die American Indian Movement, die AIM, hat mich geschickt. In den Zeitungen werden wir gewöhnlich als Red Power bezeichnet. Du solltest hier aufhören und zu uns kommen, Flugblätter schreiben, Artikel, Petitionen, deine Geschichtskenntnisse verwerten. Das ist eine Bitte an dich." Zuerst erschrak Rao. War ihm doch die dringende Ermahnung stets gegenwärtig, sich niemals in die Angelegenheiten fremder Planetenbewohner einzumischen. Aber konnte er das noch aufrechterhalten, nach allem, was er gesehen und gelesen hatte? Mußte er nicht helfen, seine Fähigkeiten für das Gute und Richtige einsetzen? Er war uneins mit sich selbst und bat um eine Bedenkzeit. Der Osage verstand ihn und nickte zustimmend. „Aber bedenke dich nicht zu lange, letzter Schneehase! Du könntest dich am Ende zwischen zwei Stühle setzen." Vierzehn Tage später klingelte bei Jim das Telefon. Es war der Museumsdirektor. „Weißt du, Jim, der Bursche-da, den du uns geschickt hast, sehr nett, sehr sympathisch. Dieser Rao, ein phänomenales Gedächtnis, Tatsache. Er sagt, wenn er eine Buchseite einmal gesehen hat, kann er sie sich so plastisch vorstellen, daß er nur das abzulesen braucht, was da gedruckt steht. Toll, was? Aber deswegen rufe ich nicht an. Wir können ihn nicht mehr gebrauchen. Ja, du hast richtig verstanden. Er ist für uns keine Hilfe. Im Gegenteil. Er hält die Jungs von der Arbeit ab mit seiner dauernden Fragerei. Er kostet uns zuviel Zeit. Warum? Himmel, Jim, weil er sich dauernd irgendwelche alten Schmöker aus dem Archiv heraussuchen läßt. Es gibt schon Beschwerden. Nein, auch als Museumsführer nicht geeignet. Das kann er nicht. Tut mir leid, Jim, ich schick ihn dir wieder zurück. Ist kein Job für ihn. Cheers!" „Ich gehe morgen." Jim hob die Beine vom Tisch und warf die „Kansas News Week" auf den Boden. „Was ist los?" „Ich sagte, morgen gehe ich. Ich muß mich selbst zurechtfinden. Vielleicht trampe ich zurück nach Alaska, aber ich weiß noch nicht." Jim starrte Rao an, als sähe er ihn zum erstenmal. „Aber warum, in drei Teufels Namen? Behandle ich dich nicht gut, hast du Hunger, fehlt dir etwas?" Rao schüttelte den Kopf mit den langen dunklen Haaren. „Du meinst es gut. Aber ich muß mich in dieser Welt allein zurechtfinden, ich sagte es schon." Rao stand an der Tür, in seiner Lederkleidung, den Beutel über der Schulter. Im hellen elektrischen Licht erschien er Jim noch fremder, unwirklicher als damals in der Morgendämmerung am Lagerfeuer. Ehe er aufspringen, Rao zurückhalten konnte, hatte der letzte Hares die Tür hinter sich geschlossen. Jim hörte das Gitter des Lifts klappen, dann das bekannte Surren. Er war allein. Wütend schmiß er die zerknüllte Zeitung in eine Ecke. „Verdammte Rothaut! Nichts als Scherereien!" Er war überzeugt, spätestens in drei, vier Tagen würde Rao wieder vor ihm stehen, ausgehungert, ratlos ... Nach Norden, über North Dakota in den Staat Montana, dahin wurde Rao von seinen roten Brüdern geschleust, an den Oberlauf des Missouri zwischen den riesigen beiden 12
Stauseen, an den Garrison-Stausee bei dem kleinen Ort Wolf Point, das Reservat der Schwarzfußindianer, bekannt als einer der bedeutendsten Stämme beim einstigen Kampf gegen die weißen Eindringlinge. Auch heute noch war Wolf Point Reservation, dicht an der Grenze nach Kanada gelegen, ein Brennpunkt der Indianerbewegung. Von dort war auch Schwarze Wolke nach Süden gezogen, zu den großen organisatorischen Zentren der AIM, und dorthin reist er nun zurück, begleitet von Rao Hares und Rauchendem Rohr, dem Delegierten der AIM für diesen Bereich. In einem gemieteten wackligen Willis ging es hinaus in die karge Hügellandschaft des Missouri. Ziel war eine Siedlung in der Fort-Peck-Reservation der Schwarzfüße. Das Aussehen des Dorfes war geprägt vom Leben im Reservat. Neben einem grob aus Holz gehauenen, grellbemalten Totempfahl stand ein Wigwam, der als SouvenirShop für Touristen - meist aus Europa - eingerichtet war. Da gab es Friedenspfeifen, angeblich aus dem Originalstein der heiligen Steinbrücke von Pipestone in Minnesota, Mokassins, mit gefärbten Stachelschweinborsten verziert, oder Ketten aus Bärenzähnen, die sich bei näherem Betrachten als Plastimitationen entpuppten. Ein Indianer mit pompösem Federschmuck saß in einem Kennedy-Schaukelstuhl vor dem bemalten Tipi, paffte eine unindianische moderne Shagpfeife und warf nur einen flüchtigen Blick auf Rao, Schwarze Wolke und Rauchendes Rohr. Sie lenkten ihren Allradwagen hinter das Reklamezelt auf einen Parkplatz, über dessen Einfahrt ein buntbemaltes Schild hing: „Welcome in the Blackfoot Reservation!" 13
Auf den ersten Blick konnte man sehen, daß die Einwohner ohne geregelte Tätigkeit waren, denn sie saßen oder lungerten zwischen den baufällig aussehenden Holzfertighäusern herum. Kaum einer, der irgendeine kleine Schnitzarbeit in der Hand hielt. Es waren meist alte Männer, Frauen und quirlige Kinder, die näher kamen, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Die wenigen jungen Männer, so sagte Schwarze Wolke, seien drüben in Kanada zur Arbeit, würden dort allerdings weit unter Tarif bezahlt. Aber es gäbe dort nicht die Diskriminierung wie in den Staaten, und sie blieben meist drei, vier Monate weg. So kam es auch, daß die Versammlung am Abend, auf der Rao und Rauchendes Rohr zu den Schwarzfüßen im Namen der AIM sprechen sollten, mehr einem Ältestenrat glich als einer Kundgebung von zornigen jungen Männern. Rauchendes Rohr war unzufrieden. Leider sprach Rao den Schwarzfußdialekt noch unvollkommen, daher hatten viele ihn nicht ganz verstanden, man betastete auch ungeniert und neugierig seine Kleidung. Ja, ein alter Jäger schüttelte sogar den Kopf, als Rauchendes Rohr erwähnte, Rao gehöre zu den Haresindianern in Alaska. „Sie mißtrauen dir, du siehst so anders aus, besonders deine Hautfarbe, du verstehst die Sprache hier noch schlecht. Und vieles, was du sagst, kann man einfach nicht so ausdrücken. Was soll das heißen, den Langmessern das Land wieder wegnehmen? Die Vereinten Nationen sollen uns helfen, Soldaten aus allen Staaten der Welt schicken, um uns unser Recht wiederzugeben. Das glauben sie nicht, ich auch nicht. Das ist ich weiß nicht -, als ob du keine Ahnung hättest, was eigentlich in dieser Welt vorgeht. Und was du da gesagt hast von der Vereinigung aller Unterdrückten, egal welcher Hautfarbe, das läßt du sein! Das riecht nach Kommunismus, und über den hast du auch nur gelesen und wenig davon auf dem Bildschirm gesehen. Du warst selbst nicht dort, kannst nichts beweisen. Du stößt damit deine Zuhörer nur vor den Kopf." Rauchendes Rohr war wütend. „Merke dir, du Phantast, hier bestimme ich. Ich werde dich nicht mehr als Agitator einsetzen, du verwirrst nur." Rao war gekränkt. „Ich beherrsche doch den Dialekt der Schwarzfüße von Tag zu Tag Ijesser." Schwarze Wolke bestätigte dies und versuchte ihn zu beruhigen. „Paß auf, letzter Schneehase, heute schläfst du zum erstenmal unter dem Totem der Blackfeet. Sieh zu, daß du einen bedeutsamen Traum hast, der wird dir deinen Weeg zeigen!" Er war sehr enttäuscht, als Rao ihm am nächsten Morgen sagte, daß er keinen Traum gehabt, keine sprechenden Bilder gesehen habe, ja, daß er eigentlich überhaupt niemals träume! Nun schüttelte auch Schwarze Wolke bekümmert den Kopf. Ein Indianer ohne Traum? Dann war er krank, dieser Rao Hares. Der Astrogator ertappte sich dabei, sich immer stärker in seine Rolle als diskriminierter Indianer hineinzufühlen. Er mußte etwas tun, mußte helfen, mitwirken an der Beendigung dieser unwürdigen Verhältnisse. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu jenen anderen Roten, doch hier im Reservat konnte ihm niemand mehr sagen, als er,in Kansas City bereits erfahren hatte. Er begriff nicht, warum Rauchendes Rohr so wütend geworden war, als er damals von der Vereinigung aller Unterdrückten gesprochen hatte. Es war von ihm auch mehr eine Frage als eine Feststellung gewesen, aber diese Furcht vor den anderen war bis in 14
