1.
»Es wird ein heißer Tag«, sagte der eine Posten zum anderen, der neben ihm stand und sich lässig auf die Mauerzinne...
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1.
»Es wird ein heißer Tag«, sagte der eine Posten zum anderen, der neben ihm stand und sich lässig auf die Mauerzinne stützte. Sie blickten beide auf den Palmenhain hinaus, der die Stadt in einem breiten Gürtel von Grün umgab. »Ein verdammt heißer Tag«, bestätigte der andere Posten. »Wir müssen hier in der Hitze schmoren, während es sich die im Palast gutgehen lassen«, sagte wieder der erste Posten mürrisch. »Man hört das Gekreische der Weiber und das Grölen der Männer bis hierher zum Stadttor.« »Und noch darüber hinaus«, ergänzte der andere. Er bewegte sich träge und verlagerte sein Körpergewicht auf die linke Hand, weil ihm die rechte eingeschlafen war. Der Blick seiner zusammengekniffenen Augen war immer noch auf das kleine Völkchen von Nomaden gerichtet, die sich im Palmenhain niedergelassen hatten, aber er nahm sie nur unbewußt wahr. Wenn ein Mädchen in sein Blickfeld kam, dann erwachte er kurz aus seiner Trägheit, dachte daran, was er mit ihr anstellen könnte, wenn er nicht am Westtor Wache
stehen müßte, und döste dann wieder weiter vor sich hin. »Wozu bewachen wir überhaupt die Stadtmauer«, schimpfte der erste Posten weiter. »Damit wir Alarm schlagen können, wenn Abbal Kim mit seinen Horden angreift«, erklärte ihm der andere. »Ach, nein«, meinte der erste Posten spöttisch. »Wir geben also Alarm und was passiert dann? Ich werde es dir sagen: Eisenhand feiert nun schon seit Tagen mit seinen Günstlingen. Die sind schon so voll mit Traumpulver, daß sie überhaupt nicht mehr wahrnehmen, was um sie vorgeht. Keiner von ihnen wäre imstande, das Schwert zu führen, wenn Abbal Kim angreift.« »Wozu auch? Eisenhand hat fünfhundert Sklaven, die beinahe schon untot sind. Die werden mit den Wüstenfüchsen ganz allein fertig und wenn es sich um vierzig Hundertschaften handelt.« »Dann soll Eisenhand die Untoten zu unserer Ablösung schicken und uns mitfeiern lassen ... Ich habe schon seit Tagen kein Traumpulver mehr gehabt!« »Du bist doch nur neidisch!« Danach herrschte eine Weile Schweigen zwischen den beiden Männern. Sie schreckten erst wieder hoch, als einige Nomaden zum Stadttor kamen. Sie trugen leere Wasserschläuche und Tonkrüge bei sich und
verlangten Einlaß, um diese am Lebensbrunnen mit Wasser zu füllen. »Verschwindet!« schrie der erste Wachtposten. »Das Tor bleibt geschlossen. Niemand darf in die Stadt!« Als die Nomaden sich daraufhin immer noch nicht zurückzogen, meldete der Wachtposten den Vorfall seinem Hauptmann, der sich mit einem Dutzend Kriegern in den Schlafräumen des Wehrturms neben dem Stadttor für den Ernstfall bereit hielt. Der Hauptmann, der durch den Genuß von Traumpulver schon ganz glasige Augen hatte, schickte vier Kamelreiter hinaus, die die Menge zerstreuen sollten. Als der Posten wieder auf den Wehrgang zurückkam, hatten die Kamelreiter die Situation inzwischen bereinigt. Die Nomaden zogen sich fluchend, humpelnd und mit blutigen Schädeln in ihre Lager zurück. »Was hast du da?« fragte der Wachtposten, der bei den Zinnen zurückgeblieben war, seinen Kameraden, der einen prall gefüllten Eselsdarm hochhielt. »Traumwasser«, verkündete dieser und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Habe ich vom Hauptmann. Er ist doch ein feiner Kerl, sagte, wir sollten uns mit dem Traumwasser den Wachdienst verschönern.« »Gib her!«
Die beiden Wachtposten tranken das Traumwasser in kleinen Schlucken, bis der Eselsdarm leer war. Als ein kleiner Junge vor der Stadtmauer auftauchte, warf der eine Wachtposten den leeren Eselsdarm nach ihm. Der Junge hob ihn gierig auf und preßte die letzten Tropfen daraus auf seine Lippen. »Gute Träume, Lümmel!« rief ihm der eine Wachtposten zu. Beide lachten. Sie ertrugen nun ihren Dienst viel leichter, die Hitze machte ihnen nichts mehr aus. Die Palmen außerhalb von Alesch wurden für sie zu Gestalten mit weiblichen Formen, die sich aufreizend im Schleiertanz drehten, die Zinnen der Stadtmauer waren nicht mehr harter Stein, sondern fühlten sich so weich wie Kamelhaarkissen an ... der Lärm aus dem Palast wurde zu einer einschmeichelnden Musik. Zwischen den Palmen, die nun auf einmal nicht mehr tanzende Mädchen waren, war eine Bewegung. Nomaden rotteten sich dort zusammen und kamen auf das Stadttor zu. »Kommt nur und holt euch blutige Schädel!« Der Wachtposten schwang mit müder Bewegung die Streitaxt. »Bilde ich es mir ein, oder marschieren die Nomaden wirklich in einem feierlichen Zug auf uns zu?« fragte der andere Wachtposten ungläubig. »Was wollen diese Barbaren denn eigentlich? Sie sollten doch
schon eingesehen haben, daß sie von uns kein Wasser bekommen. Wer führt sie an? Kannst du erkennen, wer ihr Anführer ist?« Der andere Wachtposten kniff die Augen zusammen. »An ihrer Spitze geht eine Gestalt in einem wallenden Gewand ... Mehr kann ich nicht erkennen. Sein Gewand ist von der Farbe des Wüstensandes und der Palmenblätter. Sein Gesicht ...« »Kannst du es erkennen?« »Nein, vor meinen Augen verschwimmt alles. Das Traumpulver hat mir ganz schön zugesetzt. Aber lassen wir den Fremden ein, dann erfahren wir, was es mit ihm für eine Bewandtnis hat.« »Das Stadttor muß geschlossen bleiben ...« »Aber wir müssen es öffnen. Das ist ein Befehl!« »Ich werde die seltsamen Vorgänge vor dem Stadttor dem Hauptmann melden ...« Doch bevor der Wachtposten über die Steintreppe den Boden erreichte, machten sich bereits drei andere Krieger an dem schweren Riegel des Stadttors zu schaffen. Die beiden Torflügel schwangen nach innen auf.« Der Laubengang, der Halle des Wassers genannt wurde, war in El Habeks Augen von so überirdischer Schönheit, daß er nicht glauben konnte, ein Sterblicher
sei hier Baumeister gewesen. Die steinernen Säulen waren voll göttlichen Lebens, die schweren Vorhänge schwangen sich wie die Flügel majestätischer Vögel, über den stufenförmig abfallenden Wasserbecken spannte sich ein Regenbogen, wie man ihn nur mit vom Traumwasser geschärften Augen sehen konnte. Ein Edelmann versuchte, den Regenbogen zu erklettern. Er vermeinte, an seiner höchsten Stelle ein Mädchen zu sehen. »Sie hat wallendes Rothaar«, beschrieb der Edelmann seine Entdeckung. »Ich werde mir ihren Rotschopf holen und unter mein Kopfkissen legen.« Unter dem Gelächter der anderen zog er seinen gekrümmten Dolch und erkletterte eine Steinstatue, von wo aus er den farbenschillernden Pfad des Regenbogens erreichen wollte. Eine fette Edeldame lachte schrill vor sich hin. »Wo seht ihr einen Regenbogen«, rief sie. »Da ist nichts als Nebel, der den Traumpfeilen entströmt.« »Atme den Nebel ein, dann kannst du den Regenbogen sehen ...« Der Edelmann hatte unter Mühen die Statue erklettert, jetzt stand er schwankend auf dem Schädel des Götzen. Er schwang den Dolch der Maid auf dem Regenbogen entgegen, die nur er sehen konnte, und rief: »Gleich ist deine Haarpracht mein!« Er machte
einen Schritt nach vorne und stürzte in die Tiefe. Die Gäste grölten vor Vergnügen. Sie grölten auch noch weiter, als sich der Edelmann nicht wieder erhob, sondern mit unnatürlich verrenktem Kopf liegenblieb. Kaum einer merkte es, wie die Palastwachen den Mann mit dem gebrochenen Genick aus der Halle des Wassers schleppten. Das Fest ging weiter. »Fangt den Regenbogen!« rief El Habek, seines Zeichens Statthalter von Alesch. »Wer ihn mir bringt, dem gehört Arischa.« Sofort machten sich einige Männer auf, den Regenbogen zu erobern. El Habek hatte mit seiner eisernen Rechten nach dem schlanken Sklavenmädchen zu seinen Füßen gegriffen. Ihr Haar war zu einer kunstvollen Frisur getürmt, und daraus ragte ein edelsteinbesetztes Gebilde aus Gold hervor, das so geformt war, damit El Habeks Eisenhand in den Öffnungen Halt fand. Er hakte seine Eisenfinger in den Kopfschmuck der Sklavin und hob sie daran hoch. »Seht euch Arischa an«, rief er. »Sie ist es wert, daß man für sie dem Regenbogen nachjagt. Aber beeilt euch, ihr tapferen Schatzsucher, denn sonst kommt euch der Henker zuvor!« Er ließ Arischa wieder los, daß sie zu Boden fiel. El Habek versuchte, ihr in die Augen zu sehen, aber sie wich seinem Blick aus. »Hast du vernommen, welches Schicksal ich dir
zugedacht habe?« fragte El Habek. Das Mädchen schwieg. In plötzlichem Zorn stieß El Habek seine Eisenhand nach vorn, und das Mädchen zuckte ängstlich zurück. Jetzt blickte sie El Habek an, und leidenschaftlicher Haß glühte in ihren Augen. »Ich habe dir vertraut«, sagte El Habek mit unterdrücktem Zorn. »Ich habe dich besser als alle anderen Sklavinnen behandelt, ja, ich begünstigte dich mehr als die meisten meiner Haremsfrauen. Doch du hast es mir mit Verrat und Hinterlist gedankt. Ich habe dir das Leben dieses Balgs anvertraut, das die Götter in meine Obhut gaben. Doch du hast das Kind entführt und bist mit ihm geflüchtet. Dafür hast du den Tod verdient.« »Du kannst mir nichts anhaben, Herr«, sagte Arischa mit ausdrucksloser Stimme. »Es stimmt, du machtest mich nicht zu einem von deinen Uh-toths, aber meine Gefühle waren dennoch tot. Nur der Haß gegen dich belebte mich. Und als du mir das Kind anvertrautest, bekam mein Leben wieder einen Sinn. Ich entführte es, weil ich Erbarmen mit ihm hatte, denn es sollte nicht unter all dem Bösen aufwachsen. Nachdem du meine Flucht vereitelt hast, kann mich der Tod nicht mehr erschrecken.« »Du wirst deine Meinung noch ändern«, versicherte El Habek. »Wenn du vom Tod sprichst, dann denkst du, daß es so sei, als blase man ein Kerzenlicht aus.
Doch wenn du erst unter der Folter liegst, wirst du schon noch um Gnade winseln.« Arischa starrte auf den Bastkorb, der neben El Habeks Lager stand. Ebenor, wie sie das Kleinkind in Andenken an ihren Geliebten Eben Emal nannte, verhielt sich ruhig. Wahrscheinlich hatten ihn die Dämpfe des Traumpulvers eingeschläfert. Wenn sie an ihre mißlungene Flucht dachte, die letzte Nacht unter so dramatischen Umständen ein jähes Ende gefunden hatte, dann empfand sie Trauer und Reue. Es ging dabei nicht um sie, sondern nur um Ebenor. Sie hätte im Palast bleiben sollen, dann hätte sie die Erziehung des Kleinen zum Guten beeinflussen können. Wenn sie erst einmal tot war, dann würde niemand mehr dasein, der Ebenor Liebe und Güte gab. »Was hast du mit dem Kleinen vor, Herr?« fragte Arischa. »Ich habe nur Angst um ihn, denn ich kenne dich. Du besitzt genug Niedertracht, ihn für meine Vergehen büßen zu lassen.« Sie duckte sich nach diesen Worten, weil sie glaubte, El Habek würde sie seine Eisenhand spüren lassen. Doch er brauste nicht auf, sondern lachte nur. Ein ungewöhnliches Verhalten, das auf die Wirkung des Traumpulvers zurückzuführen war. »Sagte ich dir nicht schon unzählige Male, daß das Balg ein Pfand der Götter ist?« meinte El Habek. »Ich werde es am Leben lassen, solange zumindest, bis mein
Gott verkündet, daß es seine Schuldigkeit getan hat. Habe ich dir auch gesagt, daß es sich um ein Königskind handelt?« »Ein Königskind?« wiederholte Arischa. »Jawohl, ein Königskind.« El Habek lachte wieder. »Dieses Balg ist von königlichem Geblüt. Wenn mein Gott nicht verlangt, daß ich es ihm opfere, dann werde ich es so erziehen, daß es dereinst das Reich seines Vaters ganz in meinem Sinn regieren wird.« El Habek zwinkerte, weil ihm das bunte Licht des Regenbogens vor den Augen flimmerte. Er sah den Regenbogen immer noch vor sich, als Ebbel durch das Wasserbecken auf ihn zugewatet kam und lauthals verkündete: »Ich habe den Regenbogen eingefangen. Ich habe ihn eingeatmet und trage ihn in meiner Brust. Überlasse mir nun Arischa, so wie du es versprochen hast, El Habek.« Ebbel war ein Mann von großem Einfluß und Reichtum. Er war der König der Diebe von Alesch und hatte sich ein solches Vermögen zusammengestohlen, daß er den schönsten Palast der Stadt bewohnen konnte und die Gunst der begehrenswerten Lesha genoß. Er gehörte zu El Habeks engsten Vertrauten, obwohl er kein Mann von Ehre war – vielleicht verstanden sich die beiden Männer aber gerade deswegen so gut miteinander, weil sie vom gleichen
Schlag waren. »Du hast den Regenbogen, sagst du?« meinte El Habek schmunzelnd, als Ebbel triefend aus dem Wasserbecken kletterte. »Jawohl, gütiger Wasserspender«, versicherte Ebbel. »Er ist in meiner Brust. Siehst du es nicht, daß mein Hauch farbenschillernd ist, wenn ich ausatme? Mein Atem ist Farbe und Licht, und wohin auch immer er schwebt, pflanzt er einen neuen Regenbogen.« »Ich glaube, dich lüstet nur nach der Sklavin«, sagte El Habek. »Und deine Begierde verleitet dich zur Lüge, Ebbel. Wie sonst könnte es sein, daß ich den Regenbogen immer noch sehe?« Ebbel machte ein betroffenes Gesicht. Bevor er sich herausreden konnte, schaltete sich Lesha ein. Sie war hinter El Habek aufgetaucht und raunte ihm zu: »Überlasse ihm doch diese törichte Sklavin, wenn er sie haben will. Und vielleicht sagt er die Wahrheit. Wer weiß, ist es nicht möglich, daß für jeden von uns ein eigener Regenbogen da ist?« Lesha war eine schöne Frau. Noch vor zwei Sommern hatte sie El Habeks Harem angehört. Aber als der Statthalter merkte, daß sie ihm wegen ihrer Klugheit und ihrer Verführungskunst gefährlich werden konnte, hatte er sie freigegeben. Sie verstand es, wie keine andere, Männer zu betören und von sich abhängig zu machen, und so war es nicht weiter
verwunderlich, daß sie schon bald nach ihrem Ausscheiden aus dem Harem den zweitmächtigsten Mann von Alesch, nämlich Ebbel, den König der Diebe, eroberte. Ihrer Verführungskunst war es auch zu verdanken, daß sie einen einfältigen Gaukler dazu gebracht hatte, das Versteck des Königskindes preiszugeben. So schön und begehrenswert Lesha immer noch war, El Habek konnte mit ruhigem Gewissen von sich behaupten, daß er ihr nicht mehr verfallen war. Aber ganz konnte er sich auch jetzt nicht ihrem Einfluß entziehen. »Ich will auch dich hören, schöne Lesha«, sagte El Habek. »Ebbel soll Arischa haben, aber er muß sich verpflichten, ihr jene Behandlung widerfahren zu lassen, die einer Verräterin wie ihr zusteht.« »Ich werde dich nicht enttäuschen, gnädiger Wasserspender«, versprach Ebbel und packte Arischa am Schmuckgriff in ihren Haaren. »Komm, Arischa, du bist dazu ausersehen, das Glanzstück dieses Festes zu sein.« El Habek blickte Ebbel unwillig nach, wie er die Sklavin mit sich zerrte, und so etwas wie leise Eifersucht stieg in ihm hoch. Er war ihr, auf seine Art eben, sehr zugetan gewesen ... Doch, was sollte es – sie war eine Verräterin! »Ich will dir etwas zum Geschenk machen, erhabener Wasserspender«, sagte Lesha dicht an El
Habeks Ohr. »Es sind zwei Gefangene aus der Herberge, wo sich die Sklavin mit dem Königskind versteckt hielt. Es handelt sich um das Gauklerpaar ...« Nach all den bitteren Enttäuschungen wäre Mainala ein rascher Tod willkommen gewesen. Aber es schien so, als wollte man sie noch lange leiden lassen. Nach der Gefangennahme in Vaygas Herberge wurde sie von Gaunth und Arischa getrennt. Sie hörte noch, wie der Geliebte ihren Namen rief, dann sah sie nur noch die breiten Rücken der Krieger, die ihn abführten. Sie selbst wurde von rauhen Männerhänden gepackt und in den Palast gebracht. Aber man warf sie nicht ins Verlies, wie sie erwartet hatte, sondern sie wurde in das Gemach geführt, in dem sie schon einmal viele Tage in Bangen verlebt hatte. Sollte nun alles wieder von neuem beginnen? Mußte sie wieder das Gewand der Lustgöttin Nyniph tragen und befürchten, El Habeks Lager teilen zu müssen? Aber diesmal kleidete man sie nicht für die Liebesnacht mit dem Statthalter, es kamen auch keine Sklavinnen, die sie umhegten. Zwei Krieger blieben bei ihr, die sie auf Schritt und Tritt bewachten. Welches Schicksal hatte man ihr zugedacht? Was war aus Gaunth geworden? Sie zweifelte nicht daran, daß sie würden sterben müssen; vor dem Tod fürchtete
sie sich nicht, nur vor dem, was davor kommen würde. El Habek würde sicherlich auf furchtbare Rache sinnen. Als Badmar, der Wesir, erschien, und in seiner Begleitung zwei Sklavinnen waren, die ein kostbares Kleid brachten, da wußte sie, daß das Hinrichtungszeremoniell begann. Sie ließ sich das Kleid überstreifen. Sie war plötzlich abgestumpft und empfand keine Angst mehr. Wenigstens würde nun die quälende Ungewißheit ein Ende haben. Man führte sie einen Weg, der ihr noch gut in Erinnerung war: Durch viele Gänge und über Treppen aus dem Haremsgebäude zu dem Laubengang, der Halle des Wassers genannt wurde. Die ausdruckslosen Gesichter der Palastwachen, die torkelnden Männer in Festkleidern, die halbentblößten Mädchen und die unterwürfig dienernden Sklavinnen – all diese Gestalten zogen wie in einem Traum an ihr vorbei. Sie sah das ausschweifende Treiben wie durch einen Schleier, vernahm den Lärm wie aus weiter Ferne. Sie stand abseits dieser Geschehnisse. »Wirst du tanzen können, Mädchen?« wurde sie vom Wesir gefragt. »Ich soll tanzen?« »Es ist alles vorbereitet.« Ja, sie wollte tanzen. Der Tanz war ihr Leben, und
sie hatte einmal zu Gaunth gesagt, daß sie es als Gunst des Schicksals sähe, wenn sie in den Tod tanzen könnte. Vielleicht ... Hände griffen nach ihr. Sie hörte die Seide ihres Kleides zerreißen. Ein Dolch blitzte auf, ein Schrei ertönte, aus einem Handrücken quoll Blut, und sie sah, wie der Mann, der nach ihr gegriffen hatte und dabei von einer Palastwache verwundet worden war, die Hand an den Mund preßte und das Blut von seiner Wunde sog. Jemand stürzte sich auf eine Sklavin, die ein Tablett mit Speisen trug. Beide fielen um, das Tablett flog klirrend über den Steinboden, die Speisen segelten durch die Luft; zwischen den Sitzkissen türmten sich kunstvoll angeordnet Berge von Früchten, dazwischen ragten abgenagte Knochen hervor. Leere Becher rollten über den Boden, Scherben zerbrochener Vasen und Krüge lagen herum. In den Wasserbecken tummelten sich Männer und Frauen; ihre Gesichter zeigten von grenzenloser Verzückung bis qualvoller Verzweiflung die gesamte Skala von Gefühlen; sie schienen unsichtbaren Vögeln nachzujagen, oder sie durchteilten die Fluten der Wasserbecken wie auf der Jagd nach Fischen. Am Ende der Wasserbecken, dort wo der Lebensbrunnen aus dem Maul eines steinernen Ungeheuers entsprang, hockte El Habek auf seinem
Lager. Mainala nahm es wahr, ohne dabei eine Regung zu verspüren. Sie war über alles Böse dieser Welt erhaben. Da sah sie Gaunth. Plötzlich war die Trägheit wie weggewischt, der Schleier vor ihren Augen legte sich. Ihr wurde heiß und kalt zugleich, ihr Herz begann heftig zu pochen. Sie wurde sich auf einmal wieder all des Leids bewußt, daß sie beide, jeder für sich, in den letzten Tagen, seit sie nach Alesch gekommen waren, durchgemacht hatten. Und sie schluchzte auf, ihre Augen aber blieben trocken. Sah sie richtig? Hatte Gaunth tatsächlich seine beiden Messergürtel um die Brust geschnallt? In seinem Gesicht zuckte es, als er ihr entgegenblickte. Seine Hand zuckte nach vorne, so als wolle er nach ihr greifen, aber eine der Palastwachen schlug ihm mit dem Schaft der Hellebarde den Arm nach unten. »Du wirst tanzen, Mädchen«, hörte Mainala den Wesir sagen. »Ja, ich werde tanzen«, sagte sie und griff zu, als man ihr die beiden Trommelstäbe hinhielt. Es war alles für ihren Auftritt vorbereitet worden. Die sieben metallenen Trommeln, die in Holzgestellen hingen, standen in einem Halbkreis, so wie es sein mußte. Gaunth hatte in einer Entfernung von fünfzehn
Schritt Aufstellung genommen. Mainala drehte die vertrauten Trommelstäbe zwischen ihren Fingern – und plötzlich lächelte sie. Gaunth erwiderte das Lächeln. Ja, das war ihr Auftritt – sicher der letzte, aber sie würde den Trommeltanz noch einmal mit aller Hingabe, deren sie fähig war, vorführen, und Gaunth würde die Messer zielsicher wie immer nach ihr werfen. Mainala überkreuzte die Arme, machte einige spielerisch wirkende Tanzschritte und ließ dabei die Stäbe über die Trommeln wirbeln – ganz sanft und weich, so daß ein kaum wahrnehmbarer Klang entstand. Aber Gaunth würde ihn hören und verstehen: das war ihre geheime Sprache, die niemand anderer als sie verstehen konnte. Mainala sah, daß einige der Festgäste die Aufmerksamkeit ihr zuwandten, aber es kümmerte sie wenig. Sie würde nur für Gaunth tanzen. Doch da geschah etwas, das sie erschauern ließ. Man verband Gaunth die Augen. Jetzt war es ihm nicht mehr möglich, ihren Liebestanz zu sehen – und was noch viel schrecklicher war: er sah nicht, wohin er die Wurfmesser schleuderte! Der Wesir gab ihr das Zeichen zum Anfangen. Mainala machte die ersten zögernden Schritte und ließ die Stäbe behutsam über die Trommeln streichen.
