Heinz G. Konsalik
Der pfeifende Mörder
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Der pfeifende Mörder Mit ihm starb 1953 d...
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Heinz G. Konsalik
Der pfeifende Mörder
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Der pfeifende Mörder Mit ihm starb 1953 der größte Mörder Hollands. In den Niederlanden ist sein Name noch heute in aller Munde, seine Geschichte wird immer wieder kolportiert. Es war ein Fall, der die Polizei monatelang beschäftigte. Sie kannte den Mann – doch nicht als den »pfeifenden Mörder«. ISBN: 3-453-01355-7 Verlag: Heyne Erscheinungsjahr: 1981 Umschlagfoto: Photo Media Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
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Inhalt DER PFEIFENDE MÖRDER ......................................................... 3 DER GLÄSERNE SARG ........................................................... 149
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DER PFEIFENDE MÖRDER
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Die Hauptpersonen:
Ruth Kappel Maria Steufels Hendrikje Balder Grit Vonmeeren Lissa Tenboldt Erna Schagen Paul Leerdam Wilm Schouwen Uwe Hellmond Wilma Antje Peer van Hoest Dan Paldoorn
Jan Sehlke Ein Hafenarbeiter Die ›Rote Vera‹ Ein Landstreicher
Büroangestellte Modistin Kellnerin Hausgehilfin Haustochter Schülerin Kommissär sein Assistent Polizist seine Frau beider Tochter Fischer Schrottund Lumpenhändler, Bestattungsunternehmer Büroangestellter Hafenwirtin
Der Roman spielt in den Herbsttagen 1953 in Holland. Mit Rücksicht auf die noch lebenden Personen wurden die Namen geändert.
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Nebel – Nebel – Nebel Das flache Land der holländischen Küste ist im Nebel ein großer, endlos wirkender milchiger Fleck. Die nassen Bäume scheinen sich in ihm aufzulösen. Über die Deiche, vom Meer her, quellen die dicken Schwaden über die Straßen, Häuser, Wege, Gärten, Gräben und Felder. Selbst wenn man auf den Deichen steht, sieht man das Meer nicht mehr. Terndard, Holwerd, Ferwerd, St. Jakobi und Sexbierum, die kleinen Fischerstädte am westfriesischen Strand, liegen verborgen hinter den wallenden Schleiern der Feuchtigkeit. Von den wenigen Bäumen tropft es träge. In den Vorstädten der Stadt Leeuwarden brennen schon die Laternen; ihr Schein ergibt nur einen hellen Fleck, den der Nebel schon nach wenigen Schritten wieder verschluckt. Naß und glatt ist der Boden, wie mit Wachs überzogen. Ein ekelhafter Abend. Ruth Kappel lehnt sich an eine der Laternen und blickt auf die kleine runde Uhr an ihrem Handgelenk. Dann lauscht sie in den Nebel hinein und zieht fröstelnd die Schultern zusammen. Ein hellgrauer Wollmantel umhüllt ihre hohe, schlanke Gestalt. Unter einer grauen Baskenmütze quellen lange blonde Haare hervor. Er kommt nicht, denkt sie enttäuscht. Und er war so nett zu mir… vor vier Tagen im ›Astoria‹, einem der Kinos Leeuwardens. Er saß neben ihr in der Reihe und bot ihr von seiner Schokolade an; er plauderte nach der Vorstellung noch ein wenig mit ihr und bat sie mit einer fast jünglingshaften Scheu um ein Wiedersehen. 5
Nun steht sie hier an der Laterne, wo man sich treffen wollte, und der Nebel zerstört die Hoffnung auf einen schönen, glücklichen Abend. Ruth Kappel geht ein wenig hin und her. Ihre hohen Absätze klappern auf dem Pflaster. Aber es ist, als prallten die Laute gegen eine Wand aus Watte… sie werden von der grauweißen Masse verschluckt. Vielleicht eine falsche Laterne? denkt Ruth Kappel. Ihre Augen suchen. Dort… und dort… und da hinten… da sind helle Flecke… andere Laternen… viele Laternen, deren Aufgabe es ist, diese stille Gegend am Rand der Stadt zu erhellen. Ruth bleibt stehen, ein wenig vorgebeugt. Ihre Augen haben die stille Sehnsucht verloren, die in ihnen lag, als sie zu diesem Treffpunkt eilte… sofort vom Büro aus, denn es war ihr nicht mehr viel Zeit geblieben, wenn sie den netten Mann nicht warten lassen wollte. »Hallo!« ruft sie in den Nebel hinein. »Hallo, wo sind Sie?« Dann lauscht sie wieder angestrengt. Und plötzlich ist es ihr, als werde sie von einer Hand herumgerissen… durch den Nebel dringt ein fernes Pfeifen: eine kleine, lockende Liebesmelodie. Sie erinnert sich: »Wenn Nebel herrschen sollte, werde ich pfeifen«, hatte der junge Mann gesagt. »Ein kleines Liebeslied. Kennen Sie es?« Und er hatte ihr die paar Takte vorgepfiffen. Sie hatte es rührend naiv und doch so vertraut gefunden. Ruth Kappel lauscht in den Nebel. Sie steht an der falschen Laterne, das weiß sie jetzt. Und sie wird dem Pfeifen nachgehen, wenn sie festgestellt hat, aus welcher Richtung es durch den Nebel kommt. Da ist es plötzlich wieder… gar nicht weit entfernt. Ja, es ist das Liebeslied… Er sucht sie… »Hallo!« ruft sie noch einmal. »Hallo, ich komme, ich bin da!« Nun geht sie durch den Nebel, dem Pfeifen entgegen. Aber es 6
ist merkwürdig… je länger sie läuft, desto weiter entfernt sich das Liebeslied. Es ist, als weiche der Mann vor ihr zurück, als locke er sie tiefer in den Nebel hinein, der Küste zu. Ein wenig ängstlich geworden bleibt Ruth Kappel stehen. »Wo sind Sie denn?« ruft sie in den dicken Nebel hinein. Sie schaut sich um… Einsamkeit, Nacht, tropfende Bäume, in der Ferne hinter ihr der schwache Schein einer einzelnen Laterne. Ihr Herz schlägt plötzlich heftig. Sie will zurück zu dem Licht, aber noch immer lockt das Pfeifen. »Hallo!« ruft sie noch einmal. Da ist es still. Das Pfeifen ist verstummt. Ruth Kappel fährt sich mit den Händen an den Mund. Etwas Furchtsames ist in dieser Bewegung… oder gar schon etwas Entsetztes. Ich gehe zurück, denkt sie plötzlich. Ich will nach Hause. Was soll dieses dumme Pfeifen? Sie wendet sich um und legt ein paar Schritte zurück. Da stößt sie plötzlich einen erstickten Laut aus. Von hinten hat sich eine breite Hand um ihren Hals gelegt, die Finger drücken schnell und mit unheimlicher Kraft gegen ihre Kehle. Sie will noch einmal schreien, sie schlägt mit den Armen um sich, sie tritt nach hinten… ein leises Lachen dringt ihr ins Ohr. Grauen steht in ihren Augen, Grauen und Todesangst. Dann prallt ein harter Gegenstand gegen ihren Kopf, und der Nebel um sie wird schwarz, bis sie zusammensinkt und das Bewußtsein verliert. In Leeuwarden eilen die Menschen von ihren Arbeitsstätten nach Hause. Die Filmtheater schicken sich an, ihre Kassen zu öffnen. In den Wohnungen kocht das Abendessen auf den Herden. Auch die Häuser der Vorstädte, verborgen im dicken Nebel, füllen sich mit Leben. Der Deichwärter geht seine Strecke ab und dringt vor bis zum Meer, um den gegen die See errichteten Wall zu prüfen. Er hat nur Augen für die Schäden an den Steinwänden seiner Deiche. Er sieht nur die Löcher und die eingesunkenen Stellen, die Wunden, die das Meer dem ewig um seine Existenz ringenden Land schlägt. 7
50 Meter vom Wärter entfernt, auf dem Deich, steht sprungbereit ein Mann und lauscht auf die Schritte des Wärters, die sich langsam entfernen. Dann bückt sich der Fremde und zerrt etwas vom Boden hoch. Und Nebel hüllt ihn ein, als er hinuntersteigt zum Meer, das nie ermüdend über den flachen Sandstand klatscht… »Festhalten!« schreit der Fischer Peer van Hoest seinem Gehilfen zu. Er lehnt sich an die Bordwand des kleinen Fischkutters, hat die Beine in das Tauwerk gestemmt und umklammert mit beiden Fäusten das kurze Schleppnetz. »Festhalten!« schreit er noch einmal und setzt hinzu: »Und langsam hieven!« Der Gehilfe keucht. Schweiß läuft ihm von der Stirn und den Wangen in den Kragen seines Ölzeugs. Aber seine Hände fassen zu und umklammern den Netzrand. Das Boot schaukelt in der schwachen Dünung. Der gedrosselte Motor tuckert unten im Rumpf. Man spürt das Vibrieren durch die Deckplanken unter den Fußsohlen. Drei Tage waren sie draußen auf See zum Fang… mitten in der ›dicken Suppe‹, wie Peer van Hoest den Nebel nennt. Sie hatten Glück, kommen mit voller Ladung zurück, und der Markt in Leeuwarden wartet auf sie. Aber was sie jetzt im Netz haben, übertrifft alles Bisherige, das muß ein toller Brocken sein, denn er zieht das Netz immer wieder in die See und läßt die Finger klamm und starr werden. »Ruckweise, ruckweise!« schreit van Hoest. »Sonst geht das Netz zum Teufel!« Sie ziehen und haken die Netzränder an der Bordwand ein; eine kleine Winde faßt das Schleppseil, sie kreischt, während van Hoest ihre Kurbel dreht, sie schreit fast bei jeder Umdrehung… das Netz kommt… langsam, schwer… 8
»Halt!« schreit plötzlich der Gehilfe. Er steht an der Bordwand und blickt mit aufgerissenen Augen hinunter aufs Wasser. Seine Lippen zucken. »Halt, Peer!« schreit er wieder, als der Fischer weiter die Kurbel der Winde dreht. »Halt doch! Da ist was im Netz… mein Gott!« Peer van Hoest klemmt die Kurbel fest, damit sie nicht zurückschlagen kann und das Netz nicht wieder in die See klatscht; dann tritt er neben den Gehilfen. Was er sieht, macht ihn stumm und läßt ihn erbleichen. Ein Körper liegt zwischen Fischen in den engen Maschen. Ein nackter menschlicher Körper. Ein Frauenkörper. Ein Rumpf ohne Kopf… Peer van Hoest sieht kurz zur Seite. Der Gehilfe hat die Zähne in seine Unterlippe geschlagen. Er ist fast grün im Gesicht. »Großer Gott!« stößt Peer hervor. »Mir wird schlecht«, krächzt der Gehilfe. Peer, der Fischer, wendet den Blick von der Leiche, geht zurück zur Winde. »Einholen«, sagt er gepreßt. »Und sofort zurück nach Ferwerd.« Er dreht die Kurbel. Das Netz schwebt langsam empor. Klatschend fällt das herausstürzende Wasser auf das Deck. »Verfluchte Schweinerei!« murmelt Peer van Hoest. »Auf meinem jetzigen Fang werde ich wohl sitzenbleiben. Wer kauft denn einen Fisch, der mit einer Leiche Berührung hatte!« In Leeuwarden kaut der Kriminalkommissär Paul Leerdam am Ende seines Bleistifts. Sein Dienstzimmer, ein großer, nüchterner Raum, ist überheizt und erfüllt von Zigarrenqualm. Dem Kommissär gegenüber am runden Tisch sitzt Wilm Schouwen und blättert in einem Stapel eng beschriebener 9
Papiere. Ab und zu sehen sich die beiden Männer an, dann zuckt Leerdam die Schultern und kaut weiter an seinem Bleistift. »Der Körper des Mädchens zeigt außer der Trennung des Kopfes vom Rumpf keinerlei Spuren von Gewaltanwendung«, sagt Wilm Schouwen, Leerdams Gehilfe, in einem Amtsstil, dessen Sarkasmus nicht mehr zu steigern ist. »In der Tat!« Paul Leerdam schneidet eine Grimasse. »Außer der Trennung des Kopfes vom Rumpf…« »Die Untersuchung hat ergeben, daß neben dem Mord ein Sexualverbrechen vorliegt, denn einige Anzeichen deuten darauf hin…« »Nach oder vor dem Mord?« unterbricht der Kommissär. »Wohl vor dem Mord. Da uns der Kopf fehlt, können wir nur annehmen, daß der Mörder das Mädchen betäubte, sich an ihm verging und dann erst tötete, indem er ihm den Kopf…« »Schon gut. So hübsch ist das nicht, daß ich es dauernd hören möchte.« Leerdam, ein großer, schwerer Mann mit dem Gesicht eines Boxers, erhebt sich und geht an eine Karte Westfrieslands, die an der Wand des Zimmers hängt. »In der See bei Ferwerd wurde die Leiche aus dem Wasser geholt, und zwar von dem Fischer Peer van Hoest. Was ist das für ein Mann?« »Ein Fischer wie tausend andere an der Küste. Unbescholten, ehrlich, arbeitsam, verheiratet, drei Kinder. Alter: 55 Jahre.« »Keine Verdachtsmomente?« »Überhaupt keine.« Paul Leerdam kratzt sich am Kopf. »Ist jemand aus der Umgebung Leeuwarden als vermißt gemeldet worden?« »Bis heute nicht.« Schouwen, der Assistent, ein langer, dürrer Mann von 32 Jahren, blätterte wieder in den Papieren. »Die Obduktion hat ergeben, daß die Tote vor etwa drei Tagen ins Meer geworfen wurde. Damit steht auch die ungefähre Mordzeit fest. Was versprechen Sie sich von einem Fahndungsaufruf in 10
der Öffentlichkeit?« »Nichts.« Leerdam wendet sich von der Karte ab und geht in dem großen, heißen Raum hin und her. »Wir wollen die Bevölkerung vorläufig aus dem Spiel lassen. Bis heute weiß sie von dem Mord nichts, nicht einmal die Presse hat davon Wind bekommen. Der Mörder wiegt sich also in Sicherheit. Er ahnt nicht, daß wir sein Opfer bereits in der Anatomie haben. Das kann für uns von Vorteil sein. Wichtig ist natürlich, daß wir rasch herauskriegen, wer die Tote ist…« Er hebt die Schultern und lächelt grimmig. »Vielleicht angeln wir uns in deren unmittelbarer Umgebung den Mörder. Hoffen wir das.« Wilm Schouwen läßt vom Aktenstück ab und schaut an die Decke. »Wir wissen jedenfalls so viel, daß es kein Mann ist, der über anatomische Kenntnisse verfügt. Der Kopf ist mit roher Gewalt, wahrscheinlich mit einem Beil, einfach abgeschlagen worden!« Leerdam verzieht den Mund. »Sie wollen damit sagen, daß Chirurgen, vielleicht sogar auch schon Metzger, als mutmaßliche Täter ausscheiden. Tierärzte würde ich auch noch hinzunehmen. Wie viele Chirurgen, Metzger und Tierärzte gibt’s in Holland? Tausende, hoffe ich. Ich sage ›hoffe ich‹, damit der Rest, der übrigbleibt, nicht so groß ist und uns dadurch die Suche erleichtert.« Leerdams Ironie erzielt Wirkung. Wilm Schouwen zeigt eine beleidigte Miene. Er erhebt sich. Er sieht zur Uhr, sie zeigt die achte Abendstunde. »Soll ich den Fall schon dem Distriktkommissär in Groningen zur Übernahme melden?« Paul Leerdam fährt herum. »Sind Sie verrückt? Gleich zu Beginn ein solches Armutszeugnis? Wenn Sie sich nicht zutrauen, den Fall zu klären – ich schon! Wir lassen die ganze Küste absuchen, Schouwen. Von Ferwerd bis Oostinahorn. Der Kopf muß mit der Strömung getrieben sein und irgendwo dort an Land kommen. Und dann sehen wir weiter…« 11
Noch in dieser Nacht erhalten die Küstenboote die nötigen Instruktionen. Die Deichwärter werden informiert. Polizisten kämmen die Küste durch. Wie Schemen huschen sie durch den Nebel und kriechen auf dem Strand herum. Meter um Meter wird abgesucht. Aller Aufwand ist jedoch vergebens. Drei Tage lang findet sich nichts. Am vierten Tag nach dem Mord aber bringt ein Mann einen Kopf zu Paul Leerdam. Einen blutigen, blondlockigen Mädchenkopf. Er liegt auf dem Tisch des Kommissärs, bedeckt mit dem Sack, in dem er steckte. Der Mann, der ihn gefunden hat, in der Nähe von Ferwerd im Sand der Küste, heißt Dan Paldoorn. Aus dem Protokoll des Kommissärs Paul Leerdam, des Leiters der Kriminalpolizei in Leeuwarden/Westfriesland. Holland: Leeuwarden, den 17. September. Heute erschien der Lumpenund Schrotthändler Dan Paldoorn, 31 Jahre alt, nicht vorbestraft, wohnhaft in Leeuwarden, Gracht van Willem 17, und meldete, daß er bei der Schrottsuche an der Küste auf einen menschlichen Kopf stieß, den das Meer angespült hatte. Der Kopf lag am Ufer, halb bedeckt mit Muscheln und nassem Sand. Mijnher Paldoorn steckte den Kopf in einen Sack und brachte ihn sofort zur Kriminalstation. Mehr weiß er nicht zu sagen. Anmerkung: Dan Paldoorn ist ein unbescholtener Bürger unserer Stadt mit einem gewissen Ansehen. Er ist unverheiratet und sehr wohlhabend. Seinen Aussagen ist unbedingt Glauben zu schenken. Paul Leerdam, Kommissär. Den ersten Teil des Berichts unterschrieb der Lumpenhändler Dan Paldoorn. Er war ein mittelgroßer, schlanker, 12
sympathischer Mann mit einer weichen, fast zärtlichen Stimme und etwas femininen Bewegungen. Im ganzen besaß er ein Wesen, das vertrauenerweckend wirkte. Er war gar nicht der Typ eines Lumpenhändlers, sondern ein gewandter, moderner Geschäftsmann, der es verstand, aus dem, was andere Leute wegwarfen, ein gutes Geschäft zu machen. Er unterschrieb das Protokoll und blickte dann entsetzt auf den schaurigen kleinen Haufen, den der Sack und der Mädchenkopf unter demselben bildeten. »Kann ich jetzt gehen?« fragte er. »Ja. Und haben Sie besten Dank. Sie erwiesen uns einen großen Dienst.« Paul Leerdam begleitete Paldoorn hinaus auf den Korridor und suchte dann die Toilette auf. Als er nach wenigen Minuten in sein Dienstzimmer zurückkam, sagte er zu Wilm Schouwen: »Wir müssen sofort die Anatomie und den Erkennungsdienst benachrichtigen.« »Ist bereits geschehen. Prof. Vanmoelen wird gleich erscheinen. Auch eine Kommission aus Groningen dürfte schon unterwegs sein. Vanmoelen hat sie hinzugezogen, weil er glaubt, daß dieser Mord so ungewöhnlich und aufsehenerregend für Holland ist, daß die gesamte Polizei Westfrieslands damit befaßt werden sollte.« Leerdam unterdrückte einen Fluch, sagte dann aber: »Von mir aus. – Wenn Vanmoelen den Kopf untersucht hat, muß derselbe gewaschen und fotografiert werden. Und dann in alle Zeitungen mit ihm! Text: ›Wer kennt dieses Mädchen? Es wird vermißt!‹ Mehr nicht. Kein Wort von einem Mord. Bloß das nicht! Vermißt! Der Kopf muß so hergerichtet und geschminkt werden, daß er wie der einer Schlafenden wirkt.« Wilm Schouwen notierte sich die Wünsche und wollte das Zimmer verlassen, als auf dem Tisch des Kommissärs das Telefon schellte. Leerdam nahm den Hörer ab… dann wurde 13
sein Gesicht vergnügt, er nickte und warf den Hörer auf die Gabel. »Man hat die Mordstelle gefunden, Wilm«, sagte er freudig. »Eine Streife stieß außerhalb Leeuwardens auf ein Grasstück, das trotz des Nebels und der Nässe der letzten Tage noch Spuren alten Blutes aufwies. Außerdem entdeckte man den Fetzen eines Seidenstrumpfes.« Leerdam rieb sich die Hände, sein Gesicht war breit vor Freude. »Der Mörder treibt sich hier in Leeuwarden herum, Schouwen«, sagte er. »Und wenn er das weiterhin tut, wenn er hier lebt, steckt er in der Falle. Die Szenerie in Leeuwarden kann man überblicken. Ich glaube, wir haben leichte Arbeit mit ihm.« Das war ein großer Irrtum des Kommissärs Leerdam. Da man keinerlei andere Anhaltspunkte hatte, war man darauf angewiesen, das Mordgelände und die Stelle des Ufers, an welcher der Kopf des Mädchens angeschwemmt worden war, genauestens zu untersuchen. Aber bald sah sich Leerdam am Ende seines Lateins. Die Mordstelle war ein Rasenstreifen außerhalb Leeuwardens, dort, wo die letzten Laternen aufhörten, die den Rand der Stadt notdürftig erhellten. Der Kopf aber lag in der Nähe des Fischerdorfes Ferwerd im Sand, also fast 20 Kilometer von der Mordstelle entfernt. Paul Leerdam, frierend in seinem Lodenmantel, mit hochgeschlagenem Kragen und tief in die Stirn gezogenem Hut, stapfte durch den nassen, wie Leim an den Schuhen klebenden Ufersand und starrte über das dunstige, fahle Meer. »Der Mörder hat den Kopf seines Opfers 20 Kilometer weit transportiert, um sich hier seiner zu entledigen.« Leerdam sah Schouwen an, der neben ihm herging und auf einer Meßtischkarte, die er auf einem Holzbrett trug, die einzelnen Punkte gewissenhaft eintrug. »Stellen Sie sich das vor, Wilm: Da fährt ein Mensch durch den Nebel und hat bei sich den Kopf eines von ihm ermordeten Mädchens. Das ist 14
Bestialität unvorstellbaren Ausmaßes. Und so etwas bei uns in Leeuwarden!« Er setzte sich auf ein Boot, das an Land gezogen war, und hob die Beine aus dem nassen Sand. Sein bulliges Gesicht war vom Meerwind gerötet. »Fassen wir zusammen«, sagte er mürrisch. »Eine unbekannte Tote. Sexualmord. Geköpft. Von einem Fischer aus dem Meer geholt. An der Mordstelle keine Fußspuren mehr, da die Nässe den Boden aufgeweicht hat. Auch am Ufer, im Sand keinerlei Fußspuren, aus demselben Grund keine. Außerdem war Hochflut… der Streifen Sand, wo Dan Paldoorn den Kopf fand, lag also täglich zweimal unter Wasser. Schouwen!« »Ja?« fragte der Assistent. »Es ist zum Kotzen!« Und Wilm Schouwen konnte dem nicht widersprechen. Als sie zurück nach Leeuwarden fuhren, hing das Bild des unbekannten Mädchenkopfes schon an allen Säulen und vielen Hauswänden. Die Zeitungen brachten es auf der ersten Seite. »Vermißt wird…« Es war das Foto eines schönen Mädchens. Lange, blonde Locken umrahmten ein blasses, schmales Gesicht. Die Lider lagen flach über den Augen. Das Bild einer sorglos Schlafenden. Leerdam nickte grimmig. »Gute Arbeit des Gefängnisfriseurs«, meinte er leise, vor einem Plakat anhaltend. Zustimmend nickte auch Wilm Schouwen und sagte: »Wir werden in kürzester Zeit wissen, wer sie ist, wenn sie aus Leeuwarden stammt. Ein so hübsches Mädchen hat viele Bekannte.« »Hoffen wir’s, Wilm. Hoffen wir’s, sonst wird die Sache kompliziert.« Als sie in ihr Büro zurückkamen, lag schon ein Zettel mit dem ersten Telefonanruf auf dem Schreibtisch Leerdams. Der 15
diensttuende Wachtmeister hatte den Anruf vor einer halben Stunde, kurz nach Erscheinen der Morgenzeitungen, entgegengenommen. Ein Büroangestellter namens Jan Sehlke hatte sich gemeldet und erregt mitgeteilt, daß das Mädchen auf dem Bild seine Arbeitskollegin Ruth Kappel sei. Es stimme, daß sie vermißt werde… sie sei seit vier Tagen nicht mehr zur Arbeit gekommen. Man habe sich das nicht erklären können. Ruth Kappel und er seien beschäftigt bei der Fa. Termath, Fischeinkoch-Gesellschaft. Zufrieden griff Leerdam nach seiner Kaffeetasse, die ihm der Wachtmeister hinschob. Es war so Usus, daß dem Chef, der Junggeselle war, jeden Morgen auf einem kleinen Elektrokocher in der Wachstube Kaffee zubereitet wurde. Schouwen blätterte schon im Telefonbuch und suchte die Nummer der TermathGesellschaft. »Der entscheidende Schritt ist getan«, meinte Leerdam mit Genugtuung in der Stimme. »Wir haben den Namen – falls er stimmt -, wir haben einen Bekanntenkreis, den wir systematisch durchkämmen können, wir werden eine Menge von Aussagen haben, aus denen wir herausfiltern können, wo sich Ruth Kappel vor vier Tagen aufhielt, was sie vorhatte, was sie sagte, was sie Freundinnen anvertraute. Ich nehme an, daß ein galantes Erlebnis ihr den Tod brachte.« Leerdam trank in großen Zügen seine Tasse Kaffee aus und setzte sie ab. »Ich glaube, wir haben den Burschen schon fast am Kragen, Schouwen. Was jetzt noch kommt, ist reine Routinearbeit.« Kommissär Paul Leerdam war eben immer noch in seinem Irrtum befangen, einem Irrtum, der ihm nun aber bald klar wurde, nämlich schon am Abend, als er erschöpft in seinem Zimmer saß und die Protokolle noch einmal durchlas, mutlos, deprimiert, enttäuscht. Als er mit Wilm Schouwen und zwei Stenografen zehn 16
Stunden vorher im Bürohaus der Termath-Fischeinkocherei erschienen war, hatten ihn schon der Direktor und Jan Sehlke sowie drei Sekretärinnen, mit denen zusammen Ruth Kappel in einem Zimmer der Firma gearbeitet hatte, erwartet. Die Leute waren in heller Aufregung. Nicht nur ein Betriebsangehöriger hatte am Morgen in der Zeitung das Foto der hübschen Kollegin Ruth Kappel entdeckt, von der inzwischen alle gewußt hatten, daß sie abgängig war. Ewald Termath, der Chef der Gesellschaft, hatte daraufhin sofort den Anruf bei der Kriminalpolizei veranlaßt. Paul Leerdam ging bei den Ermittlungen nach bewährtem Muster vor. Er ließ die sich meldenden Zeugen, hauptsächlich Damen, einzeln in das Direktionszimmer kommen, aus dem er den Chef der Firma – mit dessen Einverständnis natürlich – verbannt hatte. Er saß hinter dem großen Schreibtisch, flankiert von den beiden Stenografen. Das sah sehr amtlich aus und verfehlte nicht seinen Eindruck auf die eintretenden Sekretärinnen. Wilm Schouwen lehnte am Fenster und beobachtete still die einzelnen Zeugen, sich ab und zu Notizen in seinem kleinen Taschenbuch machend. Jan Sehlke wußte nicht viel auszusagen. Er kannte Ruth Kappel seit zwei Jahren, von dem Tag an, an dem sie in die Firma eingetreten war. »Fräulein Kappel war sehr hübsch«, sagte Leerdam und betrachtete das Zeitungsbild, das vor ihm auf der Tischplatte lag. »Sie hatte sicherlich Freunde, Verehrer.« »Das weiß ich nicht. Wir sprachen nie darüber.« Jan Sehlke hob bedauernd die Schultern. »Ruth war ein stilles Mädchen, immer freundlich, kameradschaftlich, aber sie hielt stets Abstand zu uns Männern in der Firma. Leider«, fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu. Leerdam hob die Augenbrauen. »Sie hatten Interesse an Fräulein Kappel?« 17
»Welcher Mann hätte das nicht gehabt? Sie war wirklich sehr hübsch, und ihr ganzes Wesen strahlte irgendwie einen anziehenden Reiz aus.« »Einen erotischen Reiz?« »Wenn Sie’s genau wissen wollen, ja.« Jan Sehlke sah den Kommissär herausfordernd an. »Aber wer sich bei ihr etwas auszurechnen gedachte, erlebte eine Enttäuschung. Sie war in Wirklichkeit sehr zurückhaltend, ja spröde.« Leerdam erwiderte Sehlkes Blick mit unbewegter Miene. »Sie scheinen das Wesen Fräulein Kappels genau gekannt zu haben. Darf ich annehmen, daß auch Sie den Versuch einer Annäherung machten und abgewiesen wurden.« Jan Sehlke zögerte, dann nickte er entschlossen. »Ja, Sie dürfen. Der Korb, den ich mir aber holte, war eindeutig. Ich trug mich daraufhin sogar mit dem Gedanken, die Firma zu wechseln.« »Sie haben eine gute Stellung hier?« »Ja, mir untersteht ein Teil der Exportabteilung.« Paul Leerdam betrachtete das Spiel der eigenen Hände mit dem Bleistift, den er zwischen den Fingern rollte. Nach einer Weile meinte er ruhig: »Es ist gut. Schicken Sie mir bitte jene Sekretärin herein, von der Sie glauben, daß sie Fräulein Kappel am nächsten stand.« Rasch verließ Jan Sehlke den Raum. Er war froh, daß es so schnell gegangen war. Im Vorzimmer gab er einem der wartenden Mädchen einen stummen Wink, daß sie an der Reihe sei. Die Betreffende drückte die Zigarette, die sie halb geraucht hatte, aus, erhob sich und ging durch die Tür ins Chefzimmer. Paul Leerdam sah die Sekretärin kurz stumm an, ehe er das Wort an sie richtete. Es war ohne Zweifel eine sogenannte Suggestivfrage, welche nur die einzig mögliche Antwort zuließ. »Fräulein Kappel hat mit Ihnen darüber gesprochen, daß sie 18
einen Mann kennengelernt hat?« Die Sekretärin nickte erwartungsgemäß und sagte: »Ja.« Paul Leerdam wechselte einen kurzen Blick mit Wilm Schouwen, der sich auf wichtige Einträge in sein Notizbuch gefaßt zu machen schien. »Das ist ja sehr schön.« Leerdam sprach sehr jovial und nickte dem Mädchen freundlich zu. »Erzählen Sie mal, was Fräulein Kappel Ihnen in diesem Zusammenhang alles sagte.« »Nicht viel.« Die Sekretärin zuckte die Achseln. »Sie sprach nur davon, daß sie im Kino einen Mann kennengelernt habe und ihn treffen wolle.« »Das war vor vier Tagen?« »Ja. Sie ging vom Büro gleich zum Treffpunkt, der vereinbart worden war. Sie sagte noch: ›Jetzt habe ich nicht einmal mehr Zeit, einen Happen zu essen. Hoffentlich geht der mit mir dann in ein Restaurant.‹« »Welcher Treffpunkt?« »Das sagte sie nicht. Aber etwas anderes mag Ihnen wichtig erscheinen. Sie erwähnte ein Zeichen, das zwischen den beiden ausgemacht worden sei, falls es sehr neblig wäre. Und zwar wollte der Mann ein kleines Lied pfeifen.« »Ein Lied pfeifen?« »Ja. Ein Liebeslied. Etwa so…« Die Sekretärin spitzte die Lippen und wollte die Melodie pfeifen, aber plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen, deren sie sich nicht mehr erwehren konnte. Sie weinte um ihre Freundin. Das Schicksal derselben war ihr zwar noch unbekannt, sie ahnte aber Schreckliches. Es war auch nichts mehr zu machen mit ihr, Kommissär Leerdam mußte das Gespräch abbrechen, so daß ihm nichts anderes übrigblieb, als zu sagen: »Es ist gut, Fräulein, Sie können gehen.« 19
Nachdem das Mädchen den Raum verlassen hatte, zündete sich Leerdam eine Zigarre an und stieß ein paar dicke Wolken wütend gegen die Decke. »Verdammte Weiber!« brummte er. »Ich hätte mir noch ein bißchen mehr Zeit gelassen mit ihr«, ließ sich Wilm Schouwen vernehmen. Eine noch dickere Wolke stieg empor. »Jaja, das hätten Sie, ich weiß. Die Beine von der waren aber auch zu lecker, nicht? Und ihre Hüften waren auch nicht von schlechten Eltern, was? Wilm, wir zwei kennen uns doch!« »Darf man denn nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden? Das muß doch auch Polizeibeamten erlaubt sein.« »Wilm, wir untersuchen hier einen bestialischen Mordfall!« »Gewiß, Chef.« Schouwen blickte in sein Notizbuch. »Ich habe auch schon einen Titel für den Unhold.« Er las vor: »Der pfeifende Mörder.« Leerdam erhob sich, trat ans Fenster und blickte hinaus auf den Fabrikhof. Als spräche er nur mit sich selbst, begann er dann leise: »Was haben wir hier Neues erfahren? Die hübsche Ruth Kappel war ein anständiges Mädchen, keines, das Männer sammelte. Es war nicht leicht, sie rumzukriegen. Daß es das heute noch gibt, wundert mich eigentlich. Der Kerl, dem sie zum Opfer fiel, muß also seine Qualitäten haben. Er hat sie im Kino angequatscht. Er hat dort seinen Köder für sie ausgelegt, und prompt biß sie an. Bei Jan Sehlke tat sie das nicht. Darauf muß ich Sie übrigens besonders hinweisen, Wilm. Dieser Sehlke sieht doch viel, viel besser aus als Sie, mein Lieber – und was erreichte er damit? Ich stelle Ihnen diese Frage, um Sie zu veranlassen, in gewisser Beziehung über sich nachzudenken. Nein, schweigen Sie, ich erlasse es Ihnen im Moment, mir zu antworten, wir haben dazu keine Zeit, unser Mordfall drängt. Das Schwein ist also vom Typ her ein sogenannter 20
Herzensbrecher…« Leerdam legte eine kleine Pause ein, in der er Mühe hatte, nicht verächtlich auszuspucken. Die Zigarre half ihm dabei, das zu vermeiden. Dann fuhr er wieder fort: »… oder ein Ladykiller, wie man heutzutage solche Typen zu bezeichnen pflegt. Auf jeden Fall haben wir also einen netten jungen Mann zu suchen…« »Wieso jungen?« unterbrach Wilm Schouwen, um sich ein bißchen zu rächen. »Richtig«, nickte Leerdam grimmig, »das wissen wir nicht. Es kann auch ein älterer sein. Jedenfalls aber ein netter. Das gibt’s ja auch, sehen Sie mich an, Wilm. Trotzdem tippe ich, was den Mörder angeht, auch auf ›jung‹, da Ruth Kappel nur einen Durchschnittsgeschmack gehabt haben wird. Damit wird der Kreis kleiner.« »Oder größer«, knurrte Schouwen. »Es mögen in Leeuwarden und Umgebung zehntausend und mehr nette junge Männer leben. Scheusale sind seltener.« Sich ein zweites Mal geschlagen gebend, seufzte Leerdam: »Es verbietet sich auch, im Bekanntenkreis der Ermordeten herumzustochern.« »Richtig. Sie hat den Mann erst im Kino kennengelernt. Er war ihr völlig fremd, trat in ihr Leben, brachte sie um und verschwand wieder.« »Die berühmte Nadel im Heuhaufen«, seufzte Leerdam noch einmal. »Wobei wir noch nicht einmal wissen, wie groß der Heuhaufen ist, Chef. Wie Leeuwarden? Oder wie ganz Holland?« Kommissär Leerdam blickte erschrocken. »Jaja«, ließ Schouwen nicht locker, »wer garantiert uns, daß nicht ganz Holland der Heuhaufen ist, Chef?« 21
