Nach dem Fall der Mauer unternahm Antje Babendererde ausgedehnte Reisen nach Nordamerika und Kanada, unter anderem zu de...
42 downloads
410 Views
782KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nach dem Fall der Mauer unternahm Antje Babendererde ausgedehnte Reisen nach Nordamerika und Kanada, unter anderem zu den Reservationen der Lakota, Navajo, Makah und Cree. „Der Pfahlschnitzer“ ist der erste veröffentlichte Roman von Antje Babendererde. Bereits erschienen ist die Erzählung „Es gibt einen Ort in uns“.
Auf der Suche nach Jim Claplanhoo, dem Vater ihrer kleinen Tochter, kehrt die Deutsche Hanna Schill in die Makah Indianerreservation im Bundesstaat Washington zurück, von wo sie Jim vor fünf Jahren nach Deutschland geholt hatte. Greg Colfax, rettet ihr das Leben. Hanna erfährt, daß Greg und Jim wie Brüder aufwuchsen. Aber auch Greg weiß nichts über Jims Verbleib. Sie beschließen, gemeinsam nach ihm zu suchen. Währenddessen häufen sich seltsame Vorfälle auf der Reservation, die sich alle gegen Fremde und Touristen zu richten scheinen. Außerdem treibt Tsonoqa, die Wilde Frau aus dem Walde, ihr Unwesen in der Gegend. Während Hanna und Greg einander näherkommen, entdecken sie Stück für Stück Jim Claplanhoos wahre Identität. Am Ende offenbart sich ihnen ein furchtbares Geheimnis …
DER PFAHLSCHNITZER
Antje Babendererde, 1963 in Jena geboren, machte Abitur in Gotha. Nach einer Ausbildung zur Töpferin arbeitete sie als Arbeitstherapeutin mit Kindern in der Psychiatrie. Seit 1987 lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Liebengrün, einem kleinen Dorf in Thüringen. Ihre Liebe zu Indianern und indianischen Themen hat Antje Babendererde schon als Kind entdeckt, als sie sich alle Defa-Filme mit Gojko Mitic anschaute – nach Möglichkeit mehrfach. Die Belagerung von Wounded Knee (1973) durch das US-Militär beeindruckte die 10jährige und gab ihr eine Ahnung von der Zerissenheit und Bedrängnis der indianischen Bevölkerung in den USA.
Antje Babendererde
Zur Autorin
DER PFAHLSCHNITZER
DER PFAHLSCHNITZER Antje Babendererde
Auf der Suche nach Jim Claplanhoo, dem Vater ihrer kleinen Tochter, kehrt die Deutsche Hanna Schill in die Makah Indianerreservation im Bundesstaat Washington zurück, von wo sie Jim vor fünf Jahren für den Auftrag eines Völkerkundemuseums nach Deutschland geholt hatte. Nachdem sie in Neah Bay durch ein defektes Geländer von der Steilküste stürzt, rettet ihr ein zufällig anwesender Fischer das Leben. Greg Colfax ist Indianer wie Jim und ebenfalls Pfahlschnitzer. Hanna erfährt, daß Greg und Jim wie Brüder aufwuchsen. Aber auch Greg Colfax weiß nichts über Jims Verbleib. Sie beschließen, gemeinsam nach ihm zu suchen. Währenddessen häufen sich seltsame Vorfälle auf der Reservation, die sich alle gegen Fremde und Touristen zu richten scheinen. Außerdem treibt Tsonoqa, die Wilde Frau aus dem Walde, ihr Unwesen in der Gegend. Während Hanna und Greg einander näherkommen, entdecken sie Stück für Stück Jim Claplanhoos wahre Identität. Am Ende offenbart sich ihnen ein furchtbares Geheimnis …
ROMAN Titelgestaltung: Hannah-Verlag Titelfotos © 1999 Hannah-Verlag und Antje Babendererde Printed in Germany
„Nein“, sagte er, ballte seine Hände zu Fäusten und sah weg. Da wußte sie, daß er die Wahrheit gesagt hatte. *** Lighthouse wandte sich zum Gehen, als er Stimmen hörte. Greg Colfax und die Frau begegneten ihm auf halbem Wege. Greg stellte ihm Hanna vor. Etwas in ihrer Haltung ließ sie größer erscheinen, als sie war. Bill grinste, während er ihr die Hand schüttelte. Ihr Lachen gefiel ihm, denn es öffnete ihr Gesicht. Sie wirkte herzlich und hatte schöne klare Augen. Ihr Haar war von einer so aufregenden, ungewöhnlichen Farbe, daß er sich fragte, ob sie echt war. Lighthouse mochte Hanna sofort. Vor allem wohl, weil er wußte, daß alle anderen hier ihr mißtrauisch gegenübertreten würden. Das Volk der Makah neigte dazu, sich gegenüber den Weißen abzukapseln. Sogar fortschrittlich eingestellte Stammesmitglieder waren Fremden gegenüber nur so freundlich, wie es unbedingt notwendig war. „Danke für den Schlüssel“, sagte Hanna. „Es hat Sie bestimmt Überwindung gekostet, in das kalte Wasser zu steigen.“ Ihre lebhaften Augen musterten ihn. „Sie waren ja auch drin“, meinte er. Hanna lachte ein tiefes, kehliges Lachen, das ihn verblüffte. „Ja, aber ich hatte keine Wahl“, meinte sie. Der Sheriff hielt immer noch ihre Hand, als er sagte: „Ich auch nicht.“ Greg lächelte kopfschüttelnd. „Ist das Geländer wieder okay, Billy?“ Lighthouse ließ Hanna los und setzte seine Polizistenmiene auf. Ernst und gewichtig. „Alles wieder fest. War heute morgen punkt 6 Uhr hier draußen und habe alles überprüft. Das ist bereits mein zweiter Rundgang.“ Hanna sah Greg fragend an. 65
Er sagte: „Es ist ziemlich sicher, daß das Geländer absichtlich beschädigt wurde. Deshalb wird Bill es jetzt täglich überprüfen, damit, wer immer das auch gewesen sein mag, derjenige nicht auf die Idee kommt, das Ganze nochmal zu versuchen.“ „Aber wieso sollte jemand absichtlich Menschen in Gefahr bringen, die er überhaupt nicht kennt?“ fragte Hanna, zutiefst verunsichert. „Eben aus diesem Grund“, antwortete Lighthouse. „Weil er sie nicht kennt. Ein paar unter uns glauben, daß alles Fremde sich nur negativ auf unser Volk und unsere Traditionen auswirken wird, so wie es in der Vergangenheit der Fall war. ‚Road block‘ ist der Name für die Leute, die den Fortschritt nicht auf die Reservation lassen wollen. Wie es scheint, gibt es sogar einige unter ihnen, die den Tod Unschuldiger in Kauf nehmen würden, um ihre Interessen durchzusetzen. Aber so kommen wir nicht weiter“, meinte er. „Wir sollten lernen, uns manchen Dingen anzupassen, statt gegen sie anzukämpfen.“ Bill warf einen verstohlenen Seitenblick auf Greg. Der wunderte sich, was der Sheriff plötzlich für Reden halten konnte. Vielleicht sollte er sich doch mal mit Lighthouse zusammensetzen und über ein paar Dinge sprechen. Bill Lighthouse blickte mit einem Mal unglücklich drein. „Greg hat uns versichert, daß Sie keine große Sache daraus machen würden, Miss Schill.“ „Werd ich auch nicht“, brummte Hanna, mit einem Seitenblick auf Greg. „Solange Sie hier gewissenhaft Ihren Job tun, und der Sache weiterhin nachgegangen wird.“ „Das wird es“, versicherte Lighthouse, „ich kümmere mich persönlich drum.“ Und was er sagte, das meinte er auch so. Sie verabschiedeten sich und Greg und Hanna liefen zum 66
Kap hinunter, während der Sheriff wieder zu seinem Streifenwagen hinaufkletterte. „Ist er ein guter Polizist?“ fragte sie. „Ich weiß nicht“, meinte Greg. „In dem einen Jahr, seit er von der Polizeischule zurück ist, ist hier in Neah Bay nicht viel passiert. In JJ’s Pizza ist jemand eingebrochen und hat die Ladenkasse geklaut. Der Fall konnte nicht gelöst werden, aber es waren auch bloß 52 Dollar und 20 Cent in der Kasse gewesen. Jemand hat ein Leck in Henry Wispoos Boot geschlagen, es war sein Erzfeind Luther Yokum, das wußte das ganze Dorf. Und ein paar Jugendliche haben vor Helmas Motel allen Wagen die Reifen zerstochen. Na ja“, Greg sann nach, „Mehr ist nicht passiert. Aber ich glaube trotzdem, daß Bill Lighthouse ein guter Polizist ist. Auf jeden Fall ist er ein guter Mensch. Ich mag ihn.“ Ein älteres Ehepaar, Amerikaner, kam ihnen entgegen und die kleine Frau mit sorgfältig gewickelten Haaren stürzte auf Greg zu und sagte: „Junger Mann, Sie stammen doch sicher von hier! Können Sie mir sagen, was das für große, schwarze Vögel sind, die auf diesem Felsen am Steilufer ihr Nest haben? Die mit den dicken, orangen Füßen und den orangen Schnäbeln.“ Großer Gott, dachte Hanna, als ob jeder Indianer aus Neah Bay sämtliche Vogelnester der Umgegend persönlich kennen müßte. Manche Menschen hatten schon eigenartige Vorstellungen. Die alte Lady sah Greg an, als würde er ihr jeden Moment einen großen Lottogewinn bestätigen. Er antwortete freundlich: „Das sind Tufted Puffins, Ma’am, Papageientaucher. Die sind ziemlich selten.“ Freudig erregt schlug die alte Dame ihrem Gatten den Handrücken vor die Brust. Ihre Augen leuchteten. „Hab ich’s dir nicht gesagt, Arthur! Papageientaucher, ich wußte es. Vielen Dank, junger Mann, Sie haben uns sehr geholfen.“ „Gern geschehen“, erwiderte Greg schmunzelnd. „Tufted Puffins“, murmelte Hanna kopfschüttelnd. 67
Er führte sie zu der Stelle, von wo aus sie das Nest der Vögel sehen konnte. Die gelben Füße der Papageientaucher glichen Entenfüßen. Der Schnabel erinnerte an den eines Papageis – daher hatte der Vogel auch seinen Namen – und über den Augen zog sich durch das schwarze, glatte Gefieder jeweils ein weißer Schweif. „Sie sehen wirklich beeindruckend aus“, gab Hanna zu, „irgendwie exotisch. Solche Vögel hätte ich hier nicht vermutet.“ „An unseren Stränden, den Felsen der Steilküste und auf den beiden Inseln, kann man über zweihundert verschiedene Vogelarten finden. Das treibt Ornithologen aus allen Ekken der Welt in unsere Reservation. Und es ist ein großer Irrtum, wenn jemand glaubt, daß er diese Leute auf irgendeine Art fernhalten könnte.“ Sie waren an jener Stelle angelangt, an der Hanna durch das Geländer gebrochen war. In gebührendem Abstand blieb sie stehen. Greg testete die Festigkeit der Hölzer. Das Geländer war so stabil, daß es sich nicht einen Millimeter bewegte. Er dachte, daß derjenige, der es präpariert hatte, sich sehr gut mit Holz auskennen mußte. Er hatte sich die Bruchstücke des Geländers, die er aus dem Meer gefischt hatte, sehr genau angesehen. Das Geländer hatte erst nach einer Weile, aber dann sehr plötzlich nachgegeben. Ihm war klar, daß derjenige mit ziemlicher Sicherheit aus dem Dorf stammte, und daß er ihn kannte – möglicherweise sogar gut. Dieser Gedanke gefiel ihm überhaupt nicht. „Gehen wir!“ sagte er. „Hier ist alles wieder in Ordnung.“ Sie standen oben auf dem Parkplatz und Verlegenheit machte sich breit. Hanna scharrte mit ihren Schuhen Löcher in den Kies. „Ich weiß nicht, wo ich mit meiner Suche nach Jim beginnen soll“, sagte sie. „Wo, wenn nicht bei dir? Du hast mit ihm zusammengelebt, also mußt du ihn auch gut gekannt haben.“ 68
„Ich kannte nur einen Teil von ihm“, entgegnete er. „Und du einen anderen. Vielleicht sollten wir es zusammen versuchen.“ Überrascht sah sie auf. „Ich werde versuchen, dir zu helfen“, meinte er entschlossen. „Jims Tochter zuliebe.“ Hanna nickte. So wußte sie wenigstens, woran sie war. „Aber zuerst muß ich noch ein paar Dinge erledigen“, sagte er beiläufig. „Das Museum hat mir einen Auftrag für einen Totempfahl vermittelt. In einer halben Stunde soll ich die Leute dort treffen.“ „Ich komme mit ins Museum“, sagte Hanna. „Das heißt, nur wenn du nichts dagegen hast, daß ich dich begleite.“ Greg Colfax hatte nichts dagegen. Hanna folgte mit ihrem Chevy Gregs Pickup. Sie mußten Neah Bay durchqueren, das langgezogen an einer großen Bucht lag. Die Holzhäuser des Ortes lagen verstreut, manche hatte der Seewind mit einer silbernen Patina versehen, einige leuchteten in einem frischen Anstrich. Vor der Markthalle, einem großen, flachen Gebäude in der Mitte des Ortes, standen zwei bunt bemalte Totempfähle. Die großzügige Verwendung von geometrischen Elementen, angeordnet in Reihen und Bändern, war typisch für die Pfähle der Makah. Aber Jim hatte diese beiden Pfähle nicht gemacht. Er war ein Pfahlschnitzer, der sparsam mit Farbe umging. Bei diesen beiden Pfählen schimmerte kaum noch ein Stück Holz durch. Greg hielt auf dem asphaltierten Parkplatz des Makah Kultur- und Forschungszentrums am Eingang des Ortes. Dort, am Rande eines üppigen Waldes, stand auch das flache Museumsgebäude mit dem silbrigen Holzschindeldach. Das Gelände wirkte durch die große Fläche kurzgeschnittenen Rasens sehr gepflegt. Während Greg mit seinen neuen Auftraggebern, einem weißen Ehepaar mittleren Alters verhandelte, sah Hanna 69
sich in den erweiterten Museumsräumen um. Das Makah Kultur- und Forschungszentrum war 1979 für die stolze Summe von 2 Millionen Dollar erbaut worden, nachdem 1970 ein Seebeben ein fünfhundert Jahre altes Walfangdorf am Lake Ozette freigelegt hatte. Tausende gut erhaltene Teile von Gebrauchsgegenständen – Werkzeuge, Schmuck und Kleidung – waren, gut konserviert, dort ausgegraben worden. Genug, um damit ein eigenes, einzigartiges Museum auszustatten, auf das der Stamm der Makah sehr stolz war. Seither war das Makah-Museum von Touristen gut besucht, vor allem, weil es bekannt dafür war, daß man hier wertvolle Stücke indianischer Kunst erwerben konnte. Die Makah waren – wie alle Nordwestküstenindianer – vor allem Holzschnitzer und Korbflechter. Ihre Körbe aus Rindenbast, Binsen oder Wurzelfaser waren teilweise so kunstvoll und dicht geflochten, daß die Frauen früher in ihnen kochen konnten. Aber es gab auch Halsschmuck und Ohrgehänge aus gehämmerten Silbermünzen. Und verzierte Armreifen aus Kupfer oder Silber, die von großem Wert waren. Hanna wagte kaum zu atmen. Die Schönheit alter Dinge faszinierte sie seit ihrer Kindheit. Wo andere in diesem Alter sich längst tödlich gelangweilt hätten, starrte sie immer noch voller Begeisterung in Vitrinen, die mit rostigen Eisenteilen, brüchigen Lederstücken, Knochen oder Holzwerkzeugen gefüllt waren. Relikte längst vergangener Zeiten. Für sie waren diese Stücke kein totes Material, sondern Zeugen der lebendigen Vergangenheit fremder Völker, die auch nach tausenden von Jahren noch deren Geschichte zu erzählen vermochten. Seit fast acht Jahren arbeitete sie nun schon am Völkerkundemuseum und war seitdem für die wechselnden Ausstellungen verantwortlich. Immer wenn sie eine neue Ausstellung aufbaute, und ein uraltes Exponat in Händen 70
hielt, durchströmte sie das herrliche Gefühl, an etwas Vergangenem teilhaben zu können. Aber in den letzten Jahren waren ihr Zweifel gekommen. Rückgabeersuchen indianischer, australischer und afrikanischer Ureinwohner flatterten den Museen ins Haus. Handelte es sich nachweislich um Kultgegenstände, wurde den Forderungen meist nachgegeben. Zwar handelte es sich bei den meisten Stücken, die in europäischen Museen ausgestellt wurden, um Händlerwaren, die somit das Prädikat ‚unbedenklich‘ erhielten. Aber hin und wieder gab es da auch ein wertvolles Stück, dessen Herkunft nicht hundertprozentig geklärt war. Hanna hielt es für besser, wenn diese Stücke dorthin zurückkehrten, wo sie ein Teil der Geschichte waren. Gehörten die Zeugnisse der Vergangenheit nicht jenen Menschen, deren Vorfahren sie geschaffen hatten, und die dadurch eine innere Bindung dazu hatten? Hanna schluckte, denn sie war diesmal schließlich nicht dienstlich hier, sondern als Touristin. Mit großem Interesse betrachtete sie jene Stücke, die hinzugekommen waren, seit sie das letztemal hiergewesen war. Vor allem fiel ihr eine Wolfsmaske auf, deren Muschelzähne und Spiegelaugen ihr im Dämmerdunkel der Museumsräume wie eine Drohung entgegenblinkten. Hili-kub nannten die Makah dieses Ungeheuer aus Zedernholz. Schwarz, weiß und rot bemalt, und mit einer Mähne aus schwarzem Pferdehaar bestückt. Ganz sicher war sich der Schöpfer der Maske ihrer unheimlichen Ausstrahlung bewußt gewesen. Die Spiegelaugen wirkten lebendig. Gleich würden die Zähne nach ihr schnappen. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Urplötzlich verspürte sie den starken Drang, frische Luft zu atmen. Die Museumsräume waren teilweise ohne Fenster, und absichtlich in einem diffusen Dämmerdunkel gehalten. Das auf Tonband aufgenommene Brüllen der Seelöwen, der Gesang von Männerstimmen, und das gleichmäßige Rauschen 71
des Ozeans zerrte an ihren Nerven. Sie stürzte ins Freie, taumelte ein Stück über den gepflegten Rasen und lehnte sich an einen der geschnitzen Pfähle, die das Museumsschild trugen. Fast automatisch suchten ihre Finger nach den eingekerbten Initialen im verwitterten Holz. J. C. Da waren sie. Ohne daß sie es wollte, schossen Tränen aus ihren Augen, die sie lange mit großer Kraftanstrengung zurückgehalten hatte. Sie weinte bitterlich. Überall begegneten ihr Jims Arbeiten, aber von ihm selbst gab es keine Spur. Alles, was sie fühlte, war Leere, und eine dunkle, unbestimmbare Sehnsucht. „Alles in Ordnung mit dir?“ hörte sie Gregs rauhe Stimme. Hastig wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. „Ja“, sagte sie, „es ist nur …“ Greg ließ jetzt ebenfalls seine beiden Handflächen langsam über das Relief des Stammes gleiten. „Jim hatte goldene Hände. Er verstand es, den Figuren Ausdruck zu verleihen wie kein anderer. Wäre er noch hier, ich wäre arbeitslos.“ „Hast du ihn um sein Können beneidet, Greg?“ wollte sie wissen. Der Indianer schüttelte den Kopf. Er lächelte nicht. „Nein, ich bewunderte ihn. Ich liebte ihn, so wie du. Liebe ist nicht Neid.“ Er schwieg eine Weile, dann sagte er: „Als Jim noch da war, konnte ich ihn bewundern und dabei der sein, der ich bin. Seit er weg ist, bin ich wütend auf ihn, weil mein Vater von mir erwartet, daß ich so bin wie er.“ Er blickte zur Seite, erschrocken über seine Offenheit. Manchmal schien ihm alles verloren, so wie in diesem Augenblick. Trotzdem mußte er versuchen, alles zu retten, weil er wollte, daß sein Volk weiterlebte. Und weil er selbst weiterleben wollte. Greg lief zum Parkplatz und kletterte in seinen Pickup. Hanna sollte ihm in ihrem Chevy folgen. Sie fuhren die breite Küstenstraße entlang, vorbei am größeren der beiden klei72
nen Häfen, in denen Fischerboote und einzelne Segelschiffe ankerten. Der Hafen lag geschützt in einer Bucht, die begrenzt war durch den schmalen Landweg zur Insel Waadah. Waadah Island – bewaldet und unbewohnt – war für Touristen nicht zugänglich und wurde von den Einheimischen zur Muschelsuche genutzt. An der Tankstelle vor dem Hafen tankte Greg den Pickup voll und Hanna ihren Leihwagen. Verblüfft registrierte sie, wie teuer hier das Benzin war. Draußen im Hafen, gebaut auf Pfählen und erreichbar durch einen langen Steg, stand die Fischfabrik. Ein blauer, windschiefer Holzkasten, vor dem sich kleine und größere Fischerboote drängelten, die ihren Fang loswerden wollten. Hanna hätte noch eine Weile so stehen und dem Treiben zusehen können, aber Greg drängte zur Weiterfahrt. Hinter dem Ort bog er auf die Arrowhead Road, die kürzeste Verbindung zwischen den beiden großen Buchten der Reservation. Neah Bay im Nordosten, am Eingang der Straße von Juan de Fuca gelegen, der natürlichen Grenze zwischen diesem Teil Washingtons und Vancouver Island, das bereits zu Kanada gehörte. Und Makah Bay, im Südwesten der Reservation, in der die beiden Strände Hobuck Beach und Sooes Beach lagen. Hobuck Beach war nach einem Beschluß des Stammesrates seit einigen Jahren für die Öffentlichkeit zugänglich. An der Mündung des Waatch River in den Pazifik gab es sogar einen kleinen Campingplatz. Er war im Sommer stets gut besucht, obwohl das Wetter auf der Olympic Halbinsel vom Meer und den Bergen bestimmt wurde, was häufigen Regen bedeutete. Im Westen der Pazifik und im Osten die gemäßigten Regenwälder am Fuße des Olympic Range, der die Regenwolken aufhielt und sie dort abregnen ließ, bevor sie den Pudget Sound im Osten erreichten. Sooes Beach hingegen, der Strand, den Matthew Colfax 73
sich erwählt hatte, um für seinen Sohn und sich ein neues Haus zu bauen, gehörte den Makah allein. Fremde hatten dort keinen Zutritt. Greg blinkte und hielt am Straßenrand, Hanna wartete hinter ihm. Er stieg aus und kam zu ihrem Wagen gelaufen. Sie ließ die Scheibe herunter und er beugte sich hinein. „Stell den Chevy dort vorn an der Einmündung des Waldweges ab. Was jetzt kommt, ist für Stadtautos ungeeignet.“ Sie tat, was er sagte. In den Leihwagenpapieren stand, daß es nicht erlaubt war, mit dem Fahrzeug unbefestigte Straßen zu fahren. Manchmal war ihr nichts anderes übriggeblieben, aber sie mußte es schließlich nicht übertreiben. Sie stellte den Wagen ab und kletterte zu Greg in den Pickup. Hier gab es nichts, womit sie sich anschnallen konnte. Also klammerte sie sich am Armaturenbrett fest. Der Indianer fuhr langsam und wich Schlaglöchern und Wurzeln geschickt aus. Trotzdem wurde sie auf dem Beifahrersitz hin und hergeschleudert wie bei einem Geländerennen. „Wohin fahren wir?“ fragte sie zaghaft. „Ich habe diesen Auftrag“, antwortete er, „und nun brauche ich einen Baum. Wenn ich einen gefunden habe, dann muß ich mir im Stammesrat die Erlaubnis holen, daß ich ihn fällen darf. Auf unserem Land wirst du keine Kahlschläge entdecken. Wir Makah haben eine andere Vorstellung von Forstwirtschaft, als das übrige Amerika. Aus diesem Wald hier darf nur Holz geholt werden, das später für traditionelle Bauten oder Schnitzereien verwendet wird.“ Nach ungefähr einer Viertelstunde Schaukelei endete der Weg in einem üppig grünen Dickicht. „Endstation“, verkündete Greg. „Jetzt wird gelaufen.“ Hanna hatte nichts gegen Laufen als Sache an sich, aber sie fragte sich, welche Richtung Greg wohl einschlagen würde. Der Wald schien undurchdringlich. Hier wuchsen riesige 74
Rotzedern, gewaltige Sitka Tannen, Douglas Fichten und vereinzelt Hemlock Tannen. Ihre Wipfel schienen bis in den Himmel zu reichen. Ihre Stämme waren von gewaltigem Ausmaß. Umgestürzte Bäume waren liegengeblieben, wie Knochen, die Erde noch nicht aufgezehrt hat, und neue Stämme gruben ihre Wurzeln in das verrottende Holz. Dichtes Unterholz, üppige Farne und Laubsträucher, hatten den Wald scheinbar unzugänglich gemacht. Aber Greg kannte seinen Weg. Wie von Geisterhand tat sich ein Pfad auf, das Laub wich zurück und sie konnten bequem laufen. Junkos – winzige Vogelkörper mit schwarzgrau-weißem Gefieder – hüpften durch das Geäst der Sträucher. Ein patriotisches Eichhörnchen bewarf sie von oben mit kleinen Zapfen. Spinnweben berührten ihr Gesicht – weich wie Seide. „Wir müssen ein Stück ins Innere des Waldes“, erklärte ihr Greg, „weil die Dichte der Bäume dort verhindert hat, daß niedrige Äste am Stamm wachsen. Ich brauche einen möglichst glatten Stamm.“ Greg Colfax schien jeden Baum hier auf dem Berg persönlich zu kennen. Er schlich um die gerade gewachsenen Zedern herum, betastete die Längsrissen der Rinde, und prüfte die Tauglichkeit des Baumes in Höhe und Umfang. Hanna beobachtete ihn schweigend. Manchmal näherte er sich dem Stamm so sehr mit seinem Gesicht, daß seine Lippen beinahe die rissige Rinde berührten. Als ob er dem Baum etwas zuflüsterte und ihm ein Versprechen gab. Als ob er um dessen Einwilligung bat, ihn fällen zu dürfen, um einen Totempfahl daraus zu schnitzen. Hanna spürte eine Welle von Zuneigung in sich aufsteigen, die alles umfaßte, was hierher gehörte. Das Meer, mit seinem Wechsel der Gezeiten und den Stürmen, die manchmal damit einhergingen. Die Wälder, mit ihren uralten Bäumen und den Geheimnissen, von denen sie zu erzählen wußten. Die Menschen, die hier seit Jahrhunderten lebten, 75
mit ihren Traditionen und ihren Geistern. Und natürlich Greg, der ein Teil von allem war. Wissend um die Dinge der Vergangenheit, und bewandert in allem, was mit der Gegenwart und ihrer nüchternen Realität zu tun hatte. Für einen Moment lebte sie in dem neugewonnenen Vertrauen, das er ihr zeigte. Als sein Blick ihr begegnete, wendete sie sich ab. Ihre Wünsche und Sehnsüchte wurden durch seinen erstaunten Blick entkräftet und verworfen. Auf keinen Fall durfte er spüren, was in ihr vorging. Sie war nicht hier, um erneut in Gefühle verstrickt zu werden, die keine Erfüllung finden konnten. Sie wollte nicht lieben. Greg Colfax duldete sie nur, vielleicht wegen Ola, vielleicht auch aus Gründen, von denen sie keine Ahnung hatte. Sie würde ihre Chance, mit seiner Hilfe Jim zu finden, auf keinen Fall gefährden. „Der Stamm dieser Zeder soll es sein“, sagte er zufrieden. „Er ist genau richtig.“ Er legte seinen Kopf gegen den Stamm. „Hörst du sein Lachen?“ „Sein Lachen?“ Greg stützte sich vom Baum ab und nickte. „Ja, jeder Baum ist wie ein menschliches Lebewesen und hat eine eigene Persönlichkeit. Dieser Baum lacht.“ „Eine eigene Persönlichkeit?“ fragte sie skeptisch. „Ja. Diese Zeder hier ist sehr alt, vielleicht dreihundert oder vierhundert Jahre. Sie ist würdig, den Menschen ihre Geschichte zu erzählen.“ „Ich verstehe“, meinte Hanna. „Deshalb hat Jim so vehement darauf bestanden, daß er für seinen Pfahl eine Rotzeder zur Verfügung hatte. Sie mußte von Kanada eingeflogen werden, was dem Museum nicht unerhebliche Kosten bereitete.“ „Jim hätte nie einen Pfahl aus anderem Holz geschnitzt“, sagte Greg. „Zedernholz bietet eine Menge Vorteile. Das wußten unsere Leute schon früher zu nutzen und sie tun es noch heute. Die Langhäuser unserer Vorfahren bestanden 76
aus Zedernholzplanken, weil sie eine bessere Isolierung boten als alle anderen Holzarten. Die Zellwände des Zedernholzes sind sehr dünn, die Zwischenräume dafür groß.“ Greg wickelte ein rotes Plastikband mit seinem Namen um den Stamm der Zeder und verknotete es. „Aber auch zum Schnitzen ist Zedernholz am besten geeignet. Es läßt sich leicht und gerade spalten und es verzieht sich nicht. Außerdem hat der Stamm sein eigenes Holzschutzmittel schon ins sich. Toxische Substanzen in den Zellen bewahren ihn vor Insektenbefall und Verrottung.“ Hanna betrachtete den riesigen Baum, der im Schutz der Gemeinschaft der anderen stand, und fragte sich, wie Greg ihn dorthin bringen würde, wo er ihn bearbeiten konnte. „Und was passiert jetzt weiter?“ wollte sie wissen. „Ich werde bei der Stammesverwaltung vorbeifahren und ihnen beschreiben, wo der Baum steht. Wenn ich Glück habe, dann wird er heute noch gefällt und ich kann ihn morgen rausholen lassen. Ich hoffe es klappt, denn ich habe ihm bereits ein Versprechen gegeben.“ Was Greg Colfax redete, faszinierte Hanna. Und es machte ihr Angst, weil sie es nicht verstand. Ihr wurde klar, daß er jetzt zwar hier, mit ihr in diesem Wald war, aber daß es für ihn auch eine andere Welt gab. Eine Welt, die ihr immer verschlossen bleiben würde, weil Verständnis allein nicht ausreichte, um ein Leben mit Gegenwärtigkeiten zu führen, die man nicht sehen konnte. Als sie zurückgingen, entdeckte sie, daß einige alte Bäume Löcher im Stamm hatten, die nicht von Tieren stammen konnten. Sie waren von zu gleichmäßiger Größe und alle ungefähr in Augenhöhe. „Was sind das für Löcher?“ fragte sie. Colfax glitt mit seinen Händen über die Rinde einer mächtigen Zeder und berührte das Loch. „Unsere Vorfahren bohrten sie. Wenn sie sich einen Stamm ausgewählt hatten, 77
aus dem sie ein Kanu bauen wollten, dann bohrten sie den Stamm zuvor an. Auf diese Weise konnten sie feststellen, ob er im Inneren nicht morsch war.“ „So alt sind diese Löcher?“ meinte sie ehrfürchtig. Er lachte über ihr Gesicht. „Ja, mächtig alte Löcher.“ Hanna fuhr zum Sooes Beach zurück und wartete am Strand auf Greg. In der Ferne entdeckte sie Muschelsucher, die auf der Suche nach Venusmuscheln mit ihren Stöcken im Sand stocherten. Es waren Frauen, die mit geflochtenen Körben unterwegs waren. Das Meer war weit zurückgewichen und die Klippen vor der Küste ragten hoch auf. Möwen kreisten über dem flachen Wasser und stießen urplötzlich herab, um sich kleine Fische oder Krabben zu holen, die sie dann auf den Klippen verspeisten. Dunkle Wolken verdeckten den Himmel und kündigten Regen an. Mit einem Stock malte Hanna Silben in den feuchten Sand. Der Wind strich über sie hinweg und formte Worte in einer fremden Sprache daraus. Sie dachte an jenen Tag zurück, als Jim und sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Mit einer merkwürdigen Selbstsicherheit hatte er sie ausgezogen und berührt, als wäre sie ein Stück Holz, das zum Leben erweckt werden müsse. Und das war schließlich etwas, was er perfekt konnte. Sie sprachen dabei kein Wort, was sich auch später nie änderte. Als ob das Schweigen die einzige Sprache war, in der Jim sich offenbaren konnte. Manchmal, da war es, als mache sich das Schweigen bereit zum Angriff und würde Wahrheit und Verzweiflung mit sich bringen. Aber es war nie geschehen. Jim war zurück nach Seattle geflogen und hatte die Vergangenheit, die tief in seinem Inneren verborgen war, mit sich genommen. Als sie nichts mehr von ihm hörte, hatte sie sich einer langen, quälenden Selbstbefragung ausgesetzt. Und die letzte Frage lautete immer: Was habe ich falsch gemacht? 78
Jim, der ihr Leben ausgefüllt hatte, war verschwunden. Der Wahnsinn des Hinnehmens lähmte sie. Manchmal war es so: Man nahm Dinge, die einen quälten, einfach hin, weil man tief im Inneren wußte, daß man nicht in der Lage war, sie zu ändern. Als Greg an den Strand kam und sich neben sie setzte, fragte sie: „Was kann ich tun, um Jim zu finden? Wen kann ich fragen, wer kannte ihn gut?“ Sie war unbeirrbar. „Außer meinem Vater und mir gibt es kaum jemanden, der Jim wirklich gut kannte. Vielleicht noch die alte Gertrude Allabush, aber sonst …“ Greg starrte aufs Meer. „Er redete ja nie viel. Meistens arbeitete er wie ein Besessener.“ Er wiederholt sich, dachte sie. Er will dir gar nicht helfen. Sie fragte: „Hat er nie versucht, seine Verwandten in Kanada zu besuchen?“ „Er sagte, er hätte keine. Aber später, als er erwachsen war und bereits ein anerkannter Chah-la-bush, ein Holzschnitzer war, da verschwand er manchmal tagelang und keiner wußte, wohin. Dann tauchte er plötzlich wieder auf, brachte Geschenke mit für meinen Vater und mich, und neue Aufträge.“ Es begann zu regnen und Greg stand auf, um zum Haus zurückzulaufen. Es fiel ihr auf, daß er kaum noch humpelte. „Damals stellte ich keine Fragen“, sagte er, „weil ich wußte, daß Jim das nicht wollte. Aber ich bin ziemlich sicher, daß er manchmal drüben auf Vancouver Island war und seine Leute besuchte. Hat er dir wirklich nie etwas von seiner Mutter oder seinem richtigen Vater erzählt“. Sie preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. „Es war, als hätte er nie Mutter oder Vater gehabt. Den Namen seiner Mutter erfuhr ich nur durch Zufall. Er redete im Traum und ich fragte ihn aus. Irgendwann hörte ich auf, ihn zu drängen, denn er haßte Fragen. Manchmal redete er tagelang überhaupt nicht. Dann war es, als wäre ich mit einem Gespenst zusammen. Es gab Zeiten, da 79
fürchtete ich, meine Freunde könnten recht haben.“ „Recht womit?“ „Daß Jim verrückt war.“ Greg sah sie an und fragte sich, wie man sich in einen Menschen verlieben konnte, der nichts von sich preisgab. „Ich verstehe es nicht“, sagte er. „Was verstehst du nicht?“ „Wie konntest du ihn lieben, wenn du nichts von ihm wußtest? Umfaßt Liebe nicht den ganzen Menschen?“ „O“, meinte sie, „ich liebte den ganzen Menschen.“ Sie blieb stehen. „Ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst, aber ich wollte ihn. Seit mein Interesse für Männer geweckt war, fühlte ich mich zu denen hingezogen, die verletzt worden waren. Ich wollte Jim, verstehst du. Und sein Schweigen war der Preis dafür, daß ich ihn bekam.“ So war es wohl immer wieder: Menschen ließen sich auf zerstörerische Beziehungen ein und trugen schwer an der Verantwortung. Was Hanna da sagte, erregte Greg. Und weil es nach langer Zeit das erste Mal war, daß ihn eine Frau auf diese Weise erregte, fühlte er sich einen Augenblick verunsichert. „Ich muß nach Vancouver Island“, verkündete Hanna plötzlich entschlossen. „Du gibst nicht so schnell auf, was?“ Greg schüttelte den Kopf. „Ihr Europäer seid sehr ungeduldige Menschen. Aber hier laufen die Dinge nicht nach der Zeiteinteilung der Weißen. Unser Rhythmus wird vom Meer bestimmt.“ „Aber ich habe nur noch drei Wochen und drei Tage, dann muß ich zurück. Ola ist bei meinen Eltern. Länger wollte ich sie auf keinen Fall allein lassen. Jetzt ist sie der wichtigste Mensch in meinem Leben.“ Er versuchte sich vorzustellen, wie sie als Mutter war, aber das Bild vor seinen Augen verschwamm immer wieder. Sie waren auf der Veranda angekommen, Greg öffnete die Tür und machte eine Geste, die Hanna hinein bat. Aber sie schüt80
telte den Kopf. „Ich will dich nicht stören. Ich nehme an, du hast zu arbeiten. Entwürfe machen, für den Pfahl und so.“ „Du störst mich nicht.“ Seine Augen umfingen sie mit einer warmen, rätselhaften Dunkelheit, die wie ein Sog wirkte. Hanna folgte ihm nach drinnen und sah schweigend dabei zu, wie er Wasser im Kessel heiß machte und Teeblätter überbrühte. „Wie weit ist es nach Vancouver Island?“ fragte sie schließlich. „Die Fähren gehen von Port Angeles aus. Man ist schnell drüben. Aber wo willst du anfangen zu suchen?“ „Irgendwas wird mir schon einfallen“, meinte sie. Typisch weiß, dachte er. Von nichts eine Ahnung, Hauptsache erstmal losmarschieren. Aber auf seltsame Weise rührte ihn ihre Starrköpfigkeit. Wenn alle Menschen ihr Ziel so entschlossen verfolgten, würden viel mehr es am Ende auch erreichen. „Es gibt nicht mehr viele Nootka Dörfer auf Vancouver Island“, sagte er, „und alle liegen direkt an der Küste.“ „Na das ist doch schon was“, rief sie freudig. „Ich kann sie nacheinander absuchen. Ich nehme an, Claplanhoo ist kein gewöhnlicher Name.“ „Vielleicht nicht“, räumte er ein, „aber allein wirst du bei den Nootka kaum etwas ausrichten können. Es sind wortkarge Menschen, die meisten von ihnen leben auf kleinen Inseln. Glaubst du wirklich, du wirst Jim finden, wenn er nicht gefunden werden will?“ Hanna blickte abwesend. Diesen Gedanken hatte sie immer weit von sich geschoben. Greg sah nachdenklich aus dem Fenster. „Irgendwann muß jeder seine Wahl treffen. Und Jim hat seine Wahl getroffen. Selbst wenn du ihn findest, wird er sein selbstgewähltes Leben nicht mehr verändern.“ Er wandte sich ihr zu. „Wir werden zusammen dorthin fahren“, meinte er versöhn81
lich. „Aber ich sage, wann es soweit sein wird.“ Hanna wollte etwas erwidern, aber sie ließ es sein, als sie den entschlossenen Ausdruck in Gregs Gesicht sah. Er hatte recht: Ohne ihn würde sie nicht weit kommen. Er war das Bindeglied zu Jims Vergangenheit und er wartete noch auf irgendetwas. Aber auf was?