die Indianerbewegung eingesickert. Durchhalten, das trat immer wieder in sein Bewußtsein, und in der ihm verbleibenden Zeit Informationen sammeln, sich ein Bild machen! Er war sich klar darüber, daß er für einen Kundschafter auf einem fremden Gestirn nicht die optimale Voraussetzung hatte. Ein Freiwilliger, ein guter Astrogator mit hoher technischer Ausbildung, mit einem tadellosen Gedächtnis - jetzt bedauerte er es, sich nicht mehr historische Kenntnisse über die eigene Vorzeit angeeignet zu haben. Er empfand, daß ihm vielleicht innere Zusammenhänge schneller klar würden, verfügte er hier über ein' detaillierteres Wissen. Er identifzierte sich immer mehr mit den Indianern, sah darin die wirkungsvollste Möglichkeit, sein Anderssein zu verbergen und unerkannt zu bleiben. Denn - das sagte ihm alles, was er bisher über Rassendiskriminierung erlebt und erfahren hatte ehe er einem entsprechenden fachkundigen Gremium tatsächlich seine außerirdische Natur beweisen konnte, hätten Fanatiker ihn .wahrscheinlich längst gelyncht. Nein, das beste war, ein möglichst echter letzter Schneehase zu bleiben. Es war beschlossen worden, mit einem Kanu den Milk River hinaufzufahren, um dann in den French River einzubiegen, da, vom kanadischen Val Marie kommend, in der dortigen Gegend Athapasken aufgetaucht seien, vielleicht Hundsrippenindianer. Was lag näher, als Rao, den man zum Stamme der Schneehasen rechnete, dorthin zu entsenden, um die Kontaktaufnahme mit den roten Brüdern aus Kanada möglichst unauffällig und ohne Zeugen vorzunehmen. Mit Rao sollte Schwarze Wolke paddeln. Das Komitee in Wolf Point, von dem die Information kam, versprach sich viel von dem Unternehmen. Es war ein typischer Indianersommer, golden leuchteten die Ahornbäume, Spinnfäden segelten durch die Luft. Obgleich die Nächte schon empfindlich kühl, waren die Tage noch warm und wohltuend. Die beiden waren rasch vorangekommen. Trotz des Ungewohnten erwies sich Rao als guter Helfer für Schwarze Wolke. Irgendwo am French River sollten sie die Athapasken treffen. Abends, wenn sie ein Feuer angezündet und gegessen hatten, lehrte ihn der Blackfoot die alten Kriegsgesänge des Großen Bundes. Mit halbgeschlossenen Augen saß er da, wiegte rhythmisch den Oberkörper und sang von den Büffelherden, so zahlreich wie die Sterne am Himmel, vom mannshohen Gras und vom Heldenmut der Roten Adler, die mit allen ihren Kräften ihre angestammten Jagdgründe verteidigt hatten. Manchmal stimmte er auch eine Totenklage an. Unheimlich klangen in Raos Ohren die langgezogenen nasalen Töne, die sich plötzlich zu schrillem Tremolo erhoben und dann wieder in den klagenden Gleichklang absanken. Schwarze Wolke wollte, daß er sich die Gesänge der Ahnen einpräge, und als Rao ihm erzählte, nie dergleichen gehört zu haben, war er erstaunt. Die Schneehasenindianer kannten keine Sänger in ihrem Stamm, die dazu auserwählt waren, die Geschichte von einer Generation zur anderen weiterzugeben? Rao spürte aufkeimendes Mißtrauen und versuchte, Schwarzer Wolke das Leben in der vereisten Tundra zu schildern - ein Leben, das er selbst nur aus Büchern des historischen Museums kannte. So wenige seien sie noch gewesen, nie hätte ein Sänger den Weg bis zu ihrem mit Moos und Schnee winterfest gemachten Tipi gefunden, in dem er von den Großeltern aufgezogen worden sei. 15
Den halben Tag hatten sie angestrengt gepaddelt, auch zweimal das Kanu aus dem French River gehoben, um es am Ufer entlang um Klippen und Stromschnellen herum zu tragen. Nun schien es, als ob wieder eine Strecke ohne Hindernisse vor ihnen liege. Sie schoben ihr Kanu ins rasch fließende Wasser. Rao saß vorn, während Schwarze Wolke dem Kanu noch einen Stoß gab, damit es besser vom Ufer abkam. „Vorsicht", rief Rao, „das Wasser ist hier bei der schnellen Strömung schon recht tief und sehr kalt." Trotz dieser Worte sprang Schwarze Wolke mit einem Satz in den Fluß. Er spürte, wie ihm die Brust eng wurde. Mit zwei hastigen Schwimmstößen hatte er das Kanu erreicht und griff nach dem Bootsrand. Er griff daneben, weil im selben Moment das leichte Fahrzeug von einem Wirbel gedreht wurde. Rao streckte ihm die Hand hin. Schwarze Wolke hatte sie erfaßt und wollte gerade Schwung holen, da schoß um die nächste Flußbiegung herum ein knorriger Baumstamm direkt auf sie zu. Rao, der ihn kommen sah, rief: „Laß los, sonst kentern wir", aber Schwarze Wolke konnte ihn wegen des brausenden W,assers nicht verstehen. Voll traf ihn ein armdicker Ast des treibenden Baumes an die linke Schläfe. Mit Entsetzen sah Rao das Blut, die Hand in der seinen wurde schlaff, schon war sie ihm entglitten, und als Rao sich zu Schwarze Wolke hinüberbeugte, um ihn zu fassen, kenterte das Kanu. Rao tauchte sofort. Erst fand er den Gefährten nicht, dann aber, die Geschwindigkeit des Wildwassers berechnend, sah er ihn beim dritten Tauchversuch auf dem steinigen Grund liegen. Mit geübtem Griff brachte er ihn an die Oberfläche und ans Ufer. Schwarze Wolke war von dem Schlag noch immer bewußtlos. Die Wunde an der Schläfe blutete, aber nur oberflächlich. Nach Minuten gelang es dem Astrogator, seinen irdischen Begleiter wieder zu sich zu bringen. Doch der erlittene Schock hatte den Blackfoot sehr geschwächt. Erst jetzt wurde ihnen bewußt, daß ihr Kanu mit der gesamten Ladung verloren war. Sie saßen am Ufer des kleinen, aber gefährlichen French River und trockneten ihre Kleidung. Außer einem Klappmesser war ihnen nichts von Nutzen geblieben. Aber ein Indianer gibt nicht auf. So schwach Schwarze Wolke noch war, nach seinen Anweisungen suchte Rao zwei Holzstücke von verschiedener Art, trockenes Moos, und er erlebte, wie geschickt durch Reibung ein Feuer entzündet werden konnte, Kunst der Ahnen, weitergegeben trotz Gasfeuerzeugen und Streichhölzern. Das Feuer leistete ihnen in der kühlen Nacht einen guten Dienst, und am Morgen beratschlagten sie, wie es nun weitergehen sollte. „Dem Wasser flußabwärts zu folgen ist das beste. Vieleicht finden wir einen Waldläufer oder stoßen auf die Zelte der Athapasken", sagte Schwarze Wolke. Sie brachen auf. Unterwegs fanden sie Waldbeeren, fingen Fische und entzündeten jeden Abend nach Urväterart das lodernde, anheimelnde Feuer. Am vierten Tag erblickten sie gegen Abend eine dünne Rauchfahne, die hinter der nächsten Flußbiegung aufstieg. So sah kein Waldbrand aus, das war das Feuer eines Jägers oder Fallenstellers! Und sie hatten Glück. Sie stießen auf einen dunkelhäutigen, in zerschlissene Leggings gekleideten Mann mit grauem Stoppelbart, der mächtig erschrak, als Rao und Schwarze Wolke so unvermutet an seinem Feuer auftauchten. Er sprach nur gebrochen englisch, nannte sich Jacki le Coque und war ein Zambo. Freundlich nahm er die beiden auf und bot ihnen an, sie zu begleiten, da er ebenfalls in die Blackfoot Reservation wollte, um dort einen Handelspartner zu treffen. Zu16