Das Stichwort war gefallen, und es erwies sich als absolut durchschlagskräftig. »Wissen Sie was, Wilm?« sagte Kommissär Leerdam. »Ich überlege mir nun doch, ob ich Amsterdam einschalten soll. Der Fall weitet sich aus.« Ohne viel Hoffnung setzte er dann die Einvernahme der Sekretärinnen fort. Und es ergab sich tatsächlich nichts Neues mehr. Ruth Kappel war eine beliebte Kollegin gewesen, das wurde wiederholt gesagt, aber sie hatte, was ihr Privatleben anging, eine Wand um sich gelegt. Bei weitem nicht so mitteilsam wie andere junge Mädchen ihren Freundinnen gegenüber, hatte sie fast alles ›Private‹ für sich behalten. Dadurch war es sogar des öfteren dazu gekommen, daß sie in der Firma von Kolleginnen geneckt worden war, weil sie gar keine Männerbekanntschaften geschlossen und sich so mehr als deutlich von den anderen Mädchen des Betriebes unterschieden hatte. Paul Leerdam machte Schluß mit den unergiebigen Verhören. Auch Wilm Schouwen klappte sein Notizbuch zu, und die beiden verließen die Termath-Werke, um zu dem Haus zu fahren, in dem Ruth Kappel wohnte, besser gesagt: gewohnt hatte. Sie kamen in eine kurze, enge Straße in der Altstadt, die eingesäumt wurde von hohen, schmalbrüstigen Häusern mit spitzen Giebeln und schönen, geschnitzten Türen. In diesen Häusern wohnte ein Heer kleiner Angestellter zur Untermiete, Mädchen, die aus dem Flachland und von der Küste in die Stadt gezogen waren, um Geld zu verdienen, oder junge Männer, die in ihren Dörfern keine Arbeit gefunden und geglaubt hatten, in Leeuwarden ihr Glück machen zu können. Der Kreis der Angehörigen, den Ruth Kappel besessen hatte, war klein. Die Eltern waren bei einem Bombardement im Zweiten Weltkrieg umgekommen. Eine alte Tante lebte in Den 22
Haag, ein Onkel als Ziegeleimeister in Haarlem. Mehr Verwandte gab’s nicht. Die Zimmervermieterin, eine dicke, alte Frau mit einem mürrischen Gesicht, empfing die beiden Polizeibeamten mit einem Wortschwall und wollte als Wichtigstes wissen, wer für den Mietausfall aufkommen würde, der ihr entstünde, wenn ›die Kappel‹ noch länger ausbliebe. »Wißt ihr denn, wo sie ist?« fragte sie. Zwei, drei Sekunden lang schwieg der Kommissär, dann antwortete er: »Ja.« »Dann sagt es auch mir, damit ich mich mit ihr in Verbindung setzen kann. Ich vergebe sonst ihr Zimmer; Interessentinnen laufen genug herum.« Die beiden Beamten sahen einander an. »Sie können das Zimmer vergeben«, sagte Leerdam, den Blick auf die mürrische Alte richtend. »Wieso? Hat sie denn gesagt, daß sie keinen Anspruch mehr darauf erhebt?« »Sie können das Zimmer vergeben«, wiederholte Leerdam. »Und ihre Sachen? Was ist mit denen?« »Die werden abgeholt.« »Von wem?« »Von ihren Angehörigen.« »Warum nicht von ihr selbst?« fragte mißtrauisch die Alte, in der nun ein gräßlicher Verdacht zu wuchern begonnen hatte. »Weil sie dazu nicht in der Lage ist«, erwiderte Leerdam. »Ist sie tot?« »Zeigen Sie uns ihr Zimmer.« »Aber…« »Wir müssen ihr Zimmer sehen. Wo ist es?« 23
Empört ging die Hauseignerin voraus, stieg vier Treppen hoch und öffnete die Tür zu einem Raum, der die Überraschung Leerdams und Schouwens erregte. Ein hübsches, helles, freundliches, zu einem Garten mit Bäumen hin gelegenes Zimmer, das gar nicht so recht zur mürrischen Besitzerin des Hauses passen wollte. Eine solche Relation herzustellen, war aber natürlich Unsinn von den zwei Beamten. Das Zimmer trug ja auch und gerade die Handschrift ihrer Mieterin. Es war ausgestattet mit modernen, niedrigen Möbeln, einem Haargarnteppich, hübschen, alten Stichen an den Wänden und zahlreichen Topfblumen, die herumstanden. Ein keineswegs billiger Sekretär war aufgeklappt, als sei er soeben erst verlassen worden. Das Ganze stellte ein gepflegtes, behagliches Zuhause dar, in das man sich zurückziehen konnte, um sich in der Stille wohl zu fühlen. Den Blumen war allerdings anzusehen, daß sie gegossen werden mußten. Die polizeiliche Durchsuchung erstreckte sich auf alle Fächer und Schubladen in den Schränken und Tischen, auf den Sekretär, auf die Schreibunterlage, auf Briefe oder Karten, die man zu finden hoffte. Nichts, rein gar nichts. Die Ausbeute war gleich Null. Als Leerdam und Schouwen vier Stunden später wieder im Dienstzimmer des Kommissärs saßen, letzterer, wie gewohnt, mit einer brennenden Zigarre in der Hand, wußten beide, daß ihnen dieser Mordfall keine Gelegenheit geben würde, sich mit Ruhm zu bedecken. Leerdam paffte, Schouwen blätterte in seinem Notizbuch, als erwarte er, daß ihm aus diesem Erleuchtung zuteil würde. »Mein Entschluß steht jetzt fest«, stieß der Kommissär plötzlich hervor. »Ich ziehe Amsterdam hinzu. Wir kommen nicht mehr weiter, Wilm.« Und der wie immer prompt funktionierende Wilm Schouwen – 24
ein Assistent, wie er im Buche stand – drehte schon an der Wählscheibe des Telefons, um die Verbindung mit der Zentralpolizei herzustellen. Dann hielt er dem Chef den Hörer hin. Zweieinhalb Wochen später geschah das, was Leeuwarden schlagartig in den Mittelpunkt des Interesses einer großen Öffentlichkeit rückte. Inzwischen war natürlich auch schon die ganze Wahrheit über den Fall der vermißten Ruth Kappel bekanntgeworden, aber nun wurde im Morgengrauen bei dem Fischerdorf Holwerd, gegenüber der Insel Ameland, eine neue unbekleidete Frauenleiche angeschwemmt. Eine Leiche ohne Kopf. Wilm Schouwen, der Nachtdienst gehabt hatte, hetzte zur Wohnung des Chefs und scheuchte ihn aus dem Bett, indem er ihm schon von der Tür aus die Hiobsbotschaft zurief. Leerdam stieß einen Fluch aus. Sein Boxergesicht hatte sich schlagartig gerötet. »Der gleiche Täter?« fragte er überflüssigerweise. Schouwen nickte. »Alles deutet darauf hin, ja. Sexualmord. Wieder mit dem Beil. Roh. Wie irrsinnig zugeschlagen. Es muß ein Wahnsinniger sein, der in der Liebesekstase in einen bestialischen Blutrausch gerät. Auch den Namen des Opfers wissen wir…« »Wie denn den so rasch?« fiel Leerdam ein. »Hat man auch den Kopf schon?« »Nein, aber der Täter übersah eine Kleinigkeit…« »Welche?« »Das Mädchen trug am Finger einen Ring, in den ihr Name eingraviert war: Lissa Tenboldt.« »Woher?« 25
»Aus Leeuwarden.« »Nähere Beschreibung?« »24 Jahre alt, ohne Anhang, Haustochter beim Fabrikanten Fried Eemslor.« Der Kommissär hatte sich während des Gesprächs in fieberhafter Eile angezogen. Die Morgenwäsche wurde auf ein Minimum reduziert. Rasieren fiel überhaupt aus. Während Leerdam sich die Krawatte umband, tobte er zwischen Flüchen: »Vor unseren Augen! Das Schwein verhöhnt uns! Noch tappen wir im ersten Fall wie die Blinden umher, da serviert er uns schon den zweiten! Wieder ein gleichgearteter Mord! Wieder an einem jungen Mädchen! Wieder im Nebel…« Er unterbrach sich: »Oder herrschte heute nacht kein Nebel, Wilm?« »Doch, der dickste, den man sich vorstellen kann.« »Na bitte. Und abermals wirft er die Leiche ins Meer. Wie kam diese denn zum Vorschein? Wieder durch ein Fischernetz?« »Nein, diesmal nicht; sie wurde ganz normal angeschwemmt.« »Hoffentlich finden wir die Mordstelle.« »Hoffentlich.« Leerdam blickte, während er in seinen Lodenmantel schlüpfte und den Hut aufsetzte, Schouwen an. »Es ist zum Wahnsinnigwerden, Wilm!« »Wenigstens hat er den Ring übersehen, das war sein erster Fehler, schätze ich.« »Wir fahren sofort zur Fundstelle der Leiche.« »Der Wagen steht schon vor der Tür, Chef.« Noch während sie die dreißig Kilometer über die Straße zur Küste bei Holwerd rasten, erhielten sie über den Sprechfunk der Polizei die neuesten Ergebnisse der Recherchen der in 26
Leeuwarden zu dieser Zeit schon selbständig arbeitenden Mordkommission übermittelt. Diesen Meldungen zufolge hatte Lissa Tenboldt nicht als vermißt gegolten, da sie ja erst in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen war. Ihrer Absenz war keine Bedeutung beigemessen worden, da Lissa sich einen freien Abend erbeten hatte. Es lag also sozusagen ein ganz frischer Mord vor, er mußte in der Nacht verübt worden sein, die gerade zu Ende ging. Die Leiche konnte auch keine größere Strecke im Meer in dieser befristeten Zeit zurückgelegt haben. Es stand demnach fest, daß sie der Mörder nicht in Leeuwarden, sondern bei Holwerd den Wellen überantwortet hatte. Es war also durchaus möglich, daß sich der Kerl, wenn er in Leeuwarden lebte, in diesen Minuten noch auf dem Heimweg befand oder gerade nach Hause gekommen war. Jedenfalls konnten es nur wenige Stunden sein, die den Mörder und Leeuwarden voneinander trennten. Vielleicht stand er hinter einem Busch am Rand der Straße und blickte erheitert dem Polizeifahrzeug nach, das zur Küste rollte. Vielleicht war er einer der harmlosen Bürger, die durch den Nebel zu ihren Arbeitsstätten hasteten. Vielleicht… vielleicht… »Vielleicht frühstückt er gerade mit Appetit«, sagte Leerdam zu Schouwen. »Den Kopf seines Opfers betrachtend, den er auf den Tisch gelegt hat«, entwarf Schouwen ein entsetzliches Bild. »Zuzutrauen wäre dem das«, preßte Leerdam zwischen den Zähnen hervor. Der Polizeifunk war verstummt. »Wie weit haben wir noch, Wilm?« »Wir müssen gleich da sein, Chef.« Auf dem Küstenstreifen, wo man die Leiche gefunden hatte, sahen die beiden im Scheinwerferlicht ihres Wagens einige Gestalten stehen, als sie ausstiegen. Näher kommend, gewahrten sie drei uniformierte Polizisten und einige Fischer, die um die 27
Leiche herumgruppiert waren. Man hatte eine Zeltplane über das Mordopfer gelegt, aber unter dem feuchten Segeltuch zeichnete sich der Körper schaurig gut ab. Man konnte erkennen, daß er unmittelbar an den Schultern endete. Der Kopf fehlte. Leerdam richtete das Wort an die drei Polizisten gemeinsam. »Wie sieht’s mit der Spurensicherung aus, meine Herren?« Schlecht sah’s mit der Spurensicherung aus, von einem einzigen Faktor abgesehen – dem Ring! Aber sonst hatte sich nichts Brauchbares ergeben. Leerdam warf einen Blick unter die Plane, die von Schouwen hochgehoben wurde. Das reichte den beiden. Auf einen zweiten Blick verzichteten sie. »Wohin mit der Leiche?« fragte einer der Uniformierten den Kommissär. »Zur Gerichtsmedizin. Ist die schon verständigt?« »Von uns nicht.« »Dann macht das mal.« Leerdam ging mit Schouwen ein paar Schritte zur Seite. »Haben Sie die Adresse von dem Fabrikanten, in dessen Haus die -«, er nickte mit dem Kopf zum Leichnam hin, »- war?« »Ja.« »Dann los!« Die beiden wandten sich ihrem Fahrzeug zu. »Oder haben Sie eine andere Idee?« fragte Leerdam. »Nein, Chef.« Als der Wagen zurück nach Leeuwarden fuhr und die ersten Häuser sowie die noch immer brennenden Laternen erreichte, sahen Leerdam und Schouwen nicht, wie ein dunkelgekleideter Mann sich hinter eine Gartenmauer drückte und den Wagen passieren ließ. Dann trat er wieder auf die Straße. In der Hand trug der Mann eine Aktentasche. Eine schöne neue Tasche aus 28
hellem Rindsleder. Er schien einer der vielen Angestellten zu sein, die, ihren Büros zustrebend, durch den kalten und feuchten Morgen stapften. Und im Schwarm der vielen verschwand auch der Unbekannte mit der neuen Aktentasche… Die Villa des Fabrikanten Fried Eemslor lag etwas abseits von den anderen Häusern in einem großen, sehr gepflegten Park, den ein Gärtner in Ordnung hielt. Von der Auffahrt führte eine breite Steintreppe hinauf zum Eingang. Dann betraten die beiden Beamten das Foyer der Villa, das eine große, lichterfüllte Halle mit bis auf die Erde hinuntergezogenen Fenstern war. Dort erwartete trotz der zeitigen Stunde der Fabrikant schon den Kommissär und dessen Assistenten. Leerdam hatte per Autotelefon seinen Besuch angekündigt. Frau Eemslor lag mit einem leichten Nervenschock auf ihrem Zimmer. Man erwartete den Arzt. Fried Eemslor führte die Beamten in seine Bibliothek und bot ihnen zuerst einen wärmenden Schluck an, den Leerdam – zum Leidwesen Schouwens – ablehnte, getreu der international gültigen Regel ›Schnaps ist Schnaps, und Dienst ist Dienst‹ – oder umgekehrt. Der Fabrikant selbst genehmigte sich ein Glas. Es war schon das vierte oder fünfte, seit ihn kaum eine Stunde zuvor die erste Schreckensmeldung der Polizei erreicht hatte. Trotzdem war er aber noch in der Lage, Leerdams Fragen durchaus präzise zu beantworten. »Seit wann befand sich Lissa Tenboldt in Ihrem Haus?« »Seit einem Jahr.« »Zu welchem Zweck?« »Sie strebte eine Ausbildung als Haustochter an.« Leerdam fand das ein bißchen hochgestochen und fragte deshalb: »Ist dazu ein besonderes Ausmaß an Intelligenz 29
erforderlich?« »Sie wollen wissen«, antwortete der Fabrikant, »ob Lissa dumm oder klug war?« »Ja. Sehen Sie, Mordopfer machen es den Kerlen, die ihnen zum Verderben werden, oft unglaublich leicht; sie kriechen denen in der naivsten – um nicht zu sagen: blödesten – Weise auf den Leim. Ist das Opfer aber intelligent, erlaubt uns das Rückschlüsse auf die entsprechende Veranlagung des Täters – daß wir ihm also auch einen überdurchschnittlichen Intelligenzgrad zugestehen müssen. Die Ermittlungsarbeit, die anzulegen ist, kann davon ganz entscheidend geprägt werden.« »Dann dürfen Sie davon ausgehen, daß Ihnen der Kerl, den Sie suchen, schweres Kopfzerbrechen machen wird.« »Wieso?« »Weil Lissa ein hochintelligentes, bildungsbeflissenes Mädchen war, eines, das mit Abitur und drei Semestern Philosophie zu uns kam.« Leerdam war sichtlich überrascht. »Und dann wollte sie Haustochter werden?« fragte er. »Ja.« Da fehlte noch eine Erklärung, das spürte auch der Fabrikant, weshalb er ungefragt hinzusetzte: »Wir hatten vor, sie nach ihrer Lehrzeit ganz zu uns zu nehmen. Sie war ein außerordentlich liebes Mädchen.« Aha, dachte der Kommissär. »Sie haben keine eigenen Kinder, nehme ich an«, sagte er. »Leider nein.« »Die nächste Frage mag Ihnen vielleicht nicht gefallen, aber sie ist von entscheidender Wichtigkeit: Wie stand Lissa Tenboldt zu Männern?« »Ich verstehe, was Sie meinen. – Nein, Lissa war ein 30
anständiges Mädchen.« »Noch Jungfrau – falls Sie das wissen?« »Nein, Jungfrau wohl nicht mehr, aber auch keine, die jede Woche einen anderen gehabt hätte.« »Hat sie Ihnen diesbezüglich Einblicke in ihr Privatleben gewährt?« »Ja. Wir ersetzten ihr praktisch ja schon die Eltern.« »Eltern sind da oft die letzten, denen etwas anvertraut wird.« »Lissa erzählte uns, glaube ich, alles.« »Was, zum Beispiel?« »Sie war in letzter Zeit verliebt in einen jungen Mann…« »So?« »… einen Kunstmaler.« Leerdam wechselte mit Schouwen einen Blick, in dem zum Ausdruck kam: Siehst du, kein Chirurg, kein Metzger, kein Tierarzt – ein Kunstmaler! »Allerdings«, fuhr der Fabrikant fort, »haben meine Frau und ich versucht, ihr den von Anfang an auszureden.« »So?« Der jagdfiebrige Glanz in Leerdams Augen steckte auch Schouwen an. »Anscheinend waren unsere Bemühungen von Erfolg gekrönt«, sagte Eemslor. »Das war vielleicht ein Fehler.« »Was machte Ihnen diesen Kunstmaler verdächtig?« »Verdächtig? Verdächtig ist nicht der richtige Ausdruck, Herr Kommissär. Wir waren gegen den wegen seines Berufes.« »Sie meinen…«, Leerdam räusperte sich, »… er verdiente kein Geld?« »Ganz richtig. Er schien sogar begabt zu sein, aber er hatte jedenfalls keinen Erfolg, und das war für uns ausschlaggebend. 31
Es gibt eben zu viele Männer, die Leinwände vollschmieren. Der hatte nie einen Knopf in der Tasche… schrecklich!« Und das sagte der Angehörige einer Nation, die der Welt den vielleicht größten Maler aller Zeiten – Rembrandt – geschenkt hat. Und nicht nur den! Man denke nur noch an van Gogh. Der hatte auch nie einen Knopf in der Tasche. »Andere Gründe«, erklärte Leerdam, aus dessen Augen der erwähnte Glanz wieder verschwunden war, »sahen Sie nicht, die Ihnen den suspekt erscheinen ließen?« ›Suspekt‹ hieß zwar auch nichts anderes als ›verdächtig‹, aber diesmal kam kein Widerspruch mehr vom Fabrikanten. Latein schien er nicht gelernt zu haben. Er begnügte sich damit, zu sagen: »Die Haare von dem waren ein Kapitel für sich.« »Jedenfalls waren Sie bestrebt, ihm Lissa abspenstig zu machen?« »Ja.« »Mit Erfolg, wie Sie sagen?« »Ja – leider.« »Wieso leider?« Eemslor kippte noch einmal ein Glas, dann erwiderte er: »Weil darin vielleicht die Ursache dafür zu sehen ist, daß sie noch einen anderen kennengelernt hat.« »Einen anderen?« »Ja.« »Wann?« »In allerjüngster Zeit.« »Wen?« Eemslor hob hilflos die Hände. »Das ist es ja… das können wir nicht sagen… meine Frau nicht und ich nicht!« »Ich denke, das Mädchen hat sich Ihnen immer anvertraut?« 32
»Ja, das hat sie auch, aber doch nicht schon jedesmal in der gleichen Stunde. Es kam auf die Gelegenheit an, über eine Sache zu sprechen, je nachdem über welche.« »Und diesmal hat es an einer solchen Gelegenheit gefehlt?« »Anscheinend ja. Ich war ein paar Tage verreist, geschäftlich; meine Frau hatte andere Pflichten; Lissa und sie begegneten sich kaum. Die beiden sprachen nur wenig miteinander. Übrig blieb aber trotzdem, daß plötzlich Lissas Interesse an einem anderen erwacht war. Der Betreffende muß ganz sicher ein toller Herzensbrecher gewesen sein, sonst wäre das nicht möglich gewesen.« »Ein Herzensbrecher?« »Ja. Oder ein Ladykiller, wie man heutzutage dazu sagt.« Wieder wechselten der Kommissär und sein Assistent einen Blick; letzterer verletzte dabei sein Untergebenenverhältnis, indem er eine Grimasse schnitt. Draußen hörte man den Arzt ins Haus kommen, der von einem dienstbaren Geist zur gnädigen Frau geführt wurde. »Da wäre ich gern dabei«, sagte der Fabrikant zu Leerdam. »Sind Sie fertig mit mir?« Der Kommissär seufzte, ehe er erwiderte: »Nachdem Sie uns über Lissas letzten Bekannten leider nichts sagen zu können scheinen – ja.« »Nicht das geringste.« Eemslor erhob sich, mit ihm die beiden Polizeibeamten. »Trotzdem hoffe ich, daß Sie den Verbrecher sehr bald fassen werden. Unsereiner will ja sehen«, fügte er mit jenem ungenierten Ausdruck, den Staatsbedienstete oft zu ernten haben, hinzu, »wo die Steuern bleiben, die wir zahlen.« »Auch so einer«, sagte draußen im Wagen Leerdam zu Schouwen, »der glaubt, uns seinen Zahlungsverkehr mit dem Finanzamt unter die Nase reiben zu müssen. Die habe ich alle sehr, sehr gerne. Dabei handelt es sich bei den meisten sowieso 33
immer nur um den lächerlichen Rest, für den der Steuerberater gar kein Loch mehr finden konnte.« Schouwen war mit seinen Gedanken woanders. »Chef«, sagte er, »ist denn der Kunstmaler für Sie völlig aus dem Schneider?« »Für Sie nicht?« »Doch, gefühlsmäßig schon auch. Man schlachtet doch keine Henne – sprich: Lissa -, die einmal goldene Eier legen könnte, als Ehefrau, meine ich. Sicher hatte sie ihm sogar jetzt schon manchen Bissen und manches Glas Bier bezahlt. Aber…« »Was aber?« »Wir haben halt nicht den geringsten Hinweis auf einen anderen, nicht -« »So, und deshalb«, unterbrach der Kommissär bärbeißig seinen Assistenten, der daran allerdings schon längst gewöhnt war, »sähen Sie auf alle Fälle schon mal gerne den Kunstmaler im Loch. Weil uns der geringste Hinweis auf einen anderen fehlt! Weil uns… Menschenskind, wissen Sie denn überhaupt, was Sie reden?« »Ja.« »Schämen Sie sich nicht?« »Nein.« »Schouwen!« Wenn Kommissär Leerdam sehr entrüstet über seinen Assistenten war, gebrauchte er dessen Familiennamen. »Chef, ich dachte auch daran, daß man durch die Verhaftung eines Unschuldigen -« »Schouwen!« »- den wahren Täter in Sicherheit wiegen kann…« »Schouwen.« Das klang schon wieder viel sanfter. »… so daß er einen Fehler macht, Chef.« 34
Leerdam winkte mit der Hand. »Und wo ist der Richter, von dem ich da einen Haftbefehl kriegen würde? Wissen Sie den?« »Nein«, seufzte der Assistent. »Sehen Sie, Wilm.« In den nächsten Tagen geschah alles Erdenkliche, um etwas Licht in diese mysteriösen Mordfälle zu bringen. Tausend Gulden – das stellte damals eine ganz andere Summe dar als heute – wurden als Belohnung für die Ergreifung des Mörders (oder für Hinweise, die zu dessen Ergreifung führten) ausgesetzt. Der Fabrikant Fried Eemslor verdoppelte aus eigener Schatulle diesen Betrag. Der Polizeiapparat lief auf vollen Touren. Von den Zeitungen konnte man den Eindruck haben, daß sie eigentlich kein anderes Thema mehr hatten – nicht nur in Holland. In ganz Europa und natürlich auch Nordamerika, wo Crime und Sex in den Massenblättern von jeher einen breiten Raum einnehmen, begannen die Redaktionen, in ihre Spalten den ›Pfeifenden Mörder‹ einzuführen. Die Zentralkriminalpolizei in Amsterdam schickte drei weitere Experten nach Leeuwarden, die sich noch einmal über alle bisherigen Spuren hermachten. Dünn genug waren dieselben. Noch einmal wurden alle Personen, mit denen schon gesprochen worden war, verhört. Noch einmal wurden die Meeresströmungen vom Hydrographischen Institut gemessen. Noch einmal wurde in den Lebensläufen der ermordeten Mädchen herumgestochert. Und noch einmal hätte man sich alles schenken können. Man rückte dem Täter keinen Schritt näher. Paul Leerdam fand keinen ruhigen Schlaf mehr. Ein Zwischenbericht der Sonderkommission lag ihm schwer im Magen. Vor allem der letzte Absatz machte ihm zu schaffen. Dieser lautete: 35
›Es ist nach Lage und Ausführung der Morde zu vermuten, daß die beiden Fälle Kappel und Tenboldt nur der Beginn einer Mordserie sind, da es sich hier um einen sexuell ungemein erregbaren und in der Erregung sich bis zum Wahnsinn steigernden Mörder handelt, der aufgrund seiner abnormen Veranlagung neue Opfer suchen und finden wird. Größte Vorsicht und vor allem ständige Warnungen an die weibliche Bevölkerung sind daher dringend als erste Gegenmaßnahmen notwendig. Rundfunk und Presse sind dahingehend angewiesen worden.‹ Der Beginn einer Mordserie… das war es, was Leerdam den Schlaf raubte. Was er die ganze Zeit selbst auch schon gedacht hatte, befürchtet hatte, worüber er mit seinem Assistenten häufig genug schon gesprochen hatte, das wurde nun amtlich-trocken vom Bericht der ›Sonderkommission Leeuwarden‹, wie sie sich nannte, zum Ausdruck gebracht. Etwas Neues sagte man damit dem Kommissär nicht, aber trotzdem lasteten die schrecklichen vier Worte schwer auf seiner Seele. Und das Schlimmste war, daß niemand einen Anhaltspunkt hatte. Auch die Superspezialisten aus Amsterdam konnten nur mit den Schultern zucken, wenn ihnen entsprechende Fragen gestellt wurden. Letzteres widerfuhr ihnen inzwischen sogar auch schon von selten des Innenministers. Im übrigen waren aber die Herren, soweit es ging, sehr darauf bedacht, sich diskret im Hintergrund zu halten. An der Front den Kopf hinzuhalten – sprich: der Presse Rede und Antwort zu stehen -, das überließen sie gerne dem armen Kommissär Paul Leerdam von der Fußtruppe. Damals gab’s noch kein Fernsehen. Dieses schickte sich in jenen Jahren erst dazu an, das Kommando auf dem Tummelplatz der Medien zu übernehmen. Vorerst warnten also nur Rundfunk und Presse alle jungen Mädchen und Frauen davor, sich von einem Unbekannten, dessen Wesen besonderen Charme ausstrahlte, ansprechen zu lassen und mit ihm ein Wiedersehen 36
außerhalb der Stadt an einem nebeligen Abend zu vereinbaren. Jede, der ein solches Angebot gemacht werde, möge sich, so hieß es, sofort an die nächste Polizeidienststelle wenden. Die ganze westfriesische Küste von Meppel bis Groningen war in Bereitschaft. Die Begräbnisse der beiden Opfer hatten unter großer Beteiligung der Bevölkerung stattgefunden. Der Schrotthändler Dan Paldoorn, der den ersten Kopf gefunden hatte, war ein vielseitiger Geschäftsmann. Er zog nicht nur Gewinn aus Schrott und Lumpen, die in großem Stil gesammelt wurden, sondern besaß auch drei Beerdigungswagen. Die Aufträge, die Opfer zum Leeuwardener Friedhof zu fahren, wurden an ihn vergeben, und er hatte Grund zur Sorge, weil seine Wagen beinahe unter der Last der Kränze zusammengebrochen wären. Einer alten Erfahrung folgend, hatten Zivilbeamte der Polizei den Friedhof während der Begräbnisse im Auge behalten. Jeder der Trauergäste wurde scharf beobachtet. Oft kehrt ja der Mörder zu seinem Opfer zurück und sieht zu, wie es beigesetzt wird. Der unheimliche Drang dazu soll sogar noch stärker sein als jener, immer wieder zum Tatort zurückzukehren. Aber auch hier mußten von Leerdam alle Hoffnungen begraben werden. Bei den Beerdigungen zeigten sich nur geachtete Bürgerinnen und Bürger Leeuwardens. Sogar der Bürgermeister war auch anwesend und ließ es sich nicht nehmen, jeweils eine Trauerrede zu halten. Leerdam hörte aus der zweiten Rede des Bürgermeisters den Vorwurf heraus, daß die Polizei nicht die Erwartungen der Bevölkerung erfülle. Verärgert wandte sich Leerdam ab und stapfte über die feuchten Wege zurück zum Ausgang des Friedhofs, wo Schouwen in der Nähe postiert war, um Kommende und Gehende zu beobachten. »Na, war irgendwas, Wilm?« »Nein. Bei Ihnen?« »Auch nicht. Aufgeregt hat mich nur das Geschwätz des 37
Bürgermeisters.« »Hat er mit Ihnen gesprochen?« »Nicht mit mir- mit allen! Er ließ eine Trauerrede vom Stapel, die wir unfähigen Polizisten uns hinter den Spiegel stecken können. Hören Sie ihn denn nicht?« Leerdam zeigte mit dem Daumen in Richtung des offenen Grabes am entgegengesetzten Ende des Friedhofs. »Da quatscht er immer noch!« »Gestern kam mir mein Schwager auch so dumm, Chef. Dem habe ich aber die Meinung gegeigt!« »Dann geigen Sie sie mal auch dem Bürgermeister!« Vier Tage später hielt ganz Holland entsetzt den Atem an. Ein dritter Mord geschah, dem das Hackebeil des Mörders das Gepräge gab. Und diesem folgten, in Abständen von je einem Tag, zwei weitere. Das wahnsinnig gewordene Tempo des Mörders forderte die ganze Nation heraus. Die Kriminalgeschichte aller Länder kannte keinen gleichgearteten Vorgang. Die Rümpfe der Opfer wurden in Ferwerd, Sexbierum und St. Jacobi gefunden; der in Ferwerd wieder von dem Fischer Peer van Hoest. Die erwartete Mordserie war Wirklichkeit geworden… Kommissär Paul Leerdam war einem Nervenzusammenbruch nahe. Die Telefonleitung zwischen ihm und Amsterdam glühte schier. Der Innenminister wollte ihn fast täglich sprechen. Fehlt mir nur noch die Königin selbst, dachte Leerdam. Aus allen Ecken Europas fielen Reporter in Leeuwarden ein. Vermutungen wurden laut, Verdächtigungen… Wahrsager versahen die Welt mit ihren Erkenntnissen. Verrückte, Abartige stellten sich der Polizei und gaben sich als den Mörder aus, der gesucht wurde. Jeder Selbstbeschuldigung mußte nachgegangen werden, bis sie sich als haltlos 38
herausgestellt hatte. Natürlich belastete das die Arbeit der Polizei immens. Kommissär Leerdam hätte deshalb jedem dieser Kerle bei der notwendig gewordenen Entlassung aus der Untersuchungshaft am liebsten einen Tritt in den Hintern verpaßt. .Die Leichen der Ermordeten wurden nach Leeuwarden geschafft, dort gewissermaßen ›gesammelt‹. Sie lagen im Kühlraum des Städtischen Krankenhauses. Es handelte sich um: Maria Steufels, Modistin, 24 Jahre alt, Erna Schagen, Schülerin, 19 Jahre, Grit Vonmeeren, Hausgehilfin, 30 Jahre. Paul Leerdam stand vor den drei Bahren und betrachtete die drei verhüllten, langgestreckten Gestalten. An seiner Seite befand sich Wilm Schouwen. Es war unheimlich still in dem empfindlich kalten Raum. Leerdam, ganz in Gedanken, traf Anstalten, sich eine Zigarre anzuzünden. »Nicht hier, Chef«, ermahnte ihn Schouwen mit einer Stimme, die irgendwie krächzend klang. Leerdam besann sich und ließ die Zigarre in der Tasche stecken. »Wilm«, sagte er, »Sie haben alles notiert. Woher kamen die drei?« Schouwen zog sein unentbehrliches Notizbuch zu Rate. »Die Maria Steufels«, begann er, »aus Medemblick. Medemblick liegt am Ausgang der Ijsselsee. Grit Vonmeeren kam aus Kennum, von der Insel Terschelling also. Erna Schagen war Schülerin des Gymnasiums in Zwolle. Alle drei sind sie aber an ihren Todestagen vermutlich irgendwie nach Leeuwarden geraten, wurden hier ermordet und ins Meer geworfen.« »Ziehen wir daraus eine Schlußfolgerung, Wilm: Durch die hautnahen Ereignisse hier und die besonders wirkungsvollen Warnungen an die Adresse der Mädchen und Frauen von 39
Leeuwarden ist es dem Mörder neuerdings wohl unmöglich gemacht worden, sich in unserer Stadt seinen Opfern zu nähern. Er reist deshalb im Land herum und sucht junge Frauen in anderen Städten und Dörfern. Terschelling – Medemblick – Zwolle… das ist ein großer Halbkreis um Leeuwarden herum. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als in ganz Holland unsere Warnungen zu verstärken, vor allem diejenige, der Einladung eines Unbekannten nach Leeuwarden Folge zu leisten.« »Unsere Stadt gerät dadurch in einen beneidenswerten Ruf.« »Dagegen ist nichts zu machen.« »Außerdem wird es falsche Anzeigen, Selbstbezichtigungen usw. auch in anderen Teilen des Landes nur so hageln.« »Auch das läßt sich nicht vermeiden.« »Ich denke an die fürchterliche Arbeit, die wir dadurch haben werden, Chef.« »Ich noch mehr als Sie, Wilm…« Leerdam seufzte, winkte mit der Hand und fuhr, sich unterbrechend, fort: »Was halten Sie eigentlich davon, daß Maria Steufels wieder bei Ferwerd von dem Fischer Peer van Hoest gefunden wurde?« »Ich habe damit gerechnet, Chef, daß sie darauf zu sprechen kommen werden.« »Merkwürdig, nicht? Zwei Leichen findet dieser Mann. Die beiden Ermordeten gleichen sich im Typ: groß, schlank, blond, hübsch. Ruth Kappel 22 Jahre und Maria Steufels 24 Jahre alt. Außerdem kam Maria Steufels aus Medemblick… das heißt also, daß es für van Hoest ein Leichtes gewesen sein könnte, sie mit seinem Fischkutter nach Ferwerd zu bringen.« Leerdam wandte sich ab und verließ den kühlen Raum, in dem die drei stillen Gestalten unter ihren Laken zurückblieben, bis sie von der Staatsanwaltschaft zu ihren Beerdigungen freigegeben werden würden. Auf dem Krankenhausflur blieb der Kommissär stehen, um sich endlich die lang entbehrte Zigarre in 40
den Mund zu stecken. »Soviel ich mich erinnere, ist der verheiratet«, sagte er dann. »Wer?« fragte Schouwen. »Wer denn?! Dieser Fischer!« »Ja, das ist er.« »Und er hat Kinder.« »Zwei.« Leerdam nahm die Zigarre aus dem Mund und zielte mit ihr auf Schouwens Brust. »Das will aber gar nichts heißen. Es hat schon Mörder mit fünf oder sechs Kindern gegeben. Wissen Sie was, Wilm?« »Ja, ich weiß, Chef.« »Was wissen Sie?« Dieses leicht verblödete Frage-und-Antwort-Spiel zwischen den beiden spielte sich zeitweilig ab. »Wir fahren von hier sofort hinaus zu diesem Fischer«, erwiderte Schouwen. »Sie wollen ihn sich einmal näher ansehen, Chef.« »Ganz recht, Wilm.« Während der Fahrt nach Ferwerd vertiefte sich Leerdam noch einmal in die Mordakte. Schouwen steuerte den Wagen. Zusammengefaßt ergaben die neuesten Unterlagen folgendes: •1. Maria Steufels wurde von Peer van Hoest gefunden. Sie war schon angeschwemmt worden, mußte also nicht erst – wie Ruth Kappel – aus dem Wasser geholt werden. Der Mörder hatte sie auch nicht, wie seine anderen Opfer, geköpft, sondern nur durch einen Beilhieb in den Halswirbel getötet. Maria war Modistin in einem Hutsalon in Hoorn gewesen. Aus dem großen Kreis ihrer Männerbekanntschaften ein Bild zu gewinnen, das der Polizei Aufschlüsse geben konnte, war nicht einfach. Zehn Beamte waren noch an der Arbeit, das Vorleben des Mädchens 41