82
4. Kapitel Grace Allabush pflückte die ersten reifen Salmonbeeren in ihren kleinen Eimer. Ihr Freund hatte sie mit seinem Wagen in den Wald mitgenommen. Es war Joey Hunter, der siebzehnjährige Neffe des Polizeichefs. Er lernte an der Highschool und war ein gutaussehender Junge mit beinahe aristokratisch geschnittenen Gesichtszügen. Sein Haar trug er lang, wie die meisten jungen Männer in Neah Bay. Tradition war wieder angesagt unter den jungen Leuten. Zumindest, wenn es keine Mühe machte. Aber Joey hatte auch noch andere Qualitäten. Grace hatte ihn lange beobachtet und sich unauffällig über ihn erkundigt, bevor sie einem ersten Rendezvous zugesagt hatte. Joey hielt sich von Alkohol und Drogen fern. Er war intelligent und humorvoll. Sie hatte sich ein paarmal mit ihm getroffen. Darunter war ein Kinobesuch, ein Mittagessen bei McDonalds und ein Tanzabend im Gemeindesaal der Ozette Reservation gewesen. Joey hatte sich ihr gegenüber jedesmal tadellos verhalten, ohne sie jedoch daran zweifeln zu lassen, daß er es ernst mit ihr meinte. Und mit ihren fünfzehn Jahren wußte Grace sehr genau, was sie wollte. Sie wollte Joey, und zwar ganz. Aus verengten Augenwinkeln heraus beobachtete sie ihn, wie er Samen von hohen Grashalmen streifte, während er nach geeigneten Holzstücken für seine kleinen Schnitzereien suchte. Sie besaß schon drei Exemplare seiner Kunst, sichtbare Zeichen seiner Zuneigung. Einen Wal, eine Robbe und einen Bären. Stücke, die glatt und griffig in der Hand lagen. Joey war ein Naturtalent. Grace schob sich eine Handvoll Beeren in den Mund. Sie waren warm, weil sie so lange in ihrer Hand gehalten hatte, und schmeckten deshalb noch säuerlicher. Als sie wieder eine 83
Handvoll zusammenhatte, schlich sie sich in Joeys Nähe und hielt ihm die Beeren vor den Mund. Er ließ den Beutel mit Holzstücken zu Boden gleiten, griff mit seiner Rechten nach ihrem Handgelenk, und holte mit den Lippen und der Zunge die Beeren in seinen Mund. Grace warf ihr schweres, teerschwarzes Haar in den Nacken und lachte. Seine Zunge kitzelte ihre Handfläche. Joey blieb erschreckend ernst. Als ihre Blicke sich trafen, entdeckte sie in seinen Augen etwas, das sie bisher nicht wahrgenommen hatte: Begehren. Röte trieb über ihre braunen Wangen. Joey ließ ihre Hand nicht los, er küßte die Innenfläche, legte sie dann an seine Wange. Dabei zog er Grace noch ein Stück näher an sich heran. Das Herz schlug wild in ihrer Brust. Es war warm auf der Waldlichtung und Joey hatte sein Hemd ausgezogen. Sein Körper war glatt und mager. Er würde sich gut anfühlen, genauso gut wie seine Schnitzereien. Als er seinen Kopf senkte und sie küßte, wehrte sie sich nicht. Er sah sie kurz an, griff nach ihrem Kinn und küßte sie wieder. Sie fühlte die weiche Innenseite seiner Lippen und fand es unbeschreiblich schön. Grace Allabush hatte gewisse romantische Erwartungen an Joey Hunter, die sie bis zu diesem Augenblick geheimgehalten hatte. Jetzt schien es, als würde er sie erfüllen. Sie legte ihre Wange an seine Brust und rieb sie leicht. Es war wunderbar. Er nahm sie mit beiden Händen an den Schultern und schob sie ein Stück von sich. „Ich möchte mit dir schlafen, Grace“, sagte er. Sie hatte es die ganze Zeit gewußt, aber jetzt, wo er es aussprach, schreckte sie zurück. Joey spürte sofort, wie ihr Körper sich versteifte. „Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte er. „Ich kann warten.“ „Nein“, meinte sie hastig. „Ich will es auch.“ Hundertmal hatte sie es sich vorgestellt, die Warnungen ihrer Urgroßmutter Gertrude war dabei immer mehr verblaßt. 84
Er nahm sie an der Hand. „Komm“, sagte er, „ein Stück weiter oben am Waldrand ist weiches Gras.“ Joey hatte recht. Ein kleiner Fleck weichen Grases wartete auf sie. Gerade groß genug für zwei Liebende. Er hatte dieses Plätzchen erst vor einer halben Stunde entdeckt. Von ihm sanft in die warmen Grasbüschel gedrückt, entspannte sich Grace. Mit leicht geöffneten Lippen wartete sie. Es gibt Momente im Leben, in denen man der Wirklichkeit den Rücken kehrt, ohne daß man sich dessen bewußt wird. Joeys Hände bewegten sich unter ihrem TShirt, berührten sanft ihre Brüste. Ahnungslos, wie sie war, braute sich ein wohliges Gefühl in ihrem Schoß zusammen, und ihre Glieder wurden schwer und wehrlos. Joey zog ihr das T-Shirt über den Kopf und senkte seinen Mund in die Mulde zwischen ihren Brüsten. Sie waren groß und fest. Beim Anblick der reinen Schönheit diese halbentblößten Körpers verlor er einen Augenblick die Fassung. Seine Choreographie kam durcheinander. Nervös nestelte er an seiner Jeans und streifte sie hastig ab. Während er dabei war, sich seiner Unterhosen zu entledigen, glitt sein Blick noch einmal versichernd durch das Laub des Dickichts, das sie umgab. Und was er sah, ließ ihn erstarren: Ein dunkles Augenpaar, das sie beide fest im Visier hatte. Große Augen, seltsam und schön wie die eines Tieres, das etwas gesehen hatte, was seinen Instinkt berührte. Joey sprang auf und stieß einen ungläubigen Laut aus. Etwas entfernte sich – lautlos. Grace bedeckte erschrocken ihre braunen Brüste mit den Armen. „Da war jemand“, meinte Joey kläglich. Aufgeschreckt schlüpften sie in ihre Kleider. „Wer soll das gewesen sein?“ fragte Grace. Ihr kam der Verdacht, daß Joey sich drücken wollte. „Ich weiß nicht“, erwiderte er, „aber was es auch war, ich habe ihm direkt in die Augen gesehen.“ Als er Grace ansah, bemerkte er die Enttäuschung in ih85
rem Gesicht. Er küßte sie auf den Mund. „Wir werden es nachholen.“ „Wann?“ fragte sie, und betrachtete ihn mit einem Anflug von Ungeduld. „Bald“, antwortete er. *** Am späten Nachmittag schickte sich Hanna endgültig an, in ihr Motel zurückzukehren. Sie wollte nicht aufdringlich erscheinen, auch wenn sie sich in Gregs Haus ausgesprochen wohl fühlte, und es ihr gefiel, ihn erzählen zu hören. Letzteres war eine Eigenschaft, die ihn am deutlichsten von Jim unterschied: Greg berichtete freimütig über Dinge, die das Leben seines Volkes betrafen, seine Vergangenheit und seine Zukunft. Von sich selbst sprach er allerdings nur, wenn sie ihn direkt danach fragte. Er schien an diesen Gesprächen genausoviel Interesse zu haben wie sie, dennoch hielt sie es für besser, seine Gastfreundschaft nicht unnötig zu strapazieren. „Ich gehe jetzt“, sagte sie, nahm ihre Jacke und wartete darauf, daß Greg sich von ihr verabschiedete. Aber er stellte sich mit vor der Brust verschränkten Armen in die Tür. „Du kannst hier schlafen, wenn du willst. Sei mein Gast!“ Sie machte ein komisches Gesicht und wollte sich an ihm vorbeidrücken. „Wir haben ein Gästezimmer“, fügte er seinem Angebot hinzu. „Wieso?“ wollte sie wissen. „Wieso wir ein Gästezimmer haben?“ „Wieso heute nacht, und gestern nicht?“ Er rieb sich das Kinn. „Schwer zu sagen. Gestern war ich wütend auf dich. Ich habe nachgedacht und jetzt bin ich es nicht mehr.“ 86
Oh, wie romantisch, dachte sie. Er ist nicht mehr wütend auf dich. Sie sah ihm flüchtig in die Augen. Zuneigung und Hunger sprachen aus ihnen. Zu gern hätte sie gewußt, was er wirklich über sie dachte. Ob er sie ein wenig mochte, oder ob er nur mit ihr spielte? Und, obwohl ihr das nicht gefiel, sie war auf ihn angewiesen. Zudem war sein Angebot verlockend. Ihr Reisebudget war nicht sonderlich üppig, und außerdem konnte Greg gut kochen. Sie war nicht dazu gekommen, sich Lebensmittel zu kaufen, und so würde sie irgendwo allein zu Abend essen müssen, wenn sie jetzt ging. Der Gedanke an die fragenden Blicke der Einheimischen, wenn sie allein in JJ’s Pizza saß, war ihr schon jetzt unangenehm. „Ich habe für eine Woche im Voraus bezahlt“, meinte sie zögerlich. „Ich komme mit“, sagte er, „dann wird dir Helma das Geld zurückgeben.“ Hanna zuckte die Achseln. Sie begriff, daß sie erprobt worden war und bestanden hatte. Greg Colfax hatte tatsächlich seine Meinung über sie geändert. „Also gut“, sagte sie, „warum nicht.“ Sie holten ihre Sachen aus dem Motel und Greg kochte wilden Reis, zu dem es gebackenes Lachsfilet gab. Als Beilage hatte er einen frischen grünen Salat mit Paprikastreifen gemacht. Greg Colfax konnte wirklich wunderbar kochen. „Hat deine Mutter dich Kochen gelehrt?“ wollte sie wissen. Er lächelte. „Nein. Sie starb, bevor mein Interesse an der Zubereitung von gutem Essen geweckt war. Als Student habe ich eine Zeitlang in der Küche eines ziemlich noblen Restaurants ausgeholfen. Da lernt man einiges.“ „Der Lachs schmeckt köstlich.“ „Er ist ganz frisch. Heute morgen schwamm er noch im Waatch River.“ Sie machte große Augen. „Du hast ihn gefangen! Wann?“ 87
„Auf der Rückfahrt“, antwortete er. „Ich kenne gute Stellen, es geht schnell. Sie schwimmen gerade flußaufwärts zu ihren Laichplätzen. Die Fischsaison hat bereits angefangen und überall sind Reusen und Fallen errichtet worden.“ „Gehst du jeden Tag los und fängst oder sammelst dir dein Essen?“ wollte sie wissen. Sein Blick streifte flüchtig ihr Gesicht, weil er sichergehen wollte, daß sie ihn nicht verspottete. „Meistens“, sagte er. „Es bietet sich einfach an, oder nicht? Außerdem mag ich es, auf dem Meer draußen zu sein, oder am Flußufer zu stehen und die Lachse zu beobachten, wie sie flußaufwärts schwimmen.“ „Wie hast du ihn getötet?“ „Mit einer Lanze. Jim hat es mir beigebracht.“ „Ich hätte gerne zugesehen.“ Greg schüttelte den Kopf. „Das ist etwas, wobei ich allein sein muß, allein mit dem Fisch. Übrigens“, er deutete auf ihren Teller, „du mußt jede Gräte, jedes Knöchlein gut aufheben.“ „Wozu?“ fragte sie verwundert. „Ich werde sie später dem Fluß zurückgeben.“ Er lächelte. „Wir Makah glauben, daß die Lachse unseretwegen flußaufwärts schwimmen, und daß diese Gunst von den Geistern jederzeit widerrufen werden kann. Darum ist es wichtig, die Fische nicht zu mißhandeln oder unnötig zu töten. Ihre Knochen müssen immer wieder in den Fluß zurückgebracht werden, in dem sie gefangen wurden, damit sie im ‘Lachshaus unter dem Meer’ wiedergeboren werden können. Es darf kein Knöchlein, keine Gräte fehlen, weil sie sonst dem wiedergeborenen Lachs auch fehlen, und ihn das mißgestalten könnte, was die Geister erzürnen würde.“ „Du wirst tatsächlich die Überreste in den Fluß zurückbringen“, wollte sie wissen. Er nickte und erhob sich, um die Knochen und Gräten in eine Papiertüte zu füllen, sorgfältig darauf bedacht, daß nichts verloren ging. 88
„Dieses Jahr sind zum ersten Mal seit langer Zeit wieder viele Lachse im Fluß. Ein Ergebnis unserer stammeseigenen Fischzucht und eines rigorosen Verbots für Sportfischer. Aber ab und zu erwischt Sheriff Lighthouse doch einen, der es nicht lassen konnte. Dann drohen saftige Strafen.“ „Und du darfst Lachse fischen?“ fragte sie. „Ja natürlich“, meinte er verwundert. „Ich bin ein Makah.“ Greg beobachtete sie immer sehr genau, während er erzählte. Später, als sie vor dem Kaminfeuer saßen, vergaß er seine Vorsicht und sie ihre Scheu. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und streckte die Beine lang aus. Im Schein des Feuers zauberten seine hohen Wangenknochen Schatten auf sein Gesicht. Er fragte Hanna, ob sie nicht Zweifel daran gehabt hätte, daß sie als Fremde in Neah Bay hätte heimisch werden können. Sie hob die Schultern. „Ich habe viel darüber nachgedacht, aber ernsthafte Zweifel befielen mich nie. Ich hatte ja Jim. Ehrlich gesagt war mir nicht klar, daß Fremde hier so ungern gesehen sind. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß ich gegen Vorurteile hätte kämpfen müssen. Ich dachte immer, das Privileg Vorurteile zu haben, hätten Menschen mit weißer Haut für sich gepachtet.“ Er lächelte nicht, als er sagte: „Das ist ein Irrtum. Jeder Mensch ist in gewissem Umfang voreingenommen.“ Sie seufzte: „Ja, und ganz besonders meine Eltern. Sie waren damals mein eigentliches Problem. Der Gedanke, mich so weit weg zu wissen, unter fremden Menschen in einer fremden Kultur, gefiel ihnen überhaupt nicht.“ „Hast du keine Geschwister?“ „Nein. Das ist es ja. Die einzige Tochter zu sein, ist eine schwierige Aufgabe. Alle Erwartungen konzentrieren sich nur auf dich.“ Greg nickte, denn das war etwas, das er aus eigener Erfahrung kannte. Hanna zog die Knie an ihren Körper heran und um89
schlang die Beine mit den Armen. „Trotzdem mochte meine Mutter Jim“, sagte sie. „Vielleicht lassen sich Frauen gern von unglücklichen Männern in den Bann ziehen. Mein Vater dagegen, blieb ihm gegenüber mißtrauisch bis zum letzten Tag. Und später demonstrierte er mir immer wieder, daß er recht behalten hatte. Das tat weh, und wenn ich ehrlich sein soll, habe ich es ihm bis heute nicht verziehen.“ Hanna sah Greg an. „Wenn es nach meinem Vater gegangen wäre, wäre ich jetzt nicht hier. Aber meine Mutter setzte sich durch und übernahm Ola. Das Geld für die Tickets habe ich mir zusammengespart.“ „Arbeitest du immer noch für das Museum?“ fragte Greg. „Ja“, erwiderte sie, „ich bin Sachbearbeiterin für die Abteilung nordamerikanische Indianerkulturen.“ „Was genau tust du, wenn du nicht gerade auf der Suche nach einem Pfahlschnitzer bist?“ Sie lächelte und die braunen Punkte tanzten auf ihrem Gesicht. „Ich bin für die Organisation und den Aufbau von Sonderausstellungen verantwortlich. Damals, als sie mich hierherschickten, um nach einem Pfahlschnitzer zu suchen, begann vier Wochen später eine Ausstellung über die Kultur der Nordwestküstenindianer. Die Exponate sollten den Besuchern die Vergangenheit zeigen. Und Jim, der an seinem Pfahl arbeitete, sollte der lebendige Beweis dafür sein, daß die Kultur bis heute überlebt hat.“ Greg sagte nichts. „Ich mag meine Arbeit.“ Mißtrauisch sah sie ihn an, als ob sie ahnte, was jetzt kommen würde. „Mein Vater sagt immer, Völkerkundemuseen wären die Schatztruhen blutiger Artefakte unserer Kultur.“ Er betrachtete sie prüfend. Hanna dachte eine Weile nach, dann fragte sie: „Glaubst du auch, daß ich Blut an den Händen habe?“ Er betrachtete ihre Hände, die groß aber feingliedrig waren. Sie trug keine Ringe. Ihre Nägel waren kurz und schön geformt. 90
„Nein“, erwiderte er schließlich, „aber hast du dich mal gefragt, ob es richtig ist, daß Gegenstände, die von unseren Vorfahren geschaffen wurden, jetzt in den Vitrinen europäischer Museen herumliegen?“ „Die meisten Stücke waren Leihgaben der bedeutendsten Sammlungen Mitteleuropas. Sie alle aus Amerika zu holen, hätte sich das Museum gar nicht leisten können.“ „Das ist es ja“, meinte er ärgerlich. „Was machen Eßbesteck, Angelzeug und Kleidung unserer Großeltern in den Glasvitrinen europäischer Museen? Ganz zu schweigen von Tanzmasken oder anderen Kultgegenständen? Manche Stücke wurden aus Gräbern gestohlen oder beschlagnahmt, als sie unsere Feste und Tänze verboten.“ „Auf die Zurschaustellung von Objekten, die als heilig galten, wurde damals verzichtet. Wir haben zwar eine Bildungspflicht, aber wir sind keine Barbaren, auch wenn es sich für dich so darstellt.“ „Bildungspflicht“, wiederholte er spöttisch. „Glaubst du, irgendwelche Leute können sich ein Bild von unserer Kultur machen, nur weil sie ein paar furchterregende Masken gesehen haben?“ Er war wütend, und sie hielt es für besser einzulenken. „Als ich Kind war, konnte ich mich stundenlang in irgendwelchen Museen aufhalten. Am meisten aber liebte ich unser Völkerkundemuseum. Ich betrachtete Kleidung und Gebrauchsgegenstände indianischer Großväter und Großmütter, und ehe ich mich versah, war ich in eine andere Welt versetzt. Ich sah Menschen, die jene Dinge im Gebrauch hatten oder mit ihrer Herstellung beschäftigt waren. Manchmal verfolgten mich die Bilder auch noch in der Nacht. Diese Begeisterung hat nie nachgelassen“, fügte sie hinzu. „Deshalb bin ich heute Kustodin an jenem Völkerkundemuseum.“ Er lächelte über ihre hilflose Aufrichtigkeit, sein Ärger verflog. „Vielleicht bist du eine Ausnahme, weil du versucht 91
hast, zu verstehen, was einmal hinter den Dingen war.“ „Ihr habt selbst ein Museum, wo ist der Unterschied?“ „Der Unterschied ist, daß unser Museum sich MakahMuseum nennt, und auch unsere Kultur und unsere Vergangenheit bezeugt. Hast du die Fotos gesehen, die Lieder gehört, die vom Tonband spielten? Exponate, Fotos und Lieder sind bestimmten Familien zugeordnet. Nachfahren dieser Familien besuchen das Museum und empfinden Stolz. Betrachtet einer von uns eine alte Maske, die vielleicht der Bruder seines Großvaters hergestellt hat, empfindet er etwas ganz anderes, als wenn du vor dieser Maske stehst und von nichts eine Ahnung hast.“ „Damit magst du recht haben“, sagte sie. „Auch wenn ich entfesselte Neugier schon als ausreichende Berechtigung empfinde. Was soll deiner Meinung nach passieren? Sollen Museen auf der ganzen Welt ihre Artefakte an die jeweiligen Völker zurückgeben?“ „Im Grunde schon. Aber dabei ginge es mehr um Genugtuung als um Wiedergutmachung. Denn welche Gebrauchsgegenstände unserer Vorfahren auch in Museen des Smithsonian Institutes oder in europäischen Sammlungen ausgestellt sind, sie sind in den seltensten Fällen ein Spiegel unserer Kultur. Losgelöst von Form und Funktion, sind sie zu Kunstgegenständen geworden. Statt weggeworfen zu werden, erhielten sie durch die Sammelleidenschaft irgendwelcher Leute plötzlich enormen Wert. Und aus einfachen Jägern und Fischern wurden mit einem Mal Künstler, die Kunst in Serie produzierten. Aber was du in unserem Museum siehst, ist keine Kunst, es zeigt den Alltag unserer Vorfahren.“ „Haben sie dir das auf der Uni erzählt?“ fragte sie, nicht ohne Spott. „Um das zu wissen, braucht man keine Uni“, brummte er. „Aber die Menschen in Neah Bay waren enttäuscht von Jim Claplanhoo“, erwiderte sie, „weil er es anscheinend nicht wußte.“ 92
Hanna hatte eine unruhige Nacht, mit trockener Kehle wälzte sie sich auf ihrem Lager. Im Rhythmus des Mondes stieg die Flut, der Pazifik brandete gegen das Ufer und ein Sturm zog von Kanada her die Küste herunter. Das Tosen des Meeres mit seinen Nachtwogen, die gegen das Ufer schlugen, schreckte sie aus beängstigenden Träumen, deren Fetzen sie auch noch im Wachzustand weiter verfolgten: Totempfähle, die wilde Tänze aufführten. Masken, die Wal, Bär und Wolf zeigten, deren Augen in wildem Feuer glühten. Jim mitten unter ihnen, tanzend, und doch hilflos. Starr vor Entsetzten streckte er seine blutigen Hände nach ihr aus, konnte sie aber nicht erreichen. Schweißgebadet setzte Hanna sich auf. Grelle Blitze tanzten hoch über sturmgeschüttelten Bäumen und erhellten das Zimmer. Donner grollte und ließ die Holzwände des Hauses erzittern. Regen prasselte auf das Dach und gegen die Fensterscheibe. Aber selbst dieses Geräusch wurde bald vom Brüllen der Brandung verschluckt. Sie knipste das Licht an. Die Helligkeit drängte die wilden Gestalten zurück. Der Sturm legte sich so rasch, wie er gekommen war. Später lauschte sie dem Abebben der Brandung und versuchte, wieder einzuschlafen. Im Dunkel hielt sie Zwiesprache mit den Schatten ihrer Wünsche. Sie dachte an Jim, der nun schon Jahre durch ihre Schlaflosigkeit geisterte. Seine traurigen Augen führten ihre Träume an, ihre Sinne nahmen ihn wahr, als wäre er bei ihr. Wie verrückt das alles war. Wie hatte sie hoffen können, ihn glücklich zu machen, allein durch ihre Anwesenheit und ihre Liebe? Er war oft depressiv gewesen, traurig, und abwesend. Jetzt wußte sie, daß er vor Heimweh krank gewesen war. Sie begriff seine Einsamkeit in Deutschland, die Unfähigkeit eine fremde Kultur anzunehmen und in ihr zu leben. Es gab Menschen, die so tief mit ihrer Heimat verwurzelt waren, daß sie fern von ihr zugrunde gingen. Sie hat93
te Jim Claplanhoo geliebt und hätte das erkennen müssen. Die Schatten schlugen über ihr zusammen. In einem müden Halbtraum sank Hanna wieder ins Meer, zurück in jenen Raum, der außerhalb aller Zeit lag. Farben umschlangen sie, bis aus ihnen das Grau der Erinnerung wurde und sie endlich festen Schlaf fand. *** In dem Augenblick, als der Sturm am heftigsten tobte, erwachte Polizeichef Oren Hunter aus dem Schlaf. Obwohl sein Haus im Ort stand, weit vom Meer entfernt, war er vom Tosen des Pazifik geweckt worden. Er hatte geträumt. Das Geländer oben am Kap hatte wieder nachgegeben und jemanden in die Tiefe gerissen. Eine Gestalt lag mit verrenkten Gliedern auf den Steinen am Ufer. Hunter japste so laut nach Luft, daß seine Frau Hildred aufwachte und ihn verwundert ansah. „Ich geh mir nur mal was zu trinken holen“, sagte Oren und tappte benommen in die Küche. Er holte sich die Zitronenlimonade aus dem Kühlschrank und trank gleich aus dem Krug. Vielleicht, so dachte er, sollte er beim Potlach am Samstag mal wieder tanzen. Nur so, um seinen Schutzgeist gnädig zu stimmen. Nur, weil er im Traum nicht genau gesehen hatte, ob die Gestalt, die auf die Klippen gestürzt war, nicht vielleicht er selbst gewesen war. Und es gab noch einen anderen Grund: Das Kribbeln in seinem Zeh hatte immer noch nicht aufgehört. Als er ins Bett zurückkam, war seine Frau noch wach. Sie kannte ihren Mann zu gut. „Es ist dein Zeh, nicht wahr?“ Er setzte sich auf die Bettkante und fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar. „Ich habe geträumt, jemand stürzt sich am Kap zu Tode.“ „Es ist eine Geisternacht“, erwiderte Hildred, „da träumt man so manches. Der Ozean ist in Aufruhr.“ 94
„Aber es wird einen Toten geben“, seufzte er, „ich weiß es.“ Hildred schob ihren langen dicken Zopf über ihre molligen Schultern und meinte: „Wenn es so ist, dann kannst du es auch nicht ändern.“ „Aber ich bin der Polizeichef.“ „Solange du nicht der Mörder bist, Oren, sollte dir das auch nicht den Schlaf rauben“, sagte sie, und rollte sich in ihre Decke. „Es sei denn, du hast jemanden in Verdacht.“ „Habe ich nicht“, brummte er. „Dann leg dich wieder hin und schlaf, in vier Stunden klingelt der Wecker.“ Oren legte sich wieder ins Bett, aber schlafen konnte er nicht. Die Sache mit dem Geländer ließ ihm keine Ruhe. Er war nervös. Fremde machten ihn nervös, weil er nicht wußte, wie er mit ihnen umgehen sollte. Die Leute aus dem Ort kannte er alle, mit einem großen Teil von ihnen war er mehr oder weniger verwandt. Es war, als gäbe es geheime Abkommen, die nicht ausgesprochen wurden, an die sich aber jeder hielt. Hunter kannte die Schwächen und Eigenheiten der Leute und wußte, wie er sich ihnen gegenüber verhalten mußte, um Schaden zu verhindern. Aber diese Europäer, was wollten sie bloß hier? Was war dran an einem gottverlassenen Ort wie Neah Bay, der nichts anderes als ein paar vereinzelte Holzhäuser, eine heruntergekommene Fischfabrik und ein Museum zu bieten hatte. Das Museum – das war es. Seit seiner Eröffnung waren die Besucherzahlen ständig gestiegen. Neue Souvernierläden waren entstanden und den Campingplatz hatte man vergrößert. Eigentlich alles sehr positiv. Wenn nicht die neuen Annehmlichkeiten immer mehr Fremde in den Ort locken würden, und er als Chief langsam die Übersicht verlor. Seufzend drehte Hunter sich auf die Seite. Gleich morgen 95
würde er sich vergewissern, ob diese deutsche Frau Neah Bay wieder verlassen hatte. Er war ganz sicher, daß das drohende Unheil und seine Träume mit ihrem Auftauchen zusammenhingen. *** Kurz nach Sonnenaufgang zog Hanna sich an, schlich aus dem Haus und lief hinunter zum Strand. Sie liebte diesen Augenblick, dem Erwachen des Tages zuzusehen. Das Grau der See verwandelte sich in tiefes Blau, und die Bäume am Ufer strahlten in saftigem Grün. Der Sturm hatte Halden von Strandgut angespült. Sie wunderte sich, daß kaum Müll darunter war. Nur Treibholz und Unmengen Seetang in seinen verschiedenen Arten: lange, plastikschlauchartige Gebilde, mit einer kürbisartigen Verdickung an der Wurzel. Muscheln und die begehrten Sanddollar, eine Art flacher Seestern, dessen kreisrundes Kalkgebilde mit dem fünfblättrigen Muster, überall in den Souvernierläden entlang der Küste verkauft wurde. Eine salzige Brise wehte vom zurückweichenden Meer herüber. Diese endlose Fläche. Diese gewaltige Tiefe. Hanna schob die Hände tief in die Jackentaschen und lief an der Wasserlinie entlang, vorbei an wirren Haufen von Seetang. Sie dachte an ihren Sturz ins Meer, mit einer Klarheit, in der man sich nur an Augenblicke der Gefahr erinnerte. Der Alptraum des Fallens. Die Furcht, so finster und kalt. Das Gefühl der eigenen Auflösung. Dieses Stück Zeit unter Wasser, in der sie dem Tod so nahe gewesen war, würde sie von nun an ihr eigen nennen. Es gehörte nur ihr, niemandem sonst – ein Geschenk des Ozeans. Durch ein Stück Raum und Zeit war sie mit dieser gewaltigen Kraft verbunden. Wenig später entdeckte Hanna am oberen Rand des Strandes einen aus Muscheln und Strandgut gelegten Kreis 96
von etwa zwei Metern Durchmesser. Im Inneren des Kreises ein Kreuz. Erstaunt blieb sie stehen. Die Flut hatte dem Gebilde nichts anhaben können. Oder war es erst in den Morgenstunden gefertigt worden, nachdem sich das Meer bereits wieder zurückgezogen hatte? Sie bückte sich nach einer großen Herzmuschel, in deren Inneren dickes Perlmutt schimmerte. „Das könnte dich glatt 500 Dollar Strafe kosten“, hörte sie eine Stimme hinter sich. Hanna fuhr herum und ließ erschrocken die Muschel fallen. Greg stand hinter ihr und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Der Wind scheitelte sein Haar im Nacken und wehte es ihm über die Augen und über die vollen Lippen. Er machte drei Schritte auf sie zu, bückte sich, hob die Muschel auf und reichte sie ihr. „Das Sammeln von Treibholz, Strandgut und Muscheln am Sooes Beach ist Fremden strengstens verboten. Was hier angespült wird, gehört den Indianern.“ Hanna steckte die Muschel in ihre Tasche. „Mußtest du mich so erschrecken? Ich habe kein Schild gesehen.“ Ihre Augen hatten die Farbe des Meeres. Kleine Sonnen tanzten darin. Es fiel ihm schwer, den Blick von ihr zu wenden. „Diese Verordnung wurde erlassen, damit die Touristen die Muscheln in ‚Blue Iris Souvernierladen‘ kaufen“, fuhr er fort. „Sie muß schließlich auch von etwas leben.“ „Was ist das?“ fragte Hanna, und deutete auf den Kreis zu ihren Füßen. „Ein Medizinrad, der Kreis des Lebens. Das Kreuz repräsentiert die vier Himmelsrichtungen des Universums.“ „Ich dachte immer, nur die Prärieindianer haben so ein Medizinrad.“ „Wie du siehst, hat sich die Tatsache, daß das Leben ein Kreis ist, auch bis zu uns herumgesprochen.“ „Wer kann es gemacht haben?“ wollte sie wissen. Er hob die Schultern. „Junge Leute aus dem Ort treffen sich manchmal hier draußen und machen ein bißchen zere97
moniellen Hokuspokus. Hier werden sie nicht von den Touristen gestört.“ Hanna warf noch einen Blick auf den Kreis, dann wandte sie sich zum Gehen. „Hast du gut geschlafen?“ fragte Greg. „Nein“, gestand sie. Verunsichert sah er sie an. „War mit dem Bett etwas nicht in Ordnung?“ „Das Zimmer war okay, das Bett war okay“, erwiderte sie, „nur der Sturm hat mir Angst gemacht.“ „Ich denke, du kennst das Meer?“ fragte er verwundert. „Die Nordsee ist nicht der Pazifik. Außerdem habe ich Geister gesehen.“ Sie lief weiter und er trabte ihr schwankend hinterher. „Geister?“ „Tanzende Totempfähle und Masken mit glühenden Augen. Wolfsmasken. Ich dachte, ich werde verrückt.“ „Du hast zu lange in unserem Museum rumgestanden“, meinte er. Hanna blieb stehen. „Das ist lächerlich. Gegen so etwas bin ich immun. Ich arbeite in einem Museum.“ „Okay“, sagte er, „es kommt eben manchmal vor.“ „Was kommt manchmal vor?“ Greg hielt ihrem schillernden Blick stand. „Daß man Geister sieht. Schließlich befindest du dich auf Indianerland. Geister sind hier zu Hause.“ Na herzlichen Glückwunsch, dachte Hanna. Er war belustigt und wußte, sie war es nicht. Versöhnlich legte er einen Arm um ihre Schulter und meinte: „Laß uns zum Haus zurückgehen, ich habe Frühstück vorbereitet.“ Als sie sich umwandte, um seiner Einladung zu folgen, stand sie einen Augenblick wie versteinert. Urplötzlich war dichter Nebel vom Meer her in Richtung Strand gezogen und tauchte alles in ein diffuses Licht. Der graue Sand schien zu wabern und zu rinnen. Immer dicker wurde der Nebel und verschmolz mit den grauen Wassern des Pazifik. In 98
Sekundenschnelle verwandelte sich die pittoreske Landschaft in die Kulisse eines Gespensterfilms. Hanna dachte an das Medizinrad, und daß hier einige Dinge verdammt unheimlich waren. „Was ist los?“ fragte Greg. „Der Nebel“, meinte sie. Greg zog sie in Richtung Haus. „Das ist nichts Besonders, so etwas kommt oft vor am Morgen. Gleich wird es vorbei sein und die Sonne wieder scheinen.“ Greg hatte Eier verquirlt und Speckstreifen geschnitten, die er in zwei Pfannen briet. Dazu gab es starken Kaffee, Toast und Marmelade. Das übliche amerikanische Frühstück, sehr unindianisch. Hanna hatte Hunger und sie mußte zugeben, es schmeckte köstlich. Sie fragte ihn. „Wo warst du, als ich vor fünf Jahren hier war und Jim kennenlernte?“ „Nach dem College habe ich Kunst studiert“, antwortete er. „Danach bin ich noch ein paar Jahre in Seattle geblieben und habe für eine Galerie gearbeitet. Das Leben dort ist für einen Indianer nicht leicht, aber es hat auch seinen Reiz. Seattle ist eine lebendige Stadt. Es gibt dort viele junge Leute mit verrückten Ideen. Du findest Menschen aller Hautfarben und Religionen. Sehr reiche Leute und die Ärmsten der Armen. Ich fand es sehr interessant.“ „Bist du mal Bill Gates begegnet?“ fragte sie. Er schüttelte den Kopf und lachte. „Nein, vermutlich verkehrte er nicht in meinen Kreisen.“ Greg räumte das Geschirr in den Spüler. „Ich hatte eine schöne Wohnung und konnte ganz gut von meiner Malerei leben. Zumindest hatte ich genügend Aufträge und hier und da mal eine Ausstellung.“ Er dachte daran, daß er am Ende kaum noch Freiheiten gehabt hatte. Der Weg zum Erfolg war mit Kompromissen gepflastert. Wollte er ein großes Bild malen, wünschte der Kunde eines in kleinem Format. War er deprimiert und ver99
spürte den Drang, seine Stimmung in dunklen Tönen auszudrücken, wünschte der Kunde leuchtende Farben. Dennoch, er war für diese Kompromisse gut bezahlt worden. „Erst als kein Lebenszeichen mehr von Jim kam“, fuhr er fort, „fühlte ich mich verpflichtet zu meinem Vater nach Neah Bay zurückzukehren. Er hatte ja nur noch mich.“ Greg schwieg einen Augenblick mit zusammengepreßten Lippen, dann sagte er: „Für die Galerie arbeite ich immer noch, auf Honorarbasis. Und unser Museum hat hin und wieder einen Job für mich. Größere Aufträge von Leuten, die eine Menge Geld übrig haben, um ihre Häuser mit original indianischen Kunstwerken zu schmücken. Mein Vater nimmt solche Aufträge nicht an. Er arbeitet nur für Indianer. Am Ausverkauf unserer Kultur will er sich nicht beteiligen.“ „Ärgert es ihn, wenn du es tust?“ „Vielleicht. Aber er läßt mich in Ruhe, weil es Geld bringt, auch für den Stamm.“ „Ich würde mir gern deine Bilder ansehen“, sagte sie. „Mein Atelier ist in der Werkstatt“, sagte er, „zur Zeit male ich nicht. Nach dem Schnitzen werden die Hände nicht mehr ruhig genug, um einen Pinsel zu führen.“ Greg warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich muß los.“ „Wohin?“ „Meinen Stamm aus dem Wald holen“, erwiderte er. „Wenn du willst, kannst du mitkommen.“ Die Sonne drängte sich durch die Wolken, als Greg die gefällte Zeder aus dem Wald am Archawat Peak holte. Hubert Markishtum, ein von der Stammesverwaltung angestellter Forstarbeiter, hatte sie gefällt. Jetzt half er Greg, den Stamm mit der Motorsäge in Stücke zu teilen. Für den in Auftrag gegebenen Pfahl brauchte Greg fünf Meter. Markishtum maß und trennte das Stück ab, und mit einer Stahlwinde zogen sie es auf den Weg. Den Rest des Stammes trennten sie in kürzere Stücke 100
und brachten sie auf dieselbe Weise zum Weg. Die beiden Männer brauchten für diese Arbeiten beinahe drei Stunden. Die Luft war feucht und schwer unter dem Dach der Bäume. Hanna packte mit an, wenn sie gebraucht wurde, kam sich aber die meiste Zeit überflüssig vor. Sie fragte sich, wie die Makah derartige Arbeiten bewältigt hatten, als es noch keine motorisierten Werkzeuge und Hilfsmittel gab. Als sie den Forstarbeiter danach fragte, schien es, als hätte sie eine Quelle angebohrt. Der Makah kannte die alten Arbeitsweisen bis in die Einzelheiten. Seine Redefluß wurde nur vom Aufheulen der Motorsäge unterbrochen. „Um einen Stamm für einen Totempfahl vorzubereiten“, sagte er, „wurde er von mehreren Männern mit Äxten gefällt. Noch im Wald wurde er dann vom Pfahlschnitzer selbst so weit behauen, daß ein paar Männer ausreichten, um ihn ins Dorf zu tragen. Dort konnte er dann beschnitzt werden.“ Mit dem Hemdsärmel strich er sich den Schweiß aus der Stirn. „Am beeindruckendsten aber ist, wie unsere Vorfahren die Bretter für ihre Häuser fertigten“, er lächelte geheimnisvoll, „denn damals hatten wir noch keine Sägen.“ Markishtum unterbrach seine Arbeit und führte Hanna zum Stamm einer anderen Zeder. Mit der Handkante markierte er eine Stelle am unteren Stamm. „Mit Äxten wurde der Stamm von einer Seite bis zu einem Drittel seiner Stärke eingekerbt. Dasselbe dann noch einmal drei, vier oder fünf Meter weiter oben, je nachdem, wie lang die Bretter sein sollten. In das verbliebene Mittelstück wurden in Brettstärke Hartholzkeile getrieben und die Bohle so weit nach vorn gespalten, daß man ein Rundholz dahinterschieben konnte. Zur Linken und zur Rechten hängten sich zwei Männer mit ihrem Körpergewicht an dieses Rundholz und zogen es nach unten, bis zur unteren Kerbe. Das Ergebnis war ein Brett.“ Er lachte stolz. Hanna war beeindruckt vom Einfallsreichtum der Makah. 101
Mit primitiven Mitteln waren sie zu verblüffenden Ergebnissen gekommen. Dazu gehörte ungeheure Geschicklichkeit und genaue Kenntnisse über das Material und seine Eigenschaften. „Heutzutage haben wir es etwas einfacher“, meinte Greg achselzuckend. „Aber die Bohlen für den Steg am Cape Flattery sind auf ähnliche Weise hergestellt. Das Holz wurde gespalten und nicht gesägt. Vor der Verarbeitung wurde es geglättet. Auf diese Weise ist es trittfester.“ Hanna sah ihn an und bemerkte, daß seine Haare sich verfärbt hatten. Sie waren heller geworden. Feiner gelber Pollenstaub lag auch auf seinen Augenbrauen. Er sah aus wie ein Fabelwesen – wie ein Gott. Sie atmete tief ein. „Was ist?“ fragte er verunsichert. „Du bist ganz gelb.“ „Kiefernpollen“, sagte er, wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und arbeitete weiter. „Der Wind trägt ihn manchmal von Oregon bis hierher.“ Mit dem stammeseigenen Kranfahrzeug hob Markishtum den Stamm und die Stücke auf einen langen Hänger und brachte sie in die Werkstatt von Greg und Matthew Colfax im Zentrum von Neah Bay. Hanna und Greg folgten ihm im Pickup. Hanna erkannte das Haus wieder, vor dem sie Jim zum ersten Mal begegnet war. Zu Anfang hatte sie nur mit Matthew Colfax gesprochen, dem großen Meister. Jim hatte nicht mal von seiner Arbeit aufgesehen. Erst als sie ihre Bitte vortrug, war er hellhörig geworden. Er hatte innegehalten und sie aufmerksam angesehen. Gesprochen hatte er kein Wort. Einen Tag später war er in ihr Motelzimmer gekommen, um ihr zu sagen, daß er bereit war, mit ihr zu kommen und den Pfahl für das Museum in Deutschland zu bearbeiten. In seinem Gesicht hatte sie eine wilde Entschlossenheit finden können. Zwei Tage später waren sie nach Seattle gefahren und von dort über Frankfurt nach Hamburg geflogen. 102
Der Arbeitsplatz hatte sich nicht verändert, das alte, einstöckige Gebäude wirkte noch genauso geheimnisvoll, wie es ihr damals vorgekommen war. Hier hatte Jim gewohnt. Sie war nie in den oberen Räumen gewesen, nur unten, in der Werkstatt. Mit dem Kran lud der Forstarbeiter die Holz-Stücke vom Hänger und den fünf Meter langen Stamm auf eine Rampe. Dann verabschiedete er sich. Hanna schüttelte er kräftig die Hand. Sie entdeckte Respekt in seinen Augen und freute sich darüber. „Mußt du ihn für seine Arbeit nicht bezahlen?“ wunderte sie sich, als Markishtum gefahren war. Greg zog eine Seilwinde heran, mit deren Hilfe er den Stamm unters Dach rollte. Jeder Handgriff war präzise und genau durchdacht. „Für seine Arbeit wird er von der Stammesverwaltung bezahlt“, antwortete er. „Und wenn der Pfahl fertig ist, dann kassiert die Stammesverwaltung einen Teil von meinem Honorar.“ Auf seinem Baumwollhemd zeichneten sich unter den Achseln und auf der Brust dunkle Flecken ab. Er wischte die Hände an seiner Jeans ab und warf einen zufriedenen Blick auf den Stamm, der nun an seinem Platz im Trocknen lag. „Er ist ziemlich groß“, meinte Hanna skeptisch. „Meine Auftraggeber wollten es so“, erwiderte er. „Je höher der Stamm, um so höher der Preis. Dafür wird es keine abstehenden Teile geben, das war dem Mann dann doch zu teuer. Und für mich bedeutet das enorm weniger Arbeitsaufwand. Abstehende Teile, wie zum Beispiel Flügel oder lange Schnäbel, müssen verzapft und geleimt werden, bevor man sie verarbeiten kann.“ Hanna hörte ihm schweigend zu. Es faszinierte sie, wenn jemand sein Handwerk verstand und dazu noch bereit war, etwas darüber zu erzählen. Viele Künstler waren schreckliche Geheimniskrämer. Auch Jim war so einer. Nicht mal über seine Arbeit hatte er mit ihr geredet. Wenn sie ihn etwas 103
fragte, dann hatte er jedesmal geantwortet: „Sieh doch zu.“ Als ob man alles allein durch zusehen verstehen könnte. Nach dem halben Jahr wäre er immer noch ein Fremder gewesen, wenn ihr nicht sein Körper so vertraut gewesen wäre. Was Berührungen und Zärtlichkeiten betraf, kannte Jim keine Geheimnisse. In dieser Hinsicht war er ihr so vertraut, daß sie heute noch seine Hände erkennen würde, wenn sie auch weiter nichts von ihm zu Gesicht bekam. Sie kannte seinen Körper, die Beschaffenheit seiner Haut, die wandernden Muskeln darunter. Seinen ganz eigenen Geruch, der allerdings im Laufe der Zeit in Deutschland immer mehr verblaßt war. Diesen Jim kannte sie gut. Liebe mit ihm, war wie ein Rausch gewesen. Greg deutete ihr Schweigen falsch. „Aber das weißt du sicher alles schon, nicht wahr? Manchmal vergesse ich, daß du ein halbes Jahr mit ihm zusammengelebt hast.“ Sie schüttelte den Kopf. „Jim sprach nicht von seiner Arbeit. Oft war er absolut stumm, als wäre er selbst ein Totempfahl.“ „Und du hast dich damit zufriedengegeben?“ fragte er ungläubig. Sie zuckte die Achseln. „Es blieb mir nichts anderes übrig. Es gab keinen Grund, ihm zu mißtrauen. Ich liebte ihn. Ich hatte mich damit abgefunden, daß er nicht redete. Er sah sie eindringlich an. „Was ist, wenn wir ihn finden, Hanna, und er eine Familie hat? Kinder?“ Zögernd meinte sie: „Ich weiß es nicht.“ Greg sah nicht so aus, als würde er sich mit ihrer Antwort zufriedengeben, deshalb wendete sie sich ab. Ihr Blick wanderte die ausgeblichene Fassade des Hauses nach oben und blieb an einem der Fenster hängen. „Kannst du mir zeigen, wo er gewohnt hat?“ Greg schüttelte den Kopf. „Da ist nichts mehr.“ „Aber das kann doch nicht sein, was ist aus seinen Sachen geworden?“ fragte sie. 104
„Ich weiß es nicht. Jim hat nicht viel besessen. Ich glaube, mein Vater hat es verschenkt.“ „Und wenn er irgendwann zurückkommt?“ Sie sah in seine Augen und fand darin ihre Frage beantwortet. Gerade, als sie die Werkstatt verlassen wollten, bog ein nagelneuer, kirschroter Ford Escort um das alte Haus und eine junge Frau stieg aus. Dunkler, makelloser Teint, dichte schwarze Locken und Augen, die wie die Schalen schwarzer Muscheln schimmerten. „Hallo Annie“, begrüßte Greg die Indianerin in Jeans und hellblauer Leinenbluse, „lange nicht gesehen. Wie geht es dir?“ „Danke, gut“, erwiderte sie förmlich. Greg sagte an Hanna gewandt: „Darf ich vorstellen: Annie Ides, die beste Korbflechterin von Neah Bay.“ Hanna streckte der Indianerin freundlich die Hand entgegen, die diese mit einem erzwungenen Lächeln ergriff und sofort wieder losließ. „Ich bin Hanna Schill und komme aus Deutschland“, sagte sie. „Sie interessiert sich für Totempfähle“, fügte Greg beiläufig hinzu. Noch konnte es sich nicht bis zu Annie herumgesprochen haben, daß Hanna bei ihm wohnte. Annie warf Hanna einen frostigen Blick zu, dann wandte sie sich Greg zu. Unter schweren Augenlidern hervor sah sie ihn an. „Du hast eine Zeder gefällt?“ Er nickte und wies auf den Stamm, der im Trocknen auf der Rampe lagerte. „Morgen werde ich ihn entrinden, dann kannst du kommen und dir den Bast abholen.“ „Kommt dein Vater bald zurück?“ fragte Annie. „Nicht vor Sonnabend, denke ich.“ „Am Sonnabend ist das Potlach“, erinnerte sie ihn. „Dein Vater hat gesagt, daß du auch kommen wirst, Greg Colfax?“ 105
Es machte ihn wütend, daß sie ihn auf diese Weise unter Druck setzte. Aber er ließ es sich nicht anmerken. „Ich weiß noch nicht, Annie, vielleicht werde ich kommen.“ Greg wußte, es würde ein großes Fest werden. Das Wort Potlach stammte aus der Sprache der Chinook-Indianer und bedeutete so viel wie: geben. Annies Familie war sehr angesehen und ihr Vater war reich. Es würde gutes Essen geben und jeder, der kam, konnte reichlich Geschenke mit nach Hause nehmen. Kaum jemand in Neah Bay hatte die Chance, sich später ebenbürtig dafür zu revanchieren – außer Matthew Colfax vielleicht. Doch das würde niemanden im Ort davon abhalten, sich auf dem Fest zu amüsieren. Die Zeiten hatten sich geändert. Nur wenige Alte hielten noch an den strengen Regeln der Vergangenheit fest. Als die junge Frau wieder gefahren war, fragte Hanna. „Was ist es für ein Potlach?“ „Ihr Geburtstag“, erwiderte er knapp. Geburtstag war eigentlich kein üblicher Grund für ein Potlach, ein Fest, das sonst anläßlich einer Geburt, einer Eheschließung oder eines Todesfalles abgehalten wurde. Das wußte sogar Hanna. „Wie alt wird sie denn, daß ihr Vater so eine große Fete veranstaltet?“ „Dreißig“, erwiderte er. „In diesem Alter sollte ein Makahmädchen längst verheiratet sein und mindestens vier Kinder haben. Mit diesem Potlach macht ihr Vater noch einmal alle unverheirateten Männer passenden Alters darauf aufmerksam.“ „Und in erster Linie dich“, meinte Hanna spöttisch. „Möglicherweise“, brummte Greg verdrießlich.
106
5. Kapitel Warum hatte Sheriff Lighthouse ihm heute morgen all diese komischen Fragen gestellt? Oren Hunter grübelte hinter seinem Schreibtisch. Sollte er den Jungen unterschätzt haben? Als Bill Lighthouse vor einem Jahr von der Polizeischule gekommen war, und ihm als Sheriff für die Makah und die Ozette-Indianer zugeteilt worden war, hatte er Mühe gehabt, sich an dessen lockere und offene Art zu gewöhnen. Die neuen Methoden, die sie ihm in Seattle beigebracht hatten, gefielen Hunter ebensowenig, wie Bills Angewohnheit, sich über Traditionen hinwegzusetzen. Aber im Laufe des vergangenen Jahres hatten beide Männer voneinander gelernt. Bill hatte sämtliche Akten auf dem Revier durchgesehen und neu geordnet, was, wie Oren zugeben mußte, eine enorme Arbeitserleichterung war. Außerdem war dem Älteren klargeworden, daß sein Stellvertreter sich nicht scheute, unangenehme Aufgaben zu übernehmen. Bill Lighthouse war ein guter Polizist. Klug und zuverlässig. Und er ließ sich schon mal davon überzeugen, jemanden nicht gleich an die Washington State Patrol weiterzumelden, nur weil er in der Kaufhalle etwas geklaut hatte. Eine von Oren Hunter ausgedachte, persönlich auf den Übeltäter zugeschnittene Strafe, hatte meist mehr Wirkung als eine offizielle Verurteilung. Kein junger Indianer konnte es gebrauchen, sein Erwachsenenleben in der weißen Welt mit einem Vorstrafenregister zu beginnen. Aber nicht nur Hunter hatte etwas gelernt. Bill Lighthouse hatte seinerseits begriffen, daß Zurückhaltung und Umwege in der Vorgehensweise, einem manchmal Tür und Tor öffneten – vor allem bei den älteren Menschen auf der Reservation. Deshalb hatte er angefangen, die alte Sprache 107
zu erlernen. Seit er das tat, fühlte er sich mehr denn je in Neah Bay zuhause. Der Polizeichef wußte darum, und er hatte gelernt, den jungen Sheriff zu mögen. Aber jetzt war Bill dahintergekommen, daß in Neah Bay schon seit geraumer Zeit etwas nicht stimmte. Nicht, daß Hunter versucht hätte, irgendetwas zu vertuschen, dazu war er viel zu gewissenhaft. Es kam nur darauf an, aus welchem Blickwinkel man die Dinge betrachtete. Und ob man in der Lage war, Zusammenhänge zu knüpfen. Sheriff Lighthouse hatte das getan. Oren Hunter seufzte. Die Sache mit dem Geländer konnte Zufall sein. Aber im Laufe seiner langen Dienstzeit hatte er gelernt, Zufällen zu mißtrauen. Wohl oder übel würde er mit Lighthouse ausführlicher darüber reden müssen. Hunter machte seine letzten Eintragungen, schloß das Büro ab, und begab sich dann nach Hause zu seiner Frau, die mit dem Abendessen auf ihn wartete. *** Obwohl Hanna zunächst nicht wollte – zu frisch war die Erinnerung an ihren Sturz ins Meer – hatte Greg sie überredet, mit ihm hinauszufahren und nach Robben Ausschau zu halten. Beide trugen vorsorglich Regenjacken, aber im Augenblick schien die Sonne. Nach den ersten zweihundert Metern legte sich Hannas Furcht. Das Meer war glatt und friedlich und sie spürte, daß sie keine Angst haben mußte. Als ob sie einen Pakt geschlossen hätten, sie und der Pazifik. Als ob er sich entschieden hatte, sie zu dulden. Sie hatten die Makah-Bay verlassen und näherten sich Shi-Shi Beach und dem Point of Arches. Die unregelmäßige Küstenlinie wurde immer wilder und zerklüfteter. Mit Seehaar, einer giftiggrünen Algenart, bedeckte Felsenbänke bestimmten einen Teil des Strandes vor den steilaufragenden 108