vor müsse er aber noch einige Fallen kontrollieren. Ein Floß zu bauen, wie es Rao im Sinn hatte, hielt er für gefährlich, sie würden unweigerlich ein zweites Mal kentern. Er kenne den Teufelsriver und sei deshalb auf dieser Strecke immer zu Fuß oder mit seinem Muli unterwegs. Als ob es auf sein Stichwort gewartet hätte, erscholl der Schrei eines Maultiers in unmittelbarer Nähe. Gesehen hatten es die beiden nicht, so gut hatte es Jacki le Coque versteckt gehalten. Als sich die drei der Reservation näherten, stießen sie auf eine Gruppe junger Indianerinnen. Die starrten erst die zerlumpten und schmutzigen Gestalten an wie Präriegeister und rannten dann laut schreiend zu den Bretterhütten. Rao war sehr erschöpft und nahm deshalb nur im Unterbewußtsein wahr, daß Rauchendes Rohr auf sie zugelaufen kam, ihn und Schwarze Wolke mit seinen kräftigen Armen unterfaßte. Mit Hilfe des Fallenstellers schaffte er sie in ihre Behausung. Rao sank auf das schüttere Grizzlyfell und war in Sekunden fest eingeschlafen. Jacki le Coque erzählte, während am Lagerfeuer der Medizinmann vorsichtig die verkrustete Kopfwunde von Schwarzer Wolke abtastete, ehe auch der sich niederlegen durfte, wie er beide getroffen habe und daß Schwarze Wolke bereits bei den Großen Ahnen gewesen sei, als Rao ihn vom Flußgrund heraufgeholt habe. So hätte es ihm sein roter Bruder erzählt ... Freundlich wurde der Zambo zum Bleiben aufgefordert, so freundlich waren die stolzen Blackfoot noch nie zu ihm gewesen. Gut, daß die beiden auf ihn gestoßen waren, noch besser, daß er mit seinem Gewehr Fleisch erjagen konnte, um sie wieder so weit zu Kräften zu bringen, daß sie durchhielten bis hierher, ins heimatliche Reservat. Schwarze Wolke kam und lud Rao in die Hütte des Häuptlings Weißer Hirsch. Würdig saßen die Alten im Kreis, als er mit seinem Begleiter eintrat. Ihre wetterzerfurchten Gesichter zeigten keinerlei Regung, der Chief des Reservats reichte ihm das Kalumet. Feierlich wurde der heilige Rauch in die vier Windrichtungen geblasen, noch immer war kein Wort gefallen. „Rao Hares, du wirst auf eine lange Reise gehen", begann dann der Älteste. „Wir haben dich auserwählt, weil deine Zunge in vielen Sprachen spricht, weil Manitu dir einen Geist verliehen hat, der alle Schlechtigkeiten der Langmesser bewahrt. Die Schwarzfüße werden dich zu einem Meeting in ein fernes Land entsenden als ihren Sprecher, als den Sohn des Großen Bundes der Nordstämme. Du bist ein Hares, du wirst ein Blackfoot werden. Schwarze Wolke hat dich auserwählt. Sein Bruder wirst du sein." Der Häuptling schwieg und blies erneut den Rauch in das Tipi. Schwarze Wolke stand auf. „Rao, ich nehme dich an als Bruder, ich nehme dich auf in die große Familie der Schwarzfüße. Du wirst würdig die uralte Tradition des Bundes vertreten. Steh auf!" Rao erhob sich, das Zeremoniell war ihm fremd und etwas unheimlich. Zwar hatte er von Aufnahmezeremonien gelesen, ja, daß selbst Kinder von weißen Siedlern so zu Indianern gemacht worden waren. Und nun sollte er ein Schwarzfuß werden! Schwarze Wolke hatte ein Messer mit perlenverziertem Griff hervorgezogen, es dem Häuptling gegeben, der es, auf der flachen Hand haltend, zur Spitze des Tipis emporhob. „Manitu, blicke auf uns, sei uns günstig, bestätige diesen Bund des Blutes zwi17
sehen Rao, dem Hares, und Schwarzer Wolke, dem Sohn des Großen Bundes!" Er blies feierlich aus seinem Kämmet Rauch über das Messer, dann erhob er sich ebenfalls. Rao und Schwarze Wolke stellten sich so, daß ihre Oberarme sich berührten. Der Häuptling in seinem vollen Adlerfedernschmuck ritzte geschickt mit einem Schnitt beiden die Haut, so daß ihr Blut sich miteinander im Herabfließen vermischte. In einem kleinen Schälchen fing er einige Tropfen auf und schüttete sie in das Feuer in der Zeltmitte, das leise aufzischte. Der Rauch stieg unvermindert senkrecht zur Spitze empor und zog dort durch die Rauchklappe ab. Aufmerksam betrachteten die Ältesten das Zeichen. Es war günstig, Manitu bewilligte den Bund. Erneut bekamen Schwarze Wolke und Rao das Kalumet gereicht, während der Medizinmann grüne Blattei auf die Schnittwunden legte und sie mit einer Ranke wilden Weins festband. Der Häuptling wandte sich dem neuen Stammesgenossen zu. „Rao, dein Name wird Flinke Zunge sein. Dein Mund wird unser Mund sein, dein Herz wird dir sagen, was du dort im fernen Land über das Leben und die Nöte der großen Nation der Schwarzfüße zu berichten hast." Die Zeremonie war beendet. Noch etwas taumelnd vom ungewohnten Nikotin, stolperte Rao gemeinsam mit Schwarze Wolke ins Freie. Jetzt war er aufgenommen, war kein Fremder mehr, dem man mißtrauisch nachblickte. ' In Mexico City sollte der nächste Gesamtamerikanische Indianerkongreß zusammentreten, und die AIM hatte so viel Geld gesammelt, daß aus allen größeren Reservationen ein Delegierter dorthin fahren konnte. In Mexiko selbst waren sie die Gäste der Regierung. Morgen schon wollte sich sein neuer Blutsbruder mit Rauchendem Rohr nach Wolf Point begeben und dort das Flugticket kaufen. Doch am nächsten Tag kam Schwarze Wolke niedergeschlagen von einer Besprechung zurück. Angeblich waren alle Flugzeuge ausverkauft. Nur mit „Sonderpreis", das hieß nüchtern, mit Bestechung der Angestellten, wäre etwas zu machen gewesen. Das Komitee in Wolf Point hatte vorgeschlagen, die Strecke bis zur Grenze im Willis zurückzulegen, sich sozusagen von Reservat zu Reservat durchzuschlagen und dabei die neuesten Informationen zu sammeln. So wichen'sie auch den Schikanen der Behörden aus, die offen erklärt hatten, sie würden es zu verhindern wissen, daß aus den USA zahlreiche rote Strolche nach Mexiko kämen ... Rao war einverstanden, zumal Schwarze Wolke ihn bis zu den Papagos begleiten wollte. Einfacher wäre es schon gewesen, sich in ein Flugzeug zu setzen oder einen Zug zu nehmen. Aber den armen Teufeln bleib keine andere Wahl. Wer wußte, ob andere Delegierte eine ebenso günstige Möglichkeit wie Rao hatten, eine Reise im Jeep durch die Staaten anzutreten. Ein Plan war aufgestellt, vom Komitee bestätigt und die einzelnen Tagesabschnitte festgelegt. Gut zehn tage würden sie unterwegs sein. Der alte Willis ratterte und keuchte. Rao war erstaunt, wie geschickt Schwarze Wolke die großen Städte mied, wie er überall, in Randsiedlungen, bei Farmarbeitern, Kontakt bekam. So schweigsam er sonst war, stundenlang konnte er am Abend mit Leuten debattieren, die zu dem alten Wagen wie zu einem Wallfahrtsort gepilgert kamen. Schwarze Wolke beherrschte mehrere Indianersprachen, und Rao war erstaunt, welch 18
große Autorität er genoß. Auf Raos direkte Frage erzählte er fast widerwillig, daß er 1974 in Norddakota beim zehntägigen Treffen in der Reservation der Standig Rock Sioux dabeigewesen sei und zu den Gründern der IITC gehörte, jenem Indianischen Internationalen Vertragsrat, dem am 10. Februar 1977 der Beraterstatus bei den Vereinten Nationen gewährt worden war. Und 1978 war er in der Navaho Reservation, in deren Hauptstadt Window Rock in Arizona, einer der Delegierten von hundertsechzig Stämmen gewesen, die dort Gemeinschaftsaktionen zum Schutz ihrer vertraglichen Rechte berieten. Raos enormes Gedächtnis, die Kenntnis ebenjener Verträge, sein selbstsicheres, ruhiges Auftreten und seine Beherrschung der Indianersprachen war für Schwarze Wolke und sein Wirken in der IITC wichtig. Die Achtung, die man den beiden entgegenbrachte, bewirkte auch, daß sie nie ohne etwas waren, ohne Geld nämlich, und daß der Tank des alten Willis stets Benzingallonen schlucken konnte. Immer mehr näherten sie sich der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten war trotz ihrer Länge gut bewacht, weniger wegen der Schmuggler, sondern um die illegale Einwanderung