aufzurollen. •2. Erna Schagen aus Zwolle war als Schülerin guter Durchschnitt gewesen. Männerbekanntschaften keine. Ein paar harmlose Liebeleien mit Gymnasiasten. Sie hatte nur gesagt, daß sie nach Leeuwarden wolle, um am Sonntag eine Freundin zu besuchen. Der Freundin aber hatte sie mitgeteilt, daß sie sich mit einem Mann treffen werde, von dem sie in Zwolle im Kino angesprochen worden sei. Als Erkennungssignal habe er ein bestimmtes Lied vorgeschlagen, das er im Nebel pfeifen werde, falls gerade Nebel herrschen sollte, was an der Küste immer anzunehmen sei. •3. Grit Vonmeeren, wohnhaft in Kennum auf der Insel Terschelling. Als Hausgehilfin hatte sie wenig Ausgang gehabt, da sie eine alte Dame pflegte, die durch Gehirnschlag linksseitig gelähmt war. Fast gar keine Männerbekanntschaften. Ein paar Fischer- und Bauernburschen aus Kennum und Oosterende, wo auch ihre Freundin wohnte. Bekannt war nur, daß sie einen freien Sonntag für eine Fahrt auf das Festland benützt hatte. Bei St. Jacobi wurde dann ihre Leiche gefunden. Paul Leerdam klappte das Aktenstück zu und warf es hinter sich auf den Rücksitz des Wagens. »Immer wieder der ›Pfeifende Mörder‹! Gibt’s denn in Zwolle keine Zeitungen, verdammt noch mal? Hatte die Schagen nicht gelesen, daß es sich derzeit hier in dieser Gegend absolut nicht empfiehlt, im Nebel hinter einem Kerl herzustolpern, der ein Liebesliedchen flötet? Analphabetin kann sie keine gewesen sein, sie ging ja aufs Gymnasium.« »Mir ist das auch ein Rätsel«, pflichtete Schouwen bei. »Wissen Sie was, Wilm?« »Ja, ich weiß, Chef.« »Was wissen Sie?« »Daß nun auch noch die Lehrkräfte dazu aufgerufen werden müssen, in Mädchenschulen die Warnungen der Polizei zu 42
verbreiten.« »Ganz recht, Wilm.« Leerdam blickte hinaus auf den Küstenstreifen, der rasch näher kam. Das Meer war grau, aufgewühlt. Ein steifer Wind wehte über den Deichkamm ins Inland. »Mein Gott«, seufzte der Kommissär. »Wenn wir dieses Ungeheuer nicht bald fassen, können wir alle den Zylinder nehmen und im Schrebergarten Bohnen pflanzen, Wilm.« »Ich habe gar keinen, Chef.« »Was haben Sie nicht?« »Einen Schrebergarten.« »Ich auch nicht.« »Auch keinen Zylinder, Chef.« »Sie können den meinen haben.« »Und Sie? Was machen dann Sie?« »Ich rechne jeden Tag damit, daß mir der Innenminister einen aus seinem Vorrat für besondere Zwecke schicken wird.« Das war Galgenhumor reinsten Wassers. »Und ich rechne damit«, versuchte Schouwen ein bißchen Optimismus zu verbreiten, »daß der Täter nun doch bald einen entscheidenden Fehler machen wird, Chef.« »Ihr Wort in Gottes Ohr, Wilm.« Schweigend stiegen die beiden vor dem Haus des Fischers Peer van Hoest aus dem Wagen und betraten durch einen kleinen Flur eine große, nach Tran und Kartoffeln riechende Stube. Peer saß am Ofen und rauchte eine Pfeife, als die zwei Beamten über die Schwelle traten. Er erhob sich und kam ihnen entgegen. Auch seine Frau streckte aus der Küche ihren Kopf kurz in die Stube herein und hielt die beiden kleinen Kinder zurück, die sich neugierig an ihr vorbeidrängen wollten, um sich 43
nichts entgehen zu lassen. Fremder Besuch war ja immer interessant. »Herr van Hoest«, sagte Leerdam nach der Begrüßung, »die Anlässe unseres Kennenlernens sind alles andere als erfreulich. Erst der Mord an der Kappel, jetzt der an der Steufels. Es scheint neuerdings Ihre Bestimmung zu sein, Leichen zu finden.« Arglos antwortete der Fischer: »Was soll ich denn machen, wenn ich geradezu darüberstolpere? Sie können mir glauben, daß ich lieber nichts damit zu tun hätte. Ich werde meine Fische nicht mehr los. Die Leute bringen sie mit Leichen in Verbindung und sagen ›nein, danke!‹ Auf vier ganzen Fängen wäre ich schon beinahe sitzengeblieben, wenn sich eine Fischfirma meiner nicht doch noch angenommen hätte.« »Welche?« »Die Firma Termath & Co.« »Standen Sie mit der früher schon in Geschäftsverbindung?« »Nein.« »Und wieso jetzt plötzlich?« Der Fischer zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Ein Herr Sehlke von denen hat den Kontakt hergestellt. Ich bin ihm sehr dankbar, das können Sie sich denken.« »Ach, Jan Sehlke?« »Ja, Jan heißt er, glaube ich. Sicher kann ich das aber nicht sagen.« »So, sicher können Sie das nicht sagen. Das heißt wohl auch, daß Sie Herrn Sehlke erst jetzt kennengelernt haben?« »Ja, natürlich.« »Früher haben Sie ihn nicht gekannt?« »Bestimmt nicht.« 44
Der Fischer geriet langsam in Verwunderung, die noch wuchs, als Leerdam fortfuhr: »Und Fräulein Ruth Kappel war auch nicht zufällig eine gemeinsame Bekannte von Herrn Sehlke und Ihnen?« »Wer? Die ermordete Kappel?« »Ja.« Der biedere Fischer wußte nicht mehr, was das bedeutete. Sollte er wirklich aus irgendeinem Grund ein schlechtes Gewissen haben, so verstand er es jedenfalls meisterhaft, dies zu verbergen. »Behauptet das jemand?« fragte er. »Was, Herr van Hoest?« »Daß ich die Kappel gekannt habe.« »Herr Sehlke kannte sie sehr gut«, antwortete Leerdam ausweichend. »Aber ich nicht, verdammt noch mal!« grollte der Fischer, dem nun doch ein Licht aufzugehen schien, was hier gespielt wurde. »Ich habe die nie in meinem Leben gesehen, bis heute nicht!« »Bis heute nicht?« antwortete der Kommissär voller Zweifel. »Nein.« »Sie holten sie doch aus dem Wasser. Sahen Sie sie da auch nicht?« »Aber nicht ihr Gesicht, ihren Kopf. Das meine ich! Dieser Anblick fehlt mir bis heute, verstehen Sie?« Dem Fischer stand die Empörung ins Gesicht geschrieben. War dies nun hohe Schauspielkunst oder nicht? Auf jeden Fall schlug er eine gute Klinge, daran gab’s keinen Zweifel. So schnell wollte aber Leerdam die Flinte noch nicht ins Korn werfen. »Wo waren Sie an den Abenden, bevor Sie die Toten fanden?« 45
setzte er sein Verhör fort. Peers Pfeife war längst kalt geworden. »Auf See natürlich. Seit drei Wochen bin ich jeden Abend draußen.« »Seit drei Wochen? Und immer mit dem Gehilfen?« »Nicht immer, das kommt darauf an.« »Worauf kommt das an?« »Ob ich z. B. Krabben fische, wie in den letzten Tagen. Dabei brauche ich keine Hilfe, sondern nur bei den großen Fängen. Der Mann muß ja bezahlt werden, und so gut verdient unsereiner mit seinem kleinen Kutter nicht, um das Geld zum Fenster hinauswerfen zu können.« »Sie waren also um die Zeit allein, als Maria Steufels ermordet wurde?« Peer van Hoest beherrschte sich sehr, um nicht loszubrüllen. Mit erzwungener Ruhe erwiderte er: »Ich war auf See. Ich habe meine Fangbücher, in denen steht alles drin.« »Und wie war es in der Nacht, in der Ruth Kappel ermordet wurde? Waren Sie da auch allein?« »Das wissen Sie doch, was ich da war!« »So? Woher soll ich das wissen?« »Aus Ihren Akten, in denen es längst enthalten ist.« Kommissär Leerdam merkte, daß ihm vor lauter Jagdfieber ein peinlicher Fehler unterlaufen war. Natürlich, jetzt erinnerte er sich, daß Peer van Hoest zusammen mit seinem Gehilfen den Rumpf der ermordeten Ruth Kappel aus dem Wasser geholt hatte. Der Schnitzer wurmte den Kommissär sehr. Noch unangenehmer als vor dem Fischer war er ihm vor Schouwen. Er stellte deshalb nur noch zwei, drei völlig belanglose Fragen und brach dann das Verhör ab. Als er ging, zusammen mit Schouwen, ähnelte das mehr einem Rückzug als einem gewöhnlichen Abschied. 46
»Eines schwöre ich Ihnen!« rief ihm der Fischer nach. »Leichname kriegen Sie von mir keinen mehr geliefert!« Das war also das ganz und gar nicht erfreuliche Ergebnis der Veranstaltung. Draußen konnte es sich Schouwen nicht verkneifen zu sagen: »Das war eine Pleite, Chef.« »Mag ja sein«, gab Leerdam widerstrebend zu, »daß der eine reine Weste hat. Aber vielleicht stießen wir hier doch auf etwas Wichtiges.« »Auf was?« »Auf Jan Sehlke.« Schouwen nickte. »Das, was wir über den hörten«, sagte er, »machte mich allerdings auch stutzig.« »Der ist doch bei seiner Firma nur mit dem Export befaßt, er hat also mit dem Einkauf gar nichts zu tun. Wie kommt er trotzdem dazu, dafür zu sorgen, daß van Hoest seinen Fang los wird?« Schouwen entwickelte eine Theorie, die gewiß halsbrecherisch war, aber Kriminalfälle, besonders schwierige, haben es nun mal an sich, daß sie halsbrecherische Theorien herausfordern können. »Vielleicht«, sagte der Assistent, »fühlte der sich dazu verpflichtet.« »Wieso verpflichtet?« »Gesetzt den Fall, er hat Ruth Kappel, die seine Liebe verschmähte, ermordet, dann war es doch auf ihn zurückzuführen, daß es der Fischer van Hoest mit Absatzschwierigkeiten zu tun bekam. Die Leute wollten dem nichts mehr abkaufen.« »Weil sich in seinem Netz eine Leiche fand, ja.« 47
»Noch dazu eine ohne Kopf. Im Grunde sollte so etwas zwar keine Rolle mehr spielen, aber es tut es dennoch. Das Ganze wird dadurch noch schauriger. Die Leute sind nun mal so.« »Jedenfalls hatte van Hoest plötzlich keine Kunden mehr.« »Woraufhin er sich, sagen Sie, verpflichtet fühlte, sich einzuschalten. Wieso, frage ich Sie noch einmal.« »Weil er nicht wollte, daß dem Fischer durch ihn ein Schaden entstand.« Leerdam schnitt eine Grimasse. »Aha«, sagte er. »Ein Mörder mit sozialer Einstellung.« »Warum nicht, Chef? Der Kerl, den wir suchen, ist abartig veranlagt. Seine Morde haben dicksten Zusammenhang mit Sexualität, mit Frauen also, jungen Frauen. Allen übrigen Menschen kann er mit ganz normalen Empfindungen gegenüberstehen. Ein kleiner Fischer wie Peer van Hoest steht ständig im harten Existenzkampf, den ihm noch mehr zu erschweren diesem Frauenmörder nicht gefällt. Halten Sie das für völlig ausgeschlossen, Chef?« Leerdam wiegte den Kopf. »Wilm, dann hätte Sehlke aber – wenn er der ist, hinter dem wir her sind – den Fehler gemacht, nach dem wir so lange vergeblich Ausschau gehalten haben.« »Ganz recht, Chef.« »Einen haarsträubend dummen Fehler.« »Den klügsten Verbrechern passiert das immer wieder. Gerade Sie sind derjenige, welcher nicht müde wird, mir das zu sagen, Chef.« »Sehlke«, sprach der Kommissär nachdenklich vor sich hin, als halte er sich den Mann, von dem er redete, vor Augen, »sieht gut aus, ist jung, kann einem Mädchen schon den Kopf verdrehen. Alles Merkmale, die auf den unbekannten Mörder zutreffen…« 48
»Nicht zu vergessen das wichtigste Merkmal, Chef.« »Welches?« »Daß er pfeifen kann.« »Kann er das?« »Wer kann das nicht?« »Wir müssen es ihm, wenn wir ihn uns noch einmal näher ansehen, trotzdem nachweisen.« »Sehen wir ihn uns denn noch einmal näher an, Chef?« »Ich denke schon. Warum glauben Sie denn, daß ich angefangen habe, mich mit Ihnen über ihn zu unterhalten? Weil ich Verdacht geschöpft habe.« Leerdam knöpfte den Mantel zu und stieg auf der Beifahrerseite ins Auto. Schouwen setzte sich wieder ans Steuer. Während sie in schnellem Tempo zurück nach Leeuwarden fuhren, sprachen sie nur wenig miteinander. Im Büro erwartete sie ein neuer Schock. Aus einem Fischerdorf südlich von Leeuwarden, aus Harlingen, lag der Anruf einer Frau vor, die als die ›Rote Vera‹ in Fischerkreisen bekannt war und eine Schenke am Harlinger Kap betrieb. Diese Schenke war Durchgangsstation für viele ambulante Händler. In einer großen Scheune kampierten sie eine Nacht und bezahlten für die Benützung eines Strohsacks einen geringen Betrag. Die ›Rote Vera‹, eine dicke, resolute Frau Mitte Fünfzig, hatte angerufen und mitgeteilt, daß zwei Tage zuvor ein unbekannter Hausierer oder Landstreicher, der fremd in der Gegend war (niemand hatte ihn vorher je gesehen), bei ihr genächtigt und am Morgen seinen Obolus entrichtet hatte und weitergezogen war. Was sie an ihm nicht beachtet hatte, nach den allerletzten Zeitungsberichten aber als verdächtig empfand, war die Tatsache, daß am linken Ärmel des fremden Händlers Blutspuren zu sehen gewesen waren. Es hatte den Eindruck 49
erweckt, als ob vergeblich versucht worden sei, den Rock wieder auszuwaschen. Leerdam gab den Zettel mit dem Anruf, nachdem er ihn gelesen hatte, an Schouwen weiter, damit ihn dieser auch überflog. »Was halten Sie davon?« fragte er ihn dann. »Die Zeit würde bei der Maria Steufels oder bei der Grit Vonmeeren stimmen.« »Dann müßten es aber noch relativ frische Blutspuren gewesen sein.« »Vielleicht kann uns das die ›Rote Vera‹ bestätigen.« »Ausgeschlossen, nachdem am Rockärmel, wie sie uns wissen läßt, herumgewaschen wurde.« »Anscheinend wurde es das, sagt sie. Sicher ist das also nicht, Chef.« Leerdam faßte einen Entschluß. »Wir teilen uns, Wilm. Sie fahren hinaus zur ›Roten Vera‹, und ich lasse mich von einem Streifenwagen zur Firma Termath bringen, um mich noch einmal mit Sehlke zu befassen. Das möchte ich nämlich nicht versäumen, trotz verdächtigen Hausierers.« »Ist gut, Chef.« »Egal, wer nun der Mörder ist – hoffentlich gönnt er sich eine Ruhepause. Nicht auszudenken, wenn in der kommenden Nacht schon wieder ein Mädchen sein Opfer würde!« »Rechnen Sie damit?« »Ehrlich gesagt, ja. Der Kerl befindet sich in einem Blutrausch, der einmalig ist in der internationalen Kriminalgeschichte. Wenn wir ihn nicht bald stoppen, kommt’s noch soweit, daß er in einer Nacht nicht nur einem, sondern zwei Mädchen den Kopf abhackt.« 50
»Hören Sie auf, Chef!« »Rufen Sie mir einen Streifenwagen!« Die Erwartung Leerdams trog leider nicht. Der Mörder fühlte sich sicher, so sicher, daß er auf der Straße stand und Leerdam und Schouwen freundlich grüßte, als die beiden die Polizeistation verließen und getrennt in zwei Wagen stiegen. Er sah ihnen nach, pfiff ein Liedchen und schlenderte die Straße hinab zu seiner Wohnung, die keine 200 Meter vom Polizeirevier entfernt lag. Er wechselte ein paar Worte mit einem Nachbarn, der ihm begegnete, öffnete die Haustür, begab sich in seine kleine Küche und brühte sich einen starken Tee auf, in den er einen ziemlichen Schuß Arrak goß. Zufrieden über den Duft, den das köstliche Getränk verbreitete, trug er Kanne und Tasse und eine Schale mit Kandis in das reichausgestattete Wohnzimmer, stellte alles auf einen Rauchtisch in der Nähe des breiten Fensters, setzte sich, nahm die Zeitung und schlürfte, während er las, seinen Tee mit Behagen. Er sah ab und zu hinaus auf die belebte Straße, beobachtete das Treiben der Menschen, zündete sich nach einer Weile eine Zigarette an und führte schließlich einige Telefongespräche mit wichtigen Geschäftspartnern, denn er betrieb ein gutgehendes, viel Geld einbringendes Geschäft. Dann legte er sich ein paar Stündchen aufs Ohr. Er brauchte diesen Schlaf am Tag, da er ja nachts beschäftigt war. Als er wieder wach wurde, dämmerte es schon, und er zog eine Stehlampe an die Couch heran und knipste sie an. Warmes Licht umflutete ihn… einen gutaussehenden großen Mann in mittleren Jahren, gepflegt, elegant, mit blauen, treu blickenden Augen und einem netten Lächeln um die vollen Lippen. Der Kachelofen in der Ecke strömte Hitze aus. Der Mann erhob sich, regulierte mit einem Schieber die Wärme und studierte dann noch einmal die Inserate der Kinos von 51
Leeuwarden, Zwolle und Meppel. Er schien sich dann für einen Film in Meppel entschieden zu haben, denn auf diesem blieb sein suchender Finger liegen. Eine schöne alte Delfter Uhr schlug in der dunklen Ecke, die vom Schein der Stehlampe nicht erfaßt wurde. Der Mörder fühlte sich dadurch veranlaßt, auf seine Armbanduhr zu blicken, und er nickte dann vor sich hin. Wenn er nach Meppel wollte, war es an der Zeit, aufzubrechen. Er ging zu seinem großen Schreibtisch und entnahm ihm aus der linken Schublade eine neue rindslederne Aktentasche. Als er sie öffnete und in sie hineinblickte, blinkte kurz die Klinge eines kleinen, aber scharfen Beiles auf. Das Mordinstrument. Es wurde von ihm peinlich sauber gehalten. Nichts verachtete er mehr als Menschen, die nicht reinlich waren. Der Mörder vergewisserte sich, nachdem er die Schlösser der Tasche hatte zuschnappen lassen, durch ein kurzes Schütteln, daß die Tasche auch bestimmt zu war. Anschließend verließ er das Zimmer, schlüpfte in der Diele vor einem wertvollen geschliffenen Spiegel in einen langen grauen Wollmantel, nahm aus dem Kasten der Garderobe neue Schweinslederhandschuhe, zog diese aber noch nicht an, sondern fuhr sich mit dem Kamm noch einmal durch die dichten schwarzen Haare, setzte einen Hut auf und unterzog sich vor dem Spiegel mit sichtlichem Wohlgefallen einer abschließenden Gesamtprüfung. Er war eine attraktive Erscheinung, die auf Frauen wirkte. Aus den Augen sprach ein wenig Sentimentalität, und das haben Mädchen bekanntlich ja besonders gerne. Er mußte lachen und nickte seinem Spiegelbild zu. Dann verließ er sein Haus und stieg draußen in seinen schönen Wagen. Die Nachbarn winkten ihm zu, als er einstieg. Er winkte grüßend zurück. Dann zog er die Wagentür zu und warf zielsicher die Aktentasche mit dem Beil nach hinten auf den 52
Rücksitz. Bei bester Stimmung startete er den Motor und steuerte sicher hinaus auf die Straße. Er fuhr durch das belebte Leeuwarden und erreichte die Chaussee nach Meppel. Bei Heerenveen stand ein Mädchen am Straßenrand. Es war ihr kalt. Sie hatte den Mantel eng um sich geschlungen und lief in der feuchten Nachtluft hin und her. Als sie in der Ferne die Scheinwerfer eines Autos größer werden sah, blieb sie stehen und blickte ihnen gespannt entgegen. Sanft hielt der Wagen. Das Mädchen trat an ihn heran und lächelte glücklich. »Schön, daß du da bist«, sagte sie zu dem Mann, der ausstieg und um den Kühler herumging, um ihr galant in den Wagen zu helfen. »Wartest du schon lange?« fragte er. »Eine Viertelstunde.« »Aber wir waren erst für jetzt verabredet«, meinte er bedauernd. »Ich konnte es kaum mehr erwarten«, lächelte sie verliebt, »und bin deshalb schon viel zu früh von zu Hause weg.« »Hast du jemandem gesagt, wohin?« »Nein.« »Und mit wem?« »Nein, du hattest mich doch gebeten, daß das vorläufig unser Geheimnis bleiben soll.« Und das wird es auch bleiben, dachte er. Nicht nur vorläufig, sondern ewig. »Wohin fahren wir?« fragte sie ihn, als er Gas gab. »Ich dachte mir, vorerst nach Meppel ins Kino, Hendrikje. Die spielen da einen tollen Liebesfilm, gerade das richtige für uns beide. Nach der Vorstellung werden wir sehen…« 53
»Ein Liebesfilm?« freute sie sich. »Ja«, wiederholte er. »Gerade das richtige für uns.« Sie nickte selig, und er hätte es sich deshalb schenken können, sie zu fragen, ob sie das nicht auch finde. Doch er tat es. »Findest du nicht auch, Hendrikje, daß das das richtige ist?« »Aber sicher!« rief sie glücklich und beugte sich hinüber zu ihm, um ihm einen Kuß auf die Wange zu drücken. Am nächsten Morgen wurde Hendrikje Balder, 23 Jahre alt und von Beruf Kellnerin in einem Ausflugslokal bei Joure, gefunden., Sie lag im Ufersand bei Ternaard. Das Meer umspülte ihren Leib und Kopf, der durch einen Beilhieb in den Nacken fast völlig vom Rumpf getrennt war. Im Innenministerium von Den Haag, Hollands Hauptstadt, saß dem Minister der oberste Polizeichef des Landes gegenüber. Die Herren rauchten. Sie taten das aber durchaus nicht mit Genuß, denn der Gegenstand ihres Gespräches war alles andere als angenehm. Vor dem Minister lag eine dicke Akte, in die er jedoch gar nicht mehr hineinschauen mußte, um sich für das, worüber zu reden war, zu präparieren. Der Polizeichef wich dem Blick des Ministers aus. Er starrte auf den Teppich und begann aus Verzweiflung, die Muster zu zählen. »Sechs Morde«, sagte der Minister mit kalter Stimme, »von ein und demselben! Innerhalb von Tagen, zuletzt fast nur noch von Stunden! Und so oft ich mit Ihrem Mann in Leeuwarden, diesem Leerdam, telefoniere, höre ich praktisch nur: ›Wir tun unser Bestes.‹ Das geht nicht mehr so weiter, mein Lieber.« Mit belegter Stimme, den Blick kaum vom Teppich erhebend, antwortete der Polizeichef: »Ich habe schon die besten Leute, über die wir im ganzen Land verfügen, nach Leeuwarden entsandt. Aber auch sie mußten bisher passen.« »Passen?« 54
Dieser saloppe Ausdruck gefiel dem Innenminister sichtlich gar nicht. Der Polizeichef, dem der Ausdruck in seiner Verworrenheit herausgerutscht war, korrigierte sich deshalb rasch: »Auch ihnen gelang es bis zur Stunde nicht, den Täter zu fassen.« Verächtlich verzog der Minister den Mund. »Den Täter zu fassen!« höhnte er. »Ich wäre ja schon froh und dankbar, wenn ihm die ein bißchen auf der Spur wären, so daß er es mit der Angst zu tun bekäme und sich veranlaßt sähe, einen längeren Stopp einzulegen. Verstehen Sie, was ich meine? Das ganze Land ist ja schon hysterisch. Wir haben es mit einer Staatsaffäre zu tun. Die Polizei macht sich unaufhörlich lächerlich. Wohin soll das noch führen?« »Mir ist auch klar, daß sich die Leute wieder irgendwie ein bißchen beruhigen müssen.« »Wie denn? Das würde ich gerne von Ihnen hören!« »Die besten Kriminalisten sind schon, wie gesagt, in Leeuwarden tätig. Außerdem steht das ganze Gebiet praktisch unter Ausnahmezustand. Die Polizeistreifen treten sich gegenseitig auf die Zehen. Das gilt auch für Groningen, Assen, Meppel und Zwolle, für die ganze Küste. Von Ylst, Franeker und Bolsward sind auf Rädern Beamte unterwegs, die jedes Pärchen, auf das sie stoßen, unter die Lupe nehmen. Im Rundfunk -« »Wenn ich Sie richtig verstehe«, unterbrach der Minister den schwitzenden Polizeichef, »sind das doch alles Defensivmaßnahmen!« »Sehe ich das richtig?« fragte er unbarmherzig, als der Polizeichef schwieg. »Ja, Herr Minister.« »Und wo bleibt die Offensive?« »Momentan werden fieberhaft alle Bekannten des letzten 55
Opfers, der Kellnerin Hendrikje Balder, vernommen, ob sie nicht doch jemandem gesagt hat, mit wem sie sich treffen will.« »Anscheinend hat sie das nicht«, meinte skeptisch der Minister, einen Blick auf seine Akte werfend, aus der er sich informiert hatte. »Außerdem suchen wir einen Hausierer bzw. Landstreicher, der in Harlingen übernachtete und Blut an seinem Jackenärmel hatte…« »… und von dem die Personenbeschreibung, die vorliegt, ziemlich vage ist«, fiel der Minister ein. »Immerhin, gewisse Anhaltspunkte haben wir. Die Hauptsache ist aber, daß der Kreis, in dem wir suchen müssen, begrenzt ist. Es gibt keine Million Hausierer in Holland. Wir werden sie bis zum letzten Mann durchfilzen.« »Wie lange mag das dauern?« »Höchstens eine Woche.« Der Minister gab zu erkennen, daß er den Rapport, zu dem er den Polizeichef hatte kommen lassen, beenden wollte. Um dem armen Mann aber noch einmal richtig Feuer unterm Hintern zu machen, sagte er abschließend: »Sollte alles wieder fehlschlagen, haben wir ja immer noch eine Möglichkeit. Wissen Sie, welche?« »N… nein«, erwiderte zögernd der Polizeichef, der auf Arges gefaßt war, dessen schlimmste Erwartung aber noch übertroffen wurde. Der Minister sagte nämlich: »Diejenige, Scotland Yard um die Entsendung einiger Spezialisten zu bitten. Für die holländische Polizei wäre das allerdings eine Blamage ohnegleichen.« Benommen entwich daraufhin der Polizeichef aus dem Zimmer des Ministers und wischte sich auf dem Korridor den Schweiß von der Stirn. Eine Etage tiefer erlaubte er sich die ersten leisen Flüche, die mit zunehmender Entfernung vom 56
Ministerium immer lauter und wüster wurden, bis sie innerhalb der Wände seiner eigenen Dienststelle, nachdem er diese erreicht hatte, eine Lautstärke gewannen, mit der man im alten Jericho schon eine schlechte Erfahrung gemacht hatte. Das Gebrüll pflanzte sich fort bis zur Küste, erschütterte alle untergeordneten Polizeistationen und riß auch den armen Paul Leerdam aus dem Schlaf, der sich nach drei durchwachten Nächten für ein paar Stunden hingelegt hatte und fest und bleiern schlief, als ihn Wilm Schouwen wachrüttelte. »Der Teufel ist los, Chef. Die haben in Den Haag durchgedreht. Wissen Sie, daß uns der Innenminister die Beiziehung Scotland Yards angedroht hat?« »So?« brummte Leerdam. »Und wissen Sie, was ich dem Innenminister androhe?« »Ja, das weiß ich.« »Sie wissen es nicht!« »Doch – daß er Sie kreuzweise kann!« »Ganz richtig, Wilm.« Leerdam drehte sich auf die andere Seite und schlief sofort wieder ein. Schouwen wollte ihm noch etwas mitteilen, indem er erklärte: »Die Belohnung wurde auf zehntausend Gulden erhöht!« Aber der Kommissär hörte das nicht mehr. Am dritten Tag nach jenem bösen Rapport in Den Haag schnappte eine Streife der Leeuwardener Polizei bei Veenwouden einen Landstreicher, auf den die vage Beschreibung der ›Roten Vera‹ in etwa zutraf. Als Wichtigstes stimmte das eingetrocknete Blut am linken Rockärmel. Leerdam erstattete zunächst nach oben keine Meldung, aus Sorge, wieder einen Fehlgriff getan zu haben. Er ließ sich den Landstreicher sofort vorführen und schickte als erstes die Jacke 57
ins Polizeilaboratorium. Dann rief er eine aufgeschlossene Atmosphäre ins Leben, indem er den Mann fragte, ob er Hunger habe. »Und was für einen!« lautete die Antwort. »Durst?« »Und was für einen! Aber nicht auf Schnaps, wenn Sie das meinen.« Der Mann wurde also erst einmal richtig geatzt. Nachdem dies geschehen war, erhielt er aus Leerdams eigener Schatulle auch noch eine Zigarre spendiert; dann aber begann sozusagen der Ernst des Lebens. »Wie heißen Sie?« fragte der Kommissär. Der Landstreicher grinste. »Soviel ich mich erinnere: Wilhelm Heyst.« »Das steht in Ihren Papieren, ja. Aber ist das auch Ihr richtiger Name?« »Wenn er in den Papieren steht, wird er’s wohl sein.« »Das ist nicht gesagt. Wie oft haben Sie die denn schon verloren?« »Meine Papiere?« »Ja – so daß sie Ihnen ersetzt werden mußten.« »Schon ein paarmal. Genau kann ich es nicht sagen.« »Sehen Sie, ich weiß doch, wie das bei euch zugeht. Ihr marschiert, wenn euch der Ausweis wieder einmal abhanden gekommen ist, vergnügt ins nächste Standesamt hinein und bittet um Ersatz. Kostenlos natürlich. Dabei bleibt dann oft gar nichts anderes übrig, als daß man sich auf eure Angaben verläßt. Ich hatte schon mit einem zu tun, der sich einen Sport daraus machte, sich auf diese Weise im Laufe weniger Jahre mit neun verschiedenen Namen auszustaffieren.« »Und Sie? Wie steht’s diesbezüglich bei Ihnen?« 58
»Ich bin der Wilhelm Heyst und war es immer, Herr Kommissär. Mein Lebenswandel ist so, daß er mir das erlaubt.« »Wir werden das nachprüfen, mein Lieber, darauf können Sie sich verlassen.« »Was ist denn eigentlich los? Warum dieses polizeiliche Interesse an meiner ganz und gar unbedeutenden Person?« »Können Sie sich das nicht denken?« »Beileibe nicht.« »Wir haben Ihnen Ihre Jacke weggenommen…« »Ja, ich weiß, und ich frage mich, warum?« »Weil Blut an ihr ist.« »Blut?« Wenn der Kommissär damit gerechnet hatte, daß der Landstreicher beginnen würde, seine Ruhe zu verlieren, so war dies ein Irrtum. Der Mann zeigte nicht die geringste Nervosität. »Meinen Sie den Fleck am linken Ärmel?« fragte er. »Ja, den meine ich.« »Dann habe ich mich also doch nicht getäuscht.« »Inwiefern nicht?« »Weil ich mir auch gedacht habe, daß das Blut sein könnte.« »Von wem?« Das kam wie ein Peitschenschlag aus Leerdams Mund. Der sogenannte Ernst des Lebens war also in vollem Gange, doch eine Wirkung, die sichtbar gewesen wäre, wurde nach wie vor nicht erzielt. »Woher soll ich das wissen?« erwiderte achselzuckend der Mann, der sich Wilhelm Heyst nannte und sich als solcher auch auswies. »Lautet Ihre Antwort auch so«, stieß Leerdam nach, »wenn wir feststellen, daß das Menschenblut ist?« 59
»Menschenblut? Das glaube ich nicht.« »Darf ich fragen, woran Sie glauben?« meinte der Kommissär mit jener bekannten Höflichkeit, welche die krasseste Form von Ironie ist. »Am ehesten halte ich das für Hühnerblut.« »Warum ausgerechnet Hühnerblut?« »Weil ich denke, daß da ein gestohlenes Huhn etwas unsachgemäß geschlachtet wurde.« Leerdams Miene war so sehr von Unsicherheit durchtränkt, daß sich Heyst verpflichtet fühlte, zu ergänzen: »Hühner sind die Objekte, die in unseren Kreisen am liebsten gestohlen werden, Herr Kommissär.« In der Sprache dieses Landstreichers fanden sich immer wieder Ausdrücke und Formulierungen, die darauf hinwiesen, daß er schon bessere Tage gesehen hatte. Ein jäher Verdacht streifte den Kommissär. Sprach er etwa mit einem abgesackten Akademiker oder etwas Ähnlichem? Wenn ja, wäre das nicht der erste Fall dieser Art in der Welt der Landstreicher oder Penner gewesen. »Was haben Sie früher gemacht, Herr Heyst?« »Wann früher?« »Bevor Sie sich zu Ihrem jetzigen…«, er räusperte sich, »… Dasein entschieden.« »Ich war Bibliothekar, Herr Kommissär.« »Und was hat Sie aus der Bahn geworfen?« »Eine Frau – mehr möchte ich dazu nicht sagen.« Ein elektrischer Schlag hatte Leerdam durchzuckt. »Eine Frau? Dann könnte ich mir vorstellen, daß Sie alle Frauen hassen.« »Ja, das tue ich«, sagte Heyst mit ruhiger Stimme. Und gerade diese Antwort war es, die ihn vor dem blitzartig 60
hochgeschossenen Verdacht Leerdams rettete. Als intelligenter Mann, der er war, hätte er nämlich, wenn er der gesuchte Frauenmörder gewesen wäre, unter gar keinen Umständen zugegeben, etwas gegen das schwache Geschlecht zu haben. »Zurück zu diesem Blut am Ärmel, das Sie für Hühnerblut halten wollen«, sagte Leerdam. »Warum haben Sie dann krampfhaft versucht, es herauszuwaschen?« »Wenn das krampfhaft versucht wurde, dann nicht von mir, Herr Kommissär.« »Von wem denn?« »Von meinem Vorgänger.« »Welchem Vorgänger? Was heißt das?« »Von meinem Vorgänger als Eigentümer der Jacke.« »Ach, die gehörte Ihnen gar nicht immer?« »Nein.« »Seit wann befindet sie sich in Ihrem Besitz?« »Noch gar nicht lange.« »Und wie gerieten Sie an sie?« »Durch Tausch. Ich begegnete einem Kollegen – lachen Sie nicht, Herr Kommissär! -, der sie anhatte. Ich wiederum war damals gerade ausgestattet mit drei Flaschen Schnaps, aus denen ich mir nichts machte. Das ist selten in unseren Kreisen. Schnaps und Rauchwaren sind eine Art Goldwährung bei uns. Der erwähnte Kollege war wild auf meine Pullen, mir stach seine Jacke ins Auge, die ich dringend nötig hatte, weil meine alte schon völlig aus dem Leim gegangen war und kein bißchen mehr wärmte. Wir waren uns daher schnell einig. Ich glaube, ich hätte sie sogar schon für zwei Flaschen haben können.« »Wie hieß der Mann?« »Mein Geschäftspartner?« »Ja.« 61