Felsen des Point of Arches. Auf einigen der imposanten Felsensäulen wuchsen Kiefern, und Hanna fragte sich, wie sie sich dort festhielten, wo es nur Felsen und kaum Boden gab. Greg steuerte um die Klippen herum und plötzlich zeigte er auf ein flaches Plateau, direkt über dem Meeresspiegel. In diesem Augenblick sah auch Hanna die beiden. Eine Robbenmutter mit ihrem Baby. Greg reichte ihr ein Fernglas und sie besah sich die beiden genauer. Die großen, schwarzen Augen der schönen Tiere, die immer traurig blickten. Das Fell der Robben glänzte golden in der Abendsonne. Als ihnen das Boot zu nahe kam, stießen sie Laute des Unmuts aus und verschwanden im Wasser. „Sie sind selten geworden“, sagte Greg. „Früher gab es hier hunderte Robben. Mein Großvater hat sie noch gejagt. Ihr Fleisch ist fett und nahrhaft. Im Winter hat es unsere Leute von innen gewärmt. Jetzt brauchen wir Sondergenehmigungen, um eine Robbe zu jagen. Die Tierschützer sitzen uns im Nacken. Genauso ist es mit dem Wal. Mein Urgroßvater hat den Wal gejagt. Genau hier, zwischen diesen Felsen.“ „Woher weißt du das?“ fragte sie ihn. „Meine Mutter hat es mir erzählt, als sie noch lebte.“ Er ließ den Motor aus und ruderte das Boot gen Strand. „Vor langer Zeit hat das Meer unserem Volk ein Versprechen gegeben. Es hat geschworen, uns niemals hungern zu lassen. Und bisher haben wir auch nie gehungert. Aber die Zeiten haben sich geändert. Das Meer kämpft ums Überleben – wie wir. Möglicherweise kann es sein Versprechen eines Tages nicht mehr halten.“ Hanna betrachtete die untergehende Sonne mit der Silhouette der Felsen davor. Das Meer verwandelte sich in flüssiges Gold. „Ist dir eigentlich klar“, sagte sie, „daß wir bei den wichtigsten Dingen, die unser künftiges Leben bestimmen, keine Wahl haben?“ 109
„Und die wären?“ Er saß da, die Ellenbogen auf seine Knie gestützt, und sah verwundert zu, wie die Abendsonne Hannas Haar in Feuer verwandelte. Es schien zu knistern und Funken zu sprühen. „Zum Beispiel das Land unserer Geburt, unsere Hautfarbe, das Geschlecht, und – unsere Namen.“ „Das ist wahr“, gab er lächelnd zu. „Aber würdest du denn anders entscheiden, wenn du jetzt noch einmal die Wahl hättest?“ Sie hob die Schultern: „Ich weiß es nicht.“ Aber tief im Inneren wußte sie es besser. Sie blickte ihn an. „Und was ist mit dir? Würdest du tauschen wollen?“ Er schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, ich glaube nicht.“ Hanna schien es, als wollte er noch etwas sagen, deshalb sah sie ihn erwartungsvoll an. Greg schluckte. „Einmal gab es eine Zeit, in der ich gern getauscht hätte.“ Sein Blick wanderte in weite Ferne, noch hinter die Linie des Horizontes. „In Seattle war ich mit einer Frau zusammen, einer Navajo aus Arizona. Sie studierte Anglistik …“ Er zögerte. Aber dann sah er, daß Hannas Augen voller Erwartung an seinen Lippen hingen, und er seine Geschichte zuende bringen mußte. „Sie hieß Jeramie Rain“, fuhr er fort, „und war der warmherzigste, fröhlichste Mensch, der mir je begegnet ist. Zwei Jahre waren wir zusammen, dann hatte sie ihr Studium beendet und ich habe erfahren, daß Jim nicht zurückgekehrt war. Ich mußte mich entscheiden. Entweder ich ging mit ihr nach Arizona, oder ich kehrte nach Neah Bay zu meinem Vater zurück und erfüllte meine Pflicht.“ „Du bist hier“, sagte Hanna, „allein.“ Er nickte. „Damals wünschte ich mir, daß ich ein Navajo wäre.“ „Wieso kam sie nicht mit dir?“ fragte Hanna. „Sie war ein Wüstenmensch, aufgewachsen im Monument Valley, ohne Strom und fließendes Wasser. Die feuch110
te Luft hier und der ständige Regen machten sie krank.“ „Hast du sie wiedergesehen?“ „Sie hat geheiratet. Das ist alles, was ich weiß.“ „Manchmal fällt es einem schwer, loszulassen“, sagte Hanna, „weil man Angst hat, daß man dann ins Bodenlose fällt. Ich habe Angst, Jim loszulassen.“ „Ich weiß“, erwiderte er. „Ich weiß wie es ist. Ich bin gefallen und ich bin am Boden aufgekommen. Keine Angst, man überlebt es.“ „Und wie ist es?“ „Du reibst dir deine schmerzenden Glieder, erhebst dich und fängst an zu laufen.“ „Wohin?“ „Dorthin, wo du hingehörst.“ Er nahm die Ruder wieder zur Hand und bewegte das Boot noch eine Weile mit eigener Kraft. Später stellte er den Motor an, damit sie noch vor Einbruch der Dämmerung das Haus erreichten. Draußen, hinter Sooes Beach, schien die Dunkelheit lebendig zu werden. Die schweren Zweige der Hemlocktannen schaukelten im Wind, wie Gespenster, die einander die Hände reichten zum nächtlichen Reigen. Der Pazifik strömte in gleichmäßigen Stößen gegen das Ufer. Auch drinnen nahm die hereinbrechende Dunkelheit die Wirklichkeit aus dem Zimmer. Kerzen und Kaminfeuer verbreiteten warmes Licht. Greg stand am Fenster und starrte hinaus in das Junidunkel. Hanna saß in einem der gemütlichen Ledersessel vor dem Kamin und trank von dem herben, kalifornischen Wein, den er ihr eingeschenkt hatte. Sie betrachtete seine hochgewachsene Gestalt am Fenster und entdeckte auf seinem Unterarm das eintätowierte Längenmaß, an dem man den indianischen Pfahlschnitzer erkennen kann. Auch Jim hatte diese Tätowierung. Ungebeten kam die Erinnerung an Nächte mit 111
ihm, in denen er stundenlang wach lag und an die Decke starrte, die Augen groß und sonderbar, der Blick abwesend. Es war, als hätte er ein furchtbares Geheimnis mit sich herumgetragen, einen Schatten, der oft seine Seele verdunkelte. Sie sagte: „Ich glaube, daß Jim vor etwas davongelaufen ist, als er mit mir nach Deutschland kam.“ Greg Colfax blickte auf sein eigenes, geisterhaftes Spiegelbild in der Scheibe. Er schüttelte den Kopf. „Wovor sollte er davongelaufen sein?“ „Ich weiß es nicht“, erwiderte Hanna, „vielleicht vor seinem eigenen Ruhm?“ „Ruhm?“ wiederholte er stirnrunzelnd. „Ist das nicht ein sinnentleertes Wort in unserer Zeit?“ „Ich glaube, für Jim hatte es eine Bedeutung“, antwortete sie. „Manchmal war er so seltsam, wenn ich ihn nach seiner Vergangenheit fragte. Er wich mir ständig aus. Weshalb hat er mir nie etwas von dir erzählt?“ „Das wüßte ich selbst gern.“ Er wandte sich um und kam auf sie zu. „Aber was immer es auch war, er ist hierher zurückgekehrt“, sagte sie, „weil er in Deutschland nicht leben konnte. Möglicherweise hat er sich dort Anerkennung erhofft, von Menschen, die keine Vorurteile haben. Bis er dahinter kam, daß es denjenigen, die ihm bei der Arbeit zusahen, egal war, ob er ein Cheyenne, ein Hopi, ein Cree oder ein Makah war. Hauptsache, er war Indianer. Und er war es leid, den Kindern die Frage zu beantworten, auf welche Art die Indianer ihre Feinde an solch einem Pfahl töteten, wie er ihn gerade schnitzte.“ Hanna trank einen Schluck Wein und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Einmal“, sagte sie, „kam ein Mann zu ihm, öffnete seine Hand, in dem ein paar Schnüre und verschieden lange bemalte Stöckchen lagen, und fragte Jim: ‚Was ist das?‘ Jim antwortete: ‚Das sind rote Schnüre und Stöckchen.‘ Enttäuscht meinte der Mann: ‚Das ist ein indianisches Spiel. Wenn du es nicht 112
erkennst, dann bist du auch kein richtiger Indianer.‘ “ Greg erkannte, wie schmerzhaft diese Episode für Jim gewesen sein mußte. Er hockte sich vor Hannas Sessel. „Ich war ein Idiot. Ich hätte wissen müssen, daß ein fremdes Land ihm auf Dauer nicht zur Heimat werden konnte. Ich hätte viel eher nach ihm suchen müssen.“ „Aber du warst doch davon überzeugt, daß er sich in Deutschland aufhielt – bei mir.“ „Dann hätte ich ihn eben dort suchen müssen. Aber ich fühlte mich zu verletzt, als daß ich auf diese Idee gekommen wäre.“ Er war ihr so nahe, und seine Augen so dunkel, daß sie sich selbst darin erkennen konnte. Ihr Herz schlug schneller, als sie begriff, daß seine Nähe ihr angenehm war. „Wußtest du, daß deine Augen manchmal ihre Farbe ändern“, sagte er mit belegter Stimme. Sie senkte den Kopf, denn das Phänomen ihrer Augenfarbe hatte auch Jim fasziniert. Sie selbst hatte diesen Farbenwechsel ihrer Iris nie bewußt wahrgenommen. Wenn sie in einen Spiegel schaute, waren ihre Augen immer gleichbleibend von einem dunklen Grün. Da änderte sich überhaupt nichts. Und bevor sie Jim kennenlernte, hatte sie auch noch nie jemand darauf aufmerksam gemacht. Greg nahm eine Strähne ihres Haares und rieb es zwischen Daumen und Zeigefinger. Es hatte tatsächlich eine andere Beschaffenheit. Seidig, aber schwer. Er legte seinen Zeigefinger unter ihr Kinn und schob ihren Kopf nach oben, so daß sie ihm ins Gesicht sehen mußte. Im Schein des Feuers schienen die braunen Punkte auf ihrem Gesicht zu tanzen. Plötzlich hörte er ein Geräusch, Schritte auf der Veranda. Sofort war er auf den Beinen. Er lief durch die Diele und schloß die Haustür auf. „Guten Abend, Vater“, sagte er – ohne wirklich überrascht zu sein. Er hätte damit rechnen müssen. Irgendjemand hatte seinen Vater davon informiert, 113
daß eine deutsche Frau in seinem Haus wohnte. Was die drohende Gefahr durch Fremde betraf, hielten die Alten in Neah Bay zusammen. Aber möglicherweise war es sogar Annie Ides selbst gewesen, die in ihrer Not zum Telefonhörer gegriffen hatte. „Seit wann schließt du ab?“ fragte Matthew Colfax und stellte seine Tasche auf den Boden. „Ich nehme an, du hast Besuch. Freunde aus Seattle?“ Heuchler, dachte Greg. Hanna erschien in der Diele. Ihre Haut im Gesicht war gerötet von der Hitze des Feuers und vom Wein. „Guten Abend, Mr. Colfax“, sagte sie, um Gleichmut ringend, „es freut mich sehr, Sie wiederzusehen.“ Einen Versuch, ihm die Hand zu reichen, machte sie erst gar nicht. Er war ein mürrischer Mensch, und – wie sie jetzt feststellte – er war sehr gealtert, seit sie ihn das letztemal gesehen hatte. Haare und Schnurrbart, beides vor fünf Jahren noch schwarz, wurden jetzt von grauen Strähnen durchzogen. Seine dunkle Haut spannte immer noch glatt über dem Gesicht, aber um den Mund hatte sich ein bitterer Zug eingegraben, den sie damals nicht wahrgenommen hatte. Ob er sich wohl an sie erinnerte? Matthew Colfax stand eine Weile wie erstarrt. Seine hart glänzenden Augen wirkten beängstigend. Dann ging er an ihr vorbei in die Küche und sagte in sarkastischem Tonfall: „Sind die deutschen Männer wirklich so miserabel im Bett, Miss Schill, daß Sie den weiten Weg nicht scheuen, und immer wieder hierherkommen, um einem unserer jungen Männer den Verstand zu rauben?“ Hanna war von seinen Worten wie vor den Kopf geschlagen. Sie wollte etwas erwidern, aber dann wurde ihr klar, daß es wenig Sinn hatte. In seinem Haus würde der alte Colfax ihr immer überlegen sein. Wortlos ging sie ins Gästezimmer, um ihre Sachen zusammenzupacken. Ärger überdeckte die Trauer um den verlorenen Augenblick, der sich so nicht wiederholen würde. Vielleicht war es besser so, dachte sie. 114
Greg folgte seinem Vater in die Küche. Langsam fand er seine Sprache wieder: „Was glaubst du, wer du bist, Vater, daß du so mit einer Frau reden kannst, die du überhaupt nicht kennst?“ „Ich nehme an, du kennst sie dafür um so besser“, erwiderte Matthew, „zumindest, was ihren Körper angeht. Diese Frau ist schuld daran, daß Jim nicht mehr bei uns ist. Und ich werde nicht zulassen, daß sie mir auch noch meinen anderen Sohn wegnimmt.“ Es fiel dem alten Mann schwer, seine Erregung zu verbergen. Seine Hände, seine Stimme, sein ganzer Körper zitterten vor offener Feindseligkeit. So hatte Greg Colfax seinen Vater noch nie gesehen, und seine Reaktion erschreckte ihn zutiefst. Er hatte keine Ahnung gehabt von diesem brodelnden Kern unerklärlichen Zorns. Diese blinde Wut des alten Mannes, von der Greg nicht wußte, woher sie kam. Jene Feindseligkeit, die er über Hanna ausschüttete. Man konnte einen Menschen nicht verantwortlich machen für Gefühle, die er in einem anderen weckt. Sie hatte Jim geliebt. Jedenfalls behauptete sie das. Und er glaubte ihr. Auch wenn er sich dabei wie in einer Falle fühlte. Hanna schleppte ihre Tasche durch die Diele, aber Greg versperrte ihr den Weg. „Ich hätte nicht gedacht, daß du so schnell aufgibst.“ Sie ließ seufzend ihre Tasche auf den Boden fallen und strich sich das Haar aus der Stirn. „Ich gebe nicht auf, Greg Colfax. Ich bin nur müde und habe keine Lust, mich auf einen ungleichen Kampf mit einem störrischen alten Mann einzulassen.“Er nahm die Tasche und trug sie nach draußen zu ihrem Wagen. Sie sagte nichts, als Greg den Zündschlüssel verlangte und sich hinters Steuer setzte. Erst, als sie merkte, daß er am einzigen Motel von Neah Bay vorbeigefahren war, fragte sie: „Wo bringst du mich hin?“ „Du wirst schon sehen“, sagte er. 115
*** Matthew Colfax saß lange reglos in der Dunkelheit und versuchte zu begreifen, was er soeben vorgefunden hatte: diese Frau – die er haßte – und seinen Sohn in trauter Zweisamkeit. War sein Schutzgeist, der Wolf, zornig auf ihn, daß er das Unmögliche hatte geschehen lassen? Greg zusammen mit dieser Frau, der er nie hätte begegnen dürfen; schon verhext von ihrer fremdartigen Erscheinung. Welche verschlungenen Pfade hatten zu diesem unglücklichen Zusammentreffen geführt? War er am Ende selbst schuld daran? Hatte er seinem Sohn nicht genug von der Macht der alten Legenden erzählt? Davon, daß Makahblut sich nicht mit dem der Weißen vermischen durfte, wenn sie in hundert Jahren immer noch als Volk existieren wollten? Der alte Colfax stieß einen leisen Klagelaut aus. Er wußte um all diese Dinge, und das Wissen wog manchmal wie eine schwere Last, die ihn niederdrückte. Seit einiger Zeit hörte er manchmal Stimmen. Es waren die Stimmen des Todes. Das beunruhigte ihn. Was hatte das alles zu bedeuten? Die Lieder seines Volkes waren in seinem Blut; genauso wie die Erinnerungen an seine Vorfahren – auch an jene, die er nie gekannt hat. Daß es so war, hatte ihm geholfen zu überleben. Wieso konnte Greg nicht begreifen, daß er, wenn er ein Makah sein wollte, die alten Gesetze einzuhalten hatte? Diese Regeln hatten ihren Sinn noch nicht verloren, so wie es einige junge Leute aus dem Stamm behaupteten. Diese Regeln würden gelten, solange es das Volk der Makah gab. Matthew Colfax erhob sich ächzend, knipste das Licht an und ging in die Küche. Er ließ kaltes Wasser in ein Glas laufen und setzte es an die Lippen. Gutes, sauberes Wasser. Nach einer ausgiebigen Dusche legte er sich in sein Bett. 116
Colfax hätte viel zu bereden gehabt mit seinem Sohn, aber das war nun nicht möglich, weil Greg mit dieser Frau fortgefahren war. Wohin würde er sie bringen? Er hatte keine Ahnung. Dafür kannte er seinen Sohn viel zu wenig. Bei Jim hätte Matthew gewußt, wohin er gehen würde. Jim. Diese Wunde war ein immer größer werdendes Loch in seiner Brust. Eine schwärende Wunde, die sich nie mehr schließen würde. Er mußte Greg davor bewahren, die Dummheit des anderen zu wiederholen. Greg war sein einziger Sohn, sein Fleisch und Blut. Seine Zukunft. Er würde der nächste Pfahlschnitzer sein. Sich für eine weiße Frau zu interessieren, war ein grober Fehler. *** Greg parkte den Wagen vor einem alten Holzhaus am Waldrand. Im Scheinwerferlicht leuchtete der blaue Anstrich frisch und freundlich. Hinter den zugezogenen Vorhängen brannte noch Licht. Greg klopfte und nach einer Weile erschien eine kleine runzlige Frau in der Tür. Sie war dreihundert Jahre alt und ihr Gesicht war von unzähligen tiefen Gräben durchzogen. Doch ihre Augen blickten munter und erfreut, als sie Greg in der Dunkelheit erkannte. Sie sagte etwas in der Sprache der Makah. „Ich bin hier, weil ich dich um den Schlüssel für deine alte Hütte am Strand bitten wollte, Gertrude. Es wäre nur für ein paar Tage, und ich würde natürlich dafür bezahlen“, antwortete Greg. Die alte Indianerin schob ihr buntes Kopftuch aus der Stirn, nickte und sagte: „Na komm schon rein, Chah-labush, und bring die weiße Frau mit.“ Greg zog Hanna ins Haus. Gertrude führte beide in den hell erleuchteten Wohnraum, in dem das totale Chaos herrschte. Hier wurde zu später Stunde noch gearbeitet. Auf dem Boden und auf allen Sitzmöbeln lag Flechtmaterial aus117
gebreitet: Raffiafasern, Sitca Sedge, das hellere Süßgras, Bärgras und natürlich der weiche Bast der Zedernrinde. An der Wand standen mehrere Bottiche mit Wasser, in denen vorbereitete Fasern auf ihre Verarbeitung warteten. Ein junges Mädchen mit langem Zopf und Mandelaugen stand auf und bot Hanna ihren Platz an. „Guten Abend, Grace.“ Greg räumte sich einen Stuhl frei und setzte sich ebenfalls. Er ließ seinen Blick einen Moment auf dem Mädchen ruhen, als hätte er vergessen, warum er eigentlich hier war. Die alte Frau gab Grace ein Zeichen, worauf diese den Raum verließ. „Deine Urenkelin wird immer schöner, Gertrude“, sagte er verblüfft. „Ja“, grummelte die Indianerin, „die jungen Männer umschwärmen das Haus wie Motten das Licht. Aber“, aus schmalen Augenschlitzen sah sie ihn an, „um mir das zu sagen, bist du doch nicht hergekommen?“ „Nein“, er preßte seine Hände zusammen, „es geht um Hanna.“ „Also“, meinte Gertrude, ohne Hanna anzusehen, „sie ist eine Babathlid, eine Weiße. Ist sie deine Freundin?“ Greg schüttelte den Kopf. „Sie war die Frau von Jim, Gertrude. Hanna hat eine kleine Tochter von ihm. Jetzt ist sie hier, um nach ihm zu suchen.“ Das Gesicht der Alten runzelte sich noch mehr zusammen. „Hier, in Neah Bay?“ „Ja. Sie sagt, Jim wäre vor viereinhalb Jahren zurück nach Seattle geflogen. Er wollte sie später nachholen, hat aber nie wieder etwas von sich hören lassen.“ Gertrude wackelte mit dem Kopf. „Wenn Jim zurückgekommen wäre, ich wüßte es.“ Greg atmete tief ein. „Ich glaube Hanna. Vielleicht ist Jim irgendwohin gegangen, wo niemand ihn vermutet. Vielleicht versteckt er sich.“ Das Mädchen kam mit einem 118
Tablett zurück und bot jedem einen kleinen, mit Früchten belegten Kuchen an. Die Küchlein dufteten frisch. Greg und Hanna griffen zu. „Salmonberry Cookies“, meinte die alte Indianerin, „Grace hat sie gebacken.“ Sie nickte ihrer Urenkelin freundlich zu. „Danke, Grace“, sagte sie, „Du kannst für heute Schluß machen und schlafen gehen.“ Das Mädchen verabschiedete sich höflich und verschwand wie ein Schatten. Hanna biß in ihr Küchlein. Der Geschmack des noch warmen Gebäcks und der Beeren löste eine seltsame Empfindung in ihr aus. Ein Gemisch aus Wildnis und sprödem Willkommen. Gertrude sah Hanna eindringlich an, dann fragte sie: „Was willst du von Jim Claplanhoo?“ Hanna kaute verlegen. Schließlich schluckte sie runter, was sie im Mund hatte, und meinte: „Jim ist vor viereinhalb Jahren von Deutschland zurück nach Hause geflogen und wollte mich in kurzer Zeit nachkommen lassen. Wir wollten hier in Neah Bay zusammen leben, alles war schon geplant.“ Sie räusperte sich. „Aber dann habe ich nie wieder etwas von ihm gehört. Ich bekam eine Tochter – Jims Tochter – von der er nichts weiß, und ich habe versucht, so gut wie möglich für uns beide zu sorgen. Aber jetzt, nach so langer Zeit, bin ich es leid allein zu sein. Ich bin nicht hier, um Forderungen an Jim zu stellen. Ich möchte nur wissen, was aus ihm geworden ist. Damit ich wieder frei sein kann. Und damit ich etwas habe, was ich seiner Tochter erzählen kann, wenn sie mich nach ihrem Vater fragt.“ Eine lange Erklärung auf eine kurze Frage, dachte Gertrude Allabush stirnrunzelnd. Und nicht eben eine genaue Antwort. Aber die brauchte sie auch nicht. Es genügte, wenn sie Greg ansah, der der Sohn ihrer Nichte war, und den sie besser kannte, als er sich selbst. Seine Augen hatten diesen matten Schimmer, der mehr sagte als Worte. Frauen besaßen die Macht, Männer verletzlich zu machen. 119
Vielleicht würde diese ferne, bleiche Frau ihm weh tun, vielleicht war er ihr aber auch gewachsen – wer wußte das schon. Sie erhob sich und holte den Schlüssel zum Strandhaus aus einem alten Zedernholzkästchen. Vor Jahren, sie wußte nicht mehr, ob es zehn oder mehr waren, war Jim Claplanhoo zu ihr gekommen, und hatte sie um den Schlüssel für das Strandhaus gebeten. Er bräuchte Ruhe, um Nachzudenken, hatte er gesagt. Aber natürlich war ihr klargewesen, was er wirklich vorgehabt hatte. Leider war sie nie dahintergekommen, wer das Mädchen war, mit dem er sich dort heimlich getroffen hatte. Sie hatte ihn nie gefragt und er hatte nichts gesagt. Niemand in Neah Bay hatte Jim Claplanhoo länger als eine Stunde mit ein und derselben Frau zusammen gesehen. Es hieß, daß Frauen ihn nicht interessierten. Bis er mit einer Fremden fortging. Greg nahm den Schlüssel entgegen und zog ein Bündel Dollarscheine aus der Tasche. Er zählte 50 Dollar ab und reichte Gertrude das Geld. Die alte Indianerin rollte die Scheine, legte sie in das Kästchen und sagte: „Die Tür klemmt ein bißchen, aber das weißt du ja.“ Sie brachte die beiden zur Tür. „Du hast eine Zeder gefällt, Chah-la-bush?“ Gertrude Allabush war eine der wenigen im Ort, die Greg mit der Makah Bezeichnung für Pfahlschnitzer anredeten. Alle anderen waren der Meinung, daß dieser Name seinem Vater vorbehalten war, solange er lebte. Greg nickte. „Ja, aber Annie Ides war gestern bei mir und hat mich nach der Rinde gefragt. Ich habe sie ihr versprochen. Das nächste Mal bekommt ihr sie wieder.“ Die alte Indianerin schnalzte mit der Zunge. „Annies Vater läßt am Samstag ein Potlach für seine Tochter ausrichten. Wirst du kommen?“ „Ich weiß noch nicht“, antwortete Greg, mit einem Seitenblick auf Hanna. „Wird Zeit, daß du darüber nachdenkst“, grummelte Gertrude. 120
Das alte Haus, in dem Gertrude gelebt hatte, bevor sie zu ihrer Enkelin – der Mutter von Grace – ins Dorf gezogen war, stand am Nordufer des Waatch River. Dort, wo der Fluß in den Pazifik mündete und sich eine kleine Bucht gebildet hatte. Auf der gegenüberliegenden Seite konnte Hanna die Lichter des Campingplatzes sehen, was sie zugegebenermaßen ein wenig beruhigte. Von Natur aus unerschrocken, war sie indessen nicht bereit, unnötige Risiken einzugehen. Vor allem nicht, seit sie Ola hatte. Greg schloß die Tür auf und knipste das Licht an. Von außen mit der Patina ewiger Zeiten besetzt, hatte sich im Inneren jemand Mühe gegeben, die drei kleinen Räume bewohnbar zu erhalten. Greg Colfax hatte einen nicht unerheblichen Anteil daran. Es gab einen Wohnraum mit Kamin, einem durchgesessenen Sofa und einem leeren Regal. In der Küche stand ein Holzherd, und in einem alten Küchenschrank fand man sämtliche Utensilien, die man zum Kochen brauchte. Ein stabiler Holztisch mit vier Stühlen nahm die Mitte des Raumes ein. Außerdem gab es noch einen kleinen Schlafraum, der fast ganz von zwei zusammengeschobenen Betten ausgefüllt wurde. Greg öffnete alle Fenster, um die abgestandene Luft aus den Räumen zu lassen. Als nächstes drückt er den Stecker vom Boiler in die Steckdose. „Eine Dusche gibt es leider nicht, aber wenigstens hast du warmes Wasser. Der elektrische Herd hat leider nur zwei Platten.“ Er zauberte ihn unter einem Baumwolltuch hervor. „Wenn du ein Menü kochen willst, mußt du den Holzherd anfeuern.“ Er lächelte geknickt. „Es ist schön hier“, sagte Hanna schlicht. „Nicht so komfortabel wie bei dir, aber dafür ungeheuer verzaubert. Und außerdem hast du es nur für mich gemietet und nicht gekauft, oder?“ „Natürlich“, erwiderte er, und wußte nicht so recht, was sie damit meinte. Als sie ihm 50 Dollar reichte, wollte er das 121
Geld nicht nehmen. Aber sie bestand darauf. „Du bist nicht für mich verantwortlich“, sagte sie. „Bin ich doch“, meinte er, als er das Geld schließlich einsteckte. „Ich habe dich aus dem Meer gefischt. Eigentlich gehörst du jetzt mir.“ Hanna lachte laut, und verstummte, als sie merkte, daß er nicht lachte. Sie begann, ein paar Kleidungsstücke auszupacken. „Ich muß so schnell wie möglich nach Vancouver Island.“ „Wir fahren bald“, vertröstete er sie. „Vor oder nach dem Potlach?“ Er sagte nichts. „Wirst du Annie Ides heiraten?“ fragte sie ihn. Greg setzte sich und rieb das Gesicht in den Händen. Diese Frage war sehr persönlich, und er wußte nicht, ob er sie beantworten sollte. Die Antwort forderte eine Entscheidung von ihm, die er schon seit einigen Monaten vor sich herschob. Er dachte daran, daß er Hanna vor gut einer Stunde beinahe geküßt hätte, wenn nicht sein Vater dazwischengekommen wäre. Er dachte, daß er es noch einmal versuchen würde, wenn sich eine Gelegenheit ergab. „Ich liebe Annie nicht“, rang er sich ab. „Das weiß ich. Ich wollte wissen, ob du sie heiraten wirst.“ Er hob den Kopf. „Warum willst du das wissen?“ „Ich versuche zu verstehen, was in Jims Kopf vorgegangen ist, warum er sich meiner Liebe entzogen hat. Vielleicht hat es etwas mit irgendwelchen Regeln zu tun, die ich nicht kenne. Vielleicht sind Makahmänner tatsächlich anders.“ „Schon möglich“, meinte Greg. Dann sagte er: „Ich werde Annie Ides nicht heiraten. Aber trotzdem ist es wichtig, daß ich zu diesem Potlach gehe, wenn ich eingeladen bin.“ „Das verstehe ich nicht.“ „Das ist alles nicht so einfach, wie du denkst, Hanna“, seufzte er. „Wir Makah haben eine jahrhundertealte Tradition, etwas, das uns zusammenhält und verhindert, daß 122
wir in dieser Zeit verrückt werden. Das kann ich nicht einfach so zur Seite schieben.“ „Aber du hast gesagt, du bist nicht wie sie, Greg.“ Er stöhnte leise. „Das ist wahr. Aber ich kann auch nicht so sein wie du.“ „Wie bin ich denn?“ „Ich weiß nicht“, er hob die Schultern, „irgendwie freier. Du hast es leichter. Auf jeden Fall schleppst du deine Vergangenheit nicht als ewige Verantwortung mit dir herum. Ich wurde hier geboren, ich bin ein Makah, ein Indianer. Manchmal glaube ich, daß uns der Schöpfer aus einem bestimmten Grund überleben ließ. Wir sind das Gewissen der Nation. Und jeder – ob nun meine eigenen Leute, oder all die Fremden – erwartet von mir, daß ich mich auch so verhalte.“ „Aber das mußt du nicht.“ „Vielleicht nicht“, erwiderte er. „Aber selbst du willst es so.“ Hanna schwieg betroffen. Sie wußte, daß er recht hatte. Es war das Schwerbeschreibliche, das Andersartige, was sie so an Jim geliebt hatte. Und das sie jetzt an Greg mochte. „Wir haben nichts gemeinsam, nicht wahr?“ meinte sie schließlich traurig. Greg erhob sich und ging zur Tür. „Ich gehe jetzt“, sagte er, „du wirst schon zurechtkommen. Schieb den Riegel vor. Wir sehen uns morgen.“ „Aber.!“ Er drehte sich noch einmal um. „Wir haben doch etwas gemeinsam: Jim.“ Sie wollte etwas erwidern, doch er war schon in Richtung Strand verschwunden. *** Als Grace Allabush sich versichert hatte, daß ihre Großmutter fest schlief, schlich sie sich aus dem Haus. Joey wartete im Schatten eines Strauches auf sie. Er sah sie einen 123
Augenblick voller Zärtlichkeit an, dann küßte er sie auf den Mund. „Setzen wir uns in deinen Wagen?“ fragte sie, erregt von ihrer Flucht aus dem Haus und der Erwartung, was gleich passieren würde. „Nein“, flüsterte er. „Laufen wir ein Stück.“ Grace wunderte sich. Sie trug ein Kleid und nichts darunter, weil sie glaubte, Joey würde in dieser Nacht sein Versprechen einlösen. „Das Kleid steht dir“, sagte er. „ich habe dich immer nur in Hosen gesehen.“ Ihre Hand in seiner warmen, sie konnte an nichts anderes denken. Diese weichen Hände auf ihren Brüsten. Seine Zunge in ihrem Mund. Joey blieb stehen. „Grace, ich weiß jetzt, wen ich im Wald gesehen habe.“ „Und wen hast du gesehen?“ fragte sie. Er senkte den Kopf, als wäre ihm die Antwort unangenehm. „Es war Tsonoqa, die Wilde Frau.“ Grace preßte sich eine Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen. Joey ließ sie los. Er war gekränkt. „Ich habe gehört, wie mein Vater von ihr erzählte. Er hat sie auch gesehen, als er im Wald Holz holte. Sie ist fast nackt, trägt nur einen Bastrock aus Zedernrinde. Du weißt schon, wie unsere Vorfahren sie trugen.“ Grace’s Augen wurden rund und groß. „Das hast du gesehen?“ „Nein. Ich konnte nur ihre Augen sehen. Aber ich weiß, daß sie es war. Wäre es jemand anders gewesen, würden die Leute im Ort längst über uns spotten. Es hätte sich herumgesprochen, was wir da draußen vorgehabt haben.“ Grace schwieg. Was er da sagte, war nicht von der Hand zu weisen. „Ich dachte, Tsonoqa existiert nur in unseren Geschichten“, meinte sie zaghaft. „Großmutter sagt zwar immer, daß unsere Geschichten lebendiger wären, als manch einer von uns glaubt, aber ich hatte keine Ahnung, wie recht sie damit hat.“ 124
Joey packte Grace am Arm. „Ich werde sie aufspüren“, sagte er erregt. Grace machte sich los. „Versuche es nicht, Joey. Sie kann dich töten.“ Er hatte keine Angst, aber er lachte auch nicht über ihre. „Das glaube ich nicht“, sagte er. „Sie ist eine von uns.“ „Wir sind keine Geister, Joey, aber sie ist ein Geist.“ „Nein“, er schüttelte nachdenklich den Kopf, „ich fürchte, sie ist aus Fleisch und Blut – wie wir. Aber ihr Groll richtet sich nur gegen Fremde.“ „Wie kommst du darauf?“ fragte Grace. Sie blieb stehen, denn der Wald war plötzlich sehr nahe. Die Bäume warfen lange Schatten im Mondlicht. Einer inneren Eingebung folgend, kehrten sie um. Und Joey erzählte ihr die Geschichte von der deutschen Frau, die am Cape Flattery durch das Geländer gestürzt war, und nur durch ein Wunder überlebt hatte. Er hatte heimlich zugehört, als sein Onkel Oren es seinem Vater erzählte. Grace sagte: „Greg Colfax war mit dieser Frau bei uns. Er wollte den Schlüssel für das Strandhaus. Er sagte, sie würde nach Jim Claplanhoo suchen. Ich denke, er schläft mit ihr.“ „Jim Claplanhoo? Ich dachte, der große Künstler ist in Deutschland geblieben?“ „Das denken alle“, meinte sie geheimnisvoll. Joey umarmte Grace und küßte sie. „Ich bin verrückt nach dir“, sagte er, und in diesem Augenblick spürte er, daß sie nichts unter ihrem Kleid trug. Es verwirrte ihn. Er hatte keine Ahnung, daß sie so sehr darauf wartete. „Bis morgen“, sagte er, als sie am Haus angekommen waren. „Bis morgen, Joey“, sagte sie leise. *** Regen trommelte gegen die kleinen Fensterscheiben des 125
Strandhauses und Hanna knurrte verschlafen, als jemand gegen die Tür klopfte. Seufzend kroch sie aus dem Bett und tappte zur Tür. „Wer ist da?“ fragte sie. „Mach schon auf!“ sagte Greg, „ich werde ganz naß.“ „Was habt ihr bloß für schreckliches Wetter hier“, murmelte sie verschlafen, als er an ihr vorbei in die Hütte schlüpfte. Sie ging wieder in ihr warmes Bett zurück, schon allein, um ihm nicht weiter im Nachthemd gegenüberstehen zu müssen. Sie wußte, daß ihre Beine zu dünn waren. „Das ist unser gutes Nordwestküstenklima“, hörte sie ihn sagen, „mild, aber ziemlich feucht. Trockene Sommer sind selten. Dafür leben wir auf einem der schönsten Flecken der Erde. 1981 wurde der Olympic Nationalpark zum Weltkulturerbe erklärt. Auf der ganzen Welt gibt es nur wenig mehr als hundert solche Stätten. Zum Beispiel das alte Theben mit seinen Pyramiden, der Serengeti Nationalpark in Tansania, das Great Barrier Reef in Australien und einige Schlösser in Potsdam.“ Er hatte seine Jacke ausgezogen und über eine Stuhllehne gehängt. Jetzt stand er in der Tür zur Schlafkammer. „Wußtest du das?“ Sie brummte. „Außerdem gibt es hier acht Pflanzenarten und achtzehn Tierarten, die du nur auf der Olympic Halbinsel und nirgendwo sonst auf der Welt findest“, schloß er seine morgendlichen Ausführungen. Hanna rollte sich herum. „Und deswegen soll ich jetzt aufstehen?“ Er rieb sich die Hände. „Ihr Touristen liebt die Natur nur, wenn sie schön ist. Wir Indianer lieben sie um ihrer selbst willen. Der Sturm mag grausam sein, der Regen kalt, das Meer wild – uns ist es genug. Das Wetter solltest du einfach ignorieren. Wir Makah tun das seit hunderten von Jahren.“ Wie ermutigend, dachte Hanna. Sie setzte sich auf und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war grau, und es sah 126
auch nicht aus, als ob sich das so bald ändern würde. Greg setzte sich neben sie aufs Bett. Er war so nah, daß sie den sauberen Duft von Seife und Rasierwasser wahrnahm. „Ich wollte dich zum Frühstück einladen“, sagte er. „Ich muß heute sowieso in die Werkstatt, weil ich Annie die Rinde versprochen habe.“ „Was ist mit deinem Vater?“ „Als ich gestern zuhause ankam, schlief er. Und heute morgen, als ich ging, schlief er noch. Sieht so aus, als ob er keine Lust hätte, mit mir darüber zu reden.“ Er hob die Hände. „Mein Gott, Hanna, er ist ein alter Mann mit einer verstümmelten Kindheit, und seine Ansichten sind deshalb zuweilen etwas starr. Er ist der festen Überzeugung, daß du ihm Jim weggenommen hast. Und nicht nur das, sondern mit ihm auch all das Wissen und Können, das er an Jim als seinen Nachfolger weitergegeben hatte.“ „Ich fahre heute noch nach Vancouver Island.“ Greg sah sie eine Weile zweifelnd an. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, der Adler auf seiner Stirn setzte zum Flug an. „Wie du willst“, meinte er schließlich. „Bringst du mich vorher in der Werkstatt vorbei?“ „Hast du kein Auto?“ fragte sie. „Nein, ich kam mit dem Boot.“ Hanna schlüpfte unter der Decke hervor und griff nach ihren Sachen. „Ich beeile mich“, sagte sie und verschwand in der Küche. Nach zehn Minuten Katzenwäsche – Make-up inclusive – war sie fertig. Während der Fahrt sagte Greg kein Wort. Mit finsterer Miene brütete er vor sich hin. Das nervtötende Hin und Her der Scheibenwischer machte alles noch unerträglicher. Hanna war voller unterdrückter, zorniger Energie. Sie war wütend auf Greg. Jeden Tag dachte er sich etwas anderes aus, womit er sie von der Suche nach Jim abhalten konnte – so schien es ihr jedenfalls. Er tat so, als wäre sie tatsächlich zum Vergnügen hier. Das ärgerte sie, und sein brütendes Schweigen ärgerte sie noch mehr. Schließlich war er nicht Jim. 127
Irgendwann hielt Hanna es nicht länger aus und lenkte den Chevy an den Straßenrand. Sie bremste scharf und würgte dabei den Motor ab. „Tut mir leid“, sagte sie, „aber ich bin nicht so geduldig wie du. Ich will Jim finden, deshalb bin ich hier. Ich schaffe es einfach nicht, untätig herumzusitzen, während du in aller Ruhe eine Zeder entrindest. Ich will nicht mehr warten.“ Ihr vorwurfsvoller Tonfall erinnerte ihn daran, daß er Schwierigkeiten hatte, Frauen zu verstehen. Es war wirklich nicht einfach, ihre Gedankengänge nachzuvollziehen. „Manchmal ist Warten das Schwerste“, sagte er. Sie sah ihn lange an. Seine Ruhe, diese innere Ausgeglichenheit. Das Geheimnis hinter dem Schweigen, oder vielleicht nur das große Nichts. „Ich halte das nicht mehr aus“, preßte sie hervor. „Du machst mich verrückt.“ Greg beugte sich zu ihr herüber, ganz langsam, seine Augen waren schwarze Löcher. „Du mich auch“, entfuhr es ihm plötzlich, und im selben Augenblick spürte sie den festen Druck seiner Hand auf ihrem Hinterkopf und den festen Druck seiner Lippen auf ihrem Mund. „Du …“, sie japste nach Luft, aber er hatte seinen Klammergriff schon wieder gelockert und sie losgelassen. „Ruf mich an, wenn du ihn gefunden hast“, sagte Greg ungerührt. Ganz unerwartet fing sie an zu schluchzen. Tränen quollen aus ihren Augen und sie suchte nach einem Taschentuch. „He?“ meinte er erschrocken. „Ist schon gut.“ Er reichte ihr ein angegrautes Kleenex. Seine Erfahrung mit Tränen lag schon einige Jahre zurück. Hanna flüchtete aus dem Wagen und lief ein Stück in den Wald. Mutlos ließ sie sich auf einen gefallenen Stamm sinken und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Von den Blättern eines Strauches tropfte Regen in ihren Nacken. Ein Rabe, der neben ihr auf dem Stamm hockte, krächzte erschrocken und breitete die schwarzen Flügel aus. Aber der Vogel flog nicht 128
davon. Neugierig reckte er den Hals, legte den Kopf schief und fixierte sie mit seinen schwarzen Knopfaugen, als ob er sich fragte, was sie hier zu suchen hätte. Hanna schluchzte, die Farbe in ihrem Gesicht verlief zu gräulichen Rinnsalen und die Sommersprossen kamen wieder zum Vorschein. Sie fühlte sich einsam und fremd. Nicht einmal Ola war da, an der sie sich festhalten konnte. Und Greg … Sie war immer noch nicht dahintergekommen, warum er keine Anstrengungen machte, bei der Suche nach Jim weiterzukommen. Im Gegenteil, fast schien es, als wolle er sie davon abhalten. Trotzdem war er immer gegenwärtig. Was also, wollte er wirklich von ihr? Sie hob den Kopf und wischte sich die Nässe aus dem Gesicht. Über ihr verschmolzen die Wipfel der Baumriesen und grüngewaschenes Licht drang in Strahlen durch die Zweige. Die Stille wurde zu einer merkwürdigen, unbekannten Melodie, die vom geheimnisvollen Wesen der Bäume erzählte. Und mit einem Mal empfand Hanna diese Stille nicht mehr als unheimlich, sondern wie einen seltsamen Trost. In der Umhüllung des regennassen Waldes fühlte sie sich geborgen und nicht mehr allein. „Krch…“, fauchte Der Rabe, als Greg sich beiden näherte, und trat von einem Bein auf das andere. Colfax hütete sich, den Schwarzen zu vertreiben. Rabe war ein heiliges Tier und einer seiner Schutzgeister. Auf jedem Pfahl, den er schnitzte, gab es auch einen Raben, denn er hatte Macht. „Na komm“, meinte er versöhnlich zu dem aufgeregten Vogel, „meinst du nicht, daß ich mehr Erfahrung mit verstörten Frauen habe, als du?“ Vielleicht war das übertrieben, aber der Rabe ging darauf ein. Neugierig verfolgte Hanna das Schauspiel. Greg streckte die Hand nach dem Tier aus und der Rabe zwickte ihn in den Finger. Dann hüpfte der Vogel auf seine Handkante, stieß 129
ein rauhes Krächzen aus und flog auf Gregs Schulter. Dort blieb er sitzen. Konnte es so etwas geben? Vielleicht. Doch vielleicht war es ebenso unwirklich, wie manch anderes hier. Hanna schniefte und wischte sich mit dem Jackenärmel über die Nase. Es wurde ziemlich schnell unangenehm feucht. Von unten und von oben. Wasser sammelte sich auf den Blättern und rann in langen Tropfen herunter. Ungläubig starrte Hanna auf den Mann mit dem Raben auf der Schulter. Gregs Haar und das Gefieder des Vogel schienen von derselben Beschaffenheit zu sein. Die dicken Wassertropfen perlten davon ab wie Kugeln aus Quecksilber. Dieser Anblick versetzte sie in Staunen. Und im selben Augenblick begriff sie, daß sie sich fügen mußte, wenn sie diese Welt kennenlernen wollte. Dieses Land hatte seinen eigenen Rhythmus: den der Natur, den der Legenden – und den der Magie. Und wenn man versuchte, sich dem Lauf der Zeit, dem Wechsel der Jahreszeiten, und dem Wechsel von Sonne und Mond zu widersetzen, dann geriet alles durcheinander. So begann sich Hannas ursprüngliche, von wilden Träumen bestimmte Liebe zu diesem Stück Erde, in eine wissende, unverbrüchliche Zuneigung zu verwandeln. Als Greg sich auf sie zu bewegte, flog der Rabe mit einem Krächzen davon. Sie sah den Flug des Raben in den Pupillen des Mannes. Seine Hand berührte ihre Schulter. „Na komm“, sagte er. „Ich habe einen Mordshunger.“ Sie fuhren nach Neah Bay in Rosie’s II. Cafe. Es hieß so, weil Rosie’s I. Cafe einem Brand zum Opfer gefallen war, und sie Nr. II an derselben Stelle hatte errichten lassen. Die Einrichtung war zweckmäßig – Tische mit Kunststoffoberfläche, und Leichtmetallstühle, deren Sitzfläche 130
und Lehne gepolstert und mit rotem Kunstleder überzogen waren. Dennoch, in den Fenstern standen Töpfe mit echten Grünpflanzen, die einen ausgesprochen gesunden Eindruck machten. Und die Wände zierten Bilder, deren Maler etwas von seinem Handwerk verstand. So wie Rosie etwas von ihrem Handwerk zu verstehen schien, denn das Cafe war nahezu voll. Sie setzten sich an einen Zweiertisch am Fenster. Hanna hatte sich wieder beruhigt, und Greg tat so, als wäre nichts gewesen. Er hatte gelernt, über Dinge hinwegszusehen. Rosie McCarty brachte ihnen Pappbecher mit faltbaren Henkeln und schenkte Kaffee ein. Sie lächelte breit: „Hi Greg, wie geht’s denn so?“ Sie war eine beleibte Frau mit dunkelblonden Haaren, die von einem schwarzen Samtband streng aus dem Gesicht gehalten wurden. „Kann nicht klagen, Rosie“, sagte Greg und lächelte zurück. Rosie wußte ganz sicher, was oben am Kap passiert war. Sie wußte immer alles, was auf der Reservation passierte. Ihrem neugierigen Charakter blieb nichts verborgen. „Was kann ich euch bringen?“ fragte sie, mit einem so hintergründigen Lächeln, als hätte sie wissen wollen, wie die vergangene Nacht war. „Ich nehme Rührei mit Schinken und Toast“, sagte Greg. „Ich dasselbe“, meinte Hanna. Rosie kritzelte was auf ihren Block und verschwand – dieses Lächeln immer noch im Gesicht. Der morgendliche Regen hatte ihr zusätzlich zu ihren indianischen Stammgästen noch ein paar Bewohner vom Zeltplatz beschert, und sie huschte mit erstaunlicher Wendigkeit durch die Tischreihen, um weitere Bestellungen aufzunehmen. Als Hanna die Toilette aufsuchte, blieb sie vor einem der gerahmten Bilder stehen und betrachtete es genauer. Es war die plakative Darstellung des grauen Ozeans zwischen zwei schwarzen Felsenufern, die vermutlich das Kap und Tatoosh 131
Island zeigten. Der Himmel änderte seine Färbung von Dunkelrot in Nachtblau. Die verschiedenen Farbbänder waren durch klare, dunkle Linien voneinander getrennt. Im Meer vier Lachse, die in eine Richtung schwammen. Wieder gab es keine leeren Flächen. Und so, wie die Lachse dargestellt waren, hätten sie auch einem Totempfahl entspringen können. Ebenso wie der Mond, der über dem Felsen in der gelben und orangen Himmelsschicht festhing, und ein Auge hatte, das den Betrachter des Bildes genau fixierte. Es war überflüssig zu fragen, wer dieses Bild ohne Signum gemalt hatte, aber sie tat es trotzdem. Rosie hielt einen Augenblick in ihrer Geschäftigkeit inne und lächelte. „Es ist von dem jungen Mann, mit dem sie gekommen sind, Miss. Er hat auch all die anderen Bilder hier gemalt.“ Sie nickte Hanna freundlich zu und verschwand durch eine Schwingtür in ihrer Küche, aus der es nach Rührei, gebratenem Schinken und frischem Kaffee roch. Vor dem Toilettenspiegel entdeckte Hanna das Chaos in ihrem Gesicht. Sie entfernte die Reste von Schminke und wusch es gründlich. Dann ging sie zurück in den Gästeraum und setzte sich Greg gegenüber. „Deine Bilder sind beeindruckend“, sagte sie. Er betrachtete ihr sauberes Gesicht: Die gewölbten Lippen, ihre kleine Nase mit dem leicht gebogenen Nasenrücken, und die auffallend großen Augen. Ohne Make-up gefiel sie ihm besser. An die braunen Punkte hatte er sich gewöhnt. „Rosie hat mich also verraten“, meinte er lächelnd. „Das sollte sie nicht. Ich male nicht mehr.“ „Schade, wirklich.“ Er sah aus dem Fenster, in Gedanken verloren, aber zu den Bildern sagte er nichts mehr. Rosie kam an ihrem Tisch vorbei und trug immer noch dasselbe Lächeln. Vermutlich hatte sie es am Morgen aufgesetzt, so wie sie sich vor der Arbeit ihre gestärkte weiße Schürze 132
umgebunden hatte. Und erst am Abend, wenn sie allein war, würde das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwinden. „Gibt es eigentlich viele Weiße, die bei euch auf der Reservation leben“, fragte Hanna, während sie mit einem Plastikstäbchen ihren Kaffee umrührte. Greg wandte ihr den Kopf zu. „Meinst du etwa Rosie?“ Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Rosie ist eine Makah. Und ihre Mutter ist auch nicht heimlich mit einem großen Blonden ins Bett gegangen.“ Er nippte vorsichtig an seinem Kaffee, der bei Rosie immer heiß und stark war, und sagte: „Zwar sind wir ziemlich lange von den Europäern verschont geblieben, weil die Halbinsel durch breite Flüsse und dichte Wälder von Süden her unzugänglich, und unsere Küste stürmisch und voller gefährlicher Klippen war. Aber gegen 1790 kamen sie dann doch. Manuel Quimper, ein Mexikaner, der unter spanischer Flagge segelte, landete mit seinem Schiff Princesa Real in Neah Bay. Er gab dem Ort den Namen Bahia de Nunez Gaona. Zwei Jahre später, im Mai 1792, kamen die Spanier wieder und errichteten ein Fort in der Bucht. Sie zeigten sich von ihrer schlimmsten Seite: mißbrauchten die Frauen und töteten jeden, der sich ihnen entgegenstellte. Sie plünderten die Vorräte und raubten an Schätzen, was ihnen unter die Finger kam.“ Und dieses Bild hat sich in der offenen Wunde eines ganzen Volkes festgesetzt, dachte Hanna. Es sitzt in ihren Blicken, mit denen sie mich anschauen und sich fragen, was ich hier verloren habe. Über Jahrhunderte hatten sie sich die Zweideutigkeit ihrer Gesten bewahrt, so daß ein Fremder nie wirklich wußte, woran er war. Es war der Schmerz, den sie alle mit sich herumtrugen, der den Versuch durchkreuzt hat, sich wirklich zu verändern. Warum konnte es keine Grenze geben zwischen der Vergangenheit, in der es sie und Greg Colfax noch gar nicht gab, und der Zukunft, die sie beide noch vor sich hatten? Welten die sich begegnen, aber nicht berühren, hatte er 133
gesagt. Sie wandte sich ab, damit er ihre Traurigkeit nicht sehen konnte. Greg wartete, bis die junge, schwarzhaarige Kellnerin, die Kaffee nachgoß, wieder gegangen war. Dann fuhr er fort. „Aber irgendwie gefiel es den Spaniern bei uns trotzdem nicht. Vermutlich hatten sie sich das Zusammenleben mit den Ureinwohnern etwas anders vorgestellt, nicht so – unterkühlt“, meinte er spöttisch. „Jedenfalls verschwanden sie im September desselben Jahres wieder, genauso schnell, wie sie sich in Neah Bay breitgemacht hatten. Bahia de Nunez Gaona geriet bei den Europäern in Vergessenheit. Was sie zurückließen, waren Werkzeuge, die wir gut gebrauchen konnten, Krankheiten, die unser Volk erheblich dezimierten, und die Tatsache, daß bis heute hin und wieder ein hellhaariges Kind unter uns geboren wird, obwohl beide Eltern Makah sind.“ Hanna gab sich beeindruckt. „Deine Rolle als Gewissen der Nation erfüllst du wirklich gut“, sagte sie, und blieb ernst. „Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen“, meinte er ebenso ernst. „Deutsche kamen erst nach Neah Bay, als für uns Makah sowieso schon alles zu spät war.“ „Ich fühle mich nicht schuldig“, erwiderte sie. Rosie brachte das Frühstück und goß unaufgefordert Kaffee nach. Das würde sie so lange tun, bis einer von ihnen sagte, daß er genug hatte. Hanna schwieg, bis die füllige blonde Indianerin wieder außer Hörweite war. „Ich fühle mich nicht schuldig für Dinge, die hunderte Jahre vor meiner Geburt geschehen sind“, sagte sie. „Aber ich denke eine Menge über das nach, was ich gegenwärtig tue.“ „Und“, fragte er kauend, und lächelte nun doch, „zu welchem Ergebnis bist du gekommen?“ „Daß mein Instinkt mich verlassen hat und meine Intuition jämmerlich versagt. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Er wurde wieder ernst. „Es ist, weil du hier keine Wurzeln 134
hast. Deshalb solltest du dich auf meinen Instinkt verlassen. Du bist viel zu sehr damit beschäftigt, Antworten zu finden, und zu wenig an der wahren Suche interessiert.“ Hanna wollte protestieren, aber dann wurde ihr klar, daß er wieder mal recht hatte. Wortlos starrte sie auf den Grund ihres Kaffeebechers.