arbeitsuchender Mexikaner zu verhindern. Hier in Arizona besaß Schwarze Wolke viele Freunde. Der günstigste Punkt zum Hinüberwechseln lag in der Reservation der Papagoindianer, deren Gebiet unmittelbar an den mexikanischen Bundesstaat Sonora grenzte. Sie fuhren meist am späten Abend, wenn es kühler wurde, und sie fuhren ohne Licht. Schwarze Wolke kannte hier Weg und Steg. So erreichten sie unbehelligt die wenigen wackligen Wellblechhütten, bei denen auch einige Apachenfamilien lebten, die von den weißen Siedlern schon vor langer Zeit bis hierher in den Süden abgedrängt worden waren. Dann saßen sie um ein knisterndes Feuer, die breitrandigen Cowboyhüte in den Nacken geschoben, rauchten, tranken aus Mexiko geschmuggelten Pulque und tauschten Neuigkeiten aus. Ja, vom Indianerkongreß hatten die Gastgeber gehört, und sie waren erfreut, daß ihre Besucher aus dem Norden daran teilnehmen würden. Aber die Meinungen waren geteilt. Die Jungen versprachen sich nichts oder nur wenig davon. „Man wird Reden halten, man wird in den Zeitungen über uns schreiben, man wird über das ,schreiende Unrecht' empört sein, das uns seit der Landung von Kolumbus ununterbrochen zugefügt wurde. Und später, nach dem Kongreß, wird es wieder still werden, und nichts wird sich ändern." Doch auch solche Stimmen waren zu hören, die meinten, immerhin würde man auf die Indianer blicken. „Die Zeit arbeitet für uns" war deren Devise. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie aufbrachen, um Rao weiterzuschleusen. Der Weg über die Grenze, der durch eine bizarre Landschaft mit wild aufgetürmten roten Felssäulen, die an alte Burgruinen erinnerten, führte, war sehr anstrengend. Kein Lufthauch, flirrende, trockene Hitze. Der Staub verklebte Augen, Nase und Rachen. Obgleich die beiden Fahrzeuge, der Willis von Schwarze Wolke und ein alter Ford der Apachen, den Abstand groß hielten, fühlte Rao sich doch wie ein Ertrinkender in einem Meer von rotem, trockenem, puderartigen Sandstaub. Kurz vor dem ersten mexikanischen Ort - Sonoyta - war ein Pfosten rechts von der Piste in den Boden gerammt. Oben hing windschief eine ovale Holztafel, die, primitiv 19
gemalt, das mexikanische Wappen zeigte. Schwarze Wolke stoppte und wies darauf. Rao erblickte den Adler, der mit der Schlange im Schnabel auf einem Kaktus saß das Staatswappen der Vereinigten Mexikanischen Staaten. „Jetzt bist du in wenigen Schritten in Mexiko, alles habe ich dir gesagt, du wirst den Stammesbund der Schwarzfüße gut vertreten", sagte Schwarze Wolke. Er sprang aus dem Wagen, half Rao heraus, langte nach dem kleinen Bündel und wartete 1 ; bis der Ford heran war. Rao stieg um, und Schwarze Wolke legte ihm die Hand auf die rechte Schulter. „Manitus Wille ist erfüllt." Dann setzte er sich hinter das Steuer und verschwand mit seinem Willis in einer riesigen rötlichen Staubwolke, ohne sich noch einmal nach Rao umzusehen. Am Schlagbaum selbst war es unkompliziert. Die Apachen hatten Passierscheine, und als Rao sein Papier der Indianeragentur vorzeigte, wurde ihm vom diensttuenden mexikanischen Zöllner ohne weiteres der Stempel zum Betreten der Estados Unidos Mexicanos draufgedrückt. Rao dachte immer noch an Schwarze Wolke. Ihm war klar, daß sich nun ihre Wege . endgültig getrennt hatten. Ob Schwarze Wolke ähnliches empfand? Der Tag, an dem Rao von den Gefährten zurückgeholt werden sollte, rückte'näher. Und Rao war weiter vom Zielpunkt entfernt als je zuvor auf diesem verdammten, uneinigen Planeten! Die Fahrt ging weiter nach Sonoyta, wo ein Organisationsstützpunkt für den Kongreß eingerichtet worden war. Dort legte Rao den Vertretern des Veranstaltungskomitees den Wampum der Schwarzfuße vor, bekam alles Nötige und verabschiedete sich von den Apachen. Einige Tage blieb er in der Stadt, um noch die Ankunft weiterer De20
legierter aus den Staaten abzuwarten. Mehrmals sah Rao den schwarzen Ford in der Staubwolke auftauchen. Er erfuhr, daß Schwarze Wolke ohne weiteren Aufenthalt bei den Papagos wieder nach Norden zurückgekehrt sei. Das war das letzte, was er von seinem irdischen Bruder hörte. Sie waren siebzehn, die von Sonoyta aus die Reise in die Hauptstadt antraten, diesmal mit dem Flugzeug. Bei ihrer Landung auf dem riesigen Airport von Mexico City wurden sie von Mitgliedern des Organisationskomitees erwartet. Obgleich bereits bis hierher gedrungen war, daß der letzte Schneehasenindianer und jetzige Blackfootdelegierte ein phänomenales Gedächtnis haben sollte, staunte man doch, wie geläufig er spanisch sprach; die wenigen Tage in Sonoyta hatten dafür genügt. Rao war überrascht, als er in der modernen Halle des Sheraton-Hotels „Maria Isabell", dem Tagungsort, würdige Häuptlinge in vollem Adlerfedernschmuck sitzen und ihr Kalument rauchen sah. Es schien, als sei die Urzeit des roten Mannes wiedererstanden. Die mexikanische Regierung als Schirmherr des Kongresses versäumte nichts, um der Welt und den Vereinten Nationen zu zeigen: Bei uns gibt es keine Rassendiskriminierung! War nicht der große Benito Juarez auch ein Indianer? Die staatsbürgerliche Gleichberechtigung sollte unter anderem auch durch eine Sonderausstellung im weltberühmten anthropologischen Nationalmuseum bewiesen werden, dessen Eingang noch immer vom riesigen, grob aus Lavastein herausgehauenen, von der Zeit zernagten aztekischen Regengott Tlalok bewacht wurde. Wieder und wieder zog es Rao dorthin. Vom Hotel, das in der Paseo Reforma in der berühmten „Zona rosa" lag, ging er, verfolgt von flinken Augen der schwarzhaarigen Schuhputzerjungen, gern zu Fuß, vorbei am Unabhängigkeitsdenkmal mit dem vergoldeten Engel auf der Marmorsäule, bis zum Diana-Brunnen am Eingang des großen Parks Chapultepec. Dann weiter zum Museum. Schon allein der riesige rechteckige Hof mit dem nur durch eine Säule getragenen frei schwebenden Innendach, genannt „ombrello", der Schirm, an dem ständig kühlendes Wasser herabrann, hatte es ihm angetan. Rao wurde nicht müde, die klimatisierten kühlen Räume des Museums zu durchwandern. Den weltbekannten riesigen steinernen Aztekenkalender studierte er ebenso aufmerksam wie in den Vitrinen die kleinen Tonfiguren, die Bauern, Handwerker und Krieger aus vorspanischer Zeit. Nicht nur Vertreter von Indianerstämmen waren Kongreßteilnehmer, es kamen auch Soziologen, Archäologen, Sprachwissenschaftler, Ärzte. Der Generalsekretär der UNO hatte sich angesagt, der Staatspräsident selbst würde feierlich die Konferenz eröffnen. Rao saß mitten unter den Delegierten. Ein faustgroßer goldfarbener, aus eloxiertem Blech geprägter Aztekenkalender wies ihn als Teilnehmer aus. Aufmerksam blickte er auf alles, was um ihn her geschah. Wie würdig seine Stammesbrüder hier Platz genommen hatten! Ein uralter Sioux bot dem Präsidenten von Mexiko bei dessen Eintritt ein rauchendes Kalumet aus dem heiligen roten Stein an, und der Mann mit dem großen Goldstern auf der linken Brustseite des Fracks und der Schärpe in den Farben der Estados Unidos Mexicanos, Grün-Weiß-Rot, auf der»der Adler mit der Schlange kunstvoll mit 21