Aber schon bald wurde sie schneller, wirbelte im Kreis und schlug die Trommeln immer kräftiger. Sie ließ sich von ihrer eigenen Musik mitreißen, ihre Bewegungen wurden lockerer und ungezwungener, ihre Arme wirbelten bald so schnell durch die Luft, daß das Auge den Bewegungen nicht mehr folgen konnte. Der Klang der Trommeln wurde immer lauter, die Pausen zwischen den einzelnen Schlägen immer kürzer, der Takt der exotischen Melodie wurde rasend schnell. Mainala wirbelte durch die Luft, als schwebe sie. Da flog das erste Messer heran und bohrte sich zitternd in den Holzrahmen einer Trommel. Das zweite Messer strich ganz knapp an Mainalas Gesicht vorbei und blieb in der Holzfassung stecken. Mainala war nun ganz ohne Angst. Wenn sie schon sterben mußte, warum sollte dann nicht der Tod aus der Hand ihres Geliebten kommen ... Gaunth warf das dritte Messer. Der dumpfe Laut, der folgte, ließ ihn erkennen, daß er ins Holz getroffen hatte. Seine Hände waren nun völlig ruhig. Er kannte jeden Schritt von Mainalas Tanz, mit dem sie ihm ihre Liebe bezeigen wollte, und er wußte auch mit verbundenen Augen, wohin er die Messer schleudern sollte. Er sah Mainala förmlich vor sich und wußte nach dem Klang der Trommeln, ob sie nun links stand, ihm
den Rücken zukehrte, mit gestreckten Armen sprang, sich um ihre eigene Achse drehte, oder nach hinten gebeugt die Trommeln schlug. Auch als er zwei Messer gleichzeitig aus dem Gürtel zog und warf, zögerte er keinen Augenblick. Als sich die beiden Messer ins Holz bohrten, wußte, er, wie Mainala gerade stand: die Beine seitlich abgewinkelt, auf den Zehenballen wippend, den Kopf steif nach links gedreht, die Arme nach rechts überkreuzt und auf der Trommel mit dem höchsten Klang einen Wirbel schlagend. Gaunth zog die nächsten beiden Messer aus dem Gürtel. Doch bevor er sie warf, stockte er. Mainala hatte ihren Tanz verändert. Das war nicht mehr die Liebesmelodie, sondern der Totentanz, der nicht einstudiert war, sondern aus dem Stegreif getanzt wurde. »Los, mach weiter«, befahl einer der Krieger, die hinter Gaunth standen. Gaunth brach der Schweiß aus, als er die Messer warf. Nur eines kam ins Ziel und blieb im hölzernen Rahmen stecken, das andere prallte klirrend von einer Trommel ab. Aber Mainala tanzte unbeirrbar weiter nach der Todesmelodie. Suchte sie freiwillig den Tod? Als Gaunth wieder nach einem Wurfmesser griff, zitterte seine Hand. Er unterdrückte den Wunsch, sich
die Binde von den Augen zu reißen, Mainala zu packen und mit ihr zu fliehen zu versuchen. Sie würden nicht weit kommen. Aber lange konnten sie dieses Spiel mit dem Tod auch nicht mehr durchstehen ... Gaunth schleuderte das Messer und wußte im selben Augenblick, daß es sein verhängnisvoller Wurf war. Es gab ein dumpfes Geräusch, wie es entstand, wenn ein Messer sich in einen weichen Körper bohrte. Ein kurzer Aufschrei folgte, dann kam der Fall eines Körpers. Der Trommelwirbel brach ab, und nur noch der Nachhall schwebte durch den Raum. Gaunth entledigte sich seiner Augenbinde und rannte nach vorn. Er sah seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Mainala lag zusammengekrümmt zwischen den Trommeln, der Schaft des Messers ragte aus ihr. Zuerst schien es, als sei sie tot. Doch als Gaunth sie erreichte, bewegte sie sich. Ihr Gesicht war blaß, aber als er ihren Kopf hob, lächelte sie ihm entgegen. Das Messer steckte an der Innenseite ihres linken Oberarms, und nicht, wie Gaunth befürchtet hatte, in der Herzgegend. »Sie lebt!« rief irgend jemand. »Dann soll sie weitertanzen!« ordnete El Habek an. »Nein!« schrie Gaunth. »Das grausame Spiel hat ein Ende.«
Er sprang hoch und stellte sich den Palastwachen entgegen, die mit gezückten Schwertern drohend näher kamen. Gaunth stand mit gekrümmtem Rücken und sprungbereit. In jeder Hand hielt er ein Messer wurfbereit. Jetzt klirrten überall Waffen, selbst Festgäste, die von den Pulverdämpfen noch nicht so benebelt waren, daß sie in ihren Traumwelten gefangen waren, zückten ihre Schwerter. Sie betrachteten diesen Zwischenfall als einen der Höhepunkte des nun schon Tage währenden Festes. »Wagt euch nur heran«, rief Gaunth herausfordernd. »Ich habe es nicht eilig, ins Jenseits zu kommen, und werde einige von euch voranschicken.« Die Männer bildeten einen geschlossenen Kreis um Gaunth, wagten aber keinen Angriff. Sie hatten nur zu genau gesehen, wie dieser Gaukler mit Messern umgehen konnte, und seine Drohung, einige mit in den Tod zu nehmen, war durchaus ernst zu nehmen. Gaunth machte plötzlich einen Ausfallschritt, und die Krieger wichen überrascht zurück. Nur einer nahm sich ein Herz und sprang Gaunth mit vorgehaltener Lanze an. Der Gaukler wich der tödlichen Lanzenspitze aus und unterlief den Krieger mit der Linken. Als er die Hand mit dem Messer zurückzog und sofort wieder in Abwehrstellung ging, war die Klinge vom Blut rot gefärbt. Der Angreifer aber prallte
mit voller Wucht gegen eine Trommel und riß sie mitsamt dem Gestell um. Gaunth wirbelte blitzschnell herum, als er in seinem Rücken einen Wutschrei vernahm. Er sah den nächsten Angreifer von hinten heranstürmen und warf das blutige Messer, bevor der zum Schlag erhobene Krummsäbel auf ihn niedersausen konnte. Auch der zweite Angreifer hauchte sein Leben zu seinen Fußen aus. Der Tod der beiden Palastwachen schüchterte die anderen seltsamerweise nicht ein, sondern schien ihren Mut geweckt zu haben.
Gaunth sah ein Schwert blitzen und konnte den Schlag mit dem Dolch parieren, während er sich unter einem Schwertstreich, der von der anderen Seite geführt wurde, gerade noch wegducken konnte. Er brachte sich mit zwei Sätzen aus der Gefahrenzone und stellte sich
mit dem Rücken zu den Trommeln, so daß ihm von dort keine Gefahr drohte. Doch er war kaum zu Atem gekommen, als er sah, wie sich einer von den Gästen mit blankem Schwert über Mainala beugte. Gaunth hob das Messer zum Wurf, doch kam er nicht mehr dazu, es zu schleudern. Er hielt mitten in der Bewegung inne, als eine volltönende Männerstimme, die von nirgendwo zu kommen schien und doch überall in der Halle des Wassers deutlich zu hören war, sagte: »Friede sei mit euch!«
2.
Draußen tobte ein Sandsturm, und es hörte sich an, als würden tausend Dämonen an den Zeltwänden kratzen. »Ich teile das Wasser mit euch, die ihr meine Brüder seid«, sagte der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht und dem wallenden Graubart, während er aus einem Wasserschlauch sechs Prunkbecher füllte. Er saß mit fünf anderen Männern in der Zeltmitte im Kreis, die wie er die Tracht der Wüstenbewohner trugen. Sie beobachteten seine Bewegungen und griffen nacheinander zu den Kelchen, als diese mit Wasser gefüllt waren.
Der Mann, der das Wasser gereicht hatte, übergab den Schlauch an einen hinter ihm Stehenden, griff nach dem sechsten Kelch, hob ihn bis in Höhe seiner Lippen und sagte: »Sechzig Sommer mußte ich, Abbal Kim, alt werden, bevor ich erleben durfte, daß sich die Söhne des Fuchses ihrer gemeinsamen Abstammung entsinnen, ihre Streitigkeiten vergessen und sich zu einer einzigen großen Einheit zusammenschließen. Wie viele Söhne wären ihren Vätern erhalten geblieben, wieviel Blut wäre unvergossen geblieben, wenn die Stämme der Wüstenfüchse schon eher zur Einsicht gekommen wären. Dilagha mußte uns erst einen gemeinsamen Feind schicken, damit wir zueinander finden. Möge Dilagha aber nun geben, daß unsere Verbrüderung auch nach dem siegreichen Feldzug gegen Alesch von Dauer ist. In diesem Sinne teile ich mit euch das Wasser, meine Brüder.« Abbal Kim, mächtigster Fürst unter den Söhnen des Fuchses, setzte den Kelch an die Lippen und trank ihn leer. Der Mann zu seiner Rechten, der kleiner war und gedrungener wirkte, wartete, bis Abbal Kim ausgetrunken hatte, dann sagte er: »Wollen wir vergangenen Hader vergessen und dafür beten, daß unsere Verbrüderung von heute an bis in alle Ewigkeit Bestand hat. Ich trinke dieses Wasser,
als wäre es dein Blut, Abbal Kim.« Und auch er leerte den Kelch. Der nächste Mann in der Runde wirkte selbst im Sitzen groß; er war hager, hatte das Gesicht eines Geiers und lange, knochige Hände. Er hob den Wasserkelch hoch. »So wahr ich hier sitze, gelobe ich dir die Verbrüderung meines Stammes mit dem deinen, Abbal Kim«, sagte er. »Wir sind zwar nur wenige, und wir sind arm, aber das Leben in Bescheidenheit hat uns stark gemacht. Und El Habeks Willkür hat Haß in unsere Herzen gesät, denn es waren die Krieger aus Alesch, die die Zeltlager meines Stammes überfallen, unsere Kinder und Töchter geraubt und unsere Männer niedergemetzelt haben. Deshalb will ich dich an dein Wort, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, erinnern. Wenn du daran festhältst, Abbal Kim, dann trinke ich dein Wasser wie dein Blut!« »Ich habe es gesagt, also ist es beschlossen«, entgegnete Abbal Kim. »Die Söhne des Fuchses werden gemeinsam gegen Alesch ziehen und sich den Kopf dieses Hundesohns El Habek holen, der Schande und Verderben über unseren Stamm gebracht hat, und es wird in dem Ort der Verdammnis kein Stein auf dem anderen gelassen werden. Erst bis diese Brutstätte der Sünde vertilgt ist, kann wieder Friede in unser Land einkehren.«
Der nächste in der Reihe hob den Wasserkelch mit den Worten: »Kein anderer Fürst als du, Abbal Kim, hätte es zuwege bringen können, alle Stämme der Wüstenfüchse zu vereinen. Statt langer Lobreden will ich dir nur versichern, daß ich den Kelch leere, als wäre er mit deinem Blut gefüllt. Bevor ich das tue, möchte ich nur noch der Hoffnung meiner Stammesbrüder Ausdruck geben, daß du dich bald zum Angriff auf Alesch entschließen mögest, Abbal Kim.« Der oberste Fürst der Söhne des Fuchses nickte. »Ich hatte schon vor Tagen genügend Krieger, um die Stadt dem Erdboden gleichmachen zu können. Aber ich wartete zu, bis mein Aufruf zum Feldzug gegen Alesch alle Stämme erreicht hatte. Jetzt ist es soweit. Lasse deine Blicke über das Heerlager schweifen und versuche es zu überblicken. Es wird dir nicht gelingen, denn die Zelte reichen bis zur letzten Düne vor dem Himmel. Es sind vierzig Hundertschaften, die meinem Befehl gehorchen – und sie werden morgen mit Sonnenaufgang das Rattennest Alesch ausräuchern.« »Vierzig Hundertschaften«, sagte der nächste Stammesfürst, während er den Wasserkelch hob. »So viele Krieger in einem Heer hat die Wüste schon seit Dilaghas Zeiten nicht mehr gesehen – und ich kann gar nicht glauben, daß unser aller Stammvater über ein so
gewaltiges Heer verfügte, als er die Wüste für sein Volk eroberte. Aber müßten die kampffähigen Männer aller Stämme des Fuchses nicht ein noch viel größeres Heer ergeben?« Abbal Kim blickte die Stammesfürsten der Reihe nach an. »Es ist schon ein wahres Wort, daß sich in den Reihen der Wüstenfüchse noch soviel Krieger fänden, um weitere zehn Hundertschaften auf die Beine zu stellen. Aber – und das hat mich traurig gestimmt – manche Fürsten dachten anders als ihr, meine Brüder. Es sind einige unter ihnen, die zu weit weg von Alesch leben, um El Habeks Eisenhand zu spüren, andere wieder sind seßhaft geworden und haben das Schwert mit dem Hirtenstock vertauscht, oder sie ziehen als Händler durch das Land. Schande über jene, die ihre Abstammung verleugnen. Dilaghas Zorn wird sie treffen.« Der fünfte und letzte Stammesfürst in der Runde sagte: »Wir alle schätzen dich als strengen aber gerechten Fürsten, Abbal Kim, und ich, Eshem Mahed, trage die Hoffnung in meinem Herzen, daß die Söhne des Fuchses auch nach der Zerstörung von Alesch zusammenhalten werden. Unter deiner Führung, mein Fürst, könnten wir das Zeichen des Fuchses im Westen
bis zum Grünen Strom tragen und im Osten unser Herrschaftsgebiet bis an die Grenze von Hind ausweiten. Wenn meine Hoffnung sich erfüllt, dann werden dich unsere Kinder und Kindeskinder als den neuen Stammvater unseres Volkes anbeten, Abbal Kim. Und so trinke ich das Wasser als dein geheiligtes Blut!« Abbal Kim nickte zufrieden. Eshem Mahed hatte genau das ausgedrückt, was er selbst dachte. Er hatte große Eroberungspläne und wollte seinem Volk wieder zu der ihm zustehenden Macht und Herrlichkeit verhelfen. Zuerst aber mußten sie Alesch ausräuchern und El Habek und dessen unheilbringenden Götzen des Wassers stürzen. Morgen würde es soweit sein!
Nachdem sie in Bababo eine Schar von Wüstenfüchsen aufgerieben hatten, waren sie fast die ganze Nacht durchgeritten, um Abbal Kims Rache zu entrinnen. Sie wollten nach Alesch, doch wagten sie nicht, in gerader Linie zu dieser Stadt zu reiten, weil sie auf ihrem Weg das Heerlager der Söhne des Fuchses vermuteten. Deshalb wichen sie etwas nach Norden aus und näherten sich Alesch in einem weiten Bogen. Sie hatten noch nicht die Hälfte des vor ihnen liegenden Weges zurückgelegt, als sie im
Morgengrauen vom Sandsturm überrascht wurden. Dragon ließ aus den Decken behelfsmäßige Zelte errichten, in denen sich die elf Krieger, Ubali, Nabib, Iwa und er selbst zusammendrängten. Den Pferden wurden die Vorderläufe aneinandergebunden, damit sie sich ruhig verhielten und den Schutz der aufgespannten Decken nicht verließen. Der untote Eben Emal, den Cnossos als Boten zu Dragon geschickt hatte, blieb bei den Pferden, um sie zu bewachen. Seltsamerweise schien die Tiere die Anwesenheit des Uh-toth nicht zu beunruhigen. Aber Dragon hatte schon vorher durch Eben Emals Verhalten erfahren, daß er nicht ein Untoter wie jeder andere war. »Es behagt mir nicht, den Uh-toth allein bei den Pferden zu lassen«, sagte Hegon, der Anführer der urgoritischen Krieger aus Parthos Heer. »Wenn es ihm in den Sinn kommt, die Fesseln der Tiere zu lösen und sie davonzujagen, dann sind wir verloren.« Ubali, der dunkelhäutige Leibwächter Dragons, stimmte Hegons Bedenken zu. Er hatte Eben Emal von Anfang an mißtraut und ihn nicht aus den Augen gelassen, weil er befürchtete, daß von ihm Gefahr für Dragon drohe. Er rückte sich das Beidhandschwert zurecht, das er wie einen Pfeilköcher auf dem Rücken trug und selbst
im Schlafen nicht abnahm. »Ich werde nach dem Uh-toth sehen«, erklärte er mit einem fragenden Blick zu Dragon. Dieser schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig, Ubali«, sagte er. »Schenkst du dem Untoten nicht zuviel Vertrauen, Dragon?« gab auch Nabib zu bedenken. »Zugegeben, er hat dich gewarnt und dich damit davor bewahrt, blindlings in eine von Cnossos gestellte Falle zu laufen. Du weißt jetzt, daß El Habek in Alesch nur darauf wartet, dich zu einem Untoten zu machen. Aber das allein macht Eben Emal nicht zu deinem Verbündeten. Er ist und bleibt ein Diener Cnossos‘ und wird im Augenblick der Entscheidung auf seiner Seite stehen. Er kann gar nicht anders.« »Eben das stimmt nicht«, erwiderte Dragon. »Eben Emal ist zwar ein Untoter, aber er hat sich einen Rest seiner eigenen Persönlichkeit bewahrt. Er muß Cnossos gehorchen, aber er besitzt noch so viel eigenen Willen, daß er sich manchmal gegen die fremden Befehle auflehnen kann. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß er mir El Habeks Absichten verriet!« »Cnossos‘ Macht ist stärker als Eben Emals Wille«, stellte Nabib fest. »Das stimmt«, mußte Dragon zugeben. »Trotzdem, Eben Emal steht in ständigem Kampf gegen Cnossos‘ Befehle. Und allein, daß er diese Willenskraft aufbringt,
läßt ihn zu einem Außenseiter unter den Untoten werden. Ich vertraue ihm, und das will ich ihm zeigen – was aber nicht heißt, daß es mich alle Vorsicht vergessen läßt.« »Ich werde erst ruhig schlafen können, wenn der Uh-toth um einen Kopf kürzer ist«, sagte Ubali und rückte sich den Beidhänder an seinem Rücken zurecht. Dragon schluckte die Zurechtweisung, die er auf den Lippen hatte. Ubali war von einfachem Gemüt, ihm treu ergeben, aber gnadenlos und ohne Erbarmen gegen seine Feinde. Er kannte nur Gut und Böse und nicht die feineren Schattierungen. Er war ein Barbar, rührend in seiner Zuneigung zu seinen Freunden, furchterregend und rücksichtslos, wenn er sie verteidigte. Draußen tobte der Sandsturm, drückte mit elementarer Gewalt auf die Planen der behelfsmäßigen Zelte und ließ sie wanken. Der Sand, der ständig in großer Menge herangetrieben wurde und schwer auf den gespannten Decken lastete, mußte immer wieder beseitigt werden. Er drang durch die feinsten Ritzen ein, drang den Männern in Augen, Ohren und die Atemwege. Dragon hatte Hegons Kriegern aufgetragen, zu schlafen zu versuchen. Wenn der Sandsturm vorbei war, würden sie ohne Rast bis Alesch durchreiten, das kaum mehr einen Tagesritt entfernt war. Und dann
wollte Dragon auf die Unterstützung von ausgeruhten Kriegern bauen können. Er selbst bekam kein Auge zu, obwohl er todmüde war. So ging es ihm schon seit Tagen – seit dem Zeitpunkt, da er seine Erinnerung zurückbekommen hatte. Die Erinnerung an eine Zeit, die zweitausend Jahre in der Vergangenheit lag. Schon damals hatte der Kampf gegen Cnossos begonnen, und er wurde nach zweitausendjähriger Pause von dem Zeitpunkt an fortgesetzt, da Dragon in seinem Schrein aus dem Tiefschlaf erwachte. Dragon hatte bis zuletzt die Zusammenhänge nicht gekannt, hatte nicht gewußt, worum es bei der Auseinandersetzung eigentlich ging und mit wem er es zu tun hatte. Es war für ihn von Vorteil, daß er nun über Cnossos Bescheid wußte, daß er ihn als den Balamiter erkannte, der aus einer anderen Dimension gekommen war, um die Erde zu erobern und bei diesem Versuch den Untergang von Atlantis herbeigeführt hatte. Aber noch war Dragon nicht in der Lage, sein Wissen in Macht umzusetzen. Denn ihm waren die Hände gebunden, weil Cnossos seinen neugeborenen Sohn Atlantor entführt und nach Alesch gebracht hatte. Deshalb blieb Dragon keine andere Wahl, als diese Stadt aufzusuchen, obwohl ihn dort das Schicksal eines Untoten erwartete.
»Trink, Dragon«, sagte Iwa in seine Gedanken hinein. Sie hielt ihm einen Becher mit einer trüben Flüssigkeit hin. »Was hast du da zusammengebraut?« fragte er mißtrauisch. »Einen Schlaftrunk«, sagte Iwa. »Trink ihn! Er wird dir helfen, deine Erinnerung für einige Stunden zu vergessen und Ordnung in deine Gedanken bringen.« »Nimm du den Schlaftrunk«, meinte Dragon. »Du hast ihn bitterer nötig als ich. Ich werde erst Ruhe finden, wenn ich Atlantor in die Arme schließen kann.« Ubali, der zwei schlafende Krieger zur Seite gedrängt und sich zwischen sie gezwängt hatte, schreckte aus dem Halbschlummer hoch. »Ich sehe nach dem Uh-toth«, sagte er entschlossen und erhob sich. Dragon hatte nichts dagegen. Obwohl er bezüglich Eben Emals die Bedenken der anderen nicht teilte, vertraute er ihm doch nicht blindlings. Eben Emal war nun einmal ein Untoter, mit einem Rest eigenen Willens zwar, aber nichtsdestoweniger ein Sklave von Cnossos. Als Ubali die Decken teilte und ins Freie schlüpfte, wirbelte Sand herein. Dragon schloß unwillkürlich die Augen, Iwa wandte das Gesicht ab und barg es in der Armbeuge.
Ubali blieb lange weg. Als er zurückkam, war sein schwarzes Kraushaar hell vom Sand, vor das Gesicht hatte er ein Tuch gebunden, das nur einen Spalt für die Augen freiließ. Er kauerte sich nieder und schüttelte den Sand ab. »Er ist mir unheimlich«, sagte er schließlich, und in seinen Augen lag Verwirrung. »Was ist passiert?« fragte Dragon. »Nichts«, meinte Ubali. »Er scheint sich gut um die Pferde zu kümmern, denn sie verhielten sich ganz ruhig. Erst als ich auftauchte, begannen sie zu scheuen. Ist es nicht unheimlich, daß Pferde zu einem Untoten mehr Zutrauen haben als zu einem Lebenden, Herr?« »Es ist ungewöhnlich«, meinte Dragon. »Aber vielleicht erkennst du jetzt an, daß Eben Emal kein gewöhnlicher Uh-toth ist.« »Er ist mir jetzt unheimlicher als zuvor«, sagte Ubali. »Wenn wir erst in Alesch sind, dann mußt du mir erlauben, mir seinen Kopf zu holen. Das wird nun bald sein. Der Sandsturm hat nachgelassen.« Nicht viel später hatte sich der Sandsturm so weit abgeschwächt, daß die Sicht einige Dünen weit reichte und die Sonne durch die Sandwand schimmerte. Dragon rief zum Aufbruch. Sie packten ihre Ausrüstung zusammen und luden die Ballen auf die Rücken ihrer Reittiere. Dragon schwang sich auf die Satteldecke und blickte durch
zusammengekniffene Augen nach der Sonne. »Die Sonne steht noch nicht hoch«, sagte er laut; trotzdem klang seine Stimme nur gedämpft durch den vor das Gesicht gespannten Schleier. »Wir werden Alesch bald nach Einbruch der Dunkelheit erreichen.« Er wartete darauf, daß die anderen ihre Pferde bestiegen. Nabib, der Iwa dabei behilflich sein wollte, zog sich mißmutig wieder zurück, als er feststellen mußte, daß Hegon ihm zuvorgekommen war. Dragon schmunzelte über die bösen Blicke, die der Händler dem Krieger zuwarf, der die Gelegenheit nutzte, um mit Iwa auf Tuchfühlung zu kommen. »Du solltest nicht zaudern und dich mehr um Iwa bemühen, bevor ein anderer sie dir vor der Nase wegnimmt, Nabib«, sagte er zu dem Händler, nachdem dieser sein Pferd auf seine Höhe getrieben hatte. »Habe ich es wirklich verdient, daß du mich verspottest, Dragon?« klagte der Händler. »Aber im Vertrauen. Was du in meinen Augen liest, sind nicht meine wirklichen Gefühle. In Wirklichkeit ist mein Herz ganz leicht, seit Hegon an Iwas Seite ist. Die Götter sind mir gnädig, weil sie mich aus ihren Fängen befreit haben.« Ubali trieb sein Pferd neben dem Eben Emals her. Er griff hinter sich und zog den Beidhänder blitzschnell aus der Scheide, wie um dem Untoten vorzuführen, wie schnell sein Kopf bei der geringsten verdächtigen
Bewegung ab wäre. Eben Emals Gesicht blieb dabei ausdruckslos. Hegon kam heran. »Wir können aufbrechen«, sagte er. »Dann los!« Die sechzehnköpfige Reiterschar setzte sich in Bewegung. Hegon hatte mit drei Kriegern die Spitze übernommen und ritt etwa zwanzig Pferdelängen vor den anderen. Sie kamen jedoch nicht weit. Dragon sah durch die Sandschleier, wie die Vorhut plötzlich anhielt. Hegon wandte sich ihnen zu und rief etwas, das sie aber wegen des Sturmgeheuls nicht verstehen konnten. Dragon trieb sein Pferd zu größerer Eile an, um schneller bei Hegon zu sein. Als er den Kamm der Düne erreicht hatte, sah er, was die Vorhut zum Stocken gebracht hatte. Rechts von ihnen waren schemenartig einige Zelte durch die Sandwand zu sehen. Als sich die Sandschleier etwas lichteten, wurde erkenntlich, daß es sich um ein überaus großes Lager handeln mußte; die Zelte reihten sich, so weit das Auge reichte, in die Tiefe und nach links und rechts. »Zurück!« befahl Dragon. »Vielleicht hat man uns noch nicht entdeckt.« Sie ritten vom Dünenkamm und versuchten ihn dann zu umrunden.
»Was hältst du davon, Hegon?« fragte Dragon. »Ich glaube, wir haben, ohne etwas davon zu ahnen, ganz nahe von Abbal Kims Heer gelagert«, sagte der Urgorit. »Beinahe wären wir den Wüstenfüchsen in die Arme geritten. Was schlägst du nun vor?« Noch bevor Dragon eine Antwort geben konnte, meldete einer der Krieger, der auf der Düne zurückgeblieben war, um Ausschau zu halten: »Eine Gruppe von Reitern kommt auf uns zu. Es sind bestimmt mehr als fünfzig, vielleicht ist es sogar eine ganze Hundertschaft.« Dragon ließ die Schultern hängen. »Ein Fluchtversuch wäre sinnlos«, sagte er. »Wir würden nicht weit kommen. Deshalb werden wir ihnen entgegenreiten und mit ihnen verhandeln. Nabib, jetzt kannst du deine Zungenfertigkeit unter Beweis stellen. Steck das Schwert zurück, Ubali!« »Ich wollte doch nur dein Leben so teuer wie möglich verkaufen, Herr«, begehrte Ubali auf, gehorchte jedoch und verstaute den Beidhänder wieder auf seinem Rücken. Dragon wandte sich dem Untoten zu, dessen blicklose Augen ins Leere starrten. »Eben Emal«, sprach er ihn an. »Du hast mir in Bababo zu verstehen gegeben, daß du den Söhnen des Fuchses angehörst. Du nanntest sie deine Brüder! Ist es so?«
Dragon glaubte, es in Eben Emals Augen aufflackern zu sehen, doch das konnte auch nur Einbildung gewesen sein. Der Untote blieb bewegungslos wie eine Statue im Sattel sitzen, sein Gesicht war eine starre Maske. »Was versprichst du dir von ihm, Dragon?« sagte Nabib. »Du siehst doch, daß er keine Herrschaft über sich hat.« »Ich hoffe noch immer, daß es uns hilft, wenn die Wüstenbewohner einen der ihren in unseren Reihen sehen«, meinte Dragon. Er wandte sich wieder dem Untoten zu und sagte in befehlendem Ton: »Komm her, Eben Emal. Du wirst an meiner Seite deinen Brüdern entgegenreiten und dich ihnen zu erkennen geben!« Zu Dragons Überraschung, kam der Untote seinem Befehl nach. »Jawohl, Herr«, sagte er dabei mit seiner hohlen Stimme, und in seinem Gesicht zuckte es. »Du wirst deinen Brüdern sagen, daß wir in Frieden kommen und sie bitten, durch ihr Gebiet reiten zu dürfen«, sagte Dragon eindringlich. Ohne Dragon anzublicken, sagte Eben Emal mit ausdruckslosem Gesicht: »Meine Brüder – wir kommen in Frieden ...« Der Posten kam rutschend und stolpernd von der Düne herunter.