135
6. Kapitel Bill Lighthouse klopfte eine weiteres Mal gegen die verriegelte Holztür und rief nach Greg, als sie plötzlich aufging und er Matthew Colfax gegenüberstand. Vermutlich kam er gerade aus dem Bett, denn er trug noch seinen braunen Morgenmantel. Der Pfahlschnitzer hatte für Bill schon in seiner Kindheit etwas Unheimliches an sich gehabt, aber jetzt sah er aus wie der böse Geist des Meeres selbst. Unter geschwollenen Lidern blieben seine Augen nur schmale Schlitze. Sein Haar stand störrisch nach allen Seiten vom Kopf ab und seine Mundwinkel zuckten. Er hatte die kräftigen Hände zu Fäusten geballt, als wolle er jeden Moment zuschlagen. Lighthouse machte erschrocken einen Schritt zurück. „Was willst du, Bill?“ fragte Matthew gereizt. „Ist was passiert?“ „Nein, nein“, wehrte der Sheriff mit den Händen ab. „Ich wollte nur wissen, ob Greg zu Hause ist. Ich muß ihn sprechen!“ Er bemerkte, daß Matthew zwar wütend war, die Haltung des alten Mannes aber von einer gewissen Mutlosigkeit zeugte. „Ich weiß nicht, wo er ist“, erwiderte Colfax, „vermutlich bei dieser Frau. Wenn du Glück hast, dann triffst du ihn vielleicht in der Werkstatt.“ Die Tür schloß sich wieder. Bill Lighthouse stand eine Weile auf der Veranda und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Was war vorgefallen, das den alten Mann so wütend gemacht hatte? Das miserable Wetter allein konnte der Grund nicht sein. Es mußte mit der Frau zusammenhängen. Greg war demnach immer noch mit ihr zusammen. Und Matthew Colfax haßte Hanna. Lighthouse fuhr zurück nach Neah Bay und wartete unter 136
dem Vordach der Werkstatt auf Greg. Nach einer Dreiviertelstunde war seine Geduld am Ende und er wollte zurück aufs Revier fahren, als Hannas roter Chevy um die Ecke bog. Nur Greg stieg aus und Lighthouse fragte sofort: „Wo hast du Miss Schill gelassen?“ „Was, zum Teufel, geht dich das an, Bill Lighthouse? Seit wann ist mein Privatleben Sache der Polizei?“ Der Sheriff wand sich ein wenig. „Ich mache mir Sorgen um sie, Greg. Irgendjemand versucht Fremde von Neah Bay fernzuhalten, und das auf ganz üble Weise. Die Sache mit dem Geländer ist nur ein Beispiel von vielen.“ Greg packte Lighthouse am Kragen. „Was sagst du da?“ Der Sheriff machte sich los. „Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst. Vor zwei Jahren die Sache mit dem Stamm, oben auf der Cape Loop Road. Dann das Boot mit den Japanern, der Trailer am Hobuck Beach, die zerstochenen Reifen …“, Bill schniefte. „Ich glaube, jemand von uns will allen Fremden gehörig Angst einjagen.“ „Das kaputte Geländer …“, Greg schien zu überlegen. „Ich habe Hanna zu Gertrude Allabush gebracht. Dort ist sie sicher. Wenn ich hier fertig bin, hole ich sie wieder ab.“ „Ich war bei deinem Vater, Greg. Er ist ziemlich wütend, weil du immer noch mit ihr zusammen bist. Du hast doch gesagt, sie würde verschwinden, wenn sie ihre Sachen wiederhat.“ Bill rechnete damit, daß Greg erneut sagen würde, daß ihn das nichts anging, aber er sollte sich irren. Greg Colfax klopfte Lighthouse auf die Schulter. „So einfach ist das nicht. Komm erstmal mit rein, ich glaube, ich muß dir was erzählen.“ *** Der Erlös für die Körbe und Hüte war alles, wovon Gertrude Allabush und ihre Urenkelin Grace ihren Lebensunterhalt bestritten. Neben Annie Ides und ihrer Mutter 137
Marie waren sie die einzigen im Ort, deren Fertigkeiten bis zum Pudget Sound und bis nach Kanada hinüber berühmt waren. Dafür hatte Jim Claplanhoo gesorgt. Annie Ides und ihre Familie gehörten zur mächtigen Moiety der Raben, so wie Greg und sein Vater zur Stammeshälfte der Wölfe gehörte. Jim hingegen gehörte zu keiner dieser Moieties. Er war ein Nootka, so hatte er behauptet, ein entfernter Verwandter. Niemand wußte, welcher Lineage er abstammte. Gertrude Allabush war für ihn wie eine Großmutter gewesen, und so hatte er sich verantwortlich gefühlt und auf seinen Reisen immer auch an sie gedacht. Er hatte ihr und ihrer Tochter Lana Aufträge besorgt, und ihre Flechtarbeiten an Galerien in Seattle, Tacoma und Portland verkauft. Lana Allabush, Gertrudes Tochter, war mit 34 Jahren im Meer ertrunken. Ihre Enkelin Celina war vor vier Jahren mit einem weißen Farmer aus Montana durchgebrannt. Sie hatte ihn geheiratet und damit ihren Status als Angehörige des Stammes der Makah verloren. Männer schien es in dieser Familie nie für etwas anderes gegeben zu haben als zur Zeugung eines neuen Allabush Mädchens. Gertrude Allabush war zwar verheiratet gewesen, hatte ihren Mann aber nach kurzer Ehe wieder verlassen, als sie merkte, daß er herrisch und spielsüchtig war. Hanna beobachtete Grace beim Herstellen winziger Henkelkörbe, aus denen das Mädchen später Ohrringe fertigte. Im Museum hatte sie solche Ohrringe gesehen. Sie hatten mehr als 70 $ gekostet. Ein Preis, der ihr gerechtfertigt erschien, nachdem sie jetzt die Arbeit sah, die zur Herstellung der Körbchen notwendig war. Grace sah von ihrer Arbeit auf. „Ich mache nicht viele davon“, sagte sie, „nur ein oder zwei Paar im Monat.“ „Sie sind sehr schön“, erwiderte Hanna. „Ja, aber es gibt kaum jemanden, der sie kauft. Höchstens 138
mal ein Sammler. Welche Frau will schon Makah Fischkörbe am Ohr tragen“, meinte Grace und lachte. Dieses Mädchen schien absolut zufrieden mit dem Leben zu sein, etwas, das Hanna nur schwer begreifen konnte. Andere Mädchen in ihrem Alter hatten Klamotten und junge Männer im Sinn. Aber Grace flocht Bastkörbe mit ihrer Großmutter. Tag für Tag, Abend für Abend. Da Gertrude zu diesem Zeitpunkt in der Küche hantierte, wagte Hanna die Frage: „Grace, langeweilt es dich nicht, Tag für Tag mit deiner Großmutter Bastkörbe zu flechten?“ Grace schüttelte lächelnd den Kopf. „Es langweilt mich nie. Sie erzählt Geschichten von früher, während wir arbeiten. Sie weiß so viel. Manchmal habe ich Angst, daß ich nicht mehr genug lernen kann.“ Mit Tee und Erdnußbutterplätzchen kam Gertrude aus der Küche zurück. Ihr Gehör schien trotz ihres Alters noch sehr gut zu sein. „Ich habe dir alles beigebracht, was eine gute Flechterin können muß“, sagte sie. „Du wirst später davon leben können, so wie deine Mutter und ich all die Jahre.“ Grace konnte ihre Urgroßmutter nicht ansehen. Sie dachte an Joey und seine Küsse. Sein Versprechen. Sie, Grace, würde die erste Allabush Frau sein, die ihr Leben an der Seite eines Mannes verbringen würde. Eines klugen, guten und zärtlichen Mannes. Ihre Zukunftspläne kamen ihr manchmal wie Verrat vor. Doch sie bezwangen das Warten. Und sie färbten ihre Träume. *** Greg entrindete den Zedernstamm mit einer scharfen Ziehklinge, deren Holzgriffe mit einfachen Schnitzereien verziert waren. Dann griff er zur Ellenbogenaxt. Sie hieß so, weil ihr Klinge waagerecht zum abgewinkelten Stiel stand und querseitig angebracht war. Mit ihrer Hilfe konnte er den 139
entrindeten Pfahl runden und glätten. Auch der Griff der Ellenbogenaxt war verziert, so wie alles Gerät, das ein Pfahlschnitzer benutzte. Greg und Bill unterbrachen ihr Gespräch, als Matthew Colfax seinen Wagen am Straßenrand parkte und die Werkstatt betrat. Er machte sich sofort an seine Arbeit: eine Maske aus Zedernholz, mit Zähnen aus Abalonemuscheln und drahtigem Roßhaar. Der alte Holzschnitzer hatte sich in die Tiefen seiner Besessenheit zurückgezogen. Es schien, als wären die beiden jungen Männer für ihn gar nicht vorhanden. „Ich frage mich, was er weiß“, meinte Lighthouse. Er flüsterte, obwohl der alte Mann im Haus arbeitete, und sie hier draußen nicht hören konnte. „Er hat Hanna sofort wiedererkannt“, sagte Greg. „Aber statt sie nach Jim zu fragen, hat er sie nur beleidigt. Ich glaube nicht, daß er etwas weiß. Sein Zorn hat ihn überwältigt.“ Der Sheriff hob die Schultern. „Dein Vater hatte große Hoffnungen in Jim gesetzt. Daß er nicht zurückkam, war ein schmerzlicher Verlust für ihn.“ „Niemand weiß das besser als ich“, meinte Greg. „Weil Jim nicht zurückkam, mußte ich mein Leben vollkommen ändern. Ich habe die Frau verloren, die ich liebte.“ Bill blickte zu Boden. „Tut mir leid, Greg, das wußte ich nicht.“ Die unerwartete Offenheit des anderen irritierte ihn. Solche Dinge waren nicht üblich unter den Makah. „Trotzdem hege ich keinen Groll gegen Hanna“, sagte Greg. „Niemand kann ihr vorwerfen, daß sie Jim geliebt hat – und er sie“, fügte er hinzu. „Sie dauert dich, nicht wahr?“ Lighthouse sah Greg prüfend ins Gesicht. „Ich fühle mich für sie verantwortlich“, meinte er achselzuckend, „das ist alles.“ Der Sheriff nickte, auch wenn er wußte, daß das nicht alles war. „Wenn irgendetwas sein soll140
te, Greg, dann wende dich an mich. Hunter will nichts davon hören, daß die Vorfälle auf der Reservation in irgendeinem Zusammenhang stehen. Ich glaube, er verschließt da absichtlich die Augen.“ „Habt ihr Streit?“ „Nein, eigentlich kommen wir ganz gut miteinander aus. Aber du weißt, wie starrköpfig er sein kann. Seit drei Tagen läuft er mit dieser finsteren Miene herum, daß man denken könnte, jemand aus seiner Verwandschaft wäre gestorben.“ „Wirst du ihm alles erzählen?“ fragte Greg. „Erst einmal nicht. Warten wir ab, wie die Dinge sich entwickeln.“ Lighthouse warf noch einen Blick durch die staubige Scheibe der Werkstatt, hinter der Matthew Colfax an seiner Wolfsmaske arbeitete, dann verabschiedete er sich und fuhr zu seinem Büro. *** „Rabe“, erzählte Gertrude Allabush, „kam in die Nähe des Hauses, in dem der Himmelshäuptling wohnte. Neben einer Quelle setzte er sich nieder und wartete. Die Tochter des Häuptlings kam heraus und wollte mit einem Eimer Wasser schöpfen. Als Rabe das sah, verwandelte er sich in eine Zedernnadel, die auf dem Wasser schwamm. Die junge Frau schöpfte sie versehentlich mit in den Eimer und verschluckte sie, als sie später von dem Wasser trank. Sie wurde schwanger und gebar einen Knaben. Dieser Junge stahl dem Himmelshäuptling seine Lichtbüchse, entkam in seinem Rabengefieder gerade noch durch das Himmelsloch, und brachte den Menschen das Licht auf die Erde. Deshalb ist der Rabe ein starker Geist“, fuhr sie fort, „und er ist ein Schutzgeist unserer Familie. Die Zeder aber ist untrennbar mit unserem Leben verbunden, denn durch sie konnte das Licht zu uns kommen.“ 141
Hanna schwieg, obwohl sie wußte, daß Gertrude diese Geschichte für sie erzählt hatte. Grace hatte sie gewiß schon viele Male gehört. Hanna empfand es als großes Glück, bei den beiden Frauen zu sitzen und einfach nur zuhören zu können. Sie fühlte sich angenommen, obwohl sie weiß war. Grace sah von ihrer Arbeit auf und meinte: „Erzähl ihr doch mal die Geschichte von Tsonoqa, der Wilden Frau aus dem Walde, die kleine Kinder in ihrem Rückenkorb stiehlt, um sie zu verspeisen.“ Das Mädchen machte große Augen. Seit sie und Joey im Wald von etwas Unbekanntem gestört worden waren, gelang ihr kein Scherz mehr über Tsonoqa, die Wilde Frau. „Das werde ich nicht“, entgegnete Gertrude entschieden. „Sie soll sich nicht noch mehr fürchten, wenn sie da draußen im Strandhaus ist, als sie es jetzt schon tut.“ Hanna enthielt sich jeglichen Kommentars. Bisher hatte sie sich nicht gefürchtet, aber nun würde sie in der Nacht vermutlich kein Auge mehr zumachen. Sollte das Gertrude Allabushs Absicht gewesen sein? Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie hier wirklich so willkommen war. Sie gab sich schwer beschäftigt mit dem oberen Randabschluß ihres kleinen Korbes. Der Bast mußte jedesmal zwischen den Fingern verdreht werden, bevor man mit dem Flechten fortfahren konnte. Grace half ihr ein Stück weiter und wandte sich dann wieder ihrer eigenen Arbeit zu. Sie flocht jetzt an einem Regenhut, der oben so spitz zulief, daß er wie ein Chinesenhut aussah. Im Museum hatte Hanna gelesen, daß diese Regenhüte tatsächlich chinesischen Hüten nachempfunden waren, die man irgendwann nach einem Sturm am Strand gefunden hatte. Mit andersfarbigem Material flocht Grace Muster in den Hut. Als sie bemerkte, daß Hanna sie beobachtete, sagte sie: „Der Hut ist für unser Museum, solange das Original auf Reisen geht. Diese spitzen Hüte haben nur wir Makah 142
geflochten. In unserer Sprache heißen sie tsikwa-puch. Die Männer trugen sie, wenn sie auf Waljagd gingen.“ „Wir Makah und unsere Verwandten, die Nootka von Vancouver Island, waren die einzigen an der Küste, die es verstanden den Wal zu jagen“, meinte Gertrude stolz. „Und wir waren die einzigen, die von der Regierung der Weißen offiziell die Erlaubnis dazu hatten.“ Sie seufzte. „Das waren Zeiten, in denen es den Makah gut ging. Aber das ist lange vorbei. 1913, fünf Jahre bevor ich geboren wurde, erlegten unsere Fischer den letzten Wal.“ „Es gibt nicht mehr viele, Großmutter“, sagte Grace, „deshalb ist es verboten, sie zu jagen.“ „Aber die Japaner töten Wale, das ist ungerecht.“ Grace nickte. „Deshalb hat der Stammesrat die Regierung der Vereinigten Staaten aufgefordert, uns Makah das Recht zu geben, wieder fünf Wale im Jahr für den Eigenbedarf zu töten.“ „Ich weiß“, grummelte die Alte. „Aber selbst wenn sie es erlauben, die alten Zeiten werden nicht wiederkommen.“ „Das ist in mancher Hinsicht auch besser so“, erwiderte Grace. „Denk daran, daß die Vergangenheit nicht nur Gutes an sich hatte. Unser Volk konnte sehr grausam sein, was seinen Umgang mit Feinden und Sklaven betraf.“ „Sklaven?“ fragte Hanna verwundert. „Ihr hattet Sklaven?“ Gertrude schien das Thema unangenehm, aber Grace, die zur neuen Generation der Makah gehörte, plauderte munter drauflos. „Ja, jede angesehene Familie hatte mehrere Sklaven. Es waren Kriegsgefangene oder Leute, die keine Familie mehr hatten. Sie waren Rechtlose und mußten für ihre Herren schuften. Sie hatten keinen Anspruch auf ein eigenes Leben.“ „Davon wußte ich nichts“, sagte Hanna. „Ich dachte, nur Weiße hätten Sklaven gehabt.“ Grace sah Hanna an und ihre Augen blitzten koboldhaft. 143
„Nach altem Brauch wärest du jetzt Greg Colfax’ Schuldsklavin.“ Hanna machte große Augen und ihr wurde unbehaglich zumute. „Aber wieso?“ „Er hat dich aus dem Meer gefischt und dir das Leben gerettet. Du gehörst jetzt so lange ihm, bis du deine Schuld abgearbeitet hast.“ Grace sah, daß Hanna blaß wurde, und kicherte in sich hinein. Hanna beschloß, über das Ganze ebenfalls zu lachen. Es war ein klägliches Lachen. Gregs Worte kamen ihr wieder in den Sinn. „Ich habe dich aus dem Meer gefischt“, hatte er gesagt. „Eigentlich gehörst du jetzt mir.“ „Die Sklaverei ist nicht gerade ein rühmlicher Teil unserer Geschichte“, gab Grace zu, „aber er gehört nun mal dazu. Damals wäre niemand auf die Idee gekommen, daß es etwas Verwerfliches oder Barbarisches war, was er da tat. Es gibt eifersüchtige Väter, die achten noch heute darauf, daß ihre Tochter nicht vielleicht den Nachfahren eines ehemaligen Sklaven heiratet.“ „Das glaube ich nicht.“ „Oh, doch“, warf Gertrude ein. „Was glaubst du, warum Shobid Ides so wild darauf ist, daß Greg seine Tochter Annie heiratet. Greg stammt aus einer sehr angesehenen Familie. Alle männlichen Vorfahren waren berühmte Pfahlschnitzer.“ Hanna wurde plötzlich einiges klarer. „Kann es sein, daß Matthew Colfax deshalb so wütend darüber ist, daß Greg mir bei der Suche nach Jim behilflich ist?“ „Mit Sicherheit“, meinte Grace vorlaut, und erntete dafür einen schrägen Blick ihrer Großmutter. „So wird es sein“, sagte Gertrude. „Der alte Colfax ist ein wenig wunderlich, seit seine Frau tot ist. Die meisten fragen sich, warum er nicht wieder geheiratet hat. Keine soll ihm gut genug gewesen sein. Aber seit einiger Zeit munkelt man, daß er was mit Flora Parker, der Schwester von Shobid 144
Ides Frau hat. Man erzählt sich, daß Flora von bösen Geistern besessen wäre. Sie soll in einem Baum wohnen.“ „In einem Baum?“ fragte Hanna. Grace lachte. „Verschone Hanna mit diesem Klatsch, Großmutter. Ich glaube, das interessiert sie nicht.“ Obwohl es Hanna brennend interessierte, ob der alte Colfax etwas mit einer Frau hatte, die in einem Baum wohnte, sagte sie nichts. Sie spürte, wie sie täglich etwas von ihrer inneren Sicherheit einbüßte, die hier auf diesem fremden Land, wertlos geworden zu sein schien. Später kam Greg, um sie abzuholen. Sie zeigte ihm ihren fertigen Korb. Gertrude lud ihn zu einer Tasse Tee ein, aber er lehnte ab. „Laß uns fahren“, sagte er zu Hanna. „Ich muß arbeiten.“ *** Als Gertrude Allabush fest schlief, schlich sich Grace aus dem Haus. Joey wartete an der nächsten Straßenecke auf sie. Diesmal stiegen sie in seinen alten Pickup. Triumphierend stellte er fest, daß sie wieder dieses Kleid trug. Er fuhr mit ihr an der Küste entlang in Richtung Sekiu Point. Was er sich ausgedacht hatte, war einfach, aber er hielt es für genial. Auf halber Strecke zwischen Neah Bay und Sekiu Point gab es einen Zeltplatz. Dort hatte er am Nachmittag sein kleines Zelt aufgestellt. Niemand würde sie stören. Hier waren sie auch sicher vor Tsonoqa, der Wilden Frau. Er mußte Grace nur rechtzeitig wieder ins Haus ihrer Urgroßmutter zurückbringen, bevor diese am Morgen aufstand. Sie erreichten den Zeltplatz und Grace fand seinen Einfall rührend. Er hätte sie auch auf den zerschlissenen Sitzen seines Kleinlasters entjungfern können, aber dafür war sie ihm zu schade. Joey Hunter hatte ihnen ein Nest gebaut. Grace Allabush wußte das durchaus zu schätzen. Im Zelt lagen warme Decken und zwei Schlafsäcke. Als 145
Joey vom Waschraum zurückkehrte, wartete sie unter den Decken nackt auf ihn. Mit einem innigen Kuß feierten sie das Ende des Tages und den Beginn einer langen Nacht. Dabei wurde beiden warm. Joey streckte sich an ihrer Seite aus, den Kopf auf seinen rechten Arm gestützt. Er nahm den warmen, erwartungsvollen Duft ihrer Haut wahr. Mit der Linken glitt er über ihren Bauch und ihre Brüste, und versuchte, die Sprache ihres Körpers zu übersetzen. Aber das, was er wahrnahm, war ihm fremd, obwohl er so sicher gewesen war, seine Lektion gelernt zu haben. Schrecken und Lust erfüllten ihn im gleichen Moment. Ungeduldig drängte er sich zwischen die Beine des Mädchens. Grace stemmte ihre Hände gegen seine Brust, aber nur für einen Augenblick. Im Geist versuchte sie zu retten, was zu retten war. Sie erinnerte sich an die gutgemeinten Ratschläge ihrer Urgroßmutter – fast schon vergessen. Gertrude Allabush war zwar eine Frau, aber doch eine sehr alte. „Denk dir im entscheidenden Moment etwas anderes“, hatte sie gesagt. „Stell dir vor, du wärst ein Vogel oder eine Blume. Sei abwesend. Du mußt Blut und Tränen zurückhalten können.“ Es war Grace, als würde sie in eine andere Zeit versetzt, als wäre sie die Urmutter ihres Volkes. Schaudernd begann sie zu erahnen, daß die Männer selbst den Regenbogen bluten lassen würden, um im Schoße einer Frau ihre Seele zu retten. Joey drang wortlos in sie ein. Es war unheimlich still, kein Laut, kein Schrei – trotz des heftigen Schmerzes. Die völlige Dunkelheit schreckte sie. Es war nicht das, was sie erwartet hatte. Kein Vergnügen. Nur eine Art Angst. Verstört klammerte sie sich an seine Arme. Joey Hunter war zu sehr gefangen in seiner eigenen Lust, als daß er etwas von seiner Entzauberung bemerkt hätte, die nie mehr rückgängig zu machen war. Er war nicht mehr 146
Herr seiner Sinne, etwas anderes hatte Macht über ihn. Es war wie Ertrinken. Wir gehen alle beim Schmerz in die Lehre, dachte Grace, als er schwer wie ein Baum auf ihr lag und heftig atmete. Innerlich tief verwundet, und mit einem nicht faßbaren Gefühl der Wut und des Glücks, legte sie ihm ihre kühle Hand in den Nacken und streichelte ihn. Sie war eine starke Frau, und er jetzt ihr Mann. Was soeben geschehen war, trennte sie für immer von der Welt jener Geschöpfe, die immer noch träumten. Aber Grace trauerte nicht, sie blickte nach vorn. „Habe ich dir wehgetan?“ fragte er sie, als er wieder denken konnte. „Nein“, log sie, denn sie wollte nicht, daß er sich schuldig fühlte. Er hatte ihr etwas genommen, aber gleichzeitig auch etwas geschenkt: Sie, Grace Allabush, war Joey Hunters erste Frau gewesen. Die Gewißheit darüber kam ihr erst jetzt. „Ich liebe dich“, sagte Joe. „Ich liebe dich auch“, antwortete sie, und es war die Wahrheit. Joey kam noch zweimal zu ihr und drängte sich zwischen ihre Beine. Zuletzt, betäubt von unendlicher Müdigkeit, spürte sie, daß es einen Punkt in ihrem Inneren gab, der zu glühen anfing, wenn der Mann sich in ihr bewegte. Und ihre Furcht, einsam zu bleiben wie ihre Mutter oder ihre beiden Großmütter, verlor sich in den Schwingen eines Vogels, der über ihr kleines Zelt hinwegflog – immer der aufgehenden Sonne entgegen. *** Greg saß mit angespannter Miene über seinen Skizzen. Das Kratzen des Bleistiftes auf dem Papier, war das einzige Geräusch, das die Stille im Raum durchbrach. Später, am Abend, arbeitete er an einem kleinen Muster für den Pfahl. 147
Ab und zu glitten seine Gedanken fort von seiner Arbeit. Hin zu Annie Ides und ihrer arktischen Seele. Er wußte, daß er niemals mit ihr glücklich werden würde, obwohl sie eine von seinem Volk war. Er hatte nicht vor, dieses Schicksal zu erfüllen, das ihm vorgegeben war. Nicht noch einmal. Jeramie Rain lebte in der Wüste und er lebte am Ufer des Pazifik. Vielleicht war daran tatsächlich nichts zu ändern. Er hatte den Platz eingenommen, der ihm vorbestimmt war. Doch mehr war er nicht bereit zu geben. Alles hatte seine Grenzen, auch wenn sie unsichtbar blieben. Ein einziger Gedanke legte die Wirklichkeit bloß. Seine Träume gehörten nur ihm. Keinem anderen, auch seinem Volk nicht. Er versuchte, sich aus dem Klammergriff seines Vaters zu lösen, aber der alte Mann hatte immer noch Macht über ihn. Weil er die alten Legenden auf seiner Seite hatte. Sie waren die Macht des Makahvolkes. Ohne ihre Magie konnte nicht einmal Greg Colfax existieren. Diese Tatsache verunsicherte ihn. An diesem Abend war er innerlich auf eine Auseinandersetzung mit seinem Vater eingestellt. Er hatte sich Gedanken zurechtgelegt und sie in Worte geformt. Er wollte dem alten Mann endlich seinen Standpunkt klarmachen, was seine Vorstellungen von Zukunft betraf, aber der Pfahlschnitzer kam nicht nach Hause. Er schlief in seiner Werkstatt in Neah Bay. Vielleicht weil er wußte, was ihn erwartete. Vielleicht weil er fürchtete, daß seine Argumente nur eine Anhäufung von leeren Zeichen waren, angesichts der Gefühle seines Sohnes zu dieser weißen Frau. In der Nacht wälzte sich Greg auf seinem Lager. Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem befiel ihn und ließ ihn nicht mehr los. Die Einsamkeit war ein übervölkerter Kontinent. Auf ihm waren alle Menschen gleich. Greg Colfax sehnte sich danach, seine Gedanken und Befürchtungen mit jemandem teilen zu können; mit einem Menschen, den 148
er liebte. Er wollte aus seinem selbstgewählten Exil heraustreten und sein wie die anderen. Heiraten und Kinder großziehen. Wieder malen. Und schnitzen. Die Frau, auf die sich seine Wünsche konzentrierten, war nicht von vertrauter Art, aber doch vertrauter als alle anderen, die ihm in den Sinn kamen. Ihre einsamen Anstrengungen, etwas über Jim Claplanhoo herauszufinden, rührten ihn. Er wollte ihr helfen, aber er hatte auch Angst. Mehr Angst als sie, weil seine Phantasie mit grausamen Geschichten aus der Vergangenheit gefüttert war, von denen sie nicht die geringste Ahnung hatte. Bis jetzt hatte er sich die Vergangenheit wohlweislich vom Leibe gehalten, aber nun spürte er, daß er manchen Dingen nicht länger ausweichen konnte. Die alten Legenden bedeuteten sein Anderssein und trugen seine Existenz. Am nächsten Morgen holte Greg Hanna wieder im Strandhaus ab und brachte sie zu Gertrude Allabush. Danach begab er sich in die Werkstatt, um an seinem Pfahl zu arbeiten. Diesmal fühlte sich Hanna nicht mehr so fremd im Haus der alten Frau. Sie überwand ihre Scheu und fragte Gertrude nach Jim Claplanhoo. „Es würde mir helfen, wenn ich wüßte, was für ein Mann er war, bevor ich ihn kennenlernte“, sagte sie. „Jim war ein guter Mensch“, antwortete die Indianerin. „Er hat viel mit Grace gespielt, als sie noch klein war. Er hat uns geholfen, wenn etwas am Haus zu reparieren war, er hat Grace und meine Enkeltochter zum Zahnarzt gefahren, er hat uns mit Material versorgt und uns von seinen Reisen Geschenke mitgebracht. Wir vermissen ihn sehr.“ Hanna wußte, daß auch dem besten Gedächtnis nur halb zu trauen ist, weil es unbewußt sortiert und wertet, bevor es Fremden preisgibt, was es als Erinnerung bewahrt hat. Ein 149
dunkler Schatten taumelte durch ihren Kopf. Wieder waren da Menschen, denen Jim nahegestanden hatte, und von denen er ihr gegenüber nie etwas erwähnt hatte. Für sie war er immer ein Mann gewesen, der nichts anderes als flüchtige Beziehungen zu anderen Menschen gehabt hatte. Eine Frage brannte auf Hannas Lippen, aber in Gegenwart des Mädchens wollte sie sie nicht stellen. Sie hätte gern gewußt, ob Jim nicht vielleicht der Vater von Grace war. Es war immerhin möglich. Sie ähnelte ihm sogar ein wenig. Vielleicht war das Jims Geheimnis. Möglicherweise verboten irgendwelche Familienbande, daß er und Grace Mutter ein Kind haben durften. Also hatten sie es geheimgehalten. Vielleicht wußte Gertrude mehr als sie zugab. Vielleicht kannte sie sogar Jims Aufenthaltsort. Hanna musterte das Mädchen. Grace arbeitete still an ihrem Walfängerhut. Sie sah müde aus, und unter ihren Augen lagen Schatten. Als sie aufblickte, entdeckte Hanna in ihnen eine Veränderung. Als wüßte sie heute etwas, von dem sie gestern nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Statt der gestrigen Kindlichkeit, strahlte sie heute eine seltsame Art von Würde aus. Schließlich erhob sich das Mädchen und verschwand nach draußen. Als ob sie nur darauf gewartete hätte, legte die alte Frau ihre Korbarbeit beiseite, stand auf und trippelte zum Schrank. Sie reckte sich und holte ein längliches Zedernholzkästchen herunter. „Jim hat mir dieses Kästchen geschenkt. Er fertigte es auf die gleiche Art, wie unsere Vorfahren es getan haben, als es noch keine Nägel gab. Es ist aus einem Stück.“ Sie reichte es Hanna, damit sie es anfassen konnte. „Das vorbereitete Holzstück bekommt im gewünschten Abstand drei Einkerbungen, wird über Wasserdampf gefaltet und mit Fischgrätenleim und Holznägeln befestigt. Es ist eine gute Arbeit“, meinte Gertrude und nahm Hanna die Schachtel 150
eilig wieder ab, als könnte sie etwas von ihrer Magie verlieren, wenn eine Weiße sie zu lange in der Hand hielt. „In der heutigen Zeit sind viele Gegenstände zur Gewohnheit geworden und entstehen nur noch selten von Hand“, erzählte Gertrude. „Sie verlieren dadurch ihre Bedeutung. Wir vergessen, wie wertvoll die einfachen Dinge sind.“ Sie öffnete das Kästchen und holte ein paar Postkarten und Fotos heraus. Hannas Herz überschlug sich fast. Das waren Karten aus Deutschland. Fotos, die Jim mit ihr zusammen zeigten. Gertrude Allabush hatte also von Anfang an gewußt, wer sie war. „Er hat ein paarmal geschrieben“, sagte die alte Indianerin. „Zuletzt schrieb er, daß er zurückkommen würde.“ „Und Sie haben diese Karten und Fotos nie jemandem gezeigt“, fragte sie ungläubig, „auch Greg oder seinem Vater nicht?“ „Nein. Jim bat mich ausdrücklich darum.“ „Wir wollten heiraten“, sagte Hanna mit Tränen in den Augen. „Aber dann habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.“ Gertrudes große Hände klaubten die Fotos wieder zusammen und verbannten sie in die Kiste zurück. Ihr wachsamer Blick ruhte auf der jungen, weißen Frau. „Ich habe nichts gegen dich“, sagte sie plötzlich. „Vielleicht mag ich dich sogar, aber …“ Hanna blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. Was würde jetzt kommen? „… es ist nicht gut, wenn unsere Männer weiße Frauen heiraten“, vollendete Gertrude den Satz. „Kinder werden geboren, die weder das eine noch das andere sind. Unsere jungen Leute sind alle viel zu sehr damit beschäftigt zu überleben, als daß sie merken würden, was für Schaden sie unserem Volk zufügen, wenn sie ihr Blut mit dem der Weißen vermischen.“ Hanna wußte nicht, was sie sagen sollte. Ein Kloß wuchs in ihrem Hals. „Aber … Sie haben Greg den Schlüssel für die Hütte gegeben!“ 151
„Du weißt doch, wie Menschen sind, wenn man sie daran hindert, das zu bekommen, was sie unbedingt haben wollen. Sie entwickeln ungeahnte Energien.“ Gertrude versicherte sich, daß Grace noch nicht zurückkam. „Warum sollte Greg dich nicht haben. Er braucht seine Energien für andere Dinge, Dinge, die wirklich wichtig sind.“ Hanna brauchte alle Kraft, um zu verhindern, daß ihre Hände zitterten wie die Halme des Sitca Grases. Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Die Alte redet wirr. „Wieso machen Sie sich die Mühe, mir Geschichten zu erzählen und mir das Flechten beizubringen, wenn Sie mich eigentlich für wertlos halten?“ brachte sie mühsam hervor. Sie hatte nicht vor, sich beleidigen zu lassen, aber sie wollte auch nicht beleidigend sein. Gertrude wackelte mit dem Kopf. „Ich war noch nie dagegen, Weiße von uns lernen zu lassen. Und ihr habt noch eine Menge zu lernen.“ „Aber selbst wenn wir aufmerksame Schüler sind, macht uns das nicht zu besseren Menschen, nicht wahr?“ Hanna bemühte sich nicht, ihre Mißbilligung zu verbergen. „Weiß bleibt weiß.“ „Als ich noch klein war“, sagte Hanna, „brachte mir meine Großmutter bei, daß unter der Haut alle Menschen gleich sind.“ „Ein netter Gedanke“, erwiderte Gertrude, „aber so funktioniert das nicht. Neben denen, die uns am liebsten für immer von diesem Land verschwunden sehen möchten, kommen auch viele hierher die so denken wie du. Aber sie schaden uns alle.“ „Was ist mit Ola, meiner Tochter?“ fragte Hanna und unterdrückte mühsam ihre Wut und Enttäuschung. „Jims Tochter? Sie hat kostbares Makahblut in den Adern.“ „Was glaubst du, Schätzchen, warum ich so geduldig mit dir bin?“ Hanna glitt der unfertige Korb aus den Fingern. Sie stand 152
auf und wankte wortlos aus dem Zimmer, durch den Gang nach draußen ins Freie. Grace, die schon eine Weile hinter der Tür gestanden hatte, sah der weißen Frau mitleidig nach. Manchmal merkte die Großmutter nicht mehr, wenn sie hart und ungerecht war. Grace hatte noch nie einen Gedanken an weiße Jungs verschwendet, aber sie fühlte auch keinen Haß gegen die Weißen. Sie waren schon da, als sie selbst geboren wurde, und sie würden immer da sein. Genauso, wie die Makah immer da sein würden, davon war sie überzeugt. Eines Tages würden sie und Joey viele Kinder haben, dunkelhäutige schöne Kinder mit Haaren wie Rabenfedern im Morgenlicht. Sie würde ihnen alles erzählen, was sie von Großmutter Gertrude erfahren hatte; all die Geschichten und Legenden. Aber sie würde ihnen auch erzählen, was die alte Frau nicht wußte: Daß Liebe, die aus den Tiefen einer reinen Quelle kam, stärker war als alles andere. Mit starrem Blick lief Hanna ziellos durch die Straßen von Neah Bay. Ein streunender Hund hatte sich an ihre Fersen geheftet. Es war ein einsames, mageres Tier, das sich vermutlich ebenso abgewiesen fühlte wie sie. Aber, als ob der Hund wußte, daß er von Hanna nicht das bekommen würde, was er brauchte, folgte er ihr in immer gleichbleibendem Abstand, ohne den Versuch zu machen, sich ihr tatsächlich zu nähern. In Hannas Kopf tanzten Gedanken, die keine Ordnung ergeben wollten. Die Herablassung, mit der Gertrude Allabush sie behandelt hatte, war ihr schwer auf die Seele geschlagen. Und da war nichts, woran sie sich festhalten konnte. Inzwischen zweifelte sie sogar daran, daß das, was Jim für sie empfunden hatte, wirklich Liebe gewesen war. Ausgesprochen hatte er das Wort nie. Vielleicht war es nicht Liebe, sondern Angst gewesen; nicht Liebe, sondern ein lautloser Schrei. 153
Hanna lief an einer Gruppe Jugendlicher vorbei, die vor dem Gebäude des Gemeindezentrums standen. In ihren Gesichtern erkannte sie Langeweile, gepaart mit Abscheu und Neugier. Die fragen sich auch, was ich hier verloren habe, dachte sie. Schnell lief sie weiter, irgendwohin, nirgendwohin – und doch von einem inneren Kompaß in Richtung Holzwerkstatt gezogen. *** Greg hatte seinem Zedernstamm eine gerade Rückseite geschnitten und begonnen, ihn anzuzeichnen. Zuerst eine deutliche Linie, welche die genaue Mitte des Stammes kennzeichnete. Dann überzog er den ganzen Stamm mit einem gleichmäßigen Gitter aus schwarzen Linien. Vor ihm lag eine Zeichnung, die diese Gitter ebenfalls enthielt. Es war der Entwurf, den er am gestrigen Abend gemacht hatte. Mit sicherer Hand begann er die Figuren anzuzeichnen. Ganz unten einen Bären. Darüber Otter, Lachs und Wolf, und ganz oben den Raben. Für Augen und Flügel verwendete er hin und wieder Schablonen, die gewährleisteten, daß die Figuren auch symmetrisch wurden. Früher waren diese Schablonen aus Zedernbast. Jetzt benutzte er starkes Leder. Als er mit dem Anzeichnen fertig war, begann er mit der Kettensäge größere Stücke aus dem Stamm zu sägen. Die groben Stellen bearbeitete er später mit dem Beitel, einem Eisenmesser mit D-förmigem Griff. Während er arbeitete, war zwischen ihm und seinem Vater kein einziges Wort gefallen, obwohl sie sich einige Male über den Weg gelaufen waren. Matthew saß drinnen in der Werkstatt, und Greg arbeitete draußen unter dem Dach. In seinem Kopf hatte er sich mittlerweile einige Sätze zu seiner 154
und Hannas Verteidigung zurechtgelegt. Schließlich ging er nach drinnen, stellte sich neben seinen Vater und fragte: „Wo hast du die Briefe, die Hanna an Jim geschrieben hat, nachdem er aus Deutschland abgereist war?“ „Ich habe keine Briefe“, erwiderte Colfax mürrisch. Kein Zeichen der Verwunderung darüber, daß Jim Deutschland wieder verlassen hatte. „Aber Hanna hat sie an diese Adresse geschickt.“ Matthew Colfax schwieg. Um die Abaloneschalen in die dafür vorbereiteten Löcher einzusetzen, brauchte er eine ruhige Hand. Aber die hatte er im Augenblick nicht. Er sah auf. „Was will sie hier?“ „Jim finden, damit sie ihrer Tochter Ola erzählen kann, was aus ihrem Vater geworden ist.“ Greg hoffte, wenigstens bei der Erwähnung Olas Überraschung in den Augen seines Vaters zu entdecken, aber da war nichts. Mühsam entgegnete er dessen kühlen Blick. „Du hast sie beleidigt, Vater. Sie und mich.“ „Und du hast mich beleidigt“, preßte Matthew hervor. „Du hast dein Volk beleidigt. Du hättest nicht mit ihr schlafen dürfen.“ „Wieso nicht? Weil sie eine Babathlid ist?“ Er wußte selbst nicht, warum er seinen Vater in dem Glauben ließ, daß er mit Hanna geschlafen hatte. Es ergab sich einfach so. Vielleicht, weil er es sich wünschte. Eine Muschel brach zwischen den Fingern des alten Mannes. „Weil sie ein Nichts ist.“ „Du redest von einem Menschen“, meinte Greg bitter. „Aber sie gehört nicht hierher.“ „Jim gehörte auch nicht hierher und du hast ihn aufgenommen“, beharrte er. „Jim war ein …“, der Alte zögerte, „… er war ein Nootka, einer von uns. Aber die Touristen kommen von der anderen Seite des Ozeans, um unsere friedliche Erde zu vergewaltigen.“ 155
„Das ist lächerlich, Vater. Die Touristen kommen, um sich große Bäume und seltene Vögel anzusehen.“ Matthews Gesicht blieb starr. „Sie kommen, um sich uns Indianer anzusehen und wie wir leben. Als wären wir Tiere in einem Zoo.“ Greg schüttelte den Kopf. „Das ist ganz normal. Sie haben ihre Vorstellungen und möchten sie bestätigt wissen.“ „Sie machen Feuer in unseren Wäldern und fangen unsere Fische.“ „Wir haben es ihnen verboten.“ „Eines Tages wird die wunde Erde uns Menschen abschütteln, und nur ein paar wenigen die Gnade erweisen, sie weiter zu bewohnen.“ „Und du glaubst tatsächlich, daß du einer der Erwählten sein wirst, nur weil du dich an wertlos gewordene Regeln hältst?“ Gregs Tonfall war provozierend, aber der Pfahlschnitzer blieb ruhig. „Die Welt sollte zur Kenntnis nehmen, daß wir uns von allem fernhalten können, wenn wir das wollen“, sagte Matthew. „Du weißt, daß es nicht so ist“, knurrte Greg wütend, „wir können nur gemeinsam versuchen, diese Erde zu retten.“ Müde schüttelte er den Kopf. „Ich glaube, du lebst in einer falschen Zeit, Vater.“ Das Leben hatte Matthew Colfax umhergestoßen und längst hinter sich gelassen. Er war ein alter Mann. Jemand, der die Dinge nicht mehr ändern, der sie aber auch nicht festhalten konnte. Beinahe tat er Greg leid. Der Meisterschnitzer blickte starr auf die unfertige Maske in seinen Händen. Die Schatten vergangener Zeiten waren jetzt ständig auf seinem Gesicht. Aber seine Wünsche wurden von geheimnisvollen Mächten immer wieder durchkreuzt. Was konnte er noch tun, um seinen Sohn auf den richtigen Weg zurückzubringen? Er sagte: „Für die Weißen ist die Vergangenheit wie eine 156
Krankheit. Für uns bedeutet sie das Überleben. Der Stammbaum unserer Familie – die Lineage – ist unser wichtigstes Gut. Auf ihr gründen sich all unser Reichtum, unsere Privilegien. Wenn diese Lineage nicht reingehalten wird, zerbricht unser Volk, verliert sich unsere Macht. Es gibt schon genügend junge Leute hier im Ort, die sich einen Dreck um die Traditionen scheren. Unsere jungen Frauen heiraten weiße Männer, um mit ihnen in weißen Häusern zu leben, und halbweiße Kinder zu zeugen. Aus irgendeinem Grund glauben unsere jungen Männer, daß sie deshalb mit weißen Frauen schlafen müßten. In meiner Familie wird es so etwas nicht geben.“ Er griff nach einer weiteren Muschel und setzte sie ein. Greg wollte etwas erwidern, als er Annie Ides hinter der staubigen Scheibe der Eingangstür entdeckte. Er wollte nicht, daß sie hereinkam, also ging er nach draußen, um ihr beim Bündeln der Rindenfasern behilflich zu sein. Matthew Colfax unterbrach seine Arbeit, um das Paar zu beobachten. Er hoffte, irgendeine Art von Verbundenheit in ihren Gesten zu entdecken. Aber er wurde enttäuscht. Sie standen einander gegenüber und redeten, als wären sie Fremde. Annie Ides war die Frau, die Greg heiraten mußte, damit alles wieder in Ordnung kam. Was machte es schon, daß es zwischen beiden keine Leidenschaft gab. Zwischen ihm und seiner Frau Myrtel hatte es derartiges auch nicht gegeben. Aber wie Annie war Myrtel die Tochter eines angesehenen Mannes gewesen, und dadurch, daß er sie geheiratet hatte, hatte er seinen gesellschaftlichen Rang noch verstärken können. Das hatte für ihn, der einen großen Teil seiner Kindheit in der grausamen Welt der Weißen zugebracht hatte, ungeheure Bedeutung. Als wäre ein Makel in seinem Leben damit wieder ausgemerzt gewesen. Aber Myrtel hatte ihm nur einen Sohn geboren, statt zwei 157
oder drei, wie er es sich erhofft hatte. Und dann war sie gestorben und hatte ihn mit dem Kind allein gelassen. Seine eigenen Kindheit hatte mit acht Jahren ein abruptes Ende gefunden. Deshalb hatte er auch keine Ahnung, was es bedeutete, ein Kind zu sein. Greg war ihm zu verspielt und zu verweichlicht. Als dann Jim zu ihnen kam, stark und mit einem klaren Ziel vor Augen, richtete er sein Augenmerk auf ihn. Jim suchte nicht nach Liebe und Geborgenheit, er war begierig darauf zu lernen und sehnte sich nach Anerkennung. Das gefiel Matthew Colfax. Nach einigen Monaten, in denen Jim bei ihnen lebte, fand er allerdings heraus, das Jim zwei Gesichter hatte. Einerseits war er der ehrgeizige, zielstrebige junge Mann, der nichts anderes wollte, als ein guter Pfahlschnitzer zu werden. Und auf der anderen Seite versuchte Jim, dem fünf Jahre jüngeren Greg die Mutter zu ersetzen und ihm das Gefühl von Wärme zu vermitteln. Zu dritt waren sie ein seltsames Gespann: ein mürrischer Mann, ein ernster, schweigsamer Halbwüchsiger und ein schelmisches Kind. Doch von Jims Ehrgeiz angesteckt, begann auch Greg sich für die Kunst seines Volkes zu interessieren. Seine Leidenschaft galt allerdings den Farben. Das hatte sich bis heute nicht geändert. Matthew wandte sich seufzend wieder seiner Maske zu. Was hatte er nur falsch gemacht, daß alles so gekommen war? Warum konnte Greg nicht verstehen, was er meinte? Als Greg und Annie den alten Pickup ihres Vaters mit den Rindenbündeln beluden, fragte sie ihn: „Hast du dich entschieden, wegen des Potlachs?“ Verdammt, das hatte er schon wieder vollkommen vergessen, so sehr waren seine Gedanken mit Hanna beschäftigt gewesen. Er hob ein Bündel Zedernbast vom Boden auf und warf es auf die Ladefläche. Bevor er ihr antwortete, sah er ihr 158
offen ins Gesicht. Annie Ides hatte ebenmäßige Gesichtszüge und eine makellose, hellbraune Haut. Sie war schlank und sportlich, ihr Körper geschmeidig wie der einer Wildkatze. Im Sonnenlicht begann ihr Haar blaue Funken zu sprühen. Auf ihren braunen Augen lag ein betörender Glanz. Zweifellos war sie eine sehr schöne Frau. Vielleicht war das sogar der Grund, warum sie noch nicht verheiratet war: Die meisten Makah Männer scheuten sich davor, mit einer Frau verheiratet zu sein, die immer die Blicke anderer auf sich ziehen würde. Für Greg war ihre Schönheit weder ein Grund sie zu heiraten, noch es nicht zu tun. Er respektierte sie, aber das war alles. Die seltsame Kälte, die von ihrer Seele auszugehen schien, ließ ihn frieren, wenn er nur in ihrer Nähe war. Er aber sehnte sich nach Wärme und nach Zärtlichkeit. Schließlich nickte er ernst und sagte: „Ja, Annie, ich werde da sein.“ Gegen halb zwei fuhr Greg in die Markthalle, die in der Mitte des Ortes lag. Er versuchte, dort ein paar frische Lebensmittel zu erstehen, aus denen er ein gutes Essen zaubern konnte. Er kaufte Eissalat, Kartoffeln, Eier, Speck und ein halbes Kilo Kirschen. Gern hätte er eine Flasche Wein gekauft, aber der Verkauf von Alkohol war auf der Reservation untersagt. Die Makah selbst wollten es so, also hatte es der Stammesrat beschlossen. Nur ein paar Meilen hinter der Reservationsgrenze, in Sekiu oder Clallam Point, blühte das Geschäft mit billigem Wein und Whisky. Alkohol tötet den Geist, war Greg Colfax’ Meinung dazu. Alkohol löscht die Erinnerungen an Menschen aus, die die Makah im Blut haben: Ihre Vorfahren. Greg wußte nur zu gut um diese Dinge. Aber die Zeiten, in denen er zu viel getrunken hatte, waren vorbei. Sie gehörten jenem anderen Leben an, das er führte, bevor er nach Neah Bay zurückgekehrt war. Als Student hatte er häufig an ausschweifenden Gelagen 159
teilgenommen, nur um nicht als Außenseiter dazustehen. Bis er merkte, daß er den Alkohol viel schlechter vertrug als seine weißen Mitstudenten. Er war immer der erste, der blau war, herumtorkelte und dummes Zeug erzählte. Die anderen lachten dann über ihn. Schließlich hatte er vollkommen aufgehört zu trinken, bis er nach Neah Bay zurückgekehrt war. Er wußte, wie sehr sein Vater Alkohol verabscheute. Deshalb trank er nur hin und wieder einen Schluck Whisky oder ein Glas Wein. Daß er sich im Griff hatte, gab ihm das Gefühl von Überlegenheit. Als Greg zu Gertrude Allabushs Haus fuhr, um Hanna dort abzuholen, kam sie ihm bereits entgegen, allerdings aus einer anderen Richtung. Ihr Gesicht war weißer als sonst. Es wirkte wie eine starre Maske. Er hielt an und sie stieg ein; redete kein Wort. „Du solltest doch warten, bis ich dich hole“, meinte er aufgebracht. Seit seiner gestrigen Unterredung mit dem Sheriff war er besorgt um Hannas Sicherheit. Ihre Eigensinnigkeit und Unvorsichtigkeit ärgerten ihn. „Niemand sagt mir, was ich tun soll“, erwiderte sie kalt. Greg lenkte den Chevy schweigend auf die Hauptstraße und fragte sich, was zum Teufel in Gertrudes Haus vorgefallen war.