Silber- und Goldfäden ins weiße Feld gestickt war, nahm würdevoll die Pfeife und blies den bläulichen Rauch feierlich in alle vier Himmelsrichtungen, bemüht, dabei keinen Hustenreiz zu bekommen. Dann wurde das Präsidium gewählt, die Repräsentanten nahmen die Plätze ein, und nun erfolgte der feierliche Aufruf der Delegierten. Jedesmal, wenn der Stamm genannt wurde, erhob sich der betreffende Delegierte von seinem Platz, und ein Trompetenton verkündete dem Plenum, daß hier einer stand, der im Namen seiner fernen Stammesbrüder sprechen würde. Aufmerksam verfolgte Rao das Zeremoniell, und als der Ruf ertönte: „Rao Hares, Blackfoot-Association", stand er ebenfalls auf, rief sein „Present" und verneigte sich gegen das Präsidium. Nach der Eröffnung hatte der Präsident von Mexiko die Delegierten zu einem ersten Empfang geladen. Auch Rao ließ sich im Strom der Delegierten in den großen Saal des Hotels treiben, stand an der Wand, ein Glas mit Grapefruitsaft in der Hand, und versuchte, im Stimmengewirr die Worte des Präsidenten mit der bunten Schärpe zu erhaschen. Rao ertappte sich dabei, daß er sich trotz seines Wampumps, seiner Adlerfeder der Schwarzfüße und der verzierten Mokassins gegenüber den prächtigen Hauben und Adlerfedern und den bestickten Leggings vieler Delegierter ein wenig ärmlich vorkam. Was da an alten Schmuckstücken zur Schau gestellt wurde, hätte jedem Völkerkundemuseum der Erde zur Ehre gereicht. Zum Glück hatte ihm der Stammesälteste noch kurz vor der Abfahrt eine lange Kette mit Grizzlybärenklauen umgehängt. Seit Generationen in Stammesbesitz, würde sie in Stunden der Not vom Kriegshäuptling der Blackfeet getragen. So hatte er wenigstens etwas aufzuweisen, was der großen Nation, der Stammesvereinigung, die er vertrat, würdig war, ein Stück, das vom heroischen Kampf gegen die Langmesser kündete. Rao stand da, trank einen Schluck, und in dem stickigen Saal mit den vielen Menschen wurde ihm merkwürdig zumute. Er vermeinte plötzlich wieder in den eiskalten Fluß hinabzutauchen, um Schwarze Wolke zu suchen, er hörte ein Brausen in den Ohren ... / Rao erwachte in einem hellen Raum, über ihn beugte sich ein älterer, ihm gänzlich unbekannter Mann. „Na, mein Freund, wie fühlen Sie sich?" redete er den letzten vom Stamm der Schneehasen an. Sein Spanisch klang hart. Rao hatte Mühe, ihn zu verstehen. Deshalb antwortete er zunächst in Englisch, verbesserte sich aber sofort. „Aha, Sie sprechen auch englisch", erwiderte der ältere Herr erfreut. „Das ist mir lieber." Und er wechselte in die andere Sprache. „Wo bin ich, was ist mit mir geschehen?" „Sie sind im Zentralhospital von Mexico City, mein Freund. Während des Empfangs nach der Eröffnung des Indianerkongresses sind Sie bewußtlos geworden und liegen nun schon drei Tage hier. Kreislaufversagen. Ich bin Professor Iwanowski. Man hat mich zu Ihnen gerufen, weil ich als Spezialist für Indianer gelte. Ich leite ein Hospital im Urwald von Yucatän und bin jetzt Chef der Abteilung für Indianer im Zentralhospital. Verzeihen Sie mir mein holperiges Englisch. Ich bin Russe, verstehen Sie." 22
„Russe?" Trotz seiner Schwäche richtete sich Rao im Bett auf. „Sie sind Russe? Wie sind Sie hierhergeraten? Von dort geflohen?" Verblüfft fuhr der Professor zurück. „Aber nein, nicht doch", wehrte er erschrocken ab, „ich bin hier im Rahmen eines Abkommens meiner Regierung mit Mexiko. Wie kommen Sie ..." Rao unterbrach ihn. „Entschuldigen Sie, aber ich bin noch nie einem Menschen von der anderen Seite begegnet, habe nur darüber gelesen und einiges auf dem Bildschirm gesehen." Er bemerkte, daß die Miene seines Gegenübers besorgt wurde, und fuhr eilig fort: „Was geschieht mit mir, was wollen Sie tun? Ich fühle mich völlig entkräftet." „Sie reden zuviel, das strengt Sie zu sehr an. Was ich tun will? Wie bisher: Infusionen, leichte Herzmittel, vor allem Schonung ..." Rao setzte sich auf und blickte den Professor fest an. „Ich weiß, was mit mir los ist", sagte er leise auf englisch. „Ich weiß es besser als Sie und alle Ärzte und Spezialisten, die Sie noch anfordern werden. Schon auf meiner Reise habe ich geahnt, daß es geschehen wird, aber hier ... Professor, ich muß hier weg! Es ist zu heiß, das hält mein Organismus nicht aus! Sie wissen, woher ich kornme?" Iwanowski nickte und wollte ihn beruhigen. „Jeder Organismus kann sich anpassen, das ist nur eine Frage der Zeit und der Dosierung. Der Mensch kann alles ..." „Der Mensch", erwiderte Rao Hares mit einer so seltsamen Betonung, das Iwanowski ein Schauer überlief. „Professor, das beste für mich ist, Sie stabilisieren möglichst rasch meinen Kreislauf, damit ich wieder nach dem Norden zurückkehren kann. Doch wie ich das schaffe, ist mir selbst noch unklar. Ich bin in einer schlimmen Lage. Einerseits erwartet der Bund der Blackfeet, daß ich hier auf dem Kongreß auftrete. Das kann ich nicht, das ist mir klar, dazu reichen meine Kräfte nicht. Andererseits sind meine roten Brüder zu arm, um mir zu helfen, und wenn ich hier nichts für sie geleistet habe..." Er hielt erschöpft inne, sank auf das Kissen zurück und schloß die Augen. Iwanowski nahm seine Hand. „Erst müssen Sie wieder Kräfte gewinnen, dann finden wir gemeinsam einen Weg. Vertrauen Sie mir, Rao Hares." Rao richtete seinen Blick auf den Professor, und in seinen Augen lag eine Unerbittlichkeit, eine Forderung, die Iwanowski erschrecken ließ. „Einen Weg finden", murmelte er. „Doch warten ist noch schlimmer. Verstehen Sie mich nicht? Glauben Sie mir, das Klima hier in Mexiko ist tödlich für mich. Hätte ich das gewußt, nie wäre ich hierher zum Kongreß gekommen. Verlieren' wir keine Zeit." Seine Stimme klang beschwörend. „Aber es ist bekannt, daß es hier sehr warm und feucht ist", antwortete der Professor kopfschüttelnd. „Ich bin erst zu kurze Zeit hier, um das alles zu wissen. Als ich aus meinen Wäldern kam, hatte ich keine Vorstellung, wie groß und vielfältig diese Welt ist. Ich will überleben, verstehen Sie, überleben! Wenn mein Organismus wieder einigermaßen normal arbeitet, werde ich, nein, muß ich nach Alaska zurück. Was ist in Amerika schon ein Indianer wert? Ich will nicht in dieser mörderischen Welt der Weißen bleiben. Helfen Sie mir, bringen Sie mich weg, schnell, ehe es zu spät ist! Ich höre schon die Flügel des Todesvogels ..." Der Professor nickte verstehend. Ein Indianer mit einer derartigen Todesfurcht, es mußte ernst um den rätselhaften Mann stehen; Er kannte die Indianermentalität. 23
„Aber wie stellen Sie sich das vor? Ich kann doch nicht den Delegierten der Schwarzfüße mir nichts, dir nichts in ein Flugzeug nach Anchorage stecken ..." „Ja, Anchorage, besser Fort Yukon, dorthin müssen Sie mich ..." Rao konnte nur noch flüstern, dann wurde er erneut ohnmächtig. Sein ganzer Körper glühte, und der Kreislauf war schlecht. Iwanowski erinnerte sich, daß man ihm berichtet hatte, der Hares habe jeden Tag stundenlang im kühlen Hof des archäologischen Museums gesessen. Schon möglich, daß für ihn als Nordländer das Klima unerträglich war. Rao erwachte erneut. Er hatte keinerlei Vorstellung darüber, wie lange er wohl geschlafen habe. Aber er fühlte sich frisch und empfand, daß sein Herz wieder regelmäßig schlug und seine Gedanken klar waren. Der unheimliche Druck, das Gefühl, in einem wabernden, undurchsichtigen Nebel zu stecken, war gewichen. An seinem Bett saß ein blondes Mädchen mit braunen Augen, die ihn gespannt anblickte und sofort auf einen Knopf drückte, als sie bemerkte, daß Rao wach geworden war. Nach wenigen Augenblicken betrat Iwanowski das Zimmer, ihm folgte ein Mann in weißem Kittel, den der Professor als einen Landsmann von sich vorstellte. „Professor Kusmitsch leitet hier die endokrinologische Abteilung, und seine Idee war es, ihrem überreizten Organismus mit Winterschlafhormonen zu Leibe zu rücken und - wie ich mit Freuden sehe - erfolgreich!" Dann trat der lebhafte, rundliche Kusmitsch mit dem grauen kleinen Kinnbart an das Bett, blickte Rao in die Pupillen, wies an, daß ein kompliziertes Gerät hereingerollt wurde, um Puls, EKG und Gehirnströme zu messen, und sagte: „Na also, haben 24