»Sie kommen wie blutrünstige Dämonen herangeritten!« rief er aufgeregt. »Wenn wir nicht flüchten, werden sie uns einfach überrennen.« Der Krieger hatte sein Pferd noch nicht erreicht, als die vordersten Reiter der Angreifer auf der Düne erschienen, die er gerade verlassen hatte. Ohne anzuhalten oder ihre Geschwindigkeit zu drosseln, kamen sie näher. Beim Anblick der kleinen Reiterschar stimmten sie ein wüstes Geheul an und schwangen ihre krummen Schwerter über den Köpfen. Der Kundschafter war mitten hinein in das feierliche Zeremoniell der Blutsbrüderschaft geplatzt. Sein Gesicht und sein Gewand waren voll Sand, und er lag völlig erschöpft zu Abbal Kims Füßen, der ob dieser Störung am liebsten nach ihm getreten hätte. »Ich war, wie du es befohlen hattest, in Bababo, mein Fürst«, berichtete der Kundschafter atemlos, »und traf dort gerade ein, als der Sandsturm aufkam.« »Was hast du zu berichten?« verlangte Abbal Kim mit barscher Stimme zu wissen. Bababo war eine der größten Oasen im Land der Wüstenfüchse und wurde von seßhaft gewordenen Stammesangehörigen bewohnt. Abbal Kim hatte einundzwanzig Krieger hingeschickt, um die jungen Männer zum Feldzug gegen Alesch aufzurufen. Doch
die Kriegswerber waren mit der Nachricht zurückgekehrt, daß die Bewohner von Bababo beschlossen hatten, nie mehr in ihrem Leben eine Waffe gegen ihren Nächsten zu erheben – egal, ob Freund oder Feind. Die Bewohner von Bababo sagten, daß ein Unbekannter, den sie den Friedensbringer und den Namenlosen nannten, ihnen die Augen und das Herz geöffnet hätte; seit sie seine Botschaft vernommen, könnten sie nie wieder mehr töten oder sonst Böses tun. Daraufhin hatte Abbal Kim die einundzwanzig Reiter nochmals nach Bababo geschickt, mit dem Befehl, ihm die Köpfe all jener kampffähigen Männer zu bringen, die sich weigerten, an der Seite ihrer Brüder gegen die Alescher zu kämpfen. Als die Kriegswerber nach abgelaufener Frist nicht im Heerlager eintrafen, hatte Abbal Kim einen Kundschafter nach Bababo geschickt. Dieser war nun zurückgekehrt, um ihm Bericht zu erstatten. »Mir bot sich ein furchtbarer Anblick, mein Fürst. Die Oase war verlassen, ich traf kein lebendes Wesen mehr an. Die Hütten standen leer, und es sah so aus, als hätten die Bewohner Bababo mit all ihrer Habe verlassen. Ich fand nur die Leichen unserer einundzwanzig Brüder, die du ausgeschickt hast, um
Krieger anzuwerben. Sie lagen fast alle über den Hauptplatz verstreut, und es sah so aus, als seien sie in einen Hinterhalt geraten. Nur zwei fand ich neben ihren verendeten Pferden weit außerhalb der Hütten. Die Feinde mußten sie eingeholt haben, als sie flüchten wollten und auf dem Weg hierher waren.« Abbal Kim entließ den Kundschafter mit einem Wink. Er blickte die fünf Stammesfürsten, mit denen er gerade Blutsbrüderschaft getrunken hatte, lange und schweigend an. In seinem wettergegerbten Gesicht zeigte sich keine Regung. Aber als er schließlich sprach, tat er es mit der unheilschwangeren Stimme eines Rachegottes. »Ihr habt es gehört, meine Brüder, wie manche aus dem Stamm der Wüstenfüchse denken. Die Bewohner von Bababo haben uns nicht nur verleugnet, nein, sie schworen, nie mehr in ihrem Leben ein Schwert anrühren zu können, aber als meine Krieger wiederkamen, fielen ihnen diese hinterhältigen Hundesöhne in den Rücken. Das soll nicht ungestraft bleiben!« »Eshem Mahed«, sagte er zu einem der Stammesfürsten. »Bist du bereit, mir mit hundert deiner Krieger nach Bababo zu folgen und die Abtrünnigen ihrer verdienten Strafe zuzuführen?« Eshem Mahed versicherte, er könnte sich keine größere Ehre denken.
Während Esham Mahed aus dem Zelt eilte, um eine Hundertschaft seiner besten Krieger zusammenzustellen, legte Abbal Kim sein Kampfgewand an: Den eisernen Helm mit dem ledernen Nackenschutz, über den ein fuchsrotes Tuch gebunden wurde, das Kettenhemd, die mit Eisen verstärkten Beinschienen aus Leder; über dem Kettenhemd trug er das knielange Kleid aus feinstem Gewebe und den reich verzierten Waffengürtel, von dem links an einer silbernen Kette das Krummschwert hing und in dem rechts drei verschiedengroße Dolche steckten. Einer von Abbal Kims Beratern meldete, daß der Sandsturm an Heftigkeit verlor und bald ganz nachgelassen haben würde. »Dilagha sieht auf uns herab«, sagte Abbal Kim. »Er wünscht es, daß wir den Verrat von Bababo rächen.« Gerade als der oberste Fürst der Söhne des Fuchses letzte Hand an sich legte, erschien wieder sein Berater Echiam, diesmal in Begleitung eines Wachtpostens. »Dieser Mann hat dir eine wichtige Meldung zu überbringen, mein Fürst«, sagte Echiam. »Er ist einer von den Außenposten, die außerhalb des Heerlagers ihre Runde machen.« Der Posten berichtete: »Ich habe, nur wenige hundert Schritt von den äußersten Zelten entfernt, das Lager einer sechzehnköpfigen Reiterschar entdeckt. Sie befanden sich gerade im Aufbruch und
ritten in Richtung Alesch davon.« »Kann es sich um eine Gruppe von Abtrünnigen aus Bababo handeln?« fragte Abbal Kim. »Das ist ganz ausgeschlossen, Erhabener«, sagte der Wachtposten. »Es handelte sich um Fremde, die keinem Stamm von Wüstenfüchsen angehören. Ich war zu weit weg und konnte durch den treibenden Sand keine Einzelheiten erkennen, so daß ich nicht sicher bin, ob es sich um Krieger El Habeks handelt.« Abbal Kim straffte sich. »Aber sie sind nach Alesch unterwegs.« Er legte die Hand entschlossen auf den Knauf des Schwertes. »Vielleicht kommen sie geradewegs von Bababo ... Was sagst du dazu, Echiam?« »Ich hatte den gleichen Gedanken, mein Fürst. Wir wissen, daß El Habeks Krieger in den letzten Tagen immer dreistere Vorstöße in die Wüste unternahmen und dabei kleinere Gruppen unserer Männer überfielen, wenn sie in der Überzahl waren. Es könnte durchaus sein, daß sich einige Alescher bis nach Bababo vorwagten und dort nicht nur die Bewohner zwangen, dir die Kriegsdienste zu verweigern, sondern auch deinen Kriegswerbern einen Hinterhalt legten ...« Abbal Kim ließ seinen Berater einfach stehen und schritt aus dem Zelt. Sein Schimmelhengst war bereits geschmückt und gesattelt. Abbal Kim bestieg ihn und ritt langsam davon.
Außerhalb des Zeltlagers schloß Eshem Mahed mit seinen hundert Kriegern zu ihm auf. Der Sandsturm wurde immer schwächer, und manchmal reichte die Sicht bereits fünf Dünen weit. Abbal Kim konnte es kaum erwarten, auf die Krieger El Habeks zu stoßen und sie seine ganze Wut spüren zu lassen. Er trieb seinen Schimmelhengst zu immer schärferem Ritt an und mäßigte die Geschwindigkeit erst, als ihm Eshem Maheds Krieger nicht mehr folgen konnten. Er wartete, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatten und übernahm dann wieder die Spitze. Sie ritten am Rande des Heerlagers in östlicher Richtung, weil der Wachtposten behauptet hatte, daß die sechzehn Reiter nach Alesch unterwegs waren. Abbal Kim war sicher, daß er sie noch einholen würde, bevor der Sturm ganz abgeflaut war. Und als eine kurz eintretende Windstille die Sandschleier für einige Atemzüge zusammenfallen ließ, erblickte der Fürst der Wüstenfüchse auf einer nahen Düne einen einzelnen Krieger, der bei ihrem Anblick sofort verschwand. Abbal Kim zog sein Krummschwert und gab seinem Schimmelhengst die Zügel frei. Die Krieger folgten seinem Beispiel, und als sie einen Dünenkamm erreichten und in der Senke vor sich die sechzehn Reiter sahen, stimmten sie ein wütendes Geheul an.
Im ersten Augenblick war Abbal Kim verwirrt, daß die Fremden nicht versucht hatten zu fliehen, sondern ihnen sogar entgegenkamen. Es schien fast, als hatten sie eingesehen, daß sie dieser Übermacht nicht gewachsen waren und sich ergeben wollten. Aber das hätte Abbal Kim nicht gelten lassen. Er hätte die sechzehn Reiter auch niedermachen lassen, wenn sie keine Gegenwehr leisteten. Doch er tötete lieber im Kampf, und deshalb empfand er Erleichterung, als er sah, daß die Alescher im letzten Augenblick doch noch zu den Waffen griffen. Abbal Kim straffte seinem Schimmelhengst die Zügel, daß er sich knapp vor den ersten beiden Reitern auf die Hinterbeine stellte und hoch aufrichtete. Dadurch scheuten die beiden Reittiere vor ihm und drehten sich im Kreis. Während der eine Reiter verzweifelt um die Herrschaft über sein Pferd kämpfte, blieb der andere reglos sitzen, so daß es nicht verwunderlich war, daß er abgeworfen wurde. Abbal Kim stellte fest, daß der abgeworfene Reiter eine so verwelkte Haut wie eine Mumie hatte und einen Totenschädel mit tief in den Höhlen liegenden schwarzen Augen. Als er im Sand lag, rief er mit wesenloser Stimme: »Haltet ein, meine Brüder!« Abbal Kim lachte wild und ritt über ihn hinweg. Sand wurde aufgewirbelt, als die Hufe des
Schimmelhengstes den Körper unter sich traten. Abbal Kim war sicher, daß der Mann zu Tode getrampelt wurde. Um so mehr erstaunte es ihn, als er rückblickend feststellen mußte, daß er sich noch einmal aufrichtete. Er kümmerte sich aber nicht mehr um ihn, überließ ihn seinen Krieger und stürzte sich in das Kampfgetümmel, das um ihn bereits im Gange war. Abbal Kim preschte auf einen der Fremden zu, der gerade seine Klinge aus dem Körper eines seiner Krieger zog. Noch bevor dieser Abbal Kims Schwertstreich mit seiner Klinge abwehren konnte, klaffte ihm quer über das Gesicht eine tiefe Wunde. Zwei weitere Gegner wälzten sich bereits in ihrem Blut im Sand. Aber die anderen, das mußte Abbal Kim neidlos anerkennen, leisteten erbitterten Widerstand. Da war der dunkelhäutige Riese, der mit beiden Händen ein Schwert führte, das um die Hälfte länger war, als der Arm eines Mannes. Der Fürst der Wüstenfüchse hatte vorher noch niemanden getroffen, der solch ein Henkersschwert mit dieser Sicherheit in einem Zweikampf zu führen gekonnt hätte. Der schwarze Hüne mähte mit seiner Klinge die Angreifer reihenweise von den Pferden, ohne selbst eine einzige Schramme abzubekommen. Erst als er für die Dauer eines Atemzugs die Deckung in seinem Rücken vernachlässigte, gelang es einem Krieger, ihn mit einem Schlag eines Lanzenschafts aus dem Sattel zu
holen. Einer der Alescher, der sein Pferd eingebüßt hatte, stand breitbeinig da und kämpfte mit Schwert und Dolch gegen zwei Krieger. Einen davon konnte er töten, aber als er dem anderen den Dolch in den Leib stoßen wollte, sprang er in dessen Klinge. Wieder kam der Grauhäutige in Abbal Kims Blickfeld. Er stand inmitten der Kämpfenden und rührte keine Hand. Als sich die Klinge eines Schwertes in seine Schulter grub, wankte er nur leicht, gab jedoch keinen Laut des Schmerzes von sich. Er dachte nicht einmal daran, sich zur Wehr zu setzen, und Abbal Kim bildete sich sogar ein, daß aus seiner Schulterwunde nicht einmal Blut floß. Er hatte schon davon gehört, daß El Habek im Besitz von Sklaven sein sollte, die ihm bedingungslos gehorchten und unverwundbar waren. Aber auf solcherart Erzählungen gab Abbal Kim nichts, und die Zeit, sich davon zu überzeugen, ob er solch einen Uh-toth vor sich hatte, ließen ihm seine Gegner nicht. Vor ihm tauchte einer der Alescher auf und griff seinem Schimmelhengst in die Zügel. Das Tier scheute und warf Abbal Kim ab, der sich sofort im Sand abrollte und auf die Beine kam, bevor sich sein Gegner auf ihn stürzen konnte. Die beiden standen sich einige Augenblicke lang lauernd gegenüber, und Abbal Kim hatte Muße, seinen
Gegner eingehender zu betrachten. Er hatte eine blassere Haut als die Menschen dieses Landes, und auch sein Haar, zwar dunkel, war eher braun als schwarz. Sein Gesicht war scharfgeschnitten, und die Augen verrieten einen scharfen Blick und Klugheit. Abbal Kim erkannte an der Haltung und wie sein Gegner das Schwert führte, daß er es hier mit einem erfahrenen Krieger zu tun hatte. »Seit wann überfallen die Söhne des Fuchses friedliche Karawanen?« fragte er. Abbal Kim antwortete mit einem senkrecht geführten Schwertstreich, der jedoch ins Leere ging, so daß er Mühe hatte, den Gegenangriff des anderen abzuwehren. Abbal Kim mußte daraufhin einen wahren Hagel von Schwerthieben über sich ergehen lassen, die zu entschärfen sein ganzes Geschick erforderten. Er selbst konnte nicht mehr zum Angriff übergehen, weil er völlig in die Verteidigung gedrängt wurde. Er kam in immer ärgere Bedrängnis, je länger der Zweikampf dauerte. Doch konnte keiner von ihnen eine Entscheidung in dem Kräftemessen herbeiführen, weil durch das Eingreifen eines Außenstehenden der Kampf beendet wurde. Einer von Abbal Kims Kriegern schlug dem Fremden mit aller Wucht eine Lanzenstange ins Genick, daß dieser auf der Stelle bewußtlos zusammenbrach.
Damit war der Kampf beendet. Abbal Kim sah, daß die anderen Gegner – unter ihnen auch eine Frau – entwaffnet und zusammengetrieben worden waren. Es waren sechs Männer und die Frau. Den schwarzen Hünen und den anderen, der nur die Besinnung verloren hatte, hinzugezählt, hatten neun der Alescher überlebt. Sechs von ihnen waren gefallen – und bestimmt dreimal soviel seiner eigenen Leute. Abbal Kim fuhr herum, als zwei Reiter mit einem weiteren Gefangenen herankamen. Es war der Graue, dessen seltsames Verhalten Abbal Kim von Anfang an aufgefallen war. Er trottete mit hölzernen Schritten zwischen den Reitern dahin. Sie hatten ihm eine Schlinge um den Hals gelegt, die sich spannte, als sie vor Abbal Kim hielten. »Was ist mit ihm?« fragte der oberste Fürst der Wüstenfüchse. »Er scheint einer von El Habeks unverwundbaren Sklaven zu sein, Erhabener«, sagte einer der beiden Krieger. »Wir fügten ihm viele Wunden zu, doch sie schlossen sich alle sofort wieder. Da er sich nicht gegen unsere Angriffe wehrte, nahm ich ihn gefangen. Und dann ... du wirst an meinen Worten zweifeln, Erhabener ... aber ich kenne diesen Mann. Er heißt Eben Emal und gehört unserem Stamm an.«
Abbal Kim starrte in das mumienhafte Gesicht des Untoten und sagte: »Er war vielleicht einmal einer aus dem Stamm der Füchse. Doch er hat seine Seele El Habek verschrieben. Seht ihn euch an, er hat sein Gesicht verloren.« Eben Emals Lippen bewegten sich, und er sagte kaum hörbar: »Meine Brüder ...« Abbal Kim schlug ihm ins Gesicht. »Beuge deinen Rücken, wenn du vor mir stehst!« herrschte er den Untoten an. Und Eben Emal gehorchte. Seine Bewegungen kamen ruckartig, so als müsse er gegen innere Widerstände ankämpfen, um dem Befehl nachkommen zu können. Aber es gelang ihm, den Willen aufzubringen, um in die Knie zu gehen und sich vor Abbal Kim zu beugen. Durch die vielen Schwertstreiche hing ihm das Gewand in Fetzen vom Körper, so daß das Brandmal auf seinem Rücken zu sehen war. Ein Raunen erhob sich, als die Krieger das Zeichen von Alesch erkannten: einen senkrechten und oben geteilten Wasserstrahl mit einem Totenkopf. Das war der letzte Beweis für Abbal Kim, daß er einen Abtrünnigen vor sich hatte. Er hob sein Krummschwert und ließ es mit aller Kraft auf Eben Emals Nacken niedersausen.
»Bringt die Gefangenen ins Lager!« befahl Abbal Kim nach der erfolgten Hinrichtung des Untoten. Dragon verspürte einen heftigen Schmerz im Nacken, als er den Kopf bewegte. Aber auch als er stillhielt, blieb der Schmerz. Er versuchte die Hand zu heben, aber irgend etwas hinderte ihn daran; seine Arme und Beine, ja, sein ganzer Körper war so eingeengt, daß er sich nicht rühren konnte. Er spürte etwas an seinen Lippen, und dann floß es kühl und naß darüber, und Dragon trank. Er öffnete die Augen und sah die leicht verschwommene Gestalt eines bärtigen Wüstenbewohners vor sich. »Danke ...«, murmelte Dragon, als der Wasserschlauch wieder von seinen Lippen genommen wurde. Das bärtige Gesicht verschwand aus Dragons Blick. Jetzt erst sah er den Wüstensand ganz knapp vor seinen Augen und augenblicklich erkannte er den Grund, warum er wohl den Kopf, aber nicht den übrigen Körper bewegen konnte. Er war bis zum Hals im Sand eingegraben! Vor ihm wellte sich der Sand bis zu einer höheren Düne. Dahinter ragten Reiter hervor, von denen nur die Köpfe und Schultern zu sehen waren. Hätten nicht auch die wehenden Pferdemähnen über die Düne geragt, dann hätte Dragon nicht erkannt, daß es sich
um Reiter handelte. Sie schienen auf irgend etwas zu warten. Es herrschte Stille, in der nur das Säuseln des Windes und vereinzelte Geräusche zu hören waren: das Wiehern von Pferden und das Scharren von Schritten in seinem Rücken. Dragon wandte den Kopf nach links. Etwa zehn Schritte von ihm entfernt ragte Nabibs Kopf aus dem Sand. Das Gesicht des Händlers war gerötet und schweißbedeckt. Er blickte zu Dragon und sagte mit rauher Stimme: »Tut mir leid, daß es so gekommen ist. Ich habe alles versucht, um Abbal Kim davon zu überzeugen, daß wir nicht seine Feinde sind. Anfangs glaubte ich sogar, daß ich ihn für uns würde gewinnen können. Ich hielt mich genau an die Wahrheit. Ich erzählte ihm, daß dein Sohn geraubt wurde, daß man ihn in Alesch gefangenhält und wir deshalb dorthin unterwegs waren ...« Nabib machte eine Pause, weil seine Kehle ausgetrocknet war. Dragon wandte den Kopf auf die andere Seite. Dort war, ebenfalls in zehn Schritt Entfernung, nur der Kopf von Ubali zu sehen. Er fletschte die Zähne zu einem Grinsen. »Ich bin zufrieden, Herr«, sagte er. »Mir können sie nur ein Leben nehmen. Aber ich habe vorher schon so viele dieser Wüstenhunde ins Jenseits befördert, wie ich Finger an den Händen habe.«
Dragon nickte ihm zu und drehte den Kopf wieder zu Nabib. »Abbal Kim macht seinem Stamm alle Ehre«, fuhr der Händler mit brüchiger Stimme fort. »Er ist ein schlauer Fuchs, und ich konnte ihm nicht verschweigen, daß wir durch Bababo gekommen sind. Als ich ihm den Kampf mit seinen Leuten schilderte, schien er eher beeindruckt als verärgert, wenngleich ihm unsere Beweggründe nicht einleuchteten. Jedenfalls war das nicht ausschlaggebend dafür, daß er das Todesurteil über uns fällte ...« Dragon sah hinter Nabib noch weitere Köpfe aus dem Sand ragen, konnte aber außer von einem urgoritischen Krieger die Gesichter nicht erkennen. »Wie viele sind wir noch?« fragte Dragon. »Neun«, kam es krächzend über Nabibs Lippen. »Hegon ist darunter – und ... und Iwa bleibt diese Tortur auch nicht erspart.« »Sollen wir hier verdursten?« fragte Dragon, obwohl ihm die Todesart eigentlich egal war. »Nein, das wäre zu einfach!« ertönte eine feste Stimme hinter ihm. Ein Schatten fiel auf sein Gesicht und dann setzte sich ein Mann von gut sechzig Sommern und mit grauem Bart vor ihm in den Sand. Dragon erkannte in ihm seinen Gegner, mit dem er einen erbitterten Kampf geführt hatte, bevor er hinterrücks niedergeschlagen
worden war. Er trug Dragons Amulett um den Hals. »Ich bin Abbal Kim, Herrscher über die Söhne des Fuchses«, sagte der Graubärtige würdevoll. »Deinen Namen kenne ich, aber ich werde ihn bald wieder vergessen haben, denn er wird im Buche Dilaghas bestimmt nicht aufscheinen. Du scheinst Mut zu haben, du handhabst das Schwert gekonnt – aber du hast kein Gesicht, weil du dich einem Schurken wie El Habek verschrieben hast. Deshalb wird dein Name im Buch Dilaghas nicht unter den Helden aufscheinen.« »Das ist ein Irrtum«, erklärte Dragon. »Ich bin nicht El Habeks Verbündeter, sondern will nach Alesch, um ihm den Garaus zu machen und meinen entführten Sohn zurückzuholen ...« Abbal Kim brachte ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen. Er wies mit dem Kopf in Nabibs Richtung und sagte: »Diese Lügen habe ich alle schon von deinem dicken Freund gehört. Erspare sie dir also. Ich habe dich durchschaut!« »Aber ...«, versuchte Dragon einzuwenden, verstummte jedoch, als Abbal Kim ihm eine Handvoll Staub ins Gesicht schleuderte. Der oberste Fürst der Söhne des Fuchses griff in seinen Umhang und holte eine zerknitterte Schriftrolle daraus hervor. Er breitete sie aus und hielt sie Dragon darauf so hin, daß er die Schriftzeichen darauf sehen
konnte. »Das habe ich bei dir gefunden«, sagte Abbal Kim. Es war die Botschaft, die Dragon am Berg des Windes von Eben Emal überreicht bekommen hatte. Sie war in der Alten Sprache abgefaßt, und es gab nur noch wenige, die sie beherrschten. Dragon konnte die fremden Schriftzeichen auch erst richtig lesen, seit er Teile seiner Erinnerung zurückerhalten hatte. »Was folgerst du daraus, daß ich die Schriftrolle bei mir hatte, Abbal Kim?« sagte Dragon. »Sie enthält eine Nachricht an mich, mit der ich nach Alesch gelockt werden soll. Der Inhalt muß dir Beweis genug dafür sein, daß Nabib die Wahrheit gesagt hat!« »Meinst du?« »Laß mich dir die Nachricht vorlesen«, bat Dragon. »Dann wirst du sehen, daß ...« »Nicht nötig«, unterbrach ihn Abbal Kim mit listigem Lächeln. »Ich beherrsche nämlich selbst die Alte Sprache und kenne den Inhalt der Botschaft bereits. Ich werde sie dir vorlesen, damit du erkennst, wie sinnlos es ist, deinen Kopf durch Lügen retten zu wollen.« Abbal Kim hielt die Schriftrolle ausgebreitet von sich und begann zu lesen: »Folge meinem Boten, der Dir diese Nachricht überbringt, Dragon. Er wird Dich nach Alesch geleiten, wo mein Statthalter Dich erwartet. Suche El Habek auf
und sage ihm, daß der Gott der vielen Namen Dich geschickt hat. Er wird sich Deiner annehmen, denn er weiß, was ich Dir als nächstes zugedacht habe. Danach wirst Du Deinen Sohn in die Arme schließen können.« Dragon kannte den Inhalt der Botschaft auswendig, denn er hatte sie oft genug gelesen. Aber erst jetzt, als Abbal Kim sie ihm vorlas, wurde ihm klar, daß sie doppelsinnig war. Mit keinem Wort ging daraus hervor, daß er unter Zwang nach Alesch ging und kein Verbündeter El Habeks war. Man konnte den Inhalt auch so auslegen, daß Dragon mit dem Statthalter von Alesch im Bunde war. Und genau das hatte Abbal Kim getan. Dragon unternahm noch einen Versuch, den Irrturm aufzuklären, aber das Oberhaupt der Wüstenfüchse schenkte ihm keinen Glauben. »Du hast dich vorhin über deine Todesart erkundigt«, sagte Abbal Kim hämisch. »Nun, ich will dir gern antworten. Siehst du die neun Reiter dort? Jeder von ihnen hat eine Lanze. Sie werden auf mein Zeichen auf euch zureiten und, wenn sie auf fünfundzwanzig Schritt heran sind, die Lanzen nach euren Köpfen werfen. Dahinter warten noch weitere Reiterabteilungen. Wenn du Glück hast, Dragon, kannst du ein halbes Dutzend Würfe und mehr überleben.« Mit diesen Worten erhob sich Abbal Kim und
verschwand aus Dragons Blickfeld. Dragon wandte den Kopf in Nabibs Richtung, als er ein Stöhnen vernahm. Der Kopf des Händlers lag auf der Seite, seine Augen waren geschlossen; er schien am Ende seiner Kräfte zu sein. Dragon hörte, wie in seinem Rücken ein Gong geschlagen wurde und blickte gebannt in Richtung der Reiter. Sie stellten ihre Lanzen senkrecht auf und setzten sich wie auf Kommando in Bewegung. Dragon spürte, wie der Boden unter den donnernden Hufen der Pferde erbebte ... die Reiter kamen immer schneller heran ... jetzt hoben sie die Lanzen zum Wurf – und schleuderten sie kraftvoll von sich. Das tödliche Wurfgeschoß schien geradewegs auf Dragon zuzukommen. Er warf den Kopf unwillkürlich nach links, um wenigstens den Versuch zu machen, der Lanze auszuweichen – und sie bohrte sich auf der anderen Seite zwei Handbreit neben ihm in den sandigen Boden. Dragon schloß aufatmend die Augen. Da er keinen Todesschrei gehört hatte, nahm er an, daß auch die anderen unverletzt geblieben waren. Aber das war im Grunde auch egal; ihre Hinrichtung war dadurch nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben. Denn schon tauchte die nächste Reitergruppe hinter der Düne auf. Als der Gong erneut geschlagen wurde, klang es
schmerzhaft laut in Dragons Ohren ...