160
7. Kapitel Der Regen hatte aufgehört, dafür wehte ein kräftiger Wind vom Pazifik her über die Landspitze. In der Ferne grollte Donner. Bill Lighthouse war auf Patrouille durch das 27.000 Acres umfassende Reservat. Zu seinem Einsatzbereich gehörte auch die Ozette Indian Reservation, die direkt am Meer, ungefähr 10 Meilen südlich von Sooes Beach lag. Um sie zu erreichen, mußte er die Route 112 fast bis Sekiu Point fahren, dann nach links auf die Hoko-Ozette Road abbiegen, die einzige Straße, über die der See und die Reservation zu erreichen waren. Das bedeutete einen Umweg von fast 30 Meilen. Er brauchte nichts anderes zu tun, als seine Augen offen zu halten, ob er nicht jemanden ertappte, der unerlaubt jagte oder fischte. Irgendwelche Sportfischer, die glaubten, sie könnten ohne Erlaubnis auf Indianergebiet ihrer Leidenschaft nachgehen. Vielleicht konnte er auch einen Verkehrssünder erwischen, und die Stammeskasse ein wenig mit Bußgeldern auffüllen. Ein Job, der ihm gelegentlich sogar Spaß machte. Die Strafen für Wilderei und zu schnelles Fahren waren hoch. Die Frevler waren in der Regel Weiße, und es gefiel ihm, ihnen seine Überlegenheit zu zeigen. Dabei blieb er jedesmal sehr ruhig und gab sich gnadenlos. Bevor er in die Ozette Reservation fuhr, machte Lighthouse einen kurzen Abstecher zur Rangerstation am Lake Ozette. Die gesamte, über 50 Meilen lange Küstenregion von Shi-Shi-Beach bis zur Reservation der Quinault gehörte zum Olympic Nationalpark, einschließlich des riesigen Lake Ozette. Einzig die fünf am Pazifik gelegenen Indianerreservationen der Makah, Ozette, Quileute, Hoh und Quinault waren davon ausgenommen. Diese Strände gehörten den Indianern allein. 161
Als Sheriff Lighthouse aus seinem Wagen stieg, wehte es ihn fast um. Über ihm tosten die Wipfel der Bäume wie Ozeanwogen. Er zog seine Jacke über der Brust zusammen und betrat die Rangerstation, ein stabiles Blockhaus mit Schindeldach. In dem kleinen, gemütlichen Büro roch es nach Kaffee und aus dem Radio tönte Klaviermusik. Daniel Hadlock saß hinter seinem riesigen Schreibtisch und sah von seiner Zeitung auf, als Lighthouse eintrat. „Da braut sich ganz schön was zusammen“, meinte der Polizeibeamte. „Nicht mehr als gewöhnlich“, erwiderte der blonde Ranger mit dem kurzen Haarschnitt. „Ist trotzdem immer wieder ein seltsames Gefühl“, sagte Lighthouse. Daniel Hadlock schüttelte lächelnd den Kopf. „Weil ihr Indianer immer noch an Geister glaubt. Deshalb bekommt ihr alle so einen ehrfürchtigen Ausdruck im Gesicht, wenn das Meer tobt.“ Seine grauen Augen funkelten belustigt. Lighthouse fühlte sich von den Anspielungen des Rangers keinesfalls angegriffen. Dan Hadlock war ein fröhlicher, sportlicher, junger Mann, der aus innerer Überzeugung Ranger geworden war. Wenn sie zusammensaßen, dann unterhielten sie sich über Tiere und Bäume, über das Meer und manchmal auch über Frauen. Bill mochte Dan, seit er ihn vor einem Jahr kennengelernt hatte. „Glaubst du etwa nicht an Geister?“ fragte er mit gespieltem Ernst. „Ich meine, du solltest wenigstens nicht damit angeben, das könnten sie dir ernsthaft übelnehmen.“ Hadlock lachte und im selben Augenblick fiel der Strom aus. Die Klaviermusik erstarb, es wurde schlagartig unheimlich dämmrig im Raum. Eine Weile sagte keiner von beiden etwas. Dann meinte Bill trocken: „Krieg ich jetzt auch einen Kaffee?“ Mit verstörtem Gesicht sprang Dan auf und brachte dem 162
jungen Sheriff einen Kaffee. Als er ihm den Becher in die Hand drückte, sahen sie sich einen Moment in die Augen, dann brachen beide in Lachen aus. Für ein paar Augenblicke übertönte ihr Gelächter den Wind, der um die dunklen Balken des Blockhauses fauchte. Daniel nahm seine Regenjacke von der Wand und sagte: „Wahrscheinlich ist irgendwo ein Baum auf die Leitung gekippt. Ich will sehen, ob ich die Stelle finden kann.“ Ein Blitz erhellte den Raum und die Gesichter der beiden Männer. Lighthouse, der sonst wildes Wetter liebte, zuckte zusammen. Gleich darauf krachte der Donner so laut, daß beide reflexartig den Kopf einzogen. „Teufel nochmal“, entfuhr es Hadlock. „Du solltest noch einen Augenblick warten“, mahnte Lighthouse den Ranger und nippte von seinem Kaffee. „Mit trockenen Gewittern ist nicht zu spaßen. Und im Moment sind wir im Auge des Sturms.“ Losgerissene Blätter, kleine Zweige und Nadeln schlugen gegen die Fensterscheiben der Rangerstation. Es blitzte und donnerte erneut. Dan Hadlock seufzte: „Vielleicht hast du recht, Billy. Ich werde noch zehn Minuten warten.“ Sie setzten sich beide und warteten schweigend darauf, daß der Sturm nachließ. Nach einer Weile begann es zu regnen und das Grollen des Donners verebbte. Dan stülpte sich seinen Hut auf den Kopf und meinte: „Ich fahre runter zur Swan Bay. Die Leitungen führen an der Straße entlang. Vielleicht kann ich den Schaden schnell finden.“ Per Funk gab er durch, daß die Rangerstation für eine Weile nicht besetzt war. „Ich fahre noch kurz nach Ozette und sehe beim Hilfssheriff vorbei. Dann fahre ich zurück nach Neah Bay. Sollte ich auf dem Weg etwas entdecken, gebe ich dir die Stelle über Funk an.“ Die beiden Männer verabschiedeten sich, eilten zu ihren Wagen und fuhren in verschiedene Richtungen davon. 163
*** Zurück im alten Strandhaus, begann Hanna sofort ihre Sachen in die Reisetasche zu stopfen. Sie sah wehrlos aus, ihre Bewegungen waren fahrig und unkoordiniert. Mühsam hielt sie Tränen zurück. Eine Weile sah Greg ihr zu, dann packte er sie am Arm und fragte: „Was ist los mit dir?“ Mit einem Mal war sie ihm unendlich fremd. Er ahnte, daß er nicht verstehen würde, was sich in ihrem Kopf abspielte. Sie waren einfach zu verschieden. „Es ist besser, wenn ich wieder ins Motel ziehe“, antwortete sie knapp. Er warf die Arme in die Luft. „Aber wieso? Ist es dir hier nicht gut genug?“ „Doch, das ist es. Nur …“ „Nur was?“ „Ich habe es mir anders überlegt. Ich will das alles nicht noch mal durchmachen.“ Seine Stirn verfinsterte sich zusehends. Er wußte nicht, wie er das Gewirr der bedrückenden Gebärden aufhalten konnte. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Bin ich dir zu nahe getreten?“ Sie warf ihm einen gehetzten Blick zu. Ihr Gesicht war jetzt gerötet und die Pupillen starr auf ihn gerichtet. Die kleinen Sonnen in ihren Augen schienen hinter dunklen Wolken verborgen. „Es ist das, was dein Vater versucht hat, dir klarzumachen. Du bist zu schade für jemanden wie mich. Was auch immer ich mit Jim falsch gemacht habe – ich wollte es nicht. Und ich will nicht noch mehr Schuld auf mich laden.“ In seinen Ohren redete sie immer noch wirr. Aber er spürte auch, daß sie durch irgend etwas tief verletzt worden war. „Können wir nicht vernünftig darüber reden?“ versuchte er einzulenken. Greg hörte sich reden und wunderte sich selbst über seine Worte. Er wollte bei ihr sein. 164
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Es hat keinen Sinn.“ „Also gut“, meinte er, „du brauchst nicht ins Motel. Ich verschwinde einfach und werde nicht mehr hierherkommen. Solltest du mich brauchen, weißt du ja, wo du mich finden kannst.“ Seine Verwirrung schlug in Ärger um. Ihm war klar, daß er Geduld mit Hanna haben mußte, wenn er sie besser verstehen wollte. Aber dann merkte er, daß er keine Geduld hatte. Er wollte sie haben, und nicht mit ihr kämpfen. Er ging und schlug die Tür hinter sich zu. Draußen tobte das Unwetter. Zum Glück war er an diesem Morgen nicht mit dem Boot, sondern mit seinem Pickup gekommen. Hanna hörte, wie er davonfuhr. In diesem Augenblick raste das Unwetter erst richtig los. Der Sturm preßte sich gewaltsam gegen die alte Hütte. Wäre nicht Ebbe gewesen, das Meer hätte das Haus mit Haut und Haar verschlungen, so jedenfalls kam es Hanna vor. Sie beschloß, tapfer diese Nacht durchzustehen, auch wenn sie sich fürchten sollte. Morgen würde sie der Holzschnitzerwerkstatt einen Besuch abstatten und versuchen, Greg alles zu erklären. Auch auf die Gefahr hin, daß sie dann Matthew Colfax begegnete, dem unerbittlichen Alten. Vielleicht hatte er ja recht, und Gertrude Allabush ebenso. Sie war mit Jim Claplanhoo ein halbes Jahr glücklich gewesen. Aber dann hatte sie viereinhalb Jahre darunter gelitten, daß seine Liebe nicht mehr für sie da war. Hanna wußte, daß es nicht klug war, Greg Colfax zu lieben. Sie würde vernünftig sein und das Gefühl verdrängen. Manchmal haßte sie ihre Vernunft. Der Sturm ebbte ab und draußen wurde es ruhiger. Hanna verspürte Hunger und stellte fest, daß Greg nicht mal Brot eingekauft hatte. Vermutlich hatte er sie wieder mit seinen Kochkünsten überraschen wollen. Da der Strom ausgefallen war, heizte sie den Herd an und briet sich Eier mit Speck, dazu aß sie Kirschen und Joghurt. Das Holzfeuer brachte den Herd zum Glühen, so daß sie 165
kaum noch in seine Nähe gehen konnte. Es wurde unerträglich warm in der kleinen Küche. Und da der Sturm nachgelassen hatte, öffnete sie die Tür und ging hinaus auf die Veranda, um frische Luft hereinzulassen und sich ein wenig abzukühlen. Die Tür klemmte und sie stieß sie mit einem Ruck auf. Diesmal vernahm Hanna das warnende Knarren des Holzes rechtzeitig. Sie machte einen großen Schritt zurück, verspürte einen harten Schlag auf die Schulter und sackte seufzend unter der Last und den Schmerzen zusammen. *** Gregs Wut war verflogen, als er sein Haus am Sooes Beach erreichte. Die Enttäuschung war geblieben. Wie, so fragte er sich, war Jim mit Hannas Eigensinnigkeit so lange ausgekommen? Er fand es elend kompliziert, ihr Verhalten und ihre Reaktionen zu verstehen. Irgendetwas mußte in Gertrude Allabushs Haus vorgefallen sein. Er würde es schon noch herausfinden. Irritiert stellte er fest, daß Hanna bereits einen festen Platz in seinen Gedanken und seinen Wünschen eingenommen hatte. Er war darauf vorbereitet gewesen, diesen Abend mit ihr zusammen zu verbringen. Während seiner Arbeit am Pfahl war er in Gedanken ständig bei ihr gewesen. Greg holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank und ging hinunter zum Fenster, um sich das Schauspiel der Naturgewalten von einem sicheren Ort aus anzusehen. Seinen Vater bemerkte er erst, als der sich neben ihn stellte. „Du bist nicht bei der weißen Frau?“ fragte Matthew Colfax. In seiner Stimme schwangen Verwunderung und Hoffnung, aber diesmal kein Zynismus mit. Deshalb entschloß sich Greg, ihm zu antworten. „Ich schlafe nicht mit ihr, Vater. Ich habe ihr nur verspro166
chen, ihr bei der Suche nach Jim behilflich zu sein.“ Er sah seinen Vater an und bemerkte, daß dieser über die Auskunft besorgt und erleichtert zugleich war. „Jim ist nicht in der Nähe, ich wüßte es sonst“, sagte der Alte. Greg zuckte die Achseln. „Vielleicht hat er sich nicht nur vor Hanna, sondern auch vor dir versteckt.“ „Warum sollte er das tun?“ „Möglicherweise hat ihm der Würgegriff deiner Eitelkeit die Luft zum Atmen genommen.“ Mit unheimlicher Ruhe sagte Matthew: „Das ist also deine Meinung!“ „Ja“, erwiderte Greg. „Besser, du weißt, woran du bist.“ Matthew atmete geräuschvoll. „Vielleicht kannst du mich nicht verstehen, vielleicht willst du es auch nicht. Es ist ein großer Fehler, wenn du Tradition mit Eitelkeit verwechselst. Trotzdem gebe ich dir einen guten Rat: Halte dich von dieser Frau fern. Sie kann dir nicht das sein, was du dir wünschst. Sie ist eine Fremde, und Fremde kommen nur auf unser Land, weil sie uns etwas nehmen wollen.“ Greg wandte sich ab und ging in sein Zimmer. Er legte sich auf sein Bett, verschränkte die Arme im Nacken und betrachtete seine eigenen Bilder, die an der Wand hingen. Sie waren gut, und er wußte es. Wenn erst alles vorbei war, würde er wieder malen. Warum sollte er nicht beides tun können? Malen – weil es ihn danach drängte, und Schnitzen – weil man es von ihm erwartete. Schließlich hatte er nichts gegen Traditionen. Er wußte, wie wichtig sie für das Überleben seines Volkes waren. Es gefiel ihm nur nicht, wenn die Traditionen als Deckmantel für Rassismus und Abgrenzung herhalten mußten. Greg dachte an Hanna und die Verwirrung in ihren Augen. Wie mochte sie sich gefühlt haben, damals, als Jim sich nicht meldete, und ihr ganzer Lebensplan durcheinander geriet? Immer wieder mußte sie sich die Frage gestellt 167
haben, warum Jim sie plötzlich nicht mehr wollte. Bis die Frage schließlich zur Qual geworden war. Und um dieses Leiden zu beenden, hatte sie sich auf den Weg gemacht: um Jim zu suchen und ihm dabei in die Augen zu sehen, wenn er ihre Frage beantwortete. Greg hielt sie für aufrichtig und mutig. Deshalb beunruhigte ihn der eigenartige Wechsel ihres Verhaltens um so mehr. Als der Sturm nachgelassen hatte, stieg er, von innerer Unruhe erfüllt, in seinen Pickup und fuhr zurück zum Strandhaus. Er fand Hanna in der Küche, wie sie sich ihre linke Schulter mit einem Lappen und kaltem Wasser kühlte. Sie brauchte ihm nicht zu erklären, was geschehen war, er hatte den herabgestürzten Querbalken auf der Veranda liegensehen. Für einen Augenblick war er gefangen vom Anblick ihres Körpers, der so verletzlich wirkte. Überall auf ihrer Haut blühten Sommersprossen, die allerdings nicht so dunkel waren, wie die auf ihrem Gesicht. Sie war so schlank, daß sich an Hals und Schultern die Knochen abzeichneten. Der linke Träger ihres schwarzen BH’s war nach unten gestreift. Greg hob den nassen Lappen von ihrer Schulter und besah sich die Prellung. Dabei erhaschte er einen Blick auf ihre Brustwarze. Sie war tiefbraun. Ein unterdrückter Laut kam aus seiner Kehle. „Komm!“ sagte er, „ich bringe dich in die Klinik. Das sollte geröntgt werden.“ „Das ist nicht nötig“, erwiderte sie störrisch. „Es ist nichts gebrochen.“ Greg kniete vor ihr nieder und streichelte ihren nackten Arm. Er sah die Spuren von getrockneten Tränen auf ihrem Gesicht. „Na komm schon“, bat er sie. „Ich würde mich besser fühlen, wenn ich genau wüßte, daß nichts gebrochen ist.“ Polizeichef Oren Hunter wunderte sich, als der Sohn des Holzschnitzers und die deutsche Frau bei ihm auftauchten. 168
Die Hoffnung, daß Hanna Schill die Reservation schnell wieder verlassen würde, hatte er schon gestern aufgegeben, als er sie mit Greg in Rosie’s II. Cafe hatte gehen sehen. Die Bewegungen der Frau schienen von Schmerzen begleitet, was ihn stutzig machte. Sollte ihr Sturz von der Brüstung doch Folgen gehabt haben? Hatte sie es sich anders überlegt und wollte nun doch Schmerzensgeld fordern? Das konnte sehr unangenehm für ihn werden. „Was ist passiert, Colfax?“ „Ich möchte Anzeige gegen Unbekannt erstatten“, sagte Greg. „Gegen Unbekannt?“ brummte Hunter und ahnte nichts Gutes. „Jemand attakiert Fremde, Chief“, meinte Greg aufgebracht. „Wäre Hanna nicht zurückgesprungen, hätte sie der Balken am Kopf getroffen.“ „Welcher Balken, zum Teufel? Red’ endlich Klartext, Junge!“ Greg erzählte dem Polizisten, was geschehen war, aber Hunter sah ihn nur bedauernd an. „Tut mir leid, mein Junge, aber gegen einen verrotteten Querbalken, der sich selbständig gemacht hat, kann ich keine Anzeige erstatten. Solche Dinge passieren nun mal.“ Greg schlug wütend mit beiden Händen auf Hunters Schreibtisch. „Kein verrotteter Balken, ich selbst habe ihn vor einem knappen Jahr eingesetzt. Er war fest, Chief.“ „Aber der Sturm, Colfax. Dieser Sturm hätte auch das ganze wacklige Strandhaus von Gertrude Allabush wegfegen können.“ Er wandte sich an Hanna. „Sie können von Glück sagen, daß Ihnen weiter nichts passiert ist.“ Hannas Schulter schmerzte, als hätte jemand versucht, ihr den Arm auszureißen. Sie war nur froh, daß das Röntgenbild keine Knochenfraktur gezeigt hatte. Sie hatte heute keine Kraft mehr, sich zu streiten, schon gar nicht mit einem indianischen Polizeibeamten. Sie wollte nur noch ihre Ruhe haben. 169
Die Untersuchung im Hospital von Neah Bay war anstrengend und schmerzhaft gewesen. Abgesehen davon, daß sie dort sehr freundlich behandelt worden war. Doch das lag vermutlich daran, daß Greg sie begleitet hatte. Hanna hatte noch versucht, ihm den Besuch bei der Polizei auszureden, aber er war nicht davon abzubringen gewesen. Doch mittlerweile merkte auch Greg, daß es keinen Sinn hatte. Oren Hunter wollte einfach nicht begreifen, daß hier einiges nicht mit rechten Dingen zuging. Oder er konnte es nicht zugeben. Bill Lighthouse hatte sich ganz ähnlich geäußert. Vielleicht steckte der Polizeichef sogar mit dem Frevler unter einer Decke. Sie mußten von nun an noch vorsichtiger sein. „Wo ist der Sheriff“, wollte Greg wissen. „Sheriff Lighthouse ist drüben auf Patrouille am Lake Ozette.“ Hunter warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr an der Wand. „Eigentlich müßte er längst wieder hier sein, der Sturm wird ihn aufgehalten haben.“ Er faltete seine Hände auf dem Schreibtisch, sah Greg kopfschüttelnd an und sagte: „Was willst du von ihm, Colfax? Er wird diesem Spuk, den du da im Kopf hast, auch keinen Glauben schenken.“ Greg legte Hanna eine Hand auf die Hüfte und schob sie schweigend zur Tür hinaus. Er würde morgen mit Bill Lighthouse reden. Der junge Sheriff würde ihm zuhören. *** Matthew Colfax vergrub sein Gesicht in den Händen. Greg war gegangen – zu dieser Frau gegangen, und er war sich sicher, daß sein Sohn nicht zurückkommen würde. Er hatte ihn verloren, so wie er Jim verloren hatte. Verhext von einer Babathlid mit roten Haaren. Der alte Pfahlschnitzer wußte nur zu gut, was das bedeutete. Sie würde versuchen, Greg immer mehr zu verwirren, 170
ihm Dinge aus einer anderen Welt erzählen, die ihn schließlich so neugierig werden ließen, daß er ihr folgen würde. Er durfte das nicht zulassen. Greg war alles, was ihm noch geblieben war. Sein einziger Nachkomme, Erbe seiner Schnitzkunst und seiner Privilegien. Auch wenn Greg nicht so ehrgeizig war wie Jim, so war sein Können in den vergangenen Jahren doch zufriedenstellend gereift. Colfax erhob sich und blickte aus dem Fenster seines Hauses auf das Meer hinaus. Der Ozean gebärdete sich nicht mehr so wild, der Sturm war nach Osten abgezogen. Er ging nach oben in die Diele und zog sich Gummistiefel und Regenjacke an. Dann machte er sich auf die Suche nach dem einzigen Menschen, dem er vertrauen, und dem er von seinen Befürchtungen erzählen konnte. *** Regen prasselte auf das Autodach. Die Scheibenwischer seines Jeeps kämpften gegen strömende Wassermassen, die ihm gnadenlos die Sicht versperrten. Gerade wollte Sheriff Bill Lighthouse auf die Hoko Ozette Road biegen, als er auf der unbefestigten Straße geradeaus die Blinklichter eines Wagens entdeckte. Er fuhr näher heran und öffnete seine Tür. Was er sah, verschlug ihm für einen Augenblick den Atem. Es war der Pick-up des Parkrangers, seines Freundes Daniel Hadlock. Und quer über der Kühlerhaube lag der Stamm einer toten Zeder. Über Funk rief Bill die Washington State Patrol, dann verließ er seinen Wagen, kroch unter dem Stamm durch und versuchte, an Dan heranzukommen. Die Frontscheibe war bei dem Aufprall in tausende kleine Splitter zertrümmert worden, die nach Innen gefallen waren. Lighthouse spähte ins Führerhaus und entdeckte Dans Blondschopf auf dem Lenkrad. 171
„Dan“, schrie er durch das Prasseln des Regens, „Dan, bist du okay?“ Ein leises Stöhnen war die Antwort. In einem Anfall rasender Angst versuchte Bill, die Tür zu öffnen. Aber sie klemmte fest. Wütend trat er dagegen. „Gleich bin ich bei dir“, brüllte er, „halte durch.“ Er lief zu seinem Jeep zurück, um Werkzeug zu holen, mit dem er die Tür aufbrechen konnte. Er arbeitete fluchend, aber die Tür war völlig verkeilt. Als Lighthouse versuchte, von der anderen Seite an Hadlock heranzukommen, hörte er schon die Sirenen. Kurz darauf traf der Wagen der Washington State Patrol am Unglücksort ein und gleich danach der Krankenwagen. Zwei Minuten später hielt ein weiterer weißer Pick-up neben Bills Jeep. Es war Walter Reed, Dans Kollege, der den Funkspruch des Sheriffs mitgehört hatte. Sheriff Lighthouse empfand es als eine Gnade der Geister, als der Regen endlich nachließ. Hadlock wurde vorsichtig auf eine Trage gebettet und festgeschnallt, nachdem man ihn aus seiner Zwangslage befreit hatte. Die junge Rettungssanitäterin legte besonderen Wert darauf, daß sein Kopf stabil und ruhig lag, Bill war das nicht entgangen. Das Gesicht des Rangers war mit unzähligen kleinen Schnittwunden übersät. Aber mehr Sorgen machte dem Sheriff diese eine, glänzend dunkelrote Schlange, die Dan unter dem Haaransatz hervor übers Gesicht gekrochen war. Als Hadlock kurz die Augen öffnete und seine Lippen bewegte, war Lighthouse mit seinem Gesicht dicht über ihm. „… Geister …“, hörte er den Ranger flüstern. „Hilf mir, Bill! Ich … habe sie … gesehen, Sie …“ Die Sanitäterin schob Lighthouse sanft zur Seite. „Wir bringen ihn gleich nach Port Angeles. Sie können sich später nach ihm erkundigen.“ Der Ambulanzwagen rollte davon 172
und Sheriff Lighthouse blieb hilflos zurück. Dan Hadlock hatte Frau und Kinder, jemand mußte sie benachrichtigen. Das war seine Aufgabe, und er wühlte in seinem Kopf nach Worten, mit denen er das Geschehene am schonendsten ausdrücken konnte. Hadlocks Kollege Walter Reed kam auf ihn zu und fragte: „Hat Dan noch irgendetwas gesagt?“ „Nur, daß sich jemand um seine Frau kümmern soll“, log Lighthouse. Schließlich konnte er dem Ranger nichts von Geistern erzählen. „Das werde ich tun“, sagte Reed. „Ich kenne sie ein wenig.“ Bill sagte erleichtert: „Dann kümmere ich mich um Dans Wagen und den Stamm.“ „Sie waren mit Dan als Letzter zusammen?“ fragte Reed. Lighthouse nickte bekümmert. „Der Strom war ausgefallen und Dan wollte nachsehen, ob irgendwo ein Baum in die Leitungen gefallen war.“ „Das ist verrückt“, meinte der Ranger. „Der Strom ist wieder da. Muß was anderes gewesen sein.“ „Ja, vielleicht“, antwortete Bill nachdenklich. Vielleicht Geister! Blödsinn, dachte er. Aber was, zum Teufel, hatte Dan Hadlock gesehen? Fahr nach Hause, sagte ihm eine innere Stimme. Leg eine Platte auf und versuch dich zu entspannen. Aber bevor er das konnte, mußte er sich erst um den Stamm und Dans Pickup kümmern. *** Hanna hockte schief auf einem wackligen Holzstuhl in der Küche und sah zu, wie Greg auf dem Holzherd ein Essen für sie beide zauberte. Er buk Fry-Bread, Indianerbrot aus Mehl, Salz und Wasser, das - in heißem Fett gebacken - köstliche Fladen ergab. Sie konnten mit süßen oder herzhaften Beigaben gegessen werden. Hanna überließ sich dem 173
Gefühl, umsorgt zu sein. Tapfer lächelte sie ihn an. Die kleinen Sonnen leuchteten wieder. „Ich vergaß dir zu erklären, wie man in diesem Herd Feuer macht“, sagte Greg. „Ich hatte ein hervorragendes Feuer“, entgegnete sie. Er lachte kopfschüttelnd. „Du hast zu viel Holz verwendet. Du mußt drei oder vier Scheite in die Mitte schichten und versuchen das Feuer klein zu halten. Sonst wird der ganze Herd so heiß, daß man kaum noch in seine Nähe kommen kann.“ „Er glühte“, gab sie zu. „Es war höllisch heiß.“ Greg griff sich einen Schürhaken und erklärte ihr die Funktion der verschiedenen Luftklappen, mit deren Hilfe man die Hitze kontrollieren konnte. Dann aßen sie Fry-Bread mit Ahornsirup. „Wieso bist du eigentlich zurückgekommen?“ fragte sie ihn. „Ich weiß nicht. Als ob ich etwas geahnt hätte.“ Er reichte ihr einen fertigen Fladen. Sie beträufelte ihn mit Sirup und biß hinein. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, was eigentlich mit dir los war?“ Fragend sah er sie an. Hanna druckste herum. Es fiel ihr schwer, ihm gegenüber die Wahrheit auszusprechen. Aber dann tat sie es schließlich doch. „Gertrude gab mir zu verstehen, daß …“ „Was?“ „Sie sagte, wenn euer Stamm sich mit Weißen vermischt, habt ihr keine Chance zu überleben.“ Greg runzelte die Stirn. „Das hat Gertrude gesagt?“ „So ähnlich, jedenfalls.“ „Und das hat dich so aus der Fassung gebracht?“ „Ja, ich … ich nahm es persönlich. Ola wird nie als Indianerin akzeptiert werden.“ Sie sah ihn an. „Ich wünsche mir noch ein Kind, Greg, vielleicht zwei. Aber ich weiß inzwischen genug, daß ich nicht noch mehr zerissene Seelen in die Welt setzen werde.“ „Du redest Unsinn“, sagte er sanft, nachdem ihm endlich 174
klargeworden war, was sie nicht auszusprechen wagte. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, denn er spürte eine tiefe Einsamkeit in ihr. Aber seine Hände trieften vor Fett, und er war mit seinem Fry-Bread noch lange nicht fertig. „Wenn du nachweisen kannst, daß Ola Jims Tochter ist“, sagte er, „dann hat sie alle Reservationsrechte.“ Hanna schüttelte den Kopf. „Aber ich kann es nicht nachweisen, weil er nicht mehr da ist.“ Ein paar Tränen kullerten nun doch über ihre geröteten Wangen. „Wieso, Greg, ist es so kompliziert? Wieso tun wir das alles, obwohl wir uns etwas ganz anderes wünschen?“ Er dachte einen Augenblick darüber nach, obwohl er die Antwort schon seit einer Weile wußte. „Es ist die Unschuld, die uns fehlt. Wir haben schon so viele Fehler gemacht. Wir, und all die anderen vor uns.“ Sie hob den Kopf und sah ihn an, als ob sie auf eine Erklärung wartete. Achselzuckend meinte er: „Ich bin jedenfalls sehr froh, daß dir nichts Schlimmeres passiert ist.“ „Ich glaube, diesmal war es wirklich ein Unfall“, erwiderte Hanna. „Der Balken hat sich im Sturm gelöst.“ Er legte ein neues Teigstück in die Pfanne. „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“ Greg Colfax glaubte nicht an Zufälle, aber er wollte sie nicht unnötig beunruhigen. Nach dem Essen machte er den Abwasch und verstaute die restlichen Lebensmittel im Kühlschrank. Der Strom war wieder da. Hanna legte sich aufs Bett und versuchte eine Stellung zu finden, in der ihre Schulter am wenigsten schmerzte. „Geh nicht weg!“ bat sie ihn. Greg legte sich neben sie auf das andere Bett und stützte den Kopf auf seine rechte Hand. „Natürlich nicht“, sagte er. Der Wunsch, sie zu beschützen, war jetzt ganz stark. Die Anspannung zog fort, und Stille deckte all die Zweifel zu. Eine heranrollende Woge aus Müdigkeit trieb Hanna in 175
den Schlaf. Greg betrachtete die geschwungene Linie ihres Kinns, die Lippen, die leicht geöffnet waren und ihre festen Brüste, die sich deutlich unter dem Hemd abzeichneten. Wie gern hätte er sie berührt und ihren Körper mit Küssen bedeckt. Wie gern hätte er ihr seine Wünsche offenbart, die ihn heftig und qualvoll bedrängten. Aber er saß in der Klemme. Langsam wurde ihm klar, daß die Suche nach Jim für sie beide nicht ohne Verletzungen abgehen würde. Nicht mehr lange, und jedem von ihnen würden Entscheidungen abverlangt werden. Und dann kam es darauf an, daß nicht noch mehr Fehler gemacht wurden. Jeder Mensch wählt sein eigenes Schicksal, dachte Greg, und das Verhalten bestimmt den Lauf der Dinge. Davon war er überzeugt. Und mit einem Mal fühlte er die Gewißheit, daß es geschehen würde. *** Alle Kräfte der Natur haben ihren Ursprung in der Geisterwelt, sagen die Makah. Das ganze Jahr über müssen sie sich mit dieser Tatsache auseinandersetzen. Am häufigsten mit den Schutzgeistern jener Tiere, die für sie Nahrung bedeuten. Die Indianer glauben, das einige Tierarten unsterblich sind. Zum Beispiel der Lachs. Die meiste Zeit leben die Lachse wie die Menschen in Dörfern und haben ihre eigenen Lebensgewohnheiten. Und nur vorübergehend nehmen sie die Gestalt von Tieren an, um dem Menschen als Nahrung zu dienen. Aber da waren auch noch andere, mächtige Geister. Zum Beispiel der Geist des Meeres. Er konnte sehr zornig werden, wenn immer nur von ihm genommen, und nichts gegeben wurde. Um die Geister zu besänftigen, mußte man seine eigenen Schutzgeister um Hilfe bitten. Sheriff Bill Lighthouse saß in seinem Wagen und grübelte darüber nach, was mit seinem Freund, dem jungen Ranger, 176
passiert war. Für Bäume, die vom Blitz getroffen wurden, waren jene Geister verantwortlich, die das Wetter beeinflußten. Er mußte versuchen, sie gnädig zu stimmen. „Wieso Dan?“ stöhnte Lighthouse. „Wieso er, und nicht irgendein anderer?“ Eine idiotische Frage, das wußte er selbst. Der tote Stamm war vom Blitz getroffen worden und auf den Pick-up des Rangers gekippt. Ein Zufall? Dan hatte irgendwas von Geistern geredet. Aber das war wohl nur eine Folge ihres Gesprächs gewesen, das sie kurz zuvor geführt hatten. Zugegeben, der Stromausfall war eine beeindruckende Untermalung für Bills spaßig gemeinte Warnung gewesen. Mehr nicht. Lighthouse schob die Schuld für Dans seltsames Gefasel auf seine Kopfverletzung. Er war zwar noch bei Bewußtsein gewesen, aber vielleicht nicht mehr bei Verstand. Gestern abend hatte er in der Klinik von Port Angeles angerufen und man hatte ihm mitgeteilt, daß Dan Hadlock im Koma lag. Ein Blutgerinnsel, das auf Grund eines schweren Schlags entstanden war, drückte auf sein Gehirn. Bill raufte sich die Haare. „Hilf mir!“ hatte Dan zu ihm gesagt. Er mußte etwas tun. Aber was? Es war Freitag, er mußte seinen Papierkram erledigen, und hatte bis 17 Uhr Dienst. Danach würde er nach Port Angeles fahren und seinen Freund im Krankenhaus besuchen. Als Greg und Hanna im Polizeirevier auftauchten, war der Sheriff allein im Büro. Oren Hunter hatte die Kontrolle des Geländers oben am Kap diesmal selbst übernommen. „Gut, daß du da bist“, sagte Greg, und stützte seine Hände auf Bills Schreibtisch. „Ich will Anzeige erstatten.“ Er erzählte dem Sheriff, was gestern vorgefallen war, und daß Hunter sich geweigert hatte, die Anzeige aufzunehmen. „Vielleicht war es bloß ein Unfall, Bill, aber ich fände es besser, wenn du der Sache mal nachgehen würdest.“ 177
Bill Lighthouse zog ein vorgedrucktes Formular aus seinem Schreibtisch und füllte es aus. „Haben Sie irgendetwas Verdächtiges gehört, Miss Schill?“ wandte er sich an Hanna. Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Der Sturm tobte so gewaltig, daß die Balken der Hütte arbeiteten. Was anderes habe ich nicht gehört.“ „Hast du vielleicht ein verdächtiges Fahrzeug gesehen, als du zum Strandhaus zurückgefahren bist?“ fragte er Greg. „Nein. So kurz nach dem Sturm war noch niemand draußen unterwegs.“ Lighthouse nickte. Es konnte ein Unfall gewesen sein, aber sein Instinkt sagte ihm etwas anderes. Und der Sheriff hatte gelernt seinen Instinkten zu trauen. „Ich werde mich darum kümmern“, sagte er. „Morgen früh komme ich vorbei und sehe mir den Schaden an. Solange laßt alles so, wie es war.“ Greg nickte. Lighthouse wandte sich Hanna zu. „Wie geht es Ihnen, Miss Schill? Ist nicht gerade ein netter Empfang, den wir Ihnen bereiten.“ Empfang, dachte sie, das klingt, als wäre ich eben erst angekommen. Dabei kommt es mir vor, als wäre ich schon eine Ewigkeit hier. Sie winkte ab. „Ich bin nicht nachtragend. Außerdem tut es schon kaum noch weh.“ Das war gelogen, auch wenn es ihr tatsächlich bedeutend besser ging, nachdem sich Greg heute morgen als Medizinmann betätigt hatte. „Zedernbast, geklopft und angefeuchtet, wirkt Wunder bei Prellungen“, meinte der Sheriff. Hanna nickte. „Ist alles schon an seinem Platz.“ Lighthouse lächelte und Greg wurde verlegen. Als sie gehen wollten, hielt der Sheriff ihn zurück. „Ich habe noch eine Bitte an dich, Chah-la-bush.“ Verwundert wandte Greg sich um. Bill hatte ihn noch nie so genannt. „Was kann ich für dich tun?“ „Ich brauche einen Pfahl, ein kleiner genügt.“ 178
Colfax wußte, daß Bill diesen ungewöhnlichen Wunsch nicht unüberlegt aussprach. Für einen dreißig Zentimeter hohen Miniaturtotempfahl mit Originalbemalung konnte er in den Galerien von Seattle 500 bis 1000 $ verlangen. So viel Geld konnte ihm der Sheriff niemals geben. Aber er zögerte keinen Augenblick. „Wann brauchst du ihn?“ „Mach ihn, so schnell du kannst. Ich brauche ihn für jemanden, dem es sehr schlecht geht. Schnitze den Donnervogel.“ Greg stellte keine Fragen. „Ich werde mich beeilen“, sagte er. *** Eingeschlossen im dunklen Raum seines Körpers dämmerte Dan Hadlock in tiefer Bewußtlosigkeit. Er schwebte in alles aufsaugender Schwärze und wollte nicht hochkommen. Irgendwo, sehr weit weg, erreichte ihn eine Ahnung seines Lebens, das er gehabt hatte, bevor diese Feuersäule vor ihm aufgetaucht war. Im gleichen Augenblick war alles mit einem lauten Schlag in totaler Finsternis versunken. Jemand rief ihn, eine Frau, und er vernahm Kinderstimmen. Aber er verkroch sich noch tiefer in der Dunkelheit, damit sie ihn nicht erreichen konnten. Wo er sich befand, war er sicher vor den Geistern der Wildnis und des Ozeans, und sicher vor den wilden Geistern der Tiere, die sich mit denen der Menschen zu paaren versuchten. Das konnte einem schon mächtig Angst machen. Vor allem, wenn man so weiß war wie er. Aber hier, wo er sich befand, konnte ihm nichts geschehen. Im Labyrinth seiner Träume war er in Sicherheit. *** Greg Colfax hatte einem Stück Zedernholz von 40cm Länge und einem Durchmesser von etwa 7cm die 179
Grundform und eine grobe Einteilung gegeben. Einen Miniaturpfahl zu schnitzen erforderte Fingerspitzengefühl, dafür war die Gestaltung nicht so kompliziert wie bei einem großen Pfahl. Er zeichnete das Muster an. Ganz unten Zähne und Augen eines Bären. Darüber einen Otter, einen Wolf und zuletzt zeichnete er den großen Donnervogel. Greg kannte denjenigen nicht, für den der Pfahl bestimmt sein sollte, also wählte er jene Tiere, die am einfachsten und eindrucksvollsten zu gestalten waren. Abgesehen vom Donnervogel. Den hatte Bill gewollt. Und er würde seine Gründe dafür haben. Donnervögel sind mächtige Raubvögel, die in den Gipfeln der Gebirge hausen, so sagt es die Mythologie der Nordwestküste. Ihre Hauptnahrung sind Raubwale, die der Vogel mit seinen kräftigen Krallen packt und in seine Höhle trägt. Der Donner entsteht, wenn er seine mächtigen Schwingen bewegt, die Blitze kommen aus seinen Augen, die große Kristalle sind. Hanna beobachtete Greg bei seiner Arbeit. Sie war froh, daß er sein Werkzeug geholt hatte und bei ihr geblieben war. Sein sorgenvolles Gesicht allerdings gefiel ihr gar nicht. „Was ist los mit dir?“ fragte sie ihn. „Bist du immer noch böse?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nicht böse. Ich habe nur Angst, daß ich dich nicht genug beschützen kann.“ Sie hätte ihm antworten können, daß sie gut auf sich allein aufpassen konnte, wie sie es normalerweise getan hätte. Aber hier funktionierte das nicht. Hier passierten Dinge, auf die sie nicht vorbereitet war und ihre Intuition versagte kläglich. „Ich fühle mich sicher, wenn du in meiner Nähe bist“, sagte sie sanft. Er sah kurz von seiner Arbeit auf und sie versuchte zu lächeln, um ihn zu beruhigen. Ihre schiefe Körperhaltung ließ sie noch schmächtiger und zerbrechlicher erscheinen. „Erzähl mir von deinem Vater, Greg“, bat sie ihn. „Du hast 180
gesagt, er hätte eine unglückliche Kindheit gehabt. Wieso? Ist er nicht hier aufgewachsen?“ „Interessiert dich das wirklich?“ „Ja“, antwortete sie. „Vielleicht kann ich ihn dann besser verstehen.“ Greg Colfax begann wieder zu arbeiten, aber er begann auch zu erzählen. „Mein Vater verlor seine Eltern, als er acht Jahre alt war“, sagte er, „das war 1932. Eine Seelöwin tötete meinen Großvater, als sie ihr Junges verteidigte. Daraufhin nahm sich meine Großmutter das Leben. Sie sprang von den Klippen ins Meer.“ Er hielt das Holzstück auf Augenhöhe und überprüfte, ob es gerade war. Dann schnitzte er eine Vertiefung. „Es kamen Leute vom Jugendamt und holten meinen Vater ab. Er kam in ein Heim, irgendwo in Seattle. Von dort aus zu verschiedenen weißen Pflegefamilien. Er riß immer wieder aus, wurde aufgelesen und zurückgebracht.“ Greg sah Hanna an. „Sein Schicksal ist kein Einzelfall, nichts Ungewöhliches für ein Indianerkind in seiner Zeit. Den Indian Child Welfare Act gab es damals noch nicht. Er verhindert heute, daß indianische Kinder in weiße Familien adoptiert oder aus der Obhut des Stammes entfernt werden. Auf jeden Fall war mein Vater ein entwurzelter Mann, als er endlich mündig war und tun und lassen konnte, was er wollte. Er ersäufte seinen Haß und seinen Kummer im Alkohol, kam ins Gefängnis, und dort hatte er genug Zeit, um sich an seine Vorfahren zu erinnern, die alle Pfahlschnitzer gewesen waren, soweit die Erinnerung reicht.“ „Wie alt ist dein Vater eigentlich“, wollte Hanna wissen. „Nächsten Monat wird er dreiundsiebzig“, antwortete Greg. Sie war überrascht. Auch wenn Matthew Colfax in den vergangenen Jahren auffällig gealtert war, hätte sie ihn doch für erheblich jünger gehalten. Er war immer noch ein großer und starker Mann. 181
„Nach seiner Entlassung“, fuhr Greg fort, „kehrte er nach Neah Bay zurück. Hier war er geboren, hier hatten seine Eltern gelebt und nur hier genoß er die Rechte und Privilegien der Vorfahren seiner Familie. Zu dieser Zeit gab es niemanden im Ort, der die Kunst des Pfahlschnitzens beherrschte. Aber in der ehemaligen Werkstatt meines Großvaters lagerten noch seine selbstgebauten Werkzeuge. Mein Vater packte alles zusammen und ging auf die Suche nach einem Meisterschnitzer.“ Greg hob den Kopf, um sich zu vergewissern, daß Hanna ihm noch zuhörte. „Er war ein Mann ohne Können, aber er hatte eine Vision gehabt.“ „Er weiß, wie es ist, heimatlos zu sein“, sagte sie. „Er wollte nicht, daß Jim dasselbe widerfährt. Deshalb ist er so voller Haß.“ „Ja, vielleicht“, meinte Greg, „aber er ist ein fanatischer Traditionalist geworden. Ein harter Mann, ohne jegliche Toleranz anderen gegenüber. Meine Mutter litt sehr unter seiner Lieblosigkeit – und ich auch.“ Eine Weile schwiegen sie. „Wie war sie, deine Mutter?“ Greg legte das Werkzeug aus den Händen. „Sie war eine warmherzige, schöne Frau.“ Er lächelte in der Erinnerung. „Aber das behaupten sicher alle Söhne von ihren Müttern. Leider schaffte es mein Vater, ihre Fröhlichkeit im Laufe der Jahre zu ersticken. Sie starb an Krebs, als ich neun war. Aber manchmal glaube ich, daß der Verlust ihrer Fröhlichkeit sie hat sterben lassen.“ „Dein Vater hat nie wieder geheiratet?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich fürchte, er hat überhaupt nur geheiratet, um einen Sohn zu zeugen, der sein Nachfolger würde. Meine Mutter entstammte einer angesehenen Familie, genauso wie mein Vater. Aber was das Wichtigste war, sie stammte auch aus einer anderen Moiety, einer anderen Stammeshälfte. Hochzeiten innerhalb einer Moiety waren verboten und sie sind es bis heute.“ 182
„Ist die Auswahl dadurch nicht erheblich eingeschränkt?“ fragte sie spöttisch. Er gab keine Antwort. „Und dann kam Jim zu euch“, stellte sie fest. Sie wollte nicht, daß er aufhörte zu reden. „Ja. Jim kam zu uns. Mein Vater behandelte ihn wie einen eigenen Sohn. Und ich war froh, mit dem mürrischen Mann nicht mehr allein sein zu müssen. Mit Jim kehrte wieder etwas Freude in unser Haus ein. Vater lehrte uns beide das Schnitzen, aber Jim war weitaus ehrgeiziger als ich. Er fing alles ab, was mein Vater eigentlich mir zugedacht hatte. Ich war ungeheuer froh darüber. So blieb mir genug Zeit, zum malen.“ „Du warst nie eifersüchtig?“ „Nein“, entgegnete er mit Nachdruck. „Ich weiß nicht ob Jim dir erzählt hat, daß bei uns jeder junge Mann durch einen Traum erfahren muß, welche Arbeit ihm zugedacht ist und wie er sie meistern kann. Jim hatte mit vierzehn die Vision gehabt, daß er ein guter Holzschnitzer werden würde. Deshalb wurde er auch einer.“ Greg schüttelte resigniert den Kopf. „Ich hatte nie einen derartigen Traum. Ich träume immer nur von Farben.“ „Du bist ein guter Schnitzer, Greg, ich weiß es.“ Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. „Du bist auch ein guter Maler.“ „Ich bin ein Pfahlschnitzer ohne Vision, Hanna“, er schüttelte den Kopf. „Das ist ungefähr dasselbe wie ein Fischer ohne Boot.“ „Aber warum tust du es dann?“ „Weil ich muß. Mein Vater ist ein alter Mann, Jim ist verschwunden. Wenn ich mich weigere, wird es bald keinen Pfahlschnitzer mehr geben in Neah Bay. Das ist etwas, das nie passieren darf.“ „Ich verstehe“, sagte sie. „Deshalb warst du wütend auf mich und auf Jim.“ „Ja, eine lange Zeit“, gab er zu. „Aber meine Liebe ist stär183
ker als meine Wut auf ihn. Als ich noch klein war, war Jim der einzige Mensch, mit dem ich darüber reden konnte, daß mir meine Mutter fehlte. Ich weiß, daß er versuchte, meinen Verlust auszugleichen. Er hörte immer zu. Und ich konnte nachts in sein Bett kommen, wann immer ich mich einsam fühlte.“ Hanna kämpfte gegen einen Kloß im Hals. „Ich hatte keine Ahnung, wie viel er dir bedeutet.“ „Und ich wußte erst, wie sehr er mir fehlt, als du hier auftauchtest.“ Er nahm den halbfertigen Pfahl wieder in die Hände, so, als wäre das Thema damit beendet. Sie betrachtete seine schlanken Hände, die auf der Innenseite heller, auf dem Handrücken aber sehr dunkel waren. Jim hatte eine hellere Haut als Greg. Und seine Augen waren zwar auch dunkel, aber nicht von so randloser Schwärze. Immer wieder versuchte sie sich zu erinnern, an Einzelheiten, an Gesten, als könne so das Unsichtbare sichtbar werden. Aber es gelang ihr nicht. Jims Bild blieb immer dasselbe, und mehr und mehr nahm es Schattenfarben an. Greg dagegen saß hier, bei ihr. Er war lebendig, voller Wünsche und Empfindungen. Sie kam gegen ihre Gefühle für ihn nicht mehr an. Leise fragte sie: „Wo kamst du eigentlich so plötzlich her, als ich am Cape Flattery um Hilfe schrie? Ich hatte gemeint, ganz allein zu sein.“ „Das bist du hier nie“, erwiderte er lächelnd. „Unsere Geister sind überall.“ Ihr fiel ein, daß sie damals tatsächlich das kurze Gefühl von konturloser Gegenwart gehabt hatte. „Aber du bist kein Geist, oder?“ Ihre Augen wechselten wieder die Farbe, während er sie anblickte. „Ich war mit dem Boot in der Grotte. Deshalb hast du mich nicht gesehen.“ „Was hast du da gemacht, um diese Zeit?“ „Muscheln geerntet, das weißt du doch.“ „So früh?“ 184
„Um diese Zeit ist das Meer meistens ruhig und es sind noch keine Touristen am Kap. Es nervt, wenn sie dir alle von oben mit dem Fernglas ins Boot gaffen.“ Mit dieser Antwort gab sie sich zufrieden, fragte aber nach einer kleinen Pause: „Greg, wer ist Tsonoqa?“ Colfax legte sein Werkzeug erneut aus der Hand. „Wer hat dir von ihr erzählt?“ „Grace erwähnte sie kurz. Aber Gertrude wollte nichts darüber erzählen. Ich glaube, indem sie schwieg, wollte sie mir Angst machen.“ Er seufzte leise. „Tsonoqa ist die Wilde Frau aus dem Walde. Über sie gibt es viele Geschichten. Zum Beispiel, daß sie kleine Kinder stiehlt und frißt. Sie soll sehr groß sein und man sagt, daß sich ihre Gegenwart durch ein Säuseln in den Bäumen ankündigt. Die meisten Leute fürchten sich sehr vor ihr.“ Er schüttelte unmerklich den Kopf. „In letzter Zeit häufen sich die abenteuerlichsten Berichte über Tsonoqa. Es gibt Leute, die wollen sie in der Nähe des Ortes gesehen haben, manche sind ihr in den Wäldern begegnet. Man sagt, sie sei nur mit einem Bastrock bekleidet.“ „Was ist mit dir, Greg“, fragte sie. „Hast du sie schon mal gesehen?“ „Nein. Ich glaube auch nicht daran, daß sie wirklich da ist. Tsonoqa existiert nur in der Phantasie der Menschen. Es gibt ihnen Kraft, wenn alte Legenden lebendig scheinen. Es ist der Geist der Wilden Frau, der in einer Welt umherstreift, in der er seit Anbeginn der Zeit lebt.“ Greg arbeitete noch bis weit nach Mitternacht an seinem Pfahl. Für die Schnitzarbeiten benutzte er verschiedene Messer mit gekrümmter Klinge. Jim Claplanhoo hatte sie vor vielen Jahren selbst angefertigt. Sie waren in mühevoller Kleinarbeit aus Feilenstahl gehämmert und später gefeilt worden. Es war der Stolz eines wahren Pfahlschnitzers, daß er sein Werkzeug von eigener Hand herstellte. Greg hatte kein eigenes Werkzeug, wozu auch, wenn es 185
viel einfacher war, Jims zu übernehmen. Er arbeitete an diesem Miniaturpfahl wie ein Besessener. Als er die Schnitzarbeiten beendet hatte, polierte er die Figuren mit feinem Schmirgelpapier. Früher wurde dazu Haifischhaut verwendet, aber das war lange her – so wie viele andere Dinge. Erst als Greg den Pfahl fertig bearbeitet hatte, legte er sich bekleidet neben Hanna aufs Bett und suchte Schlaf. Im Traum erschien ihm Tsonoqa, die Wilde Frau aus dem Walde. Sie stand einfach nur da und starrte ihn aus leeren Augen an. *** „Ich habe ihn gesehen, Großmutter, damals, im Winter vor vier Jahren“, sagte Grace leise. „Du hast geträumt“, erwiderte Gertrude Allabush. „Ich habe dir damals schon gesagt, daß du geträumt hast. Da war niemand.“ „Aber ich habe Jim Claplanhoo gesehen. Er stand vor meinem Fenster in der Nacht.“ „Du warst zehn Jahre alt“, entgegnete Gertrude. „Elf“, sagte Grace. „Und ich war wütend, weil du mir nicht glaubtest.“ Die alte Frau schüttelte nachdenklich den Kopf. „Wenn Jim in dieser Nacht tatsächlich hier war, dann ist etwas Furchtbares passiert.“ Grace legte ihrer Urgroßmutter eine Hand auf den Arm. „Vielleicht hat er es sich anders überlegt und ist dorthin zurückgegangen, wo er herkam. Zurück zu seiner Familie.“ „Wir waren seine Familie“, erwiderte die Alte. „Aber er ist nicht hereingekommen, in dieser Nacht. Er hat nicht geklopft, nur draußen gestanden.“ „Vielleicht hat er unsere Hilfe gebraucht. Das wäre schlimm. Wir müssen es Greg sagen“, seufzte Gertrude. „Gleich morgen müssen wir es ihm sagen.“ 186