wir das mexikanische Klima doch überlistet!" Sein Lachen klang dröhnend und gesund, und er strahlte Optimismus und Zufriedenheit aus. „Morgen wird eine Delegation Sie kurz besuchen. Leider war es Ihnen ja nicht vergönnt, Ihren großen Stammesbund dort zu vertreten. Man wird Sie bitten, einige Sätze auf Tonband zu sprechen. Fühlen Sie sich dazu schon in der Lage? Denn in zwei Tagen ist die Konferenz zu Ende, und die Vertreter der Stämme kehren zurück. Leider muß ich Sie zumindest noch eine Woche hierbehalten." Rao nickte zustimmend, und Kusmitsch ordnete an, nachdem er sorgfältig die geschriebenen Kurven studiert hatte, Rao noch eine Injektion zu geben. Aufstehen? Kommt noch nicht in Frage. Erst abwarten, wie er morgen den Besuch der Delegation verkrafte. Würdig und gemessenen Schrittes betraten die drei Abgesandten des Kongresses Raos Krankenzimmer, gefolgt von den beiden Professoren und dem Direktor des Zentralhospitals. Allen voran, in mit bunten Fransen geschmückter Hirschlederkleidung, der Kopräsident der Tagung, der älteste Siouxhäuptling, jener, der bei der Eröffnung dem Präsidenten von Mexiko das rauchende Kalumet gereicht hatte. Auch jetzt trug er es im Arm und blies symbolisch in alle vier Himmelsrichtungen. Den Tabak anzuzünden hatten die Ärzte streng untersagt. Gemessen war die Unterhaltung, langsam gingen Worte und Sätze hin und her, ehe der jüngste der Besucher, in Blue jeans gekleidet, aber mit dem farbigen Stirnband der Odjibwas, Rao das Mikrofon reichte und sein Aufnahmegeräht bereitmachte. Rao sprach nur wenige, aber eindringliche Sätze. Er sprach im Namen des Stammes, der ihn, den Unbekannten, als Blutsbruder aufgenommen hatte. Er sprach davon, wie viele Indianer wirklich die letzten ihrer Stämme seien und daß nur eines helfen könne: einig und geschlossen zu sein, sich als eine große Nation zu begreifen. Alle sollten einen zentralen Rat wählen, wie es die Navahos getan hätten. Er, der Delegierte der Schwarzfüße, würde schon heute, vom Krankenlager aus, dem zustimmen. Die Mienen der Abgesandten zeigten keine Regung bei Raos Worten, aber ihr Händedruck beim Abschied war fest. Es schien, als solle diesem Indianderkongreß doch mehr Bedeutung zukommen, als es die Gegner wahrhaben wollten. Das schimmerte bereits zwischen den Zeilen einiger wichtiger Zeitungen hindurch, als die Entwürfe der Abschlußdokumente veröffentlicht wurden. „Rote Nation mit roten Ideen?" wurde da beispielsweise orakelt, und andere wieder wollten wissen, daß Amerika daraus eine Bedrohung erwachse. Eine ausländische Macht hätte auffallendes Interesse an einigen einflußreichen Delegierten gezeigt. So werde beispielsweise der erkrankte Vertreter der Blackfeet im Zentralhospital ausgerechnet von zwei dort arbeitenden Russen behandelt. Bekannte Wissenschaftler, ehrenwerte Männer, gewiß doch. Aber vielleicht selbst Werkzeuge in einem ihnen unbekannten Spiel? Lange überlegte der Astrogator. Er wollte unbedingt zurück, durfte unter keinen Umständen den Zeitpunkt verpassen dort oben am Sheenjek. Denn, das stand für ihn fest, er hatte Wichtiges zu berichten, ja, er. wollte seine ganze Beredsamkeit aufbringen, um den Kommandanten des heimatlichen Schiffes zum unverzüglichen Eingreifen zugunsten der Unterdrückten dieses blauen Planeten zu veranlassen. Diese beiden russischen Ärzte, ihnen vertraute er. Daß sie ihm helfen würden zurückzukehren war 25
für ihn Gewißheit. Aber wie sie überzeugen? Kusmitsch hatte mit dem Versuch der Winterschlafhormone, ohne es zu wissen, bereits einen Zipfel von Raos Identität gelüftet. Würden sie ihm glauben, wenn er selbst den anderen Teil enthüllte? Entschlossen zog er die Sprechanlage zu sich herüber und bat, Professor Iwanowski möge zu ihm kommen ... ' „Nun beruhige dich, mein Lieber. Nochmals der Reihe nach!" Professor Kusmitsch legte seine runde Hand Iwanowski auf die Schulter, der mit aufgeregten Augen vor ihm saß. „Als ich kam, erklärte er mir, seine Krankheit sei eine Übersteuerung seines Stoffwechsels gewesen. Seine Art sei durch das Hautpigment fähig, wie unsere irdischen Pflanzen Licht direkt in Energie umzuwandeln. Fünfzehn Grad Celsius seien bei ihm zu Hause schon eine große Hitze. Aber auch Nahrungsaufnahme durch den Mund und Verwertung im Darm finde statt. Und das alles brachte er so vor, als sei er selbst Arzt - aber eben einer ganz anderen medizinischen Richtung; ich weiß nicht, ich war sehr verwirrt." „Verständlich." „Und dann sagte er: ,Ich vertraue Ihnen mein Geheimnis an: Ich bin kein Mensch, kein Irdischer, ich bin aus einer anderen Welt. Man hat mich auf Ihrem Planeten abgesetzt, vor tausend Jahren, würden Sie sagen. Doch durch eine Havarie ist meine Anabiosekapsel zu früh aufgesprungen, und ich bin Hares, der letzte Schneehasenindianer, geworden, um zu überleben. Wenn ich aber nicht pünktlich wieder dort oben bin, wo man mich abgesetzt hat, muß ich bis ans Ende meiner Tage auf Ihrem Planeten leben und werde meine Brüder, meine Heimat nie wiedersehen. Daher meine Bitte: Helfen Sie mir!' Meine erste Reaktion war ein Griff nach seinem Puls. Doch er schüttelte den Kopf. ,Keine Fieberphantasie. Ich habe noch einen Beweis. Damals, als ich Schwarze Wolke aus dem Wildwasser rettete, konnte ich gar nicht ertrinken. Ich habe das, was Sie bei ihren Fischen Kiemen nennen, und kann unter Wasser atmen.' Und dann hat er seine langen Haare zurückgestreift. Hinter den Ohren hat er eine tiefe Spalte, und dort schimmerte es rot, rosa, ich weiß nicht. Dann bin ich aus dem Zimmer gerannt, um Sie zu holen. Für einen allein ist das zuviel!" Kusmitsch riß, gefolgt von seinem Kollegen, mit fröhlichem Gruß die Tür zu Raos . Zimmer auf, gab sich völlig unbekümmert und sagte fast nebenbei: „Na, lieber Freund, da wollen wir mal." Dabei zog er eine Lupe aus der Tasche und untersuchte gründlich die beiden tiefen Spalten hinter den Ohrmuscheln Raos. „Wie lange können Sie damit unter Wasser atmen?" Rao zuckte die Schultern. „Genau weiß ich es nicht, aber so zwei bis drei Stunden." Seit Kusmitsch im Zimmer war und so direkt und ohne jede sensationelle Neugier mit ihm sprach, war über Rao eine große Ruhe gekommen. Wenn einer mich begreift, dann ist es dieser Mann. Der Urwalddirektor Iwanowski ist irgendwie zu aufgeregt, dachte er, und er antwortete: „Alle meiner Art haben diese Eigenschaft." Kusmitsch zog den Stuhl ans Bett, setzte sich und blickte Rao aufmerksam an. „Alle?" Rao bestätigte es erneut und fügte hinzu: „Und auch das, was ich Professor Iwanow26