»Das weiß ich nicht.« Ein Ausdruck der Schärfe geriet in Leerdams Stimme. »Hören Sie, Heyst, es geht hier um Mordverdacht…« »Um was?« fiel verdattert der Landstreicher ein. »Um Mordverdacht. Treiben Sie also im Interesse eines anderen kein Versteckspiel, das Ihnen nur schaden kann.« »Ich weiß wirklich den Namen nicht; übrigens, der Betreffende weiß auch nicht den meinen. Darüber wurde nicht gesprochen. So etwas ist unter uns gang und gäbe.« »Wo fand der Handel statt?« »Hinter Harlingen, bei Zurig.« »Wann habt ihr zwei euch wieder getrennt?« »Gleich anschließend. Ich wandte mich zur Schenke der ›Roten Vera‹.« »Und der andere?« »Er sagte, er wolle die Küste entlang zur Ijsselsee, um den Leuten dort seinen Kram anzudrehen.« »Was führte er?« »Sie meinen sein Angebot?« »Natürlich.« »Nicht einmal das weiß ich. Sein Bauchladen war geschlossen, als wir uns begegneten, und gefragt habe ich ihn nicht.« Das Telefon auf Leerdams Schreibtisch läutete. Der Kommissär hob ab, meldete sich und lauschte. Aus dem Labor wurde ihm das Ergebnis der Blutuntersuchung übermittelt. Seine Augen wurden groß. »Vielen Dank«, sagte er zum Schluß und legte auf. Dann blickte er Wilhelm Heyst an. »Wissen Sie, wer das war?« »Nein.« 62
»Unser Laboratorium. Und wissen Sie, was die mir mitgeteilt haben?« »Nein«, sagte Heyst noch einmal. »Daß Sie mit Ihrem Hühnerbluttip falsch liegen.« »Und mit welchem läge ich richtig?« »Mit meinem«, sagte Leerdam ohne erkennbare Emotion. Wilhelm Heyst, Bibliothekar a. D., Hausierer und Landstreicher i. D., schwieg. Es hatte ihm die Stimme verschlagen. »Ich hoffe nur«, fuhr der Kommissär nach einer lähmenden Pause fort, »daß die Story von dem ›Großen Unbekannten‹ die Sie mir aufgetischt haben, stimmt.« »Das tut sie«, beteuerte Heyst mit trockenen Lippen. »Ich schwöre es Ihnen.« »Seinen Namen wissen Sie immer noch nicht?« »Nein, ich sagte Ihnen doch…« »Aber beschreiben können Sie ihn mir?« »Doch, das kann ich…« Wilhelm Heyst ließ eine Personalbeschreibung vom Stapel, die geradezu großartig war. Es erwies sich, daß er ein scharfes Auge und ein gutes Gedächtnis hatte. Beides zusammen versetzte ihn in die Lage, den Kommissär mit Angaben zu beliefern, welche die Herausgabe eines Steckbriefes zum Kinderspiel machten. Trotzdem aber entpuppte sich das ganze vorläufig als Schuß in den Ofen. Und warum dies? Weil jener Unbekannte lange nicht gefunden werden konnte. Die Hauptpunkte der Laboruntersuchung, wissenschaftliche Beiwerk, waren folgende: 63
ohne
das
•1. Die Untersuchung der Flecke am Ärmel ergab, daß es sich um eingetrocknetes Menschenblut handelt, das man mittels Seife auszuwaschen versucht hat. •2. Das Blut hat die Blutgruppe AB. •3. Die Flecke sind ungefähr zwei oder drei Wochen alt. •4. Vergleichende Analysen haben erwiesen, daß das Blut die gleiche Gruppe hat, wie das Blut der Mordopfer Ruth Kappel und Erna Schagen. Die ganze Sonderkommission trat rasch zusammen, um sich mit dem Laborbericht zu befassen. Es kam aber wieder, um das gleich zu sagen, nicht viel dabei heraus. »Sie wollen von mir wahrscheinlich wissen«, sagte Paul Leerdam zu den Herren aus Amsterdam und Den Haag, »ob ich dem Mann, der mit der Jacke aufgegriffen wurde, Glauben schenke, wenn er erklärt, sie sich von einem Unbekannten besorgt zu haben.« Alle im Kreise nickten. »Ich tue das«, sagte Leerdam. Mißbilligendes Gemurmel wurde laut. »Das heißt aber nicht«, fuhr der Kommissär fort, »daß ich ihn nicht genauestens unter die Lupe nehme. Er sitzt in Haft, obwohl ich diesbezüglich allerdings befürchten muß, daß mir der Untersuchungsrichter nicht lange mitmacht. Eile ist also geboten. Das -« »Welche Blutgruppe hat er selbst?« unterbrach einer. »Null.« »Um eigenes Blut, von einer Verletzung herrührend, kann es sich also nicht handeln?« »Das hat er auch nie zu behaupten versucht.« »Woher hatte er die drei Flaschen Schnaps?« fragte ein anderer. 64
»Das weiß ich nicht«, gestand Leerdam ein. »Haben Sie sich das von ihm nicht sagen lassen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil es mir keinerlei Bedeutung für den Fall zu haben schien.« Wieder erhob sich teilweise leiser Protest, bis einer der Herren, die alle vom grünen Tisch kamen, sagte: »Ich nehme an, Kollege Leerdam, daß Ihnen die neueste Entwicklung Anlaß gibt, nun auch an die Blutgruppe des in Verdacht geratenen Peer van Hoest sowie an die des in Verdacht geratenen Jan Sehlke zu denken.« »Warum denn das?« fragte Leerdam verblüfft. »Um auch diese Materialien notfalls sofort zur Hand zu haben.« »Und wie soll ich an das Blut von denen kommen, solange sie nicht verhaftet sind?« Das wußte der große Theoretiker aus Amsterdam auch nicht. Ein Witzbold schlug allerdings vor, die beiden Verdächtigen zu einer Zecherei zu verführen und zu hoffen, daß sie sich anschließend ans Steuer setzten. Eine schon lauernde Verkehrsstreife müßte sie dann aufgreifen und der Promilleabzapfung zuführen. »Dann haben Sie das Blut, Kollege Leerdam«, sagte er. Gelächter erhob sich, womit sich wieder einmal eine alte Erfahrung im Leben bestätigte: daß nämlich keine Veranstaltung ernst, ja schaurig genug sein kann, um nicht doch auch wieder Heiterkeit aufbrechen zu lassen. Die Sitzung wurde aufgehoben. »Kommen Sie«, sagte Leerdam zu Schouwen, »wir fahren noch einmal die Fundplätze der Leichen ab.« 65
Schouwen fragte sich, wozu, schwieg aber. Auch Leerdam hätte ihm keinen Grund sagen können – wenn nicht den, daß einfach etwas, irgend etwas geschehen mußte. Irgend etwas, und wenn es das Sinnloseste war, mußte unternommen werden, um zu verhindern, daß man verrückt wurde. Als die beiden in den Wagen stiegen, blickte ihnen der Mörder aus seinem Fenster wieder nach, bis ihr Fahrzeug um eine Straßenbiegung verschwunden war. Dann setzte er sich in seinen Lieblingssessel, streckte die Beine weit von sich, trank einen guten alten Genever und amüsierte sich über die Angriffe gegen die Polizei, von denen die Zeitungen strotzten. Am Abend gähnte er herzhaft. Auf dem Programm stand heute nichts Besonderes für ihn. Mit Appetit aß er eine Kleinigkeit. Darauf achtete er sehr, sich nicht den Bauch vollzuschlagen, bis es ihm oben herausgekommen wäre. Er wußte, daß er gut aussah, und wollte nicht, daß sich das änderte, indem er etwa nicht mehr auf seine Linie geachtet hätte. Seine Attraktivität gehörte zu seinen stärksten Waffen. Ehe er sich zur Ruhe begab, stellte er sich unter die Dusche und legte sich dann in sein großes Bett, in welchem ihm rasch die Augen zufielen. Noch im Schlaf lächelte er. Gemessen an diesem seinem Schlaf war sein Gewissen das sanfteste Ruhekissen, das man sich überhaupt denken konnte. Unterdessen schleifte Paul Leerdam seinen durchfrorenen Assistenten immer noch durch den Ufersand, obwohl nichts mehr zu unterscheiden war, da sich die Nacht auf das Land herabgesenkt hatte. Vierzehn Tage lang passierte nichts mehr in Leeuwarden und Umgebung. Hatte sich der Sturm gelegt? Es schien so. 66
Der Mörder blieb plötzlich untätig. Warum? Etwa deshalb, weil ihm – Jan Sehlke? Peer van Hoest? – die Polizei im Nacken saß? Oder etwa gar deshalb, weil er – ein ehemaliger Bibliothekar – sich schon in Untersuchungshaft befand? Die Presse fing bereits an, sich neuen Sensationen zuzuwenden. Der Polizeiapparat selbst freilich hörte nicht auf, sein Räderwerk in Gang zu halten. Die Verhöre mit Peer van Hoest und Jan Sehlke ergaben nichts Belastendes. Zu dem Geschäft zwischen dem Fischer und der Firma Termath war es auf ganz natürliche Weise gekommen. Jan Sehlke hatte an einem freien Nachmittag jene Stelle der Küste besichtigt, an der man seine stille Liebe Ruth Kappel aus dem Meer gefischt hatte. Er war dabei auf den in der Nähe vor seinem Häuschen Netze flickenden Peer van Hoest gestoßen, der ihm sein Leid geklagt hatte, daß die Leute nichts mehr von seinen Fischen wissen wollten. Daraufhin hatte sich Sehlke erboten, mit seinem Chef zu sprechen, und so war der Handel entstanden, für den Peer so dankbar sein mußte. Dies alles war der Polizei längst bekannt, aber dann kam noch etwas Entscheidendes hinzu: Jan Sehlke besaß ein Alibi. Er hockte zur Zeit des Mordes an Ruth Kappel in einem Lokal beim Skat. Sechs Männer, vom Wirt und der Bedienung abgesehen, konnten es beeiden. Und hinsichtlich des Fischers verbot sich eigentlich bald jeder weitere Verdacht von selbst. Es meldeten sich nämlich zwei hübsche Mädchen, die vor Jahresfrist ertrunken wären, wenn sie Peer van Hoest nicht unter größter Gefahr für sein eigenes Leben gerettet hätte. Das Höchste war, daß er den beiden verboten hatte, über die Sache ein Wort zu verlieren. Er wolle keinen Rummel, hatte er erklärt. »Wilm«, sagte Leerdam zu Schouwen, »einer, der Mädchen ermordet, ist auf der anderen Seite nicht dazu bereit, sein Leben 67
für sie zu opfern. Das paßt nicht zusammen. Ich werde den um Entschuldigung bitten. Und wissen Sie, was?« »Ja?« »Sie auch.« »Ich auch? Wieso ich auch?« »Weil Sie den genauso verdächtigt haben wie ich.« »Das ist nicht wahr, Chef«, widersprach Schouwen energisch. »Schouwen!« »Ja?« »Sie behaupten, daß ich lüge?« »Nein, Chef.« »Was dann?« »Daß Sie sich nicht mehr richtig daran erinnern können.« »Schouwen!!« »Ja?« »Sie wollen behaupten, daß ich schon an Verkalkung leide?« »Chef, Sie -« »Wollen Sie das wirklich behaupten?« »Nein, Chef.« »Na also; ich wundere mich, wie mißverständlich Sie sich manchmal ausdrücken können.« »Ich bitte um Entschuldigung, Chef.« »Nicht nötig, Wilm. Bitten Sie darum, wie gesagt, den Fischer van Hoest, das genügt mir.« Kommissär Leerdam hatte es aufgegeben, sich über Mißerfolge zu ärgern. Ein Trost war es ihm, daß auch die Spezialisten aus Amsterdam und Den Haag nicht weiterkamen. Mit viel Arroganz in ihren Mienen waren sie in Leeuwarden erschienen, mit wachsender Bescheidenheit traten sie inzwischen auf. Was 68
sie ausgruben, waren fast immer nur Dinge, die Leerdam und Schouwen schon nach den ersten drei Tagen aktenkundig gemacht hatten. Man konnte sich erlauben, in etwa das Aussehen des Mörders zu rekonstruieren – weniger sein Aussehen, als seine Art. Man kannte seine Arbeitsweise, wußte von dem Lied, mit dem er bei Nebel pfeifend seine Opfer in den Tod gelockt hatte. Und man war sicher, daß es sich um einen Psychopathen handeln mußte, um einen Geisteskranken, der mordete um des Mordens willen und sich an seiner Tat berauschte wie der deutsche Massenmörder Pleil, der hinter Gittern seine Memoiren schrieb und sie betitelte: MEIN KAMPF von Rudolf Pleil, Totmacher a. D. Großrazzien in allen Herbergen, Gasthäusern, Scheunen, in sämtlichen Absteigen Hollands nach dem Unbekannten, der seine blutbefleckte Jacke gegen die Schnaps-Flaschen des Hausierers und Landstreichers Wilhelm Heyst eingetauscht hatte, blieben immer noch ergebnislos. War er nur ein Phantom, eine Erfindung Heysts? Oder gab es ihn wirklich? War er nur spurlos verschwunden? Hatte ihn der Nebel verschluckt? Wann würden diese Fragen beantwortet werden? Es blieb, wenn man so sagen will, still. Die Aufschreie des Entsetzens, die durch ganz Holland gegangen waren, verklangen. Aber gerade weil es so still blieb, empfand Kommissär Leerdam dies als Bedrohung. Der Mörder nahm sich Zeit. Das war zwar bisher nicht seine Art gewesen, aber anscheinend sah er dazu nun irgendeine Veranlassung. Wahrscheinlich wartete er, bis sich die Erregung, welche die ganze Nation befallen hatte, wieder legte und die Mädchen erneut unvorsichtig und vertrauensselig genug wurden, um seinen Verlockungen zu erliegen. Dann mochten wieder neue Morde von ihm drohen. 69
Dieser festen Überzeugung war Kommissär Leerdam, und deshalb fuhr er bei jedem Läuten des Telefons zusammen, weil er fürchtete, daß es die erste der erwarteten Schreckensmeldungen sei. Mit steinerner Miene hatte er an der Beisetzung der drei Opfer teilgenommen, als sie, nachdem die Staatsanwaltschaft sie zur Beerdigung freigegeben hatte, an ein und demselben Tag im Leeuwardener Friedhof bestattet wurden. Der Schrotthändler und Fuhrunternehmer Dan Paldoorn hatte in diesen Tagen viel zu tun. Er schaffte die Kränze bergeweise auf den Friedhof und mußte sich sogar aus einer Nachbarstadt noch einen Bestattungswagen ausleihen, um die drei Särge mit allem Pomp getrennt zu ihren letzten Stätten fahren zu können. Während des Beisetzungsrituals behielten, wie gewohnt, wieder viele Kriminalbeamte, an der Spitze Paul Leerdam, die Trauernden im Auge. Reden wurden gehalten. Trauermusik erklang. Die Menschenmenge war riesig. Neben Leerdam stand Paldoorn, der Bestattungsunternehmer. »Entsetzlich!« sagte er. Der Kommissär kannte seine Pappenheimer und antwortete bissig: »Was wollen Sie, Ihr Geschäft blüht doch!« »Darauf würde ich gerne verzichten.« »So?« »Entsetzlich finde ich die Tatsache, daß die meisten hier nur aus Neugierde gekommen sind, aus Sensationslust.« »Das stimmt. Einer aber sicher nicht.« »Wer nicht?« »Der Mörder.« Paldoorn zuckte zusammen. »Sie glauben, daß der hier ist?« »Ja.« 70
»Aus welchem Grund? Das wäre doch sehr gefährlich für ihn. Ich kann mir vorstellen, daß Sie nicht der einzige Polizeibeamte sind, der anwesend ist.« Leerdam schwieg. »Daß der so dreist ist«, fuhr Paldoorn kopfschüttelnd nach einem Weilchen fort, »halte ich deshalb für unwahrscheinlich.« Der Kommissär sagte immer noch nichts. »Oder er fühlt sich so sicher«, meinte der Multiunternehmer, »daß er glaubt, der Polizei auf der Nase herumtanzen zu können.« Dazu konnte Leerdam nicht mehr länger schweigen. Er sagte: »Je sicherer er sich fühlt, desto sicherer kriegen wir ihn.« Leere Worte, dachte er aber dabei über sich selbst. »Sie sind also immer noch überzeugt«, antwortete Paldoorn, »daß Sie den erwischen?« »Und zwar bald!« trumpfte Leerdam auf. Er erlag damit einem Bedürfnis der Öffentlichkeit gegenüber, auch wenn diese ›Öffentlichkeit‹ nur aus einer einzigen Person bestand. Der Bestattungsmensch würde schon – am Stammtisch oder wo immer – für die nötige Verbreitung sorgen. Der Bürgermeister schien freilich nicht der Überzeugung zu sein, daß man mit einer Verhaftung des Mörders in absehbarer Zeit rechnen könne. Wieder hielt er eine Rede, in der sich die Angriffe gegen die Polizei steigerten. Dem Volk sprach er damit aus dem Herzen. Paul Leerdam verließ den Friedhof. Eine Stunde später hatten sich auch alle anderen verlaufen. Die offenen Gräber mit den Särgen auf ihrem Grund lagen verlassen da. Nur eine einzige Gestalt zeigte sich noch, welche die Schleifen der Kränze musterte und eingehend die Blumen betrachtete. Es war ein gutaussehender Mann. Er schritt von Grube zu Grube und grüßte gemessen die beiden 71
Totengräber, die mit Spaten aus der nahen kleinen Kapelle traten, um die Gräber endgültig zuzuwerfen. Dann wendete auch er sich ab und verließ den Friedhof mit einer Miene, in der ein leises Lächeln mit dem an diesem Ort angebrachten Ernst im Widerstreit lag. Er war der Mörder. Einige Zeit nach dem großen Begräbnis wurden die Spuren in den Mordfällen Maria Steufels und Grit Vonmeeren doch etwas deutlicher. Beamte der Sonderkommission hatten die letzten Wochen der Mädchen vor ihrem schrecklichen Ende systematisch aufgerollt, hatten zwei-, dreimal von vorn begonnen und waren schließlich zu einem Faktum gelangt, das beiden Fällen gemeinsam war: Es gab sozusagen einen ›Filmriß‹ im Leben der Mädchen, und zwar zu der Stunde, in der sie ihren Mörder kennengelernt hatten. Von da an waren sowohl Maria als auch Grit ungewohnt ›still‹ geworden; sie hatten zu ihren Freundinnen oder Angehörigen über jenen Mann kaum etwas gesagt. Sie hatten über ihn nur ganz wenig gesprochen, und es war klar, daß sie dazu von ihm selbst veranlaßt worden waren, denn er hatte ja gewußt, daß die Stunde des unnatürlichen Todes für jedes der Mädchen kommen und danach die Suche der Polizei nach ihm einsetzen würde. Überraschend war dennoch, daß sich die Mädchen seiner Einflußnahme in solch fataler Weise gebeugt hatten. Die Erklärung konnte nur im Erotischen liegen. Der Mann mußte auf diesem Felde eine große Macht über seine Opfer gewonnen haben. Was blieb konkret im Netz der Polizei hängen? Wie gesagt, nicht viel. Nur aus gelegentlichen Bemerkungen der Opfer rundete sich ein Bild, das die Verwirrung zunächst noch größer machte. Bei Maria Steufels aus Medemblick, nördlich von Hoorn, war die neue Bekanntschaft ein eleganter Herr gewesen, mit einer 72
weichen, zärtlichen Stimme und schönen, gepflegten Händen… so hatte ihn Maria einmal ihrer Nachbarin bruchstückhaft geschildert. Sie hatte ihn bei einem Sonntagstanz kennengelernt, und die beiden waren in Hoorn öfter zusammengekommen. Bei Grit Vonmeeren aus Kennum auf der Insel Terschelling war es ganz anders gewesen, und das brachte für die Polizei ein verwirrendes neues Element in die Sache. Grit war einem Mann in mittleren Jahren mit angegrauten Schläfen und einer schönen, dicken Hornbrille (wie die etwas einfältige Grit im Dorf einer Freundin erzählt hatte) begegnet. Er stieß beim Sprechen etwas mit der Zunge an und schien ein mittlerer Beamter zu sein. Er trug einen einfachen Konfektionsanzug und Hemden, deren Kragen nicht immer ganz sauber waren. Das fiel der Hausgehilfin Grit an vordringlicher Stelle auf, und sie erzählte, daß sie zu dem Mann gesagt habe, wenn er erst mal eine Frau besäße, höre das alles auf. Darauf habe er geantwortet, daß das aber dann eine Frau sein müßte, die Grit hieße. Bekannt geworden sei sie mit dem Mann am Strand von Kennum… er habe dort Muscheln gesammelt. Für den Unterricht. Auf die Frage, ob er denn Lehrer sei, habe er jedoch geschwiegen. Paul Leerdam und die Kollegen der Sonderkommission brüteten lange über diesen widerspruchsvollen Angaben. »Das läßt mich geradezu an einen gelernten Schauspieler denken«, sagte Leerdam. »Also an einen Akademiker mit einer Nebenausbildung zum Schauspieler mit abgebrochenem akademischem Studium« erlaubte sich Schouwen zu sagen. Das war eine Frechheit von ihm. Prompt erfolgte die Reaktion. »Schouwen!« »Ja, Chef?« 73
»Wie soll ich das verstehen?« »Keineswegs falsch, Chef.« »Sie haben wohl das Bedürfnis, mangels Eignung zum Kriminalbeamten zur Verkehrspolizei versetzt zu werden.« »Durchaus nicht, Chef.« »Dann erinnern Sie mich gefälligst nicht an meinen Mißgriff mit dem Bibliothekar. War ich nicht der erste, der den Verdacht gegen ihn widerrief?« »Absolut, Chef.« »Und wer regte sich am meisten auf, als ihn der Untersuchungsrichter laufen ließ?« »Ich, Chef.« »Na also.« Leerdam klopfte mit dem Zeigefinger auf die Schreibtischplatte. »Und jetzt sagen Sie mir, was Ihrer Meinung nach diese plötzliche Maskerade des Mörders zu bedeuten hat… graue Schläfen, Hornbrille, vernachlässigte Kleidung. Er macht sich älter, glanzloser. Was wir bisher von ihm eruieren konnten, sah alles ganz anders aus.« »Er wird vorsichtiger.« Leerdam nickte. »Das denke ich auch, ja. Er hat angefangen, in verschiedene Häute zu schlüpfen, um der Gefahr vorzubeugen, daß in allen Zeitungen eines Tages ein nach den von uns zusammengetragenen Angaben angefertigtes, ihm ähnliches Phantombild auftaucht.« Schouwen nickte zustimmend, sagte jedoch trotzdem: »Es könnte auch sein…« »Was?« fragte Leerdam, als Schouwen zögerte, den Satz zu vollenden. »… daß der Kerl die Maskerade, wie Sie es nennen, treibt aus reiner Lust am Schabernack.« 74
»Schabernack?« »Ich meine damit, daß er vielleicht einer ist, der eben alles auf die absolute Spitze treibt.« »Schon möglich«, brummte Leerdam, »aber ich sehe da eine Möglichkeit. Wissen Sie, welche?« Diesmal mußte der helle Wilm Schouwen passen. »Nein«, gab er betrübt zu. »Die grauen Schläfen«, sagte Leerdam. »Die färbte sich der also wenn er zu Grit Vonmeeren ging. Und zu Hause muß er sie sich wieder abgewaschen haben, sonst wäre das ja am nächsten Tag den Leuten in seiner Umgebung aufgefallen. Das erfolgte ein paarmal. Was müssen wir also – erstens – feststellen, Wilm?« Nun hatte es natürlich auch bei Schouwen gefunkt. Eifrig antwortete er: »Ob es ein nach Bedarf leicht anzuwendendes und wieder abzuwaschendes Haarfärbemittel gibt…« »Richtig«, nickte der Kommissär. »Und zweitens?« »Welche Friseure oder Drogisten in Leeuwarden und Umgebung dieses Mittel führen?« »Und drittens?« »Wer es in letzter Zeit wo erworben hat.« »Genau.« Eine neue Aufgabe hatte sich also gestellt. Beamte schwärmten aus und – kehrten mit leeren Händen wieder. Ein weiterer Schlag ins Wasser mußte verzeichnet werden. Bei keinem Friseur, keinem Drogisten war ein solches Haarfärbemittel verlangt worden. Kommissär Leerdam erkannte, daß das, worin er steckte, die alte Sackgasse war. Ein Zufall kam ihm zu Hilfe. Es sind oft Zufälle, die Dinge, welche aussichtslos erscheinen, 75
wieder ins Rollen bringen, Zufälle, so unglaublich, daß man sich fragt, ob nicht doch eine höhere Gerechtigkeit ihre Hand mit im Spiel hat und die Karten erneut so mischt, daß einige Trümpfe obenauf liegen. Der Zufall hieß Heiner und tauchte an einem frühen Morgen in Workum auf. Workum ist ein kleiner Hafen am Ausgang der Ijsselsee. In Workum werden die kleinen Frachter beladen, die durch das Wattenmeer rutschen und die holländische Küste entlangfahren. Ein an sich unbedeutender Hafen, der plötzlich durch den Kranführer Heiner für wenige Tage in den Blickfang der Öffentlichkeit rückte. Im Brackwasser des kleinen Hafens Workum fand Heiner einen Herrenanzug. Einen grauen, reinwollenen, teuren Herrenanzug – keinen von der Stange also. Seine ganze Vorderseite war mit Blut besudelt. Leerdam fuhr mit zwei Kollegen von der Sonderkommission sofort hinaus zur Küste. Wilm Schouwen hatte an diesem Vormittag dienstfrei und schlief zu Hause. »Das haben Sie gut gemacht«, sagte Leerdam zu dem Kranführer Heiner. »Es war richtig, sofort die Polizei zu verständigen.« Heiner grinste und sprach von der ausgesetzten Belohnung, bei der man ihn nicht vergessen dürfe, wenn sein Fund zur Ergreifung des Frauenmörders beitrüge. Er brachte also ganz selbstverständlich den blutigen Anzug in Zusammenhang mit der Bestie, die seit Wochen Mädchen den Kopf abhackte. Und einen anderen Zusammenhang hätte es in jenen Tagen für ganz Holland nicht gegeben. Der Anzug erwies sich als eine gute Schneiderarbeit. Die Knopflöcher und die Revers waren mit der Hand genäht, zur Innenverarbeitung war bestes Steifleinen und Roßhaar verwendet worden. Zwar hatte der Besitzer das Schneideretikett 76
herausgetrennt, aber Leerdam frohlockte dennoch. Ein Maßanzug… seine Herkunft mußte sich auch in Leeuwarden feststellen lassen. Jeder Schneider hatte Besonderheiten in seiner Arbeit, jeder Anzug trug irgendwie seine Handschrift. Fand man also den Schneider, hatte man auch den Kunden am Wickel. Und dieser Kunde… nein, mußte nicht unbedingt… konnte aber der Mörder sein. Sehr wahrscheinlich sogar. Die drei Polizeibeamten grinsten einander an. Endlich ein Lichtblick, ein ziemlicher heller sogar! »Meine Herren«, sagte Leerdam zu den zwei anderen, »Workum liegt nördlich von Stavoren. Die Strömung geht aus der Ijsselsee nach Norden ins Meer. Stavoren aber ist die Endstation einer Eisenbahnfähre von Enkhuizen über die Ijsselsee. Nördlich von Enkhuizen, nur wenige Kilometer entfernt, liegt Medemblick, der Wohnort vom Opfer Nr. 3 – Maria Steufels.« Leerdams Miene wurde grimmig, als er in seinen Erläuterungen fortfuhr: »Von Ihnen, meine Herren, kommt einer aus Amsterdam, der andere aus Den Haag. Sie sind also beide hier nicht so ortskundig wie ich. Ich behaupte, daß der Mörder Maria Steufels schon außerhalb von Medemblick getötet hat und sie dann auf eine uns noch unbekannte Weise mit auf die Eisenbahnfähre brachte. In Stavoren stieg er an Land und warf seinen blutbefleckten Anzug, den er schon vor dem Betreten der Fähre gewechselt hatte, ins Meer. Er vertraute darauf, daß der Strom aus der Ijsselsee den Anzug ins weite Meer hinaustreiben würde. Statt dessen aber wurde der Anzug in Workum angeschwemmt, während der Mörder die Leiche – bedenken Sie, welche Nerven diese Bestie hat! – mitschleppte bis Ferwerd, um sie dort an die Küste zu legen, wo der Fischer van Hoest sie fand. Wie er diesen unglaublichen Transport durchführte, ist mir rätselhaft aber wir werden ihn fragen. Jedenfalls wollte er damit seinen Weg verschleiern und uns glauben lassen, daß er auch Maria Steufels an der Küste umbrachte, und zwar, wie die Kappel, ebenfalls bei Ferwerd. 77
Wir haben das bis heute auch angenommen… und hätten es weiterhin angenommen, wenn Heiner uns nicht den Anzug herausgefischt hätte.« Leerdam schöpfte Atem und kam zum Schluß: »Ich sehe jetzt klarer. Der Mörder hat lediglich Ruth Kappel bei Leeuwarden getötet. Alle anderen Morde verübte er in größeren Entfernungen von der Stadt. Nur die Leichen legte er uns quasi schön ausgerichtet im oder am Wasser sozusagen vor die Tür. Wir müssen jetzt bei der Eisenbahnfähre ansetzen. Ein Aufruf an alle Reisenden dieses Tages, sich zu melden, ist fällig. Jede Beobachtung muß als wichtig angesehen werden. Vor allem: Wer hat ein aus dem Rahmen fallendes Gepäckstück, einen überdimensionierten Koffer oder Sack, bemerkt? Wem gehörte es? Vielleicht können wir so den Mörder einkreisen. Ich hoffe es jedenfalls, hoffe es sogar sehr und sehe das erste Licht in dem verdammten Nebel, der die Morde und auch uns bei unserer Arbeit umlagert.« Eine neue Großfahndung lief an. Nach einer Woche hatte Leerdam eine lange Liste vor sich liegen mit den Namen eines Teiles der Passagiere, die am fraglichen Tag die Eisenbahnfähre benutzt hatten. Ihm gegenüber saß ein neu aus Den Haag angereister hoher Beamter des Innenministeriums, den der Minister selbst entsandt hatte, und wartete auf Erklärungen. Mit dem Zeigefinger auf der Liste sagte Leerdam: »Von denen kenne ich fast jeden persönlich.« »Wieso?« fragte der Ministerialbeauftragte. »Sind nur Leeuwardener. Es scheint, als sei damals die halbe Stadt von Enkhuizen nach Stavoren unterwegs gewesen.« »Ist die Liste vollständig?« »Keineswegs. Die Fähre war voll besetzt. Die uns vorliegenden Namen füllen aber nur ein gutes Drittel der Kapazität der Fähre aus.« »Und wieso fehlen die restlichen zwei Drittel?« fragte das 78
hohe Tier zornig. »Weil sich die Betreffenden auf unseren Aufruf nicht gemeldet haben«, antwortete ruhig und gelassen Leerdam. »Kann man denen nicht Strafe androhen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil die gesetzliche Handhabe dazu fehlt.« Theorie und Praxis klafften also wieder einmal auseinander. Der Ministerialbeauftragte war ein As auf seinem Gebiet, aber dieses Gebiet war ein ganz anderes als das des Kommissärs Leerdam, und deshalb konnte sich der Mann hier nur Blößen geben. »Haben Sie dann wenigstens schon damit begonnen«, fragte er, »sich Ihre Leeuwarder vorzuknöpfen?« Leerdam seufzte. »Das ist nicht so einfach«. »Wieso?« »Weil es sich dabei ausnahmslos um angesehene Bürger handelt, die mir, wie gesagt, persönlich bekannt sind.« »Trotzdem muß jeder unter die Lupe genommen werden.« »Sogar zwei meiner Polizisten befinden sich darunter.« »Überprüfen Sie die als erste, um sich nicht dem Verdacht der Begünstigung auszusetzen. Tun Sie alles, unterlassen Sie nichts, wenn Ihnen daran liegt, daß nicht morgen oder übermorgen der Herr Ministerpräsident selbst hier erscheint.« Die Sache lief also an. Sogar der Mörder merkte es, und er packte in aller Ruhe seine Koffer, verstaute sie in seinem Wagen und hatte die Frechheit vor der Abfahrt, den Kommissär Leerdam anzurufen und ihn zu fragen, ob man polizeilicherseits etwas dagegen habe, daß er für zwei Wochen verreise. 79
»Sie wollen verreisen?« antwortete Leerdam. »Ja – aber nur, wenn Sie, wie gesagt, damit einverstanden sind.« »Natürlich bin ich das«, erklärte Leerdam und setzte hinzu: »Aber sagen Sie, wie kommen Sie überhaupt darauf, mich das zu fragen?« »Weil doch längst durchgesickert ist, auf wen sich euer Verdacht jetzt konzentriert.« »Auf wen denn?« »Auf uns Leeuwardener, die wir damals die Eisenbahnfähre von Enkhuizen nach Stavoren benutzt haben.« »So? Und das ist durchgesickert?« »Längst.« Leerdam mußte, ob er wollte oder nicht, lachen. »Ich wünsche Ihnen eine gute Reise«, sagte er. »Danke. Darf ich das so auffassen, daß sich gegen mich kein Verdacht richtet?« »Das dürfen Sie. Wann kommen Sie denn zurück?« »Ich sagte schon: in zwei Wochen.« »Richtig, in zwei Wochen.« »Ich melde mich dann.« »Nicht nötig. Auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen, Herr Kommissär.« Der Mörder fuhr nach Aachen und verbrachte dort nette Tage. Er lief durch die hellerleuchteten Straßen, saß im Theater und lachte über eine Komödie von Shakespeare, ging ins Kino oder stand im weiten Raum des Domes und bestaunte den Thronsitz Karls des Großen. Er sprach auch ein paarmal junge Mädchen an, verlebte einige angenehme Stunden mit ihnen, ohne in seinen Rausch zu verfallen. Immer, wenn er spürte, daß es in seinem Kopf zu tosen begann, daß ihm heiß wurde, 80
verabschiedete er das jeweilige Mädchen ziemlich schroff und eilte in sein Hotel am Bahnhof, wo er sich kalt duschte und erregt atmend ins Bett legte, bis er unruhig einschlief und die Finger im Schlaf noch in die Kissen krallte, als umklammere er einen Frauenhals. Mit großen Interesse las er die holländischen Zeitungen und die giftigen Artikel, die sich mit den Ermittlungen der Polizei befaßten. Diese Veröffentlichungen wurden allerdings schon wieder seltener. Großen Spaß bereiteten ihm die Theorien der einzelnen Berichterstatter, von denen die Fährten noch mehr verwirrt wurden. Nicht nur zwei, sondern fast drei Wochen blieb der Mörder in Aachen und machte sich schöne Tage, dann erst fuhr er zurück nach Leeuwarden und nahm seine Geschäfte wieder auf, ein geachteter Mann, der wohlhabend war und allgemein beliebt. Obwohl ihm Kommissär Leerdam gesagt hatte, daß es überflüssig sei, sich zurückzumelden, tat der dies dennoch. Er war eben tatsächlich einer, der ›alles auf die Spitze trieb‹. Insofern traf Schouwens Vermutung zu. »Ich bin wieder da«, sagte er am Telefon zu Leerdam. »War’s schön?« »Herrlich. Wissen Sie, man kommt viel zu selten auf die Idee, ein paar Tage auszuspannen. Das sage ich auch Ihnen. Gerade Sie scheinen mir einen Urlaub dringend nötig zu haben, nach Ihrem Streß in den letzten Wochen.« »Haben Sie sich auch den Kaiserthron angesehen?« Der Mörder war platt, daß er sekundenlang nichts sagen konnte. »Wo?« stieß er dann hervor. »In Aachen.« »Woher w… wissen Sie«, stotterte er, »daß ich in… in Aachen war?« 81