8. Kapitel Als Hanna am nächsten Morgen erwachte, war das Bett neben ihr leer. Sie fand Greg in der Küche. Er saß am Tisch und bemalte den fertig geschnitzten Pfahl mit den Farben Weiß, Rot und Schwarz. Er sah müde aus und sanft. „Sheriff Lighthouse braucht ihn so dringend?“ fragte sie. Greg nickte. „Ich weiß nicht, für wen, aber ich fürchte, demjenigen geht es sehr schlecht.“ „Und Lighthouse glaubt, mit dem Pfahl könne er helfen?“ zweifelte sie. Er sah auf. „Ja, das glaubt er. Und ich glaube das auch, sonst hätte ich ihn nicht gemacht.“ Sie hörten die Bremsen eines Wagens und kurz darauf klopfte es an die Tür. „Ich bin es, Bill Lighthouse“, rief es von draußen. Hanna verschwand in der Schlafkammer, um sich anzuziehen. Greg legte den Pinsel aus der Hand und erhob sich, um dem Sheriff die Tür zu öffnen. Er begrüßte ihn mit einem Kopfnicken. Lighthouse entdeckte sofort den fast fertigen Pfahl und ein dankbares Leuchten huschte über sein Gesicht. „Du hast die ganze Nacht gearbeitet“, sagte er voller Anerkennung. „Noch ein paar Pinselstriche und er ist fertig.“ „Danke, Greg“, sagte Bill, „er ist gut geworden.“ Seufzend ließ er sich auf einem Küchenstuhl nieder. Er nahm seinen Hut ab und strich sich das lange Haar aus der Stirn. „Er ist für meinen Freund Dan, den Ranger aus Ozette. Während des Sturms ist ein Baum auf seinen Wagen gekippt. Ich fand ihn zum Glück gleich, nachdem es passiert war. Jetzt liegt er in Port Angeles auf der Intensivstation. Koma“, erzählte er stockend. 187
„Das tut mir leid“, sagte Greg. „Ich hoffe, der Pfahl wird dir helfen.“ „Er soll ihm helfen.“ Der Sheriff schüttelte den Kopf. „Erst wollte ich dir nicht sagen, daß er für einen Weißen ist, weil …“ „Weil du dachtest, ich würde mich dann nicht so beeilen?“ unterbrach ihn Greg. „Wie dumm von dir, Bill. Du weißt, daß ich nicht wie mein Vater bin.“ Lighthouse zog ein Bündel Dollarscheine aus seiner Brusttasche und legte sie auf die Tischplatte. Greg nahm die Scheine, rollte sie zusammen und schob sie in Bills Tasche zurück. „Aber was soll das, Colfax?“ protestierte der Sheriff. „Du hattest schließlich einen Haufen Arbeit damit. Und der Pfahl ist gut geworden. Denkst du, ich kenne die Preise nicht? Was ich dir geben kann, ist sowieso nur ein Trinkgeld.“ Greg legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wenn ich von dir Geld kassiere, dann verliert der Pfahl seine Wirkung. Wußtest du das nicht?“ Lighthouse sah in ungläubig an. Verlegen drehte er seinen Hut zwischen den Händen. „Es ist ein paar Jahre her, da bat ich Jim um einen Miniaturpfahl. Er wollte wissen, für wen er sein sollte, und ich sagte es ihm: Die Schwester eines Freundes von der Polizeischule hatte Leukämie. Ich liebte das Mädchen, was ich allerdings Jim nicht sagte, weil ich es damals noch nicht wußte. Auf jeden Fall“, Bill zögerte, „Jim lehnte es ab, mir den Pfahl zu machen.“ „Aber wieso?“ fragte Greg verwundert. „Das Mädchen war weiß.“ „Was ist aus ihr geworden?“ „Sie ist gestorben.“ Greg legte Bill die Hand auf die Schulter. „Damals gab ich Jim die Schuld“, sagte der junge Sheriff. „Inzwischen ist mir klar, daß sie mit Sicherheit auch gestorben wäre, wenn ich ihr den Pfahl gebracht hätte.“ 188
„Niemand weiß, was in Jim vorgegangen ist. Es scheint, als hätten wir ihn alle nicht besonders gut gekannt.“ „Ich bin froh, dich heute besser kennengelernt zu haben“, meinte Lighthouse. „Geh nach draußen und wirf einen Blick auf den Balken, Billy. Inzwischen bringe ich meine Arbeit zuende.“ „Danke, Greg.“ Der Sheriff erhob sich. „Wo ist Hanna?“ „Sie zieht sich an. Wenn sie fertig ist, schicke ich sie zu dir, damit sie dir alles genau erzählen kann.“ *** Hadlock spürte, wie er unweigerlich ans Licht getrieben wurde. Immer höher hinauf, dort wo es hell und warm war. Aber dort oben lauerten sie, die Schmerzen, und die Geister. Schon konnte er ihre grellen Gesichter sehen, bewegliche Masken aus Holz und Menschenhaar. Glühende Augen. Gestalten, die ungestüme Tänze vollführten. Eine nackte Frau mit wirrem dunklen Haar näherte sich ihm. Ihr Gesicht war von einer vogelartigen Halbmaske verdeckt. Die wilde Frau würde ihn verschlingen. Er hatte sie gesehen, bevor der Baum auf seinen Wagen gekracht war. Sie hatte darin gewohnt. Sie tanzte auf dem Feuer des Blitzes. Dan Hadlock wehrte sich dagegen, aufzutauchen. Er wollte dort bleiben, wo er sicher war, wo es keine Geister gab. Wo er nicht von einer Frau bedrängt wurde, die halb Mensch, halb Tier war. Der Ranger rettete sich zurück in die Bewußlosigkeit. Hier, im Dunkel des Nichts war er sicher. Er würde darum kämpfen, für immer in Sicherheit bleiben zu können. *** Hanna hatte Kaffee gekocht und drei Becher des muntermachenden Gebräus auf den Tisch gestellt. Bill Lighthouse 189
saß vor dem Miniaturpfahl und wartete, daß die Farbe trocknete. „Wirst du heute zum Potlach kommen?“ fragte er Greg. „Ja. Zusammen mit Hanna.“ „Dann weiß Annie, daß du sie verschmähst“, sagte der junge Sheriff erschrocken. „Es ist ein häßliches Wort, das du da benutzt“, erwiderte Greg. „Ich liebe Annie nicht, also werde ich kein Heiratsversprechen geben, auch wenn einige das hoffen.“ Bill warf einen Seitenblick auf Hanna, die an der Spüle stand und Geschirr abwusch. Er seufzte leise: „Dann werde ich Tomita nie bekommen.“ Greg lachte ungläubig. „Du hast ein Auge auf Tomita Ides geworfen?“ „Ein Auge ist gut. Mein Herz liegt ihr zu Füßen. Und ich glaube, sie mag mich auch.“ „Hat sie dir das gesagt?“ wollte Greg wissen. „Nicht direkt“, stotterte Bill, „aber ich deute ihr Benehmen so.“ Greg boxte Lighthouse freundschaftlich vor die Schulter. „Na, dann müh dich nur weiter, deine Chancen stehen sicher nicht schlecht. Wenigstens ist ihr Herz keine Eisbox.“ Jetzt wandte Hanna sich um und sah Greg und den Sheriff an. Aber sie sagte nichts. Bill trank seinen Kaffee aus und erhob sich. Die Farbe am Pfahl war getrocknet. Er sah perfekt aus. Vorsichtig nahm der Sheriff ihn an sich. „Ich hätte nichts dagegen, mit dir verwandt zu sein, Greg Colfax.“ Greg lachte kopfschüttelnd. „Ich auch nicht, Bill. Aber das wird nicht passieren.“ „Bis heute abend“, sagte Lighthouse. „Ja, bis heute abend.“ Als der Sheriff gegangen war, fragte Hanna: „Ist es wahr, daß der Pfahl seine Wirkung verliert, wenn dafür bezahlt wurde?“ „Kommt darauf an, womit bezahlt wird“, antwortete er. 190
„Dollarscheine haben einen schlechten Einfluß auf die Magie eines Totempfahls.“ Er lächelte, als er ihr ernstes Gesicht sah. „Deshalb ist es kaum von Bedeutung, wenn ich Pfähle für Weiße mache. Ich gebe nichts weiter fort als meine Arbeit.“ „Was ist mit dem Baum“, fragte sie, „und mit seiner Geschichte?“ „Sie verschwindet für immer. Aber erst, nachdem der Pfahlschnitzer sie gehört hat. Der Baum erzählt sie ihm, während er daran arbeitet.“ Es war später Vormittag, als Greg noch einmal nach Neah Bay fuhr, weil er verschiedene Dinge zu erledigen hatte. Er wollte in der Werkstatt vorbeisehen, Gertrude Allabush einen Besuch abstatten, und er hatte einen Termin mit einem Professor von der University of Washington, der ihn für einen Vortragsabend über indianische Schnitzkunst der Nordwestküste gewinnen wollte. Einer der Mitarbeiter des Museums hatte ihn an Greg verwiesen und den Treffpunkt im Museum arrangiert. Hanna hatte keine Lust, Greg zu begleiten. Sie fühlte sich immer noch ein wenig schlapp und wollte ihre Kräfte für den Abend aufsparen. Also fuhr er allein, auch wenn es ihm nicht behagte. Er bestand darauf, daß sie den Riegel vorschob, wenn er das Haus verlassen hatte. Es war Sonnabend, und am Abend würde das Potlach sein. Um Greg nicht zu verärgern, verzichtete Hanna auf einen Spaziergang am Strand, obwohl die Sonne schien und es draußen sehr warm war. Stattdessen legte sie sich auf ihr Bett und schrieb einen Brief an ihre Mutter und ihre Tochter. Sie schrieb, daß sie auf der Suche nach Jim zwar Hilfe gefunden hatte, aber immer noch nicht viel weitergekommen war. Sie schrieb von der Schönheit der Natur und der Zurückhaltung der Menschen. Von ihrem Abenteuer an der 191
Steilküste und dem Zusammenstoß mit einem Balken erzählte sie nichts. Sie wollte nicht, daß ihre Eltern sich unnötig Sorgen machten. Als es an die Eingangstür klopfte, horchte sie erschrocken auf. Sie erhob sich lautlos und ging zur Tür. Sie stand nur da und lauschte. Es klopfte noch einmal, diesmal lauter, und jemand rief: „Hanna, bist du da?“ Es war Grace. „Hanna, ich muß mit dir reden“, sagte das Mädchen. „Ich weiß, daß Jim nach Neah Bay zurückgekommen ist. Ich habe ihn gesehen.“ Hanna schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und ließ Grace herein. Sie versuchte mühsam, sich ihre Erregung nicht anmerken zu lassen. „Setz dich!“ sagte sie in der Küche zu Grace und wandte ihr den Rücken zu, um Teewasser aufzusetzen. Nachdem sie eine Handvoll Teeblätter in den Krug gefüllt hatte, drehte sie sich um. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle. „Wann hast du Jim gesehen, Grace?“ „Es war vor vier Jahren im Winter.“ Hanna ließ sich enttäuscht auf einen Stuhl sinken. Von dem, was Grace ihr da erzählte, war sie von Anfang an überzeugt gewesen. Sie erfuhr also nichts wirklich Neues. Grace sagte: „Es war Nacht und er stand draußen vor meinem Fenster. Ich weckte Granny, aber als wir nachsahen, war niemand da. Granny schickte mich wieder ins Bett mit der Behauptung, ich hätte ein Gespenst gesehen.“ Grace sah Hanna flehend an. „Aber ich weiß, daß er da war.“ „Ich glaube dir.“ „Du hast Jim sehr geliebt, nicht wahr?“ Grace musterte die weiße Frau eindringlich. Hanna fragte sich, ob sie mit einem fünfzehnjährigen Mädchen, von dem sie nichts wußte, über ihre Gefühle reden sollte. Aber dann entschied sie sich, das Gespräch nicht an diesem Punkt abzuwürgen. Grace war immer freundlich zu ihr gewesen. Sie nickte. „Und jetzt liebst du Greg.“ 192
Hanna wollte protestieren, aber ein Blick in Grace Allabushs undurchdringlich schwarze Augen sagte ihr, daß es keinen Sinn hatte. Grace war vielleicht erst fünfzehn, aber sie hatte einen wachen Verstand und genügend weibliches Solidaritätsgefühl. „Denkst du dasselbe über mich, wie deine Großmutter?“ fragte Hanna vorsichtshalber. Grace schüttelte den Kopf. „Granny ist alt und hat viele Enttäuschungen erlebt. Das hat sie hart gemacht. Aber sie meint es nicht so. Sie hat Jim sehr gemocht, und sie liebt Greg. Sie hat Angst, ihn zu verlieren. Granny trauert um jeden, der die Reservation verläßt. Aber Greg gehört weitläufig zu unserer Familie, da schmerzt es besonders.“ Der Teekessel pfiff und Hanna überbrühte die Blätter. Sie stellte zwei Henkelbecher und ein kleines Glas mit flüssigem Honig auf den Tisch. Dann meinte sie: „Eine Zeit lang habe ich gedacht, Jim könnte dein Vater sein.“ Grace schüttelte den Kopf und lachte. „Nein, das wüßte ich. Granny hat mir alles über meinen Vater erzählt, was sie wußte. Es war nicht viel, er soll ein lustiger Mann gewesen sein. Ich kann mich nicht an ihn erinnern.“ „Und es stört dich nicht?“ „Ich könnte nach ihm suchen, vielleicht lebt er irgendwo und hat Familie. Aber warum sollte ich das tun? Er ist fortgegangen und hat sich all die Jahre nicht für mich interessiert. Ich brauche ihn nicht. Genauso, wie ich meine Mutter nicht brauche. Ich habe Granny.“ Wachsam sah Hanna das Mädchen an. „Was denkst du, soll ich aufhören, nach Jim zu suchen?“ Die junge Indianerin schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht nur du willst wissen, was aus ihm geworden ist. Es geht dabei auch um Greg.“ Sie senkte den Kopf. „Keine Angst“, meinte Hanna. „Ich werde nicht denselben Fehler zweimal machen. Greg gehört nach Neah Bay.“ Sie goß Tee in die Becher und Grace nahm ihren entgegen. 193
Ihre schwarzen Augen leuchteten. „Du könntest hierbleiben, bei ihm.“ Hanna war überrascht über die Worte des Mädchens. Sollte es in Neah Bay doch noch Menschen geben, denen ihre Hautfarbe egal war? „Ist das deine Ernst?“ fragte sie. „Ja, natürlich.“ Hanna lachte entspannt. „Wir haben vergessen, Greg nach seiner Meinung zu fragen, Grace.“ Sie wurde ernst. „Wir haben nichts miteinander.“ Beinahe enttäuscht sah Grace sie an. Sie tauchte einen Löffel in den Honig, zog ihn heraus und drehte ihn schnell und tauchte ihn dann in ihren Tee. „Eigentlich wollte ich dich etwas fragen …“ „Und was?“ „Denkst du, ein Mann und eine Frau können ein Leben lang zusammenbleiben?“ Die Frage verblüffte Hanna, denn sie hatte etwas ganz anderes erwartet. „Es ist schwer, aber es gibt Männer und Frauen, die schaffen es.“ „In meiner Familie hat es bisher niemand geschafft. Die Frauen sind immer allein gewesen.“ „Vielleicht sind sie sehr stark. Zu stark, um einem Mann Raum an ihrer Seite zu lassen.“ Grace hob den Kopf und sah Hanna offen ins Gesicht. „Wird es mir genauso ergehen?“ „Hast du einen Freund?“ wollte Hanna wissen, als sie die konkrete Sorge in den Augen der jungen Frau erkannte. Grace nickte verlegen. „Er heißt Joey, und ist der Neffe vom Chief. Ich liebe ihn, aber manchmal ist er wie ein Kind.“ Hanna lachte. „Und du hast Angst, daß dich das eines Tages stören könnte?“ Das Mädchen nickte. „Keine Angst“, meinte Hanna, „du bist nicht wie deine 194
Großmutter. Du weißt viel mehr, weil du auch nach vorn siehst, während sie immer nur zurückblickt.“ Grace dachte einen Augenblick darüber nach. „Es ist so, weil sie alt ist. Wenn sie nach vorn blickt, sieht sie den Tod, aber wenn sie zurückblickt, sieht sie ein langes, erfülltes Leben. Manchmal erinnert sie sich an Dinge, die gar nicht passiert sind. Sie sagt immer, meine Mutter wäre tot, dabei ist sie mit einem Weißen fortgegangen.“ Hanna dachte daran, wie hart Gertrude ihr gegenüber gewesen war. Wie sehr mußte es die alte Frau getroffen haben, daß ihre eigene Enkeltochter mit einem weißen Mann fortgegangen war. „Jedes Jahr heiraten ein paar Mädchen aus unserem Ort weiße Männer“, sagte Grace. „Sie wollen nur weg von hier, um jeden Preis, und erhoffen sich ein besseres Leben.“ „Dir geht es nicht so?“ „Nein, ich bin gerne hier. Man muß nicht unbedingt weggehen, um eine andere zu werden.“ „Und was ist mit den Männern?“ wollte Hanna wissen. „Gibt es Makah-Männer, die weiße Frauen heiraten?“ „Es kommt vor, aber sehr selten. Die meisten unserer jungen Männer können mit weißen Mädchen nichts anfangen. Sie gehen mit ihnen ins Bett, aber das ist alles. Joey sagt, es würde ihnen ein Gefühl von Überlegenheit geben.“ So läuft das also, dachte Hanna, und nippte von ihrem Tee. Grace ahnte Hannas Gedanken. Sie meinte: „Aber Greg ist kein Junge mehr, er ist ein Mann. Und ich glaube, er weiß genau, was er tut.“ Ja, er wußte genau, was er tat. Er hatte sie nicht angerührt. Hanna fühlte sich unbehaglich. Grace erhob sich. „Ich muß jetzt gehen“, sagte sie, „heute abend ist das Potlach.“ „Wie bist du hergekommen?“ „Ich bin gelaufen.“ 195
„Warte einen Augenblick“, sagte Hanna, „ich fahre dich zurück.“ „Das brauchst du nicht.“ „Ich weiß. Aber ich möchte es gerne. Ich bin froh, daß du gekommen bist.“ Hanna holte ihren Autoschlüssel und fuhr Grace Allabush nach Neah Bay zurück, direkt vor das Haus ihrer Urgroßmutter. Und dabei hatte sie das Gefühl, einen kleinen Sieg errungen zu haben. Als Greg zurückkehrte, erzählte sie ihm ganz ruhig von Grace Allabushs Besuch und dem, was das Mädchen behauptete, gesehen zu haben. „Ich glaube auch, daß Jim nochmal hier war“, erwiderte Greg. Er war sich sogar ziemlich sicher, wußte aber nicht, woher diese Sicherheit rührte. „Aber dann muß ihn doch irgendjemand gesehen haben.“ „Grace hat ihn gesehen.“ „Wir könnten andere nach Jim fragen.“ Greg schüttelte den Kopf. „Nicht heute. Nicht auf dem Potlach.“ *** Als glühender Feuerball versank die Sonne im Pazifik. Es schien, als hätte sie den Horizont in Flammen gesetzt. Die Gäste des Potlachs unterbrachen ihre Gespräche, ihre Spiele, das Essen und das Verteilen von Geschenken für einige Augenblicke, um dem Schauspiel Respekt zu zollen. Die Makah dankten dem Schöpfer für den Reichtum des Meeres. Sie selbst nannten sich Kwih-dich-chuh-ahtx, Leute, die bei den Felsen und Seemöwen leben. Nachbarstämme hatten ihnen den Namen Makah gegeben, was so viel bedeutete wie: Die großzügig Nahrung vergeben. Dieser Name war ihnen erhalten geblieben. Aus dem einfachen Grund, weil er für die weißen Bundesbeamten leichter auszusprechen war. 196
Überall brannten kleine Feuer, um die sich Menschen versammelt hatten, die erzählten, spielten und miteinander lachten. Hanna konnte nur schwer schätzen, wie viele Indianer an diesem Abend den Strand bevölkerten. Greg meinte, es müßten mindestens hundert sein, wenn nicht mehr. Einige von ihnen waren Gäste aus Ozette, La Push und anderen Nachbarreservationen. Shobid Ides war ein angesehener und reicher Mann. Er konnte es sich leisten, hundert Menschen zu beköstigen und ihnen Geschenke zu machen. Der Geburtstag seiner ältesten Tochter war ihm das wert. Dennoch würde er nicht bekommen, was er von diesem Abend erhofft hatte. Greg Colfax war zwar da, aber er war mit einer weißen Frau an seiner Seite erschienen. Das war beinahe eine Beleidigung. Aber Shobid Ides mußte Herr der Situation bleiben. Er hoffte, daß seine Tochter Annie nicht so sehr gekränkt war, daß sie von ihm Rache verlangte. Für Rache war er zu alt. Er wollte nur seine Töchter in guten Händen wissen und Freude an den Enkelkindern haben. Annie sollte es nicht so gehen wie Flora, der Schwester seiner Frau, die nie einen Mann gehabt hatte und deshalb immer seltsamer geworden war mit den Jahren. Flora war schön. Es gab Fotos aus ihrer Jugend, auf denen sie Annie auf verblüffende Weise glich. Aber jetzt hatte Flora die Vierzig bereits überschritten und wurde immer wunderlicher. Shobid wollte Annie dieses Schicksal ersparen. Deshalb das Fest. Er betrachtete seine Tochter und fand sie wunderschön. Es war ihm ein Rätsel, warum Greg Colfax sie nicht haben wollte. Greg führte Hanna durch die Menschengruppen. Er ließ ihr Zeit, diese Darbietung der Vergangenheit in sich aufzunehmen. Nachdenklich registrierte er ihr Befremden und gleichzeitig die Faszination, die sich in ihrem Gesicht wiederspiegelte. „Was spielen sie da?“ fragte Hanna, nachdem sie den Män197
nern und Frauen eine Weile dabei zugesehen hatte, wie sie geschickt mit zwei Stöcken hantierten. Der Effekt war johlendes Geschrei, Trommelwirbel und Gelächter unter den Beobachtern. „Es nennt sich: Slahal, Knochenspiel“, antwortete Greg. „Knochenspiel?“ wiederholte sie ungläubig. „Ja. Die beiden Stäbe, die du siehst, sind Knochen. Einer davon hat eine Markierung. Vor den Augen der anderen werden sie so geschickt ausgetauscht, daß niemand mehr weiß, in welcher Hand der markierte Knochen ist. Die gegnerische Mannschaft muß es erraten.“ Hanna wunderte sich, wie man an einer so einfachen Sache derart viel Spaß finden konnte. Aber die Makah spielten Slahal mit Begeisterung, solange das schwindende Tageslicht es ihnen erlaubte. Die Zuschauer begleiteten das Spiel mit Liedern in der Sprache der Makah. Hanna war erstaunt, wie viele der Anwesenden die alte Sprache beherrschten. Die beiden schlenderten an verschiedenen Grüppchen vorbei. Greg spürte, wie die Blicke der Anwesenden auf ihm und Hanna ruhten, obwohl die Dunkelheit sich inzwischen wie eine schützende Decke über den Strand gelegt hatte. Der Rauch von Feuern zog über den Strand und von allen Seiten duftete es nach köstlichen Speisen: geröstetem Fleisch oder Fisch, gebackenen Kartoffeln, Muscheln, frischem Brot und süßen Nachspeisen. Hanna kostete von allem, was Greg ihr brachte. Manchmal, so schien es ihr, war es von Vorteil, daß sie nicht mehr sehen konnte, was er ihr da in den Mund schob. Aber alles schmeckte hervorragend. Eine Menge Leute mußten an der Vorbereitung des Festes beteiligt gewesen sein. Um ein kleines Feuer herum saßen einige Kinder und Ältere, die den Geschichten einer alten Frau lauschten, die Selma Irving hieß. Sie erzählte von der kanadischen Mis198
sionarin Helen Clark, einer jungen Frau, die 1898 nach Neah Bay kam und 25 Jahre hier blieb. Selma erzählte, daß Miss Clark lange Kleider und immer einen Hut trug. Eines Tages sagte die Missionarin zu einer Gruppe von älteren Makah: „Ihr Indianer solltet endlich eure Masken verschwinden lassen, und ihr solltet eure Federn verschwinden lassen.“ Aber Helen Clark pflegte immer selbst eine Pfauenfeder auf ihrem Hut zu tragen. Und Wash Irving – Selmas Großvater – ein Mann, der immer sagte, was er dachte, meinte: „Liebe Miss Clark, sobald Sie Ihre Federn verschwinden lassen, werde ich auch meine verschwinden lassen.“ Miss Clark lachte herzlich darüber. Hanna lachte auch. Greg kannte die Geschichte natürlich schon. Er schob Hanna weiter und sagte: „Miss Clark ließ die Presbyterianerkirche in Neah Bay bauen. Ihre Abhandlungen über die reformierte Kirche wurden sogar in unsere Sprache übersetzt. Übrigens“, er wandte sich ihr zu, „sie war nicht nur humorvoll, sondern auch sehr schön. Ich habe mal ein Foto von ihr gesehen. Du siehst ihr sehr ähnlich.“ Hanna ignorierte sein unterschwelliges Kompliment. „Gehen viele von euch in die Kirche?“ fragte sie ihn. „Ja“, erwiderte er. „Die eifrigen Missionare und die strikten Verbote der US Regierung, unsere eigene Religion auszuüben, haben natürlich Spuren hinterlassen. Ein großer Teil der Makah geht brav in die Kirche. Was sie allerdings nicht daran hindert, sich ihre indianische Spiritualität zu bewahren und den eigenen Schöpfer zu verehren.“ Sein Tonfall wurde ernst: „Es ist schon bitter, wenn man sich überlegt, daß jene Menschen, die unserem Volk fast bis zur Zerstörung zugesetzt haben, dieselben waren, deren Vorfahren Europa auf Grund religiöser Verfolgung verlassen hatten.“ Hanna entgegnete: „Es ist ein Fehler, wenn wir uns von den Menschen Vernunft erhoffen. Die wenigsten sind vernünftig oder tolerant. Die meisten von uns wollen anderen ihre Überzeugung aufdrängen. So ist der Mensch nun mal.“ 199
„Die weißen Missionare“, fuhr Greg fort, „und später die weißen Lehrer, wollten uns eintrichtern, daß unsere Traditionen schlecht waren und rückständig. Das grobe Motto lautete: Tötet den Indianer, aber rettet den Menschen.“ Greg schüttelte den Kopf. „Trotzdem haben wir überlebt. Und unsere Traditionen auch.“ Hanna schwieg. Sie war mittendrin in seiner Wahrheit. Der Strand war bevölkert. Von einem Volk, das sein Gedächtnis mit den Füßen in den Sand zeichnet, dachte sie. Und trotz stetigem Wechsel von Ebbe und Flut hatte das Gedächtnis überlebt. Irgendwann stand ihnen Sheriff Bill Lighthouse gegenüber. Hanna hätte ihn im Dunkeln und ohne seine Uniform beinahe nicht erkannt. Er nahm ihre Hand, legte seine Rechte, die zur Faust geballt war, darauf, und schloß Hannas Finger um etwas Hartes, das sich angenehm glatt anfühlte. Danach war er verschwunden. Als sie sich in der Nähe des größten Feuers auf einem Baumstamm niedergelassen hatten, besah sich Hanna Bills Geschenk. Es war ein kleiner Kamm aus poliertem Holz, der mit Muscheleinlegearbeiten und einem seltsamen Vogel verziert war. „Er ist wunderschön“, sagte sie gerührt. „Und vor allem ist er sehr alt“, sagte Greg. Er nahm ihr den Kamm aus der Hand und drehte ihn kundig zwischen den Fingern. „Bills Vater hat damals in Ozette mit gegraben und ihn häufig mitgenommen. Vielleicht stammt der Kamm von dort.“ Greg sagte das mit einem seltsamen Ausdruck in der Stimme, der auch Hanna nicht entging. Er ärgerte sich, daß er nicht selbst auf die Idee gekommen war, Hanna etwas zu schenken. Sie nahm den Kamm zurück. „Wenn das so ist, kann ich das Geschenk nicht annehmen“, erwiderte sie entschieden. „Der Kamm ist gestohlenes Gut und gehört ins Museum.“ 200
Greg lachte auf. „Erzähl nicht solchen Unsinn. Ist nicht alles auf der Welt gestohlenes Gut? In den Artefaktenregalen des Museums liegen viele solcher Kämme. Außerdem hat Bill ihn dir geschenkt, um dir seine Wertschätzung zu zeigen. Er wäre tödlich beleidigt, wenn du sein Geschenk nicht annehmen würdest. Ganz gewiß ist es auch nicht das wertvollste Stück, das heute abend seinen Besitzer wechselt. Nur, daß kaum jemand etwas davon erfahren wird, außer dem Gebenden und dem Beschenkten selbst. Mach dir also keine Gedanken.“ „Du meinst, sie verschenken richtig wertvolle Dinge?“ meinte Hanna, und fragte sich, was Bill Lighthouse wohl für Tomita Ides hatte, für die Frau, die er liebte. „Ja. Der eigentliche Sinn eines Potlachs war die Mehrung des Ansehens einzelner, hochgestellter Personen. Diese Feste dienten dazu, den Gegner reich zu beschenken und ihn damit zu beschämen. Wirklichen Wert besaß nur der dadurch erreichte höhere soziale Status.“ „Und das hat tatsächlich funktioniert?“ fragte Hanna. „Eine sehr lange Zeit schon. Man sagte: ‚Wir kämpfen nicht mit Waffen, wir kämpfen mit Besitz.‘ Aber dann nahm die Sache Ausmaße an, die unserem Glauben widersprachen. Es wurde nicht mehr nur uferlos verschenkt, sondern auch zerstört. Mit der Zerstörung von Besitz konnte man seinen Reichtum am besten zur Schau stellen. Mühsam hergestellte Boote wurden zertrümmert und verbrannt. Man kippte wertvolles Öl ins Feuer, zerriß Kleider und tötete Sklaven.“ Ein eisiger Schauer rann Hanna über den Rücken, während sie Gregs Ausführungen lauschte. Einmal mehr wurde ihr klar, wie fremd, wie unleugbar anders diese Menschen waren. Die Kluft war kein Schein, sie war da und sie war tief. Was Greg ihr erzählte, gehörte schon lange der Vergangenheit an. Aber in dieser Nacht, während sich Tänzer in wilden Kostümen und furcherregenden Masken um das größte Feuer am Strand scharten, fragte sie sich, wieviel an 201
Traditionen aus vergangenen Zeiten noch in diesen Menschen lebendig war. Und was sie bereit waren zu tun, um diese Traditionen lebendig zu halten. „Deine Vorfahren töteten ihre Sklaven, nur um zu beweisen, wie wohlhabend sie waren?“ „Ja. Einen Sklaven freizulassen brachte einiges an Ruhm. Ihn zu töten aber noch mehr.“ „Und was passierte?“ fragte sie aufgebracht. „Wer sagte: Halt! Werdet vernünftig! – Die bösen Missionare vielleicht?“ Er ignorierte den scharfen Ton in ihrer Stimme, und sagte: „Du hast recht. Von 1884 bis 1951 waren Potlache von der Regierung verboten. Sämtliche Tanzmasken und rituellen Utensilien wurden beschlagnahmt. Die Missionare zeigten sich entsetzt über solcherart Feierlichkeiten und meinten, sie würden der Christianisierung unseres Volkes nur hinderlich sein.“ „Aber jetzt dürfen sie wieder stattfinden“, stellte Hanna fest. „Ja. In harmloser Form. Es wird nichts zerstört, niemand wird getötet, auch nicht heimlich.“ Er lachte über ihr entsetztes Gesicht. „Aber dahin wären wir auch ohne das Verbot der Regierung gekommen. Nach unserem Glauben verläßt nämlich denjenigen das Glück, der den Bogen überspannt.“ „Wie tröstlich“, meinte Hanna, und zog fröstelnd ihre Jacke vor der Brust zusammen. Die Trommeln, bisher nur verhalten angeschlagen, wurden lauter. Mit ihnen schwoll auch ein Gesang an, der so feierlich war, daß sich ungewollte Ehrfurcht wie ein eiserner Ring um Hannas Brust legte. Die Makah begannen zu den dumpfen Schlägen der Trommeln und dem Geklapper der Rasseln zu tanzen. Im rötlichen Schein des Feuers drehten sie ihre maskierten Köpfe, was sie wie Geister erscheinen ließ. Einige Masken hatten bewegliche Teile, so daß sie dadurch noch lebendiger und furchterregender wirkten. 202
An den unterschiedlichen Tanzgewändern baumelten Knochenstücke, Hornteile oder Muscheln, die bei jeder Bewegung der Tänzer aneinanderschlugen und den seltsam drängenden Rhythmus noch untermalten. Drei Männer befanden sich unter den Tänzern, deren Wünsche so stark waren, daß sie die der anderen durcheinanderbrachten. Da tanzte der große Oren Hunter schwerfällig unter dem Fell eines Bären, auf dem Kopf die geschnitze Maske eines Bären: große, schwarze Augen und eine bewegliche Schnauze. Hunter tanzte und bat darum, daß sein Zeh aufhörte zu kribbeln, daß die Stimmen der Geister in seinem Kopf verstummen mögen, und der Schöpfer ihm den richtigen Weg wies. Er war ein Makah, aber er verkörperte auch das Gesetz. Irgendwie mußten sich diese beiden Dinge doch unter einen Hut bingen lassen. Ein weiterer Tänzer war der junge Sheriff. Seine Maske stellte einen Sperber dar. Ein kurzer, nach unten gebogener Schnabel, rote Augen, und auf dem Kopf weiße Federn. Bill Lighthouse tanzte für seinen Freund Dan Hadlock, der im Hospital von Port Angeles im Koma dahindämmerte. Er wußte, daß Hadlocks Seele von Makah Geistern gefangenhalten wurde. Und er fühlte sich schuldig. Er hätte Dan solche Dinge nicht erzählen dürfen. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, welche Macht die unsichtbaren Gestalten über die Menschen hatten. Und Matthew Colfax tanzte zwischen den anderen, Greg hatte ihn sofort an seinem alten, kostbaren Tanzumhang aus Tierhaut erkannt, der kunstvoll mit schwarzen stilisierten Tiermotiven bemalt war. Auf dem Kopf trug er die Wolfsmaske mit den Abalonezähnen, an der er bis gestern gearbeitet hatte. Das lange schwarze Haar tanzte auf seinem breiten Rücken. Matthew Colfax betete zornig: Sein Sohn möge zur Vernunft kommen, und endlich Annie Ides heiraten. Die 203
weiße Frau mußte aus Gregs Leben verschwinden – ihre Anwesenheit würde ihnen allen Unglück bringen. Seine Beine stapften mit einer Kraft auf den feuchten Sandboden, die sein Alter Lügen strafte. Er tanzte wie ein Besessener, denn es gab mehr als eine Art, den Feind zu bekämpfen. Tanzen bedeutete Macht. Wenn er wollte, konnte er diese Macht in etwas Unheimliches verwandeln, in etwas Düsteres, Böses. In einem Taumel der Zeit geriet er zurück in seine Kindheit. Erinnerungen, die sonst im Gefängnis der Verbitterung eingeschlossen waren, brachen jetzt an die Oberfläche seines Bewußtseins. Einmal, vor sehr langer Zeit, war er ein ganz normaler Junge gewesen. Sanft und fröhlich und voller lustiger Ideen. Er hatte eine Mutter und einen Vater gehabt, die ihn liebten, und ihm Geborgenheit schenkten. Aber dann, nach dem Tod seiner Eltern, aus der Sicherheit der Stammesgemeinschaft gerissen, war das Leben zur Hölle geworden. Und er hatte gelernt, dem Teufel ein ebenbürtiger Gegner zu sein. Er verachtete alle Weißen, auch jene, die sich ihm gegenüber fair verhielten und ihn bewunderten. Zu sehen, wie sie den Kontinent mit argloser Selbstverständlichkeit bevölkerten, schürte nur seinen Haß. Einmal hatte er im Alkoholrausch einen jungen Mann so sehr verprügelt, daß dieser beinahe daran gestorben war. Dafür kam er ins Gefängnis. Danach war er in die Stammesgemeinschaft zurückgekehrt und hatte sich seinen gesellschaftlichen Rang – der ihm eigentlich durch Vererbung zustand – zurückerobert. Dazu gehörte das Privileg, Totempfähle zu schnitzen, sein Haus dort am Strand zu erbauen, vor der Küste zu fischen und während eines Tanzes diese Wolfsmaske zu tragen. Dazu gehörten die Namen seiner Vorfahren, die er dutzende Generationen zurück aufsagen konnte. Lieder, die nur er noch kannte, und jetzt sein Sohn Greg. Aber niemals konnte er vergessen, was ihm in der Welt der 204
Weißen widerfahren war: Die Erniedrigungen, die Verachtung, die Gleichgültigkeit. Matthew Colfax tanzte, bis der Schweiß ihm in Bächen über den Körper rann. Er fühlte sich stark. Und er sah eine Zukunft. Deshalb betete er auch noch für etwas anderes. Für eine Frau, schön und wissend, die ihm einen weiteren Sohn schenken sollte. Einen Sohn, den er nach seinem Bild formen konnte. Einen Jungen, der Pfahlschnitzer werden sollte. *** Annie hatte Greg und Hanna längst in der Menge entdeckt und eine Weile beobachtet. Und mit einem Mal wußte sie, daß Greg Colfax sie nicht heiraten würde. Auch dann nicht, wenn die Geister des Meeres die blonde Frau an seiner Seite persönlich auf den Grund ziehen würden. Sie würde den jungen Pfahlschnitzer nicht bekommen. Genausowenig, wie sie Jim Claplanhoo bekommen hatte. Ein Schmerz durchzog ihre Brust, angesichts des doppelten Verlustes ihrer Liebe. Denn sie liebte Greg Colfax tatsächlich, beinahe ebenso stark, wie sie Jim geliebt hatte. Jim Claplanhoo hatte ihren Körper besessen und ihre Seele. Wortlos hatte er beides in Besitz genommen, als sie siebzehn Jahre alt gewesen war. Nie hatte irgendjemand aus Neah Bay etwas davon bemerkt. Sie hatte ihm viel gegeben und er hatte alles genommen. Dann war er fortgegangen, um unter fremdem Himmel mit einer fremden Frau zu leben. Und in Annies Brust erstarrte alles zu Eis, ihr Gesicht wurde zu einer schönen Maske, bar jeder Natürlichkeit. Bis Greg Colfax aus der Stadt nach Neah Bay zurückkehrte. Sie war sich sicher, daß er der einzige Mann war, der das Eis in ihrem Inneren hätte schmelzen können. Sie war schon so nah am Ziel. Doch dann tauchte diese andere Frau wieder auf, die ihr schon Jim weggenommen, und nun auch Greg um den Verstand gebracht hatte. 205
Annie haßte Hanna so sehr, daß sie den Wunsch verspürte, sie zu töten. Aber der Versuch mit dem losen Balken war nur halbherzig gewesen. Jemanden zu hassen und ihm den Tod zu wünschen, oder ihm das Leben mit eigener Hand zu nehmen, war nicht dasselbe. Erst recht nicht, seit sie auf etwas gestoßen war, von dem sie bisher keine Ahnung gehabt hatte. Also würde Greg Colfax die weiße Frau bekommen. Und sie konnte nichts dagegen tun. *** Der Klang der Trommeln wurde laut, der Rhythmus mächtig. Das Klappern der Rasseln war betäubend. Mit wilden Schreien schleuderten die Tänzer die Nacht aus ihren Kehlen. Im Schein des Feuers tanzten die Roben aus Leder oder Zedernfaser ihren eigenen Tanz. Die bemalten Masken mit ihren langen Haaren und Federn verwandelten sich in lebendige Ungeheuer. Die Menge feuerte die Tänzer durch Klatschen und Gesang an. Und Hanna fand ihre Frage beantwortet: Die vergangenen Zeiten lebten in diesen Menschen fort. Im Augenblick unterschied sich das Geschehen kaum von einer Zeremonie, die hier auch vor hundert Jahren stattgefunden haben könnte. Nur eben, daß niemand getötet wurde, wie Greg ihr versichert hatte. Die Menschen, die sich hinter ihr und neben ihr drängten, erschienen ihr fremder als je zuvor. Um so rätselhafter war ihr auch die Tatsache, daß sie ein halbes Jahr mit einem von ihnen zusammengelebt hatte, ohne daß ihr dieser Teil seines Ichs bewußt geworden wäre. Wer war Jim Claplanhoo wirklich? Der Mann, dessen Tochter sie geboren hatte, und der seine Gene an dieses Kind weitergegeben hatte. Ola. Schwarzäugig, wißbegierig und fröhlich. Was war in ihrem Inneren verborgen, von dem sie noch nichts wußte? 206
„Was ist?“ fragte Greg, dem Hannas verstörter Blick nicht entgangen war. „Ich dachte an meine Tochter.“ Erst begriff er nicht. „Sie fehlt dir?“ Hanna nickte stumm. Aber dann wurde ihm klar, warum ihr Körper an seinem so steif war und er dennoch in ihrem Inneren ein Zittern spüren konnte. Sie hatte Angst. Diese fremde Welt versetzte sie in Panik. „Komm!“ sagte er und berührte sie behutsam, „laß uns gehen. Es ist schon spät, und das Fest ist gleich zuende. Nicht mehr lange, und die Flut überspült den Strand.“ Sie verließen das Fest und passierten die Treibholzbarriere. Auf dem Weg zum Wagen stellte sich ihnen jemand in den Weg. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannten sie das Gesicht. Es war Annie Ides. „Annie!“ sagte Greg überrascht. Hanna wich erschrocken einen Schritt zurück. „Keine Angst!“ meinte Annie, „ich bin kein Geist.“ Als sie ihre Hand nach Hanna ausstreckte, stellte sich Greg schützend vor sie. Annie lächelte kopfschüttelnd. „Ich will ihr nichts tun. Ich möchte ihr nur etwas geben.“ Sie reichte Hanna ein schweres Taschenmesser mit einem schönen Perlmuttgriff. Zögernd griff Hanna nach dem Messer. Die Nacht war dunkel, aber sie erkannte es sofort wieder. Unter hundert anderen hätte sie es wiedererkannt. Für einen Augenblick stockte ihr der Atem. Es war Jims Messer. Sie selbst hatte es ihm geschenkt. In den Perlmuttgriff waren seine Initialen eingraviert. Ihr fragender Blick richtete sich auf Annie. „Ich habe es im Wald gefunden“, sagte die Indianerin. Sie senkte den Kopf: „Schon vor einer Weile.“ Ihre Stimme wurde weich, als sie sagte: „Ich denke, Sie sollten es haben.“ „Danke“, sagte Hanna, die mühsam ihre Sprache wiederge207
funden hatte. „Ich habe Jim dieses Messer in Deutschland geschenkt. Jetzt ist sicher, daß er nach Neah Bay zurückgekehrt ist.“ Sie suchte nach Gregs Augen. „Er war hier, Greg. Aber wo ist er jetzt?“ Annie schluckte und fragte mit belegter Stimme: „Sie und Jim haben eine Tochter?“ „Ja“, meinte Hanna. „Ihr Name ist Ola. Jim weiß noch nicht, daß sie existiert.“ „Dann wünsche ich Ihnen, daß Sie Jim finden, um seiner Tochter willen.“ Annie warf Greg einen traurigen Blick zu, dann verschwand sie im Dunkel des Waldes. Hanna gab ein ersticktes Schluchzen von sich und brach in Tränen aus. Greg nahm sie in die Arme. Vorsichtig, damit sie sich nicht bedrängt fühlte. Aber sie umklammerte ihn, als müßte er ihr erneut das Leben retten. Der warme Strom aus ihren Augen lief über seinen Hals und der Geruch ihrer Tränen mischte sich mit der salzigen Brise, die vom Meer herüberwehte. Die Flut stieg. *** Sheriff Bill Lighthouse war hellwach, als er in dieser Nacht nach dem Potlach in seinen Wagen stieg, um nach Hause zu fahren. Aufgeputscht durch den langen, wilden Tanz vibrierten seine Glieder. Die Trommeln und der Gesang dröhnten noch in seinem Kopf. Er war zuversichtlich, was die Genesung seines Freundes Dan betraf. Schon während des Tanzes hatte er das gute Gefühl gehabt, eine Verbindung zu dem bewußtlosen Ranger hergestellt zu haben. Morgen würde er Dan in Port Angeles besuchen und ihm den Pfahl bringen. Leise murmelte er die Worte eines Liedes in der MakahSprache vor sich hin, das er auf dem Potlach gehört hatte. Plötzlich riß er das Steuer herum und trat hart auf die Bremsen. Der Polizeiwagen schleuderte und kam zum Ste208
hen. Erleichtert atmete Lighthouse auf. Zum Glück war er nicht schnell gefahren – und er war angegurtet. Er war auch nicht betrunken, was vielleicht die Gestalt erklärt hätte, die er im Scheinwerferlicht auf der Straße gesehen hatte. Nackte Beine und Brüste. Langes, wirres Haar. Er hatte Tsonoqa, die Wilde Frau aus dem Walde gesehen. Nur mit einem Zedernbastrock bekleidet. Lighthouse lachte kopfschüttelnd. Jetzt wurde er wirklich verrückt. Vielleicht lag es daran, daß er getanzt hatte. Die alten Tänze wirkten wie eine Droge. Sie konnten einen in einen Rauschzustand versetzen. Für eine Weile sah man dann die Welt in einer anderen Dimension. Man konnte Dinge sehen, die nicht waren. Bis die Ernüchterung einsetzte. Sheriff Lighthouse war stocknüchtern. Immer wieder hatte er Leute von der Wilden Frau reden hören. Mehr als einmal war sie im Wald und am Strand gesehen worden. Ein lebendig gewordenes Fabelwesen. Ein indianischer Yeti. Jeder, der behauptete, sie gesehen zu haben, endete seinen Bericht mit einem Augenzwinkern, um von den anderen nicht für verrückt gehalten zu werden. Aber sie war dagewesen. Er hatte sie gesehen und er war hellwach. Bill gab Gas, schlug die Räder scharf ein, und brachte den Wagen wieder in Fahrtrichtung. Er stellte ihn am Straßenrand ab und löste den Gurt. Im Scheinwerferlicht suchte er nach Spuren. Aber nackte Füße hinterließen bekanntlich keine Spuren auf Asphalt. Ein anderes Fahrzeug näherte sich hinter ihm und hielt an. Es war ein junger Mann aus dem Ort mit seiner Familie. Er beugte sich aus dem offenen Fenster. „Hallo Sheriff! Was verloren?“ Lighthouse winkte ab. „Nein, alles in Ordnung. Mir ist nur ein Reh über den Weg gelaufen.“ Der Kopf des jungen Mannes verschwand wieder und der Wagen fuhr an Bill vorbei. Noch einmal starrte er auf das Gebüsch, in dem die Gestalt verschwunden war. Dann stieg er zurück in seinen 209
Jeep und fuhr nach Hause. Was er gesehen hatte, ließ ihn die ganze Nacht nicht los. *** Der Totempfahl warf einen langen Nachtschatten auf die Bretter der Veranda. Greg stand hinter Hanna und hatte die Arme um ihre Hüften gelegt. Die Köpfe im Nacken suchten sie den Himmel nach Antworten ab. Er war in Bewegung. Sterne, ungeordnet und wild, pulsierten durch die schwarze Nacht. „Unter tausenden gibt es einen Stern, der uns beschützt“, flüsterte er in ihr Haar, das weich sein Gesicht berührte. „Wird er es auch ein drittes Mal tun?“ fragte sie. „Er ist immer da, auch dann, wenn du ihn nicht siehst.“ Hanna schmiegte sich in die Sicherheit seines Körpers, spürte seine Wärme und sein Begehren. Sie dachte, daß sie nach diesen wenigen Tagen sehr viel mehr über Greg Colfax wußte, als sie in einem halben Jahr über Jim herausgefunden hatte. Als sie sich umdrehte, und er sich herunterbeugte, um ihr Gesicht in seine Hände zu nehmen und es mit Küssen zu bedecken, schmeckte er ihre Tränen auf seinen Lippen. Sein Haar streifte ihre Wange wie ein dunkler Wind, der nach Zedernholz duftete. Als Hanna den Mund öffnete, um etwas zu sagen, legte er ihr sanft seine Fingerkuppen auf die Lippen. Er zog sie ins Haus, und in der Dunkelheit streiften sie ihre Kleider ab. Er hob sie auf das Bett, das von einem Streifen Mondlicht beschienen war. Sie war leicht und anschmiegsam. Er legte eine Hand auf ihren Rücken und spreizte die Finger. Mit einem Kuß drückte er sie sanft nach unten. Unter der Berührung seiner Hände und Lippen wurden ihre Brustwarzen hart. Seine langen, kraftvollen Hände glitten über ihren Körper, und es war, als würde sie ihm ein wohlgehütetes Geheimnis anvertrauen. 210
Greg schloß die Augen und versuchte zu begreifen, was geschah: Er war im Begriff sich einer Frau preiszugeben, deren Ursprung so weit entfernt war, daß sie genausogut von einem anderen Stern stammen konnte. Das würde zumindest die Farbe ihrer Haare und ihrer Augen erklären. Seine Lippen näherten sich ihrem Nabel, der länglich war, gefüllt mit weichen Schatten in der Tiefe. Ihre Haut fühlte sich so glatt und samtig an. Sie duftete nach Holzfeuer und Meer. Alles an ihr schien zart und zerbrechlich – aber das war es nicht. Er dachte nicht mehr daran, daß sie weiß war. Für ihn war sie das, wonach er sich gesehnt hatte: warm und biegsam, ihre Schultern unerwartet weich. Greg fühlte ihre Träume, ihre Ängste und – ihr Begehren. Ein Schaudern, als seine Finger ihren Schoß ertasteten. Das Zurückströmen einer Hoffnung. Er überließ sich diesem wunderbaren Gefühl. Mit den Fingerkuppen strich Hanna über sein Schlüsselbein und seine Schultern. Gregs Haut spannte und glühte vor Verlangen. Sie dachte: Dies hier passiert mir nicht einfach, ich habe es mir ausgesucht. Dieser Mann hat die seltsame Gabe, Erinnerungen zu wecken und andere auszulöschen. Schließlich ertrug sie es nicht länger und umschlang ihn gierig. Sie krümmte sich, um ihn tiefer in sich aufzunehmen. Der Druck ihrer Hände, Knie und Hüften war sanft und fordernd zugleich. Auf und ab – wie Ebbe und Flut. Erinnerungen kamen und trieben wieder davon. Ihr Atem flog. Sie spürte das Erwachen von etwas Neuem, das im Verborgenen darauf gewartet hatte, erweckt zu werden. In einem lautlosen Schrei drang es an die Oberfläche ihres Bewußtseins. Nach einer Weile stummen Verharrens lösten sie ihre feuchten Körper voneinander. Hanna stützte ihren Kopf in die Linke und strich ihm lächelnd die langen Haare aus der 211
Stirn. „Du bist wie das Meer“, sagte sie. „Du hast mich aufgefangen.“ Seine Hand umschloß zärtlich ihre Brust und er hob den Kopf, um sie zu küssen. Im Zelt seiner dunklen Haare schloß sie endlich die Augen. Ein kühler Luftzug strich über ihre Glieder, auf denen sich glitzernde Schweißtröpchen gebildet hatten. Greg langte nach der Decke, die halb vom Bett geglitten war, und breitete sie über sie beide.