ski über die Hautatmung gesagt habe, ist bei uns ein allgemeines Körpermerkmal. Ich bin kein Irdischer, das können Sie doch als Ärzte nun am besten beurteilen." Kusmitsch sah ihn nachdenklich an. „So, und nun erzählen Sie uns das, was Sie für nötig halten." Sie standen an Raos Bett. Das erste Aufstehen hatte er gut überstanden, in wenigen Tagen würde er reisefähig sein. Iwanowski beugte sich über ihn. Er flüsterte: „Nur Kollege Kusmitsch und ich wissen um Ihr Geheimnis, nur wir kennen die Ergebnisse der biologischen Untersuchungen, und wir sind überzeugt, daß Sie tatsächlich von dort" - er machte eine vage Bewegung nach oben - „kommen. Verstehen Sie, was es für die Menschheit bedeutet, Sie wieder zurückkehren zu lassen, so als ob Sie nie hiergewesen wären? Lassen Sie uns das alles nach Ihrem Verlassen der Erde veröffentlichen! Wir geloben Ihnen, vorher kommt weder ein Wort noch ein Buchstabe an die Öffentlichkeit. Ob man uns Glauben schenkt, ist eine ganz andere Frage: Wahrscheinlich wird man unsere Ergebnisse für gefälscht halten." Rao dachte nach und richtete sich auf. „Dann werde ich einen weiteren exakten Beweis liefern. Ich möchte Ihnen die genaue Lage meiner Kapsel beschreiben. Wenn ich an Bord zurückgestrahlt worden bin, können Sie später das Gelände untersuchen und werden dabei die Kapsel finden. Deren außerirdische Herkunft steht außer Zweifel. Es sind Materialien verwandt worden, die auf der Erde unbekannt sind. Man wird das bei der ersten Metallanalyse erkennen." Kusmitsch wollte ihn unterbrechen, aber Rao fuhr fort: „Ich weiß, ich habe gegen ein Gebot verstoßen, das mir während meiner Ausbildung immer wieder eingehämmert worden ist: Gib nie deine Herkunft preis! X)och hier blieb mir keine andere Wahl. Sie, Professor Kusmitsch, sind für mich ein wahrer Mensch wie der Urwalddoktor auch. Und ich kann allein nicht überleben. Lassen Sie mir meine Maske als .letzter Hares'. Ich habe sie aufgesetzt, als ich ans Lagerfeuer der beiden Geologen trat, und ich muß sie so lange tragen, bis mein Schiff mich wieder hinaufnimmt in den großen Ring." „Wie lange haben wir noch Zeit?" fragte Kusmitsch sachlich. Rao griff nach seinem Amulettbeutel und zog eine Art Uhr heraus, die schon auf den ersten Blick sehr fremdartig wirkte. Er drückte einige Knöpfe und sagte dann: „In fünfzehn irdischen Tagen muß ich wieder in Alaska sein. Die exakte Zeit kann ich schwer in Stunden, Minuten und Sekunden ausdrücken; wir haben andere Zeitbegriffe. Und hier" - er griff nach einem anderen, eiförmigen Gegenstand, an dessen schlankem Ende ein grüner Lichtpunk pulsierte -, „wenn das Lämpchen rot leuchtet, weiß ich, daß der Leitstrahl genau meinen Standort erfaßt hat. Halte ich mich etwas mehr als hundert Meter von meiner havarierten Kapsel auf, wird der Strahl nur mich und nicht die defekte Anabiosekammer hinaufstrahlen. Nach Abklingen des Feldes in drei Monaten können Sie sie der Welt als Zeichen unserer Existenz präsentieren, auch mit einem Bericht über mich. Bitte helfen Sie mir, damit ich meinen Ausgangspunkt rechtzeitig erreiche!" Iwanowski und Kusmitsch berieten sich leise. Dann sagte der Urwalddoktor: „Allein schaffen wir es nicht. Wenn Sie uns erlauben, noch eine dritte Person einzuweihen, die über Geldmittel und Einfluß verfügt und für die ich mich verbürge, dann können 27
wir Ihre Rückkehr an den Sheenjek zum angegebenen Zeitpunkt realisieren. Alles andere bleibt wie besprochen." „Wer ist diese dritte Person?" „Es ist unser Botschafter hier in Mexiko. Ich bin mit ihm zur Schule gegangen, wir sind gemeinsam in den Komsomol eingetreten. Er wird uns verstehen, vor allem auch den politischen Aspekt." „Gut, ich bin einverstanden." Dann stellte Iwanowski die Frage: „Haben Sie in den Staaten jemanden, dem Sie vertrauen, der vielleicht etwas für Sie vorbereiten könnte, einen Hundeschlitten oder was sonst nötig wäre?" Rao überlegte. „Meine Schwarzfußfreunde sind arm und würden das auch nicht begreifen. Vielleicht Jirn, der Geologe in Kansas?" „Wie kann man ihn erreichen?" „Ich habe die Adresse - aber nein, vielleicht ist es doch besser, ihn aus dem Spiel zu lassen. Schreiben kann man so etwas sowieso nicht." „Dann werde ich fahren." Iwanowski war aufgestanden. „Sie?" „Ja, ich. Man kennt mich in den Staaten, man weiß von meinem Indianerhospital und daß ich Sie hier in Mexiko City behandelt habe. Was ist logischer, als wenn ich nach Ihrer Genesung Ihre Heimkehr organisiere?" Der Botschafter rannte mit langen Schritten in seinem Büro auf und ab. Dann blieb er ruckartig vor Kusmitsch und Iwanowski stehen und schnaubte: „So etwas Verrücktes hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört! Und wenn nicht ausgerechnet ihr beide hier vor mir sitzen würdet - schon längst hätte ich die Ambulanza angerufen. Nein, ich glaube euch kein Wort!" Hier stockte er plötzlich, senkte den Kopf und sagte dann leise, wie vor sich hin: „Natürlich glaube ich euch, ich kenne euch ja, sozusagen von Kindesbeinen an kennen wir uns. Aber es ist über mich hereingebrochen, überwältigt mich. Ich komme mir vor wie damals, als wir ,Aelita', ,Andromeda-NebeP, ,Infra des Drachen' und all diese herrlichen, unsere Phantasie anregenden Bücher verschlungen haben. Und nun stehe ich da, mittlerweile ein ernsthafter, anerkannter Mensch, Botschafter meines Vaterlandes, weit weg von der Heimat, und ihr kommt hereingeschneit, ihr beiden seriösen Professoren, erstrangige Kapazitäten, der Stolz der Wissenschaft, wie man so zu sagen pflegt, und erzählt mir eure Geschichte von Rao Hares, dem Mann aus Alaska. Und in Wirklichkeit ist er gar nicht aus Alaska, sondern ein Außerirdischer, der nach Hause zurück muß, der tausend Jahre im ewigen Frostboden gelegen hat, um eine neuartige Anabiosekapsel zu erproben. Seid ihr es wirklich, oder seid ihr gar die Brüder Strugazki?" Der Botschafter setzte sich. Iwanowski bemerkte: „Das mit den tausend Jahren darf uns nicht verwundern. Nach der Einsteirischen Relativitätstheorie sind an Bord des Raumschiffes vielleicht nur zehn Jahre oder noch weniger verstrichen..." „Auch ich lese ab und zu den ,Sputnik' oder ,Ogonjok'", antwortete der Botschafter bissig. „Nein, ich sträube mich innerlich dagegen, daß diese einmalige Gelegenheit zur Kontaktaufnahme so sang- und klanglos vorübergehen soll. Ich habe nämlich seit 28
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der ersten CETI-Konferenz in Bjurakan alles genau verfolgt und mich auch mit Schklowskis widersprüchlichen Meinungen über die Außerirdischen befaßt. Habt ihr wenigstens Filmaufnahmen von Rao? Habt ihr eine eigene Erklärung von ihm?" „Haben wir." Kusmitsch hatte das Wort ergriffen. „Aber du weißt selbst, wie leicht man behaupten kann, das sei alles nicht echt." Der Botschafter seufzte. „Ich bin ja eurer Meinung, man muß Rao Hares helfen. Und man muß ihn eindringlich bitten, daß sie eine Botschaft schicken. - Doch wie steht es mit der Kapsel? Wenn man sie findet, würde das doch eure Versuchsergebnisse und Aufzeichnungen ganz entscheidend erhärten. Doch Alaska ist amerikanisches Territorium. Die Amerikaner werden uns nicht gestatten, dort zu suchen, geschweige denn gar die Kapsel in unser Land zu überführen." „Ich habe mir da folgendes gedacht." Iwanowski sprach langsam und bedächtig. „Es gibt doch die UNO-Beschlüsse über die Internationalisierung der Mondforschung und des Kosmos, fällt da nicht auch die CETI-Konferenz darunter, also der Versuch, mit Außerirdischen Kontakt aufzunehmen?" Der Botschafter nickte. „Im Prinzip ja. Ausrichter von CETI ist die UNESCO." „Könnte man da nicht", spann Iwanowski seinen Faden weiter, „auf dieser Grundlage einen Zusatzbeschluß erreichen, daß auch - sollte es sie geben - Funde außerirdischer Herkunft auf der Erde nicht Besitz des jeweiligen Landes sind, sondern allgemeiner Menschheitsbesitz unter Kontrolle der UNESCO? Wenn wir das jetzt einbringen, wird man vielleicht über uns lächeln; aber dann, nach den drei Monaten - und in dieser Zeit kann man durchaus einen derartigen Zusatz durchbringen -, werden wir beide uns mit allem Material offiziell an die UNESCO wenden und eine internationale Expedition zur Sicherstellung von Raos Kapsel in Alaska fordern." Der Botschafter rieb sich die fleischige Nase. Dann grinste er. „Das ist gar nicht so schlecht ausgedacht, Brüderchen. Würdest einen gewieften Diplomaten abgeben. Doch allen Ernstes, wir können tatsächlich versuchen, die Sache einzuleiten." Wenige