Ganz schön erschrocken, der Junge, dachte Leerdam erstaunt. Wieso denn? Hat er’s in Aachen mit Weibern getrieben? Das kann er doch, er ist ja hier nicht verheiratet. »Woher ich das weiß, mein Lieber? Ganz einfach: von Ihrem Buchhalter, dem ich begegnet bin.« »Ach so«, kam deutlich erleichtert die Antwort. »Ich dachte schon, sie lassen mich überwachen.« Leerdam lachte. »So viele Beamte hätte ich gar nicht.« »Wie weit seid ihr denn in euren Ermittlungen?« »Es geht voran.« »Gab’s denn, während ich weg war, keinen neuen Mord mehr?« »Das hätten Sie doch gelesen.« »Dazu hätten mir holländische Zeitungen zur Verfügung stehen müssen. Aber ich war ja, wie Sie wissen, im Ausland.« In Aachen warst du, dachte Leerdam. Und in Aachen an eine holländische Zeitung zu kommen, ist so einfach wie in München an Weißwürste. Aachen strotzt von holländischen Zeitungen. Warum lügt der Kerl? fragte sich Leerdam. »Ich muß jetzt Schluß machen«, sagte er. »Nett, daß Sie sich gemeldet haben. Wär’ aber wirklich nicht notwendig gewesen.« Seine Miene war nachdenklich, als er auflegte. An der deutsch-holländischen Grenze bei Kessel, südlich von Venlo, wurde von Grenzbeamten ein Mann mit Schmuggelgut gefaßt. Er hatte versucht, Kaffee (zehn Pfund) und französischen Kognak (zehn Flaschen) über die Grenze zu bringen. Ein harmloser Schmuggler also… auf den ersten Blick. Auf den zweiten… ein Mann, der ganz Holland in Aufregung versetzte. 82
Auf ihn paßte nämlich genau die Beschreibung des Hausierers, der die Jacke mit den Blutflecken am linken Ärmel im Besitz gehabt haben sollte. Endlich! Endlich hatte ihn der Nebel oder – wie immer man will – der Erdboden, der ihn verschluckt zu haben schien, freigegeben. Aber noch stand die Identität nicht fest. In der Grenzstation, die wie alle Grenz- und Polizeistationen Hollands mit seinem Phantombild ausgestattet war, wurde ihm dieses gezeigt, und der Leiter selbst fragte ihn: »Sind Sie das?« Der Schmuggler betrachtete das Bild. Er ließ sich Zeit. »Kann schon sein«, meinte er dann amüsiert. Dir wird das Grinsen rasch vergehen, dachte der Beamte und fuhr fort: »Kennen Sie Haringen?« »Das Nest an der Küste?« »Ja.« »Natürlich. Das bringt mein Beruf mit sich.« »Was ist Ihr Beruf? Schmuggler?« »Nein, das wollte ich nur nebenbei einmal versuchen, heute zum erstenmal, ich schwör’s Ihnen.« »Soso. Und was ist Ihr eigentlicher Beruf?« »Hausierer.« Der Beamte rieb sich im Geist die Hände. »Haben Sie in Haringen schon einmal übernachtet?« setzte er das Verhör fort. »Sicher, wo hätte ich das noch nicht?« »Bevorzugen Sie, wenn Sie in Haringen nächtigen, ein bestimmtes Quartier?« »Ja, eine Schenke.« »Etwa die der ›Roten Vera‹?« 83
»Ja, immer. Warum interessiert Sie das alles?« Dem Beamten wurde fast schwindlig. Es fehlte nur noch eine Frage. »Wann waren Sie zum letztenmal dort?« »Zum letztenmal?« Der Mann überlegte. »Das Datum weiß ich nicht mehr. Es ist aber auf alle Fälle nicht so lange her.« Das genügte! Ab mit dem Kerl nach Leeuwarden! Die brauchten dort dringend einen Erfolg, da sich auch die Nachforschungen nach dem Schneider, der den Maßanzug angefertigt hatte, als ergebnislos erwiesen hatten. In Leeuwarden fand sich keiner, und in ganz Holland konnte man nicht suchen. Kommissär Leerdam wartete schon auf den Schmuggler. Man hatte ihn ihm fernmündlich angekündigt. Auch Wilm Schouwen war zur Stelle. Den beiden dauerte es viel zu lange, bis der Wagen des Zolls mit dem Verdächtigen eintraf. Endlich war dies der Fall, und der zu dieser Stunde wichtigste Gefangene Hollands wurde der Polizei von zwei schwerbewaffneten Zollbeamten ›übergeben‹. Er war ein Mann in den Vierzigern, vom Wind und Wetter eher gezüchtigt als gegerbt, mit einem Mausgesicht und den Manieren eines Pennbruders. Das konnte gar nicht anders sein. Als er bemerkte, welche Aufregung mit seinem Erscheinen verbunden war – Leute wie er spüren so etwas untrüglich -, fragte er frei heraus: »Worum geht’s eigentlich?« »Wurde Ihnen das noch nicht gesagt?« antwortete Leerdam. »Nein. Die ritten nur auf Haringen herum. Damit muß es etwas zu, tun haben.« »Ganz recht, in diesem Zusammenhang habe ich ein paar Fragen an Sie…« 84
»Meinetwegen«, nickte der Gefangene gleichmütig. Leerdam richtete den Blick auf seine Jacke, zeigte mit dem Finger auf sie. »Woher haben Sie die?« »Die Jacke?« »Ja.« Der Verdächtige wußte, daß er sie von einer Wäscheleine gestohlen hatte, und wurde vorsichtig. »Woher soll ich die haben? Das weiß ich nicht mehr. Entweder habe ich sie gekauft, oder sie wurde mir geschenkt – ist alles möglich. Jedenfalls weiß ich das nicht mehr.« »Wieso wissen Sie das nicht mehr? Sie laufen doch erst seit kurzem in dieser Jacke herum?« »Seit kurzem?« »Ja, seit Ihrem letzten Aufenthalt in Haringen.« Der Penner entschloß sich zu einem Geständnis. Was konnte ihm schon viel passieren wegen einer lächerlichen gebrauchten Jacke? »Also gut«, sagte er, »ich habe sie geklaut. Ich verstehe nur nicht euer ganzes Gedöns darum – Phantombild, Sondertransport unter schwerer Bedeckung hierher, große Übergabe und so weiter. Habt ihr nichts anderes zu tun?« »Doch, haben wir…« Leerdam gab Schouwen einen Wink. Dieser Auftritt war vorbereitet. Der Assistent ging ins Zimmer nebenan und kam aus demselben wieder mit dem Gegenstand zum Vorschein, um den sich hier alles drehte: die Jacke mit den Blutresten am linken Ärmel. »Erkennen Sie die?« fragte Leerdam den Penner und rechnete mit einem glatten Widerspruch. Doch zu seiner Überraschung erwiderte der Mann nach kurzer 85
Prüfung: »Ja, meine alte Jacke.« »So, das geben Sie also zu?« »Warum soll ich das nicht zugeben?« Leerdam eröffnete den Generalangriff. »Deshalb nicht!« sagte er mit schneidender Stimme und hielt ihm den Ärmel unter die Nase. Der Penner erbleichte jedoch nicht. Er blickte verständnislos zwischen dem Ärmel und Leerdam hin und her und fragte: »Was wollen Sie damit?« »Sie sollen mir sagen, was das für Flecken sind«, erklärte Leerdam und rechnete wieder mit einer ganz anderen Antwort als derjenigen, die er bekam. Diese lautete nämlich: »Blutflecken.« »Hühnerblutflecken?« »Nein, Menschenblutflecken.« Der Kommissär mußte schlucken. »Das sagen Sie so ruhig?« »Warum nicht?« »Welche Blutgruppe haben Sie? Wissen Sie das?« »Das weiß ich zufällig vom Militär her. Gruppe B.« »So, dann kann also das Blut am Ärmel nicht von Ihnen selbst stammen.« »Sicher nicht.« »Wie gedenken Sie mir überhaupt zu erklären, daß Sie wissen, daß es sich da um Blut handelt? Wer erkennt das schon so ohne weiteres?« Der Penner grinste überlegen. »Das kann ich Ihnen aus zwei Gründen erklären. Erstens, weil ich versucht habe, die Flecken rauszuwaschen. Ging aber nicht. Blut ist hartnäckig, ich konnte das daran wieder einmal 86
sehen…« »Und zweitens?« »Zweitens, weil mir derjenige, von dem ich die Jacke habe, sagte, daß es Nasenblut von ihm sei.« Leerdam bekam fast einen Schluckauf. »Wie war das? Derjenige, von dem Sie die Jacke haben…?« »Ja.« »Sie wollen damit sagen, daß auch Sie nicht der ursprüngliche Besitzer der Jacke sind?« »Ganz recht.« »Und daß das Blut schon am Ärmel war, als Sie die Jacke übernommen haben?« »Sicher, das muß euch der Betreffende bestätigen, von dem ich sie habe.« Leerdam holte tief Atem und stellte die Frage, von der er wieder einmal glaubte, daß sie die entscheidende sei. Aber wie oft hatte er das in den vergangenen Wochen schon gedacht? »Wer ist der Betreffende?« »Den müßt ihr euch suchen, den Namen kenne ich nicht«, erwiderte der Penner gemütlich, woraufhin dem Kommissär die Nerven rissen, so daß er plötzlich schrie: »Ich warne dich, Mensch! Wenn du uns den nicht lieferst, halten wir uns an dich! Nur damit kannst du mir beweisen, daß du nicht gelogen hast!« »Ihr müßt ihn euch suchen«, wiederholte der Penner, unbeeindruckt vor dem Gebrüll. »Und ihr werdet ihn finden. Ihr habt ja auch mich gefunden, ohne meinen Namen zu wissen.« Kommissär Leerdam hatte die Nase voll. Ich vergreife mich an dem, dachte er. Er fühlte sich also momentan nicht mehr in der Lage, das Verhör in Bahnen, die vorgeschrieben waren, fortzuführen. 87
»Machen Sie weiter«, sagte er zu Schouwen und verließ den Raum, um draußen auf dem Korridor ein Weilchen auf und ab zu laufen und seine Ruhe wiederzufinden. Wilm Schouwen ließ sich inzwischen von dem Penner folgendes erzählen: »Die Sonne schien, eine Seltenheit. Ich lag hinter einem Busch, wärmte mich und schlief ein. Als ich wach wurde, weil mich fror, dämmerte es schon. Ein Mann tauchte auf und wollte ganz in meiner Nähe eine Jacke ins Meer werfen. Er hatte mich nicht gesehen. ›Halt!‹ rief ich. ›Geben Sie die mir! Sehen Sie sich die meine an, dann wissen Sie, warum!‹ Er sträubte sich, wies auf die Verschmutzung des Ärmels hin, auf das Blut. Von seiner Nase, sagte er. Als ich sah, daß ich die Jacke nicht anders kriegen würde, riß ich sie ihm plötzlich aus der Hand und lief weg. Ein paar Schritte folgte er mir, dann gab er auf. Es war ja schon, wie ich sagte, ziemlich dunkel. Wenige Tage später war ich aber die Jacke schon wieder los. Ich tauschte sie ein gegen drei Flaschen Schnaps von einem, der ein Trottel war. Ich hätte sie ihm auch für zwei gegeben. Fragt den Betreffenden doch selber. Seinen Namen weiß ich allerdings ebenfalls nicht, das ist bei uns nicht üblich, aber ihr müßt ja, wenn ich so sagen darf, Kontakt mit dem haben…« Der Penner zeigte auf die Jacke und schloß: »Woher hättet ihr die sonst?« Schouwen wollte, um sich zu bewähren, möglichst viel unter Dach und Fach bringen, ehe der Kommissär ins Zimmer zurückkehrte. Deshalb sagte er rasch: »Beschreiben Sie mir den Mann, der die Jacke ins Meer werfen wollte.« Der Penner sah an die Decke und schloß die Augen, um zu überlegen. Gleich öffnete er sie aber wieder und stellte die Zwischenfrage: »Was ist eigentlich los mit diesem verdammten Stück? Warum der Wirbel?« Schouwen hatte das Gefühl, einen Unschuldigen vor sich zu 88
haben, einen Unschuldigen jedenfalls in der Sache, die hier zur Debatte stand. Er konnte darin natürlich nicht absolut sicher sein, setzte aber mit der Unbedenklichkeit der Jugend alles auf eine Karte, indem er sagte: »Wir glauben, daß der ursprüngliche Besitzer der Jacke der seit Wochen meistgesuchte Mann Hollands ist.« Dem Penner fiel der Unterkiefer herunter. »Der… Frauenmörder?« stammelte er. »Ja. Deshalb ist Ihre Beschreibung so wichtig.« Daraufhin erfolgte das gleiche wie vorher, der Penner sah wieder an die Decke und schloß die Augen, schloß sie ganz fest, um sich an alles zu erinnern. Mit Unterbrechungen sagte er: »Es war ja schon dunkel… Ich sah mehr auf seine Jacke in der Hand, als auf ihn selbst… Er war nicht klein und dick, sondern schlank, hatte Geld, das konnte man riechen…« »Trug er eine Brille?« »Nein.« »Welche Haare hatte er? Angegraute?« »Weiß ich nicht. Konnte ich nicht sehen.« »Fiel Ihnen ein besonderes Merkmal auf?« »Nein… oder doch: ein Goldzahn links oben.« »Sind Sie sicher?« stieß Schouwen erregt hervor. »Ja, der Zahn blitzte in der Dunkelheit.« Wilm Schouwen lief auf den Korridor hinaus, um den Chef hereinzurufen, und bald sah sich der Penner in den Genuß versetzt, aus einer dicken Zigarre, die dem Privatbestand des Kommissärs entstammte, dichte Wolken zur Decke emporschicken zu können. »Ihr glaubt mir also?« fragte er die beiden Beamten. Er schloß dies aus der Freundlichkeit, die ihm plötzlich entgegenschlug. 89
»Ja«, sagte Leerdam. »Und wenn wir uns irren sollten, wäre das auch nicht so schlimm. Wir würden Sie wiederkriegen, genauso, wie wir Sie diesmal schon gekriegt haben.« »Heißt das, daß ich entlassen bin?« »Ja.« »Ohne Auflagen?« »Ohne Auflagen. Sie müssen uns nur sagen, wohin Sie sich wenden wollen, damit wir Sie sofort rufen können, wenn wir Sie zu einer Gegenüberstellung brauchen.« »Zu einer Gegenüberstellung mit dem… Mörder?« »Ja. Also wohin?« Der Penner dachte kurz nach, grinste dann. »Meine Schmuggelware bin ich los«, sagte er. »Ich muß also, bis ich wieder zu etwas Geld komme, in der nächsten Zeit auf Pump leben. Das kann ich nur bei der ›Roten Vera‹, die ist prima, hat ein Herz für unsereinen. Damit wissen Sie, wo ich zu erreichen bin.« »Sie können Ihrer Gönnerin sagen«, mischte sich Schouwen ein, dem das Herz über seinen Erfolg voll war, weshalb ihm der Mund überlief, »daß sie Ihnen ruhig etwas stunden kann. Ihnen steht vielleicht eine Belohnung ins Haus.« »Belohnung für was?« »Für die Ergreifung des Mörders.« »Wieviel?« »Zehntausend Gulden.« »Zehn…«, der Penner schnappte nach Luft, »… tausend Gulden?!« Das konnte er sich gar nicht vorstellen. Noch als er aus dem Polizeigebäude heraus auf die Straße trat, setzte er benommen einen Fuß vor den anderen. Und nun geschah etwas Katastrophales. 90
Der Mörder, der ja ganz in der Nähe des Präsidiums wohnte, blickte zufällig aus dem Fenster und entdeckte den Penner, als dieser gerade das Gebäude verließ. Der Mörder erstarrte. Alle Alarmklingeln in ihm läuteten. Und dann handelte er blitzschnell. Das Glück kam ihm zu Hilfe. Zuvor war er eine Stunde lang bemüht gewesen, wieder einmal in die Maske des angegrauten Biedermannes zu schlüpfen, weil er sich abends mit einem Küchenmädchen treffen wollte, das dadurch in höchster Lebensgefahr schwebte. Nun mußte also das Programm raschestens geändert werden. Den Biedermann hatte der Penner nie gesehen, nicht bei Tag und nicht bei Dunkelheit. Es war also dem Mörder möglich, dem Penner zu folgen, ohne von diesem gleich entdeckt zu werden. Und dies tat er. Er folgte dem Penner bis in die Gegend von Haringen, benutzte wie dieser die gleichen öffentlichen Verkehrsmittel. In der Hand trug er seine neue Aktentasche mit ihrem mörderischen Inhalt. Der tote Penner wurde geköpft in seinem Blut an der der Deichböschung unweit der Schenke der ›Roten Vera‹ gefunden. Zu dieser Stunde hielt sich der Mörder schon wieder in seiner Wohnung auf und versuchte, wie üblich nach einem vollbrachten Werk, zufrieden einen guten Schluck zu trinken. Das gelang ihm aber heute nicht. Unruhe trieb ihn durchs Haus. Er lief pausenlos von Zimmer zu Zimmer. Spürte er, daß sich die Schlinge, für die er so lange nur Hohn und Spott übriggehabt hatte, nun doch enger zog? Paul Leerdam stand vor der Leiche des Penners bzw. Schmugglers bzw. Hausierers, über die man eine Decke geworfen hatte. Die ›Rote Vera‹ jammerte im Hintergrund inmitten einiger Gäste und beteuerte immer wieder, nicht zu wissen, wer das getan haben könnte. Leerdam stand mit gesenktem Kopf da. In ihm bohrte die Frage: Woher wußte der Mörder, daß es höchste Zeit für ihn 91
war, diesen Mord zu verüben? Woher wußte er das? Die jammernde Wirtin hörte nicht auf zu beteuern, daß sie sich nicht vorstellen könne, wer das getan habe.. »Hauen Sie ab!« brüllte Leerdam plötzlich, der sich gestört fühlte. »Verschwindet alle hier!« Woher wußte der das? fragte er sich dann wieder. Er zermarterte sich sein Gehirn. Und mit der Zeit nahm der Gedanke, der ihn von Anfang an beschlichen hatte, immer festere Formen an. Er wehrte sich dagegen, konnte ihn aber nicht mehr von der Hand weisen. Welcher Gedanke das war, wurde klar, als Leerdam seinen Assistenten zu sich rief, der in der Nähe den Boden nach Fußspuren absuchte. »Wilm«, fragte ihn der Kommissar mit unterdrückter Stimme, »sagen Sie mal, kennen Sie in unserer Nähe einen Polizisten, der links oben einen Goldzahn hat?« »Chef«, stieß Schouwen hervor, »an das gleiche habe ich auch schon gedacht.« »Und?« Der Assistent zuckte die Achseln. »Ich weiß von keinem.« »Aber woher hat der Mörder so schnell in Erfahrung gebracht, daß er diesen Mord verüben muß?« »Vielleicht… vielleicht steckt ein Polizist mit ihm unter einer Decke.« »Das müßte aber dann einer in unserer unmittelbaren Umgebung sein.« »Sicher.« Leerdam stieß einen Fluch aus und setzte hinzu: »Das macht mich fertig, kann ich Ihnen sagen!« Schouwen hielt einen kleinen Sack in der Hand, in dem sich 92
Gips befand. »Haben Sie etwas gefunden?« fragte ihn Leerdam. »Ja, einen leidlich guten Schuhabdruck auf halbem Weg zu der Scheune dort drüben; in der Nähe einer Wasserlache, wo die Erde besonders weich ist. Der Abdruck stammt nicht von dem Ermordeten, das habe ich schon festgestellt.« »Endlich!« sagte Leerdam mit Genugtuung in der Stimme. »Endlich ein Abdruck! Und wissen Sie, woher das kommt? Weil wir gestern und heute einmal ordentliches Wetter hatten. Kein Nebel, kein Regen, keine Nässe, die alles aufweichte und verwischte. Gott sei Dank!« Außer diesem Abdruck, der sehr wichtig war, fand sich aber in der Umgebung der Leiche nichts Brauchbares mehr. Uwe Hellmond war ein Polizeibeamter, wie er im Buche steht: korrekt, diensteifrig, mutig, hilfsbereit. Er stand im Alter von 45 Jahren und wußte, daß er in zehn Jahren in Pension würde gehen können. Schon mit 23 Jahren hatte er seine Frau Wilma, eine hübsche Kolonialwarenhändlerstochter, geheiratet. Die beiden hatten selbst auch eine inzwischen 20 Jahre alt gewordene Tochter, die Antje hieß. Antje hatte nach dem Besuch der Handelsschule als Sekretärin bei der Polizei in Leeuwarden zu arbeiten begonnen. Ihr Vater hatte ihr diese Berufswahl sehr empfohlen. Etwas Krisenfesteres als eine Stellung bei der Polizei gäbe es nicht, war seine Meinung. Mutter Wilma hätte ihre Tochter zwar lieber in einem Beruf gesehen, in dem sie nicht den ganzen Tag von Verbrechen umgeben gewesen wäre, aber Wilma war in dieser Familie nicht diejenige, die das Sagen hatte. Das behielt sich schon ihr energischer Mann vor, was aber nicht hieß, daß seine Gattin etwa ein Sklavinnendasein hätte führen müssen. O nein, in ihrem Naturell lag es, daß es ihr gar nicht so schlecht benagte, ›geleitet zu werden‹. Die Hellmonds lebten in einer Dienstwohnung in der Nähe des Präsidiums mitten in der Stadt Leeuwarden. Mutter Wilma, ein 93
wenig dicklich geworden mit den Jahren, versah diese Dreizimmerwohnung mit dem Fleiß einer geborenen Hausfrau, und wenn Vater und Tochter abgespannt und hungrig vom Dienst heimkamen, fanden sie die Wärme einer wirklichen Heimstatt vor, die ihnen nach dem oft doch sehr hektischen Betrieb im Präsidium guttat. Antje besaß lange blonde Haare und blaue Augen, sie war schlank und lustig, und sie hatte eine große Leidenschaft – das Kino. Viele Mädchen in ihrem Alter schwärmen für Leinwandhelden, aber bei Antje saß das noch tiefer. Hier muß daran erinnert werden, daß es damals das Fernsehen noch nicht gab, welches heute dem Kino zu einem wesentlichen Teil den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Antjes Zimmerwände waren bepflastert mit Fotos von den Filmstars jener Jahre, an der Spitze Stewart Granger und Rudolf Prack. Antje versäumte keinen Film im ›Film-Palast‹, dem größten Kino Leeuwardens, das sogar – eine Seltenheit – numerierte Plätze hatte. Meistens schlossen sich ihr zwei Freundinnen an. Bei einem besonders schönen – sprich: traurigen – Film war oft auch Mutter Wilma mit von der Partie. Sie hatte dann jeweils Gesprächsstoff für Tage, indem sie den Nachbarinnen erzählte, wie schlecht doch die Welt sein könne – im Kino wäre es zu sehen. Es kam aber auch vor, daß Antje allein in den ›Film-Palast‹ ging; zweimal hatte sie das sogar schon getan, um einen jungen Mann zu treffen, von dem sie angesprochen worden war, der ihr gefiel, der jedoch nach den beiden Kinobesuchen zu zärtlich werden wollte und mit einer Ohrfeige verabschiedet wurde. Die Eltern, denen Antje dies erzählte, lobten ihre Tochter. Vater Uwe schrieb ihr Verhalten gleich wieder auf sein Konto, indem er zu seiner Frau stolz sagte: »Siehst du, Wilma, meine Erziehung…« Meine nicht, wie? dachte Wilma, sagte aber: »Jaja, Uwe.« Heute nun wurde im ›Film-Palast‹ ein neuer Streifen aus Deutschland gezeigt. ›Vater braucht eine Frau‹ hieß er, und 94
Antje freute sich auf ihn, weil er lustig sein sollte. Aus dem gleichen Grund hatte an ihm Mutter Wilma kein Interesse, der es, wie gesagt, lieber war, im Kino tüchtig weinen zu können. Die beiden Freundinnen von Antje, die ihr sonst oft das Geleit gaben, waren heute auch verhindert; die eine wurde von einem Verehrer, der neuerdings in Erscheinung trat, mit Beschlag belegt; die andere konnte einer Geburtstagsfeier ihrer Großmama nicht aus dem Weg gehen. Antje, sozusagen von allen verlassen, mußte also allein das Wagnis auf sich nehmen, den ›Film-Palast‹ anzusteuern. Und es ist schon richtig, dies hier als Wagnis zu bezeichnen. Ohne daß Antje das geahnt hätte, lief sie nämlich Hollands schrecklichstem Frauenmörder aller Zeiten in die Arme. Vater Uwe, der Polizeibeamte, hatte Dienst, von dem er erst sehr spät nach Hause kommen sollte. So besorgte sich Antje also im Vorverkauf eine Karte und ging noch ein wenig spazieren, denn die Vorstellung begann erst in einer halben Stunde. Als Antje den Kassenschalter verließ und sich durch die hinter ihr wartende Menge hinausdrängte, schauten ihr zwei brennende Augen nach. Ein gutaussehender Mann, dessen Maßanzug die Hand eines ausgezeichneten Schneiders verriet, trat unmittelbar nach Antje an die Kasse und verlangte eine Karte zum gleichen Preis. »Unbedingt neben der jungen Dame«, sagte er leise und zwinkerte lustig der Kartenverkäuferin zu, die es oft genug mit solchen Wünschen zu tun hatte und deshalb ohne weiteres ›spurte‹. Das gehörte bei ihr zum Kundendienst. Der Mann zahlte, bedankte sich sehr höflich und eilte dann zum Ausgang, um Anschluß an Antje zu halten. Aber sie war im Gewühl der Straße schon verschwunden. Die Kartenverkäuferin, selbst auch noch jung und hübsch, widmete ihm noch ein paar Gedanken. Ein netter Mann, fand sie. Einer, der mich rasch schwach 95
machen könnte. Warum habe nicht ich das Glück, neben ihm zu sitzen? Er scheint von der Arbeit zu kommen. Dies nahm sie an, weil der Mann eine Aktentasche bei sich trug, der man ansehen konnte, daß sie schwer war. Die Kartenverkäuferin ahnte nicht, welch grauenhaftes Schicksal sich für sie mit ihrem Wunsch, neben diesem Mann zu sitzen, verbunden hätte, wenn er ihr in Erfüllung gegangen wäre. Der Mann stand also nun draußen auf der Straße und blickte sich suchend um. Vergeblich. Antje war nicht mehr zu sehen. Macht nichts, ich sitze ja neben ihr, sagte er sich und steckte die Karte, die er noch in der Hand gehalten hatte, in die Tasche seines offenen Trenchcoats. Dann ging er in ein nahes Café, bestellte sich einen Mokka und lehnte die Aktentasche an ein Bein seines Tisches. Der Mokka schmeckte ihm nicht besonders. Das lag aber nicht an dem Kaffee, sondern an ihm selbst. Das war immer so, erst nach getaner Arbeit – nicht davor – aß und trank er mit größtem Appetit. Vom Mokka abgesehen, beschäftigten ihn aber angenehme Gedanken. Er dachte an Mädchenköpfe, die sich von ihren Rümpfen getrennt hatten. Nun war also wieder ein blonder an der Reihe. Blonde Köpfe hackte er eigentlich noch lieber ab als andere. Mit einem blonden hatte er überhaupt angefangen. Wie war doch der Name dieses Mädchens gewesen? Ruth… und wie? Ruth… Ruth Kappel, ja. Fast wäre es ihm nicht mehr eingefallen. Vergangenes war und blieb für ihn erledigt. Er war ein Mann, der in die Zukunft blickte, auch in seinen Geschäften. Die Unruhe, die ihn nach seinem Mord an dem Hausierer, von dem für ihn Gefahr ausgegangen war, befallen hatte, hatte sich wieder verflüchtigt. Dieser Mord paßte nicht in sein Konzept. Sein Metier waren Frauenmorde. Das Gesetz der Notwendigkeit hatte ihn ihm aber aufgezwungen. Nun stand er davor, in sein Metier zurückzukehren. 96
Ein eigenartiger Reiz ging für ihn diesmal von der Tatsache aus, daß er das Mädchen, welches dazu ausersehen war, sein nächstes Opfer zu werden, gar nicht kannte. Sollte sich nämlich Gelegenheit finden, das Mädchen heute abend schon umzubringen, würde dies geschehen. Der Mann war dazu entschlossen. Der Mord an dem Hausierer war kein Vergnügen für ihn gewesen, ein Frauenmord dagegen verband sich für ihn mit höchster Lust. Der Mann hungerte deshalb danach. Aber vielleicht fand sich die ersehnte Gelegenheit heute abend noch nicht, dann galt es, sich trotzdem noch zu gedulden. Das Leben warf einem nicht alles in den Schoß. Als der Mann auf seine goldene Armbanduhr blickte, sah er, daß es an der Zeit war, zu zahlen. Er rief die Bedienung, erfreute sie mit einem reichlichen Trinkgeld, nahm seine Aktentasche auf und verließ mit einem freundlichen Gruß das Café. Auf der Straße sah sich der Mörder um, ob er nicht schon das Mädchen entdeckte, dessen Tage, ja vielleicht Stunden schon gezählt waren. Er erblickte aber keinen Blondschopf vor dem Kino, zuckte mit den Schultern, tastete nach der Eintrittskarte in seiner Manteltasche und schickte sich an, die Straße zu überqueren. An der Kreuzung der beiden Hauptstraßen stand ein Polizist und beobachtete den starken Abendverkehr, um notfalls einzugreifen. Er beachtete den sich diszipliniert verhaltenden Fußgänger nicht, der die Fahrbahn überquerte und an ihm vorbeiglitt. Vor dem Kino stauten sich die Menschen. Der Mörder mischte sich unter sie, ließ sich zum Eingang schieben, und wurde dann von der Platzanweiserin, nachdem sie sein Billet abgerissen hatte, zu seiner Sitzreihe geleitet, wo er sich mit höflichen Worten an den schon Sitzenden vorbeidrängte und auf seinem Klappstuhl Platz nahm. Der Sitz zu seiner Linken – Antjes Platz – war noch frei. Das Mädchen verspätete sich ein bißchen. Sie stand noch vor einem Geschäft für Damenmoden und träumte von einem Kleid aus 97
hellblauem Samt, das in einem der Schaufenster ausgestellt war. Als es ihr endlich gelang, sich von dem Anblick loszureißen, beschleunigte sie ihre Schritte, um noch rechtzeitig vor dem ersten Klingelzeichen ins Kino zu kommen. Im Gehen holte sie schon ihre Eintrittskarte aus der Handtasche. Es war ein erster Platz, Sitz Nr. 189. Auf Nr. 190 saß der Mörder und wartete auf sie. Als er Antje kommen sah, schaute er weg und musterte die andere Seite des großen Saales. Auch als sie sich neben ihn setzte, den Mantel aufknöpfte, das Programm aufschlug und es in dem diffusen Licht, das von den Seiten der Decke indirekt in den Saal fiel, zu studieren begann, beachtete er sie nicht, sondern schien an dem dunkelroten Vorhang, der die Bühne verschloß, großes Interesse zu nehmen. Die Lichter wurden trübe. Der Vorhang rauschte auseinander. Die Geschäftsreklame begann. Aus den Lautsprechern tönte zarte Musik. Antje lehnte sich zurück, die Beine übereinanderschlagend. Sie sah kurz zur Seite, denn der Mann neben ihr schaute sie jetzt an. Sie spürte seinen Blick auf ihrer Haut. Der Mörder lächelte, als sich ihre Blicke trafen. Antje, sich ertappt wähnend, schaute rasch wieder geradeaus. »Ich freue mich auf den Film«, sagte der Mann neben ihr, und seine Stimme war warm, einschmeichelnd, ungemein sympathisch. Antje nickte, sah aber nicht mehr zur Seite. Und dann erloschen die Lichter… Paul Leerdam brütete an diesem Abend wieder über der Mordakte. Er wußte, daß ihn dieses Untier, wenn er daran scheitern sollte, es unschädlich zu machen, um den Verstand 98
bringen würde. Paul Leerdam war entschlossen, sich in diesem Falle selbst aufs Abstellgleis zu schieben – das hieß: vorzeitig um die eigene Pensionierung einzukommen. Dann bin ich nichts anderes mehr wert, hielt er sich vor. Das war natürlich Unsinn, denn so gesehen, hätten sich schon unzählige Kriminalbeamte selbst aus dem Verkehr ziehen müssen, sind doch die ungeklärten Kriminalfälle dicksten Kalibers Legion in der Welt. Paul Leerdam konnte aber nicht aus seiner Haut heraus; trotz des Widerspruchs seiner Kollegen – vor allem Schouwens -, denen gegenüber er sich bis zum Erfolg oder endgültigen Mißerfolg nur noch ein Vierteljahr gab, war er eisern entschlossen, sich zum alten Eisen zu werfen, wenn der Mörder dann noch frei herumlief. Nur ein leiser Trost war es ihm, daß auch die Sonderkommission mehr und mehr aufstecken mußte. Die Herren aus den Metropolen waren gekommen, um einem Provinzler einmal zu zeigen, was eine Harke ist. Inzwischen spuckten sie schon viel bescheidenere Töne. Die Kommission war sogar bereits verkleinert worden. Es hatte ja, so meinte man im Ministerium, keinen Zweck, einen Haufen Spezialisten, die in Leeuwarden nur auf der Stelle traten, dort festzuhalten, wenn sie anderswo bessere Verwendung finden konnten. Der Herr Innenminister hatte seine Androhung, in Leeuwarden einzuschweben – gleich einem Habicht in den Hühnerhof -, auch nicht wahrgemacht. Wozu auch? Es würde ja doch nichts nützen, sagte er sich. Kommissär Leerdam hatte zusammen mit Wilm Schouwen jeden einzelnen Mordfall immer wieder bis ins letzte abgeklopft. Er hatte besonders wiederholt Ruth Kappels Umgebung genauestens unter die Lupe genommen. Mit Ruth hatte alles begonnen. Er war auch zu sämtlichen Bekannten und Verwandten von Maria Steufels, Hendrikje Balder, Grit Vonmeeren, Lissa Tenboldt und Erna Schagen gefahren; nicht nur einmal saß er mit ihnen zusammen. 99
Und was hatte er sich immer wieder eingestehen müssen? Daß er mit leeren Händen dastand. Zwar hatte es schon die eine oder andere Entdeckung gegeben, die jähe Hoffnungen nährte – der Goldzahn etwa, der Schuhabdruck -, aber dann war doch alles wieder im Sand verlaufen. Der Mörder, der nicht einmal besonders vorsichtig oder raffiniert vorging, hatte eben unverschämtes Glück, besonders in jener Hinsicht, daß sich seine Opfer strikte an seine Anweisung – oder Bitte – hielten, über ihn nicht zu plaudern. Heute abend nun machte Paul Leerdam eine neue Entdeckung. War es wieder eine, die sich in Rauch auflösen sollte? Die Hinterlassenschaft von Maria Steufels, der kleinen Modistin aus dem Ort Medemblick, enthielt einen Brief, den man zuerst nicht weiter beachtet hatte, dessen merkwürdiger Stil aber nun dem Kommissär auffiel. Der Text lautete: ›Liebe Maria! Die Tante, die morgen kommt, hat nur neun Tage Zeit, die Uhr abzuholen. Ich möchte an sie noch eine Brücke schicken vom Zahnarzt Stavoren. Gruß Henri.‹ An sich war dieser Brief unverfänglich. Warum sollte Maria Steufels nicht eine Tante haben, die eine reparierte Uhr abholte? Und warum sollte ein Mann namens Henri ihr nicht auch noch eine Brücke, eine Zahnprothese, vom Zahnarzt Stavoren schicken? Oder handelte es sich um eine Tante von diesem Henri? Das ging aus dem Brieftext nicht klar hervor. Jedenfalls hatte man den Brief, der mit Schreibmaschine geschrieben war, zunächst der Mordakte einverleibt, ohne ihm, 100
wie erwähnt, besondere Beachtung zu schenken. Nun aber biß sich Kommissär Leerdam an ihm fest. Lange betrachtete er den Bogen samt Umschlag. Der Poststempel war ›Leeuwarden‹. Aber in ganz Leeuwarden gab es keinen Zahnarzt Stavoren. Stavoren war der Name der Endstation der Eisenbahnfähre von Enkhuizen, jener Fähre, die in der Mordsache Steufels eine makabre Rolle gespielt hatte. Nach dieser Überlegung begann Leerdam, den Brief Wort für Wort zu zerlegen und wie in einem Puzzlespiel die einzelnen Worte zu mischen, sie auf ganz verschiedene Weisen aneinanderzureihen. Und siehe da, nach einer gewissen Zeit stieß er auf eine Lösung, die ihn alarmierte. Er hatte herausbekommen, daß jeweils die vierten Worte im Text, wenn man sie verband, einen neuen Sinn ergaben. Mit dem Bleistift unterstrich er die betreffenden Worte und las sie zusammenhängend. Das sah dann so aus: Die Tante, die morgen kommt, hat nur neun Tage Zeit, die Uhr abzuholen. Ich möchte an sie noch eine Brücke schicken vom Zahnarzt Stavoren. Durch die Zähne pfeifend, lehnte sich Leerdam zurück, zündete sich eine Zigarre an und rief dann seinen Assistenten an, der zu Hause saß und gerade die zweite Flasche Bier aus dem Kühlschrank holen wollte. »Wilm«, begann der Kommissär, »wissen Sie, was?« »Ja«, seufzte Schouwen, »ich soll zu Ihnen kommen.« »Stimmt, das auch. Aber wissen Sie, warum?« »Nein, Chef.« »Ich habe einen Brief entdeckt.« »Einen Brief?« »Einen Brief vom Mörder.« 101