212
9. Kapitel Im Morgengrauen, eine Stunde vor Sonnenaufgang, verließ Hanna das Strandhaus in Richtung Port Angeles. Greg schlief noch fest, als sie ging, zumindest glaubte sie das. In der vergangenen Nacht war er ihr so nahe gekommen, daß sie das Gefühl hatte, fliehen zu müssen, wenn sie ohne Schaden davonkommen wollte. Wäre sie an seiner Seite geblieben, um unter seinen zärtlichen, rauhen Händen aufzuwachen, dann hätte sie ihre Suche nach Jim nicht fortsetzen können. Beinahe war es zu spät gewesen. Also hatte sie ein paar Sachen zusammengeklaubt und sich in der Frühe allein auf den Weg nach Vancouver Island gemacht. Sie wollte – sie mußte es auch ohne Greg schaffen. Vielleicht war es besser, Jim allein gegenüberzutreten. Vielleicht hatte Jim all die Jahre nur darauf gewartet, daß sie endlich nach ihm suchte. Der Zwiespalt, in dem sie sich nun befand, machte sie noch einsamer, als sie es zuvor gewesen war. Aber sie hatte nicht die Kraft, ihre wachsende Liebe zu Greg einfach abzuwürgen. Wie sollte sie krampfhaft auf etwas verzichten, wonach sie sich so sehr sehnte? Manchmal gab es Zeiten, da richtete man sein Handeln gegen das Leben und gegen sich selbst. Sie mußte aufhören damit. Wenn sie Jim erst gefunden hatte, mußte sie aufhören damit. Die Sonne war aufgegangen und hatte sich hinter den grauen Wolken hervorgekämpft, als Hanna den kleinen Ort Joyce erreichte. Zu ihrer Rechten tauchten in der Ferne die Olympic Mountains mit ihren schneebedeckten Berggipfeln aus dem Dunst. Der Anblick war überwältigend. Obwohl Hanna diese Strecke schon einige Male gefahren war, hatte sie noch nie die Berge zu sehen bekommmen. Immer waren sie hinter dichten Regenwolken verborgen geblieben. Erst 213
jetzt glaubte sie, daß sie wirklich da waren, die Olympic Mountains. Einen Augenblick dachte sie daran, daß es ein Fehler gewesen sein könnte, einfach zu verschwinden. Gregs Vertrauen war ihr sehr wichtig, und trotzdem hatte sie ihn enttäuscht. In Panik war sie davongelaufen – vor seiner Nähe und vor den wilden Wünschen, die hinter seiner Zurückhaltung lauerten. Nur fort, so weit wie möglich, dachte sie. Wenn sie Jim dann erst gefunden hatte, würde sowieso alles wieder durcheinandergeraten. Port Angeles wirkte wie ausgestorben, bis auf den Hafen. Als Hanna dort ankam, war die Fähre, die gerade am Pier ablegen wollte, bis auf den letzten Platz besetzt. Die nächste beförderte nur Passagiere aber keine Fahrzeuge. Erst am Nachmittag ergatterte sie endlich einen Platz auf der Coho Ferry nach Victoria auf Vancouver Island. Es war sehr warm geworden. Der Himmel war wolkenlos und das Wasser ein funkelnder, dunkler Teppich. Die meisten Passagiere standen an der Reeling und hofften, einen Blick auf eine Gruppe von Walen werfen zu können, die sich seit einigen Tagen in diesen Gewässern aufhielten. Die Überfahrt dauerte etwa eine Stunde, so stand es auf dem Ticket. Nachdem Hanna vom kanadischen Zoll überprüft worden war und ihren Stempel im Paß hatte, setzte sie sich in das kleine Restaurant unter Deck, um etwas zu essen. Sie war müde. Nach nur vier Stunden Schlaf hatte das Warten auf die Fähre an ihren Nerven gezerrt. Sie hatte sich schon damit abgefunden, eine Nacht in dem wenig attraktiven Port Angeles verbringen zu müssen. Jetzt freute sie sich auf ihren Kaffee und hoffte, daß er ihre Lebensgeister wecken würde. Als jemand fragte, ob noch ein Platz an ihrem Tisch frei 214
sei, nickte sie ohne aufzusehen. Als sie schließlich den Kopf hob, saß ihr Greg gegenüber. Er trug ein weißes T-Shirt und eine schwarze Lederweste mit zwei stilisierten roten Lachsen aus Stoff, die aufgenäht waren. Er sah sie nur an und sagte nichts. Der Blick, mit dem er sie fixierte, war bar jeder Arroganz oder Überlegenheit. Ihr Inneres geriet in Aufruhr. „Es tut mir leid“, brachte sie schließlich hervor. Er schüttelte den Kopf. „Entschuldige dich nicht. Dafür gibt es keinen Grund. Schließlich bist du nur nach Neah Bay gekommen, weil du Jim finden willst.“ Er senkte den Kopf. „Ich war ein Narr, als ich glaubte, ich könnte dich auf irgendeine Weise davon abbringen.“ Was wollte er damit sagen? Die vergangene Nacht, seine Hände, – war alles nur Mittel zum Zweck gewesen? Sie wollte das nicht glauben. „Alles ist neu für mich“, sagte sie, „ich brauche Zeit zum Nachdenken.“ „Ich weiß. Aber du hast auch Angst, und das gefällt mir nicht“, meinte er. „Du hast Angst vor Annie, vor meinem Vater, vor meinem Volk und vor mir.“ „Ist das nicht verständlich?“ Greg schüttelte den Kopf. „Es ist nicht gut, wenn du Angst hast. Zu Anfang hattest du keine. Deshalb konnte dir auch nichts passieren.“ Sie sah ihn merkwürdig an. „Ich weiß jetzt mehr, vielleicht habe ich deshalb Angst.“ Ihre Augen verdunkelten sich. „Nein“, sagte er. „Angst hat man vor Dingen, die man nicht versteht. Aber wir können nicht zusammen sein, wenn du mich und die Dinge um mich herum nicht verstehen kannst. Gestern abend, da hattest du Angst, daß deine Tochter zuviel von diesem fremden Blut in sich haben könnte. Makah Blut. Du hast überlegt, ob du ihr überhaupt von Jim erzählen sollst und ob du sie jemals nach Neah Bay bringen, oder es lieber bleiben lassen solltest.“ Seine Finger schlossen sich fest um ihr Handgelenk. „Das darfst du nicht, 215
Hanna! Deine Tochter ist zur Hälfte Indianerin und sie sieht aus wie eine Indianerin. Du darfst ihr diesen Teil ihrer Herkunft nicht vorenthalten. Wenn sie nur die Hälfte über sich weiß, kann sie kein ganzer Mensch werden.“ Hanna schwieg. Was Greg sagte, wußte sie selbst. Es war der Grund, warum sie hier war: Um Jim zu finden. Sie war hier, weil sie nichts von ihm wußte, was sie Ola hätte erzählen können. Sie fürchtete sich vor dem Augenblick, an dem ihre Tochter sie fragte: „Wer war er, mein Vater?“ – und sie ihr darauf keine Antwort geben konnte. „Warum bist du mir nachgefahren?“ fragte sie Greg. „Woher wußtest du, wo du mich finden würdest?“ Er lächelte. „Das war nicht sonderlich schwer. Und ich hatte Glück, daß die ersten beiden Fähren voll waren. In der Saison sind sie oft ausgebucht. Deshalb hatte ich für heute nachmittag zwei Plätze bestellt.“ Ungläubig sah sie ihn an. „Warum hast du mir das nicht gesagt?“ Er hob die Schultern. „Ich weiß auch nicht. Vermutlich wollte ich dir beibringen, daß man mit Gelassenheit auch ans Ziel kommt. Hier lernt man durch Finden, nicht durch Suchen.“ Er lachte in sich hinein. „Ich gebe es auf. Du hast gewonnen.“ Hannas Kaffee wurde gebracht und Greg bestellte sich eine Cola und ein Sandwich. Sie sah aus dem Fenster. „Ich wußte gar nicht, daß wir einen Wettbewerb austragen.“ „Weiße und Indianer tragen immer Wettkämpfe aus, egal, was sie gerade tun.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. Er war heiß aber dünn. „Ich will Jim finden, das ist alles. Wenn Ola mich nach ihm fragt, dann brauche ich ein paar Antworten.“ „Warum sagst du ihr nicht dasselbe, was du mir gesagt hast: Daß du ihn wolltest, und dir alles andere egal war.“ Mit Tränen in den Augen blickte sie aus dem Fenster: „Es war mir nicht egal, Greg. Ich dachte immer, wenn wir erst zusammen in Neah Bay lebten, würde ich es mit der Zeit 216
schon herausfinden. Ich hätte es jedenfalls versucht.“ Sie blickte ihm in die Augen, die so vieles zu sagen schienen, und zu viel zu wissen. Schließlich sagte er: „Wenn Jim dort drüben irgendwo ist, dann werden wir ihn finden, das verspreche ich dir.“ Seinen Traum, den er in der vergangenen Nacht gehabt hatte, und von dem er schließlich aufgewacht war, verschwieg er ihr. *** Sheriff Lighthouse wartete auf dem Krankenhausflur, bis Daniel Hadlocks Frau und seine beiden Töchter das Zimmer verließen. Erst dann schlich er sich hinein und setzte sich auf den Stuhl neben Dans Bett. Behutsam holte er den in weiche Lappen gewickelten Pfahl aus seiner Tasche und stellte ihn auf den Nachtschrank. Er lehnte sich zurück und betrachtete den bewußtlosen Ranger. Die Schnitte in seinem Gesicht waren nur noch schwarze Striche. Der Heilungsprozeß hatte bereits eingesetzt. Aber was war mit den Verletzungen seiner Seele? Dans Augen waren geschlossen. Lighthouse fragte sich, was sich dahinter abspielte. Er nahm vorsichtig die Hand des Rangers und sagte: „Dan, wach auf! Ich bin es, Billy. Das mit den Geistern, das war nur ein Scherz. Ich wollte dir ein bißchen Angst einjagen.“ Dans Gesicht blieb unverändert. „Hey Danny“, sagte Lighthouse verzweifelt, „tu mir das nicht an. Woher kriege ich denn jetzt meinen Kaffee, wenn ich nach Ozette komme? Und mit wem soll ich reden? Wach schon auf, ich weiß, daß du dich nur versteckst.“ Was war das? Hatte er eben einen leichten Fingerdruck verspürt? „Hier“, sagte er, und griff nach dem Miniaturpfahl. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Behutsam schloß er die Finger des jungen Rangers um den Pfahl. „Dieses Ding hat Macht, mein Freund. Es kann Geister fernhalten. Versuch es einfach. Mach die Augen auf. Alles was du sehen wirst, ist dein 217
alter Freund Billy Lighthouse.“ Dans Lider flatterten kurz, aber das war alles. Der Sheriff rieb sich das Gesicht mit beiden Händen, dann fuhr er sich durch die Haare. Er sah niedergeschlagen aus. Es war das erste Mal in seinem Leben, daß er sich für das Unglück eines anderen verantwortlich fühlte. „Also gut, Dan, reden wir darüber“, sagte er. „Was hast du gesehen, im Sturm? Einen Geist? Wie sah er aus? Erzähl schon. Mir kannst du es ruhig sagen“, Bill beugte sich über das reglose Gesicht des Rangers und flüsterte: „Ich habe sie auch gesehen, vergangene Nacht. Es war Tsonoqa, die Wilde Frau.“ Er setzte sich wieder. „Ich habe immer gedacht, dieses Wesen existiert nur in unserer Phantasie. Aber ich habe sie gesehen. Sie war fast nackt. Wenn du endlich aufwachen würdest, dann könnten wir uns ein wenig über sie unterhalten.“ Als Lighthouse das Zimmer verließ, hatte Dan Hadlock noch immer keine Reaktion gezeigt. Aber als Lighthouse in seinen Wagen stieg, öffnete der Ranger in seinem Krankenhausbett einen Spalt die Augen. Es interessierte ihn brennend, was er da in der Hand hielt. *** Greg und Hanna fuhren die Straße auf der Ostseite der Insel entlang, vorbei an üppig grünen Regenwäldern mit ehrwürdigen Baumriesen und dichtem Unterholz. Aber dann, je mehr sie sich der Küste näherten, sahen sie die riesigen Kahlschlagflächen. „Clear-cut“, wie die Einheimischen diese unsinnige Art der „Holzernte“ nannten. Es sah gespenstisch aus. Endlose Flächen, auf denen nichts weiter zu finden war als ein paar entwurzelte Baumstümpfe, deren gigantische Wurzeln wie drohende Arme in den Himmel ragten. „Hier läuft es anders als bei uns“, erklärte ihr Greg. „Die 218
Konzerne bestehen auf Clear-cut, und so werden in Minutenschnelle jahrhundertealte Baumriesen zu Brettern und Balken zersägt, oder zu Zellstoff und Papier verarbeitet.“ Er sah sie schräg von der Seite an. „Der Zellstoff geht vor allem nach Deutschland.“ „Dieses Deutschland scheint euch Indianern mächtigen Ärger zu machen“, sagte sie. Er lächelte. „Zugegeben, ich werde in Zukunft mein Feindbild etwas korrigieren müssen.“ „Gehört das Land der kanadischen Regierung?“ fragte sie. „Das behauptet sie jedenfalls.“ „Und die Indianer wehren sich nicht?“ „Natürlich wehren sie sich. Aber ein weißer Richter meinte, die indianischen Nationen könnten das Land ja wieder nutzen, wenn die Holzkonzerne ihren Kahlschlag beendet hätten.“ Hanna schüttelte nachdenklich den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen wie es ist, ewiges Opfer zu sein.“ Greg schien eine Weile nachzudenken, dann meinte er: „Vielleicht sind wir in der Vergangenheit lange Opfer gewesen. Aber selbst wenn man Opfer ist, sollte man irgendwann einen Schlußstrich ziehen und sagen: wir haben eine neue Zukunft vor uns, in der wir keine Opfer mehr sind. Wie jeder Mensch, ist auch jedes Volk verantwortlich für das, was es tut, egal, was ihm irgendwann angetan wurde.“ „Aber was wird aus diesem Wald?“ „Wenn die Konzerne so weitermachen wie bisher, dann wird hier in zehn Jahren kein Baum mehr stehen.“ Es war schon dunkel, als sie sich in Parksville ein Motelzimmer nahmen. Von hier aus waren es noch ungefähr 200 km bis Nootka Island. Dort – so vermutete Greg – lebte Jims Familie. Er konnte sich auch irren. Aber in der vergangenen Nacht hatte er diesen Traum gehabt, in dem Jim durch verschiedene Tiere zu ihm gesprochen hatte. Und er hatte eine Insel gesehen. Er hatte Jim gesehen. Oder besser: 219
seinen Geist. Manchmal sprachen die Geister der Toten durch Tiere zu den Menschen, die sie liebten. Die Geister der Toten. Er stöhnte leise. Greg behielt seine Gedanken, die ihm vorauseilten, lieber für sich. Melancholie legte sich auf ihn wie dichter Nebel, und sammelte sich am Rande seiner Vision: Er hatte einen Toten ausgegraben, der noch redete. Jetzt stand er in diesem Motel vor dem Spiegel im winzigen Bad und hatte Angst. Er beneidete jene, die nicht träumen – jedenfalls nicht auf diese Weise. Denn mitunter sah man in solchen Visionen auch Dinge, die man lieber nicht wissen wollte. Greg wischte mit dem Handrücken den beschlagenen Spiegel und betrachtete sein Gesicht. Der asiatische Einschlag war unverkennbar. Er hatte sich nie gegen die Besiedelungstheorie der Wissenschaftler gewehrt. Daß seine Vorfahren vor tausenden von Jahren über die verlandete Beringstraße von Asien nach Alaska eingewandert sein sollten, schien ihm einleuchtend. Außerdem gab es handfeste Beweise dafür. Warum sollte er sie leugnen, was änderte das? Egal woher sie kamen und wann, den Indianern gehörte der Geist dieses Landes, denn sie waren die ersten gewesen, die es bewohnt und geliebt hatten. Aber selbst das war heute nur noch von zweifelhafter Bedeutung. Sie konnten die Weißen nicht mehr aus Amerika vertreiben, und ihr Land würden sie auch nicht zurückbekommen. Trotzdem waren sie kein verschwindendes Volk. Sie würden nie weniger, sondern immer mehr werden. Diese Gewißheit genügte ihm. Mit einem weißen Handtuch um die Hüften geschlungen, kam er aus der Dusche und setzte sich neben Hanna auf die Bettkante. Bewundernd blickte sie auf seinen dunklen Körper, geschmeidig und kühl wie Kupfer. Seine Haut war noch feucht, und das nasse Haar lag ihm schwer im Nacken. Es war so einfach gewesen, sich in ihn zu verlieben. In 220
Gregs Augen war ihr dieser seltsame Ausdruck wiederbegegnet, der schon bei Jim ihre Wachsamkeit, und gleichzeitig ihre Zuneigung hervorgerufen hatte. Es war eine Art Verletzlichkeit, die aus Erinnerungen entstanden zu sein schien. Erinnerungen an Dinge, die vor sehr langer Zeit geschehen waren. Ein Wissen, das tief aus dem Inneren kam, und mit dem Blut weitergegeben wurde. Aber jetzt las Hanna in diesen Augen noch etwas anderes, das mehr von ihr erwartete, als sie bisher zu geben bereit gewesen war. Und sie wußte nicht, ob sie die Kraft dazu hatte, diese Erwartungen zu erfüllen. *** Früh am Morgen machten sie sich auf den Weg nach Nootka Island. Eine holprige Fahrt durch den Regenwald, vorbei an einsamen Friedhöfen und verlassenen Holzlagerstellen. Die Sonne wärmte die Luft schnell und gegen Mittag, als sie den Ort Ceepeecee erreichten, war es unerträglich heiß. Die Luft stand. Ceepeecee war ein kleiner Ort mit ungefähr vierzig Holzhäusern, in denen fast ausschließlich Indianer lebten. Es waren Nuu-chah-nulth, oder Nootka, wie sie von den Weißen genannt wurden. Zwischen ihnen und den Makah vom amerikanischen Festland bestanden enge familiäre Beziehungen. Ihre Sprache war dieselbe, ihre Mythen und Traditionen auch. Greg war noch nie an diesem Ort gewesen. Er wußte selbst nicht, warum. Nie war er auf die Idee gekommen, wirklich nach Jim zu suchen. Weil er davon überzeugt gewesen war, daß Jim in Deutschland geblieben war und die Brücken zu seinem früheren Leben abgebrochen hatte. Sie entdeckten einen alten Mann, der am Ufer Netze flickte. Greg begrüßte ihn höflich in der Sprache der Makah, und 221
der Indianer schenkte ihm ein zahnloses, freundliches Lachen. Greg sagte: „Wir suchen jemanden, der uns mit dem Boot nach Nootka bringen kann.“ Der alte Indianer wackelte mit dem Kopf. „Eddie Elswa hat ein Motorboot. Er ist vor einer Weile nach Gold River gefahren, müßte aber bald zurück sein.“ Greg seufzte. Er wußte, was bei Indianern „bald“ hieß. Das konnte zwei Minuten, zwanzig Minuten oder zwei Stunden bedeuten. Die dunklen Hände des alten Mannes knüpften geschickt einen Knoten und zogen ihn fest. „Sucht ihr jemanden?“ Er musterte Hanna kurz und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Netz zu. „Ja, wir sind auf der Suche nach Jim Claplanhoo. Er ist ein bekannter Pfahlschnitzer.“ Der Alte grummelte leise. „Kennen Sie ihn?“ fragte Greg. „In Nootka gibt es einen bekannten Pfahlschnitzer. Und es gibt dort auch Claplanhoos.“ Greg sah Hanna kurz an und bemerkte, wie verstört sie auf die Auskunft reagierte. „Gibt es niemanden sonst hier, der uns rüberbringen könnte?“ fragte er ungeduldig. Der Indianer hob die Schultern. „Eddie Elswa hat ein Boot. Und er hat Zeit.“ „Also gut“, gab Greg sich geschlagen, „dann warten wir.“ Sie setzten sich auf einen Steg und blickten schweigend hinüber auf die dunkle Insel. Was würde sie dort drüben erwarten? War er dort, dieser Mann, den sie beide liebten, und der sich ihrer Liebe entzogen hatte? Würden sie eine Antwort auf das Warum finden? Greg spürte seine Furcht vor der Ankunft im Vergangenen. Die innere Zerrissenheit schmerzte wie eine offene Wunde. Er sah Hanna schräg von der Seite an. Die mondhäutige Frau mit den grünlichen Augen und dem Kupferhaar. Es 222
drängte ihn, ihr zu sagen, was er empfand. Aber würde sie ihn auch verstehen? Er mußte es tun, bevor sie diese Insel betraten. „Hanna“, begann er, und sie wandte den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen. „Ich weiß, daß es schwer für dich ist, manche Dinge aus unserer Welt so zu akzeptieren, wie sie nun mal sind. Dinge, die nicht der eigenen Kultur entstammen, sehen immer bizarr und übertrieben aus. Aber glaube mir, nichts geschieht ohne Grund und ohne einen tieferen Zusammenhang.“ „Warum hast du versucht, die Fahrt hierher so lange hinauszuzögern, Greg?“ „Um die Beweggründe unseres Handelns zu verstehen, braucht es mehr Zeit als nur zwei oder drei Tage.“ Er atmete hörbar ein und fügte hinzu: „Ich glaube nicht, daß alle Wirklichkeit sichtbar ist.“ Es fiel ihr schwer, ihn immer noch anzusehen, während er das sagte. Sie preßte ihre Lippen aufeinander. Sie war der Auffassung, daß es für alle Dinge eine Erklärung gab – wenn man nur lange genug danach suchte. Greg sagte: „Zu Anfang, da wollte ich, daß du Jim verstehst, bevor du ihn findest. Ich wollte dir seine Welt zeigen. Aber dann begriff ich, daß ich dir seine Welt gar nicht zeigen konnte, weil ich sie selbst nicht kenne.“ Er blickte zu Boden. „Ich habe dir meine Welt gezeigt. Ich will, daß du mich verstehst.“ Greg schluckte und sah auf. „Wenn wir heute diese Insel wieder verlassen, dann wird sich etwas verändert haben. Ich weiß nicht, was es ist, aber es macht mir Angst“, gab er zu. Es war das erste Mal, daß er ihr seine Angst eingestand, und das verwirrte sie mehr, als alles andere. „Was macht dir Angst, Greg?“ „Die Möglichkeit, alles zu verlieren.“ Sie schwiegen beide. „He!“ jemand rief nach ihnen und sie wandten sich nach der Stimme um. Neben dem alten Fischer stand ein junger Mann und winkte. Eddie Elswa war zurück. 223
Der Indianer winkte sie hinüber zu einem anderen Steg. Als sie bei ihm ankamen, begrüßte er sie und half Hanna ins Boot. „Was macht das?“ fragte Greg. „Vierzig Dollar hin und zurück“, sagte Elswa. Das war genausoviel, wie sie für die Überfahrt nach Kanada bezahlt hatten. Die Entfernung war auch ungefähr dieselbe. Bis zur Insel war es zwar nur ein Katzensprung, aber der Ort Nootka lag am offenen Pazifik und war am schnellsten mit einem motorisierten Boot zu erreichen. Greg gab Elswa einen Zwanzigdollarschein. „Den anderen bekommen Sie, wenn wir wieder hier sind.“ Elswa nickte und schob den Schein in seine Gesäßtasche. Dann machte er das Boot los. „Wir brauchen aber etwas Zeit in Nootka. Ein oder zwei Stunden mindestens“, sagte Greg. Elswa schmiß den Außenbordmotor an und schrie: „Das macht nichts. Ich habe eine Großmutter drüben. Da gibt es immer was zu tun.“ Er steuerte das Boot nach links in Richtung Nootka Sound. Die Wasserstraße war eng und sie kamen dicht am Ufer der Insel entlang, einem geradlinig dahinziehenden Band aus feuchtem, dunklen Gestein. Mächtige Baumstämme säumten das Ufer. Der Himmel entfärbte sich im Spiegelbild der grünen Hölle. Es war ein schöner, ein wilder Ort. *** Seit Dan Hadlock aus seinem Koma erwacht war, hatte der Sheriff noch keine Zeit gefunden, ein paar Worte mit dem Ranger allein zu reden. Das Zimmer war von Hadlocks Familie belagert, die recht zahlreich war für einen Weißen, wie Lighthouse fand. Ungeduldig lief er auf dem blankgebohnerten Linoleum vor Hadlocks Zimmer auf und ab und wartete auf seinen Augenblick. Schließlich bat eine Schwester die Familie darum, den 224
Besuch für heute zu beenden, da der Genesende Ruhe brauchte. Als Hadlocks Frau und Kinder gegangen waren, nutzte Lighthouse die Gelegenheit und schlüpfte ins Zimmer. Dan lächelte matt, als er den indianischen Sheriff sah. Er hob schwerfällig die Hand und deutete auf den Miniaturpfahl auf seinem Nachttisch. „Den hast du mir gebracht, nicht wahr?“ Lighthouse nickte verlegen und setzte sich auf einen Stuhl neben Dans Bett. „Ich dachte, er könnte hilfreich sein.“ Nervös drehte er seinen Hut zwischen den Fingern. „Vermutlich war er das“, seufzte Hadlock und sah aus dem Fenster. „Was sagen die Ärzte?“ fragte der Sheriff. „Wirst du schnell wieder gesund werden?“ „Noch ein oder zwei Wochen, und ich kann das Krankenhaus verlassen.“ „Dan …“, brachte Lighthouse zögernd hervor, „was hast du kurz vor dem Unfall gesehen?“ Hadlock schwieg eine Weile, dann drehte er den Kopf, um dem Sheriff in die Augen zu sehen. „Selbst wenn ich es dir erzählte, würdest du es mir nicht glauben.“ Bill Lighthouse lächelte gequält. „Du wirst es nicht für möglich halten, was ich alles glaube.“ Hadlock starrte an die Decke. Sein Gesicht war fast so bleich wie das Kopfkissen. „Ich sah eine Frau, Bill. Sie erschien im Lichtschein des Blitzes.“ Er schluckte schwer, sein Adamsapfel tanzte auf und ab. „Sie war nackt, nur mit einem Baströckchen bekleidet.“ „Tsonoqa, die Wilde Frau aus dem Walde“, murmelte der Sheriff. „Was?“ Lighthouse seufzte, legte seinen Hut auf Hadlocks Bettdecke und verschränkte seine Finger ineinander. „Unter unseren zahlreichen Geschichten gibt es auch eine über die Wilde Frau aus dem Walde. Ihr Name ist Tsonoqa. Es kommt immer mal vor, daß jemand aus Neah Bay sie gese225
hen haben will.“ Er machte eine Pause. „Und vergangene Nacht habe ich sie mit eigenen Augen gesehen.“ „Werden wir jetzt beide verrückt?“ fragte Dan. Lighthouse schüttelte nachdenklich den Kopf. Er stützte seine Hände auf die Oberschenkel und erhob sich. „Nein, mein Freund, keine Angst. Wir sind nicht verrückt. Was wir gesehen haben, haben wir gesehen.“ Er beendete seine Wanderung durch das Zimmer vor dem Fenster, warf einen Blick auf die befahrene Straße. „Aber ich fürchte, da draußen auf der Reservation rennt eine Frau herum, die tatsächlich verrückt ist. Ich glaube zwar nicht, daß sie etwas mit deinem Unfall zu tun hat, sie war einfach nur plötzlich da, als es passierte. Aber ich muß herausfinden, wer sie ist und was sie da draußen macht.“ „Sei bloß vorsichtig“, sagte Hadlock, und griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen Kopf. „Klar“, erwiderte der Sheriff. „Und du werd’ schnell gesund.“ „Danke für den Pfahl, Bill. Meine Familie fürchtete zwar um mein Seelenheil, als sie mich mit dem Ding in der Hand vorfand, aber …“ Er sprach nicht weiter. „Was, Dan?“ „Du weißt schon, was ich sagen will.“ Lighthouse nickte. „Was auch passiert, es gibt immer einen Weg, um damit fertig zu werden. Auch wenn er anderen vielleicht merkwürdig erscheint.“ Er lächelte. Die Tür ging auf, und eine Schwester kam mit einem Tablett herein. Sie funkelte Bill wütend an. „Der Patient braucht Ruhe, können Sie das nicht verstehen?“ „Ich gehe ja schon“, sagte Lighthouse. Er schnappte sich seinen Hut und ging. In der Tür drehte er sich noch einmal um und hob die Hand zum Gruß. Während der Fahrt zurück nach Neah Bay dankte er dem Schöpfer immer wieder, daß Dan Hadlock mit dem Schrecken davongekommen 226
war. Und er schwor sich, nie wieder einem Weißen etwas über die Geister der Makah zu erzählen. *** Matthew Colfax wartete. Flora Parker würde kommen, dessen war er sicher. Vielleicht war sie von irgendetwas aufgehalten worden. Er setzte sich auf einen Stamm und blickte hinunter auf den Pazifik. Vom Horizont bis zum Ufer brachen sich die Wellen zwölfmal. Die Schaumkronen glitzerten in der Sonne. An manchen Tagen war das Meer eine Wüste aus Gedanken, ein Spiegel seiner Gefühle. Noch vor ein paar Jahren war die Zukunft ihm wie ein breiter Fächer erschienen. Er hatte sein Wissen und Können an zwei kräftige junge Männer weitergegeben, von denen er erwartete, daß sie es irgendwann zur Vollkommenheit brachten, und es ihrerseits dann an ihre Söhne weitergeben würden. Damit hätte er sein Vermächtnis erfüllt. Aber dann, im Laufe der Jahre, hatte sich der Fächer immer enger geschlossen, bis am Ende nur noch ein Stab übriggeblieben war, der stur in eine einzige Richtung zeigte: den Tod. Von seinen Hoffnungen war nichts geblieben. Sein Wahlsohn kam für eine würdige Nachfolge als Pfahlschnitzer nicht mehr in Frage. Und Greg hielt es nicht für nötig, sich standesgemäß zu verheiraten und ihm Enkelsöhne zu schenken. Stattdessen vergeudete er seine Zeit mit einer weißen Hexe. Auf ihn konnte sich Matthew Colfax nicht verlassen. Schweigend las er die Schrift der Wellen. Wie quälend er dieses Land liebte und verehrte. So sehr, daß es beinahe schmerzte. Manchmal schien es ihm, als seien seine Wurzeln so tief und fest in diesem Boden verankert, daß er Mühe hatte, vorwärtszugehen. Sein Leben war immer mehr zu einem Kreis geworden, 227
der sich irgendwann ganz schließen würde. Aber noch gehörte ihm Zeit. Sein Körper war kräftig, seine Gedanken waren klar. Jim hatte sich seine Zukunft selbst verbaut, und auf Greg war kein Verlaß. Er, Matthew Colfax, mußte die Dinge wieder in die Hand nehmen. Wortlos setzte sich die Frau neben ihn. Er wandte den Kopf und betrachtete ihr Profil. Die hochstehenden Wangenknochen, das großflächige Gesicht, umrahmt von einer Wolke aus tiefschwarzen Haaren. Obwohl Flora die Vierzig bereits überschritten hatte, fand sich noch kein graues Haar in ihrer dichten Mähne. Colfax spürte, daß sich das Begehren in seinem ganzen Körper ausbreitete wie eine warme Woge. Er griff nach Floras Arm und zog sie ein Stück in den Schutz des Waldes hinein. Im grüngewaschenen Licht des Nachmittages legte er seinen schweren Körper auf sie, in der Hoffnung, daß sein Samen in ihrem Schoß zu neuem Leben keimen würde. *** Joey Hunter hatte den alten Pfahlschnitzer schon eine ganze Weile beobachtet. Er und Grace hatten sich im Wald geliebt und sie hatten Pläne für die Zukunft gemacht, als Matthew Colfax aufgetaucht war. Ins Dickicht gedrückt warteten sie ab, was weiter geschehen würde. Ein Vogel schlug an und verstummte wieder. Flora Parker tauchte auf, so lautlos wie ein Geist, und so geschmeidig wie ein wildes Tier. In ihrem Gesicht erkannte Joey Hunter jenes dunkle Augenpaar wieder, das ihn damals daran gehindert hatte, Grace genau an dieser Stelle zu lieben. Es war ihm eine Genugtuung, jetzt dafür den beiden dabei zuzusehen. Grace empfand Neugier und Abscheu zugleich. Die Heftigkeit, mit der diese beiden ihre Leiber umschlangen, machte ihr Angst. Joey hatte sie bisher fünfmal voller Zartheit geliebt. Noch immer waren die ersten 228
Gesten seiner körperlichen Annäherung scheu. All das hatte nichts mit dem zu tun, was sie jetzt zu sehen bekam. Verstohlen betrachtete sie Joey von der Seite. Das Leuchten in seinen Augen, die Vorfreude auf Dinge, die er irgendwann mit ihr tun würde, seine unausgesprochenen Wünsche, alles das konnte sie in diesem Augenblick in seinen Augen lesen. Als er ihre Furcht erkannte, schämte er sich. „Sie ist die Wilde Frau vom Walde“, sagte er, als wäre das eine Entschuldigung. „Das glaube ich nicht“, erwiderte sie beleidigt. Jetzt wollte er sie auch noch auf den Arm nehmen. „Ich habe Flora gestern in der Markthalle gesehen.“ „Glaub es nur. Ich sehe sie nicht zum ersten Mal. Sieh doch hin, sie trägt nur einen Bastrock.“ Grace mochte nicht mehr hinsehen. Sie hatte genug. „Laß uns hier verschwinden, Joey“, sagte sie. Er legte einen Finger auf die Lippen. „Erst wenn sie gehen.“ Aber plötzlich waren die Liebenden verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt. Joey lief zu der Stelle, wo ihre Leiber gelegen hatten. Er ging in die Knie und legte seine Hand auf das niedergedrückte Gras, um den Rest Wärme zu spüren, den der Boden noch abgab. Aber was er wahrnahm, erschreckte ihn. Es war das Gefühl einer düsteren Macht. Unheil drohte. Hastig zog er seine Hand zurück. *** Nootka war ein kleiner Ort an der zerklüfteten Küste von Vancouver Island. Schwer erreichbar und wirtschaftlich uninteressant, gehörte er immer noch einzig und allein den Nuu-chah-nulth, den Menschen, die seit Jahrhunderten auf dieser Insel lebten. Früher waren sie viele gewesen. Aber die Ankunft Kapitän Cooks 1778 im Nootka Sound bescherte 229
ihnen nicht nur großartige Handelsmöglichkeiten, sondern dezimierte sie durch eingeschleppte Krankheiten zahlenmäßig bis auf ein klägliches Häuflein. Damals waren die Nootka auf vielfältige Weise mit der Natur verbunden gewesen. Durch ihre Kleidung, die Art ihres Schuhwerks, die Boote, die sie bauten, die Nahrung, die sie sammelten, oder die Tiere, die sie erbeuteten. Die Vorfahren der Nootka waren Walfänger, genauso wie die Vorfahren der Makah. Diese beiden Stämme waren die einzigen, die den Mut hatten, es auf dem Meer mit dem riesigen Tier aufzunehmen. Die oft mehrere Tage dauernde Waljagd war ein Ereignis von großer Bedeutung und wurde von einem Wal-Häuptling geleitet. Um sich auf seine Aufgabe vorzubereiten, begab er sich zuvor für zwei oder drei Tage an einen stillen Ort, um sich zu reinigen und zu beten. In dieser Zeit fastete er auch. An der Waljagd beteiligten sich immer mehrere Boote. Sie waren oft bis zu 30 Fuß lang und boten Platz für acht Männer. Gejagt wurde mit Harpunen, die an langen Leinen aus Walsehnen befestigt waren. Der Walhäuptling hatte den Vorrang. Erst wenn seine Harpune den Wal getroffen hatte, und die daran befestigten Schwimmblasen aus Seehundfell anzeigten, wo sich das Tier befand, durften die übrigen Jäger ihre Waffen schleudern. Die heute in Nootka lebenden Indianer waren Fischer. ‚Wenn die Flut weicht, dann wird der Tisch gedeckt‘, war eines ihrer Sprichworte. Nur, daß heute der Wal nicht mehr gejagt werden durfte, und auch Heilbutt und Lachs – ihre wichtigste Nahrungsquelle – immer weniger wurden. Wie ihre Verwandten vom Festland ergänzten sie ihren Speisezettel mit Wild aus den Wäldern, Beeren und eßbaren Wurzeln. Von der Welt des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend unberührt, führten die Bewohner von Nootka ein einfaches, traditionsreiches Leben. Als Greg und Hanna im kleinen Hafen an Land gingen, 230
waren sie enttäuscht. Auf den ersten Blick schien der Ort wie ausgestorben. Am Ufer entlang standen ein paar Häuser, deren einstiger Anstrich durch Wind und Wetter verblaßt war. Aber dann entdeckten sie da und dort das Trockengerüst eines Fischerlagers und einen großen Totempfahl vor der bemalten Wand der Gemeindehalle. Der Pfahl war keine Arbeit von Jim, das merkten beide sofort. Die Abstände zwischen den einzelnen Figuren waren zu groß. Eddie Elswa wies auf ein kleines, windschiefes Haus nahe am Waldrand. „Dort wohnt meine Großmutter. Wenn Sie zurückwollen, dann holen Sie mich einfach.“ Greg nickte. „Wissen Sie vielleicht, in welchem Haus Jim Claplanhoo wohnt?“ Elswa drehte sich und zeigte auf das letzte Haus am anderen Ende des Ortes. „Dort hinten“, sagte er. „Dort wohnt Jim Claplanhoo mit seiner Familie.“ Greg blickte Hanna an. Sie sah müde und verletzlich aus. Er spürte, daß es ihr mehr weh tat, als sie vermutet hatte. In diesem Moment wurde ihm klar, daß er sie nicht verlieren wollte. Mit dieser überraschenden Erkenntnis umzugehen, fiel ihm schwer. Er würde vielleicht kämpfen müssen. Seine Welt war ins Wanken geraten und er konnte nichts dagegen tun. Eine Gruppe lachender, schwarzäugiger Jungen und Mädchen rannte an ihnen vorbei und beide hatten denselben Gedanken: Vielleicht war eines dieser Kinder von Jim. „Na komm!“ meinte Greg schließlich, „gehen wir. Wir mußten damit rechnen, ihn hier zu finden.“ Er sagte sich, daß für alles, was einem widerfuhr, man auch die Kraft in sich hatte, um damit fertigzuwerden. Zögernd tappte Hanna ihm hinterher. Ihre Knie wurden weich und drohten, ihr den Dienst zu versagen. Vielleicht wäre sie an dieser Stelle umgekehrt, wenn da nicht Greg gewesen wäre, der ihr vorausging. Sie spürte den Zorn in seinen Schritten, ahnte, daß seine Hände in den Taschen zu Fäusten geballt waren. Und er humpelte wieder. 231
Als sie das einfache, aber solide Haus erreichten, sahen sie auf der Südseite Trockengerüste, auf denen Fisch in der Sonne dörrte. Hoch genug, damit die Hunde ihn nicht erreichten. Die von Kopf, Schwanz und Rückgrat befreiten und halbierten Fischteile waren mit einem Längsstock und dünnen Querstöckchen durchbohrt, damit sie sich beim Trocknen nicht zusammenrollten. Es roch gut. Netze hingen an den Bretterwänden der Hausvorderseite. Alles deutete auf eine Fischerhütte hin – und nicht auf die Werkstatt eines Pfahlschnitzers. Die Tür öffnete sich und eine junge Frau trat heraus. Sie formte die Hände vor ihrem Mund zu einem Trichter und rief laut zwei Namen. Ein etwa vierjähriger Junge und ein gleichaltriges Mädchen lösten sich aus dem Kinderknäuel und rannten an Hanna und Greg vorbei zu ihrer Mutter. Als die Frau merkte, daß die beiden Fremden zu ihr wollten, blieb sie mit vor der Brust verschränkten Armen in der offenen Tür stehen. Sie trug Jeans und eine weite Bluse, unter der sich ein geschwollenes Bäuchlein abzeichnete. Sie mußte ungefähr im sechsten oder siebenten Monat sein. Ihre Gesichtszüge trugen eine lebendige, innere Schönheit nach außen. Es war jene Harmonie, die Hanna auch in Gregs Wesen gefunden hatte. Sie stockte einen Augenblick, bevor sie ihm zum Hauseingang folgte. Er begrüßte die junge Frau auf Makah. Über ihr Gesicht huschte ein freundliches Lächeln, als sie seinen Gruß erwiderte, so, als hätte er eine Zauberformel ausgesprochen. Greg fragte sie nach Jim. Ihr Lächeln wurde milde. „Jim ist mit dem Boot draußen“, sagte sie. „Aber er wird bald zurückkommen. Kommen Sie doch herein, dann können Sie auf ihn warten.“ In der Küche bot sie beiden einen Platz an. Nachsichtig lächelnd meinte sie: „Schon den ganzen Tag hockt er da draußen und hofft auf den großen Fang. Es ist jeden 232
Sonntag dasselbe. Aber heute muß ich wenigstens keine Angst um ihn haben, das Meer ist ruhig.“ Sie hatte Tee gebrüht und bewirtete ihre Kinder und die beiden Gäste mit kleinen Heidelbeerkuchen. Sie schmeckten sehr gut, aber Hanna kaute nur mechanisch darauf herum. Immer wieder mußte sie die Indianerin ansehen. Ihr langes, blauschwarzes Haar, das glänzte wie Rabenfedern, wenn Sonnenstrahlen es berührten. Die klaren dunklen Augen, die Ruhe und Geborgenheit ausstrahlten. Und Hanna suchte nach einem Grund dafür, warum Jim sie verlassen hatte und es es vorgezogen hatte, mit dieser Frau eine Familie zu gründen. Sie fühlte sich plötzlich entsetzlich fremd und ausgegrenzt. Es war, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Die ganze Zeit hatte sie sich eingeredet, Jim nur deshalb finden zu wollen, damit sie sicher sein konnte, daß es ihm gut ging. Und nun? Offensichtlich ging es ihm sehr gut. Er hatte eine Familie. Wieso war sie damit nicht zufrieden? Wieso fühlte sie sich so gedemütigt und verletzt? Nur mit Mühe gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte nicht, daß Greg merkte, wie weh ihr das alles tat, wie frisch die Narben waren, die Jims Verschwinden hinterlassen hatte. Jetzt drohten die alten Wunden wieder aufzubrechen. Hanna empfand Eifersucht. Auch den Kindern gegenüber. Jim war ihr Vater. Er kümmerte sich um sie. Gewiß saß er abends an ihrem Bett und erzählte ihnen Geschichten, bis sie einschliefen. Wenn ihre Beine müde waren, trug er sie auf seinen starken Schultern. Vielleicht nahm er sie manchmal in seinem Boot mit aufs Meer hinaus. Und er legte seine Hände auf den Bauch, in dem neues Leben wuchs. Das ist nicht fair, dachte Hanna. Auf ihren Bauch hatte niemand seine Hände gelegt, als Ola darin heranwuchs. Sie hatte alles allein durchstehen müssen. Die morgendliche Übelkeit in den ersten Schwangerschaftswochen, das Sodbrennen, die geschwollenen Beine, 233
die panischen Anfälle von Verlassenheit kurz vor der Geburt. Plötzlich war sie wütend auf die andere Frau. Das Gebäck wurde immer mehr in ihrem Mund, und am liebsten wäre sie nach draußen gerannt. Geflohen. Aber vielleicht lief sie dann Jim in die Arme, ohne Greg an der Seite zu haben. Mit leicht verschleiertem Blick sah sie ihn an. Er unterdessen hatte nicht aufgehört, sie zu beobachten. Ihr wurde klar, wie sehr er litt. Und mit gesenktem Kopf legte sie ihre Hand zaghaft auf seine. Nach Sekunden der Reglosigkeit nahm er ihre Hand fest in seine. Die junge Indianerin, sie hatte sich ihnen als Fanny Claplanhoo vorgestellt, goß Tee nach und rührte eine Süßspeise für die Kinder an. „Wann kommt das Baby?“ fragte Greg, nur um die Stille zu brechen, die sich in den Raum geschlichen hatte. „Anfang Oktober“, antwortete sie. „Ich werde es hier in diesem Haus bekommen, wie schon Sammy und Mara. Wir haben eine gute Hebamme im Dorf.“ Sie wollte noch etwas sagen, aber die Tür öffnete sich, und zuerst erschien ein Bündel Holz. Greg und Hanna starrten auf den Mann, der dahinter erschien, ein breites Lächeln im Gesicht. Er küßte Fanny und nahm die Kinder, die ihn stürmisch begrüßten, auf seine Arme, . „Paul“, sagte Fanny, „wir haben Gäste. Sie wollen zu Vater.“ Der Indianer, er mußte Anfang oder Mitte dreißig sein, reichte erst Hanna, dann Greg die Hand. „Herzlich Willkommen! Mein Vater wird gleich hier sein. Er hat einen großen Heilbutt gefangen und zerlegt ihn unten am Strand. Es ist ein großartiger Fang und Vater braucht Zeit, um seine Dankeslieder zu singen.“ Hanna saß wie erstarrt, sie war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. So, wie sie den Indianer anstarrte, mußte er denken, daß sie einen Geist gesehen hatte. 234
Greg fing sich als erster. Er sagte: „Jim Claplanhoo ist dein Vater?“ Paul nickte. „Dann hast du vielleicht einen Bruder, der Jim heißt? Er ist Pfahlschnitzer, vierzig Jahre alt.“ Paul ließ sich schwer auf einen der Küchenstühle fallen und starrte nun seinerseits erst Greg und dann Hanna an. Sein Lächeln schien an den Mundwinkeln zu zerbröckeln, alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. „Ja“, sagte er, „mein Bruder Jim war ein guter Pfahlschnitzer.“ „War?“ fragte Hanna. Pauls Stirn verfinsterte sich schlagartig. Zornig schlug er mit beiden Händen flach auf den Tisch. „Wir haben Jim seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Das letzte, was wir von ihm haben, ist eine Karte aus Deutschland. Er ist wegen einer Frau nach Europa gegangen. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.“ Er dämpfte plötzlich seine Stimme. „Als Jim das erste Mal verschwand, war er nicht mal fünfzehn, und es brach meiner Mutter das Herz. Wir dachten alle, er wäre tot. Irgendwann tauchte er dann wieder auf. Er hatte Geld – viel Geld – und versuchte, seine Schuld damit zu begleichen. Erst, als er mit der Wahrheit herausrückte, fanden wir die Kraft ihn zu verstehen. Aber jetzt ist er ein zweites Mal verschwunden. Mein Vater ist seitdem um viele Jahre gealtert. Er war lange krank. Ich möchte nicht, daß er durch Sie alles noch einmal durchmachen muß.“ Greg merkte, daß Paul sie beide am liebsten vor die Tür gesetzt hätte, so aufgebracht wie er war. Aber die Höflichkeit verbot es ihm. Manchmal waren die alten Regeln doch noch zu etwas gut. Hanna zog ein Foto aus ihrer Tasche und reichte es Paul. Mit fester Stimme sagte sie: „Paul, das ist Ihre Nichte Ola. Sie ist dreieinhalb Jahre alt und lebt in Deutschland. Jim weiß nichts von seiner Tochter. Vor fünf Jahren flog er von 235
Hamburg in die Staaten zurück, um mich später nachzuholen. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Aus diesem Grund bin ich hier.“ Paul betrachtete das Foto und dann musterte er Hanna. Sein Ärger war Ratlosigkeit gewichen. „Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.“ Hilfesuchend sah er sich nach seiner Frau um, die dem Gespräch schweigend gefolgt war. Sie sah ihn nur mit großen Augen an. Die Kinder hatte sie nach draußen geschickt. „Hat Jim dir je von Matthew und Greg Colfax erzählt?“ fragte Greg. Paul seufzte. „Er sprach viel von dem Mann, der ihn das Schnitzen lehrte. Und von dessen Sohn, der wie ein Bruder für ihn war. Aber er nannte uns keine Namen.“ „Aber wieso?“ Greg sprang wütend auf. „Warum das Versteckspiel? Hat er vielleicht jemanden getötet, und mußte deshalb von hier verschwinden? Aber dann hätte er auch nicht zurückkommen dürfen.“ Paul schüttelte den Kopf und sagte leise: „Das war es nicht.“ „Aber du kennst den Grund?“ „Ich kenne ihn. Aber ich weiß nicht, ob ich das Richtige tue, wenn ich Jims Geheimnis preisgebe. Wir hoffen immer noch, daß er vielleicht irgendwann zurückkommt. Ich will ihm sein Leben nicht verbauen.“ Der alte Jim Claplanhoo kam ins Haus und Paul brach mit einer rigorosen Geste das Gespräch ab. Er stellte Greg als einen Freund vor und verließ mit ihm und Hanna das Haus. Sie liefen hinunter zum Strand. „Sollte der alte Mann nicht die Wahrheit erfahren?“ fragte Greg. „Was für eine Wahrheit?“ wollte Paul wissen. „Daß er eine Enkeltochter hat.“ Paul hob verzweifelt die Hände. „Eine Enkeltochter, die seine Sprache nicht spricht und die er niemals sehen wird. Glaubt 236
ihr nicht, daß das sein Herz nur noch schwerer machen wird?“ Greg bohrte seine Schuhspitze in den Sand und grub eine Muschel aus. „Hör zu!“ sagte er zu Paul. „Diese Frau hat einen sehr weiten Weg gemacht, um etwas über Jim herauszufinden. Es ist ihr und ihrer Tochter gegenüber nicht fair, daß du schweigst.“ Er holte tief Luft. „Und mir gegenüber ist es auch nicht fair. Jim war ein Bruder für mich. Ich würde niemals etwas tun, was ihm schadet.“ Paul schwieg. Er schien nachzudenken. Nach einer Weile sagte er: „Also gut. Aber vorher muß ich noch etwas wissen. Wo ist er gewesen, all die Jahre.“ „Nicht weit von hier“, erwiderte Greg, „in Neah Bay. Mein Vater und ich sind Makah.“ Paul lachte bitter auf und schüttelte ungläubig den Kopf. „Es will mir nicht in den Kopf. Die ganze Zeit war er so nah. Aber ich hätte es wissen müssen.“ „Wieso?“ „Jim war schon als Kind versessen darauf, unsere alte Sprache zu lernen. Niemand aus unserer Familie konnte sie ihn lehren, wir wußten nur ein paar gebräuchliche Worte. Also verbrachte er jeden Tag mehrere Stunden bei einer alten Frau. Er half ihr bei den täglichen Arbeiten und sie lehrte ihn die Sprache. Die komplizierten Worte schienen ihm keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten. Jim lernte schnell.“ In einer Reihe liefen sie am Strand entlang und entfernten sich langsam vom Dorf. Ein Haufen Fischabfälle verbreitete penetranten Gestank. Erst die Flut in der Nacht würde den Strand wieder reinigen. „Aber die Sprache war nicht alles, worauf Jim versessen war“, fuhr Paul fort. „Als er sieben oder acht war, begann er zu schnitzen. Mit zehn hatte er es sich in den Kopf gesetzt, Pfahlschnitzer zu werden.“ Paul lachte in der Erinnerung. „Alles, was Jim tat, tat er mit Leidenschaft. Er bat seinen Vater, ihm ordentliches Werkzeug zu kaufen, damit er bei Wilson Wadish – dem Pfahlschnitzer aus unserem Dorf – in 237
die Lehre gehen konnte. Eine Zeitlang versuchte mein Vater, ihm die Sache auszureden, aber Jim ließ nicht locker. Er wußte, daß er das Zeug dazu hatte, ein Meister zu werden. Es war sein Traum, seine Bestimmung. Als hätte er den Zedern ein Versprechen gegeben. Also nahm ihn unser Vater eines Tages beiseite und versuchte ihm zu erklären, warum er kein Pfahlschnitzer werden konnte.“ Paul war stehengeblieben. Hanna und Greg sahen ihn erwartungsvoll an. Der Indianer senkte beschämt den Kopf, als er sagte: „Es hat etwas mit der Vergangenheit zu tun. Die Vorfahren unserer Familie waren Sklaven. Sklaven waren von niederem Wert, sie hatten keinerlei Privilegien und kein Recht auf Leben. Heutzutage ist das nicht mehr so sehr von Bedeutung. Aber eines darf auf keinen Fall geschehen: Daß ein Nachfahre von Sklaven die Würde eines Pfahlschnitzers erlangt.“ „Das ist alles?“ fragte Hanna entgeistert. „Jim ging fort und verleugnete seine Familie, weil er Totempfähle schnitzen wollte?“ „Für jemanden, der mit unserer Kultur nicht vertraut ist, mag sich das merkwürdig anhören“, meinte Paul. „Aber so will es unsere Tradition.“ „Der ihr euch heute noch fügt!“ sagte sie voller Sarkasmus. Es machte sie wütend. Paul blieb ernst. „Jim fügte sich nicht. Er ging zu Wilson Wadish und bat ihn, ihm das Schnitzen beizubringen. Wadish lehnte ab. Nicht nur das, er war entzürnt darüber, daß Jim es überhaupt gewagt hatte, ihn zu fragen. Damals mußte Jim klargeworden sein, daß Traditionen nicht einfach zu übergehen waren. Und er faßte diesen Plan.“ „Jim verschwand während eines Sturms“, bemerkte Greg. „Nein“, entgegnete Paul. „Es war ein strahlend blauer Tag. das Meer war spiegelglatt, als er mit seinem Boot hinausfuhr. Wir fanden es Tage später, tatsächlich nach einem Sturm. Wir dachten, er sei ertrunken.“ 238
Greg erzählte Paul, wie Jim nach Neah Bay gekommen war. Er merkte, wie die Lügen schmerzten. „Ich glaube, er hatte sich meinen Vater vorher genau ausgesucht. Ich weiß nicht, wie er es angestellt hat, daß niemand auf ihn aufmerksam geworden war, und daß er während des Sturmes zur rechten Zeit am rechten Ort war. Vielleicht hat er mich schon eine ganze Weile verfolgt.“ „Schon möglich“, meinte Paul. „Er war wie besessen. Glück war für ihn erst dann möglich, wenn er schnitzen konnte.“ „Aber wie hat er nur mit all diesen Lügen leben können?“ fragte Hanna. „Weil er glaubte, sein Leben gehöre ihm allein“, meinte Paul. „Aber“, Greg schüttelte den Kopf. „Er konnte es ja nicht. Irgendwann holten die Lügen ihn vermutlich ein. Deshalb ging er mit Hanna nach Deutschland. Vielleicht war das der Ort, an dem er seine Schuldgefühle zu verlieren hoffte. Aber auch dort konnte er nicht leben. In seinem Schweigen ihr gegenüber hatten sich noch mehr Lügen angehäuft. Also kehrte er zurück.“ „Aber, wo ist er jetzt?“ Hilflos fragend blickte sie ihn an. Greg, bedrängt von seinem Wissen und seiner Phantasie, hatte es plötzlich eilig. Er sah auf seine Armbanduhr. „Es ist spät, wir müssen zurück. Ich glaube, wir haben genug erfahren.“ Er berührte Paul am Arm. „Danke, daß du uns die Wahrheit erzählt hast.“ Paul Claplanhoo nickte gedankenverloren. Hanna langte in ihre Tasche und holte Olas Foto noch einmal hervor. Sie reichte es Paul. „Auf der Rückseite steht unsere Adresse. Nur für den Fall, daß der alte Mann doch noch von seiner Enkeltochter erfahren sollte.“ Paul steckte das Foto ein. „Wie lange sind Sie noch in den Vereinigten Staaten?“ fragte er Hanna. 239
„Noch zwei Wochen, dann fliege ich zurück.“ Sie reichte Paul die Hand. „Auf Wiedersehen. Ich bin froh, Sie kennengelernt zu haben.“ Greg drängte zum Aufbruch. „Wir melden uns, wenn wir etwas Neues erfahren haben“, meinte er zu Paul. Eddie Elswa wartete schon an seinem Boot. Sie stiegen ein und er legte ab. „Hatten Sie Erfolg?“ fragte er die beiden. „Nicht ganz so, wie wir es uns erhofft hatten“, antwortete Greg. Wir haben nach dem jungen Jim Claplanhoo gesucht, nicht nach seinem Vater.“ „Jim Junior ist schon seit ein paar Jahren nicht mehr auf die Insel gekommen“, schrie Elswa, um den Krach des Motors zu übertönen. „Vermutlich hat er einen Ort gefunden, an dem es sich besser leben läßt als hier.“ Hoffentlich ist es so, dachte Greg. Er wollte auf dem schnellsten Wege zurück nach Neah Bay. Wenn irgendjemand wußte, wo Jim geblieben war, dann war es Matthew Colfax. Sein Vater hatte ihn belogen, da war er sich jetzt sicher. Diese blitzartige Offenbarung neuer Lügen machte ihn wütend und ließ ihn ohne Erbarmen. Plötzlich begann er mit eisiger Klarheit zu sehen.