3.
Er kam nicht, sondern war auf einmal da, und die Kunde von seinem Erscheinen verbreitete sich unter den Nomaden, die in dem breiten Palmenhain um Alesch lagerten, wie ein Lauffeuer. Einer sagte es dem anderen. »Ein Fremder ist gekommen, der uns aus unserer Not helfen wird.« »Sind Abbal Kims Krieger denn schon hier?« »Dann rette sich, wer kann.« »Nein, es ist ein einzelner Mann.« »Wo?« »Was kann er denn schon für uns tun?« »Es ist jener, der keinen Namen hat, und den man den Friedensbringer nennt.« »Habt ihr ihn gesehen? Wie sieht er aus?« Auf diese Fragen wußte niemand Antwort, und es stellte sich heraus, daß eigentlich keiner den Namenlosen gesehen hatte. Aber die Nomaden strebten dennoch in Scharen herbei, und als sie den Spuren im Sand folgten, die zum Westtor von Alesch
führten, da spürten sie seine Anwesenheit. »Von ihm geht eine starke Kraft aus, die mir geradewegs ins Herz dringt«, sagte eine ältere Nomadenfrau, nahm ihren Tonkrug und balancierte ihn auf dem Kopf, während sie den anderen zur Stadtmauer folgte. Die Nomaden, die nur eine oder zwei Armlängen hinter dem Fremden gingen, sahen seinen breiten Rücken vor sich, von dem ein wallender Umhang bis zum Boden reichte. Sein Haupt war ebenfalls in Tuch gehüllt, so daß man nicht einmal sein Haar sehen konnte. Als einer der ganz Neugierigen ihn überholte, um ihm ins Gesicht sehen zu können, mußte er enttäuscht feststellen, daß auch das Gesicht des Fremden verhüllt war. »Wer bist du?« fragte der Nomade. »Ich habe keinen Namen in dieser Welt«, antwortete ihm eine volltönende Stimme. »Ich bin nur ein Sünder, der bereut, und ich befinde mich auf einem Bußgang. Ich werde erst Ruhe finden, wenn ich meine Schuld abgetragen habe.« »Was führt dich nach Alesch, Namenloser?« »Ich will auch hier, wie schon an vielen anderen Orten dieser Welt, versuchen, den Geknechteten und Verfolgten zu helfen, die Sünder zu bekehren und den Bösen das Gute zu lehren, sowie den Menschen überhaupt den Frieden zu bringen.«
»Dann bist du der Friedensbringer!« »Du darfst mich so nennen.« Der Zug mit dem vermummten Fremden an der Spitze hatte das Stadttor erreicht. »Öffnet das Tor!« sagte der Namenlose, und obwohl er leise sprach und viele seine Stimme nicht vernehmen konnten, waren die Worte ganz deutlich in ihren Köpfen – als hätten sie sie nicht mit den Ohren, sondern mit den Gehirnen empfangen. Und alle wußten, daß die Torwachen sich dem Begehr des Namenlosen nicht widersetzen konnten. »Öffnet das Tor!« das war kein Befehl, sondern mehr eine Bitte, doch wurde sie mit solchem Nachdruck vorgetragen, daß man dem Wunsch nachkommen mußte. Und die Torposten öffneten das Tor, und der Strom der Nomaden mit dem Fremden im flimmernden Gewand voran, zog in Alesch ein, und die Bürger auf den Straßen und die, die aus den Fenstern blickten, fühlten alle die Anwesenheit eines, der den Frieden wollte. »Habe ich zuviel Traumwasser in mir?« wunderte sich eine leichtlebige Bürgersfrau laut. »Ich sehe einen Mann, der alle Sünder der Stadt aufruft zu bereuen. Aber wenn ich genauer hinblicke, dann ist da kein Mann, sondern nur das Pflaster der Straße über die ein irrlichternder Schemen schwebt; und höre ich genauer
hin, dann spricht auch niemand zu mir, sondern ich vernehme nur die Mahnung, selbst aber keine Worte.« Die Bürgersfrau hüllte sich in einen Umhang, eilte auf die Straße und folgte den anderen. Sie sah Nomaden, Bürger und zerlumpte Gestalten und Soldaten, die dem seltsamen Fremden folgten, den man manchmal zu sehen glaubte und der beim genaueren Hinschauen doch nicht zu sehen war. Eine Gruppe von berittenen Kriegern mit dem Hoheitszeichen der Stadt auf Helm und Brust erschien auf der Straße und versperrte den Weg. »Zurück, ihr Gesindel!« rief ihr Anführer. »Verschwindet aus der Stadt, oder wir werden euch Beine machen!« Er wies mit seinem blitzenden Krummschwert auf den Verhüllten und herrschte ihn an: »Wie mir scheint, warst du es, der den Mob aufgewiegelt hat. Dafür werden wir dich in Ketten legen und ...« Der Krieger sprach nicht weiter. Er erstarrte für einen Augenblick und steckte dann das Schwert zurück in die Scheide. Er wandte sich an seine Krieger und befahl ihnen: »Weicht zur Seite! Macht Platz!« Und die Krieger kamen seinem Befehl nach, als fänden sie überhaupt nichts dabei, dem Pilgerzug den Weg freizugeben.
Als der Namenlose mit allen, die ihm folgten, an den Kriegern vorbei war, machte ihr Anführer ein verwirrtes Gesicht. Er holte ruckartig das Schwert aus der Scheide und blickte es an. »Warum habe ich die Klinge gegen den Aufrührer nicht erhoben?« wunderte er sich. »Er sprach kein Wort zu mir, aber ich wußte, daß er zu passieren wünschte, und ich machte ihm Platz und ließ ihn des Weges ziehen.« Das Gesicht des Anführers verzerrte sich vor Wut. »Achtung, Männer!« rief er seinen Kriegern zu. »Wir werden der Bande nachreiten und sie mit der Waffe in der Hand zerstreuen und ihren Anführer gefangennehmen!« Die Krieger setzten sich mit Geschrei in Bewegung und ritten in wildem Galopp hinter dem Pilgerzug her. Aber noch bevor sie die letzten in der Reihe erreicht hatten, zügelten sie ihre Pferde und hielten sie schließlich wieder an. Der Anführer schüttelte wie benommen den Kopf. Es war, als sei vor ihm eine unsichtbare Mauer, die ihn zum Anhalten zwang. Oder, nein, das war nicht ganz richtig. Er hätte mühelos weiterreiten können, aber es wäre ihm dann nicht möglich gewesen, die Waffe gegen irgend jemanden zu erheben. Etwas beschlich ihn, wenn er in die Nähe des Fremden und seiner Getreuen kam, das ihn friedlich
stimmte, das ihm alle Gewalt als sinnlos erscheinen ließ. »Willst du nicht das Schwert ablegen und Friede in dein Herz einkehren lassen?« Dem Krieger war, als spreche der verhüllte Fremde zu ihm, obwohl er sich gar nicht in seiner Sicht befand. Die lautlose Stimme schien die große Entfernung mühelos zu überbrücken und setzte sich in seinem Kopf fest. Der Krieger griff sich unwillkürlich an den Gürtel, doch er nahm ihn dann doch nicht ab. Sein Kampfgeist überwog den Einfluß des Fremden. Die Reiter folgten dem Pilgerzug weiterhin, doch wenn sie in den Einflußbereich des Namenlosen kamen, war es ihnen nicht mehr möglich, ihre Waffe gegen irgend jemanden zu erheben. Der Pilgerzug erreichte einen Platz, wo sich eine große Menschenmenge angesammelt hatte. Der Namenlose, der nun wieder ganz deutlich zu sehen war, hob die Hand, und sein Gefolge hielt an. Er selbst näherte sich der Menschenmenge, schob die Leute beiseite und trat in den Kreis ein. Dort lag ein junger Mann auf dem Boden, dessen Kopf in einem Käfig aus Eisenstäben gefangen war und dessen Mund ein Holzkeil versperrte. Er blutete aus einigen Körperwunden, die ihm offensichtlich von den Steinen geschlagen worden waren, die rund um ihn auf dem Boden lagen.
»Glaubt ihr, daß es recht ist, mit Steinen auf einen Wehrlosen zu werfen?« kam die Stimme des Namenlosen unter den Tüchern hervor, die sein Gesicht bedeckten. Er wandte sich dem jungen Mann mit dem Kopfkäfig zu und forderte ihn auf: »Steh auf! Wenn du Glück und Ruhe suchst, dann kehre diesem Ort der Verdammnis den Rücken zu und komm mit mir in ein Land des Friedens. Und euch anderen kann euer verwerfliches Tun verziehen werden, wenn es euch reut und ihr guten Willens seid.« Die Bürger, die gerade noch nahe daran waren, den jungen Mann mit dem Kopfkäfig zu steinigen, ließen verschämt die Steine fallen. Einige von ihnen, die auf die Ausstrahlung des Namenlosen nicht bedingungslos ansprachen, verschwanden in den winkeligen Gassen und machten, daß sie schleunigst von hier fortkamen. Einige jedoch blieben und schlossen sich dem Pilgerzug an. Der Namenlose sah viel Leid und Elend und viel Böses in Alesch. Wo er auch hinkam, da taten sich die schwarzen Abgründe der menschlichen Seele vor ihm auf. Er, der er selbst einmal Böses getan hatte und nun den Menschen auf den rechten Weg verhelfen wollte, um seine Schuld zu sühnen, nahm alle mit seiner befriedenden Ausstrahlung gefangen. Wohin er auch kam, überall standen sie sofort in seinem Bann: die
Diebe und Mörder, die Hartherzigen sowie die Gutmütigen, die Ängstlichen und die Unerschrockenen, die Krieger und auch die Hetären. Sie konnten sich bei seinem Erscheinen nicht der Kraft entziehen, die von ihm ausging. Aber wenn sie dann aus seiner Reichweite waren, fanden viele von ihnen wieder in ihr früheres Leben zurück, das von den Gesetzen Aleschs, dieser Stadt der Verdammnis, geprägt worden war. Ein Krieger, der nur kämpfte, um zu überleben, hätte durch die Begegnung mit dem Namenlosen seine Gesinnung ändern können, hätte das Schwert und die Rüstung von sich geschleudert und wäre dem Namenlosen gefolgt. Aber einen solchen Krieger suchte man in Alesch vergebens. Denn El Habek hatte seine Schwertführer nur aus den Reihen jener ausgewählt, die so verderbt und grausam wie er waren. Und wenn sie auch in der Gegenwart des Namenlosen ihre Waffen nicht gebrauchen konnten, wenn er wieder fort war, da war sein Aufruf zum Frieden nur noch als böse Erinnerung in ihrem Gedächtnis, und sie verbreiteten Angst und Schrecken unter den Bürgern wie ehedem. Dagegen gab es unter den Bürgern viele, für die das Wort des Namenlosen Erlösung aus einem langen Alptraum war. Endlich hatten sie die Kraft, ihre Ängste abzuschütteln und unter ihr früheres Leben einen Schlußstrich zu setzen: Sie waren andere geworden,
was heißen soll, daß sie zu ihrem wahren Ich gefunden hatten. Der Namenlose kam auch zum Herrscherpalast. Er bannte die Krieger, die am Lebensbrunnen Wache standen und erlaubte den Getreuen in seinem Gefolge, von dem Wasser zu trinken, soviel sie wollten. Er brach damit die strengsten Gesetze des Wasserkults, die besagten, daß nur der Herrscher der Stadt das Wasser an seine Untertanen zu verteilen hatte. Und während sich die Pilger an dem köstlichen Naß nach Lust und Laune labten, paßte sich das Gewand des Namenlosen der Umgebung an, wie bei einem jener exotischen Tiere, die ihre Farbe wechseln können, so daß er sich in Luft aufzulösen schien. Doch er war noch da, sie alle fühlten es, nur konnten sie ihn nicht mehr sehen. So schritt er auf das Palasttor zu und befahl den Wachen, daß sie ihm öffnen sollten. Und sie taten es ohne Widerstand, und der Namenlose betrat den Palastpark. Er kam in das Gebäude, wo El Habek alle Kleinkinder der Stadt, von den Neugeborenen bis zu den Einjährigen, hatte unterbringen lassen. Als er sah, wie die Kinder, vor Hunger schreiend, unter unwürdigsten Bedingungen in Holzkästen lagen, da schritt er wieder auf den Platz mit dem Lebensbrunnen hinaus und rief alle Mütter dazu auf, sich ihre Kinder
zu holen. Dann verschwand der Namenlose wieder im Palast, wo er das Verlies aufsuchte und zu den Sklavenpferchen kam. Er sah an die fünfhundert Männer, deren Haut schon eine graue Farbe angenommen hatte, deren Glieder leer und deren Augen ohne Blick waren – und er wußte, daß man ihnen bereits einen Teil ihrer Persönlichkeit genommen hatte. Aber sie waren noch nicht endgültig zu Untoten geworden. Sie konnten noch fühlen und eigene Gedanken haben, ihr Fleisch war noch nicht mumifiziert, in ihren Adern floß noch Blut. Und sie besaßen noch so viel ihrer Persönlichkeit, daß sie die Botschaft des Namenlosen empfangen und verstehen konnten. Sie, diese wohl am meisten gepeinigten Geschöpfe unter all den Geknechteten von Alesch, sie wollten die Freiheit, und sie sehnten sich nach ewigem Frieden. Und so ließ der Namenlose von den Wärtern die Sklavenpferche und die Kerker öffnen und führte die fünfhundert Gefangenen aus dem Palast. Der Namenlose kehrte noch einmal zurück und streifte durch die Gänge und Räume des Palastes auf der Suche nach Menschen, denen er helfen konnte. Schon bald folgten ihm einige Sklavinnen und aus dem Harem etliche Mädchen, und es waren ihrer schon zwei Dutzend, als er in die Halle des Wassers kam, wo
El Habek und seine Günstlinge waren. Und wo ein einzelner Mann gegen die ganze grausame und mordlüsterne Meute kämpfte. »Friede sei mit euch!« sagte der Namenlose. Und sein Wort wurde Gebot. Das Messer, das er gerade nach dem Mann werfen wollte, der Mainala bedrohte, entglitt Gaunths kraftlosen Fingern. Irgend etwas lähmte ihn, und er hatte sich in diesem Augenblick nicht zur Wehr setzen können, wenn sich die ganze Meute auf ihn gestürzt hätte. Doch das beunruhigte ihn nicht, denn er wußte, daß es den anderen so unmöglich war wie ihm, eine Waffe zu handhaben. »Ich werde versuchen, jedem zu geben, was er will und was er verdient!« sagte wieder die wohlklingende Mannerstimme. Gaunth erblickte nun den Sprecher, aber er sah nur eine große Gestalt in einem wallenden Gewand, doch kein Gesicht. Träumte er? Oder hatte er so viel von den Dämpfen des Traumpulvers eingeatmet, die die Luft sättigten, daß er bereits Trugbilder sah? Doch nein, das konnte nicht sein. Denn der Regenbogen, den die anderen in ihren Wachträumen zu sehen glaubten, blieb seinem Auge verborgen. Der
Fremde aber zog alle in seinen Bann. Der Kampflärm war verstummt, die Gäste, die sich auf vielfältige Art vergnügt hatten, hielten inne und starrten zu der Erscheinung unter der Laube. »Gaunth!« Das war Mainala, die sich mühsam erhoben hatte und an seine Seite kam. Gaunth legte ihr den Arm um die Schulter und drückte sie an sich. Als sie mit einem leisen Schmerzenslaut zusammenzuckte, fiel ihm ihre Verletzung ein. »Tut es sehr weh?« fragte er mitfühlend. »Nur wenn ich die Wunde berühre, oder den linken Arm bewege«, sagte sie. Ihre großen Mandelaugen waren dabei unentwegt auf die seltsame Erscheinung gerichtet, von der eine so starke Kraft ausströmte. »Wer ist das, Gaunth? Was mag das zu bedeuten haben?« »Fühlst du es nicht?« fragte er zurück. Sein Gesicht war entspannt, es zeigte Erleichterung und Zufriedenheit. »Doch, ich fühle es«, sagte Mainala. Obwohl der Fremde bewegungslos dastand und nicht sprach, erfuhr sie auf wundersame Weise von seinem Anliegen. Er brauchte sich nicht der Sprache zu bedienen, um allen verständlich zu machen, daß er gekommen war, um die Guten und Friedliebenden vor dem Bösen zu bewahren.
Er war nicht mächtig genug, das Böse auszumerzen, das konnten die Götter nicht und das würde ihm, der er selbst nur ein schwacher Sterblicher war, noch weniger gelingen. Aber er konnte jenen helfen, die guten Willens waren – wenn sie ihm vertrauten und ihm folgten, dann würde er ihnen zu einem friedlicheren und schöneren Leben verhelfen. Er konnte nicht andere Menschen aus ihnen machen – oder er wollte nicht. Denn es hatte sich gezeigt, daß jene, die die Friedensbotschaft zu tief empfanden, in dieser grausamen Welt zu Schafen unter lauter Wölfen wurden. Nein, der Fremde ohne Namen wollte nicht noch einmal den Fehler begehen, Menschen nach einem Idealbild zu formen. Sie sollten sie selbst bleiben, er wollte ihr Herz nur für das Schöne und Gute öffnen, ihnen den Weg zeigen, den sie zu gehen hatten. »Ich werde mich ihm anschließen, Gaunth«, sagte Mainala. »Ich möchte nicht mehr in dieser Welt leben, die nur aus Grausamkeit und Schlechtigkeit besteht.« Gaunth wollte ihr zu bedenken geben, daß sie auch schon schöne Stunden in dieser Welt verbracht hatten und sie diese Erinnerung nur durch die schrecklichen Erlebnisse der letzten Tage verdrängt hatte. Einige Tage des Schreckens konnten nur allzu leicht dazu führen, daß man die sonnigen Tage vergaß. Doch Gaunth wies sie nicht darauf hin. Zu leicht
hätte sie den Eindruck gewinnen können, daß das Böse, das in Alesch regierte, auf ihn übergegangen war. Aber es war so, daß er sich nicht weniger als sie nach Ruhe, Frieden und Geborgenheit sehnte. Und dies alles konnten sie von dem Namenlosen haben. »Wir folgen ihm, Mainala«, sagte Gaunth. Er entledigte sich seiner beiden Messergürtel und wollte sie von sich schleudern. Aber da durchbrach die Erinnerung daran, daß das Leben ein Kampf ums Überleben war, die friedliche Ausstrahlung des Namenlosen. Gaunth brachte es nicht über sich, sich von seinen Wurfmessern zu trennen. Er schnallte sich die beiden Gürtel wieder über Kreuz um die Brust. »Gehen wir«, sagte er. »Friede sei mit euch!« Das klang so selbstverständlich in Arischas Ohren, daß die Todesängste wie ein böser Traum wichen, die sie gerade noch ausgestanden hatte. Ebbel hatte sie an ihrem Kopfschmuck von El Habek fort und durch die Halle des Wassers gezerrt. Das Grölen der anderen Gäste war ihr noch gut in Erinnerung und auch Ebbels Ankündigung, daß sie den süßesten Tod sterben würde, den je ein Mädchen in seinen Armen gestorben war. Aber diese Schrecken schienen auf einmal nicht mehr der Wirklichkeit
anzugehören. Mit einem Schlag wurde alles anders. Die Halle des Wassers war nicht mehr der Schauplatz wüster Ausschweifungen, sondern ein Ort des Friedens. Diese Veränderung war durch das Erscheinen des Namenlosen herbeigeführt worden, der lange Zeit nur dagestanden hatte und nun durch die Reihen der Günstlinge, Höflinge und Edelleute schritt. Ebbel ließ von ihr ab und benahm sich wie einer, dessen Geist sich verwirrt hatte. Er strich sich mit den Händen über den Körper, erzitterte, zog die Schultern hoch, umfaßte nacheinander seine Waffen, die beiden Dolche und das Schwert, in seinem Gesicht zuckte es, und über seine Lippen kamen leise Klagelaute. Ähnlich erging es auch anderen Männern und Frauen, und Arischa glaubte auch zu wissen, worauf das zurückzuführen war. Sie alle vernahmen die Botschaft des Namenlosen, doch lagen ihre eigenen Gefühle dazu im Widerstreit und sie standen zudem noch unter der Wirkung des Traumpulvers. Diese drei einander widersprechenden Einflüsse – ihre eigenen dunklen Gefühle, die Friedensbotschaft des Namenlosen und die Trugbilder des Traumpulvers –, denen sie gleichzeitig ausgesetzt waren, trieben sie zu diesem seltsamen Verhalten. Arischa hatte solche Probleme nicht. Sie hatte schon immer von hier fortgewollt, und jetzt wollte sie es
mehr denn je. Sie sah Gaunth und Mainala dem Namenlosen folgen und wollte sich ihnen anschließen. Aber dann tat sie es doch nicht sogleich, sondern wandte sich zuerst dem Thron von El Habek zu. Der Statthalter von Alesch zeigte sich ihr in diesen Augenblicken in seiner ganzen Erbärmlichkeit. Er lag röchelnd auf sein Lager hingestreckt und starrte mit irren Augen zur Decke, so als würde über ihm eine Wolke schweben, aus der es Gift regnete. Arischa bedachte ihn nur eines flüchtigen Blickes, nahm den Korb an sich, in dem der kleine Ebener schlief und folgte dem Namenlosen aus dem Laubengang, hinaus in den Park und durch diesen aus dem Palast. Während sie dem Namenlosen durch die Stadt folgten, schlossen sich ihnen immer mehr Bürger an. Sie kamen aus den Häusern und strömten aus den Seitengassen, manche schoben Karren vor sich her, auf denen sie ihre Habe verstaut hatten, andere wieder hatten ihre Bündel geschultert oder balancierten sie auf dem Kopf. Die Krieger standen wie Statuen am Straßenrand, in ihren Augen standen Unverständnis und Verwirrung geschrieben. Aber es gab auch genügend Bürger, die sich nicht dazu entschließen konnten, dem Pilgerzug aus der Stadt zu folgen. Manche hatten Gefallen am
zügellosen Leben in Alesch gefunden, andere wiederum wollten ihren Besitz um keinen Preis aufgeben. Aber es gab auch solche, die bereits mit dem Haus oder anderen Besitztümern des Nachbarn liebäugelten, die dieser im Stich gelassen hatte. Jene aber, die sich dem Namenlosen anvertrauten und ihm folgten, zogen nicht im Jubel aus der Stadt. Sie waren erleichtert, diese Brutstätte des Bösen hinter sich lassen zu können, doch waren sie zugleich auch in sich gekehrt. Es war ein schweigsamer und fast feierlicher Zug, der dem Namenlosen aus der Stadt folgte. Als Arischa an den erstarrten Wachtposten vorbei das Stadttor durchschritt, da konnte sie zum erstenmal seit vielen Monden wieder befreit aufatmen. Nun erst konnte sie wahrhaftig daran glauben, daß die Zeit, da sie El Habeks Gefangene war, endgültig vorbei war. Sie drehte sich nach den zyklopenhaften Mauern um, die Alesch einschlossen, und sie hatten überhaupt nichts Drohendes mehr an sich. Ebenor begann zu weinen, und Arischa versuchte, ihn durch gutes Zureden und wiegende Bewegungen zu besänftigen. Neben ihr erschien eine etwas ältere Frau, die ebenfalls ein Kleinkind im Arm hielt und es während des Gehens stillte. »Es wird Hunger haben«, sagte die Frau zu Arischa. »Gib ihm doch etwas, dann wirst du sehen, wie schnell
es sich beruhigt.« »Wo soll ich denn Milch hernehmen?« sagte Arischa. »Ich bin nicht seine Mutter.« Die andere Frau lachte. »Ich habe genug, um zwei Bälger zu stillen«, sagte sie, übergab ihr Kind Arischa und nahm Ebenor zur Brust. Der Kleine verstummte sofort, und nur noch sein Schmatzen war zu hören. Die beiden Frauen freundeten sich schnell an. Arischas neue Freundin hieß Eliha. Sie hatte viel durchgemacht in letzter Zeit. Kaum daß ihre Tochter Parina geboren war, holten El Habeks Schergen ihren Mann und sperrten ihn in die Sklavenpferche. Tage danach sah ihn Eliha zufällig in einer Gruppe von Sklaven, die auf das Dasein als Untote vorbereitet worden waren. Jetzt befand sich ihr Mann wieder an ihrer Seite. Er sah immer noch wie ein lebender Toter aus, seine Haut hatte sich durch die Behandlung mit Salben und Giftdämpfen, die ihm im Tempel des Wassergottes widerfahren war, grau gefärbt. Aber wenn er seine Frau oder sein Kind anblickte, dann zeigte sein sonst ausdrucksloses Gesicht Wärme, in seine Augen kam Leben ... Eliha war sicher, daß er eines Tages wieder er selbst werden würde. Arischa erzählte ihrerseits, was ihr widerfahren war, seit El Habeks Krieger sie aus einem Zeltlager der
Söhne des Fuchses entführten. Aber sie erwähnte Eben Emal nicht, der ein ähnliches Schicksal wie Elihas Mann erfahren hatte. Denn im Gegensatz zu diesem war Eben Emal unrettbar verloren, das wußte Arischa. Sie hatte ihn im Palastpark getroffen, als er schon ein Uh-toth war und die Kälte seiner Hände gefühlt. Sie schauderte – nein, Eben Emal würde seine Seele nicht mehr zurückbekommen. Arischa hatte nur den sehnlichsten Wunsch, auf dem schnellsten Wege ihre Welt zu verlassen, mit der sie nur unangenehme Erinnerungen verbanden. Sie wollte irgendwo ein neues Leben beginnen und fortan nur noch für den kleinen Ebenor dasein. Der Pilgerzug hatte den Palmenhain, der Alesch umgab, verlassen und bewegte sich durch die Wüste nach Norden. Außer den fünfhundert Sklaven hatten sich noch Hunderte von Bürgern dem Namenlosen angeschlossen. »Es müssen mehr als tausend sein«, stellte Gaunth fest, als er einen Dünenkamm erreichte und zurückblickte. Während sie selbst schon weit draußen in der Wüste waren, verließen die letzten Pilger gerade den Palmenhain. Gaunth und Mainala befanden sich nur wenige Schritte hinter dem Namenlosen, der sich ihnen immer noch nicht zu erkennen gegeben hatte. Gaunth fragte
sich, warum er sein Gesicht vor ihnen verbarg. Er stellte sich überhaupt viele Fragen, auf die er keine befriedigenden Antworten fand. Er blickte Mainala an. Sie schien nicht von Ungewißheit geplagt zu werden. Auf ihrem Gesicht lag ein seliger Ausdruck – sie war zufrieden, den Schrecken von Alesch entronnen zu sein. »Sorgst du dich nicht darum, wohin wir gehen?« fragte er sie. Sie schüttelte lächelnd den Kopf und schmiegte sich an ihn. »Vor uns liegt eine schönere Zukunft, Gaunth, dessen bin ich sicher. Und alles andere kümmert mich nicht.« Er legte ihr den Arm um die Schulter, ließ sie jedoch sofort wieder los, als er an ihrem vor Schmerz verzerrten Gesicht erkannte, daß er ihre Armwunde berührt hatte. Gaunth wandte sich einem neben ihm gehenden Jüngling zu. »Willst du nicht wissen, wohin dieser Weg führt?« fragte er ihn. Der Jüngling schenkte ihm ein mildes Lächeln. »Ich weiß es doch«, sagte er. »Der Weg führt fort von Alesch, der Blutigen, der Grausamen, die meinen Vater und meine Mutter und meine drei Geschwister verschlang. Irgendwo vor mir liegt ein paradiesisches
Land – und dorthin wird mich der Namenlose führen.« »Und du, Mütterchen«, sagte Gaunth zu einer Alten, die auf einem Esel ritt. »Was erwartest du dir am Ende des Weges?« »Nicht viel«, sagte sie. »Es genügt mir, wenn mir beschert wird, was ich in Alesch nicht erhoffen durfte – ein ruhiger Lebensabend.« Gaunth erkannte, daß es ihm nicht möglich war, diese Menschen wachzurütteln. Sie waren zu sehr von der Ausstrahlung des Namenlosen gefangen, die ihnen Ruhe und ewigen Frieden verhieß. Warum konnte er nicht mit seinem Schicksal so zufrieden wie sie sein? Er spürte doch ebenfalls die Kraft, die von dem Fremden ausging, dessen Aussehen und Namen niemand kannte – ja, dessen wahre Absichten nicht einmal bekannt waren. Warum verspürte ausgerechnet er, Gaunth, Zweifel? Vielleicht weil es ihm nicht genügte, daß man ihm ein besseres und friedlicheres Leben in einem gelobten Land versprach. Er konnte sich nicht einfach dem Wunschdenken von einer gesicherten Zukunft hingeben, wenn man ihm dafür keine Sicherheiten gab. Es war ihm zu unbestimmt, wenn man ihm ein Leben ohne Sorgen in einem paradiesischen Land versprach. Er wollte mehr über das Paradies erfahren, wo es lag und welchen Namen es hatte, er wollte wissen, wie es sich der Namenlose vorstellte, daß man
ein Leben gestaltete, damit es bis ans Ende nur Tage des Glücks gab. Gaunth beschleunigte seinen Schritt, bis er sich an der Seite des Namenlosen befand. Für einen Moment empfand er höchste Zufriedenheit, die Zweifel wichen ganz plötzlich von ihm. Aber als hätte der verhüllte Fremde ihn in diesem Sinne beeinflußt und es sich dann anders überlegt und den Zwang zur Zufriedenheit wieder von ihm genommen, wich von Gaunth sofort wieder das grenzenlose Glücksgefühl. Seine Zweifel waren wieder da und auch die bohrenden Fragen. »Darf ich das Wort an dich richten, Fremder?« »Ich bin stets da, um mir die Sorgen und Nöte der anderen anzuhören«, sagte der Namenlose. Gaunth biß sich auf die Lippen. »Seit du uns zum erstenmal erschienen bist, toben seltsame Gefühle in mir, die oft miteinander im Widerstreit sind. Wie glücklich war ich, als du uns aus den Fängen El Habeks befreitest und uns aus Alesch führtest. Deine Friedensbotschaft hatte eine magische Zauberkraft für mich. Aber mit jedem Schritt, mit dem ich mich von den schrecklichen Erlebnissen entferne, verlieren deine Worte die Zauberkraft. Ich beginne die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist.« »Mit einem Wort, du zweifelst an mir«, stellte der Namenlose in gutmütigem Spott fest.