Tage später klingelte es an Jims Wohnungstür. Als er öffnete, stand ein großgewachsener, kräftiger älterer Herr im Pelzmantel vor ihm und überraschte ihn mit den Worten: „Ich bringe Ihnen Grüße von Rao Hares. Darf ich hereinkommen? Mein Name ist Iwanowski." Jim war erstaunt und erfreut. Gregory war gerade zu Besuch, und beide Geologen lauschten aufmerksam, als der Professor von Raos Krankheit in Mexiko berichtete. Doch jetzt sei er gesund und wolle unverzüglich in seine heimatlichen Wälder zurück. Ob sie ihm dabei behilflich, sein könnten?" Jim überlegte. „Damals ist er ja ziemlich grundlos von'hier weggelaufen. Ich weiß noch, oft haben wir uns darüber unterhalten, warum er überhaupt mit uns in die Städte wollte. Doch es war ihm nicht auszureden. Aber nun scheint er ja genug von der großen Welt zu haben. Nein, Rao paßt nicht hierher, trotz seines AIM oder wie sich diese Indianervereinigung nennt. Er muß zurück, das begreife ich völlig." Gregory suchte in der Hausbar nach einem Wodka. Er entdeckte eine Flasche, und bald fand Iwanowski die beiden Geologen genau so, wie sie Rao geschildert hatte: gutmütige Burschen, die - durch ihren Beruf bedingt - ein bißchen mehr an Weitsicht besaßen als manche anderen Amerikaner. Hinzu kam ihre naive Freude am Abenteuer. 29
„Im nächsten Frühjahr müssen wir wieder in dieselbe Gegend. Warum also nicht jetzt schon einiges vorbereiten? Das wird nicht auffallen. Und wenn wir Rao dadurch helfen können..." Jim blinzelte Gregory listig zu. Die zwei waren natürlich neugierig, was den ihnen aus der Presse bekannten Arzt dazu bewogen hatte, selbst von Mexiko nach Kansas zu kommen. „Schreiben, meinte Rao, sei zu umständlich, und er selbst ist noch etwas wacklig auf den Beinen. Er ist mein Freund geworden, und ich habe es ihm versprochen", war die Antwort, als sie unverblümt danach fragten. Das war ein Wort, das gefiel den beiden. Sie wurden sich rasch sympathisch, und Iwanowski, der Rao bis in seine nördlichen Gefilde begleiten wollte, nahm das Angebot an, bei Jim Quartier zu beziehen. Er erklärte, daß er über ausreichende finanzielle Mittel verfüge. Was nötig sei, müsse umgehend und in bester Qualität beschafft werden. Die Geologen versprachen, alles, was zur Winterausrüstung gehörte, zu besorgen. Das meiste allerdings, so schlugen sie vor, kaufe man besser und preiswerter erst in Fort Yukon. Zum Beispiel Hunde und Schlitten, ein Jagdgewehr für Rao, Vorräte und so weiter. Es wurde ausgemacht, daß sie alle drei Rao in Fort Yukon empfangen würden, um dann mit ihm den Sheenjek hinaufzuziehen, dorthin, wo Jim und Gregory den letzten Schneehasen das erstemal getroffen hatten. Iwanowski hatte den zwei Geologen gegenüber ein schlechtes Gewissen. Natürlich hatten sie gefragt, warum Rao denn nicht den harten Winter über in Kansas oder in Wolf Point bei den Schwarzfüßen bleiben wolle. Da hatte der Doktor schwindeln müssen, etwas zusammengesponnen von Informationen, die Rao auf dem Indianerkongreß über noch lebende Verwandte erhalten habe, die er unbedingt vor Einbruch der großen Kälte erreichen wolle, um ihnen beizustehen. Das verstanden die beiden, das war indianisch. Gut, sollte er seinen Willen haben. In Fort Yukon standen drei vermummte Gestalten am Rollfeld, als aus der zweimotorigen Maschine, von Anchorage kommend, Rao Hares im Pelz unbeholfen die kleine Treppe herunterkletterte. Er umarmte Jim und Gregory herzlich, den Professor küßte er nach russischer Art auf die Wange. „Der Abschied von Kusmitsch ist mir schwer geworden", sagte er. „Aber jetzt geht's nach Hause, doch erst einmal ins Hotel, ansehen, was ihr besorgt habt." $ „Wir drei werden dich auf deiner Reise nach Norden begleiten." Jim^schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. Rao blickte Iwanowski fragend an, doch der nickte zustimmend. Sie zogen gemeinsam den Sheenjek hinauf. Rao voraus mit seinem Hundegespann, die drei Begleiter in einem starken Motorschlitten hinterdrein. Der Hares hatte auf Hunden bestanden, wie sonst sollte er auf die Karibus Jagd machen, wenn er nicht ein gutgefüttertes Rudel bei sich hatte? Die Geologen schlugen ihm vor, am Ort ihres damaligen Lagers ein Blockhaus zu errichten. Rao war einverstanden. Sie schlugen die festen Filzzelte auf. Das Lagerfeuer prasselte, der heiße Kaffee in den Blechtassen erwärmte, und irgendwie waren alle doch ein wenig wehmütig. 30
„Sollen wir dich wirklich hier allein zurücklassen?" Jims Stimme klang besorgt. Rao erhob sich. „Ich bitte euch, Freunde." Er ging ein paar Schritte ins Dunkel und kehrte dann zurück. „Legt euch schlafen, morgen ist unser letzter Tag." Dann zog er sich in sein Zelt zurück. Jim erwachte vom Bellen und Jaulen der Schlittenhunde. Er sprang auf und stieß im Zelteingang auf Gregory. „Rao ist weg", rief der, „allein aufgebrochen, mitten in der Nacht. Was ist da los? Vielleicht braucht er Hilfe?" „Nein, Hilfe braucht er nicht." Die dunkle Stimme des Doktors ertönte neben ihnen. „Er will allein sein, er kehrt heim, aber..." Gregory hatte die Lampen des Motorschlittens eingeschaltet. „Dort, am Waldrand, ist das nicht Rao?" Doch dann brach ein Licht durch die Nacht, viel heller als die Scheinwerfer. „Verdammt, es blendet! Ein Nordlicht... Ich sehe nichts mehr!" Gleißender Schein umhüllte die drei. Dort drüben am Waldrand bildete sich ein bläuliches, flackerndes Oval. Eine Figur stand mitten im Licht, Rao Hares. Neben ihm, dicht angeschmiegt, ein kleiner Schatten. War es einer der Hunde? Dann wurden die Umrisse der zwei Gestalten leuchtend hell. Das Licht sprang hinauf in den dunklen Nachthimmel. Noch geblendet standen die drei Doch dann wollten die Geologen sofort zum Waldrand hinüber, wo sich Rao befunden hatte. Aber der Professor hielt sie zurück. „Glauben Sie mir: Wir haben eben etwas erlebt, was kein Mensch vor uns je erlebt hat. Erklären kann ich es Ihnen, aber dazu brauche ich Zeit. Dorthinüber dürfen Sie jetzt auf keinen Fall. Das Gelände ist durch Strahlen 31
aktiviert worden. Ich weiß es. Doch benutzen Sie Ihre Ferngläser..." Beide rissen hastig ihre großen Nachtgläser vor die Augen. Unberührt lag der Schnee. Außer den Fußspuren und den Abdrücken der Hundepfoten, die beide plötzlich abrissen, fand sich nichts, gar nichts. Kein Zweig war geknickt, kein noch so kleiner Fleck Schnee geschmolzen. In Iwanowskis Tasche raschelte der Umschlag, den ihm Rao am Abend zugesteckt hatte. Er enthielt die genaue Lageskizze der Anabiosekapsel und war von Rao selbst unterzeichnet worden: „Rao, Astrogator der Zweiten Flottille des Großen Ringes, nördlicher Spiralarm der Galaxis." Leise rauschte der Wind, und hell funkelten die Sterne...
Fenster 8 Gedichte junger Leute Herausgegeben mit einem Vorwort von Edwin Kratschmer, Margret Kratschmer und Hannes Würtz 196 Seiten • Broschiert 4,80 M
Mit Entdeckerlust begeben sich junge Poeten auf die Suche, wollen sie ihre Umgebung, das Leben überhaupt durchdringen. Noch immer ist die Liebe Mittelpunkt ihrer Erlebnisse. Der Frieden steht im Brennpunkt fragender Reflexionen. Man erkundet die Arbeitswelt, vergewissert sich der Leistungen der älteren Generationen. Ein Blick in diese offenen Fenster bringt Gewinn. Die Grafiken der Studenten und Absolventen der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig erhöhen nicht nur den ästhetischen Reiz der Edition, sie geben eigene Interpretationen der Gedichte und interessante Hinweise auf neue Handschriften in der Grafikentwicklung unseres Landes. Mitteldeutsche Neueste Nachrichten, Halle
Verlag Neues Leben Berlin