»Waaas?« rief Schouwen. »Ja, stellen Sie sich das vor, und ich kann mir nicht denken, daß Sie das nicht aus der Ruhe bringt.« »Natürlich bringt mich das aus der Ruhe, Chef! Ich komme sofort!« »Eben, das wollte ich sagen, ich kann mir nicht denken, daß Sie unter solchen Umständen zu Hause sitzen bleiben, Ihre fünfte Flasche Bier trinken und auf Ihrem Achtstundentag bestehen wollen.« »Ich wollte gerade erst die zweite anbrechen.« »Wir können uns auch hier ein paar aus dem Automaten holen.« Vierzehn Minuten später stürzte Wilm Schouwen in Leerdams Zimmer mit der Frage: »Was ist das für ein Brief?« Der Chef zeigte ihn ihm, wobei er sagte: »Den hatten wir die ganze Zeit schon hier liegen. Ich darf gar nicht daran denken.« »Ein tolles Ding!« meinte Schouwen kopfschüttelnd. Er hielt den Bogen in der Hand, wendete ihn hin und her, betrachtete ihn von allen Seiten. Leerdam gab ihm in die zweite Hand auch den Umschlag. Plötzlich ließ Schouwen beides – Bogen und Umschlag – wie etwas Glühendheißes auf die Schreibtischplatte fallen. »Fingerabdrücke!« stieß er dabei hervor. Doch Leerdam winkte ab. »Erstens glaube ich, daß der Mörder dazu sowieso zu schlau war. Und zweitens haben den Brief inzwischen so viele in der Hand gehabt, daß wir diesbezüglich jede Hoffnung fahren lassen müssen.« Das sah auch Wilm Schouwen ein. »Konzentrieren wir uns auf den Text«, fuhr Leerdam fort. »Er bestätigt unsere Theorie, wie der Mord an Maria Steufels 102
abgelaufen ist.« »Das denke ich auch, Chef.« Schouwen nahm den Umschlag wieder in die Hand und guckte nach dem Poststempel. »Leeuwarden«, sagte er. »Auch das Datum stimmt, es paßt zum Mord. Der Brief wurde hier aufgegeben.« »Nachdem er mit Schreibmaschine geschrieben worden war«, ergänzte Leerdam. »Cherchez… nicht la femme, sondern die Schreibmaschine«, wandelte Wilm Schouwen ein berühmtes Wort ab. »Laßt uns die Schreibmaschine suchen und finden, dann haben wir auch den Mörder.« Na schön, als erstes mußte der Typ der Maschine, mit welcher der Brief geschrieben worden war, ermittelt werden. Die Erstellung eines Fachgutachtens war also nötig. Der Kommissär machte Dampf dahinter, und so lag ihm schon am nächsten Nachmittag folgendes vor: »Eine alte Remington, ein amerikanisches Produkt also, das in Holland nicht weit verbreitet ist, vor allem nicht dieses Modell, welches noch aus dem Jahre 1939 stammt. Die aus dem Ausland importierte Maschine muß sich demnach bereits lange im Besitz des Mörders oder dessen Familie – wenn sie ein Erbstück ist – befinden, vorausgesetzt, sie hat, seit sie sich in Holland befindet, nicht durch Verkauf schon den Eigentümer mehrmals gewechselt.« Letzteres wollte Kommissär Leerdam nicht hoffen. »Wo würden Sie beginnen?« fragte er Schouwen, der nicht lange überlegen mußte, um zu antworten: »Beim einzigen Schreibmaschinenverleih der Stadt.« »Fahren Sie gleich hin, ob die ein solches Stück unter ihrem Bestand haben.« Nein, hatten sie nicht. Schon eine halbe Stunde später war 103
Schouwen wieder zurück, um dies dem Chef zu melden. »Was kommt als nächstes, Wilm?« »Die Firma Termath, würde ich meinen.« »Sie sind ein kluges Bürschchen, Wilm. Ich werde Sie als meinen Nachfolger vorschlagen, sollte ich in einem Vierteljahr ausscheiden.« »Sie werden nicht ausscheiden, Chef. Nach diesem Glanzstück mit dem Brief schon gar nicht mehr.« »Ihnen könnte doch nichts Besseres passieren.« »Nee, nee, Chef«, sagte Wilm Schouwen aus ehrlichem Herzen. »Damit ich noch weiter von meinem Achtstundentag wegrücke, als das jetzt schon der Fall ist – nee, nee.« »Schouwen!« »Ja?« »Was ist denn das für eine Dienstauffassung?« »Die der heutigen jüngeren Generation, Chef.« »Das sehe ich, Schouwen. Aber die werde ich Ihnen noch austreiben, und wenn ich noch zehn Jahre damit zu tun habe, das garantiere ich Ihnen.« Der Assistent grinste. »Ich sag’s ja, Chef, in einem Vierteljahr könnten Sie das keinesfalls schaffen.« »Hauen Sie ab zur Firma Termath!« »Fahren Sie nicht mit, Chef?« Leerdam überlegte kurz, dann sagte er: »Ja, das könnte ich eigentlich. Hier rumsitzen und warten, bis Sie wiederkommen, ist auch nicht das Richtige.« Bei der Fischeinkochfirma erwartete die beiden ein Schlag ins Kontor. Sie stießen auf eine alte Remington. Paul Leerdam fühlte sich elektrisiert, Wilm Schouwen ebenso. 104
An der Maschine saß eine junge Stenotypistin. »Ist das Ihr Stammplatz hier?« fragte Leerdam sie. »Ja«, erwiderte sie, zwischen dem gestrengen alten Herrn und dem gutaussehenden jüngeren hin und her blickend. Letzterer gefiel ihr besser, und sie zeigte das, indem auf diesem ihr Blick immer etwas länger verweilte als auf ersterem. »Wer schreibt außer Ihnen noch auf dieser Maschine?« fuhr der Alte fort. »Niemand.« »Ist das absolut sicher? Sperren Sie abend die Maschine weg?« »Nein, das nicht«, entgegnete das Mädchen verwundert. »Aha.« Der Kommissär nahm das nächste leere Blatt Papier, das herumlag, reichte es dem Mädchen und sagte: »Spannen Sie es bitte ein und schreiben Sie folgendes…« Die Stenotypistin tat, wie ihr geheißen. »Die Tante«, diktierte ihr Leerdam nun, »die morgen kommt, hat nur neun Tage Zeit, die Uhr abzuholen. Ich möchte an sie noch eine Brücke schicken vom Zahnarzt Stavoren. Gruß Henri.« Dann ließ er sich das Blatt zurückgeben, überflog es rasch, faltete es sorgsam zusammen, steckte es in seine Brieftasche, vergaß, sich zu bedanken, und verließ, zusammen mit Schouwen, das Zimmer der Stenotypistin, die den beiden kopfschüttelnd nachblickte. Der nächste Weg führte schnurstracks zu Jan Sehlke. »Seit wann kannten Sie Maria Steufels?« begann Leerdam das Gespräch mit ihm überfallartig. »Welche Maria Steufels?« »Die ermordete Maria Steufels.« 105
Sehlke lief rot an. »Die soll ich also gekannt haben?« »Ja.« »Womöglich schon länger?« »Ja.« »Und geliebt habe ich sie auch heimlich?« Der Kommissär sagte nicht mehr ›ja‹, doch er nickte nachdrücklich. »Aber meine Liebe wurde von ihr zurückgewiesen?« fuhr Sehlke fort. Neuerliches Nicken Leerdams. »Alles wie bei Ruth Kappel?« »Warum nicht?« erwiderte der Kommissär. Und nun explodierte Jan Sehlke, er haute mit der Faust auf den Tisch und hätte dies auch getan, wenn ihm der Innenminister selbst gegenübergesessen wäre. »Weil Sie anscheinend mein Alibi bei der vergessen!« schrie er. »Wann kriege ich von euch endlich Ruhe?« »Viele Alibis sind schon geplatzt.« »Aber nicht dies! Eine ganze Skatrunde hat geschworen, daß ihr auf dem verkehrten Dampfer gefahren seid!« »Die können sich im Datum geirrt haben.« Sehlkes Wut verrauchte so rasch, wie sie gekommen war. Er klappte innerlich zusammen. »Gut«, sagte er müde, »tun Sie, was Sie nicht lassen können. Verhaften Sie mich. Legen Sie mir Handschellen an.« Er streckte Leerdam beide Handgelenke entgegen. »Sie werden ja sehen, daß Sie wieder den Falschen gegriffen haben.« Der Kommissär wußte, daß sich der Ermittlungsrichter nach 106
der Pleite mit dem ehemaligen Bibliothekar nicht mehr so leicht zu einem Haftbefehl bereitfinden würde. »Haben Sie Maria Steufels gekannt oder nicht, Sehlke?« fragte er. »In meinem ganzen Leben nicht.« »Wir prüfen das nach, darauf können Sie Gift nehmen.« »Ich sage Ihnen ja, verhaften Sie mich, bis Sie das nachgeprüft haben.« »Sie entkommen uns nicht, auch wenn ich Sie jetzt nicht mitnehme.« Damit schied Paul Leerdam von einem Mann, der in Wahrheit so unschuldig wie ein neugeborenes Lämmchen war. Aber so ist das: Was Jan Sehlke passierte, der einfach Pech hatte, geschieht leider immer wieder in unserer komplizierten Welt. Dabei konnte er noch froh sein. Früher spannte man solche Leute auf die Folterbank, und sie lieferten die schönsten Geständnisse, so daß ihre Richter sie guten Gewissens letztendlich auch noch vierteilen lassen konnten. Im Präsidium wurde anhand der Schriftprobe, die Leerdam mitbrachte, rasch festgestellt, daß der Brief des Mörders auf einer anderen alten Remington geschrieben worden sein mußte. »Ich werde noch wahnsinnig«, stöhnte Leerdam, dann rief er nach seiner Sekretärin, um ihr ein paar Bemerkungen zu diktieren. Sie erschien nicht. Als er sich erhob und die Tür zu seinem Vorzimmer öffnete, um nach ihr zu schauen, entdeckte er, daß sie den Raum verlassen hatte. Schon wollte er sich wieder abwenden, da fiel sein Blick auf die Schreibmaschine – und er erstarrte. Eine Remington! Eine alte Remington! Paul Leerdam stand wie versteinert. Die Sekretärin kam zurück, sie hatte die Toilette aufsuchen 107
müssen. »Wie lange haben wir diese Maschine schon?« fragte er sie mit einer Stimme, die einiges von ihrer sonstigen Festigkeit vermissen ließ. »Schon immer«, entgegnete die Sekretärin, in der die Frage des Chefs die Hoffnung auf eine neue Maschine aufflammen ließ. »Sie müßte wirklich schon längst ausrangiert werden.« »Wer schreibt auf ihr außer Ihnen?« »Niemand.« »Sperren Sie sie abends weg?« Die Sekretärin schüttelte sprachlos den Kopf. Wie blödsinnig seine Frage war, wußte der Kommissär selbst auch, da er ja schon oft genug nachts hier herumgehockt war und in unmittelbarer Nachbarschaft der alten Schreibmaschine Akten studiert hatte. Brummend verschwand er in seinem Zimmer. Dort holte er aus einem untersten Winkel die Übergabeverhandlung hervor, die er vor eineinhalb Jahrzehnten, als er Chef der Mordkommission geworden war, zusammen mit seinem Vorgänger, dem Kommissär Veendenbosch, unterzeichnet hatte. Stück für Stück stand das Inventar aufgezeichnet, darunter ^ Schreibmaschine, Marke Remington, Jahrgang 1939. »Und da soll einer nicht wahnsinnig werden«, sagte Paul Leerdam laut zu sich selbst. Zurück zu Antje Hellmond, die im Kino neben dem Mann saß, der kein anderes Ziel mehr kannte, als sie zu ermorden. Während des ganzen Films verhielt er sich still, wenn man davon absieht, daß er an lustigen Stellen immer wieder lachte, wie alle anderen auch. Er versuchte aber nicht, mit Antje zu sprechen, sondern genoß die Vorführung und hielt dabei auf seinem Schoß die neue Aktentasche, in der das Beil steckte, mit 108
dem er schon sieben Menschen getötet hatte. Als die Lichter seitlich der gewölbten Decke wieder aufflammten und sich die Besucher erhoben, nickte er Antje zu und sagte mit einem lustigen Blinzeln in den Augen: »War gut, nicht?« »Ja.« Antje knöpfte den Mantel zu und mußte unter dem Eindruck der letzten komischen Situation in dem Film noch einmal lachen. »Nur einen Fehler hat er«, meinte der Mann. »Welchen?« »Der Titel ist falsch. Nicht nur Vater braucht eine Frau… jeder Mann braucht eine.« Antje Hellmond antwortete darauf nichts, aber sie errötete ein bißchen und steckte ihr Programm in die Manteltasche. Das war eine Gewohnheit von ihr. Sie sammelte diese Dinger, die für sie zu Erinnerungsstücken wurden. Die beiden wurden inmitten des Stromes der anderen Besucher zum Ausgang gedrängt, und es war selbstverständlich, daß der nette Mann an der Seite Antjes blieb. Er bahnte ihr sogar einen Weg durch die draußen wartenden Interessenten der Spätvorstellung und schlug auf der Straße, sich schüttelnd, seinen Trenchcoatkragen hoch. »Kühl ist das. An die Nächte bei uns hier mit ihrem Nebel kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Darf ich vorschlagen, daß wir in dem Café dort drüben noch etwas Heißes trinken? Ich gestatte mir, Sie einzuladen. Dann können wir noch ein bißchen über den Film reden.« Antje zögerte. »Machen Sie mir die Freude… bitte«, sagte er mit einer weichen, sehr, sehr sympathischen Stimme. Antje war immer noch nicht bereit. »Ich werde zu Hause erwartet«, sagte sie. »Meine Mutter geht 109
nicht eher ins Bett.« »Nur auf eine Tasse Kaffee… oder Tee… was Sie wollen, mein Fräulein. Ich möchte Sie nicht so rasch aus den Augen verlieren. Sie beeindrucken mich außerordentlich.« Antje spürte, wie sehr sie jetzt errötete, und ärgerte sich darüber. Was mag er von mir denken? sagte sie sich. Daß ich eine dumme Pute bin! Sie entsann sich der Erzählungen ihrer Kolleginnen, die kichernd von ihren Erlebnissen berichteten. Sie erinnerte sich an die harmlosen kleinen Abenteuer, die sie selbst schon mit jungen Männern gehabt hatte. Im Grunde waren das gar keine Abenteuer gewesen. Gerade deshalb hätte sie aber gerne am Montag auch einmal erzählt: Mich hat ein gutaussehender Mann angesprochen, und wir sind ins Café gegangen und haben Tee getrunken. Ich habe genau gemerkt, daß ihm Kaffee lieber gewesen wäre, aber nicht mir, und deshalb hat er mir zuliebe auch Tee getrunken. Ist das nicht toll? Ob ich ihn wiedersehe…? Ich weiß es nicht, bin noch am überlegen, obwohl er sehr, sehr nett war, bestimmt. Man muß sich nämlich rar machen… Und man konnte sich ein wenig erfahren geben und die Frage offenlassen, ob man sich zum Abschied sogar geküßt hatte. Antje Hellmond war ein für heutige Begriffe noch unglaublich naives und braves Mädchen, absolut unberührt. Und einen solchen Engel hatte der Tod schon auf der Schippe! Die zärtliche Stimme des Mannes riß sie aus ihren Gedanken. »Nur ein Viertelstündchen… bitte.« »Ich sagte Ihnen doch, daß…« »Haben Sie es weit nach Hause?« unterbrach er sie. »Zwanzig Minuten.« »Dann bestelle ich ein Taxi, und wir holen die Zeit, die Sie mir im Kaffeehaus schenken, rein.« 110
War er nicht reizend? Antje nickte. »Gut«, sagte sie entschlossen. »Aber nur auf eine Tasse. Meine Mutter«, fügte sie mit erhobenem Zeigefinger schelmisch hinzu, »braucht ihren Schlaf.« Und das fand er so lustig, daß er sich schier ausschütteln wollte vor Lachen. Als er mit Antje das Café betrat, hielt er rasch Ausschau nach der Bedienung, mit der er es vor dem Besuch des Kinos zu tun gehabt hatte. Sie war nicht mehr zu sehen, hatte inzwischen wahrscheinlich schon frei. Das erleichterte ihn, da es ja wichtig für ihn war, niemandem aufzufallen. Er steuerte einen Tisch im Hintergrund an und rückte Antje galant den Stuhl zurecht, auf den sie sich setzte. Ehe er selbst auch Platz nahm, verbeugte er sich leicht und stellte sich vor: »Gestatten Sie, Johan Neeskens.« »Antje Hellmond«, sagte sie mit einem Neigen des Kopfes. »Was darf ich Ihnen bestellen, Fräulein Hellmond… oder darf ich Antje sagen?« Das ging ihr etwas zu rasch, denn sie war diesbezüglich ja keine von der schnellen Truppe, aber sie ließ es hingehen. Sie sagte zwar nicht ›ja‹, doch sie widersprach auch nicht, und somit war der Fall für ihn klar. »Danke, Antje. Also, was möchten Sie haben?« »Tee, Herr Neeskens.« »Johan… bitte.« Antje gab sich einen Ruck. »Also gut, Johan… Tee.« »Nicht Kaffee?« »Nein.« Der Kellner kam. Ihm sah die Müdigkeit, obwohl er seinen 111
Dienst erst vor zwei Stunden angetreten hatte, aus den Augen. »Tee für die Dame«, bestellte Johan Neeskens. »Und für Sie?« fragte ihn der Kellner. »Kaffee.« Leicht enttäuscht vernahm es Antje, fragte sich jedoch dann: Bin ich verrückt? Die Mäntel waren von den beiden an der Garderobe abgegeben worden. Nicht aber war dies auch geschehen mit der Aktentasche. Diese lehnte nun wieder seitlich an einem Tischbein. Neeskens war ein glänzender Gesellschafter. Im Handumdrehen gelang es ihm, Antje in seinen Bann zu schlagen. Mit faszinierender Unbekümmertheit unterhielt er sie. Er erzählte von seinen Reisen, die er schon durch Deutschland unternommen hatte. Besonders gut schien er Aachen zu kennen. Auch nach England war er bereits gekommen. Er berichtete vom Tower und dem Richtblock, an dem man Anna Boleyn mit dem Handbeil hingerichtet hatte. »Schrecklich!« stieß Antje hervor. »Was ist schrecklich?« »Ich könnte vor einem solchen Block nicht stehen und daran denken, was da einmal geschehen ist.« »Auf dem wurde nicht nur der Boleyn der Kopf abgehackt -« »Sagen Sie nicht ›abgehackt‹«, fiel ihm Antje schaudernd ins Wort. »Warum nicht?« »Das klingt so entsetzlich.« »Also gut… abgeschlagen. Zufrieden?« Antje nickte. Was hätte sie sonst tun sollen? Neeskens konnte es nicht lassen, den Satz zu ergänzen. Dort sei nicht nur der Boleyn der Kopf abgeschlagen worden, begann 112
er noch einmal, sondern vielen anderen auch noch, Namenlosen. Der Staat habe damals diese offizielle Hinrichtungsart vorgezogen. »Gehenkt wurde in England erst später, Antje.« »Hören Sie auf, ich bitte Sie!« In ihrer Abwehr streckte Antje nicht nur die Hände aus, sondern auch ihre Beine. Dabei geriet sie mit dem rechten Schuh an die Aktentasche und stieß sie um. Es polterte nicht, da das Lokal Teppichboden hatte. Antje bückte sich nach vorne, um die Tasche, die durch ihr Verschulden auf die Seite gekippt war, wieder ans Tischbein zu lehnen. Auch Neeskens wollte das gleiche tun wie Antje, kam aber zu spät. Antje hatte die Tasche schon am Griff und richtete sie auf. Der ganze Vorfall dauerte ein, zwei Sekunden, dann war er vorüber, und Neeskens konnte sehen, daß ihn überflüssigerweise ein heißer Schreck durchzuckt hatte. Das naive Mädchen ihm gegenüber blickte schon wieder in ihre Tasse Tee und sagte: »Noch ein Schluck, und wir können aufbrechen, Johan…« »Wollen Sie nicht doch noch eine Tasse, Antje?« »Nein, ich habe Ihnen gesagt, daß ich nach Hause muß. Sie können ja noch hierbleiben…« »Wo denken Sie hin, Antje? Nein, nein, ich bringe Sie nach Hause…«, er warf einen größeren Geldschein auf den Tisch, »… kommen Sie, lassen Sie uns gehen…« »Fahren!« sagte Antje mit deutlichem Nachdruck. »Selbstverständlich fahren«, korrigierte sich Neeskens. »Mit dem Taxi, wie versprochen. Entschuldigen Sie, ich vergesse immer, daß ich das Laufen vorziehe, während andere das nicht tun.« Es wurde also ein Mietwagen herbeitelefoniert, und als sie draußen vor dem Lokal auf das Erscheinen der Droschke warteten, sagte Neeskens: »Ich hoffe doch, daß wir uns 113
wiedersehen, Antje…« »Ich weiß nicht, Johan…« »Antje…« Er sah ihr tief in die Augen. »Warum wissen Sie das nicht?« »Meine Eltern sind sehr streng…« »Aber Sie sind doch schon erwachsen!« »Trotzdem… es sei denn, Sie würden selbst mit ihnen sprechen…« »Wer, ich?« Das klang erschrocken. »Ja, Johan.« »Nein, nein, Antje, doch nicht schon so bald! Erst müssen Sie mich richtig kennenlernen. Dann ja. Vorläufig möchte ich Sie sogar bitten, mit Ihren Eltern über mich kein Wort zu sprechen. Überhaupt mit niemandem. Wissen Sie, warum?« »Nein.« »Weil Sie das nur ablenken würde. Verstehen Sie, Ihre Konzentration auf mich würde dadurch gestört werden. Nur Sie, Sie ganz allein, sollen mich, von niemandem beeinflußt, bis auf den Grund meiner Seele kennenlernen. Sie werden sehen, das ist der beste Weg. Viel zu wenige Mädchen begehen ihn. Ein berühmter Professor der Psychologie in Amerika lehrt ihn seit Jahren und kann auf unglaubliche Erfolge verweisen. Versprechen Sie mir das?« »Was?« »Daß Sie sich vorläufig mit niemandem, auch nicht mit Ihren Eltern, über mich unterhalten werden?« »Ja.« »Prima, Antje. Und sollten Sie sich in mich verlieben – ich bin’s jetzt schon in Sie -, werde ich der erste sein, der sich von Ihnen zu Ihren Eltern bringen läßt.« 114
Johan Neeskens lächelte gewinnend. Er war sich seiner Sache wieder einmal vollkommen sicher. Warum auch nicht? So blödsinnig sein Gefasel war, so wenig es einen solchen Professor der Psychologie in Amerika gab, so durchschlagend war bisher ausnahmslos der Erfolg gewesen, den er damit hatte erzielen können. Sechs Mädchen waren ihm auf diesen Leim gekrochen, und die siebte ließ alle Anzeichen erkennen, daß sie sich auch schon wieder auf dem gleichen Weg befand. Die Scheinwerfer eines Autos tauchten auf. Das Taxi. »Sagen wir nächsten Samstagabend um acht Uhr«, meinte Neeskens noch rasch. »Wieder vor dem Kino. Einverstanden?« »Ja«, hauchte Antje. Im Taxi hätte sich ein Gentleman ganz alter Schule nicht besser benehmen können. Johan Neeskens stellte nicht den geringsten Versuch an, Antje zu küssen oder gar an ihr herumzufummeln. Nicht einmal nach ihrer Hand grapschte er, um diese zu drücken. Er bot ihr aus seinem goldenen Etui eine Zigarette an, und als sie dankend ablehnte, unterließ auch er es, sich eine anzuzünden. Vor dem Block, in dem die Hellmonds wohnten, stieg er mit Antje aus, sagte zum Chauffeur: »Warten Sie!« und ging mit dem Mädchen noch bis zur Haustür. Ehe er sich von ihr verabschiedete, hätte er gern noch etwas gewußt. »Darf ich Sie fragen«, sagte er, »was Sie eigentlich machen, Antje? Gehen Sie etwa noch zur Schule, so jung, wie Sie sind?« »Nein, ich bin schon berufstätig.« »Wo?« »Bei der Polizei.« »Wo?« stieß er hervor. »Bei der Polizei als Sekretärin.« »Macht Ihnen das Spaß?« 115
»Ja. Vielleicht ist das vererbt.« »Wieso?« »Weil mein Vater auch Polizeibeamter ist.« »Was?« stieß er abermals hervor, hatte sich aber sofort wieder in der Hand und fragte lachend: »Und Ihre Mutter?« »Die ist Hausfrau, sie hat’s am schwersten von uns dreien.« »Schlafen Sie gut, Antje. Ich danke Ihnen für den netten Abend. Auf Wiedersehen in acht Tagen.« »Auf Wiedersehen, Johan.« Sie ging ins Haus, er zum wartenden Taxi. Verdammtes Polizeigesindel! dachte er. Mußte ich denn gerade an die geraten? Eigentlich hätte sich ihm Vorsicht anempfohlen, aber er war ein Gefangener seiner Bestialität. Er konnte nicht mehr anders, als dem Mord an Antje entgegenzufiebern. Er hatte schon den Geruch ihres Blutes in der Nase. Zu Hause entledigte er sich als erstes einer hervorragend gearbeiteten Perücke mit ganz anderem Haar als seinem natürlichen. Sie trug wesentlich dazu bei, ihn außerordentlich zu verändern. Frau Hellmond saß unter der Stehlampe im Wohnzimmer und strickte, als Antje erschien. Im Radio spielte leise eine Tanzkapelle. Frau Hellmond blickte demonstrativ auf die Uhr an der Wand und sagte mit einem leichten Vorwurf in der Stimme: »Du hast dich verspätet, mein Kind.« »Ja, fast eine halbe Stunde, Mutter«, antwortete Antje ironisch. »Hast du Bekannte getroffen?« »Nein.« Frau Hellmond wartete auf eine Erklärung für die verspätete Heimkehr. Die kam aber nicht. 116
»Wie war der Film?« fragte sie deshalb nach einer Weile. »Lustig, also nichts für dich, wie vorauszusehen.« Die Stricknadeln, die noch nicht aus Kunststoff waren, klapperten. Im Radio wechselte ein Walzer den Tango ab, der gespielt worden war, als Antje kam. »Nette Musik«, sagte Wilma Hellmond. »Nicht so modernes Zeug.« »Wann kommt Vater heute nach Hause, Mutter?« Frau Hellmond seufzte. »Normalerweise müßte er schon da sein, aber er hat angerufen, daß es wieder etwas später wird. Du weißt ja… das übliche.« Antje gähnte. »Dann werde ich wohl schlafen gehen. Ich bin müde, Mutter.« »Ich auch. Gute Nacht, mein Kind.« »Gute Nacht, Mutter.« Antje hatte die Türklinke schon in der Hand, als sie noch einmal gerufen wurde: »Antje…« »Ja?« »Ist was mit dir?« »Nein, warum?« »Weil du mir irgendwie anders vorkommst, nicht so wie sonst.« »Das bildest du dir nur ein, Mutter.« »Den Film hast du mir auch nicht erzählt.« »Ich bin zu müde dazu, Mutter. Gute Nacht.« Zehn oder fünfzehn Minuten später waren alle Lichter in der Wohnung erloschen. Frau Hellmond hatte ihr Strickzeug weggeräumt und lag nun auch schon im Bett. Am nächsten Morgen beim Frühstück saßen nur Mutter und Tochter am Tisch. 117
»Vater schläft wohl noch?« meinte Antje. Wilma Hellmond nickte. »Er kam erst sehr spät. Ich habe ihn kaum mehr wahrgenommen.« »Wann muß er denn heute zum Dienst?« »Darüber haben wir noch gar nicht gesprochen. Sicher aber erst wieder am Nachmittag.« Antje verzog den Mund. »Weiß der Kuckuck, wann ich ihn dann wieder einmal sehe.« »Möchtest du ihn gern sprechen?« »Jede Tochter würde gerne manchmal mit ihrem Vater sprechen.« »Du tust ja gerade so, als ob das bei euch beiden nie der Fall wäre.« »Selten genug jedenfalls.« »Das macht sein Dienst, das weißt du doch.« Antje verstummte, trank ihren Kaffee und aß ihre zwei Brötchen, nur mit Marmelade bestrichen, nicht auch mit Butter. Dies war und ist vielen jungen Holländerinnen beschieden, die ihre Königin lieben, sich aber dennoch ständig warnend deren Figur vor Augen halten. Es vergingen zwei Tage, bis sich Antjes Wunsch erfüllte, ihren Vater zu Hause wieder einmal zu Gesicht zu bekommen. Das Treffen fand in Antjes Zimmer statt, über dessen Schwelle Uwe Hellmond mit den Worten trat: »Da bin ich, Kleine. Mutter hat mir mitgeteilt, du hättest Sehnsucht nach mir.« Die zwanzigjährige Antje war für ihn immer noch die ›Kleine‹. »Setz dich, Vater«, sagte sie. »Ich möchte mit dir reden.« »Über was?« fragte er, Platz nehmend. »Wo ist Mutter?« 118
»In der Küche. Soll sie dabeisein?« »Nein, im Gegenteil, sie würde nur erschrecken.« »Erschrecken?« »Ja… ich… ich habe einen Mann kennengelernt.« »So.« »Im Kino.« Er hob mit gespielter Strenge den Zeigefinger. »Und deshalb bist du erst eine Stunde später nach Hause gekommen!« »Hat Mutter das gesagt?« Uwe Hellmond ließ den Finger sinken, lächelte. »Ja«, sagte er. »Aber ich weiß, sie übertreibt.« »Es war keine halbe Stunde.« »Na eben, das ist doch alles kein Grund zur Aufregung. Weshalb sollte sie da heute noch erschrecken? Was hast du denn mit ihm gemacht? Oder er mit dir?« »Vater!« »Entschuldige«, sagte er ein bißchen rasch, »ich frage ja nur. Auch in einer halben Stunde kann schon allerhand passieren.« »Vater, wir haben im Café eine Tasse Tee getrunken… das heißt, er eine Tasse Kaffee.« »Brav, mein Kind, du weißt, wie sehr wir dir vertrauen, obwohl eines Tages…« Achselzuckend unterbrach er sich: »Du bist jetzt zwanzig Jahre alt, das rückt die Gefahr näher, daß du einmal auch die ganze Nacht wegbleiben wirst, darüber bin ich mir im klaren. Begeistert bin ich von dieser Aussicht allerdings nicht, das weißt du. Mutter erst recht nicht.« »Vater«, seufzte Antje, »nicht darüber wollte ich mit dir reden, sondern über diesen Mann…« 119
»Hat das keinen Zusammenhang?« Sie dachte ein bißchen nach und sagte dann: »Du meinst, ob sich da etwas Ernstes entwickeln könnte?« »Nicht?« fragte er sie nur. Und wieder dachte sie, vor sich hin blickend, nach. »Er sieht sehr gut aus, Vater«, sagte sie schließlich, »ist sehr, sehr nett und hat sich tadellos benommen.« »Seht ihr euch wieder?« »Ja, er hat das vorgeschlagen.« »Was macht er denn beruflich?« »Das weiß ich nicht, wir haben nicht darüber gesprochen. Es scheint ihm aber sehr gut zu gehen, wenn du das meinst.« »Natürlich meine ich das«, sagte Uwe Hellmond grinsend. »Man will doch seine Tochter entsprechend versorgt wissen.« Antje fand das aber offenbar nicht recht lustig, denn sie antwortete fast ein bißchen ärgerlich: »Soweit ist das noch nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, daß ich ihn wiedertreffe.« »Und warum nicht? Er hat dir doch gefallen?« »Äußerlich schon«, sagte Antje zögernd. »Aber…« »Was aber?« »Er will zum Beispiel nicht, daß ich mit euch über ihn spreche.« »So?« »Kein Wort.« »Und wie begründete er das?« »Er hat da einen enormen Blödsinn von einem amerikanischen Professor und dessen Lehre erzählt.« »Ist er denn dumm?« »Nein, gewiß nicht, aber das glaubte er wohl von mir.« »So?!« Die Empörung trieb Antjes Erzeuger die Röte ins 120
Gesicht. »Wenn das so ist, gebe ich dir gleich den Rat, die Finger von dem zu lassen. Zögere nicht lange, laß ihn sausen!« »Meinst du, Vater?« »Aber sicher! So einen hast du doch nicht nötig!« Antje nickte nachdenklich, sagte aber nach einer kleinen Pause: »Ich hätte nur gerne gewußt, was er macht.« »Beruflich?« »Überhaupt.« »Das kann dir doch egal sein.« »Er sieht nach einer Tätigkeit mit Akten aus.« »Wieso?« »Er läuft mit einer schweren Aktentasche herum. Ich hatte sie in der Hand.« »Eine ganz natürliche Sache. Akten sind schwer.« »Er läßt die Tasche nicht aus den Augen.« »Akten soll man nicht aus den Augen lassen, mein Kind. Aber was interessiert dich das? Laß den doch herumrennen, mit was er will.« »Und wenn er keine Akten in seiner Tasche hat, Vater?« »Sondern?« »Ein Beil?« Der Blitz schien eingeschlagen zu haben, aber ein Blitz ohne Donner. Es herrschte nämlich absolute Stille in dem Raum. Erst nach einer kleinen Ewigkeit krächzte Uwe Hellmond: »Wie kommst du auf diesen Wahnsinn?« »Vater«, sagte Antje, der nun vielleicht vor der eigenen Courage angst wurde, »wenn ich ihm unrecht tue, werde ich mir das nie im Leben verzeihen. Außerdem habe ich mich dann selbst genug bestraft, denn wenn er unschuldig ist, wäre er genau der Mann, in den ich mich unsterblich verlieben könnte. Ich habe dir ja gesagt, daß -« 121
»Wie kommst du zu deinem Verdacht mit dem Beil?« unterbrach Hellmond hart seine Tochter. Alles andere war für ihn nun belangloser Quatsch, den er nicht hören wollte. Antje räusperte sich, dann fing sie mit dem rechten Zeigefinger an den Fingern der linken Hand zu zählen an. »Erstens: Er hat mich angesprochen. Zweitens: sein Aussehen, seine Art; beides Spitze; aus dem Präsidium weiß ich, daß dem so sein muß. Drittens: Er erzählte mir von einer Reise nach England. Das wichtigste war für ihn der Richtblock, auf dem der Boleyn der Kopf mit dem Beil abgehackt wurde. ›Mit dem Beil abgehackt wurde‹, sagte er. Du hättest dabei seine Augen sehen sollen. Viertens: Er wollte mit mir durch den nächtlichen Nebel laufen und nicht, wie versprochen, mit dem Taxi fahren. Und fünftens: seine Aktentasche, in der, glaube ich, keine Akten waren.« Uwe Hellmond blickte seine Tochter durchdringend an. In ihm war natürlich der Polizist wachgeworden, hellwach. Noch stand für ihn nichts fest, aber Antjes Aufzählung verfehlte selbstredend nicht ihre Wirkung auf ihn. Dabei hatte Antje im Eifer des Gefechts vergessen, das Wichtigste noch einmal aufzuzählen: daß der Mann ihr ans Herz gelegt hatte, über ihn nicht zu sprechen. Plötzlich lief es ihm kalt über den Rücken, obwohl immer noch nichts feststand. Er dachte daran, was hätte passieren können, wenn dem Kerl der Wunsch, nicht mit dem Taxi zu fahren, in Erfüllung gegangen wäre. Spontan erhob er sich, zog auch seine Tochter aus ihrem Sessel hoch, umarmte sie und drückte sie an sich. »Antje… Antje…«, sagte er nur, ihr den Rücken betätschelnd. Dann schob er sie einen Meter von sich weg, blickte sie, seine Hände auf ihren Schultern, stolz an und fragte sie: »Weißt du, was du bist?« 122