»Ja, ich verspüre Zweifel«, gab Gaunth zu. »Aber ich zweifle nicht an deiner Aufrichtigkeit oder an der guten Absicht deiner Mission. Ich bezweifle nur, daß du deine guten Absichten in die Tat umsetzen kannst. Verzeih mir, aber es ist mir nicht möglich, so fest wie die anderen an dich zu glauben: Ich frage mich, warum das so ist.« »Deine Frage gibt dir die Antwort«, sagte der Namenlose. »Du willst das Warum wissen, du suchst nach dem Sinn der Dinge, du brauchst für alles Erklärungen – und deshalb besitzt du keinen starken Glauben. Die anderen fühlen, daß ich ihnen Gutes will, deshalb suchen sie nicht nach Erklärungen. Dir aber rate ich, dich von mir abzuwenden, wenn du Zweifel verspürst.« »Du tust, als sei es frevelhaft, nach Wissen zu streben«, erwiderte Gaunth. »Glaubst du, daß man nur glücklich sein kann, wenn man unwissend bleibt, wenn man sich gedankenlos führen und leiten läßt? Fast scheint es mir so, daß du dir in deiner Macht gefällst. Warum sonst versteckst du dich unter diesem Gewand? Warum zeigst du dich nicht und sprichst klare Worte, anstatt dich hinter Rätselhaftigkeit und Geheimnistuerei zu verschanzen. Fürchtest du, daß man deine eigene Schwäche erkennt, wenn du dich nicht durch eine Tarnkappe schützt und deinen Namen verschweigst?«
Eine Weile herrschte Schweigen, und Gaunth dachte schon, daß der Namenlose sich nicht rechtfertigen wolle, oder ihn dahingehend beeinflussen würde, daß er sich auch ohne Beantwortung seiner Fragen zufrieden gab. Doch dann bequemte er sich zum Sprechen. »Du magst recht haben, vielleicht verberge ich unter meiner Tarnkappe und meiner Ausstrahlung meine eigene Schwäche. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich einst große Schuld auf mich nahm. Aber ich habe bereut und mir selbst eine Buße auferlegt. Ich werde solange der Namenlose sein, ein Helfer der Menschen in Not, bis ich mein Vergehen gesühnt habe. Und jetzt dringe nicht weiter in mich. Ich kann dir keine Antworten mehr geben.« »Nur noch eine Frage, Namenloser«, sagte Gaunth schnell. »Wohin willst du uns führen?« »In das Tal der Stille. Dort erwartet all jene das Paradies, denen diese verderbte Welt zuwider ist.« »Und wie sieht das Paradies aus?« »Ich habe mich schon zu lange mit dir unterhalten. Aber diese letzte Frage will ich dir noch beantworten. Das Paradies, wie ich es meine, ist kein Ort, wo dir gebratene Lämmer in den Mund fliegen, aber es ist ein Platz, an dem Hinterlist, Haß und Grausamkeit fremd sind – und so lange fremd sein werden, bis die Menschen das Böse säen.«
Damit gab sich Gaunth zufrieden. Er sah den Namenlosen nun mit ganz anderen Augen – und er hatte nun mehr Vertrauen zu ihm. Das Tal der Stille war eine ausgedehnte Senke mit einer Wasserstelle und einigen Palmen. Diese Oase war unbewohnt, und sie diente den Karawanen, die einen Bogen um Alesch machten, als willkommener Rastplatz. Skelette von Menschen und Tieren, vom Sand halb verweht, warnten die Reisenden jedoch davor, sich hier vor El Habeks Kriegern zu sicher zu fühlen. Als der Pilgerzug aus Alesch eintraf, hatten sich bereits an die hundert Männer und Frauen hier eingefunden, die aus allen Himmelsrichtungen dem Ruf des Namenlosen gefolgt waren. Es war Nacht, und der Mond schien vom Himmel. Im Süden, in Richtung Alesch, zog ein Sandsturm nach Westen, von dem aber nur schwache Ausläufer das Tal der Stille streiften. Arischa ließ sich ermattet in den Sand sinken. Sie breitete Ebenor, der schlief, ein trockenes Tuch unter und wickelte ihn dann wieder in die Decke, um ihn vor der Kälte der Nacht zu schützen. »Setz dich, Geliebter«, hörte sie Eliha zu ihrem Mann sagen, der folgsam wie ein kleiner Junge gehorchte.
Gaunth und Mainala gesellten sich zu ihr. »Wie geht es dem Kleinen?« fragte Mainala. »Er schläft«, sagte Arischa. »Ich wünsche mir auch ein Kind«, sagte Mainala und sah Gaunth mit leuchtenden Augen an. »Möchtest du nicht auch einen Sohn haben?« Gaunth lächelte leicht unbehaglich. »Das ruhelose Leben, das wir führen, wäre sicherlich nichts für ein Kind.« »Wenn uns der Namenlose erst in das andere Land gebracht hat, werden wir ein ganz anderes Leben führen«, sagte Mainala. »Wir könnten seßhaft werden, ein Feld bestellen, oder Haustiere züchten. Ich beherrsche noch immer die Kunst des Webens ...« »Und du kannst tanzen wie keine andere«, fügte Gaunth hinzu. »Ich werde nur noch in unserem Heim für dich tanzen, Gaunth!« »Möchtest du das wirklich?« Mainala sah ihn eine Weile schweigend an, bevor sie sich abrupt abwandte. Gaunth wußte auch, ohne daß sie es ihm sagte, daß ihr der Entschluß, seßhaft zu werden, ebenso schwerfallen würde wie ihm. Gaunth starrte in das Tal hinunter, wo sich die Pilger um das Wasserloch drängten. Aber obwohl sie fast alle von dem langen Marsch durch die Wüste durstig waren, kam es zu keinem Streit um das Wasser. Jeder wartete geduldig, bis die Reihe an ihn kam.
Gaunth wollte sich gerade anbieten, Wasser zu holen, als eine leuchtende Gestalt vor ihnen auftauchte – sie war plötzlich wie aus dem Nichts da. Es war der Namenlose. Sein Gewand sah aus, als wäre es aus lauter winzigen Flammenzungen gewebt, und sein Schein übertraf das Leuchten des Mondes vielfach. Gaunth, Mainala und Arischa waren nur wenige Schritte von ihm entfernt, als er die Arme hob. Sofort wandten ihm alle Pilger ihre Aufmerksamkeit zu. Er brauchte sie mit keinem Wort dazu aufzufordern, denn seine Ausstrahlung veränderte sich so, daß alle sofort wußten, daß er ihnen etwas zu sagen hatte. »Vernehmt zum letzten Male mein Wort, Brüder und Schwestern«, verkündete der Namenlose mit seiner kräftigen Stimme, daß ihn alle Pilger verstehen konnten. »Ich habe euch ein neues Land versprochen, in dem ihr ein anderes, besseres Leben führen könnt als hier. Noch ist euch der Zugang zu diesem Land verwehrt. Aber in Kürze wird sich hier ein Hügel aus dem Boden erheben, in dessen Mitte ein großer Spalt klafft. Dieses Tor müßt ihr durchschreiten, wenn ihr in eine Welt gelangen wollt, die frei von Haß und Grausamkeit ist. Aber bevor ihr durch das Tor in die andere Welt geht, überlegt euch diesen Schritt gut. Denn das Tor wird sich bald wieder schließen, und eine Rückkehr in diese
Welt ist dann erst wieder in zwanzig Sommern möglich. Ich überlasse die Entscheidung über euer Schicksal euch selbst. Ich muß jetzt weiterziehen. Meine besten Wünsche sollen euch auf dem Weg in eine bessere Zukunft begleiten ...« Nach diesen Worten erstarb das Leuchten seines Gewandes, und der Namenlose schien sich in Luft aufzulösen. Gaunth starrte auf die Abdrucke im Sand, die seine Füße hinterlassen hatten. Und dann sah er, daß sich weitere Fußabdrücke bildeten, so als ob jemand gemessenen Schritts einhergehe – und das, obwohl niemand mehr zu sehen war. Die Fußspur führte nach Südwesten, dorthin, wo der Sandsturm tobte ...
Die Karawane der Bewohner von Bababo, der sich die Pilger um Gun Umbar angeschlossen hatten, erreichte das Tal der Stille gegen Mitte der Nacht. »Seid ihr alle dem Ruf des Namenlosen gefolgt?« fragte Gun Umbar ungläubig. »So ist es«, antwortete ihm der junge Mann, der festliche Kleider trug, die jedoch zu bunt waren, um vornehm zu wirken. Manche Gaukler kleideten sich so, damit sie einem sofort ins Auge stachen. An ihn
gelehnt saß ein Mädchen da, und daneben zwei weitere, von denen jede ein Kind in den Armen wiegte. »Und worauf wartet ihr nun?« fragte Gun Umbar weiter. »Darauf, daß sich ein Hügel erhebt, durch den ein Tor in eine andere Welt führt«, antwortete der Mann, der ein Gaukler sein mußte. Gun Umbar zögerte, bevor er die für ihn alles entscheidende Frage stellte. »Und wartet ihr nicht auch darauf, daß der Namenlose erscheint und euch sicher ins andere Land geleitet?« »Der Namenlose wird uns nicht führen«, sagte der Gaukler. »Er hat uns nur den Weg gezeigt und ist dann wieder von dannen gegangen.« Gun Umbar sank in sich zusammen. Er war dem Namenlosen schon seit vielen Monden gefolgt, war ihm immer dicht auf den Fersen gewesen, ohne ihn jedoch jemals einholen zu können. »Er ist noch nicht lange weg«, fuhr der Gaukler fort. »Der Mond hat noch keine drei Fingerbreit seiner Strecke auf dem Himmel zurückgelegt, seit sich der Namenlose auf den Weg machte.« »Wohin hat er sich gewendet?« »Nach Südwesten«, antwortete der Gaukler. »Das hier ist seine Fußspur.« Gun Umbar kam taumelnd auf die Beine und starrte
auf die Spuren im Sand. »Ich muß ihm folgen«, murmelte er und setzte sich in Bewegung. »Ich muß ihn finden ...« »He, du Narr, komm zurück!« rief Gaunth ihm nach. »Dieser Weg führt dich geradewegs in den Tod!« »Laß ihn«, meinte Osmail, der Dorfälteste von Bababo. »Er ist ganz von dem Gedanken besessen, den Namenlosen mit eigenen Augen zu sehen. Er wird nicht eher ruhen, als bis es ihm gelingt.«
4.
Dragon spürte die Erschütterung des Bodens, als sich die Lanze auf der linken Seite neben ihm in den gestampften Sand bohrte. Es versetzte ihm einen Stich in die Schulter, als die Eisenspitze seine Haut ritzte. »Ihr feigen Memmen!« schrie Ubali aus Leibeskräften, als die neun Reiter an ihnen vorbeigaloppiert waren und hinter ihnen abdrehten. »Könnt ihr nicht kämpfen wie Männer!« Die Wüstenfuchse beachteten seine Herausforderung überhaupt nicht.
»Gibt es keinen unter euch räudigen Hundesöhnen, der es wagt, sich mit mir im Zweikampf zu messen!« rief Ubali wieder. »Ich nehme es gegen jeden von euch auf!« »Es hat keinen Sinn, Ubali«, sagte Dragon mit krächzender Stimme. »Nichts wird sie daran hindern können, uns auf diese grausame Art hinzurichten.« Wahrscheinlich hätte Ubalis Aufruf die Wüstenbewohner in ihrer Ehre getroffen, wenn man sie nicht als Verbündete el Habeks angesehen hätte. Durch die verhängnisvolle Botschaft des Cnossos waren sie jedoch als Verbrecher abgeurteilt worden, die einen unwürdigen Tod verdienten. Die nächste Reitergruppe aus neun Kriegern tauchte hinter der Düne auf. Dragon wartete auf den Gong, doch er kam diesmal nicht so schnell. Wahrscheinlich wurde mit Absicht eine längere Pause eingelegt. Dragon empfand es dann tatsächlich beinahe als Erlösung, als der Gong ertönte und die neun Reiter sich in Bewegung setzten. Er konnte die Augen nicht von dem Reiter lassen, der geradewegs auf ihn zupreschte. Er sah, wie sich die Muskeln in seinem wettergegerbten Gesicht anspannten, als er die Lanze zum Wurf hob ... beobachtete, wie er die Wurfhand weit nach hinten streckte und den Oberkörper drehte, sah ihn tief Atem holen ... und den Wurfspieß schleudern.
Die Spitze des Geschosses funkelte für einen Moment in der Sonne, als es die Luft durchschnitt. Es kam in einem flachen Bogen heran und senkte sich dann ziemlich steil auf Dragon hinab. Er behielt die Augen offen und erlebte den Zeitpunkt mit, als sich die Eisenspitze knapp vor ihm in den Sand bohrte. Unwillkürlich zog er die Brust ein, so gut es ging, aber zu seinem Glück erreichte ihn die Lanzenspitze nicht, nur der aufwirbelnde Sand wurde ihm in die Augen geschleudert. Ubali fluchte wieder, auf der anderen Seite stöhnte Nabib auf. »Lange halte ich das nicht mehr durch«, gestand der Händler. »Wie ergeht es den anderen?« wollte Dragon wissen. »Unser tapferer Hegon befindet sich auch nicht in viel besserer Verfassung als ich«, sagte Nabib. Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut, als er hinzufügte: »Diese feigen Kerle haben nicht einmal vor Iwa haltgemacht.« »Wie geht es ihr?« fragte Dragon. »Sie hat das Bewußtsein verloren«, antwortete Nabib. »Dann weiß sie wenigstens von nichts«, meinte Dragon. »Aber es rettet ihr das Leben nicht.« Die nächste Reitergruppe tauchte auf.
»Wohin werden sie diesmal zielen?« hörte Dragon einen der urgoritischen Krieger fragen. »Besser nicht daran denken«, sagte Hegon darauf. »Ich habe einmal gesehen, wie einer aus kürzester Entfernung von einem Speer ins Gesicht getroffen wurde«, sagte Ubali und lachte wild. »Sein Kopf platzte wie eine reife Melone.« »Laß diese dummen Scherze, Ubali«, wies ihn Dragon zurecht. »Wenn alles vorbei ist, kannst du uns deine Eindrücke erzählen.« »Dann bin ich tot«, sagte Ubali. »Oder glaubst du an ein Leben danach?« »In dieser oder jener Form ...« »Wenn du es sagst, Herr, dann erleichtert es mich.« Dragon beneidete Ubali in diesem Augenblick für sein kindliches Gemüt. Doch dann kam der Gong, der ihn wieder in die grausame Wirklichkeit zurückriß. Sein ganzer Körper wurde plötzlich von einem Zittern erfaßt, über das er nicht Herr werden konnte. Zum erstenmal in seinem Leben, soweit er sich erinnern konnte, hatte er richtige Todesahnungen. Er ahnte, daß der nächste Lanzenwerfer als erster genau auf seinen Kopf zielen würde. Das Donnern der Hufe wurde lauter ... ein hämisches Grinsen zeichnete den Mund des Reiters, als er mit der Lanze weit ausholte und sie dann kraftvoll von sich schleuderte. Dragon hörte den Wurfspieß
diesmal durch die Luft sausen und wußte, daß er sich genau auf ihn senken würde. Ein Ausweichmanöver mit dem Kopf hätte keinen Sinn gehabt, und so blieb Dragon ganz ruhig, und selbst das Zittern seines Körpers hörte schlagartig auf. So also kommt der Tod, dachte er. Doch der Tod kam nicht. Zwei Armlängen von ihm entfernt wurde die Lanze plötzlich mitten in der Luft abgestoppt und blieb in der Schwebe. Dragon glaubte an eine Sinnestäuschung, er zwinkerte mit den Augen, doch die Lanze blieb, wo sie war: mitten in der Luft. Plötzlich bewegte sie sich jedoch, beschrieb eine halbe Drehung und wurde senkrecht in den Boden gerammt. »Friede sei mit euch!« ertönte eine Stimme aus dem Nichts. »Was bedeutet das?« fragte Ubali ängstlich. »Ist das schon das Leben nach dem Tod? Ich habe gar nicht bemerkt, daß der Reiter die Lanze nach mir geworfen hat ...« Nabib öffnete die Augen und sah, daß der Reiter wenige Schritte vor ihm sein Pferd gezügelt hatte und die Lanze lässig in seiner Hand baumelte. Dragon war nun sicher, daß er keinen Trugbildern erlegen war. Die neun Reiter hatten alle knapp vor ihren Opfern die Pferde angehalten, ohne ihre Lanzen nach ihnen zu werfen. Nur jener, der Dragon aufs Korn
genommen hatte, hatte den tödlichen Wurf ausgeführt – doch sein Geschoß war in der Luft aufgefangen worden ... Hatte eine unsichtbare Macht eingegriffen, um sie im letzten Moment vor dem sicheren Tod zu bewahren? Dragon verspürte unsägliche Erleichterung, aber auch Verwirrung. Letztere wurde nur noch größer, als vor ihm plötzlich die Umrisse einer menschenähnlichen Gestalt sichtbar wurden und diese dann feste Formen annahm. Einzelheiten waren aber immer noch nicht zu erkennen, weil die ganze Gestalt in ein wallendes Gewand gehüllt war. Selbst das Gesicht war vermummt. »Befreit die Gefangenen und gebt ihnen zu essen und zu trinken«, sagte wieder der Unbekannte. Und Abbal Kims Männer kamen dieser Aufforderung unwillkürlich nach. Da begann Dragon zu ahnen, daß sie es mit jenem legendären Mann zu tun hatten, der der Namenlose genannt wurde. Die Erzählungen der Pilger und jener Menschen, die dem Namenlosen schon begegnet waren, stimmten in allen Punkten mit der Wirklichkeit überein. Seine Anwesenheit allein stimmte alle Menschen friedlich. Die Söhne des Fuchses, die gerade noch drauf und dran waren, sie gnadenlos hinzurichten, holten sie
nun aus den Löchern und befreiten sie von ihren Fesseln. Dragon verspürte die friedenspendende Ausstrahlung des Namenlosen am eigenen Leib. So gute Gründe er auch gehabt hätte, den Wüstenfüchsen zu grollen – er konnte es nicht. Mit dem Auftauchen des vermummten Fremden war alles Vorangegangene vergessen und verziehen. Selbst der sonst so jähzornige Ubali war so friedlich wie ein Lamm, und er bedankte sich bei dem Krieger, der ihn von den Fesseln befreite. Die Krieger waren ihren Opfern dann behilflich, stützten sie, wenn sie nicht aus eigener Kraft gehen konnten, und brachten sie in den Schatten eines Zeltvordachs, wo sie ihnen Wasser einflößten. Iwa, die noch immer ohne Besinnung war, mußte getragen werden. Sie öffnete erst die Augen, als ihre ausgedörrten Lippen mit Wasser benetzt wurden. Ihre ersten gestammelten Worte waren: »Ist ... ist das der Beginn eines neuen Lebens?« »Du stehst noch immer mitten in deinem ersten, liederlichen Leben«, gab ihr Nabib auf seine unnachahmliche Art und Weise Antwort. Aber so als bedaure er seine Bemerkung und erkenne, wie unpassend sie war, schüttelte er den Kopf wie über sich selbst, »Es gibt den Friedensbringer wahrhaftig«, fuhr er staunend fort. »Wie konnte ich nur an den
Erzählungen über sein Wirken zweifeln?« Dragon sah, daß die Wüstenfüchse in ihren Bewegungen erstarrt waren. Zwar waren sie nicht so bewegungslos wie Statuen, konnten sich rühren, konnten anscheinend gehen, wohin sie wollten. Aber alles, was sie taten, war von Trägheit gezeichnet, und es schien, als koste es ihnen große Mühe, sich dazu aufzuraffen, irgend etwas zu tun. Abbal Kim saß, von anderen Stammesfürsten umringt, vor seinem Zelt, die Augen unablässig auf den Namenlosen gerichtet, der sich nun gemächlich näherte. Vor seinem Gesicht war immer noch ein Schleier, der nicht einmal seine Augen erkennen ließ. Dragon verfolgte jede Bewegung des Vermummten gespannt, konnte daraus jedoch nicht auf seine Gestalt schließen, denn das ließ das wallende Gewand nicht zu, das zudem noch gelegentlich die Farbe wechselte und manchmal vom Wüstensand nicht zu unterscheiden war und wie durchsichtig wirkte und dann wieder in verschiedenen Farben schillerte. Dragon hätte nicht mit absoluter Sicherheit zu behaupten gewagt, daß sein Gegenüber ein Mensch war. Der Namenlose steuerte unbeirrbar auf Abbal Kim zu, dem seine ganze Aufmerksamkeit zu gelten schien. Irgend etwas an dem obersten Stammesfürsten der Söhne des Fuchses schien ihn vollends
gefangenzunehmen. Und dann erkannte Dragon schlagartig, was es war, daß das Interesse des Vermummten geweckt hatte. Das Amulett! Sein Amulett, das ihn durch seine Impulse schon manchmal vor Cnossos gewarnt hatte und mit dessen Hilfe es ihm möglich geworden war, sich in Gedanken mit den Drachen verständigen zu können. Dieses Sonnenamulett war ihm von Abbal Kim abgenommen worden, der es nun selbst um dem Hals trug. Als der Namenlose nur noch etwa zehn Schritte von Abbal Kim entfernt war, begann das Amulett zu leuchten. Und je näher er kam, desto stärker wurde das Leuchten. Der Stammesfürst warf das Amulett zu Boden, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er sah, was mit seinem Beutestück vor sich ging. Doch sofort griff die beruhigende Ausstrahlung des Namenlosen auf ihn über, und sein Gesicht entspannte sich. Das Leuchten des Amuletts indessen verstärkte sich immer mehr. Es wurde immer greller, flammte in Abständen so hell wie die Sonne auf – und selbst Dragon empfand das Glühen als so unerträglich, daß er sich geblendet abwenden mußte. Als er kurz darauf wieder einen Blick riskierte, war das grelle Leuchten erloschen – und wo sich das Amulett gerade noch befunden hatte, war nur noch ein
formloser Klumpen geschmolzenen Metalls. Seltsamerweise regte ihn jedoch der Verlust dieses für ihn so wertvollen Stücks nicht sonderlich auf. Andererseits empfand er sein Verhalten nicht einmal als seltsam, weil er erkannte, daß die Ausstrahlung des Namenlosen beruhigend auf ihn wirkte. Nur ein Gedanke, der kurz in seinem Gehirn aufflammte, flößte ihm Schrecken ein: Würde er nach der Begegnung mit dem Namenlosen ebenso zufrieden sein und alle Schicksalsschläge gelassen hinnehmen, ohne sich dagegen aufzulehnen wie viele der anderen, die die Bekanntschaft mit dem Friedensbringer gemacht hatten? Würde er nun nicht mehr auf seine Art für Gerechtigkeit und den Frieden kämpfen können, und würde er so abgestumpft werden, daß er nicht mehr versuchte, seinen Sohn zu befreien und sich ganz allgemein gegen die Angriffe des Cnossos nicht mehr zur Wehr zu setzen? Dieser erschreckende Gedanke verschwand aber sofort wieder, und der Namenlose nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Der Verhüllte machte keine großartige Geste, sondern stand nur da. Dennoch waren aller Blicke erwartungsvoll auf ihn gerichtet, und Dragon hatte das unbestimmte Gefühl, daß all die Tausende von Wüstensöhnen des Heerlagers sich seiner Anwesenheit bewußt geworden waren, obwohl sie ihn nicht sehen
konnten. Und als er zu sprechen anhob, da klang seine Stimme gar nicht einmal laut, sondern eher verhalten. Dennoch zweifelte Dragon nicht daran, daß jeder, bis zum letzten der viertausend Krieger, ihn hören konnte. Denn seine Stimme klang ihnen nicht in den Ohren, sondern drang geradewegs in ihren Geist ein. Der Namenlose verstand es, sich nach der Art der Drachen mitzuteilen. Er sagte: »Ich kenne die Absichten der Söhne des Fuchses. Überall in der Wüste, wohin ich auch kam, wurde mir berichtet, daß der mächtige Abbal Kim seine Stammesbrüder um sich schart, um mit einem gewaltigen Heer gegen Alesch zu ziehen, um diese Stadt der Verdammnis zu vernichten. Und alle, die ich fragte, waren der einen Meinung, daß dies ein Feldzug der Gerechtigkeit sei, den die Söhne des Fuchses führen müssen, wollen sie nicht durch El Habeks alles vernichtende Eisenhand zugrunde gehen. Doch ich kann euch sagen, Söhne des Fuchses, daß ihr nicht mehr gegen Alesch zu ziehen braucht. Denn noch vor Sonnenuntergang wird es diese verderbte Stadt nicht mehr geben. Es wird ein Grollen durch die Erde gehen und das Land in weitem Umkreis erschüttern, und ein Spalt wird sich auftun und diesen Ort des Bösen innerhalb weniger Atemzüge
verschlingen. Das ist der Untergang von Alesch, der sich noch heute vor Sonnenuntergang vollziehen wird. Ihr könnt euch also zerstreuen, Söhne des Fuchses, ihr könnt getrost zu den Lagerfeuern eurer Stämme zurückkehren und fortan die Waffen ruhen lassen und ein Leben führen, als hätte es Alesch nie gegeben. Jene aber, die sich mit meinem Wort nicht zufriedengeben und mit eigenen Augen sehen wollen, was mit Alesch geschieht, die mögen mir folgen.« Der Namenlose wandte sich um und wanderte gemessenen Schritts in Richtung Osten davon. Und das Heer der viertausend Krieger folgte ihm wie ein Mann. In Dragons Kopf war ein dumpfes Pochen, das immer wieder im Takt einer einzigen Erkenntnis hämmerte: Alesch wird noch vor Sonnenuntergang untergehen! Die Trägheit, das Gefühl der Geborgenheit und die Friedfertigkeit waren mit einem Schlag wie weggewischt, kaum daß der Namenlose geendet hatte. Die Erleichterung darüber, daß er dem Friedensbringer nicht in solchem Maße verfallen war, wie etwa die Bewohner von Bababo, wurde von seiner Bestürzung überwogen. Die Sorge um seinen Sohn, der in einer dem Untergang geweihten Stadt gefangen war, drängte alles andere in den Hintergrund.