240
10. Kapitel Oren Hunter hatte seinen Wagen kurz vor dem Parkplatz von Cape Flattery in einen Waldweg gefahren und ihn dort gut getarnt hinter Sträuchern geparkt. Irgendetwas war am Kap im Gange, und diesmal würde er es herausfinden. In der vergangenen Nacht hatte er wieder einen Traum gehabt. Und sein linker großer Zeh kribbelte heftiger als je zuvor. Sein Zeh hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Er hatte sich von seiner Frau Sandwiches schmieren lassen und würde so lange in seinem Versteck in der Nähe des Geländers ausharren, bis er den Frevler erwischte, der mutwillig das Eigentum des Stammes zerstörte und damit das Leben von Menschen aufs Spiel setzte. Diesmal würde er ihn kriegen, und wenn es die ganze Nacht dauern sollte. Hunter sah, daß noch ein Wagen auf dem Parkplatz stand. Das Nummernschild stammte aus Colorado. Irgendwelche Touristen. Er benutzte also den befestigten Pfad, um runter ans Kap zu gelangen. Er hätte auch am Rand der Steilküste entlanggehen können, aber das wäre zeitaufwendiger, und vor allem lebensgefährlich gewesen. Oren Hunter wollte zwar seiner Pflicht nachgehen, aber er wollte auch unversehrt seine Pension antreten und mit seiner Frau noch ein paar ruhige Jahre verbringen. Er wollte Fischen und vielleicht ein Stück vom übrigen Amerika kennenlernen. Zwar hatte ihn sein Beruf schon in Städte wie Denver, Milwaukee und Los Angeles geführt, aber Städte interessierten ihn nicht. Die vielen Menschen machten ihm Angst. Und erst recht die Art der Verbrechen, die in solchen Hexenkesseln verschiedener Nationalitäten verübt wurden. Hunter war sich durchaus darüber im Klaren, was für einen ruhigen Job er all die Jahre hier gehabt hatte. Nur vier Morde in seiner ganzen Amtszeit. Darauf war 241
er ungeheuer stolz. Die Leute, die bei den Felsen und Seemöwen lebten, waren keine Mörder. Natürlich gab es da noch diesen und jenen, der eine Strafe im Gefängnis absaß. Die meisten von ihnen waren Jugendliche, die außerhalb der Reservation auf die falsche Bahn geraten waren. Nach ihrer Entlasssung kehrten sie nach Neah Bay zurück und er kümmerte sich persönlich um sie. Er vermittelte und sorgte dafür, daß ihre Familien sie wieder aufnahmen, daß sie einen Job bekamen, oder wenigstens eine Beschäftigung, mit der sie ihre Zeit ausfüllen konnten. Nur hin und wieder kam es vor, daß einer von ihnen überhaupt keinen Zugang mehr zu seinem Volk fand. Derjenige war dann für immer verloren. Unweigerlich wanderte er zurück ins Gefängnis und dort verlor er dann seine Seele. Einmal Gefängnis konnte einen wachrütteln und auf den richtigen Weg zurückbringen. Beim zweitenmal verlor man seine Identität und damit alle Hoffnung. Dann konnte einen nur noch ein Wunder retten. Das Ehepaar aus Colorado kam dem Chief entgegen und er grüßte die Leute höflich. Sie nahmen nicht weiter Notiz von ihm, denn er trug seine Uniform nicht. Hunter überprüfte das Geländer, versicherte sich gründlich, daß niemand in der Nähe war, und hockte sich in das geräumige Innere eines dicht beblätterten Strauches. Dieses Versteck hatte er schon vor einiger Zeit entdeckt. Gut getarnt konnte er so jeden beobachten, der sich am Geländer zu schaffen machte. Es war auch leicht, demjenigen den Fluchtweg abzuschneiden. Von drei Seiten das Meer. Wollte jemand türmen, mußte er an Hunter vorbei. Der Chief machte es sich einigermaßen bequem und begann zu warten. Stillzusitzen machte ihm nichts aus. Er hatte es schon gelernt, als er noch ein kleiner Junge war. Wenn sein Vater ihn mit zum Angeln auf die Felsen vor der 242
Küste genommen hatte. Und er mochte es, einfach nur dazusitzen, und seinen Gedanken nachzuhängen. Dabei war er mitunter zu erstaunlichen Schlüssen gelangt. Diesmal war er sich sicher, daß etwas passieren würde. Das Kribbeln in seinem großen Zeh war immer unerträglicher geworden. Er hoffte nur, daß sein Instinkt nicht versagt hatte, und er sich auch am richtigen Ort befand. Nach zwei vollkommen ruhigen Stunden überkamen Oren Hunter erste Zweifel. Es wurde dunkel, und niemand würde jetzt noch hier runter ans Kap kommen. Er verschwendete nur seine Zeit. Aber da er es sich fest vorgenommen hatte, auszuharren, und sein Zeh immer noch unangenehm kribbelte, verließ er sein Versteck nicht. Er wickelte lautlos seine Sandwiches aus und begann zu kauen. Um ihn herum war es still, er hörte nur die Mahlgeräusche seines Kiefers. Kurz darauf begann es, in der Dunkelheit unruhig zu werden. Für den Polizeichef kein Grund zur Besorgnis. Er war hier aufgewachsen. Nachttiere begannen um diese Stunde ihre Aktivitäten. Die Flut stieg und das Meer begann zu sprechen. Die Stimmen des Wassers offenbarten Dinge, die nur die Alten der Makah noch verstehen konnten. Hunter hörte die Töne dieser starken Erde und Wahrheiten begannen ihn zu bedrängen. Eine Menge Ungereimtheiten waren in letzter Zeit auf der Reservation geschehen und er hatte sie nicht wahrhaben wollen. Aber in gewisser Weise trug er die Verantwortung, wenn jemand zu Schaden kam. Er mußte sich den Tatsachen stellen und ihnen auf den Grund gehen, auch wenn ihm das vielleicht Feinde im Ort einbringen würde. Und er mußte sich den unwirklichen Dingen stellen, die geschehen waren, und die er ebenso ignoriert hatte. Gleich morgen würde er mit seinem Sheriff Bill Lighthouse darüber reden, und sich 243
ganz offen dessen seltsame Geschichten und seine Zweifel anhören. Das war er dem jungen Sheriff schuldig. Plötzlich stockte ihm der Atem und er lauschte in die Dunkelheit. Seine ganze Aufmerksamkeit gehörte wieder der Gegenwart. Jemand kam den Pfad herunter. Er hörte Tritte, Flüstern, und leises Gelächter. Der Strahl einer Taschenlampe streifte ihn und er drückte sich noch tiefer in sein blättriges Versteck. Angestrengt versuchte er, die Stimmen zu unterscheiden. Dann kamen die nächtlichen Besucher dicht an ihm vorbei. Es waren zwei Pärchen, junge Leute aus Neah Bay. Hunter erkannte seinen Neffen Joey und dessen Kumpel Andy Sparks. Die Mädchen konnte er nicht erkennen, aber er vermutete, daß eine davon Andys Freundin Kate war, die Tochter von Helma Ward. Krampfhaft überlegte er, was er tun würde, wenn die vier etwas mit dem zerstörten Geländer zu tun hatten. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als sie zu verhaften. Seinen eigenen Neffen. Welche Schande für die ganze Familie. Die Jugendlichen liefen hinunter zum Kap und jetzt, wo der Wald nicht mehr hinter und über ihnen war, wurden ihre Stimmen lauter. „Vorsicht am Geländer!“ hörte Hunter seinen Neffen die anderen warnen. „Es ist fest“, sagte Andy. „Bist du sicher, daß sie hier runtergestürzt ist. Sieht so aus, als würde man das nicht überleben.“ Er leuchtete mit der Taschenlampe hinunter. „Es war hier, kannst du mir glauben. Greg Colfax hat sie rausgefischt und behalten. Strandgut.“ Die anderen kicherten. Hunter atmete auf. Was er gehört hatte, war genug, um sicher zu sein, daß die vier nichts mit der Zerstörung des Geländers zu tun hatten. Sie hatten allerdings irgendwie davon erfahren und waren nun auf Abenteuer aus. „Und wo ist sie nun?“ fragte eines der Mädchen. 244
„Wenn ihr so herumschreit, wird sie nicht kommen“, erwiderte Joe. „Laßt uns lieber verschwinden“, sagte das Mädchen, „ich mach mir schon so gleich in die Hosen.“ Dann hörte Oren die Stimme von Grace Allabush. „Großmutter sagt, daß Tsonoqa nicht nur Unglück bringt. Wer ihr begegnet, kann auch zu Reichtum und Glück kommen.“ Grace, dachte Hunter. Er hatte schon die ganze Zeit vermutet, daß Joey eine Freundin hatte. Aber Grace war noch jung, erst fünfzehn. Was machte sie um diese Zeit hier draußen am Kap? Und was faselten sie da von Tsonoqa, der Wilden Frau? Oren Hunter wurde ärgerlich. Diese Jugendlichen würden ihm alles vermasseln. Die Jungen wollten den Mädchen imponieren, indem sie sie mit Geistergeschichten hierherlockten, und ihnen dann Angst machten. Aber bei diesem Krach würde tatsächlich niemand kommen, auf wen auch immer er selbst oder die vier jungen Leute warteten. Das andere Mädchen sagte: „Sie ist gefährlich, Andy, sie frißt kleine Kinder.“ „Sind wir etwa kleine Kinder?“ spottete Andy. Hunter überlegte gerade, was er tun konnte, um die Vier vom Kap zu vertreiben, als es plötzlich totenstill war. Irgendetwas hatte die beiden Pärchen zum Schweigen gebracht. Ein Geräusch, oder eine Bewegung in der Dunkelheit. Andy und Joey leuchteten mit ihren Taschenlampen das Gebüsch aus. Ein Strahl wurde immer schwächer und erstarb schließlich zu einem jämmerlichen Glimmen. „Scheiße!“ fluchte Joey, „meine Batterien sind alle. Sie waren neu.“ Dann hörte auch Oren Hunter, was die Jugendlichen so nervös machte: Ein leises, wahnsinniges Lachen, wie von einem Geist. Die Vier verstummten erneut. Der Polizeichef versuchte herauszufinden, woher das Lachen kam. Es mußte irgendwo links von ihm sein – oben, am Rand der Klippen. 245
Aber auf dieser Seite war das Blattwerk seines Verstecks so dicht, daß er nichts erkennen konnte, obwohl es eine klare Vollmondnacht war. Dann sah er, wie die vier verstummten Helden die Flucht antraten. Sie hasteten an ihm vorbei, den Weg hinauf zum Parkplatz. Einen Augenblick amüsierte er sich über ihre Feigheit, konzentrierte sich aber gleich darauf wieder auf das, was kommen würde. Da waren sie wieder, flüsternde Stimmen. Jemand kam aus dem Wald oberhalb der Steilküste und kletterte über das Geländer. Er hörte das Trippeln von nackten Füßen auf Fels. Hunter unterschied die Silhouetten eines Mannes und einer Frau. Wie zu einer einzigen Person verschmolzen, standen sie an der Landspitze und ihre Körper rieben aneinander. Als der Polizeichef begriff, was die beiden da taten, trieb es ihm Schweißperlen auf die Stirn. Waren denn jetzt alle um ihn herum verrückt geworden? Gab es keinen idyllischeren Platz, um sich zu lieben, als das windige Cape Flattery kurz vor Mitternacht? Mit dem Ärmel seiner Jacke fuhr er sich über die Stirn, auf der kalte Schweißperlen standen. Die beiden Gestalten waren inzwischen aus seinem Blickfeld verschwunden, aber er hörte die Geräusche ihrer Leiber. Es mißfiel ihm außerordentlich, daß er unfreiwillig Zeuge dieser leidenschaftlichen Begegnung wurde. Er hielt Spanner für krank. Und sich zu alt für diesen Beruf. Bis er merkte, daß er sich geirrt hatte. Der Strahl einer Taschenlampe streifte erneut sein Versteck und er vernahm das präzise Hin und Her einer Säge – wie sich ihre Stahlzähne in Holzfasern gruben und sie zerriß. Großer Gott, dachte Hunter aufgeschreckt, was ging da unten vor? Er lauschte noch einmal, ob er sich auch nicht getäuscht hatte. Nein, ganz sicher, jemand machte sich am Geländer zu schaffen. Mit seiner schweißigen Rechten tastete er nach seiner Waffe. Die andere Hand umklammerte den Schaft der 246
Taschenlampe. Er mußte versuchen, noch ein Stück näher an die beiden heranzukommen, bevor er sie auf frischer Tat ertappte. Also versuchte er, so lautlos wie möglich aus seinem Versteck zu kriechen. Es gelang ihm, aus dem Strauch herauszukommen, aber dann trat er auf einen vom Laub verdeckten Ast. Es krachte, und das Sägen hörte auf. Werkzeug wurde eilig zusammengerafft. Hunter knipste seine Taschenlampe an und richtete den Strahl auf die beiden Gestalten. Sie ließen alles liegen und flohen über das Geländer in Richtung Wald, von wo sie gekommen waren. Oren Hunter war so verwirrt von dem, was er im grellen Strahl der Taschenlampe gesehen hatte, daß es ein paar Sekunden dauerte, bis er seine Stimme wiederhatte. Er rief: „Halt, stehenbleiben! Polizei!“ Plötzlich hörte er einen markerschütternden Schrei und gleich darauf das Aufschlagen eines Körpers auf dem steinigen Ufer. Er lief zum Kap und leuchtete die Klippen ab. Dort unten lag sie, die Frau mit den bloßen Brüsten und dem traditionellen Bastrock der Makah Frauen. Die Flut hatte nicht ausgereicht, den Aufprall abzufangen. So grotesk, wie die Glieder von ihrem Körper abstanden, war sie ganz sicher tot. Seine Vision hatte sich erfüllt. Noch ehe er sich darüber klarwerden konnte, was das für ihn bedeutete, ertönte vom Rand des Felsens das wilde Aufheulen des Mannes. Wie ein verwundetes Tier brüllte er seinen Schmerz von den Klippen, bevor er im Dickicht des Waldes verschwand. Hunter stand wie gelähmt am Geländer und starrte hinunter auf die Frau, deren Arme und Beine vom heranfließenden Wasser bewegt wurden. Er wußte nicht, wer sie war. Ihr Gesicht war von einer Wolke dichten schwarzen Haares verdeckt worden, als er sie angeleuchtet hatte. Auch das Gesicht des Mannes hatte er nicht erkennen können. 247
Aber auch ohne daß er ihn gesehen hatte, wußte Hunter, wer er war. Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Das habe ich nicht gewollt“, flüsterte er. „Das habe ich nicht gewollt.“ Er ließ das Werkzeug, wo es war, und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen, um über Funk Verstärkung zu rufen. Jemand mußte die Frau dort wegholen und die Beweise sichern. Um den Flüchtenden würde er sich später persönlich kümmern. *** Gegen Mitternacht erreichten Hanna und Greg das Haus am Sooes Beach. Während der ganzen Fahrt hatte Greg kaum gesprochen und Hanna hatte nicht gewagt, sein quälendes Schweigen zu brechen. Jetzt stürmte er über die Veranda ins Haus und rief nach seinem Vater. Matthew Colfax war nicht da. Greg rüttelte an der Tür zum Zimmer seines Vaters, aber sie war verschlossen. Greg warf sich mit seinem Körpergewicht dagegen und das Schloß sprang auf. Er schaltete das Licht an und begann wortlos in den Schubladen des Schreibtisches zu wühlen. „Wonach suchst du?“ fragte Hanna zaghaft, die in der Tür stehengeblieben war. Ihr Blick wanderte durch den Raum, der sie an ein Museum erinnerte. Auf einem Ständer hing das kunstvoll verzierte Tanzgewand von Matthew Colfax, seine Wolfsmaske lag auf dem Bett. An den Wänden hingen verschiedene andere Masken: die eines Raben und eines Bären, eine bewegliche, furchteinflößende Maske mit roten Haaren und Kupferaugen. Federn sprossen aus ihrem Kinn. Sie sah unzählige Miniaturtotempfähle in den Regalen. Bemalt oder schwarz glänzend. Puppen aus Holz und echtem Haar. Ein hölzernes Herz, das sich öffnen ließ, wobei eine Eule zum Vorschein kam. Totenmasken, bleich, und mit hohlen Augen und Nasenlöchern. Hanna schauderte. 248
Greg nahm ihre Anwesenheit nicht mehr wahr. Er war wie im Fieber. Und er stieß auf eine Schublade, die verschlossen war. Wortlos verschwand er und kehrte mit einem Armeemesser zurück. Er brach die Schublade auf. Endlich fand er, was er gesucht hatte. Briefe. Briefe, die Jim Claplanhoo aus Deutschland an seinen Wahlvater geschrieben hatte. Und jene Briefe, die Hanna an Jim geschrieben hatte, nachdem kein Lebenszeichen mehr von ihm gekommen war. Sie nahm die geöffneten Briefe aus Gregs Händen entgegen und setzte sich auf das Bett. Immer wieder las sie die Anschrift auf dem Umschlag und steckte den vorderen hinter die übrigen Briefe. Immer wieder, auch als sie längst alle durch hatte. Tränen verschleierten ihren Blick. Greg legte seine Hände auf ihren Arm, um sie in ihren monotonen Bewegungen aufzuhalten. Mit ausdrucksloser Stimme sagte Hanna: „Dein Vater hat sie alle gelesen.“ Da war ein Geschmack auf ihren Lippen, wie eine rasche, tiefe Verwundung. Dieser bösartige, alte Mann hatte ihre Liebesbriefe gelesen. Die Eingeständnisse ihrer Einsamkeit und ihrer körperlichen Sehnsüchte. Sie haßte ihn dafür. Greg saß da und grübelte darüber nach, was sie jetzt tun sollten. In der Werkstatt in Neah Bay war sein Vater nicht. Der Wagen hatte nicht vor dem Haus gestanden. Aber wo konnte er dann sein? Ein Klappen der Eingangstür ließ beide in die Höhe fahren. Matthew Colfax erschien in der Tür seines Zimmers. Sein Gesicht war schmutzig und die Haare standen nach allen Seiten vom Kopf ab. Schaumiger Speichel sprenkelte seine Lippen. Er sah aus wie ein wütendes Tier. Nur seine Augen strahlten eine gefährliche Ruhe aus. Die Ruhe dessen, der die Wahrheit schon kennt. „Nun“, sagte er, „hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“ 249
Greg hielt die Briefe in die Höhe. „Warum hast du gelogen, Vater?“ „Weil es so das Beste war.“ „Das Beste für wen? Für Jim?“ „Für dich. Meinen richtigen Sohn, mein eigen Fleisch und Blut.“ Greg bewegte sich auf seinen Vater zu, den Körper angespannt. „Wo ist Jim, Vater?“ Matthew Colfax warf den Kopf in den Nacken und lachte. „Ich weiß es nicht.“ „Du lügst“, sagte Greg. „Jim ist vor viereinhalb Jahren nach Neah Bay zurückgekommen. Er war hier. Grace Allabush hat ihn gesehen und Annie hat sein Taschenmesser gefunden.“ „Annie?“ entfuhr es dem Alten, „habt ihr mit Annie geredet?“ In seinem Gesicht stand Abscheu und Entsetzen. „Sieben Jahre hat Jim mit ihr geschlafen, bis diese Frau auftauchte“, er stieß mit dem Zeigefinger nach Hanna, „und er Annie ohne ein Wort der Erklärung verließ.“ „Ich glaube dir nicht.“ Greg schien verunsichert durch die Offenbarung, daß Annie mit Jim zusammengewesen war. Für Hanna brach eine Welt zusammen. Sie war verletzt, und zum ersten Mal, seit sie hier war, fühlte sie sich schuldig. „Flora Parker hat sie beobachtet, jahrelang.“ Matthew wandte sich an seinen Sohn. „Du hättest die Dinge wieder in Ordnung bringen können, Greg, aber nein, du machst genau denselben Fehler wie Jim.“ Greg schluckte seinen Zorn auf Jim Claplanhoo herunter. „Er ist zurückgekommen, um dir zu sagen, daß er eine weiße Frau heiraten und mit ihr hier leben wird. Das hast du nicht ertragen.“ Greg gestikulierte ins Leere. Gesten der Verzweiflung und des Zorns. Der alte Colfax fuhr sich mit einer wirren Bewegung durchs Haar. „Dieser Narr“, sagte er verächtlich. „Er hat tatsächlich geglaubt, daß er sich über die alten Traditionen hin250
wegsetzen könnte. Ich habe diesem Bastard vertraut, und er hat mich hereingelegt.“ Er leckte sich die Lippen. Greg musterte ihn ungerührt. „Du hast gewußt, wer seine Vorfahren waren?“ „Er hat es mir gesagt. Es gefiel ihm, mich damit zu treffen und zu quälen. Ich hatte mein Wissen und Können an einen wertlosen Sklaven weitergegeben.“ Hanna starrte auf den alten Mann, als hätte er vollkommen den Verstand verloren. Sie unterdrückte den Drang, aufzuschreien. Einen Augenblick war es beängstigend still im Raum. Und jäh wurden Greg und Hanna von der unwiderlegbaren Wahrheit ergriffen. Greg faßte sich als erster. Er sagte: „Du hast ihn getötet!“ Sein Gesicht zuckte vor Schmerz und einer schrecklichen, verlorenen Trauer. „Ich mußte es tun“, erwiderte der Pfahlschnitzer. Seine heißen Augen ruhten auf Hannas bleichem Gesicht. In Hannas Ohren summte es. Die Ungeheuerlichkeit sang und schrie und tobte. Matthew Colfax verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust. „Er kam zurück, um nach einem Haus für sein weißes Flittchen zu suchen. Er wollte sie tatsächlich hierherholen und sich sein Brot weiterhin durch Schnitzen verdienen. Ich schalt ihn einen Verräter, weil er einen Totempfahl für ein europäisches Völkerkundemuseum gemacht hatte. Er hatte seine Privilegien verwirkt. Aber er lachte nur darüber. Ich drohte ihm damit, daß ich verhindern würde, daß er jemals wieder Aufträge bekommt. Da wurde er wütend und erzählte mir die Wahrheit: daß seine Vorfahren Sklaven waren. Und daß er uns alle hereingelegt hatte.“ „Wie hast du ihn getötet?“ fragte Greg. Sein Blick wanderte über den schweren verzierten Steinhammer im Regal, den Sklaventöter. 251
Colfax lachte. „Willst du über mich richten?“ Greg schüttelte den Kopf. „Das werden andere tun.“ „Ich habe nichts Unrechtes getan, mein Sohn. Er war nur ein Sklave, ein Nichts.“ Purer Haß war in seinem verzerrten Gesicht zu lesen. Er stand regungslos da und starrte ins Leere. „Er war mein Bruder und dein Sohn. Und in der Kunst des Pfahlschnitzens hatte er seinen Meister längst übertroffen. Er war besser als du, Vater, weil er die Kunst des Pfahlschnitzens an sich liebte, und nicht als Mittel zum Zweck. Er war der wahre Künstler.“ „Das ist nicht wahr“, keuchte Matthew. „Er war ein Nichts, niemand macht bessere Pfähle als ich.“ Rückwärts taumelte er durch die Diele in Richtung Ausgang. „Jim war der wahre Meister“, schrie Greg verzweifelt. Orientierungslos vor Wut rannte Matthew aus dem Haus. Sein wildes Gelächter riß den Himmel auf und Regen strömte über wundes Land. Einen Augenblick standen Greg und Hanna sich stumm gegenüber, dann ging er hinaus auf die Veranda und stützte seine Arme auf das Geländer. Sie trat hinter ihn, berührte ihn aber nicht. Der Regen näßte ihre Kleider und ihre Gesichter. „Es tut mir leid“, würgte er hervor. Zum ersten Mal in seinem Leben entschuldigte er sich dafür, daß er Indianer war, ein Mann mit Traditionen und einer Vergangenheit. „Was wirst du jetzt tun?“ fragte sie. An ihrer Stimme hörte er, daß sie weinte. „Ich weiß es nicht“, sagte er, aber es war eine Lüge. Er wußte sehr genau, was er tun mußte, um Gewißheit zu erlangen. Aus dem Halluzinationsgeflüster in seinem Kopf hatte sich ein klarer Satz herauskristallisiert. Tu es! Was immer auch passiert, du wirst es ertragen. Er wandte sich zu Hanna um und sagte: „Es gibt da etwas, 252
das ich dir noch nicht erzählt habe.“ Mit brennendem Blick starrte er auf die Bretter zu seinen Füßen. „Es hat etwas mit unserer Vergangenheit zu tun.“ Ihre Augen ruhten in starrer Erwartung auf seinem Gesicht. Er wußte, daß es grausam war, sie noch mehr zu quälen. Aber die Wahrheit würde auch vor dem Unaussprechlichen nicht halt machen. Greg holte tief Luft, und als er zu reden begann, schien die Stimme aus seinem tiefen Inneren zu kommen, als koste es ihn allergrößte Mühe zu sprechen. „Manchmal wurde ein Gefangener oder Sklave lebendig unter dem Hauptpfahl eines neuen Hauses begraben. Der Erbauer bewies damit, daß er von so hohem Rang war, daß er seinen Besitz beliebig verschwenden konnte.“ Er starrte auf einen imaginären Punkt hinter ihr. Hanna sah an ihm vorbei auf den Totempfahl, dessen Figuren sich durch das Licht des Hauseingangs gespenstisch vom dunklen Hintergrund abhoben. Der Regen war stärker geworden. „Du meinst …“ stammelte sie, „willst du damit sagen …?“ Er hörte ihr Erbleichen im Klang ihrer Stimme, bis ein heftiges Schluchzen ihre Worte erstickte. Sie hatte Mühe, nicht in Ohnmacht zu fallen. „Ich halte es für sehr wahrscheinlich.“ Hanna floh von der Veranda, als hätte plötzlich der Boden unter ihren Füßen angefangen zu brennen. Greg rannte ihr nach. „Hanna!“ rief er, „wo willst du denn hin?“ Er erwischte sie am Arm und riß sie zu Boden. Schluchzend rollte sie sich auf der feuchten Erde. Greg nahm sie in die Arme und preßte sie an sich. „Wo willst du denn hin?“ „In diesem Haus kann ich nicht bleiben“, stieß sie hervor. „Natürlich nicht“, versuchte er sie zu beruhigen. „Aber solange mein Vater da draußen irgendwo ist, können wir auch nicht ins Strandhaus gehen. Es wäre zu gefährlich.“ „Denkst du, er würde auch uns töten?“ fragte sie ernüchtert. 253
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er dich haßt, und mich nun vermutlich auch.“ Greg half Hanna auf die Beine. „Komm mit ins Haus. Ich muß Sheriff Lighthouse anrufen.“ In Sekundenschnelle war Bill Lighthouse in seinen Kleidern und auf dem Weg zu seinem Dienstwagen. Er hatte schon geschlafen, als Gregs Anruf ihn erreichte. Auf dem Weg nach Sooes Beach verständigte er über Funk die Washington State Patrol, und gab ihnen die Personenbeschreibung von Matthew Colfax durch. Erst auf diese Weise erfuhr er, was sich kurz zuvor am Cape Flattery ereignet hatte. Nach Matthew Colfax wurde schon gefahndet. Aber der Chief hatte ihn noch nicht informiert. Bills Unruhe wuchs mit jeder Meile, die er zurücklegte. Als er am Haus eintraf, hatte Greg bereits begonnen zu graben. Von der Veranda aus sah Hanna ihm händeringend dabei zu. Im Stillen betete sie verzweifelt, es möge nicht wahr sein. „Das ist verrückt, Colfax“, sagte Bill, und leuchtete Greg mit der Stabtaschenlampe ins Gesicht. Das Gesicht des jungen Pfahlschnitzers war naß. Lighthouse wußte nicht, ob es Regen war, oder Tränen. „Mein Vater ist verrückt, Sheriff“, keuchte Greg, und schützte sich mit einer Hand gegen den blendenden Strahl. „Er hat Jim getötet und ich wette, ganz nach altem Brauch hat er ihn unter diesem Pfahl begraben.“ Lighthouse lief zu seinem Jeep zurück und holte eine zweite Schaufel. Wortlos arbeiteten sie sich ins nasse Erdreich. Als sie tief genug gegraben hatten, legten sie vorsichtig den Pfahl um und schleppten ihn zur Seite. Dann schaufelten sie weiter. Angespannt arbeiteten sie sich tiefer, durch feuchte, von Wurzeln durchsetzte Erde. Schließlich fanden sie, wonach sie suchten. Einen Schädel und Knochen. Unter dem Pfahl war tatsächlich jemand 254
begraben worden. Die Erde strömte Modergeruch aus, war ganz durchdrungen vom Geruch des Todes. Mit einem dumpfen Klagelaut schleuderte Greg die Schaufel von sich und stieg aus der Grube. Tief betroffen sah er zu Hanna auf. Sie stand oben auf der Veranda und der Strom ihrer Tränen war versiegt. Was auf ihren Wangen glänzte, war Regen. „Überlassen wir den Rest der Spurensicherung“, sagte Lighthouse keuchend. „Ich denke, wir haben genug gesehen.“ Er konnte immer noch nicht fassen, was Matthew Colfax getan hatte. „Tut mir leid, Greg, aber dein Vater muß den Verstand verloren haben.“ Greg starrte auf die erdigen Knochen zu seinen Füßen, als könne Jim allein durch seinen starken Wunsch wieder lebendig werden. „Ich habe beinahe fünf Jahre lang mit meinem Vater zusammen in diesem Haus gelebt, und nichts davon gemerkt.“ „Na komm“, Bill klopfte ihm tröstend auf die Schulter, „nach außen wirkte er schließlich vollkommen normal. Du konntest nicht wissen, daß er so krank war.“ Greg rieb sich die Hände am Hosenbein. Er stand immer noch wie festgewachsen. Bis Hanna zu ihm kam und er seine Stirn gegen ihre preßte. Die Männer von der Spurensicherung waren schnell vor Ort, denn sie hatten gerade ihre Arbeit am Cape Flattery beendet. Oren Hunter kam mit ihnen. Während die Männer begannen, den Leichnam freizulegen, zeigte der Polizeichef Greg das Werkzeug, das er am Kap sichergestellt hatte. „Es gehört meinem Vater“, sagte Greg. „Woher hast du es?“ „Er hat wieder versucht, das Geländer zu präparieren.“ Hunter seufzte. „Es tut mir leid, Greg.“ Erst jetzt begriff 255
Greg Colfax das wortlose Dunkel, das hinter allen Äußerlichkeiten lag. Sein Vater war von einem Dämon der Vergangenheit besessen, der alles Gute in ihm getötet und ihn zu einem unberechenbaren Verfechter alter Werte gemacht hatte. Matthew Colfax war ein gefährlicher Mann. „Sie müssen ihn finden“, sagte Greg, „bevor er noch mehr Schaden anrichten kann.“ „Keine Sorge, das werden wir“, meinte Hunter. „Und ich werde mich darum kümmern, daß er einen fairen Prozeß bekommt.“ Unmerklich schüttelte Greg den Kopf. Er wußte, daß sein Vater sich nicht freiwillig in die Hände eines Gesetzes geben würde, das er zutiefst verachtete. Es war das Gesetz des weißen Mannes. Und er würde sich ihm entziehen, wenn er das konnte. Hunter wandte sich an Bill Lighthouse. „Du hattest übrigens recht, die Wilde Frau gab es tatsächlich. Wir kannten sie alle. Es war Flora Parker. Sie war die Geliebte von Matthew Colfax. Sie waren zusammen, als ich sie am Geländer überraschte. Bei ihrem Versuch zu fliehen, stürzte sie von den Klippen.“ Greg sah zu Boden. Sein Vater und Flora Parker. Auch davon hatte er nicht die geringste Ahnung gehabt. War er denn wirklich so blind gewesen gegenüber den Dingen, die um ihn herum passierten? Hilfesuchend sah er sich nach Hanna um. Sie war alles, woran er sich noch festhalten konnte, nachdem seine Welt zusammengebrochen war. Müdigkeit und Trauer übermannten ihn. Lighthouse bemerkte es. Er langte in seine Tasche und reichte Greg einen Schlüssel. „Hier!“ sagte er, „Fahrt zu mir nach Hause und legt euch ins Gästezimmer. Ihr habt den Schlaf dringend nötig.“ Greg schüttelte geistesabwesend den Kopf. „Nun geh schon“, meinte Bill, „für dich gibt es hier nichts mehr zu tun. Über alles weitere reden wir morgen.“ 256
*** Matthew Colfax rannte ziellos durch den Wald. Zweige schlugen ihm ins Gesicht und Dornen rissen an seinen Kleidern. Seine Lungen schmerzten, das Herz raste. Schließlich endete seine Flucht am Rand der Steilküste. Er ließ sich auf den feuchten Boden fallen, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Erde drang ihm in Mund und Nase. Er schmeckte den Boden seiner Vergangenheit, der plötzlich bitter wurde, so daß er hustete und um sich spie. Sein Körper bebte von der körperlichen Anstrengung, aber sein Geist war vollkommen klar. Es war der Augenblick, in dem er begriff, daß er keine Zukunft mehr hatte. Flora Parker war tot, und mit ihr waren auch all seine Hoffnungen auf einen weiteren Sohn gestorben. Greg würde vielleicht Totempfähle schnitzen, und den stolzen Namen Colfax mit Schande bedecken, indem er ihn an hellhäutigen Kinder weitergab. Seine Privilegien hatte er verwirkt. Und Jim! Matthew erinnerte sich sehr genau an jenen Abend, als Jim Claplanhoo vor ihm gestanden hatte. In seinem Gesicht die Freude darüber, endlich wieder zu Hause zu sein. Colfax hatte seinen Wahlsohn in die Arme geschlossen. Er war sicher gewesen, daß Jim endlich Vernunft angenommen hatte. Aber dann war Jim Claplanhoo mit seinen Plänen und Wünschen herausgerückt. Sie hatten sich gestritten und als Jim ihm den Rücken zuwandte, hatte er zugeschlagen. Dann hatte er den Bewußtlosen gefesselt und zum Sooes Beach gebracht, wo das neue Haus im Rohbau stand. Das Loch für den Totempfahl war schon ausgehoben worden, er brauchte es nur noch etwas zu vertiefen. Matthew Colfax krümmte sich, denn jetzt war er tief unten an den Wurzeln der Erinnerung angelangt. Jim redete 257
mit ihm, als er Erde über ihn schaufelte. Aber er hörte nicht, was sein Wahlsohn sagte. Seine Ohren waren taub gegenüber den erdigen Worten des jungen Mannes, der seine Vergangenheit und seine Zukunft bedroht hatte. „Ich mußte es tun, Jim“, flüsterte Colfax, nun selbst den Geschmack der Erde im Mund. „Ich mußte es tun.“ Er erhob sich langsam und lief ein paar Schritte, bis er direkt am Rand der Klippen stand. Wenn ein Mensch den Punkt erreicht hatte, da ihm das Töten als einziger Ausweg erschien, verdrehte sich etwas in seinem Inneren, und er wurde zu einer anderen Person. Er war nicht mehr derselbe. Sein Haß war ihm wichtiger gewesen als sein Leben. Matthew Colfax hatte immer noch Macht, aber nun war der Tod unmittelbar daran beteiligt. Seine Gedanken waren erfüllt von grausamer Finsternis. Sein Blick suchte den Horizont – aber das Meer und die Nacht schienen eins geworden. Er trat einen weiten Schritt nach vorn, um sich mit ihnen zu vereinen. *** Greg und Hanna lagen eng aneinandergepreßt im schmalen Bett von Bill Lighthouse Gästezimmer und versuchten, Ruhe zu finden. Zeit rann durch die Dunkelheit wie feiner Sand. Greg wußte, daß Hanna nicht schlief. Ihr Atem ging unruhig, ihre Gedanken bestimmten den Rhythmus. Sie hatte Angst, einzuschlafen, weil dann die Träume kamen, und Angst, wach zu bleiben, weil die Realität noch schrecklicher war. Wie gern hätte er etwas gesagt, das ihr dabei geholfen hätte, das Geschehene besser zu verstehen. Aber er verstand die Welt selbst nicht mehr. Sein Vater war ein Mann, der vollkommen die Orientierung verloren hatte. Um eine sinnentleerte Ordnung ein258
zuhalten, war er zum Mörder geworden. Er hatte kaltblütig jenen Menschen getötet, der die gebündelte Last seiner Hoffnungen trug. Aber frei von Schuld war keiner von ihnen, auch Jim nicht. Mit seiner Besessenheit hatte er das Leben vieler Menschen durcheinandergebracht. Die Gedanken schienen nicht nur durch Gregs Kopf, sondern durch seinen ganzen Körper zu wirbeln. Immer wieder mußte er an diesen verrückten Traum denken, und daß er sich bewahrheitet hatte. Nur daß Jim nicht mehr redete. Aber vielleicht hatte Matthew ihn doch lebendig unter dem Pfahl begraben. Was waren Jim Claplanhoos letzte Gedanken gewesen, als feuchte, schwarze Erde in seine Nase und seinen Mund drang, weil er verzweifelt versuchte, zu schreien und zu atmen? Was willst du mir sagen, Jim? dachte Greg und stöhnte leise. Hanna stützte sich auf ihren linken Arm und versuchte in der Dunkelheit Gregs Gesicht zu erkennen. „Ich kann nicht schlafen“, sagte sie, „weil ich es nicht verstehe.“ Greg strich mit der Hand sanft über ihr Haar. „Manchmal geschehen Dinge“, antwortete er leise, „die entziehen sich unserem Verstand. Ich bin ein Makah, aber ich kann nicht nachvollziehen, was sich in den Köpfen dieser beiden Männer abgespielt hat. Wir müssen versuchen, es so zu akzeptieren, wie es gekommen ist.“ Er seufzte. „Jim war wie ein Fluß ohne Ufer, er riß alles mit, was ihm zu nahe kam.“ „Wie konnte er Annie das antun, und einfach fortgehen?“ „Vielleicht“, antwortete Greg, „fürchtete er sich davor, seine Lebenslüge zuzugeben und dadurch jene Menschen zu verlieren, die er liebte. Möglicherweise sah er darin einen Ausweg, dem Chaos zu entkommen, das sich über ihm zusammenbraute. Vielleicht hatte er es satt, sich zu verstellen. Aber am Ende machte ihn die Gleichgültigkeit der fremden Menschen gegenüber den Dingen, die ihm wichtig waren, und die sein ganzes bisheriges Leben bestimmt hatten, bei259
nahe verrückt.“ Tränen strömten über Hannas Gesicht. Ganz deutlich sah sie Jims Gesicht vor sich, sein schönes, trauriges Lachen. Wie sehr sie ihn geliebt hatte. Vielleicht kann man die Vergangenheit bewältigen, dachte sie, aber was danach kommt, kann einem den Boden unter den Füßen wegziehen. „Das halbe Jahr in Deutschland veränderte ihn“, fuhr Greg fort. „Ohne es zu merken, hatte er sich innerlich von jenen Zwängen befreit, die er sich selbst auferlegt hatte. Aus dem Würgegriff unserer jahrhundertealten Traditionen, bei deren Einhaltung er immer auf der Seite der Verlierer stehen würde. An deiner Seite war er in die Gegenwart zurückgekehrt. Aber nun hatte er keinerlei Schutz mehr, weil er seine Identität aufgegeben hatte. Und so kostete seine innere Befreiung ihn das Leben.“ „Ich weiß nicht, was ich meiner Tochter erzählen soll“, sagte sie. „Daß ihr Großvater ihren Vater getötet hat?“ „Natürlich nicht. Matthew Colfax ist nicht ihr Großvater.“ „Nein. Ihr richtiger Großvater lebt auf Nootka Island und hat keine Ahnung von der Existenz seiner Enkeltochter.“ Sie schwieg. „Laß den Dingen einfach ihren Lauf, Hanna. Erzähle deiner Tochter, daß sie ihren Vater nicht auf die übliche Weise kennenlernen kann. Nicht als Mann, der sie auf seinen Schultern tragen wird und ihr Geschichten erzählt. Sie wird ihn auf andere Weise kennenlernen.“ „Wie?“ fragte sie verwundert. „Bring Ola hierher nach Neah Bay, mehr brauchst du nicht zu tun. Dieses Land ist in ihrem Blut und es wird durch den Wind, die Wellen und die Bäume zu ihr sprechen. Vielleicht wird es Ola dann genauso ergehen, wie mir mit meinem Urgroßvater, dem Großvater meiner Mutter. Er war ein großer Walfänger. Und obwohl ich ihn nie kennenlernte, ist er ein Teil meiner Erinnerung. Gib Ola die Chance, 260
Erinnerungen an ihre Vorfahren zu haben. Laß sie ein ganzer Mensch werden.“ Die Nacht trennte sich von den Körpern, die erst vor wenigen Stunden Schlaf gefunden hatten. Das Morgenlicht streifte ihre Trauer. Draußen schien die Sonne, als es an die Tür klopfte. Greg zog seinen Arm unter Hannas Nacken hervor. Er schlüpfte in seine Jeans und öffnete. Vor der Tür stand Bill Lighthouse mit übermüdetem Gesicht und dunklen Ringen unter den Augen. Seit er Sheriff in Neah Bay war, hatte er zweimal Angehörigen die Nachricht vom Tod eines geliebten Menschen überbringen müssen. Beide Male war es um Autounfälle durch Alkohol gegangen und er hatte die Leute nur flüchtig gekannt. Diesmal war es anders. Greg Colfax war sein Freund. Aber er wußte auch, daß er die Nachricht einem Mann überbrachte, der die Wahrheit schon kannte. Lighthouse schluckte. „Ich habe gerade einen Anruf bekommen, Greg“, sagte er. „Sie haben ihn vor einer Viertelstunde am Strand gefunden.“ „Er ist tot“, stellte Greg fest. Er fühlte nichts als Leere im Kopf. Lighthouse nickte. In seinem müden Gesicht spiegelte sich tiefes Bedauern. Er wußte, daß der junge Pfahlschnitzer nicht nur seinen Vater und seinen Bruder zu betrauern hatte. Greg Colfax hatte in dieser Nacht auch einen großen Teil dessen verloren, was sein Leben als Makah ausgemacht hatte. Er war aus dem Gleichgewicht, er würde seine innere Harmonie erst wieder finden müssen, wie immer er das auch anstellte. Greg wandte sich um und warf einen Blick auf Hanna, die ihn verständnislos anschaute. „Wir ziehen uns nur an“, sagte er dann zu Lighthouse gewandt. Bill nickte und Colfax verschloß die Tür. „Mein Vater ist tot“, sagte er zu Hanna, ohne jegliche Emotion in der Stimme. „Ich nehme an, daß das sein eige261
ner Wille war.“ Er zog sein Jeanshemd über das T-Shirt und knöpfte es zu. „Der Chief wird noch einige Fragen an mich haben. Kommst du mit?“ Obwohl ihre Glieder bleischwer waren, quälte sich Hanna aus dem Bett und zog sich an. Lighthouse hatte in der Zwischenzeit Kaffee gekocht, und sie tranken jeder einen Becher, bevor sie ins Büro des Polizeichefs fuhren. Oren Hunter erwartete sie. Auch ihm sah man an, daß ihm die Ungeheuerlichkeiten der vergangenen Nacht noch im Nacken saßen. Aber er schien auch erleichtert, daß nun alles vorbei war. Sein linker Zeh hatte aufgehört zu Kribbeln. „Ist er ertrunken?“ fragte Greg den Chief. Hunter schüttelte den Kopf. „Er war ein guter Schwimmer“, meinte Greg hilflos. Hunter starrte auf seine Hände. „Er stürzte von den Klippen. Ich weiß nicht, ob er gefallen oder gesprungen ist.“ „Muß ich ihn identifizieren?“ „Nein, das habe ich selbst getan. Aber wenn du ihn noch einmal sehen möchtest …“ Greg nickte, was Hanna verwunderte. Hunter erhob sich schwerfällig und bedeutete Greg, daß er mit nach draußen kommen sollte, wo bereits der Leichenwagen stand. Der Fahrer wartete nur noch auf ein Zeichen des Polizeichefs. Bill Lighthouse sah Hanna an. „Es tut mir leid, Miss Schill, daß alles so gekommen ist. – Werden Sie jetzt abreisen?“ Hanna lächelte müde. „Nein“, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. „Ich habe noch eine Woche Zeit bis zu meinem Rückflug. So lange werde ich hierbleiben, bei Greg.“ Sie musterte Lighthouse eindringlich. „Natürlich nur, wenn er es auch will.“ „Greg Colfax wird einmal ein sehr geachteter Mann sein, weil er mit seiner Kunst Veränderungen bewirken kann“, erwiderte der Sheriff. „Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen?“ Sie verstand sehr gut. Es würde nicht leicht sein, den Platz 262
an seiner Seite würdig auszufüllen. Schon gar nicht, wenn man eine helle Haut hatte. Das war es, was Bill Lighthouse ihr hatte sagen wollen. Sie wußte aber auch, daß sie immer mit der Unterstützung des jungen Mannes rechnen konnte. Er hatte ihr ein Geschenk gemacht. „Vielen Dank für den wunderschönen geschnitzen Kamm, Bill“, sagte sie. „Ich weiß, wie wertvoll er ist.“ Er senkte verlegen den Kopf. „Der Miniaturpfahl“, meinte sie dann, um ihm aus seiner Verlegenheit zu helfen. „Hat er seinen Zweck erfüllt?“ Bill Lighthouse nickte geheimnisvoll. Der Polizeichef kam ins Büro zurück und stellte Hanna noch Fragen, die Jim Claplanhoo betrafen. Erstaunt stellte sie fest, daß sie ganz ruhig war beim beantworten. *** Der Körper von Jim Claplanhoo war schon zu stark skelettiert, als daß man hätte nachweisen können, ob er noch lebte, als sein Meister ihn unter dem Pfahl begrub. Einem Pfahl, der viel zu schwer war, als daß ihn ein einzelner Mann hätte aufstellen können. Jims Hände und Füße waren mit festen Stricken gebunden gewesen. Was sich tatsächlich in jener Nacht abgespielt hatte, würde immer nur Vermutung bleiben. Raum für die Phantasien der Bewohner von Neah Bay. Noch nach vielen Jahren würde man sich die Geschichte von Jim Claplanhoo, dem Pfahlschnitzer erzählen, der ein Nachfahre von Sklaven gewesen war. Auf dem Friedhof von Neah Bay wurden Matthew Colfax’ sterbliche Überreste in einem einfachen Holzsarg beerdigt. Das Grab lag neben dem seiner Frau Myrtel Colfax, Gregs Mutter. Aber auch Flora Parker ruhte nicht weit, sie war von ihrer Familie bereits am Vortag beerdigt worden. Nur eine kleine Gruppe von Menschen begleitete den 263
alten Pfahlschnitzer zu seiner letzten Ruhestätte. Greg und Hanna, Polizeichef Oren Hunter und seine Frau Hildred, Sheriff Bill Lighthouse, Grace und Gertrude Allabush und Annie mit ihrem Vater Shobid Ides. Sie waren die einzigen die wußten, wie tief die Verwundungen waren, die man sich gegenseitig zugefügt hatte. Aber der Tod barg immer beides in sich: Ein Ende, und einen neuen Anfang. Der Schamane, ein einfacher alter Mann in Cordhosen und Windjacke, reinigte Matthews Seele in einer Zeremonie und übergab sie dem Meer. Kostbare Amulette schlugen auf seiner Brust aneinander, das war auch alles, was ihn äußerlich als Schamanen auswies. Greg hoffte, daß der Geist seines Vater nun endlich jene Welt betrat, in der alle Menschen gleich sind. Er wünschte es sich sehr, denn dort würde Matthew Colfax seinem Ziehsohn Jim Claplanhoo wiederbegegnen. Vielleicht konnten sie einander verzeihen. Auch die Überlebenden unternahmen erste, zaghafte Versuche, einander zu verzeihen. Annie weinte, ihre Tränen rannen ihre Kehle entlang nach innen und wärmten ihr Herz. „Es tut mir leid“, sagte sie zu Hanna, „daß es so gekommen ist.“ „Mir auch. Ich hatte ja keine Ahnung, daß …“, aber Greg zog sie sanft fort, ehe sie den Satz zuende sprechen konnte. Er zeigte hinüber zur Straße, wo Paul Claplanhoo, Jims Bruder, gegen das Heck eines Leihwagens gelehnt stand und wartete. Greg und Hanna verabschiedeten sich von den anderen und gingen zu Paul. Er hatte seinen Vater mitgebracht. Der alte Mann schüttelte Greg die Hand und dann Hanna. Er ließ die junge Frau lange nicht los. Tränen standen in seinen Augen und er brachte kein Wort hervor. Schließlich sagte er: „Diesmal haben wir Jim endgültig verloren.“ Sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar hat264
te er im Nacken zu einem Zopf geflochten ebenso, wie Jim es manchmal getragen hatte. „In Ola wird er weiterleben“, erwiderte Hanna. Sie fuhren gemeinsam an den Strand. Greg war kein besserer Ort eingefallen, denn er hätte den alten Mann unmöglich in sein Haus führen können, vor dessen Eingang noch der Pfahl lag und das Loch klaffte. Sie einigten sich darauf, daß Jim Claplanhoo auf Nootka Island seine letzte Ruhe finden sollte. Dort war seine Mutter beerdigt, und dort lebte seine Familie, die nie aufgehört hatte, ihn zu lieben. Doch zuvor sollte gerichtsmedizinisch nachgewiesen werden, daß Ola seine leibliche Tochter war. Greg hatte darauf bestanden, denn er hielt es für wichtig, daß Ola später ihre Reservationsrechte wahrnehmen konnte, wenn sie das wollte. „Mein Vater hat viel Geld hinterlassen“, wandte sich Greg an Paul. „Einen Teil davon sollen deine Kinder bekommen. Irgendwann einmal werden sie es brauchen. Den Rest bekommt Ola, ich brauche nichts. Ich habe zwei gesunde Hände, damit kann ich mir gut meinen Lebensunterhalt verdienen.“ Hanna wollte protestieren, aber dann schwieg sie, weil sie erkannte, daß er seinen Entschluß nicht ändern würde. Paul nahm das Geschenk an, weil er wußte, daß es Gregs Schmerz lindern würde. Der alte Mann fragte: „Werde ich meine Enkeltochter sehen?“ „Ja“, sagte Hanna fest. „Ich werde Ola sobald wie möglich hierherbringen. Dann besuchen wir Sie und Ihre Familie auf Nootka Island. Sie wird sich freuen, ihren Großvater kennenzulernen.“ Diese Auskunft entlockte Jims Vater ein Lächeln, und sie versetzte Gregs Inneres in Aufruhr. Aber er ließ es sich nicht anmerken. Hanna würde also wiederkom265
men und Ola mitbringen. Langsam kamen die Dinge wieder in Ordnung. Sie hatten Jim gefunden, der wegen seiner Liebe sterben mußte. Und auch wenn sein Tod schmerzlich war, sinnlos war er nicht. Jim Claplanhoo hatte seine Ruhe gefunden und war am Ende dorthin zurückgekehrt, wo er hingehörte. Hanna wußte nun, daß er nicht fortgegangen war, weil er sie nicht mehr wollte. Er war aufgehalten worden. Ola hatte einen Großvater, Onkel und Tante und drei dunkelhäutige Cousins und Cousinen bekommen. Und er, Greg Colfax …? Er hatte nun die Ehre und die Pflicht, das Erbe seiner Ahnen weiterzugeben. Er wünschte sich einen Sohn, dem er alle Zärtlichkeit der Welt schenken würde. Und er wollte ihn lehren, wie man Otter, Wal und Donnervogel schnitzt. Dabei sollte es niemals Zwang und starre Regeln geben, und keine Vergangenheit, die eine Liebe erdrücken konnte. Greg Colfax wollte den schmalen Pfad zwischen Tradition und modernem Leben gehen, und nach beiden Seiten blickend, täglich aufs Neue seine Wahl treffen. *** In der folgenden Nacht hatte Greg eine Vision. Jim stand neben seinem Bett und forderte ihn durch Gesten auf, ihm zu folgen. Greg lief hinter dem wortlosen Jim her, bis sie in die Werkstatt des Meisterschnitzers gelangten. Es war Nacht, Neah Bay schlief und Greg war außer Atem. Jim nicht. Als hätte ihm der weite Lauf überhaupt nichts ausgemacht. Sie standen vor dem angezeichneten und grob bearbeiteten Pfahl, und Greg wartete, was als nächstes passieren würde. Er sah Jim fragend an, der lächelnd auf die Werkzeuge zeigte, die fein säuberlich nebeneinander aufgereiht lagen. Es war Jims Werkzeug, von dem er sich niemals getrennt hatte. Aber Greg hatte damit gearbeitet, seit er nach Neah Bay zu266
rückgekehrt war. Es hätte ihn stutzig machen müssen. War es das, was Jim ihm sagen wollte? Aber Jim lächelte nur, und nickte ihm aufmunternd zu. Da begriff Greg, daß er arbeiten sollte. Er sollte schnitzen unter den wachsamen Augen seines Bruders. Zögernd griff er nach der Ellenbogenaxt und begann den Stamm zu behauen. Mit herabhängenden Armen stand Jim dabei und sah ihm zu. Manchmal schüttelte er ernst den Kopf und zeigte Greg, wenn er etwas falsch gemacht hatte. Greg vergaß die Zeit und er vergaß Jim, so sehr vertiefte er sich in seine Arbeit. Er arbeitete die restlichen angezeichneten Figuren aus dem Holz, gab ihnen Augen und Münder. Unermüdlich fielen Späne. Schon eine ganze Weile hatte Jim nicht mehr helfend eingegriffen. Als Greg von seiner Arbeit aufsah, blickte er in Jims zufrieden lächelndes Gesicht. Und dann wandte sich Jim um und ging fort. „Laß mich nicht allein“, wollte Greg schreien, aber aus seinem Mund kam nur ein heiseres Flüstern. Jim ging und irgendwann wurde seine große Gestalt eins mit den Nebeln, die dem Morgengrauen vorausgingen. Und als Greg sich wieder seinem Pfahl zuwandte, sah er, wie seine Figuren lebendig wurden. Sie lösten sich aus dem Holz und stiegen zum Himmel, dorthin, wo die Wipfel des nahen Waldes in flammendem Morgenrot lagen. Vor dem brennenden Hintergrund bildeten sie eine Reihe stilisierter schwarzer Gestalten. Bär, Otter, Wolf, Lachs und zuletzt der Rabe. Den Kopf im Nacken starrte Greg auf die Gestalten, denen er mit seinen Händen Leben eingehaucht hatte, und die zu mächtigen Symbolen am Himmel geworden waren. *** Nach dem Erwachen ging Greg gleich am Morgen in seine Werkstatt, getragen von seiner Vision. Jim hatte ihm sein Werkzeug und sein Können überlassen, bevor er sich end267
gültig von ihm verabschiedet hatte. Jetzt war Greg der einzige Cha-la-bush in Neah Bay, und seine Aufgabe würde es sein, ein Vermächtnis zu erfüllen. Er mußte ein guter Pfahlschnitzer werden, einer, dessen Blut sich mit der Maserung des Holzes vermischte, während er arbeitete. Auf diese Weise konnte er auch seine innere Harmonie wiederfinden. Nie war er sich seiner Fähigkeiten so sicher wie in diesem Augenblick. Die Vision war eindeutig gewesen. In seinen Händen lag die Kraft, Dinge lebendig werden zu lassen. Hanna begleitete Greg. Er war den ganzen Morgen stumm gewesen, aber sie ahnte, was in ihm vorging. Es war lange her, daß sie bei der Entstehung eines Totempfahls zugesehen hatte. Als Greg die Ellenbogenaxt mit dem kunstvoll verzierten Griff in der Hand wog, wußte sie, es würde kein Arbeiten sein, sondern das Zelebrieren einer Zeremonie. Späne fielen. Und der Stamm der Zeder begann seine Geschichte zu erzählen. An manchen Stellen waren die Jahresringe dichter und das Holz härter. Das waren Jahre, in denen es nicht so viel geregnet hatte. Greg Colfax brauchte mehr Kraft, um das Holz dieser Jahre zu schneiden. An anderen Stellen war es weicher. Er versuchte, seine Reliefs dem Verlauf der Maserung anzupassen. Der Stamm sagte ihm, was er tun sollte. Mal schneiden, mal stehen lassen. Während Greg Colfax die Zeder bearbeitete, hörte er das Tosen des Meeres aus vergangenen Jahrhunderten. Das stetige Auf und Ab von Ebbe und Flut, das die Küste formte. Er hörte die Trommeln und den Gesang seines Volkes, wenn sie ein Fest feierten. Und die Klagen der Überlebenden, wenn eine von den Weißen eingeschleppte Epidemie so viele von ihnen dahingerafft hatte. Er hörte das Weinen der Frauen, wenn ihre Männer vom Walfang nicht zurückkehrten, oder die Schreie der Kinder, wenn sie von ihren Eltern fortge268
nommen und auf weit entfernte Schulen geschickt wurden. Wie in Trance machte er ein paar Schritte zurück, um aus der Entfernung zu sehen, wie der Baum seine Hand führte. Und er war selbst überrascht, was er da geschaffen hatte. Die Skulptur ging ihre eigenen Wege. Der Bär am Fuße des Pfahls hatte ein breites Maul und große Zähne. Der Winkel zwischen Stirn und Schnauze verlief abrupt, die Nase war groß und gerundet. Er schnitzte an den großen, krallenbewehrten Pfoten. Der Bär war ein starkes Wappentier. Würde er sich am Ende tatsächlich davonmachen, so wie es in seinem Traum geschehen war? Bereits jetzt wurde Colfax klar, daß er diesen Pfahl nicht an das weiße Ehepaar verkaufen konnte. Für sie würde er einen anderen schnitzen. Diesen hier würde er anstelle des alten vor sein Haus stellen. Damit seine Schutzgeister es bewachten. Als er sich wieder über den Stamm der Zeder beugte und ihren Duft einsog, hörte er das Lachen seiner Mutter. Es war ein warmes, kullerndes Lachen, das ihm stets das Gefühl von Geborgenheit gegeben hatte. In seinem Inneren kam etwas zum Fließen. Er schien nicht mehr von dieser Welt zu sein. Völlig entrückt hörte er auf das Material und die Stimmen in sich selbst. Als er sich zwischendurch von seiner Arbeit aufrichtete, bemerkte Hanna den Tränenstrom, der ihm unaufhaltsam über die Wangen floß, und der das Holz der Zeder tränkte. Er schnitzte den Otter und den Wolf, das Hauptwappen seiner Familie. Ein Rabe flog heran und ließ sich am Ende des Stammes nieder, dort, wo sein Ebenbild im Entstehen war. Er stieß einen knarrenden Laut aus und hüpfte über die geschnitzen Figuren, bis er bei Greg angelangt war. Hanna schlang die Arme noch fester um ihre angezogenen Knie und wagte sich kaum zu rühren. In ihrem Blick lag Bewunderung und Begehren. Auf Gregs Armen zeichneten sich scharf die Muskeln ab, wenn er das gerade Messer 269
ansetzte, um tiefe Schnitte zu machen. Sein schwarzes Unterhemd klebte von Schweiß. Manchmal hob er den Kopf und sah in ihre Richtung. Aber er erkannte sie nicht, sondern schien durch sie hindurchzublicken. Angst überkam sie, und der Gedanke davonzulaufen. Würde sie ihn je wirklich verstehen? Konnte sie ihm geben, was er bisher bei keiner anderen gefunden hatte? Nahm er sie überhaupt wahr? Aber dann, als er die Rundungen der Skulpturen mit feinem Sandpapier schliff, und der Pfahl fast vollendet war, schien der Baum mit seiner Geschichte in der Gegenwart angekommen zu sein. Und Greg erinnerte sich daran, daß es da noch jemanden gab, der ihm viel bedeutete. Viel mehr, als er es sich bis jetzt eingestanden hatte. Ganz ruhig legte er sein Werkzeug aus den Händen und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß aus der Stirn. Er ging um den Pfahl herum und blieb vor Hanna stehen. Sie sah ihn fragend an. Schließlich sagte er: „Heute nacht war ich mit Jim hier. Ich habe gearbeitet und er hat zugesehen, manchmal half er mir auch.“ Hanna erwiderte nichts. „Die Tiere sind lebendig geworden und an den Rand des Himmels gewandert“, sagte er, und es fiel ihm schwer, denn er wußte, daß sie damit nichts anfangen konnte. „Dann bist du also jetzt ein Pfahlschnitzer mit einer Vision“, meinte sie lächelnd. Er nickte unmerklich – verblüfft. „Ich freue mich für dich“, sagte Hanna, obwohl die Angst, ihn zu verlieren, die Freude überlagerte. Greg blickte in ihre Augen, die jetzt dunkel waren wie das Meer, wenn es stürmt. „Ich wünsche mir, daß du hierbleibst, aber ich kann dich nicht zwingen.“ Sie lächelte zaghaft. „Vor einigen Jahren beschloß ich, hierherzugehen und ein neues Leben zu beginnen. Es kam alles anders, aber ich könnte es noch einmal versuchen.“ 270
Er breitete die Hände aus. Sein Haar glänzte blauschwarz in der Sonne, wie das Gefieder des Raben. „Ich dachte, nach all dem, was geschehen ist, und was du jetzt weißt, könntest du nicht …“ Er stockte. Hanna legte den Kopf schief, und die Sonne voll im Gesicht, blinzelte sie ihn an. „Vielleicht werde ich niemals alles verstehen, aber ich kann es versuchen“, sagte sie. Es war dieses wunderbare Stück Erde, dessen Rhythmus Menschen und Dinge gleichermaßen durchströmte. Er hatte sie erfaßt, vermutlich schon, als sie dieses Land zum ersten Mal betreten hatte. Und offenbar gab es nichts, was diesen Rhythmus wieder auslöschen konnte. Sie hatte einen Blick in Abgründe getan, aber sie würde niemals fliehen. „Ich bin am Ende meiner Suche …“, sie schluckte und blickte zur Seite. „… und am Anfang einer großen Reise.“ „Es wird nicht leicht sein“, sagte Greg. „Das war es nie.“ Er legte seine Hand auf ihre Schulter und spürte, wie sich ein tiefer Frieden in seinem Inneren ausbreitete. Der Rabe hob seine Flügel und flog lautlos davon. Ende
271
Benutzte Quellen für „Der Pfahlschnitzer“ DONNERVOGEL UND RAUBWAL
SPIRIT TRANSFORMED
Indianische Kunst der Nordwestküste
A Journey from Tree to Totem / Roy
Nordamerikas /Katalog der Ausstellung zum
Henry Vickers / photographed by Bob
100jährigen Bestehen des Hamburgischen
Herger / Raincoast Books Vancouver 1996
Museums für Völkerkunde von Wolfgang Haberland / Hamburgisches Museum für Völkerkunde
und
Christians
Verlag,
Hamburg 1979
DER GROSSE BERTELSMANN BILDATLAS INDIANER /
Die Ureinwohner Amerikas,
Geschichte, Kulturen, Völker und Stämme / Bertelsmann Lexikon Verlag 1991
TOTEMPFAHL UND MASKENTANZ
Die Indianer der pazifischen Nordwest-
PROGROM 183
küste / Norman Bancroft-Hunt und Werner
Juni/Juli 1995 (Lakota/USA) / Artikel:
Forman / Verlag Herder, Freiburg im Breis-
Rückgabe von Kulturgütern / Claudia Roch
gau 1980 WIR SIND EIN TEIL DER ERDE PORTRAIT IN TIME:
Die Rede des Häuptlings Seattle an den
Photographs of the Makah by Samuel
Präsidenten der Vereinigten Staaten von
G. Morsc, 1896 - 1903 / Published by the
Amerika im Jahre 1855 / Walter-Verlag
Makah Cultural and Research Center 1987
Zürich und Düsseldorf
NATIONAL GEOGRAPHIC
Oktober 1991 / 1491 AMERICA before COLUMBUS
KULTURGESCHICHTE NORDAMERIKAS
DER
INDIANER
/ Hans Läng GONDROM
Verlag Gmbh & Co. KG, Bindlach 1993
MAKAH CULTURAL AND RESEARCH CENTER
DIE MYTHOLOGIE DER INDIANER NORD-
Museums Exhibit Leaflet / Copyright
AMERIKAS / John Bierhorst / Weltbild Verlag
1979 The Makah Tribal Council
272
1993
273