»Ein Genie, meinst du, Vater?« Antje wollte selbstironisch die Situation umdrehen. Gefühlsaufwallungen solcher Art war sie von ihrem Vater nicht gewohnt. »Das bist du auch«, erklärte er aus tiefster Überzeugung. »Na ja, meine Tochter eben«, fügte er zufrieden hinzu. »In deinen Adern fließt Polizistenblut.« Plötzlich fiel ihm ein: »Wie nannte der sich eigentlich?« »Johan Neeskens.« »Aha, die gibt’s wie Sand am Meer. Und wann wollte er dich wiedertreffen?« »Am nächsten Samstagabend.« »Komm, zieh deinen Mantel an, wir müssen los, du weißt, wohin.« »Ich nehme an, ins Präsidium.« »Richtig, zu Kommissär Leerdam.« »Bist du denn von der Richtigkeit meines Verdachts überzeugt?« »Das spielt jetzt keine Rolle. Auf alle Fälle muß der Sache nachgegangen werden. Du hättest schon viel eher mit mir darüber reden müssen.« »Man erwischt dich ja nie. Und mit Mutter wollte ich mich darüber nicht unterhalten.« »Großer Gott!« stieß er hervor. »Nur das nicht! Die wäre vor Schreck tot umgefallen, da hast du recht! Also… kein Wort zu ihr, das gilt nach wie vor!« Paul Leerdam aß gerade einen Apfel, als ihm seine Sekretärin meldete, daß ihn der Polizeibeamte Hellmond und dessen Tochter sprechen wollten. »Herein mit ihnen!« sagte er, ruhig weiteressend, zur Sekretärin. 123
»Stört es Sie?« fragte er die beiden, als sie über die Schwelle traten. »Mir wackeln die Zähne, ich brauche Vitamine«, fügte er grinsend hinzu. Dabei hatte er längst keine natürlichen Zähne mehr im Mund, nur künstliche; aber das sollte ja der Witz bei der Sache sein. Hellmond und seine Tochter waren zu zweit, und mehr als zwei Stühle hätte Leerdam auch gar nicht zur Verfügung gehabt, als er sie bat, Platz zu nehmen. »Worum geht’s?« fragte er dann. Uwe Hellmond, der dienstlich mit der Mordkommission nichts zu tun hatte, antwortete: »Wie stehen die Ermittlungen gegen den Frauenmörder?« Leerdams heitere Miene, mit der er seinen Besuch empfangen hatte, verdüsterte sich. »Schlecht«, knurrte er. »Es ist wie verhext. Wir haben nur Schläge ins Wasser zu verzeichnen.« Konkret wollte er die letzten Reinfälle mit den alten Remington-Maschinen nicht erwähnen. Inzwischen war nämlich schon festgestellt worden, daß der Brief des Mörders auch nicht auf der Maschine der Sekretärin im Vorzimmer geschrieben worden sein konnte. Trotzdem bestand immer noch der Verdacht, daß es zumindest eine undichte Stelle im Präsidium gab. Darum war Leerdam willens, zurückhaltend, ja vorsichtig jedem gegenüber zu sein – jedem, das hieß, auch Hellmond gegenüber. Doch das sollte sich rasch ändern. »Vielleicht hat sich das Blatt jetzt gewendet«, sagte Uwe Hellmond. »Welches Blatt?« fragte Leerdam. »Das zwischen Ihnen und dem Mörder.« »Wieso?« Hellmond blickte seine Tochter an und sagte zu ihr, wobei er 124
zum Kommissär hinnickte: »Erzähl ihm…« Antje erzielte gleich mit ihrem Beginn einen Volltreffer bei Paul Leerdam. »Ich bin«, fing sie an, »mit einem Mann bekannt geworden, der mir verboten hat, mit jemandem über ihn zu sprechen.« »Was?« rief Leerdam und sprang auf. Antje wiederholte das, was sie gesagt hatte. »Wie sind Sie mit dem bekannt geworden?« fragte Leerdam. »Er hat mich angesprochen.« »Wo?« »Im Kino.« »Sie gingen mit ihm?« »Ja, ins -« - ins Café, wollte Antje sagen, aber der vom Jagdfieber gepackte Kommissär fiel ihr ins Wort: »Und Sie leben noch?« Diese Frage war entsetzlich, jedoch verständlich. »Meine Tochter hat sich fantastisch benommen«, mischte sich Uwe Hellmond mit Stolz ein. »Sie gehört eigentlich in den aktiven Polizeidienst. Hören Sie nur, was sie Ihnen noch zu berichten hat…« Leerdam setzte sich wieder hin, sprang aber gleich abermals auf und lief auf und ab in diesem Raum, der dafür eigentlich viel zu klein war. Er konnte nicht sitzen bleiben. Immer wieder hielt er kurz vor Antje an und blickte ihr gebannt auf den Mund, als sie nun all das vorbrachte, was sie ihrem Vater schon mitgeteilt hatte. Unterbrochen wurde sie vom Kommissär nicht mehr. Erst nachdem sie geendet hatte, sagte er zu ihr: »Sie haben ihn sich sicher genau angesehen?« »Ja.« »Dann kann Ihnen das Wichtigste an ihm, was ich Sie nun frage, nicht entgangen sein?« 125
»Was?« Leerdam stand vor Antje. »Hatte der Mann links oben einen Goldzahn?« »Hatte er«, erwiderte Antje ruhig. Leerdam sagte daraufhin nichts, keiner sprach mehr etwas. Es war still in dem Raum. Leerdam ging langsam zu seinem Stuhl hinter dem Schreibtisch und setzte sich. Erst jetzt äußerte er sich. Er schrie aber nichts heraus, sondern flüsterte nur: »Er ist es.« Und dann, wieder leise: »Ich habe ihn.« Noch einmal beides: »Er ist es, ich habe ihn.« Sein Blick wanderte zu Antje, und mit einem entschuldigenden Lächeln korrigierte er sich: »Wir haben ihn, Mädchen, Ihnen gebührt unsterblicher Ruhm.« Daraufhin meinte Uwe Hellmond mit seinem Baß, der dem Weihevollen der momentanen Stimmung nicht förderlich war, noch einmal: »Ich sage doch, die gehört in den aktiven Polizeidienst.« Alle drei lachten, dann wurde es aber rasch wieder ernst, als Leerdam erklärte: »Neeskens ist natürlich ein fiktiver Name von dem. Johan auch. Es hat also gar keinen Zweck, diesem Phantom nachzujagen. Wir müssen ihn uns greifen am nächsten Samstagabend, wenn Sie sich mit ihm treffen, Fräulein Hellmond.« »Wenn ich mich mit ihm treffe?« wiederholte, bang fragend, Antje. »Vor dem Kino, ja«, nickte Leerdam, für den das eine feststehende Tatsache war. Antje schaute ihren Erzeuger an. »Was meinst du?« fragte sie ihn. In dessen Brust stritten sich zwei Seelen, die des Vaters und 126
die des Polizisten. Er gab den Blick weiter an Leerdam. »Passieren kann gar nichts«, sagte daraufhin dieser. »Ich werde dafür sorgen, daß wir mindestens zu zehnt zur Stelle sein werden. Sie auch, Hellmond. Und Sie, Antje, haben doch schon beim erstenmal, als Sie mit dem zusammen waren, bewiesen, daß Sie keine Angst haben.« »Beim erstenmal«, gestattete sich Antje einen nicht unerheblichen Einwand, »wußte ich nicht, wer der ist.« »Aber von einem gewissen Zeitpunkt an ahnten Sie es, sonst säßen Sie nicht hier.« Das war auch wieder richtig. Die Entscheidung fiel, als Leerdam versprach: »Wir schnappen uns den schon, wenn er noch keine fünf Worte mit Ihnen gesprochen hat. Sie nicken ihm zu, das bedeutet für uns das Signal, daß er’s ist – und schon haben wir ihn! Hoffentlich hat er auch seine Aktentasche bei sich.« Mit dem letzten Satz, der Antje noch einmal ganz schön durch die Glieder fuhr, hätte sich Leerdam beinahe noch einmal alles verdorben, aber dann ergab sich das Mädchen trotzdem in ihr Schicksal und seufzte: »Na gut.« Bis zum Samstag waren es noch vier Tage… Der polizeiliche Countdown konnte beginnen… So einfach war das aber nicht. Zweimal stand alles noch einmal auf der Kippe. Das erstemal, als schon 24 Stunden später bei Antje ein Brief des Mörders eintraf, der ganz neue Perspektiven schuf. Das zweitemal durch eine Panne, die aus einer Unterlassung Hellmonds und seiner Tochter gegenüber Kommissär Leerdam resultierte. 127
Der Brief des Mörders lautete: ›Sehr verehrtes gnädiges Fräulein! Sie sehen mich untröstlich, denn ich bin wegen unerwarteter geschäftlicher Inanspruchnahme gezwungen, unser von mir so sehr herbeigesehntes Wiedersehen auf einen anderen Tag zu verlegen. Können Sie mir das verzeihen? Ich bitte Sie herzlichst, allerherzlichst, daß wir uns in 14 Tagen wiedersehen – es wäre wieder der Samstag. Ich werde auf Sie jedenfalls am Rand des Meppelparks warten. An der Laterne, die gleich an der Oploostraße steht. Sollte Nebel herrschen, so ängstigen Sie sich nicht. Ich werde auf Sie warten und mich um 8 Uhr – bis Sie kommen – bemerkbar machen. Wir können uns nicht verfehlen. Bitte, bitte, kommen Sie. Ich bin so traurig, Sie nicht schon, wie ursprünglich verabredet, am kommenden Samstag zu sehen. Und ich verspreche Ihnen, daß es ein netter, sehr, sehr netter, wunderbarer Abend wird. Ihr Johan Neeskens.‹ Als Uwe und Antje Hellmond mit diesem Brief zu Kommissär Leerdam kamen – beide bleich und das Schreckliche voll erfassend -, ließ letzterer erst mal eine Serie unbeherrschter Flüche vom Stapel. Er ballte die Fäuste vor seiner Brust, schüttelte sie. »Dieses Schwein!« keuchte er. »Dieses gottverdammte, dreckige, widerliche Schwein! Dieses…« Es fiel ihm nichts mehr ein. »Schouwen!« Wofür gibt er mir denn jetzt die Schuld? dachte der Assistent im Zimmer nebenan. »Ja, Chef?« »Ich brauche eine Karte vom Meppelpark – aber rasch!« 128
Bis diese Karte zur Stelle war, nützte Uwe Hellmond die Pause, um zu sagen: »Das ist jetzt eine ganz neue Lage…« »Sicher«, nickte Leerdam grimmig. »Eine Lage«, fuhr Hellmond nicht gern, aber seiner Vaterpflicht eingedenk, fort, »in der Ihnen meine Tochter, glaube ich, nicht mehr zur Verfügung stehen wird.« Leerdam klammerte sich an das ›glaube ich‹, das für ihn eine Einschränkung bedeutete. »Haben Sie denn kein Vertrauen zu meinen Maßnahmen?« antwortete er. »Doch, aber…« Es war schwierig für den Rangniedrigeren, darauf etwas zu sagen. »Sie glauben, daß Ihre Tochter zuviel Angst hat?« fuhr Leerdam fort. »Ja.« »Aber als Polizeibeamter sind Sie schon der Meinung, daß sie ihre Angst überwinden müßte – oder?« Der macht mich fertig, dachte Hellmond. »Sonst setzt der nämlich seine Serie fort, Hellmond, und bringt noch einmal ein halbes Dutzend oder gar ein Dutzend Frauen um.« »Vielleicht… ich…« »Oder zweifeln Sie daran, Hellmond? Können Sie daran zweifeln?« Leerdam wandte sich abrupt Antje zu, die schweigend zugehört hatte. »Das frage ich auch Sie, Antje!« »Nehmen Sie doch mich als Lockvogel«, machte Uwe Hellmond einen verzweifelten Vorschlag. »Wie denn? Mit Perücke, Seidenstrümpfen, Rock und zwei 129
Fußbällen in der Bluse… als eine Art Charlys Tante, was?« Leerdam winkte erbarmungslos ab. Er sah ganz klar die schwache Stelle der beiden Hellmonds, die er schon erwischt hatte, und kam auf sie zurück, indem er sagte: »Diese Bestie wird morden und immer wieder morden, solange er frei herumläuft. Und die Opfer werden immer jünger werden. Ich wette, bald nimmt er sich unschuldige, kleine Schulmädchen vor und hackt ihnen die Köpfe ab.« »Nein!« rief Antje. »Doch, doch, meine Liebe, das ist eine alte Erfahrung.« »Nein, ich werde Ihnen zur Verfügung stehen!« Wilm Schouwen betrat rasch das Zimmer. »Hier, Chef, die Karte vom Meppelpark…« »Danke, Wilm.« Zufrieden lächelte Leerdam nicht nur seinen Assistenten, sondern alle an. Nicht nur einmal stand, wie schon erwähnt, alles auf der Kippe – durch den Brief des Mörders -, sondern zweimal. Das zweitemal durch eine Panne, die sich Uwe Hellmond und seine Tochter selbst zuzuschreiben hatten. Das wurde akut, als Kommissär Leerdam in der Hellmondschen Wohnung anrief und nur Frau Hellmond erreichte, die sich am Apparat meldete. »Kann ich Ihren Mann sprechen, Frau Hellmond?« begann er. »Im Moment nicht, Herr Leerdam.« »Oder Ihre Tochter?« »Auch nicht. Die sind beide im Keller, um nach unseren Rädern zu sehen, mit denen wir am nächsten Sonntag, wenn’s schön ist, über Land fahren wollen. Soll mein Mann zurückrufen?« »Nicht nötig. Sagen Sie den beiden nur, daß sich Antje 130
überhaupt nicht ängstigen muß. Ich bin nämlich auf die Idee gekommen, auch noch Hunde einzusetzen. Den schärfsten geben wir Antje selbst an die Hand. Die beiden müssen sich in den nächsten Tagen nur noch ein bißchen aneinander gewöhnen. Alba heißt er. Der reißt dem notfalls die Eingeweide aus dem Leib, ehe er den Finger gegen Antje erheben kann.« »Wie… bitte?« stammelte Wilma Hellmond. »Sie wissen doch Bescheid… am übernächsten Samstag…« »Was ist am übernächsten Samstag?« »Ach, das wissen Sie nicht? Ja dann…« Das hätten die mir doch sagen müssen, ärgerte sich Leerdam und fuhr fort: »Dann machen Sie sich mal keine Gedanken, Frau Hellmond, es ist alles in Ordnung, es kann nichts passieren. Ich muß jetzt Schluß machen, mir wird ein Häftling zur Vernehmung vorgeführt. Viel Vergnügen, Frau Hellmond, bei Ihrem Radausflug. Auf Wiederhören.« »Herr Leerdam, hören Sie, ich verlange…« Die Leitung war tot. Völlig verstört legte Wilma Hellmond auf. Aber dann sammelte sie sich und stieg hinunter in den Keller, in dem sie es schon auf der Treppe rumoren hörte. »Mutter«, rief Antje, als sie ihrer ansichtig wurde, »was willst du denn hier? Wir haben dir doch gesagt, daß wir uns auch um dein Vehikel kümmern werden. Du brauchst…« »Wie siehst du aus?« unterbrach sie sich. »Ist dir schlecht?« Wilma Hellmond war totenblaß. »Was hast du?« fragte auch ihr Mann sie. »Mir ist schlecht, ja«, sagte Wilma Hellmond mit brüchiger Stimme. Wie auf Kommando traten Ehemann und Tochter gemeinsam auf sie zu, jeder faßte sie an einem Arm. »Warum kommst du dann hier runter in den Keller, statt dich oben aufs Bett zu legen?« fragte Antje besorgt. 131
»Komm, wir bringen dich wieder rauf«, ergänzte der Gatte. Auf der schmalen Treppe hatten sie zu dritt nebeneinander gar nicht Platz. Antje mußte den Arm ihrer Mutter loslassen und hinterhergehen. In der Wohnung wurde die Patientin auf die Couch im Wohnzimmer gebettet. Sie war immer noch bleich wie die Wand. »Hast du etwas Schlechtes gegessen?« fragte Antje. »Nein, Kommissär Leerdam hat angerufen.« »Wie?« wunderte sich Antje. »Soll das heißen, daß dir davon schlecht wurde?« »Ja.« Vater und Tochter schalteten gleich schnell. »Verdammt!« rief Uwe Hellmond. »Du liebe Zeit!« schloß sich Antje an. Mutter Wilma richtete sich auf. Tränen schossen ihr aus den Augen, als sie sagte: »Ihr täuscht euch, wenn ihr glaubt, das lasse ich zu.« »Was willst du denn nicht zulassen?« fragte der Gatte. Er gedachte, erst einmal sozusagen das Gelände zu sondieren, zu klären, wieviel Wilma überhaupt schon wußte. Wilma ignorierte ihn jedoch. Sie blickte Antje an und sagte: »Wenn dein Vater schon vergißt, daß du seine Tochter bist, dann erwarte das gleiche nicht auch von mir!« »Mutter«, antwortete Antje rasch, um ihrem Erzeuger zuvorzukommen, »das war ganz allein meine Entscheidung…« »Und er hat sich ihr nicht entgegengestellt?« »Er ist Polizeibeamter, Mutter…« »So?!« Wilma Hellmond schwang die Beine von der Couch. Ein ganz neuer Mensch schien geboren zu sein. Nichts war mehr vorhanden von dem fügsamen Hausmütterchen. Die Tränen 132
versiegten. Eine Tigerin kämpfte um ihr Junges. »Dann sei froh, kann ich nur sagen, daß du auch noch eine Mutter hast, die keine Polizeibeamtin ist! Nur über deren Leiche wird nämlich Herr Leerdam zum Ziel kommen!« »Mutter, bitte, leg dich wieder hin, beruhige dich, ich bring dir einen Melissengeist…« »Ich brauche keinen Melissengeist! Ich brauche dein Versprechen, daß du mit mir am übernächsten Samstag nach Rotterdam zur Oma in deren Haus fährst! Dort sind wir gut aufgehoben!« »Mutter, ich habe doch derzeit gar keinen Urlaub…« Auch Uwe Hellmond ließ sich wieder einmal vernehmen: »Das geht wirklich nicht ohne Urlaub.« »Antje«, sagte Wilma Hellmond, für die ihr Mann nach wie vor nicht zu existieren schien, »du wirst dich wundern, was geht! Ich werde mich mit dem Polizeipräsidenten persönlich unterhalten! Zu dem dringe ich vor!« »Mutter…« »Davon werden mich eure ganzen Hunde im Präsidium nicht abhalten können!« »Welche Hunde?« »Auch nicht der schärfste, der den Leuten die Eingeweide aus dem Leib reißt und an den du dich gewöhnen sollst!« »Was?« »Tu nicht so dumm, ich verbitte mir das! Schäm dich, deine Mutter an der Nase herumführen zu wollen!« Antje und ihr Vater blickten einander an. War Mutter plötzlich nicht mehr recht bei Sinnen? Uwe Hellmond überlegte, was er machen sollte. Dann entschied er sich, zum kleinen Barschrank zu gehen und sich einen Schnaps einzugießen. Antje setzte sich neben ihre Mutter auf die Couch, legte den Arm um ihre Schulter, zog sie an sich und sagte: 133
»Muttilein, wir wissen wirklich nicht, wovon du redest… was ist das für ein Hund, an den ich mich gewöhnen soll?« Wilma fühlte sich von ihrer Tochter ans Herz gezogen, das löste wieder Tränen bei ihr aus, und schluchzend erwiderte sie: »Ein Polizeihund, nehme ich an. Der schlimmste, den sie haben.« »Was genau hat dir Leerdam gesagt?« »Daß du keine Angst haben sollst, weil er auch noch Hunde einsetzen wird, darunter das Vieh, das auf Eingeweide losgeht. An den müßtest du dich noch gewöhnen – oder er an dich, nehme ich eher an.« Das mußte Antje erst verdauen. Auch Uwe Hellmond sah Veranlassung, sich rasch einen zweiten Schnaps einzugießen. »Habe ich dir nicht immer gesagt, daß du dich für eine andere Stellung entscheiden sollst?« schluchzte Mutter Wilma. Nach einiger Überlegung sagte Antje: »Eigentlich finde ich die Idee mit den Hunden gar nicht so schlecht…« »Antje!« rief Wilma. »Ich auch nicht«, pflichtete Uwe, dem ein harter Schluck zur rechten Zeit immer Auftrieb gab, seiner Tochter bei. »Sei du still! Gib die Flasche weg!« nahm ihn Wilma nun auf die Hörner, und davon zeigte er sich immer noch überrascht. »Wilma«, versuchte er sie zu beruhigen, »ich nehme ja an der Aktion auch teil, als Garantie dafür, daß Antje nichts passiert.« »An welcher Aktion? Gegen wen?« »Gegen den Frauenmörder.« »Gegen wen?« entsetzte sich Wilma. »Gegen den Frauenmörder; das hat dir doch Kommissär Leerdam sicher auch gesagt?« »Nein, das hat er nicht«, stöhnte Wilma, schüttelte Antje ab, sprang auf und rief auf sie herunter: »Und daran sollst du 134
teilnehmen?« Sie wandte sich um zu ihrem Gatten und schrie ihn an: »Seid ihr denn alle wahnsinnig geworden?« »Mutter«, sagte Antje ruhig, »hör zu…« »Ich will nicht mehr zuhören!« »Doch, du mußt!« »Nein!« »Diese Bestie muß gefaßt werden!« »Ja, ja, ja – aber nicht durch dich!« »Doch, durch mich, ich bin die einzige, die ihn kennt!« Mutter Wilma schnappte nach Luft. »Was tust du?! Du kennst den?!« »Ja.« »Woher?« »Ich saß neben ihm im Kino und ging mit ihm anschließend ins Café.« »Großer Gott!« Mutter Wilma sank auf die Couch nieder, die Knie waren ihr weich geworden. »War das etwa am vergangenen Samstag?« »Ja.« »Großer Gott!« stöhnte Wilma noch einmal. Sie bedeckte mit den Händen ihr Gesicht. Antje wiederholte wortwörtlich das, was Kommissär Leerdam gesagt hatte: »Diese Bestie wird morden und immer wieder morden, solange er frei herumläuft. Und die Opfer werden immer jünger werden. Bald nimmt er sich unschuldige, kleine Schulmädchen vor und hackt ihnen die Köpfe ab, das ist eine alte Erfahrung.« Wilma Hellmond blickte aus ihren Händen nicht auf. Sie weinte leise vor sich hin. 135
»Willst du, daß ich daran schuldig werde, Mutter?« fragte Antje. Es dauerte einen ganzen Tag und eine halbe Nacht, bis Wilma Hellmond ihre Zustimmung zu dem gab, was sie bis zuletzt ein ›Verbrechen an ihrer Tochter‹ nannte. In diesen Tagen bereitete der Mörder seine Tat in nicht zu beschreibender Freude auf das Kommende vor. Er fuhr mit seinem Wagen das Gelände des Meppelparks ab und legte den Weg fest, den er von der von ihm auserwählten Laterne an der Oploostraße aus nehmen mußte, um sein Opfer in jene einsame Gegend zu locken, wo er den Mord ungestört und mit Genuß ausführen konnte. Er wählte dafür einen kleinen Platz jenseits der Hecke, die den Park umgrenzte… einen Platz, umstanden von hohen Büschen und abseits der Eingänge gelegen. Auch führte nur ein schmaler Fußweg zu ihm hin… hier mochten an Sommertagen die Kinder spielen, denn man konnte sehen, daß in den Boden einmal ein Sandkasten eingelassen worden war, den die Parkverwaltung jetzt wegen der nassen Witterung hatte herausnehmen lassen. Hier konnte er Antje Hellmond, das blühende 20jährige Mädchen, mit Lust ins Jenseits befördern, konnte sie nach seiner Gewohnheit abschlachten. Der Wagen würde vor der Hecke warten. Mit ihm würde er den Leichnam in der Nacht noch zur Küste transportieren, um der Polizei neue Arbeit zu verschaffen. Wohin mit dem Kopf? Darüber war er sich noch nicht schlüssig. Darüber nachzudenken, war aber etwas Wunderbares für ihn. Er empfand eine tiefe Befriedigung bei solchen Überlegungen, fieberte der Stunde entgegen, den Sekunden, in denen ein sterbendes Mädchen ihm wieder ihr letztes Röcheln schenken würde. Er unternahm diesmal am Donnerstag, also zwei Tage vor dem geplanten neuerlichen Mord, etwas, das er bisher nicht getan 136
hatte. Und zwar rief er aus einer öffentlichen Fernsprechzelle der Hauptpost Leeuwardens die Wetterwarte an der Küste an. Der Beamte der Wetterwarte Harlingen ahnte nichts Böses, als das Telefon läutete und er sich meldete: »Hier Wetterstation III, Harlingen.« »Ich hätte gerne eine Auskunft«, sagte der Mörder. »Wer sind Sie?« fragte der Beamte. »Warum?« erwiderte der Mörder. »Weil wir Privatpersonen keine Auskünfte erteilen können. Wir haben nur die Berichte für die Seefahrt auf einer bestimmten Wellenlänge zu funken. Für den Wetterdienst des Landes ist Groningen zuständig. Sind Sie eine Privatperson?« »Ich will es Ihnen erklären«, erwiderte der Mörder mit seiner angenehmen, Sympathien erweckenden Stimme. »Ich bin ein kleiner Schiffseigner und hätte gern gewußt, wie das Wetter übermorgen ist. Abends vor allem. Man will mir eine wichtige Schiffsladung anvertrauen, und ich kann den Transport nur übernehmen, wenn ich im voraus weiß, daß das Wetter gut genug sein wird, um mich eines übermäßigen Risikos zu entheben. Deshalb rufe ich Sie also an und bitte Sie herzlich, mir ausnahmsweise die benötigte Auskunft zu geben. Sehen Sie, morgen wird ja die allgemeine Wettervorhersage sowieso in den Zeitungen zu lesen sein, ich muß mich aber heute schon geschäftlich entscheiden. Von Ihrem Entgegenkommen hängt demnach mein ganzes Unternehmen ab.« Nach kurzem Zögern antwortete der Beamte: »Also gut, nach unserer Voraussicht wird es am Samstag feuchtkalt sein, eigentlich wie immer um diese Jahreszeit. Leichte Niederschläge. Gegen Abend Zunahme der Feuchtigkeit und Aufkommen mittleren bis starken Nebels vom Meer her. Windstärke 4 bis 5. Hochwasser normal bis etwas darüber. Haben Sie mich verstanden?« 137
»Ja.« »Es ist damit zu rechnen, daß Nebelwarnung auf See gegeben werden muß.« Der Mörder grinste satanisch. »So«, sagte er, »damit ist zu rechnen?« »Ja«, bekräftigte der Beamte und setzte hinzu: »Keine günstigen Aussichten für Ihr Geschäft, tut mir leid.« Hast du eine Ahnung, du Arschloch, dachte der Mörder, bedankte sich höflich und hängte ein. Er war zufrieden, sehr zufrieden. Nebel, starker sogar, ein völlig gedecktes Wetter, auf See kaum Betrieb… Herz, was willst du mehr, jubilierte er innerlich, verließ die Telefonzelle und stieg draußen vor dem Postamt in seinen Wagen. Einen Bekannten grüßte er freundlich, startete den Motor, ließ einem anderen Wagen, der den kleinen Parkplatz auch gerade verlassen wollte, gerne den Vortritt und fuhr unter strikter Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit nach Hause. Kommissär Paul Leerdam hatte die Karte vom Meppelpark und dessen Umgebung vor sich liegen und studierte sie zum x-ten Male. Ein stiller, nachts einsam daliegender Park am Rande der Stadt… davor die Oploostraße mit ihren wenigen Laternen, die kaum genügend Licht spendeten. Eine lange, breite Straße übrigens, die trotzdem still und verträumt war. Die ideale Villenvorortstraße. Die Gebäude, aus denen das Viertel bestand, lagen verstreut; zwischen ihnen zogen sich lange Gärten hin oder Baulücken, die auf Käufer warteten. Eine Gegend also, wie geschaffen nicht nur für ruhebedürftige Bewohner, sondern auch für einen auf Ungestörtheit bedachten Mörder, zumal da die Laterne, an der er Antje Hellmond treffen wollte, so günstig stand, daß es nur ein paar Schritte waren bis zu dem Plätzchen 138
hinter der Hecke, das mit seinen ihn umrandenden Büschen den idealen Tatort bildete. Die Karte, über die sich Leerdam beugte, strotzte von mit Rotstift gemachten Einzeichnungen. Zwei Dutzend Kreuzchen markierten die Standorte, die für junge, schnelle Polizisten vorgesehen waren. Einige von ihnen, an strategischen Punkten eingesetzt, sollten Hunde an der Leine haben. Das gebot der Nebel, in dem der Mörder, wenn er durch irgendeinen unvorhergesehenen Vorfall gewarnt werden und die Flucht ergreifen würde, Menschen leicht und rasch entrinnen konnte – nicht aber Hunden. Im übrigen war den Beamten schon eingeschärft worden, im Bedarfsfalle sofort und rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Leerdam hatte vor versammelter Mannschaft erklärt: »Derjenige, in dessen Verantwortung es fallen sollte, daß diese Bestie noch einmal entkommt, kann sich gleich selbst erschießen.« Der schärfste Polizeihund Hollands war Antje Hellmond zugeteilt. Mit ihm sollte sie an der Laterne stehen und auf ihr Schicksal warten. Seit einigen Tagen schon hielt sich der Hund im Zimmer von Antje, die der Präsident von ihrem normalen Dienst freigestellt hatte, auf, und die Freundschaft zwischen dem Mädchen und Alba – so hieß der Schäferhund, der ein prachtvolles, schon mit vielen Preisen ausgezeichnetes Exemplar war – vertiefte sich mit jeder Stunde mehr. Mutter Wilma allerdings lief jedesmal, wenn sie in Antjes Zimmer kam und den Hund sah, Gefahr, daß ihr schlecht wurde. Leerdam hatte zu Antje gesagt: »Sie müssen mit Alba in der Wohnung bleiben. Gehen Sie nicht mit ihm auf die Straße!« »Warum nicht?« »Der Mörder lebt in unserer Nähe. Wenn er Sie mit dem Hund laufen sieht, könnte er Verdacht schöpfen, und er würde uns etwas husten.« 139
Alles war also optimal vorbereitet. Alles? Kommissär Paul Leerdam beugte sich mit konzentriertem Gesicht wieder über die Karte… Samstag. Ein diesiger, nasser Tag. Nebel, der auf dem Meer lastet. Der Himmel wird nicht hell. Man ahnt die Nebelfetzen, die bei einbrechender Dunkelheit durch die Straßen flattern und die Menschen dazu veranlassen werden, sich zu Hause in ihren Wohnungen aufzuhalten und es sich gemütlich zu machen. Nicht alle Menschen… Einen vielfachen Mörder nicht, sein Opfer nicht, ein Dutzend Polizeibeamte nicht… Der Abend kommt. Die Straßen sind leer. Nur vereinzelt fahren Autos durch den nassen Abend. Die Büros haben die Angestellten ausgespuckt, die Fabriken ihre Arbeiter ebenso. Nachzügler eilen zu den Straßenbahnen oder Bussen und sind froh, dem unwirtlichen Wetter bald entronnen zu sein. In der Wohnung der Familie Hellmond bäumt sich Mutter Wilma zum letztenmal gegen das auf, was nicht mehr zu verhindern ist. »Du tust das nicht!« sagt sie zu Antje. »Doch, Mutter, es muß sein!« »Hast du denn keine Angst, mein Kind?« »Nein«, lügt Antje. »Zu viele passen auf mich auf, in erster Linie Alba.« Der Hund, der vor ihr steht und sie anblickt, scheint sie zu verstehen. Er wedelt lebhaft mit dem Schwanz. In Wirklichkeit krampft sich in Antjes Innerem alles zusammen vor lauter Angst und Furcht. Es gibt aber kein 140
Zurück mehr, das weiß sie. Hollands meistgesuchter Verbrecher, eine Bestie in Menschengestalt, muß unschädlich gemacht werden. Das Instrument, das der Polizei dazu verhelfen kann, ist nun mal einzig und allein Antje Hellmond aus Leeuwarden. »Ich komme mit!« sagt Wilma Hellmond plötzlich entschlossen. Ihre Tochter und ihr Mann hören das nicht zum erstenmal. »Du bleibst hier!« sagt deshalb Uwe Hellmond ebenso entschlossen, wie wenn er es schon auswendig gelernt hätte. »Schuld an allem bist du!« schreit ihn seine Frau an. »Nein, Mutter«, widerspricht ihr die Tochter, und auch das sagt sie nicht zum erstenmal, »es war ganz allein meine Entscheidung.« Eine Weile herrscht drückende Stille. »Komm, Antje, wir müssen los, Leerdam wartet«, läßt sich dann Uwe Hellmond vernehmen. Innerlich ist ihm auch ganz anders zumute, als er es nach außen hin zu erkennen gibt. »Komm, Alba«, sagt Antje. Uwe, Antje und Alba – drei, die buchstäblich zusammengehören auf Leben und Tod – gehen zur Tür. »Antje!« schreit Wilma Hellmond. »Mutter, wenn du mich liebhast, geh ins Bett und schlafe. Sobald wir zurückkommen, wecken wir dich, und du machst uns einen heißen Tee, ja?« »Antje, bist du verrückt? Wie soll ich -« Die Tür fällt zu. Wilma Hellmond ist allein. Schluchzend bricht sie auf der Couch zusammen. Um die gleiche Zeit steht der Mörder in seiner Wohnung vor dem Spiegel, der ihm dabei hilft, in eine jener Häute zu schlüpfen, in denen er sich beweist, daß er wahre Größe besitzt, 141
die Größe eines Mörders, wie ihn Holland vor ihm noch nicht erlebt hat. Ein wichtiges Requisit der Maske, die er heute wieder wählt, ist auch die meisterhaft angefertigte Perücke, mit der er Antje schon kennengelernt hat. Sie trägt – nebst anderen Hilfsmitteln – dazu bei, daß er sich im Bedarfsfalle sogar in Leeuwarden, seiner Heimatstadt, bewegen kann, ohne erkannt zu werden. Bleich ist sein Gesicht vor dem Spiegel. Die Augen liegen in tiefen Höhlen, sie glühen von innen heraus. Der Rausch beginnt sich zu verdichten. Die Bestie tritt aus ihrem gespaltenen Inneren hervor. Plötzlich zieht ein breites, aber lautloses Lachen über sein Gesicht. Im Schein der Lampe über dem Spiegel blitzt der Goldzahn, den inzwischen die Polizei ganz Europas fieberhaft sucht. Der Mörder sieht auf die Uhr, dann tritt er ans Fenster und blickt über die Straße. Leer liegt sie vor ihm. Pfützen haben sich am Bordstein gesammelt. Von Norden her weht der Nebel herein. Der Mörder nickt zufrieden. Er geht ins Schlafzimmer. Als er aus diesem wieder zum Vorschein kommt, trägt er eine Aktentasche unterm Arm – seine Aktentasche. Wenn Zeugen zur Stelle wären, könnten sie sehen, daß sie schwer ist. Der Mörder geht durch die Diele seiner eleganten Wohnung und löscht das Licht, ehe er die Außentür aufschließt, sie öffnet und ein Weilchen lauscht. Nichts ist zu hören, deshalb schlüpft er aus der Wohnung, huscht über einen langen Korridor und verschwindet hinter einer Tür, die zu einem zweiten Treppenhaus führt. Letzteres stellt eine Verbindung zu den Lagerräumen der Firma des Mörders dar. Wieder verhält er lauschend, ehe er durch die dunklen Lager gleitet und an der kleinen Pforte anhält, durch die man über den Hof eine Nebenstraße erreicht. Aufatmend lehnt er sich draußen an die Wand eines 142