»Ich muß nach Alesch«, sagte er. »Ich muß die Stadt erreichen, noch bevor sich die Erde auftut und sie verschlingt.« »Der Namenlose wird uns hinführen«, erwiderte Nabib verwundert, der Dragons Aufregung nicht zu begreifen schien. »Verstehst du denn nicht, Nabib«, sagte Dragon eindringlich zu dem Händler. »Atlantor ist in Alesch!« Nabib zuckte zusammen. »Ach, ja ... Daran habe ich nicht mehr gedacht.« »Ich muß Atlantor retten, noch ehe die Sonne untergeht!« »Es ist zu spät, Dragon«, sagte Nabib mit einer Stimme, die zeigte, daß er noch immer nicht recht zu begreifen schien, worum es eigentlich ging. Dragon ließ von ihm ab und blickte sich nach einem Pferd um. Als einer der Wüstenfüchse an ihm vorbeigeritten kam, holte ihn Dragon einfach vom Pferd und schwang sich selbst in den Sattel. »Warte auf mich, Herr!« rief Ubali. »Wohin willst du?« »Nach Alesch«, sagte Dragon nur. »Ich komme auch mit!« bot sich Hegon an. Die anderen vier urgoritischen Krieger machten keine Anstalten, sich ihrem Anführer anzuschließen; sie standen noch zu sehr im Bann des Namenlosen. Ubali und Hegon taten es Dragon gleich und holten
zwei Reiter aus den Sätteln. Wenn sie erst nach ihren eigenen Pferden gesucht hätten, wäre dadurch zu viel Zeit verlorengegangen. Dragon beugte sich aus dem Sattel und packte Abbal Kim an der Schulter. »Wie weit ist es bis Alesch?« fragte er ihn. »Vier Reitstunden von hier – bei scharfem Ritt«, gab der Fürst der Wüstenfüchse bereitwillig Auskunft. Dragon nahm ihm noch die Schriftrolle mit Cnossos‘ Botschaft ab, dann war er auch schon an ihm vorbei. Er lenkte sein Pferd zuerst nach Süden, um dem Namenlosen auszuweichen, der die friedliche Kriegerkarawane anführte. Wenn Dragon seinen Weg gekreuzt hätte, hätte ihn dieser durch seine beruhigende und friedlich stimmende Ausstrahlung womöglich noch daran gehindert, vorauszureiten und seine Absichten durchzuführen. Dragon mußte auch so bangen, daß der Namenlose seinen Einfluß auf das Heer verstärkte und auch ihn in seinen Bann schlug. Aber je weiter er sich von der Karawane entfernte, desto größer wurden seine Aussichten, unbehelligt zu bleiben. Er wagte jedoch erst aufzuatmen, als der Zug der viertausend Krieger hinter den Dünen verschwand und sie außer Sichtweite waren. Dann erst schlug Dragon auch den geradesten Weg nach Alesch ein und wendete sein Pferd nach Osten.
»Die Sonne steht noch nicht im Mittag«, sagte Dragon nach einem Blick zum Himmel an Hegon gewandt, der rechts von ihm ritt. »Wenn wir Alesch erreicht haben, verbleiben uns noch einige Stunden bis Sonnenuntergang.« »Wenn du es nicht so eilig gehabt hättest, mein König, dann hätte ich meine Krieger dazu gebracht, uns zu begleiten«, erwiderte Hegon. »Zu dritt, fürchte ich, haben wir nur wenig Aussicht, deinen Sohn zu befreien.« »Wir reiten gegen eine befestigte Stadt, Hegon«, gab Dragon zu bedenken. »Da nützt uns eine Handvoll Krieger überhaupt nichts. Wenn wir nur zu dritt sind, kann es uns sogar noch eher gelingen, unbemerkt in die Stadt zu gelangen.« »Warum hast du dich nicht an den Fremden um Hilfe gewandt, Herr?« fragte Ubali, der auf Dragons anderer Seite ritt. »Er hätte dir bestimmt geholfen.« »Vielleicht hätte er mir seine Hilfe angeboten«, stimmte Dragon zu. »Aber ein Friedensbringer kann mir in dieser Lage nicht nützen. Die Zeit drängt, und schnelles Handeln ist geboten – und das ist etwas, was man von dem Namenlosen nicht erwarten kann.« »Aber wenn du ihn darum gebeten hättest, dann hätte er die Vernichtung von Alesch bestimmt solange aufgeschoben, bis Atlantor in Sicherheit gewesen wäre«, behauptete Ubali. »Er ist mächtig genug.«
Dragon mußte unwillkürlich über Ubalis Einfalt lächeln. »Wer auch immer der Namenlose ist, so bestimmt aber kein gottgleiches Wesen«, klärte Dragon seinen Diener auf. »Er mag viele Dinge über längst vergessene Errungenschaften wissen und dieses Wissen für sich nutzen. Das macht ihn schier unüberwindbar. Aber ich bin überzeugt, daß er nicht die Macht besitzt, Alesch im Erdboden verschwinden zu lassen. Außerdem spräche das wohl auch gegen seine Gesinnung. Ich glaube eher, er hat auf eine für uns unerklärliche Art und Weise herausgefunden, daß der Untergang von Alesch bevorsteht – verhindern kann er ihn aber nicht.« Ubali schwieg eine Weile. Dann sagte er im Brustton der Überzeugung: »Er hätte dir dennoch geholfen, Atlantor zurückzubekommen, Herr!« »Hast du dir schon überlegt, wie wir vorgehen könnten?« wollte Hegon wissen. »Das hängt von den Bedingungen ab, die wir vorfinden«, antwortete Dragon. »Aber ich habe schon einen Plan, den wir, den Umständen gemäß, abändern können.« Er machte eine Pause, dann erklärte er: »Wir werden als harmlose Reisende in die Stadt einreiten. Wenn wir erst einmal innerhalb der
Stadtmauern sind, müssen wir einen Weg erforschen, um in den Palast des El Habek zu gelangen, denn bei ihm befindet sich Atlantor. Wenn uns das nicht unbemerkt gelingt, dann werde ich mich zu erkennen geben und mich El Habek vorführen lassen. Er wird mich nicht sofort zu einem Untoten machen und er wird es mir auch nicht verwehren, Atlantor zu sehen und vielleicht sogar in die Arme zu schließen. Ich werde damit so lange warten, bis die Sonne im Sinken begriffen ist, dann werde ich den Untergang der Stadt prophezeien. Ihr beide sollt das gleiche in den Straßen der Stadt tun. Wenn dann die Erde bebt und das Donnergrollen aus der Tiefe der Stadt erzittern läßt, werden wir die Gelegenheit nutzen und aus der Stadt fliehen.« »Das hört sich alles sehr einfach an ...«, meinte Hegon ohne große Begeisterung. Dragon wußte selbst, daß sein Plan zu unsicher war; sein Gelingen hing von vielen Umständen ab, die außerhalb seines Einflusses lagen. Er konnte nicht sicher sein, daß El Habek ihn überhaupt zu sich vorließ und ihn Atlantor sehen ließ. Wenn er ihn augenblicklich in den Kerker warf, dann waren sie verloren! Aber selbst wenn bis zu diesem Augenblick alles nach Plan lief, dann war es immer noch fraglich, ob sie noch rechtzeitig aus der Stadt kamen, bevor diese vom Erdboden verschlungen
wurde. Das waren nur einige Unsicherheiten unter vielen, aber Dragon hatte in seiner Verzweiflung keine andere Wahl, als dieses Wagnis einzugehen. Er konnte nicht tatenlos zusehen, wie Alesch in Trümmer fiel und sein einziger Sohn darunter begraben wurde. Die Zeit verging. Die Pferde galoppierten dahin. Die Sonne erreichte ihren höchsten Stand, wanderte weiter ... die Schatten wurden länger ... Da tauchte weit vor ihnen in der flimmernden Luft ein dunkler Streifen auf. »Das muß Alesch sein!« frohlockte Hegon. Dragon glaubte es erst, als sie nahe genug waren, um Einzelheiten erkennen zu können; erst als sie hinter dem dichten und ausgedehnten Palmenwald die wuchtigen Mauern einer Stadt erblicken konnten. Das war Alesch! Sie erreichten die äußersten Palmen des Hains und wurden langsamer. Obwohl sie einige ärmliche Zelte und Tiergehege erblickten, gab es nirgends Anzeichen von Leben. In den Zelten wohnte niemand, sie waren verlassen, die Gehege standen leer. »Wohin sind die Nomaden?« wunderte sich Dragon. »Was mag sie zu einem so schnellen Aufbruch veranlaßt haben, daß sie ihre Zelte einfach stehenließen?« Hegon, der sich aus dem Sattel gebeugt hatte, um
die Spuren genauer zu betrachten, sagte: »Lange können sie noch nicht weg sein – vielleicht einen Tag, oder zwei.« Sie ritten weiter und kamen auf die Straße, die fast schnurgerade zu einem der Stadttore führte. Hier war der Boden aufgewühlt von den Hufen der Reittiere und den Fußen vieler Menschen. »Die Spuren führen alle von der Stadt fort«, stellte Hegon fest. »Es sieht so aus, als hätten viele hundert Bewohner die Stadt verlassen.« Dragon nickte. Irgendwie hatte er sofort gefunden, daß Alesch einen verlassenen Eindruck machte. Selbst aus dieser Entfernung hatte der Straßenlärm einer so großen Stadt bereits zu hören sein müssen. Als sie nun auf der Hauptstraße auf das Westtor zu ritten, bestärkte sich das Gefühl, eine Geisterstadt vor sich zu haben, nur noch mehr. Sie erreichten unbehindert das Tor, dessen beide Flügel aus dicken, eisenbeschlagenen Holzbalken geschlossen waren. Dragon wollte schon mit dem Schwertknauf dagegenpochen, als Hegon, der vom Pferd gestiegen war, um den Personeneingang zu untersuchen, mit verhaltener Stimme rief: »Dieses Tor läßt sich öffnen!« Er zog sein Schwert und drückte das kleine Holztor auf, das knarrend nach innen schwang. Hegon steckte das Schwert wieder weg, als er erkannte, daß keine Gefahr drohte, und er führte sein Pferd am
Zügel durch den Eingang. Dragon folgte seinem Beispiel, und dahinter kam Ubali mit seinem Pferd. Die Straße vor ihnen war wie ausgestorben. Nur in einem Hauseingang sahen sie einen Mann in einer Kriegerrüstung liegen. Weiter vorne kam ein herrenloses Pferd aus einer Seitengasse, überquerte die Straße und verschwand wieder. Beim Stadttor kauerten zwei weitere Krieger, die leise schnarchten. Die Tür des Wachhauses schwang im Luftzug langsam hin und her. Dragon zuckte leicht zusammen, als in einem der Häuser ein Fensterladen zuknallte. Er ärgerte sich noch darüber, daß er sich so leicht erschrecken ließ. Doch schon im nächsten Augenblick hatte er neuerlich Grund, in Abwehrstellung zu gehen, als sich vom Wehrgang der Stadtmauer ein Schatten auf ihn heruntersenkte. Er wich einen Schritt zurück und zog das Schwert, und keine Armlänge vor ihm prallte ein Körper auf die Straße auf. Es handelte sich um einen Krieger, dessen Rüstung das Wappen von Alesch aufwies: den oben geteilten Wasserstrahl mit dem Totenkopf. Aber er war unbewaffnet; seine Scheide war leer, und er hatte das Schwert auch nicht in der Hand. Dragon beugte sich über die verrenkt daliegende Gestalt und nahm an, daß sich der Mann wahrscheinlich bei dem Sturz das Genick gebrochen
hatte. Er machte aber eine weitere Entdeckung: Als er einatmete, stach ihm ein süßlicher Geruch in die Nase, der ihm nicht unbekannt war: Traumpulver! Dragon entspannte sich. »Ich glaube zu wissen, was diese Stille zu bedeuten hat«, sagte er zu seinen Gefährten. »Wahrscheinlich hat Cnossos El Habek genügend Traumpulver hinterlassen, der es daraufhin großzügig an seine Günstlinge und Krieger verteilte. Anders ist es nicht zu erklären, warum sich kein einziger Posten mehr auf den Beinen halten kann, um das Stadttor zu bewachen.« Sie bestiegen ihre Pferde und ritten die Straße entlang, dabei die Häuser und die Seitengassen nicht aus den Augen lassend. Sie waren noch keine hundert Schritt weit gekommen, als sich rings um sie plötzlich ein wüstes Geschrei erhob und aus einigen Hauseingängen verwilderte, waffenschwingende Gestalten stürmten. »Fort von hier!« befahl Dragon und trieb seinem Pferd die Fersen in die Weichen. Es bäumte sich auf, trat mit dem Vorderhuf einen der Plünderer nieder, der nach dem Zügel greifen wollte und sprang mit einem Satz über einen Angreifer hinweg, der sich gerade noch im letzten Augenblick zu Boden fallen lassen konnte. Ubali hatte sich die Angreifer dadurch vom Leib gehalten, daß er seinen Beidhänder schwang, und Hegon hatte einen von ihnen mit einem Schwertstreich
niederstrecken müssen, bevor sich die anderen zurückzogen. Als sie in einiger Entfernung feststellten, daß man sie nicht weiter verfolgte, wurden sie langsamer. Hinter ihnen zerstreuten sich die Plünderer lachend, so als bereite ihnen ihre Niederlage keine Enttäuschung, sondern ergötze sie höchstens. »Eine verrückte Bande«, stellte Hegon fest. »Wenn Alesch nicht verschlungen werden würde, wäre das Ende dieser Stadt auch so bald nahe«, sagte Dragon. Ihn schauderte, als sie an einem Haus vorbeikamen, von dessen Erkern die Leichen von Erhängten baumelten; sie trugen alle seltsame Helme aus Eigengitter, die wie Käfige aussahen. Aus einem der Fenster kam der gellende Schrei einer Frau, der schließlich in grölendem Männerlachen unterging. Je weiter sie in die Stadt vordrangen, desto mehr Lebenszeichen fanden sie, aber sie wiesen alle die gleichen abstoßenden und erschreckenden Begleiterscheinungen auf: Grausamkeiten, Rohheiten, Niedertracht und Ausschweifungen. Als sie um eine Straßenecke ritten, kamen sie an einem Haus vorbei, in dem es besonders wüst zuging. Aus den Fenstern wurden kostbare Gegenstände, wie Vasen, Krüge und Trinkbecher, Seidengewänder und ganze Teile der Einrichtung geworfen. Draußen auf der Straße standen heruntergekommene Männer und
Frauen, manche halb entblößt, und stimmten lautes Geschrei an, wenn etwas durch die Fenster geflogen kam. Einige von ihnen hatten bereits blutige Schädel, die sie sich von herabfallenden Gegenständen geholt hatten, einer lag hingestreckt da, halb unter einem steinernen Götzenbild begraben – aber das konnte sie nicht daran hindern, jeden weiteren Gegenstand zu bejubeln, der durch die Fenster geworfen wurde. Beim Anblick der drei Reiter wandten sie jedoch sofort ihnen ihre Aufmerksamkeit zu, bewaffneten sich mit Knüppeln und Eisenstangen und stürmten auf sie los. Dragon, der keine Lust verspürte, sich mit diesem Gesindel herumzuschlagen, wendete sein Pferd und wich mit seinen Kameraden in eine andere Straße aus. »Was für eine Lasterstätte!« sagte Hegon angewidert. »Es ist an der Zeit, daß sie ausgetilgt wird.« »Ich kann nicht froh darüber sein, wenn ich bedenke, wie viele anständige Menschen mit zugrunde gehen werden«, sagte Dragon. »Anständige Menschen?« wiederholte Hegon. »Die gibt es in Alesch nicht, sonst hätten wir schon welche getroffen.« Es war in der Tat seltsam, daß es in Alesch keine Bürger zu geben schien, die noch nicht vom Bösen angesteckt worden waren. Es war so, als hätte sich der gesamte Abschaum dieser Welt in dieser Stadt
zusammengefunden. Und hier lebte sein Sohn! Dieser Gedanke beflügelte Dragon, und er beschleunigte sein Pferd. Sie wurden noch einige Male Zeugen von abstoßenden Geschehnissen, sahen Menschen lachend töten, ruhmlos sterben und ehrlos leben, sahen Frauen ohne Scham und Männer ohne Ehre und Gewissen. Sie sahen Dinge, die selbst den erfahrenen Hegon, der schon einige Greuel in seinem Leben gesehen hatte, zutiefst erschütterten. Aber trotz einiger Zwischenfälle kamen sie nie ernsthaft in Bedrängnis und erreichten einigermaßen unbehelligt den Platz vor dem Palast. Hier hatten die Ausschweifungen und Ausschreitungen den Höhepunkt erreicht. Eine zügellose Menschenmenge drängte sich um den sprudelnden Lebensbrunnen, so daß die drei Männer überhaupt kein Aufsehen erregten. Sie bahnten sich ihren Weg durch die Menschenleiber zielstrebig zum Palasttor, wo zwei Krieger Posten standen. Doch auch diese beiden, die noch einigermaßen bei klarem Verstand zu sein schienen, schenkten dem Treiben beim Lebensbrunnen mehr Aufmerksamkeit als den drei Fremden, die sich ihnen näherten. Erst als Dragon sie beinahe erreicht hatte, überkreuzten sie ihre Hellebarden. »Halt!« sagte der eine von ihnen mit ziemlich
schwerer Zunge, seine Augen glitten so unruhig umher, als sei er nicht mehr in der Lage, seinen Blick auf einen bestimmten Punkt zu richten. »Hier geht es nicht weiter. Kehrt um und belustigt euch mit den anderen.« »Ich muß zu El Habek«, sagte Dragon bestimmt. »Richtet ihm aus, daß ich der Bote des Gottes der vielen Namen bin, dann wird er mich empfangen.« Die beiden Torposten lachten. »Und wenn dich der Gott allen Wassers selbst geschickt hätte«, sagte der Wortführer, »kämest du hier nicht vorbei. Du kannst in einigen Tagen wieder vorsprechen, vielleicht sind dann die Feierlichkeiten vorbei, und El Habek will dich empfangen.« »Ich muß jetzt zu El Habek«, sagte Dragon und zog sein Schwert. »He!« Die beiden Posten richteten ihre Hellebarden auf ihn und wollten nach ihm stechen. Doch da sprangen Ubali und Hegon von der Seite hinzu und schlugen die beiden kurzerhand nieder. »Schafft sie durch das Tor«, sagte Dragon drängend. Er blickte sich um, doch niemand auf dem Platz des Lebensbrunnens schien dem Vorfall Beachtung beigemessen zu haben. Als Dragon hinter seinen beiden Gefährten durch das Palasttor geschlüpft war, erklärte er: »Du, Hegon, und ich, wir ziehen das Gewand der
Torposten an und nehmen dich, Ubali, in die Mitte, als wärest du unserer Gefangener. So sollte es uns gelingen, bis zu El Habek vorzudringen. Ich glaube nicht, daß es im Palast noch jemanden gibt, dessen Sinne nicht umnebelt wären.«
5.
Der Regenbogen war verblaßt. Jetzt kamen die Schauergestalten aus dem Schattenreich. El Habek sog an seiner Traumpfeife, damit der Rauch die Schreckensbilder verscheuche. Aber er fühlte sich auch danach nicht besser. Die Wasserbecken, in die der Lebensbrunnen floß, waren verschmutzt und voller Unrat. Auf dem Grund der Becken lagen Kelche, Schüsseln, Waffen und Tote. Auf der Wasseroberfläche trieb ein Brei aus Früchten, Speisen und Schmutz. Als El Habek seine Blicke durch die Laubenhalle wandern ließ, sah er nur Ruinen ... Schnell sog er an dem Mundstück der Traumpfeife – und sofort zeigte sich die Halle des Wassers wieder in ihrem alten Glanz. Aber selbst die Trugbilder konnten den Schmutz und Unrat und die Verwüstungen nicht lange übertünchen.
Das Fest der Freuden war zu einem Ritual der Selbstzerstörung geworden. Von einer der Säulen starrte El Habek eine gräßliche Fratze an, die irgendeiner seiner Günstlinge hingemalt hatte. Warum lachten seine Gäste nicht mehr, warum tanzten und spielten und liebten sie nicht? El Habek stand torkelnd auf und ging durch die Halle. Dabei stolperte er einige Male, als er mit den Füßen gegen Hindernisse stieß: reglose oder zuckende Gestalten, die hingestreckt dalagen. Er trat nach ihnen und erntete Flüche und Schmerzensschreie. »Warum tanzt ihr nicht!« schrie der Statthalter von Alesch. Er beugte sich zu einer Haremsdame hinunter, die mit glasigen Augen zu ihm aufblickte, fuhr ihr mit der Eisenhand unter den Gürtel und zog sie hoch. »Tanze!« befahl er ihr. »Jawohl, Herr«, sagte sie mit zittriger Stimme, machte einige unbeholfene Tanzschritte und brach dann kraftlos zusammen. »Tanzt, tanzt!« El Habek torkelte durch die Reihe seiner Haremsdamen und stieß sie im Vorübergehen mit der Eisenhand an, daß sie umkippten wie Schießscheiben, in denen Pfeile Volltreffer landeten. »Tanzt und singt! Musiker, spielt auf!« Die Männer mit den Instrumenten rührten sich –
und ihr Hornblasen und Saitenzupfen und Paukenschlagen vereinigte sich zu ohrenschmerzenden Tönen. Einige der Gäste kamen El Habeks Aufruf nach und versuchten, nach den Klängen zu tanzen. Aber der tagelange Genuß des Traumpulvers in den verschiedensten Formen hatte sie ausgelaugt, sie zu Schatten ihrer selbst gemacht. Sie torkelten durch die Laubenhalle wie Schmetterlinge mit verletzten Flügeln, und sie krähten wie Rabenvögel. Sie tanzten den Todestanz zwischen Ruinen! El Habek schloß die Augen, aber die Schreckenbilder blieben. Warum war er nicht mehr in der Lage, sich gefälligere Eindrücke zu verschaffen? Warum nur sah er ständig seinen Palast in Trümmern? Das war erst so, seit der Fremde vor einem Tag hiergewesen war. Er hatte El Habeks Traumwelt zerstört – durch ihn war das Fest zu einem Alptraum geworden – der Fremde hatte den Trommeltanz Mainalas verhindert. Mainala ... das zauberhaft schöne Mädchen mit dem Rothaar! »Mainala, tanze!« El Habek griff mit seiner Linken in das Haar eines Mädchens vor ihm. »Du wirst jetzt tanzen!« befahl er ihr. »Aber ich bin nicht Mainala, ich bin Lesha«, versuchte sie ihm zu erklären. »Tanze!« wiederholte er.
Lesha lachte auf, erhob sich mit ausgebreiteten Armen und lief, sich drehend, durch die Halle. Dabei rief sie: »Ich bin Mainala und werde tanzen.« Sie erreichte die sieben im Halbkreis aufgestellten Trommeln, ergriff statt der Trommelstöcke zwei Schwerter und begann damit auf die Trommeln einzuschlagen. »Der Messerwerfer! Wo ist der Messerwerfer?« Ein Mann kam auf allen vieren herangekrochen. Es war Ebbel, Leshas Geliebter. »Ich werfe die Messer«, sagte er keuchend und erhob sich schwerfällig auf die Beine. Er stierte zu Lesha hinüber, die sich zwischen den Trommeln drehte und sie mit den Schwertern schlug. Ebbel holte seine Dolche aus dem Gürtel und warf zwei auf einmal in Richtung Leshas, die er nur als verschwommenen Schemen wahrnehmen konnte. Sie schrie auf, die Schwerter entfielen ihren Händen, sie brach taumelnd zusammen ... El Habek sah den Lebensvogel aus ihrem makellosen Körper entfliehen und lachte gurgelnd. »Lesha!« rief Ebbel entsetzt. Aber Lesha konnte keine Antwort mehr geben. »Das ist deine Schuld, El Habek!« schrie Ebbel, und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut. Er zog sein Schwert und schlug nach El Habek.
Doch dieser lachte nur, als die Klinge von seiner Eisenhand abprallte. Bevor Ebbel zum zweiten Schlag ausholen konnte, hieb ihm El Habek die Eisenhand mit aller Wucht gegen den Schädel. Der Statthalter von Alesch hatte schon viele Männer auf diese Weise getötet ... El Habek war durch diesen Zwischenfall aber keineswegs vergnügter geworden. Noch immer schwirrten in seinem Kopf Gedanken von Tod und Vernichtung herum – Gedanken über sein nahes Ende. Es hatte alles mit dem Auftauchen des Fremden begonnen. Er hatte nicht nur die Sklavinnen und die Trommeltänzerin aus dem Palast geholt, sondern ihm, El Habek war auch berichtet worden, daß der Fremde – der Namenlose – die Sklavenpferche geöffnet und die fünfhundert, deren Seelen dem Gott allen Wassers versprochen waren, aus Alesch fortgebracht hatte. Wie sollte El Habek dies vor seinem Gott rechtfertigen? Außerdem war seit dem Erscheinen auch die Sklavin Arischa mitsamt dem Königskind verschwunden, das der Gott des Wassers in seine Obhut gegeben hatte. Die Worte: Du bürgst mir mit deinem Kopf für das Leben des Königskindes, El Habek, machten ihm schwer zu schaffen. Wie sollte er seinem Gott den Verlust des Pfandes
erklären? Er mußte das Balg finden! »Sucht das Königskind!« befahl er seinen Gästen, die beim Klang seiner Stimme hochschreckten. »Und wehe, wenn ihr es mir nicht zurückbringt!« Die Gäste erhoben sich und machten sich auf die Suche. Sie glaubten, daß es sich hier um ein neues Spiel handelte, das noch höchst vergnüglich zu werden versprach. Die Männer und Frauen schwärmten aus, um den Palast nach dem Kind zu durchsuchen, das ein Pfand der Götter war. El Habek kicherte zufrieden. Seine Günstlinge würden das Balg finden und zurückbringen. Und wenn nicht? Dann würde der Wassergott ihm, El Habek, furchtbar zürnen. Und er würde ihn bestrafen. »Wachen! Zu mir!« Einen Atemzug später war El Habek von einem halben Dutzend Palastwachen umringt. »Ihr müßt mich beschützen«, trug er ihnen auf. »Ihr müßt mich gegen alle Ungeheuer und Dämonen verteidigen, die mir nach dem Leben trachten.« »Jawohl, erhabener Wasserspender.« Aber El Habek fiel augenblicklich ein, daß die Dämonen, die Helfer des Wassergottes und dieser selbst, nicht durch Schwerter und Lanzen zu besiegen waren. Nur Feuer konnte ihnen den Tod bringen.
»Holt einen Kessel mit Pech!« befahl er seinen Wächtern. »Holt siedendes Pech, aber solches, das mit Holzspänen vermengt ist und aus dem man Fackeln macht. Bringt mir sofort einen Kessel mit siedendem Fackelpech!« Die Palastwachen beeilten sich. El Habek war allein. Er stand inmitten der Trümmer, die einst die Halle des Wassers gewesen waren. Warum nur sah er immer wieder diese schrecklichen Bilder? Er inhalierte gierig die Dämpfe der Traumpfeife und konnte so wieder die Pracht des Laubenganges vor seinen Augen entstehen lassen. Von draußen drangen die Rufe der Edelleute herein, die den Palastpark nach dem verlorenen Königskind durchsuchten. »Bist du El Habek?« Drei furchterregende Gestalten standen plötzlich in der Halle des Wassers. El Habek sah in ihnen die Henker des Wassergottes ... »Wachen! Zu Hilfe!« El Habek wandte sich zur Flucht, aber da tauchte vor ihm einer der drei Männer auf und verstellte ihm den Weg. Plötzlich lachte El Habek befreit auf. Der Mann trug die Rüstung seiner Leibgarde. »Beschütze mich vor den Dämonen, die der Wassergott entsendet, um mich zu vernichten«, befahl El Habek ihm.
»Du bist also El Habek, der Statthalter von Alesch, in dessen Obhut Cnossos ein Königskind gegeben hat«, sagte der Mann in der Rüstung der Leibgarde. El Habek wurde unsicher. Er wich langsam vor dem Mann zurück, der ihm immer unheimlicher wurde, je länger er ihn anstarrte. Der Mann belauerte ihn mit gezücktem Schwert und kam näher. »Wer bist du?« fragte El Habek. »Ich bin Dragon«, antwortete der andere. »Ich komme im Auftrag des Gottes der vielen Namen, um das dir anvertraute Königskind an mich zu nehmen. Wo ist es?« Die Erinnerung an seinen Auftrag flammte wieder in El Habeks Geist auf. Der Wassergott hatte von ihm verlangt, daß er aus dem Mann, der sich als Abgesandter des Gottes der vielen Namen zu erkennen geben würde, einen Untoten zu machen hatte. El Habek kicherte listig. »Folge mir in den Tempel des Wassergottes, dann sollst du erhalten, was dir zusteht.« Der Fremde, der sich Dragon nannte, fiel ganz unvermittelt über el Habek her. Sein Schwert glitt zwar an El Habeks Eisenhand ab, doch dann hatte er ihn erreicht und begrub ihn mit dem Gewicht seines Körpers unter sich. »Ich weiß, welches Schicksal du mir zugedacht hast, El Habek«, sagte Dragon dicht vor dem
schweißbedeckten Gesicht des Statthalters. »Aber ich werde es zu verhindern wissen. Ich bin gekommen, um mir meinen Sohn zurückzuholen. Und wer sich mir in den Weg stellt, ist des Todes.« Für einen Moment konnte El Habek wieder ganz normal denken, die Wirkung des Traumpulvers war wie verflogen. »Du bekommst deinen Sohn, wenn du mir in den Tempel folgst«, versprach El Habek, ängstlich nach der Klinge schielend, die dicht an seinem Hals lag. Er hoffte, den Fremden mit Hilfe der Hohenpriester zu überwältigen und ihn doch noch der ihm zugedachten Strafe zuzuführen. Er fügte schnell hinzu: »Ich habe das Kind den Tempeldienern anvertraut, weil es dort sicher ist und eine gute Behandlung erfährt.« Er glaubte zu erkennen, daß der andere geneigt war, ihm zu glauben, und fühlte sich schon siegessicher. Doch gerade in diesem Augenblick platzte so ein Narr herein und verkündete: »Wir haben das Königskind immer noch nicht gefunden. Es ist, als ob die Erde es verschlungen hätte ...« Der berauschte Edelmann schien erst jetzt die Anwesenheit der Fremden bemerkt zu haben. Er griff sofort zu seinem Schwert. Doch noch bevor er es ziehen konnte, hatte ihn der dunkelhäutige Hüne, der ein so gewaltiges Schwert führte, daß er es trotz seiner
Muskelkraft mit zwei Händen führen mußte, mit einem Streich niedergestreckt. »Was ist mit meinem Sohn geschehen?« fragte Dragon und senkte seine Klinge tiefer auf El Habeks Hals. »Er ist während des Festes verlorengegangen«, würgte El Habek hervor. »Aber er muß noch irgendwo im Palast sein. Wir werden ihn sicher finden. Arischa, die ihn behütete, wird sich irgendwo mit ihm versteckt haben.« Dragon atmete schwer. So leicht es ihm gelungen war, bis zu El Habek vorzudringen, sein Plan war doch nicht aufgegangen. Er stand plötzlich vor Schwierigkeiten, mit denen er nicht hatte rechnen können. Atlantor war verschwunden, und er glaubte El Habek sogar, daß nicht einmal er wußte, wo er sich befand. Dragon war verzweifelt. Die Zeit drängte. Die Bäume im Palastpark warfen schon lange Schatten, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne unterging. Ein Tumult in seinem Rücken schreckte ihn hoch. Er sah, wie sieben Krieger einen großen Kessel mit kochendem Pech hereintrugen. Hegon und Ubali stürzten sich sofort auf sie, so daß sie nicht einmal mehr Zeit hatten, den Kessel hinzustellen. Sie ließen ihn einfach fallen, so daß er zur Seite kippte und die
Hälfte des kochenden Pechs über den Boden floß. Zwei der Krieger verbrannten sich die Füße, als sie plötzlich bis zu den Knöcheln im kochenden Pech standen. Die anderen fünf stellten sich Hegon und Ubali zum Kampf. Dragon ließ von El Habek ab und kam seinen Gefährten zu Hilfe. Ubali hatte einen der Krieger bereits niedergestreckt und wandte sich den beiden Angreifern zu, die versuchten, ihm in den Rücken zu fallen. Die beiden anderen Angreifer bedrohten Hegon. Doch sie hatten Traumpulver im Übermaß genossen, so daß sie für den kampferfahrenen Urgoriten keine ernsthafte Bedrohung darstellten. Hegon wehrte ihren ersten Angriff erfolgreich ab und verwundete einen von ihnen im Gegenstoß am linken Arm. Diese Gelegenheit machte sich aber der andere zunutze, um Hegon von der ungedeckten Seite her anzufallen. Sein waagrecht geführter Schwertstreich hätte Hegon zweifellos erreicht, wenn Dragon nicht rechtzeitig eingegriffen hätte und mit seiner Klinge in das Schwert des Angreifers gesprungen wäre. Als sich der Krieger einem neuen Gegner gegenübersah, ergriff er die Flucht. Ubali rannte hinter den beiden anderen her, die vor ihm Reißaus nahmen. »Laß sie laufen!« rief Dragon ihm nach. Hegon stand vor dem verwundeten Krieger, der
entwaffnet war, und hielt ihm das Schwert an die Brust. Dragon wandte sich nach El Habek um – in diesem Augenblick ging eine Erschütterung durch den Boden, und die Decke des Laubengangs bekam Sprünge. »Was war das?« fragte Ubali unsicher. »Es ist der Anfang vom Untergang«, stellte Dragon fest. »Dann nichts wie fort von hier«, sagte Hegon. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es vielleicht noch, aus der Stadt zu kommen, bevor sie vom Erdboden verschlungen wird.« Da ertönte ein schauriger Schrei hinter ihnen, und El Habek sprang auf sie zu. Seine Rechte brannte wie eine Fackel, er stieß damit nach ihnen und rief: »Brennen sollt ihr, Dämonen des Wassergotts. Ich fürchte die Rache eures Herrn und Meisters nicht. Ich werde euch im Feuer schmoren lassen, bis nur noch Asche von euch übrig ist!« Während seine Krieger die Eindringlinge beschäftigten, begab sich El Habek zu dem Kessel mit dem Pech und tauchte seine Eisenhand, die bis zum Ellenbogen hinauf reichte, darin ein. Nachdem er sie herausgezogen hatte, wartete er, bis sich das Pech etwas abgekühlt hatte und tauchte die Eisenhand wieder in den Kessel.
Danach entzündete er die pechgetränkte Eisenhand an einer Öllampe und näherte sich den Eindringlingen, indem er ihnen den Fackelarm entgegenstreckte. Er war jetzt überzeugt, daß es sich um Diener des Wassergottes handelte, die gekommen waren, um furchtbare Rache an ihm zu nehmen. Er sagte es ihnen und auch, daß er ihre Furcht vor dem Feuer kannte und sie verbrennen würde. »Verlassen wir Alesch, bevor es zu spät ist«, sagte einer von ihnen. El Habek lachte hell auf und scheuchte sie weiter vor seinem Flammenarm her. »Ich kann Atlantor doch hier nicht zurücklassen!« El Habek ließ seinen Fackelarm reise beschreiben. »Du rettest Atlantor nicht, wenn du ebenfalls in den Tod gehst, Herr!« El Habek stieß mit den Flammen nach dem schwarzen Teufel, der diese Worte gesprochen hatte. Er trieb alle drei immer weiter zurück, bis er sie schließlich aus der Halle des Wassers gedrängt hatte und er hörte, wie sich ihre schnellen Schritte in den Gängen verloren. »Ich habe deine Helfer besiegt!« rief El Habek voll Überschwang. »Zeige dich nun selbst, Wassergott. Ich habe keine Angst mehr vor dir, denn ich weiß, daß du nicht unbesiegbar bist. Das Feuer macht mich stark, denn es ist deine Schwäche. Zeige dich!«
El Habek stierte auf das Wasser in den Becken. Aber die Wasseroberfläche begann nicht zu kochen, keine Sturmböfuhr zwischen den Säulen herein und brachte die Saat mit sich, aus der die Gestalt des Gottes allen Wassers geboren wurde. Wieder erbebte die Erde, so daß El Habek leicht schwankte, und ein Geräusch wie fernes Donnergrollen ging durch den Palast. Doch der Wassergott zeigte sich noch immer nicht. El Habek lachte schrill und stolperte in den Park hinaus, die brennende Eisenhand wie eine Fackel erhoben. »Bist du zu feige, dich mir zu stellen – mir, deinem Sklaven!« El Habek begegnete im Park verschreckten und verstörten Gesichtern. »Die Erde bebt!« »Du weckst durch deine anmaßenden Worte den Zorn des Wassergottes, gütiger Wasserspender!« El Habek stieß mit dem Fackelarm nach jenem, der es gewagt hatte, ihm solche Worte zu sagen. Die Kleider des Mannes fingen Feuer – und er rannte, von Flammen umlodert und verzweifelt schreiend, davon. »Welche Kraft hat doch das Feuer«, sagte El Habek begeistert. »Feuer ist viel mächtiger als Wasser. Denn Wasser kann nur Leben erhalten, doch Feuer dient dem Tod. Darum wollen wir von dieser Stunde an nur noch
dem Feuergott dienen. Sinkt auf die Knie und empfangt von mir die Weihen der Flamme!« Doch keiner der Umstehenden kam seiner Aufforderung nach. Sie stoben ängstlich kreischend auseinander und verschwanden zwischen den Bäumen und Sträuchern des Parks. »Wachen!« brüllte El Habek. »Daß mir keiner den Palast verläßt!« El Habek machte sich auf den Weg zum Tempel. Als er den Eingang erreichte, wurde er von zwei kahlgeschorenen Dienern mit Wasserschalen empfangen. Er tauchte seinen Fackelarm in das Wasser und sah mit leuchtenden Augen zu, wie es zischend verdampfte. »Wasser hat keine Kraft«, rief er dabei. »Feuer ist das Zeichen des Mächtigen. So soll das Feuer fortan das Sinnbild von Alesch sein.« Die Tempeldiener ließen erschrocken ihre Wasserschalen fallen und flüchteten sich in die Hallen, die dem Wassergott geweiht waren. El Habek folgte ihnen, eine flammende Spur hinter sich nachziehend. Das brennende Pech, das von seinem Arm tropfte, fraß sich in die Holzbalken, griff auf Holzstatuen und Teppiche und Vorhänge über, bis überall in der Tempelhalle Flammen in die Höhe züngelten. Die Tempeldiener und Hohenpriester, die mit Wasserbehältern kamen und das Feuer zu löschen
versuchten, standen auf verlorenem Posten. El Habek lachte zufrieden, als er dies sah. Es bestätigte seine Erkenntnis, daß er bisher dem falschen Gott gedient hatte. Er hastete eine Treppe zu einem Altar hinauf und steckte dabei die Wandteppiche in Brand, an denen er vorbeikam. Von der Plattform des Hochaltars aus schwang er seinen Fackelarm, so daß es brennendes Pech in die Tiefe und auf die Häupter der durcheinanderlaufenden Götzendiener regnete. El Habek verließ den Altar und tauchte in einer Wandöffnung unter. Er eilte den Gang entlang, eine Treppe hinauf und kam auf dem Dach heraus. Er achtete nicht auf die Steinfiguren, die ihn wie Dämonen des Wassergotts umlauerten, eilte an ihnen vorbei bis zu einer Plattform, über deren Zinnen er auf Alesch hinunterblicken konnte. Er blickte der Sonne entgegen und erkannte in diesem Augenblick, daß das Feuer nicht nur Tod bedeutete, sondern auch der Funke zum Leben sein konnte. Der Feuergott war viel mächtiger als er anfangs geahnt hatte, denn er wohnte auch in der Sonne, diesem lebensspendenden Feuerball. El Habek hob beide Arme, so als wolle er der ganzen Stadt die Weihen des Flammengottes zuteil werden lassen. Er merkte es kaum, als das brennende Pech seinen erhobenen Arm zur Schulter hinunterfloß und
sich über seine Kleider ergoß und sie entzündete. Einen Atemzug später stand er in Flammen. Doch bevor er Schmerzen verspürte, ertönte wieder das ferne Grollen, das aus Erdentiefen zu kommen schien. Die Plattform, auf der El Habek stand, begann zu schwanken, die Steingötzen fielen von ihren Podesten ... die Steine ächzten, als eine unsichtbare Riesenfaust sie von ihren Plätzen schob ... und dann senkte sich die gesamte Vorderfront des Tempels mitsamt der Plattform, auf der El Habek stand, nach vorne. Von Flammen umlodert, sah der Statthalter nur noch, wie sich tief unter ihm auf dem Tempelplatz ein breiter Riß bildete, der immer weiter auseinanderklaffte – und in den er zu fallen schien. Die Sonne stand als glutroter Ball einen Fingerbreit über dem Horizont. Die Bewohner von Alesch hatten in ihrem Taumel nicht einmal bemerkt, daß die Erde unter ihrer Stadt bebte – und wenn doch, so hatten sie dem keine Bedeutung beigemessen. Dragon, Hegon und Ubali gelangten aus dem Palast, ohne behindert zu werden. Die Palastwachen rührten keinen Finger, als sie an ihnen vorbeikamen, und El Habeks Gäste, die in Scharen das Palastgelände durchstreiften, kümmerten sich erst recht nicht um sie.
Kaum daß sie durch das Palasttor geschritten waren, wurde es jedoch hinter ihnen geschlossen. Die Begründung für diese Maßnahme hörten sie von einem Mann der Leibgarde, der zu einem Edelmann sagte: »Es darf niemand mehr aus dem Palast. Der allmächtige Wasserspender hat es so befohlen!« Dragon und seine Gefährten erreichten ihre Pferde, die sie am Rande des Platzes mit den Wasserspielen zurückgelassen hatten; Hegon mußte jedoch erst einen Berauschten aus dem Sattel holen, der gerade davonreiten wollte. »Aus dem Weg!« schrie Ubali und preschte mit seinem Pferd als erster los. Dragon wandte sich noch einmal um und zögerte. Er kam sich in diesem Augenblick wie ein Verräter vor, der seinen Sohn im Stich ließ. Hegon, der Dragons Zögern bemerkte, hieb Dragons Pferd kraftvoll auf die Flanke und schrie auf, so daß es sich erschreckt aufbäumte und dann mit Dragon durchging. Ubali, der einige Pferdelängen vor ihnen geritten und um eine Ecke gebogen war, kam sofort wieder zurück. »Die Straße ist durch ein eingestürztes Haus versperrt!« rief er ihnen entgegen. Dragon hatte sein Pferd inzwischen schon wieder in der Gewalt. Er riß es am Zügel herum und trieb es in eine winkelige Gasse. Hegon und Ubali folgten. Sie
kamen aber nicht weit. Plötzlich tauchte vor ihnen ein blutüberströmter Mann auf. Die Kleider hingen ihm in Fetzen vom Leibe, und sein Kopf steckte in einem Käfig. Hinter ihm kam eine Meute gutgekleideter Männer und Frauen, die mit Steinen und anderen Wurfgeschossen nach ihm warfen. Dragon wich dem Mann mit dem Kopfkäfig aus, blieb mit seinem Pferd aber dann in den heranstürmenden Verfolgern stecken. »Alesch ist dem Untergang geweiht!« rief Dragon ihnen zu, in der Hoffnung, daß sie dann den Weg freigeben würden. »Bringt euch in Sicherheit. Die Erde wird sich jeden Augenblick auftun und die Stadt verschlingen.« Als hätte er mit seinen Worten böse Geister heraufbeschworen, ging eine Erschütterung durch die Straße, die die Häuser schwanken ließ. Steine und ganze Ziertürmchen und Standbilder fielen daraufhin herunter, die Wände des gegenüberliegenden Hauses bekamen Risse. Die Menge stob schreiend davon. Dragon beförderte einen Mann, der sich an die Zügel seines Pferdes klammerte, mit einem Tritt zur Seite, dann war die Straße vor ihm frei. Bald darauf bogen sie in die Hauptstraße ein, die in gerader Linie zum westlichen Stadttor führte. Sie waren nur noch hundert Mannslängen davon entfernt,
als ein neuerliches Rumoren durch die Erde ging. Hinter Ubali stürzte ein Haus in sich zusammen, gleich darauf bekamen die Steinplatten der Straße Sprünge, und ein Spalt tat sich auf, der über eine Armspanne breit war. Dragons Pferd rutschte auf einer abschüssigen Steinplatte aus und kam ins Stolpern. Dragon erkannte rechtzeitig, daß das Pferd unweigerlich dem Erdspalt zutrieb und warf sich aus dem Sattel. Er kam gerade wieder auf die Beine, als Hegon heranritt. Der Urgorit streckte ihm die Hand entgegen, Dragon ergriff sie und schwang sich hinter Hegon auf den Rücken des Pferdes. So erreichten sie das Stadttor. Da es immer noch verschlossen war, duckten sie sich tief über die Pferde und ritten einfach durch das kleinere Seitentor hindurch. Hegon hieb nun seinem Pferd immer stärker die Fersen in die Weichen und feuerte es durch Zurufe an. Sie kamen jetzt auch schneller vorwärts, weil die Pferde mit den Hufen in dem sandigen Boden besseren Halt fanden als auf den Steinen der Straßen in Alesch. Dragon sah auch hier, im Grüngürtel um die Stadt, Risse im Boden, aus denen Palmen mit den Wurzeln nach oben ragten. Ubali kam an ihnen vorbeigeritten und trieb sein Pferd mit einem kühnen Satz über einen breiten Spalt
hinweg. Hegon konnte den Sprung über den Abgrund jedoch nicht wagen, weil sein Pferd zu stark belastet war, und mußte in einem Bogen ausweichen. Dragon schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis sich der Palmenhain lichtete und vor ihnen die freie Wüste lag, die nur noch von vereinzelten grünen Büschen durchsetzt war. »Geschafft!« rief Hegon erleichtert. Ubali war etwas langsamer geworden, so daß sie zu ihm aufschließen konnten. Er deutete nach vorne. »Seht nur! Das muß der Namenlose mit dem Heer der Wüstensöhne sein.« Dragon verspürte mit einem Schlag Zufriedenheit und inneren Frieden. Er dachte nicht mehr daran, daß sie gerade noch mit knapper Not einer tödlichen Gefahr entronnen waren, empfand nicht mehr Enttäuschung darüber, daß seine Suche nach Atlantor vergeblich geblieben war – er vergaß alle seine Sorgen. Er wußte aber, daß dies darauf zurückzuführen war, daß sie sich nun wieder in Reichweite der friedenstiftenden Ausstrahlung des Namenlosen befanden. Und diese innere, unhörbare Stimme gab ihm auch die Gewißheit, daß er sich in Sicherheit befand. Dragon blickte zurück. Alesch erstrahlte wie ein Juwel im goldenen Licht der untergehenden Sonne. Es war Dragon, als halte die
Welt den Atem an, um Alesch noch einmal von seiner schönsten Seite und in all seiner Pracht zu zeigen – nur um dann dieses Juwel, dessen Inneres faulig war und böse, mit einem einzigen elementaren Schlag zu vernichten. Ein Donnergrollen hob an wie am letzten aller Tage. Der Himmel schien einzustürzen – doch nur die Erde tat sich auf. Aus dem Herzen der Stadt, dort wo der Palast und der Tempel war, schossen Flammen in den Himmel, Türme neigten sich und zerfielen im Sturz, als wären sie aus Sand gebaut. Die Stadtmauern hoben sich in die Höhe, so als würden sie von den Händen eines Riesen zusammengedrückt – sie wölbten sich nach oben, spannten sich in einem Bogen und barsten dann, senkten sich, sanken immer tiefer in den Schlund, der sich auftat. Ein Loch bildete sich, das wohl in der Mitte der Stadt entstanden war und sich nun nach außen verbreiterte und Haus um Haus in sich verschlang, die Stadtmauern erreichte und sich immer mehr ausweitete. Dragon wunderte sich, daß außer dem Tosen und Donnern, das den Untergang von Alesch begleitete, nichts zu hören war, daß die Männer, die Zeugen dieses Schauspiels wurden, so ruhig blieben und auch die Pferde nicht scheuten und nicht in panischem
Schrecken mit ihren Reitern durchgingen. Doch war diese Verwunderung nur kurz, weil ihm bewußt wurde, daß sich die Ausstrahlung des Namenlosen wie ein schützender Umhang auf die Gehirne der Lebewesen in seinem Bereich legte und sie beruhigte. Wo einst Alesch und der die Stadt umgebende Palmenhain gewesen war, erhob sich nun eine hoch in den Himmel ragende Staubwolke, die sich gnädig vor den letzten Akt dieses Dramas senkte und die Blicke darauf verwehrte. Nach und nach senkte sich der Staubschleier wieder – und alle konnten dann sehen, daß dort, wo einst eine riesige Stadt gestanden hatte, nun nur noch nackte Wüstenerde war. Alesch war nicht mehr. Nichts zeugte mehr davon, daß es diese Stadt einmal gegeben hatte – nicht einmal mehr der Grundstein eines einzigen Hauses war übriggeblieben. Die Schlünde der Erde hatten sich aufgetan und alles, was an diesem Ort jemals von Menschenhand geschaffen worden war, in einen Abgrund gezerrt, über den sich dann frische, von Menschenhand unberührte Erde gewölbt hatte. In einigen Monden, wenn der Wüstenwind genügend Zeit gehabt hatte, um Sand heranzuwehen und Düne an Düne zu schichten, wurden auch die letzten Spuren von Alesch für immer verschwunden
sein. Und einen Sommer später würde niemand mehr sagen können, wo die sagenhafte Stadt Alesch einst gestanden hatte ... Doch – vielleicht sollte es anders kommen? Zwischen den unförmigen Erdbrocken schimmerte etwas silbern und sprudelte dann golden, als sich die letzten Strahlen der Sonne darin spiegelten. Wasser! Die Quellen des Lebensbrunnens waren nicht versiegt, sondern spendeten immer noch das köstliche Naß. Wasser! Der Ursprung für neues Leben an diesem Ort der Verdammnis. Es ergoß sich aus der Tiefe ins Freie, floß in Bächen über den zernarbten Boden, füllte die Tiefen auf, stieg über die Erdbrocken und bedeckte sie mit seiner spiegelglatten Fläche. Ein kleiner See war entstanden. Alesch war nicht mehr die Grausame, die Blutige, sondern der neugeborene See Alesch war ein gütiger Wasserspender, über den nicht ein grausamer Herrscher verfügte. Das Wasser von Alesch gehörte allen, die auf ihrem Weg durch die Wüste hier haltmachten und sich nach einer langen Durststrecke laben wollten. Dragon wandte zum erstenmal, seit er hier angekommen war, seinen Blick von Alesch ab. Er blickte zu dem Namenlosen. An dessen Seite erkannte er Abbal Kim, Nabib und Iwa und die vier urgoritischen Krieger.
Er stieg, sein Pferd am Zügel mit sich führend, den leicht ansteigenden Hang zu ihnen hinauf. Als er oben angekommen war, gab der Namenlose dem Fürsten der Söhne des Fuchses mit der Hand ein Zeichen, worauf dieser sich mit seinem Pferd in Bewegung setzte. Und alle seine Krieger schlossen sich ihm an. Sie setzten sich, alle viertausend, fast gleichzeitig in Bewegung, so als hätten sie einen Befehl erhalten, den nur sie gehört hatten. Dragon erinnerte sich noch gut der Worte des Namenlosen, mit denen er die Söhne des Fuchses aufgefordert hatte, nicht mehr an den Feldzug gegen Alesch zu denken und an die Lagerfeuer ihrer Stämme zurückzukehren. Und das taten sie jetzt – sie zerstreuten sich in alle Winde. Der Namenlose wandte sich Dragon zu.
6.
Nur Dragon und seine Gefährten waren mit ihren
Reittieren und den Pferden ihrer im Kampf gegen die Wüstenfüchse gefallenen Kameraden zurückgeblieben. Der Namenlose hatte den anderen den Rücken zugedreht und starrte Dragon an – zumindest konnte sich Dragon dieses Eindrucks nicht erwehren, obwohl weder Einzelheiten an der Gestalt des Namenlosen noch sein Gesicht zu erkennen waren. Der Umhang verhüllte ihn nach wie vor von Kopf bis Fuß – und er verbarg natürlich auch seine Augen. Dennoch hatte Dragon das Gefühl, daß er angesehen wurde. »Ich habe erst zu spät erkannt, daß das Sonnenamulett des Fürsten Abbal Kim dein eigen war«, sagte der Namenlose mit seiner angenehm weichen und dennoch männlichen Stimme. »Ich bereue, es zerstört zu haben. Vielleicht kann ich dich für deinen Verlust entschädigen, indem ich dir meinen Umhang zum Geschenk mache.« Dieses Angebot überraschte Dragon dermaßen, daß er kein Wort über die Lippen brachte. Er hatte sich schon bei der ersten Begegnung mit diesem geheimnisvollen Fremden gefragt, wie er aussah, ja, ob er denn überhaupt ein Mensch sei. Nun würde er es gleich erfahren – und aus irgendeinem Grund maß er dem ungeheure Bedeutung bei. Der Umhang des Namenlosen geriet in Bewegung,
als er sich offenbar daranmachte, ihn abzunehmen. Und dann war es soweit ... Er streifte den Umhang ab und überreichte ihn Dragon. Dieser nahm ihn an sich und warf ihn sich über die Schulter, ohne dabei den Namenlosen aus den Augen zu lassen. Dabei überkam ihn grenzenlose Enttäuschung. Trotz des wertvollen Geschenks konnte er keine rechte Freude empfinden, denn der Namenlose trug unter diesem Umhang einen zweiten, der gleichartig war und ihn ebenfalls von Kopf bis Fuß verhüllte. »Du scheinst nicht gerade erfreut über mein Geschenk zu sein«, sagte der Namenlose leicht belustigt. »Doch, doch«, versicherte Dragon und ließ den Umhang durch seine Finger gleiten; er fühlte sich warm und weich an und auch so ähnlich, als würde er leben. »Ich weiß mir dein Geschenk zu schätzen, nur ... wer bist du?« »Glaubst du, daß dies von so großer Bedeutung ist?« fragte der Namenlose zurück. »Es gibt mich – das sollte für alle genug sein, die meine Hilfe brauchen. Wenn ich dir irgendeinen Namen nenne, würde dich das nicht zufriedenstellen. Wenn ich mich dir zeige, es würde dir in deinem weiteren Leben wohl kaum von Nutzen sein. Lasse mich also mein Bußgewand tragen und frage besser nach nützlicheren Dingen. Willst du denn nichts
über den Tarnumhang wissen, den du nun trägst?« Dragons Verwirrung legte sich langsam. »Zuerst möchte ich dir für dieses Geschenk danken«, sagte er. »Und natürlich wäre ich froh, wenn du mich in der Handhabung des Tarnumhangs unterweist.« »Es erfordert keine besonderen Mühen und kein Wissen, nur etwas Übung«, erklärte der Namenlose. »Du brauchst nur zu denken – und der Umhang gehorcht. Entschuldige, wenn ich dir das in so einfachen Worten beibringe. Ich habe sehr wohl erkannt, daß dies nicht deine Welt sein kann und du geistig über den Menschen dieser Zeit stehst. Aber gestatte es mir dennoch, daß ich mir zu langwierige und zeitraubende Erklärungen erspare und mich auf die Erläuterung der Wirkungsweise des Tarnumhangs beschränke.« »Es genügt mir, zu erfahren, welche Vorteile mir der Umhang bringt«, sagte Dragon. »Er bringt dir den Vorteil, daß man dich nicht sehen kann, wenn du es so wünschst«, entgegnete der Namenlose. »Der Umhang gehorcht deinen Gedanken. Du brauchst nur zu denken, daß man dich nicht sehen soll – und schon paßt sich der Umhang deiner Umgebung so vollständig an, daß du völlig unsichtbar wirst. Es ist dabei bedeutungslos, ob und wie schnell du dich bewegst, denn der Umhang nimmt immer das
Aussehen deiner jeweiligen Umgebung an. Ebenso egal ist es, wo der Betrachter steht, oder ob du von einigen umringt bist – sie sehen alle nur das, was ihnen der Umhang gewährt, eben immer nur den Hintergrund, vor dem du stehst. Lasse dich aber durch den Tarnumhang nicht zur Überheblichkeit verleiten, denn er hat auch einige Tücken aufzuweisen. Wenn dich deine Feinde auch nicht sehen können, wenn sie dich berühren, können sie dich fühlen. Du kannst dich auch leicht verraten, wenn du durch Sand oder auf weichem Boden gehst, denn dort hinterläßt du deine Fußabdrücke, nach denen deine Feinde deinen Standort erkennen können. Sei also nicht leichtsinnig und bilde dir nicht ein, unbesiegbar zu sein.« »Wenn ich selbst unsichtbar bin, kann ich dann aber die anderen sehen?« fragte Dragon. »Das natürlich«, antwortete der Namenlose. »Der Umhang wirkt nur nach einer Seite, deine Sicht behindert er kaum. Und noch etwas: Er schirmt dich nicht nur vor neugierigen Blicken ab, sondern auch vor gewissen übernatürlichen Kräften. Aber dich darüber aufzuklären, würde schon wieder zu weit führen. Die Erfahrung wird dir zeigen, welchen Schutz dir der Umhang gewährt.« Dragon war beeindruckt; er konnte es immer noch nicht recht glauben, daß er dieses wundersame
Gewand besitzen sollte. Er konnte nicht anders, als einen Versuch zu machen und hüllte sich in den Umhang ein. Tatsächlich konnte er durch ihn mühelos hindurchsehen und seine Umgebung wahrnehmen. Als er dachte, der Umhang solle sich so den Gegebenheiten anpassen, daß er unsichtbar werde, erkannte er an den erstaunten Gesichtern seiner Gefährten und an ihren Bemerkungen, daß sie ihn nicht sehen konnten. »Bist du sicher, daß ich würdig bin, den Tarnumhang zu tragen?« wollte Dragon wissen. »Wie kein anderer auf dieser Welt«, antwortete der Namenlose. Dragon betrachtete ihn prüfend und sagte dann: »Würden wir in einer anderen Zeit leben, dann dächtest du vielleicht anders.« »Möglich wäre es. Aber die Vergangenheit oder die Zukunft sind kein Maßstab für diese barbarische Welt.« »Du sprichst, als würdest du Wissen über das Kommende oder das Vergangene besitzen«, meinte Dragon. Als der Namenlose daraufhin schwieg, beschloß er, noch einen Schritt weiterzugehen und vielleicht mehr über diesen geheimnisvollen Fremden zu erfahren, wenn er sich selbst offenbarte. Er fuhr fort: »Ich gehöre selbst nicht in diese Zeit. Meine Welt war eine ganz andere ...« Und er erzählte dem Namenlosen von Atlantis, den Wesen von den Sternen, die auf dieser Insel der
Zivilisation inmitten der Barbarei gelebt hatten, von der Dimensionsbrücke der Balamiter, der darauffolgenden Katastrophe, bei der Atlantis untergegangen war und von seinem zweitausendjährigen Schlaf, aus dem er in einer ihm völlig fremden Welt erwacht war. Als Dragon geendet hatte, sagte der Namenlose: »Du irrst, wenn du glaubst, daß ich dir nun sagen kann, ein Wesen deiner Welt zu sein. Vielleicht gehören wir der gleichen Zeit an, aber uns trennen Räume voneinander – Dimensionen, wenn du willst.« Dragon wich unwillkürlich einen Schritt zurück und sagte mißtrauisch: »Dann könntest du ein Balamiter sein!« »Ich könnte alles mögliche sein«, erwiderte der Namenlose ruhig. »Aber zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Ich habe erkannt, daß du in der Lage bist, auch Unwahrscheinliches geistig zu verarbeiten. Deshalb will ich dir mehr über mich erzählen.« Dragon hielt den Atem an und wartete auf die Erklärungen des Namenlosen. Er brauchte nicht lange zu warten, bis dieser zu erzählen begann. »Ich sagte dir schon, daß ich nicht von dieser Welt stamme, sondern von einer, die in einer anderen Dimension liegt. Meine Heimat heißt auch Erde, wie dieser Planet – und es gibt in anderen Dimensionen noch viele andere Erden, die sich manchmal nur durch
einige Kleinigkeiten voneinander unterscheiden. Manchmal sind die Unterschiede aber auch auffallend. Ich habe auf meiner Heimaterde ein Verbrechen begangen, das ich nun sühnen muß. Deshalb pilgere ich über diese Erde und andere von Leid erfüllte Welten und versuche Gutes zu tun, den Schwachen und den Geknechteten vor dem Starken und Grausamen zu beschützen. Diese Buße werde ich so lange tun, bis meine Schuld getilgt ist und ich auf meine Heimaterde zurückkehren kann.« Dragon hatte der Erzählung des Namenlosen schweigend gelauscht. Er glaubte ihm, doch er konnte sich mit dem Gesagten nicht ganz zufriedengeben, und eine Frage drängte sich ihm auf. »Wenn deine Heimat in einer anderen Dimension liegt, wie war es dir möglich hierher zu gelangen – und wie denkst du dir deine Rückkehr?« »Es gibt überall und auf jeder Erde Weltentore, durch die man von einer Welt auf eine andere in einem anderen Raum überwechseln kann«, antwortete der Namenlose. »Die Tore öffnen sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten und schließen sich dann wieder für einige Zeit. Ein solches Weltentor gibt es auch ganz hier in der Nähe, in einer Senke, die Tal der Stille genannt wird. Ich habe einige Schwache aus diesem Land und viele Bewohner von Alesch dorthin geführt, weil ich nicht wollte, daß sie zusammen mit
den Bösen vernichtet werden. Dieses Tor hat sich beim Untergang von Alesch geöffnet und führt die Menschen auf eine neue Erde und hoffentlich zu einem besseren Leben.« Jetzt verstand Dragon, warum Alesch so ausgestorben gewirkt hatte und warum kein einziger der Bürger sich von den allgemeinen Ausschweifungen abgewendet hatte: Jene, in denen noch ein Funken Menschlichkeit war, hatten die Friedensbotschaft des Namenlosen aufgenommen und waren ihm zu dem Weltentor gefolgt. Plötzlich erwachte in Dragon die Hoffnung, daß Atlantor vielleicht doch nicht in Alesch umgekommen war. Hatte El Habek nicht gesagt, daß die Sklavin Arischa mit dem Königskind verschwunden war? »Hast du auch einige von denen kennengelernt, die dir ins Tal der Stille gefolgt sind?« fragte Dragon aufgeregt. »Hast du sie gesprochen? Ihre Namen erfahren?« »Ja ... Da war Gaunth, ein Zweifler ...« »Und hast du Frauen mit Kindern in den Armen gesehen?« »Es waren vor allem die Mütter, die mir bedenkenlos gefolgt sind«, sagte der Namenlose und nickte. »Ich erinnere mich an eine Sklavin, die mir besonders auffiel. Ich sprach nicht mit ihr, aber ich weiß, daß sie Arischa hieß. Das Neugeborene in ihren
Armen war nicht ihr eigenes Kind, obwohl sie wie eine Mutter zu ihm war. Es handelte sich um ein geraubtes Königskind ...« »Das ist mein Sohn!« rief Dragon aus. »Atlantor!« Der Namenlose schien für einen Moment überrascht, fand aber seine Fassung schnell zurück. »Dann müssen wir sofort ins Tal der Stille«, sagte er entschlossen. »Gebt mir ein Pferd. Wir müssen das Weltentor erreichen, bevor es sich wieder schließt!« Nach Aussage des Namenlosen lag das Tal der Stille etwa einen Tagesmarsch nördlich von Alesch, so daß Dragon hoffen konnte, in weniger als vier Stunden dort einzutreffen, wenn sie durchritten. Der Namenlose hatte die Führung übernommen. Dragon stellte fest, daß er ein guter Reiter war, was ihn überraschte, da ihn bisher noch niemand mit einem Reittier unterwegs gesehen hatte. Er war immer nur als Wanderer aufgetaucht, der zu Fuß unterwegs war. Das wiederum schien darauf hinzuweisen, daß er unter seinem Umhang große Nahrungs- und Wasservorräte mit sich führte – oder aber er war so genügsam wie ein Kamel. Sie ritten schweigend dahin. Der Mond wies ihnen den Weg. Nachdem sie knapp eine Stunde unterwegs waren, zügelte der Namenlose völlig überraschend sein Pferd.
Dragon erkannte den Grund für sein Anhalten erst, als er ihn erreicht hatte: Wenige Schritte vor ihnen lag ein Mann im Wüstensand. Er bewegte sich nicht und lag zusammengekauert da, so als würde er auf diese Weise Schutz vor der Kälte der Nacht suchen. Dragon glaubte schon, daß er tot sei. Doch als er sich ihm zusammen mit dem Namenlosen näherte, stützte er sich auf die Arme and blickte verständnislos um sich. Dragon ging zu seinem Pferd zurück, um den Wasserschlauch zu holen. Als er wieder zu dem Unbekannten kam, kniete der Namenlose neben ihm und stützte ihm den Rücken. »Gun Umbar!« entfuhr es Dragon überrascht, als er nun das Gesicht des Mannes deutlich sehen konnte. Gun Umbar öffnete den Mund, aber nur ein Krächzen kam über seine Lippen. Dragon hielt ihm den Wasserschlauch hin, und Gun Umbar trank das belebende Naß in kleinen Schlucken. Er trank lange und ausgiebig, plötzlich verkrampfte sich sein Körper jedoch, und er begann zu husten. »Genug!« sagte der Namenlose, und Dragon verschloß den Wasserschlauch. »Wie kommt es, daß wir mitten in der Wüste auf dich stoßen, Gun Umbar?« fragte Dragon. Der Pilger starrte ihn an, schien jedoch durch ihn hindurchzublicken.
»Woher kennt Ihr meinen Namen, Unbekannter?« fragte er. »Wir sind uns an der Totenküste begegnet«, erklärte Dragon ihm. »Wir haben dich vom Totenfinger in das Fischerdorf Abbu Manda mitgenommen, nachdem Azael gestorben war. Mein Name ist Dragon. Erinnerst du dich nicht mehr?« Gun Umbar nickte schwach. »Doch ... Ich schloß mich den Pilgern an, die ... die nach Bababo zogen, um dort den Friedensbringer zu treffen. Aber als wir die Oase erreichten, da ... da war er schon wieder fort ... und wir pilgerten ins Tal der Stille. Aber, es ist wie ein Fluch, auch dorthin kamen wir zu spät. Die anderen blieben. Nur ich machte mich wieder auf die Suche ... Doch es scheint, daß ich hier den Tod finden werde, ohne den Friedensbringer gesehen zu haben.« »Warum bist du im Tal der Stille nicht durch das Tor in die andere Welt gegangen?« fragte nun der Namenlose. »Ein Tor in eine andere Welt?« Gun Umbar schüttelte den Kopf. »Ich sah ein solches nicht ... nur viele Menschen, die alle den Friedensbringer geschaut und seine Botschaft vernommen hatten. Nur ich ...« Seine Stimme brach. »Das Weltentor scheint sich also noch nicht geöffnet zu haben«, sagte Dragon aufgeregt, ohne zu bedenken, daß Gun Umbar das Tal der Stille schon vor langer Zeit verlassen haben mußte. Dragon drehte sich um und rief: »Iwa, du wirst mit
zwei Kriegern bei Gun Umbar bleiben und ihn zu heilen versuchen. Wir müssen rasch weiter, um das Weltentor zu erreichen, bevor die Pilger hindurchgegangen sind.« »Zu spät«, sagte der Namenlose und winkte Iwa mit einer Handbewegung zurück. Er wandte sich wieder dem Sterbenden zu. »Würde es dich glücklich machen, den Friedensbringer noch einmal zu sehen?« Gun Umbar klammerte sich mit letzter Kraft an den Umhang des Namenlosen. »Wißt Ihr, wo er zu finden ist?« er seufzte. »Ich möchte ihn nur einmal sehen, berühren, seine Stimme hören ... dann könnte ich in Frieden sterben.« »Du hörst ihn und berührst ihn, Gun Umbar – denn ich bin jener, den man den Friedensbringer nennt«, sagte der Namenlose. »Ist das wahr?« Gun Umbars Augen leuchteten auf, doch dann zeigte sich wieder Enttäuschung auf seinem Gesicht. »Aber ich kann Euch nicht sehen.« »Du wirst mich sehen.« Und der Namenlose lüftete den Umhang vor seinem Gesicht, aber so, daß weder Dragon noch einer der anderen es sehen konnten. Nur Gun Umbar wurde ein Blick auf das gewährt, was hinter der Tarnkappe lag. Mit einem zufriedenen Ausdruck, der verriet, daß er den ewigen Frieden gefunden hatte, starb Gun Umbar,
der Pilger, der erst im Tod an sein Ziel gekommen war. Der Namenlose bettete seinen Körper in den Sand und schwang sich auf sein Pferd. »Ich werde später hierher zurückkehren und ihn bestatten.« »Das ist das Tal der Stille!« Dragon konnte es nicht glauben. Es herrschte zwar Totenstille hier, aber es war keine Menschenseele zu sehen. Von den angeblich tausend Pilgern fehlte jede Spur. Und vor ihnen lag kein Tal, sondern erhob sich ein Hügel, in dessen Mitte ein breiter Spalt klaffte. Im Sand rund um den Hügel waren unzählige Fußabdrücke, und alle führten zu der Öffnung hin. Aber das waren die einzigen Spuren, die darauf hinwiesen, daß hier viele Menschen gewesen waren. Sie waren alle verschwunden. »Wir sind zu spät gekommen«, hörte Dragon den Namenlosen sagen. »Das Weltentor hat sich geöffnet und wieder geschlossen, nachdem die Pilger hindurchgegangen sind. Und es wird für die nächsten zwanzig Jahre geschlossen bleiben.« Dragon wollte das nicht glauben. Er trieb sein Pferd den Hang hinunter und dann den Hügel hinauf zu der Öffnung. Noch bevor es stehengeblieben war, schwang er sich von seinem Rücken und rannte auf das Tor zur
anderen Welt zu. Gerade als er es erreichte, blieb er unwillkürlich stehen. Ein Mann und eine Frau kamen ihm entgegen. »Gehört ihr zu den Pilgern, die der Namenlose aus Alesch hierhergeführt hatte?« fragte er sie. »Ja, wir waren unter den Flüchtlingen aus Alesch«, sagte der Mann. »Mein Name ist Gaunth, und das ist Mainala.« »Laßt mich vorbei«, befahl Dragon und wollte nach vorne stürmen. »Ich muß noch durch das Tor.« Der Mann war kräftig genug, um Dragon am Arm zurückhalten zu können. »Das geht nicht mehr, Fremder«, sagte er. »Das Tor hat sich für die nächsten zwanzig Sommer geschlossen.« Dragon riß sich los und stürzte an Gaunth vorbei. Aber er kam nicht weit. Schon nach fünf Schritten war die Höhle zu Ende, und vor ihm erhob sich eine nackte Felswand. Dragon hieb mit den Fäusten dagegen, bis sie blutig waren, erst dann beruhigte er sich und lehnte sich erschöpft gegen den Fels. »Atlantor«, kam es leise über seine Lippen. »Nun habe ich dich für immer verloren, obgleich du lebst ...« Dragon drehte sich um. »Habt ihr ein Mädchen mit einem Knaben gesehen?« fragte er sie. »Arischa soll sie heißen, und der Knabe in
ihren Armen war ein Königskind.« »Jawohl«, sagte Mainala. »Wir kannten Arischa gut ... Sie war unter den ersten, die durch das Tor gingen.« »Warum seid ihr zurückgeblieben?« sagte Dragon fast anklagend. »Warum habt ihr Arischa nicht zurückgehalten ...?« »Sie wollte mit dem Kind, das sie liebte wie ihr eigenes, ein neues Leben beginnen«, antwortete ihm die Frau. »Wir dagegen konnten uns als einzige nicht dazu entschließen. Wir wollen in dieser Welt weiterleben – wenn sie manchmal auch grausam ist. Aber ...« Dragon hörte nicht mehr, was die Frau sonst noch sagte. Er trat ins Freie und ging zu seinen Gefährten, die von ihren Pferden gestiegen waren und ihm entgegenkamen. Er brauchte ihnen sein Leid nicht zu klagen, sie lasen es ihm vom Gesicht ab. »Können wir uns euch anschließen?« rief Gaunth hinter Dragon nach. Dragon ging weiter – an Nabib, Iwa, Ubali und Hegon vorbei, ohne einen von ihnen anzublicken. Er wollte allein sein. Als er lange dagestanden hatte, den Blick starr in die Wüste gerichtet, tauchte der Namenlose neben ihm auf. »Es schmerzt mich, dich leiden zu sehen, Dragon«, sagte er. »Aber vielleicht ist es dir ein Trost, wenn ich dir sage, daß sich unsere Wege wieder kreuzen
werden. Dann kann ich dir bestimmt helfen.« Dragon wollte noch fragen, wann das sein würde. Doch der Namenlose hatte seinen Tarnumhang bereits der Umgebung angepaßt und war unsichtbar geworden. Dragon sah nur noch die Fußspuren, die nach Süden führten ... ENDE Alesch, die verderbte Stadt, versank – und ein Weltentor tat sich statt dessen auf, durch das alle diejenigen gingen, die auf ein neues, besseres Dasein hofften. Dragon kam zu spät, um seinen kleinen Sohn zurückzuholen, bevor das Weltentor sich unwiderruflich schloß. Unverrichteter Dinge muß er zurückkehren zur Totenküste, wo die myranischen Schiffe auf ihn warten. Doch bevor er die Küste erreicht, kommt es zu einer gefährlichen Begegnung ... Mehr darüber lesen Sie im nächsten DRAGON-Band. Der Roman ist von William Voltz geschrieben und trägt den Titel: HERR DER KRISTALLE