Schuppens, dann setzt er sich wieder in Bewegung und schlägt einen großen Bogen um die Straßen, die zum Meppelpark führen. Von hinten, von der Meeresseite her, nähert sich der Mörder seinem Opfer. Er kommt aus einer anderen Richtung als derjenigen, die Paul Leerdam als die wahrscheinlichste angesehen hat und auf die er deshalb den Einsatz seiner Leute abstimmte. Der Mörder tritt auch nicht gleich im Umkreis des Parks oder gar der Laterne in Erscheinung, sondern wartet auf einem Gartengrundstück im Nebel, bis die ferne Glocke der St.Jakobus-Kirche die achte Stunde schlägt. Da erst geht ein Zucken durch seinen Körper. In seinen Augen liegt ein fiebriger Glanz. Die eine Hand hält die Aktentasche, die andere gleitet in die Tasche hinein, um sich zu vergewissern, ob der Inhalt noch da ist. Natürlich ist er das. Der Mörder schnuppert durch den Nebel wie ein Hund, der die Witterung aufnimmt. Er ahnt nicht, daß sich die Welt für ihn verändert hat. Sechs andere Hunde – echte -, denen er mit jedem Schritt näher kommt, gieren auf seine eigene Witterung. Der Tod tritt auf… Es steht nur noch die Entscheidung aus, wen er trifft… Und an der Laterne wartet Antje… In den Büschen, an Baumstämme gepreßt, mit diesen im Dunkeln verschwimmend, lauern die Polizisten. Auf der Oploostraße wankt ein Betrunkener durch den Nebel. Ein Würstchenverkäufer hat seinen Laden wohl dichtgemacht und schiebt sein fahrbares ›Geschäft‹ nach Hause. Ein Reisender, der vom Bahnhof kommt und immer wieder seinen schweren Koffer abstellen muß, um neue Kräfte zu sammeln, gewinnt dadurch nur langsam an Boden. Niemand sieht diesen Männern an, daß sie Kriminalbeamte sind, die unter ihren Hüten oder Mützen unablässig Ausschau halten nach dem größten Verbrecher ihrer 143
bisherigen und wohl auch noch vor ihnen liegenden Laufbahn. Paul Leerdam hockt in unmittelbarer Nähe der Laterne im Gebüsch, ebenso Uwe Hellmond, der die entsicherte Dienstpistole in der Hand hält. Leerdam sieht auf das sanft phosphoreszierende Zifferblatt seiner Armbanduhr. Fünf nach acht. Wilm Schouwen kämpft mit einigen nassen Zweigen, die ihm die Sicht rauben. Verstreut im nassen Gras liegen sechs Hunde. Sie hecheln nur ganz leise mit spitzen Ohren und verhalten sich im übrigen so, wie es ihnen gelernt wurde – lautlos. Der Atem steht ihnen wie kleine Wölkchen vor den Schnauzen. Der Nebel ist dicht und fast klebrig vor Nässe. Nur schwach durchdringt ihn der Schein der Laterne; letzterer wird aufgesaugt und bildet lediglich einen hellen Fleck in einem Gewirr von Schleiern. Antje am Fuß der Laterne ist nur ein Schemen, der sich im milchigen Weiß ständig gänzlich aufzulösen droht. Antje hat entsetzliche, unbeschreibliche Angst. Sie möchte fliehen, kopflos davonstürmen, fühlt sich aber festgehalten. Von wem, von was? Vom Gefühl einer Pflicht? Ach was, das besteht nicht mehr, sie hat nur noch Angst, aber sie weiß, daß hier in der Nähe Polizisten wachen, ihr Vater – und daß, wenn sie flieht, irgendwohin, niemand mehr in ihrer Nähe sein wird, der über sie wacht. Also bleibt sie und bereut es zutiefst, nicht auf ihre Mutter gehört zu haben. Zitternd starrt sie in den Nebel. Von den Bäumen tropft das Naß. Irgendwo in der Ferne heult ein Hund, Alba merkt auf, läßt aber keinen eigenen Ton verlauten. Antje hält seine Leine in der Hand, doch nur mit schwachen Fingern. Sie versucht mit ihrem Blick den Nebel zu durchdringen, er ist zu dicht. Sie kann weder Büsche noch Bäume sehen, der Schein der Laterne erhellt zu ihren Füßen nur in einem kleinen Umkreis das nasse Pflaster der Straße. 144
Vater und die Polizisten sind aber um mich, denkt sie. Sie lassen kein Auge, kein Ohr von mir. Und Alba ist da. Mir kann nichts geschehen… ich bin sicher… absolut sicher… »Nicht wahr, Alba?« flüstert sie und blickt hinunter zu dem Tier. Und zwei, drei Sekunden lang fühlt sie sich wirklich so wohlbehütet wie in Abrahams Schoß. Autosuggestion. Doch im nächsten Augenblick geschieht etwas, das zeigt, wie es tatsächlich um sie steht. Ein unsichtbarer Vogel im dunklen Geäst eines nahen Baumes flattert auf, und dieses unvermutete Geräusch jagt ihr einen solch fürchterlichen Schreck ein, daß sie ohnmächtig zu Boden sinkt. Die Leine von Alba entgleitet ihr. Den Mörder trennen in diesem Moment von Antje keine fünfzig Meter mehr, er hat das blanke Beil schon in der Hand. Alba, verwirrt vom Ohnmachtsanfall des ihm anvertrauten ›Objekts‹, scheint zu spüren, daß von dieser Seite nichts mehr zu erwarten ist, das ihm zur Anleitung dienen könnte. Er knurrt, sträubt die Rückenhaare, wird zur tödlichen Gefahr für jeden Feind, der sich ihm widersetzen will. Das Knurren von Alba, mehr schon ein Grollen, pflanzt sich fort zu seinen ›Kollegen‹; die Polizisten sind dagegen machtlos, der Instinkt der Tiere ist von der besten Dressur nicht mehr zu zügeln. Schlagartig ist der stille Park voller bösester Geräusche für den Mörder, ihm sträuben sich gewissermaßen die Ohren, er wendet sich im Nebel zur Flucht. Kommissär Leerdam sieht das natürlich nicht, aber er kann es ahnen und setzt als ultima ratio seine Trillerpfeife in Tätigkeit. Das heißt für alle: Vollalarm! Die Hundeführer wissen, daß es nun nur an ihren Tieren liegt. Sie selber – überhaupt keiner der Polizisten – sie alle können in diesem teuflischen Nebel nichts ausrichten. Es wäre ja ein reiner Zufall, wenn der Mörder an einem von ihnen in unmittelbarer Nähe vorbeirennen würde. Aber die Hunde erweisen sich des in sie gesetzten Vertrauens 145
ganz rasch würdig, an der Spitze Alba. Eigentlich innerhalb weniger Sekunden stellen sie ihn. Und nun macht er den tödlichen Fehler, sich ihrer mit dem Beil zu erwehren. Er spaltet Alba, der ihn als erster anspringt, den Kopf. In Raserei versetzt, zerfleischen ihn daraufhin die anderen im Nu. Nur ein schrecklicher Todesschrei von ihm durchdringt noch die Nacht. Bis der erste Polizist den Ort des grauenvollen Geschehens erreicht, ist alles schon vorbei. Die Hunde können nur mit großer Mühe wieder einigermaßen beruhigt werden. Paul Leerdam sieht das Beil des Mörders liegen und atmet erleichtert auf. »Stellen Sie sich vor«, sagt er zu Wilm Schouwen, »das Ganze wäre passiert mit einem harmlosen Bürger, der sich noch auf dem Nachhauseweg befunden hätte. Wäre doch auch möglich gewesen – oder nicht? Großer Gott, ich darf gar nicht daran denken, Wilm!« »Ich auch nicht, Chef«, seufzt der Assistent. »Wissen wir schon, wer der Kerl ist?« Sie beugen sich über den getöteten Mörder, dessen Mund offensteht, als habe ein zweiter Schrei keine Zeit mehr gehabt, ihm zu entfliehen. Der Goldzahn glänzt links oben im Gebiß – auch das ein beruhigender Beweis dafür, daß die Hunde keinen Falschen angefallen haben. In dem vielen Blut und zerfetzten Fleisch, auf das die Polizisten hernierderstarren, ist das Gesicht ziemlich gut zu erkennen, da es relativ unverletzt geblieben ist. Die Perücke hat sich vom Kopf gelöst und liegt zwei Meter neben der Leiche. »Mann«, stößt Schouwen völlig konsterniert hervor, »ich dachte schon, das sei Dan Paldoorn…« »… unser Schrotthändler und Bestattungsunternehmer«, fällt Leerdam ebenso konsterniert ein. »Aber das ist unmöglich, Chef. Der hat keinen Goldzahn im 146
Mund.« »Ganz richtig. Gerade deshalb mußte ich schon einmal einen leisen Verdacht gegen ihn fallenlassen, als er sich nach einer Aachen-Reise ein bißchen merkwürdig benommen hat. Aber…« Leerdam verstummt. »… aber«, ergänzt Schouwen, auf den Toten weisend, »dann muß der ein eineiiger Zwilling von ihm sein. Wußten Sie von dieser Verwandtschaft, Chef?« »Nein, doch daß sie existierte, daran gibt’s jetzt keinen Zweifel mehr. Mir geht ein Licht auf, Wilm. Dan Paldoorn lebt in unmittelbarer Nachbarschaft des Präsidiums. Daher also die unerklärliche Beschlagenheit des Mörders über gewisse Vorgänge bei uns. Das kann nur über Dan gelaufen sein, anders sehe ich das nicht. Kommen Sie, wir müssen rasch zu ihm, damit er uns nicht durch die Lappen geht. Ich habe das Gefühl, daß wir ihm eine Menge Fragen zu stellen haben, und zwar nicht nur nach seinem Bruder, sondern auch über ihn selbst.« Die beiden mußten sich aber nicht so beeilen. Dan Paldoorn ist zu Hause nicht mehr anzutreffen. Er liegt draußen im Meppelpark, von Hunden zerfleischt. Des Rätsels Lösung findet sich im Gerichtsmedizinischen Institut: Dan Paldoom hatte oben im Mund keinen natürlichen Zahn mehr, er trug eine Vollprothese. Von den zwei Exemplaren, die er benützte, hatte er sich eine ganz bewußt mit einem Goldzahn anfertigen lassen, um mit dieser Prothese, so oft er sich anschickte, zu morden, eine falsche Spur für die Polizei zu legen. Das war die geniale Maske des Dan Paldoorn, dem es in allen anderen Bereichen seiner Verbrecherlaufbahn durchaus an Genialität mangelte. Seine Taten waren mehr auf Glück als auf Raffinement aufgebaut. Mit dem Goldzahn allein aber setzte er lange Zeit die besten Kriminalisten Hollands schachmatt. Nach jedem Mord, wenn Paldoorn wieder in die Haut des ehrsamen 147
Bürgers schlüpfte, die Prothese wechselte und also ohne Goldzahn herumlief, entzog er jedem Verdacht gegen ihn die Grundlage, da es gar nicht möglich war, daß ein solcher Verdacht aufkommen konnte, weil man ja mit absoluter Sicherheit von einem ›Goldzahn oben links‹ im Kiefer des Mörders wußte. Nur die Hunde, die hätten ihn, so wie es kam, mit jeder Prothese zerrissen…
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DER GLÄSERNE SARG Joan Dhiser war ein einmaliges Phänomen auf den Bühnen der Welt-Varietes. Sie blieb minutenlang in einem Glasbassin unter Wasser, ohne Mund- und Nasenschutz, ohne künstlichen Luftvorrat, ohne irgendwelche anderen technischen Hilfsmittel. Während die Wissenschaftler vor einem Rätsel standen, raste das Publikum Abend für Abend aufs neue vor Begeisterung wenn Joan Dhiser nach Minuten unerträglicher Spannung lächelnd das Bassin verließ. Sie war der Inbegriff nervenkitzelnder Sensation. Bis diese Frau eines Abends das Opfer einer Tragödie wurde, die vor den Augen von zweitausend Zuschauern abrollte, ohne daß auch nur ein einziger von ihnen hätte eingreifen und das furchtbare Schicksal abwenden können. Das »Wunder unter Wasser« wurde zu einem der aufsehenerregendsten Kriminalfälle in den Vereinigten Staaten.
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Personen: die mehr oder weniger ein Rätsel sind oder vor einem Rätsel stehen: Joan Dhiser Jim Dhiser Peggy Whyler Bob Rint Mark W. Blondie Mrs. Catherine French Jack Carter Ray Hardin Mrs. Vanhuisen Mrs. Parker Sam Fred Jacklow Michael Collin Dr. Gerald Seyms u. v. a.
Varietekünstlerin Drahtseilkünstler; ihr Mann Drahtseilkünstlerin; Jim Dhisers Partnerin Gedächtniskünstler; Joan Dhisers Partner Direktor des ›GlobeTheaters‹ Direktor Blondies Sekretärin Inspizient Student Besitzerin einer Künstlerpension Bob Rints Zimmerwirtin Portier des ›GlobeTheaters‹ Inspector Lieutenant Polizeiarzt
Ort: Chicago 150
I. Zweitausendvierhundert Augen starren auf einen Fleck. Durch den weiten, abgedunkelten Saal stoßen die grellen Arme der Scheinwerfer. Ihre blendenden Lichtkegel vereinigen sich in der Mitte der großen Bühne auf einem viereckigen Glasbassin. Atemlose Stille steht im Raum. Die Musik schweigt. Nur das leise Surren der in die Wände eingebauten Ventilatoren durchschneidet die bis aufs äußerste gespannte Erwartung der eintausendzweihundert Zuschauer. Joan Dhiser, die Starartistin des Chicagoer ›Globe-Theaters‹, wird gleich in dieses große Wasserbassin steigen und fünfzehn Minuten unter Wasser bleiben, unter Wasser essen, unter Wasser trinken, umherschwimmen und bezaubernd lächeln… fünfzehn Minuten unter Wasser, ohne Luft, ohne Trick oder Spiegelung, konzentriert auf den unheimlich starken Willen, fünfzehn Minuten zu leben, ohne atmen zu müssen. – So steht es an den Anschlagtafeln und im Programmheft. Eintausendzweihundert Menschen werden Abend für Abend von dieser einmaligen Sensation des internationalen Varietés angelockt – von Joan Dhiser, der Frau unter Wasser. Der Inspizient Jack Carter steht in der linken Bühnenecke neben seinen Schalttafeln und spricht durch ein Walkie-talkie, das er um den Hals gehängt hat, leise mit der Beleuchterbrücke. Er korrigiert die Scheinwerfer und sagt noch einmal die Reihenfolge der Farbtönungen während der einzelnen Nummern an. Es ist dies eine alte Angewohnheit von ihm; man hört auf der Beleuchterbrücke kaum noch hin. Die 73. Vorstellung ist es heute, und man kennt die Regieanweisungen im Schlaf. Erst weiß, dann rot, übergleitend in hellviolett, dann blau, dann meergrün und am Ende alle Kegel grellweiß. 151
Jack Carter blickt auf die Bühne. Der Beifall der zwölfhundert Zuschauer braust durch den riesigen Saal. Bob Rint, der Ansager, tritt auf die Bühne. Sein strahlendes Lächeln und seine Gewandtheit verhüllen, daß er in diesem lebensgefährlichen Spiel ebenfalls eine entscheidende Rolle übernommen hat. Denn Bob Rint ist kein gewöhnlicher Conférencier. Er ist in erster Linie Gedächtniskünstler. »Meine Damen und Herren«, spricht er verhalten in das Mikrofon und erreicht damit, daß der Beifall sofort abstirbt. »Sie erleben nun den Höhepunkt des heutigen Abends, eine Weltsensation. In dieses Bassin wird in wenigen Minuten Joan Dhiser steigen. Sie sehen, daß der Behälter bis zum Rande mit Wasser gefüllt ist. Insgesamt sind es 36 Kubikmeter Wasser. Stellen Sie sich vor: Das sind 36.000 Liter Wasser, und diese Masse wiegt 36 Tonnen. Um dieses Bassin hier aufzustellen, mußte der Bühnenboden extra abgestützt werden. Wenn Joan Dhiser in das Bassin gestiegen ist und der Deckel geschlossen wird, hat sie keine Möglichkeit mehr, irgendwo Luft zu holen. Sie muß die fünfzehn Minuten unter Wasser verbringen. Sie wird sich dort an diesen Tisch setzen und essen und trinken. Sie wird umherschwimmen und Ihnen zulächeln – bis sich der Deckel wieder öffnet. Nun aber das Wichtigste: Dieser Deckel – Sie werden es dann sehen – schließt absolut luftdicht. An seiner Vorderseite befinden sich zwei Ösen, und dorthin gehören…«, Bob Rint greift in seine Taschen, »diese beiden VorhängeSchlösser. Es sind Zahlenschlösser, die Kombination ändert sich von Abend zu Abend, denn nicht ich stelle die Zahlen ein, sondern zwei Damen oder Herren… oder eine Dame und ein Herr aus dem Publikum. – Darf ich nun zwei von Ihnen bitten, auf die Bühne zu kommen?« Zuerst verblüffte Stille im Saal. Dann erhebt sich ein Herr in der letzten Reihe. Das wirkt wie ein Signal. Gleich mehrere Damen und Herren marschieren auf die Bühne zu. Bob Rint nimmt die beiden ersten am Arm und wehrt die 152
anderen ab. »Vielen Dank… Verstehen Sie bitte, daß ich wirklich nur zwei Personen brauchen kann. Jede Komplikation muß im Interesse unserer Künstlerin vermieden werden. Denn davon hängt ihr Leben ab.« Die beiden Zuschauer auf der Bühne – es handelt sich um eine etwas üppige Blondine und einen ausgesprochen nervös wirkenden Herrn – müssen dann unter Anleitung des Conferenciers die beiden Schlösser ausprobieren. Sie stellen wahllos Kombinationen ein, die Bob Rint sofort arretiert. Dabei prägt er sich die Zahlenkombination ein, verändert danach die Zahlenfolge, und nun dürfen sich Damen und Herren in den ersten Reihen davon überzeugen, daß die Schlösser nicht zu öffnen sind – bis ihnen Bob Rint, der Gedächtniskünstler, die Lösungszahl verrät. Ein Trommelwirbel kündigt an, daß die Attraktion des Abends unmittelbar bevorsteht. »Meine Damen und Herren«, Bob Rints Stimme wird ausdrucksstärker. »Meinen beiden Helfern aus dem Publikum werden nun die Augen verbunden. Dann stellen sie die endgültige Schloßkombination ein. Diese wird dann von mir arretiert. Von diesem Moment an weiß nur ich, welche Zahlenverbindungen Joan Dhiser wieder aus dem Wasser befreien können. Denn wenn die Schlösser in den Ösen hängen, werden die Dame und der Herr immer noch mit verbundenen Augen – die Einstellungen verändern. Es gibt keine schriftliche Aufzeichnung der richtigen Kombination. Die Zahlen sind nur in meinem Gedächtnis gespeichert. Von dem Zeitpunkt an, in dem der Deckel geschlossen wird, liegt also Joan Dhisers Leben allein in meiner Hand. Nur durch das Öffnen der Schlösser kann sie wieder aus ihrem Gefängnis befreit werden. Das Bassin besteht aus Panzerglas… die Wände können nicht einmal durchschossen werden.« Bob macht eine Pause, um diese Feststellungen auf das Publikum wirken zu lassen. Erst dann fährt er fort: »Und nun bitte ich um Ihren Beifall für Joan 153
Dhiser…!« Der Beifall, in den sich auch Bravorufe und Pfiffe mischen, ist so frenetisch, als müßten sich die Zuschauer von einem Alptraum befreien. Eine schöne, schlanke junge Frau tritt in das Scheinwerferlicht vor das Bassin und verneigt sich graziös. Sie trägt einen engen hellgelben Badeanzug, der ihre prachtvolle Figur wie eine zweite Haut umschmiegt. Der Beifall ebbt nicht ab. immer wieder muß sie sich verbeugen. Noch einmal streicht sie sich über die schwarzen Locken, wirft einen Blick zur rechten Bühnenseite und nickt. Direktor Blondie, der, für das Publikum unsichtbar, zwischen zwei Vorhängen steht, erwidert ihren Blick und drückt ihr beide Daumen. Neben ihm an der Wand lehnt in einem flimmernden Kostüm Jim Dhiser, der bekannte Drahtseilkünstler. Er wirft seiner Frau einen Kuß zu. »Sie sind zu beneiden, Jim«, flüstert ihm Blondie zu und neigt sich leicht zu ihm hinab. »Solch eine herrliche Frau… eine einmalige Künstlerin… Sie sind ein Sonntagskind, mein Lieber. Sie müssen doch wunschlos glücklich sein…« Jim Dhiser antwortet ihm nicht. Stumm starrt er auf die Bühne und preßt die schmalen Lippen fester als sonst zusammen. Er ist ein mittelgroßer, schlanker, dunkelhäutiger, aber sonst farbloser Mann mit stumpfen grauen Augen und einem Blick, als wäre sein Leben nur eine Hetze nach einem unsichtbaren Phantom. Ihm gegenüber wirkt der große Mister Blondie wie ein Berg, massig, mit etwas aufgeschwemmtem, aber äußerst intelligentem Gesicht, Typ eines Weltmannes, der auch von seiner Wirkung auf Frauen überzeugt ist. Joan Dhiser verneigt sich noch einmal. Inspizient Jack Carter gibt letzte Anweisungen. Das grelle Licht der Scheinwerfer gleitet in ein mattes Rot über, langsam ziehen sich die Lichtkegel auseinander und umrahmen das ganze Bassin. Leicht bewegt sich der bis an den Rand stehende Wasserspiegel. Der aufgeklappte, breite Glasdeckel leuchtet wie ein riesiger Rubin. 154
Atemlose Spannung liegt über den eintausendzweihundert Menschen. Joan Dhiser steigt graziös auf einer gläsernen Leiter bis zum oberen Rand des Bassins und läßt sich mit einem bezaubernden Lächeln in das leicht aufspritzende Wasser gleiten. Vier Assistenten springen von den Seiten herbei, reißen die Leiter zur Seite, klappen den gläsernen Deckel zu und verlassen dann die Bühne. Bob Rint tritt an das Bassin. Er hängt die Vorhängeschlösser in die Ösen, führt dann zuerst die Dame, später den Herrn an das jeweilige Schloß und läßt beide – wie angekündigt – die Kombination zuerst einstellen. Dann arretiert er die Zahlenfolge; gleichzeitig prägt er sich die Zahlen ein. Nun bittet er seine beiden Helfer, die Kombination zu verstellen. Danach nimmt er ihnen die Binden von den Augen und entläßt sie – zurück auf ihre Plätze. Langsam geht das Scheinwerferlicht in ein blasses Violett über. Das Wasser spiegelt und flimmert, und in ihm beginnt die bezaubernde Frau – eine Nixe im hellgelben Badeanzug – ihre einmaligen, sensationellen Darbietungen. Leise spielt die Kapelle einen schwebenden Walzer. Inspizient Carter hat die Uhr in der Hand und zählt die Sekunden. Fünfzehn Minuten muß Joan unter Wasser bleiben, ohne Luft, ewig lächelnd… fünfzehn lange schreckliche Minuten, die den zwölfhundert Zuschauern vor Erregung und Spannung Schauer über den Körper jagen. Jim Dhiser steht mit Direktor Blondie an den Seiten des Schnürbodens und beobachtet die Nummer seiner Frau. »Sie muß sich mehr schonen«, sagt er plötzlich und wendet sich Mister Blondie zu. »Nach jeder Vorstellung ist sie matt, einfach erledigt, launisch und deprimiert. Vor einem Jahr noch machte ihr eine Vorstellung nichts aus… aber seit den letzten zwei Monaten fällt sie sichtlich zusammen. Ich glaube, Direktor, daß wir nach der einhundertsten Vorstellung eine Pause von einem Vierteljahr machen und irgendwo in Miami oder Kalifornien ausspannen. Vor allem muß Joans wunderbare 155
Lunge geschont werden!« Direktor Blondie nickt zustimmend. »Haben Sie schon Anzeichen bemerkt, daß ihre Lunge nachläßt?« fragt er offensichtlich besorgt. »Nein, das nicht. Doch ich befürchte es. Der Zusammenbruch kommt plötzlich und ist eines Tages da!« »Das wäre furchtbar!« Blondie blickt auf die Bühne, wo Joan sich gerade unter Wasser an den Tisch setzt, eine Banane aus einem Behälter nimmt, diese schält und langsam ißt. »Eine wundervolle Frau, Dhiser… Ich beneide Sie jeden Abend. Selbstverständlich wechseln wir das Programm nach der einhundertsten Vorstellung, und Sie fahren mit Joan drei Monate nach Palm Beach. Vielleicht mache ich auch Urlaub und begleite euch zwei!« Hatte das ironisch geklungen? Jim beschließt, nicht darauf einzugehen. »Nicht übel… Würden uns sehr freuen…«, murmelt er und starrt weiter auf die Bühne. Bob Rint ist in Hochform. Schlagfertig, witzig und außerdem die Spannung von Sekunde zu Sekunde steigernd, unterhält er das Publikum und erklärt, was Joan Dhiser gerade macht. Immer wieder fügt er ein, wie lebensgefährlich die Darbietung für die Frau unter Wasser ist. »Ob ich die beiden Zahlenkombinationen noch weiß…?« Die Zuschauer nehmen ihm die Spannungsmache ab. »Ich bin so aufgeregt. Ich glaube, ich brauche jetzt einen Cognac, sonst halte ich die beiden letzten Minuten nicht mehr durch. He, Direktion, ob aus den Einnahmen heute abend für mich ein Cognac zu zahlen ist…?« Jeden Tag das gleiche Spiel. Das Publikum lacht – froh darüber, daß es sich etwas von der Aufregung lösen kann. Dabei steht der Cognac schon bereit. Der Inspizient greift hinter sich und händigt einem der Assistenten eine angebrochene Flasche 156
und einen Cognacschwenker aus. In der Flasche ist echter Cognac. Bob Rint besteht darauf; er will keinen Tee – wie das auf Bühnen sonst üblich ist – trinken. Der Assistent tritt auf die Bühne und reicht dem Ansager das Glas. Dann gießt er ihm den Cognac ein. Genießerisch schwenkt Bob Rint den Cognac, betrachtet dann das Etikett der Flasche und lobt: »Na, heute muß die Kasse wohl mal stimmen. Der Direktor hat sich doch glatt von seiner besten Flasche getrennt. Wenn der nicht mindestens zwölf Jahre alt ist…« Bob dreht sich Joan Dhiser zu, die jetzt an die vordere Wand des Bassins geschwommen ist. Er hebt das Glas, so als wolle er einen Toast auf die Künstlerin ausbringen. Dann setzt er das Glas an den Mund und schlürft. Danach wirft er das Glas hinter sich. Es zerbricht mit leisem Klirren an der Wand des Bassins. »Nur noch dreißig Sekunden, meine Damen und Herren, dann hat es Joan Dhiser wieder geschafft. Dann… dann…« Was ist mit dem Ansager los? Die Stille im Saal wirkt beängstigend. Bob Rint wischt sich mit der linken Hand über die Stirn. Es scheint ihm übel zu sein. Er wankt ein paar Schritte vorwärts… dann bricht er zusammen. Ein kurzes Röcheln wird durch das Mikrofon in den Saal übertragen. Lähmendes Entsetzen. Als erster hat sich Direktor Blondie wieder in der Gewalt. Er stürzt auf die Bühne und greift zum Mikrofon: »Einen Arzt… wo ist der Theaterarzt?« Links seitwärts erhebt sich ein Mann und hetzt zur Bühne. Unter seinen Arm geklemmt trägt er ein kleines Köfferchen. Jim Dhiser starrt auf das Bassin. Seine Augen sind aufgerissen, leblos, geweitet in merklichem Entsetzen. Seine Finger sind zur Faust verkrampft und liegen eng am Körper an. Noch immer lächelt Joan Dhiser unter Wasser und blickt ins 157
Publikum. Natürlich hat sie gesehen, wie der Ansager zusammengebrochen ist. Doch das ungeschriebene Gesetz des Varietés lautet: Lächeln… dem Publikum stets ein Lachen zeigen… egal, was passiert… Der Arzt hat inzwischen Bob Rint, der immer noch vor dem Bassin auf der Bühne liegt, untersucht. Mit erschütterter Miene wendet er sich dann dem neben ihm knieenden Direktor zu und sagt leise: »Der Mann ist tot. Offensichtlich Herzschlag oder – er ist vergiftet worden…« Das Publikum starrt über diese Szene hinweg ins Bassin. Das Lächeln ist von Joans Lippen verschwunden. Ihre Augen sind angstgeweitet. Sie blickt zu den Assistenten, die sich verzweifelt an den Vorhängeschlössern zu schaffen machen, und gibt deutliche Alarmzeichen. Höchste Zeit, der Luftvorrat ist verbraucht… das Ersticken… das grauenvolle, qualvolle Ersticken unter Wasser beginnt. Jack Carter springt auf die Bühne. Er hat sich einen Vorschlaghammer geholt und wuchtet diesen nun gegen die rechte Seitenwand des Bassins. Blondie fällt ihm in den Arm. »Das ist doch sinnlos… das Panzerglas bricht nicht. So können wir Joan nicht retten, wir müssen die Schlösser durchsägen. Bringt Eisensägen…« Die Assistenten und Carter rasen hinter die Bühne. Wo sind die Werkzeuge? Sie rufen nach den Bühnentechnikern. Joan Dhiser Gesicht ist von nackter Angst überzogen. Sie schlägt mit den Armen um sich… stößt mit dem Kopf gegen den Deckel… trommelt gegen die Wände nacktes Entsetzen schreit aus ihren Augen. Alle Artisten sind nun auf der Bühne. Es herrscht ein wirres Durcheinander. Wo bleiben die Eisensägen…? Viele Zuschauer sind aufgesprungen und haben sich an der Bühnenrampe versammelt. Eine neue Sensation – das Gefühl 158
des Schreckens und der Ohnmacht. Zwölfhundert Menschen werden Zeugen eines grauenhaften Todeskampfes. Jim Dhiser preßt seinen Mund an die unnachgiebige Glaswand. Seine Arme sind ausgebreitet. Es ist, als wolle er seine Frau umarmen. »Joan!« ruft er. »Joan, Liebste, liebste Joan… nur noch eine Minute… eine Minute noch…« Dann wirbelt er herum und schreit die hilflos durcheinanderlaufenden Bühnenarbeiter und Artisten an. »Tut doch was… ihr Idioten, steht doch nicht herum… versucht doch, den Deckel aufzubrechen… eine Eisenstange her!« Und wieder trommelt er vor Verzweiflung an die dichte Glaswand und schreit mit greller Stimme den Namen seiner Frau. Joan Dhiser schlägt mit den Armen um sich. Ihre schon brechenden Augen erblicken plötzlich Jim, und mit einer unendlich flehenden Gebärde streckt sie beide Arme nach ihm aus, schwimmt auf ihn zu, und ihre Augen sind voll Hoffnung, Freude und – Liebe. »Joan!« brüllt da Jim Dhiser auf, und sein Schrei zittert durch den weiten Saal. »Joan, Joan…« Dann sinkt er ohnmächtig nieder, in demselben Augenblick, in dem Joan Dhiser vor zweitausendvierhundert, größtenteils entsetzten, aber auch sensationslüsternen Augen ertrinkt. Kostbare Minuten sind unwiederbringlich vergangen, als ein Bühnenarbeiter endlich eine Eisensäge bringt. Jack Carter reißt sie ihm aus den Händen und fängt an, das erste Vorhängeschloß durchzusägen. Es ist eine mühsame Arbeit. Erst jetzt gibt Blondie das Zeichen, den Vorhang fallen zu lassen. Niemand hatte bisher an diese Maßnahme gedacht. Der Direktor geht vor die Bühne und bittet mit erstickter Stimme das Publikum um Verständnis dafür, daß die Vorstellung abgebrochen werden muß. Auf der Bühne ist es Carter inzwischen gelungen, auch das 159
zweite Schloß durchzusägen. Die Assistenten haben kaum den Deckel zurückgeschlagen, als der inzwischen wieder zu sich gekommene Jim Dhiser bereits ins Bassin taucht und seine leblos auf dem Boden liegende Frau herausholt. Der Theaterarzt versucht wiederbelebende Maßnahmen. Behindert wird er dabei von Jim Dhiser, der seinen Mund wie besessen auf den seiner Frau preßt und versucht, ihr seinen lebensspendenden Atem einzuhauchen. Nach zehn Minuten bricht der Arzt seine Bemühungen ab. Blondie übernimmt es, den sich verzweifelt anklammernden Jim Dhiser von seiner Frau zu lösen. »Kommen Sie, Jim… seien sie vernünftig. Es hat keinen Zweck mehr. Joan ist tot…« Jack Carter hat inzwischen im Zuschauerraum die Lampen löschen lassen. Damit zwingt er selbst die Sensationslüsternsten, das Theater zu verlassen. Er will nun auch die Bühne freimachen und ordnet deshalb an, alle Requisiten zu entfernen. »Halt!« schreit in diesem Augenblick Jim Dhiser und springt auf. Sein Gesicht ist verzerrt; wirr und naß hängen ihm die Haare in die Augen. »Halt! Alles bleibt so wie es ist! Nichts wird berührt… Hier ist ein Verbrechen geschehen – Joan ist ermordet worden…!« Erst jetzt wird allen bewußt, was sich wirklich zugetragen hat. Ein Mord, der unweigerlich den Tod eines zweiten Menschen herbeiführen mußte. Wer sollte beseitigt werden: Bob Rint oder Joan Dhiser? Oder beide? Das wäre ein ebenso teuflischer wie genialer Plan gewesen… Direktor Blondie lehnt an dem Bassin. Er hat plötzlich die Rosen in der Hand, die er Joan nach ihrem Auftritt hatte übergeben wollen. Sein Gesicht ist aschfahl, seine Augen quellen hervor. Seine hohe Gestalt ist zusammengesunken, tiefe 160
Falten durchfurchen sein Gesicht. Er ist in fünf Minuten ein alter Mann geworden. »Ermordet…«, wiederholt er leise, »Joan ermordet!« Mit einer rührend anmutenden Geste legt er den Rosenstrauß auf den nassen Leichnam und wendet sich erschüttert an den Ehemann. »Sie haben recht, Jim, es war Mord. Vielleicht sogar ein Doppelmord. – Carter!« »Ja, Chef?« Der Inspizient tritt näher. »Sie rufen sofort die Polizei an«, und an alle Anwesenden gewandt bestimmt er: »Niemand verläßt die Bühne. Carter, sorgen Sie dafür, daß sämtliche Ausgänge gesperrt werden, und stellen Sie fest, wer in den letzten dreißig Minuten das Theater durch den Personalausgang verlassen hat.« Mit flatterndem Mantel rennt Jack Carter davon. Bedrückt stehen die Artisten und die Bühnenarbeiter auf der Bühne herum. Das Verbrechen, das sich vor ihren Augen abgespielt hat, werden sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen können.
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II. Solche Abende liebt Fred Jacklow. Einmal so richtig tun und lassen zu können, was man wirklich will. Keine von den – allerdings manchmal nicht zu entbehrenden – Damen um sich zu haben, die häufig glauben, dem Junggesellen und bekannten Inspector in dessen Wohnung unbedingt beweisen zu müssen, was für gute Hausfrauen sie doch sind. Da kann man sich dann nicht so gehenlassen wie heute: den ältesten, aber bequemsten Hausmantel anziehen, zum viertenmal das 3. Klavierkonzert von Beethoven auflegen, den Pianisten in dröhnender Lautstärke über die Tasten donnern lassen und sich dann an der Bar den sechsten Cocktail holen. Fred Jacklow geht zur Couch zurück und läßt sich mit einem befreienden Aufatmen in die daunenweichen Polster fallen. Da weiß man doch wenigstens, wofür man schuftet. Zwar ist das Gehalt eines Criminalinspectors nicht gerade fürstlich – aber es reicht für manch angenehme Dinge des Lebens, wenn man es nur gelegentlich durch zwei teilen muß. Und daß das so bleibt, dafür würde er schon sorgen, denkt sich der Polizist. Criminalinspector Fred Jacklow ist nicht der Typ eines Sherlock Holmes; noch weniger entspricht er seinem Äußeren oder seinem Wesen nach seinen idealisierten Kollegen vom Film oder den mehr oder weniger unrealistischen Fernsehkrimis. Er ist vielmehr ein untersetzter, stämmiger, blondhaariger vierzigjähriger Mann mit keinen anderen auffallenden Erscheinungen als der ausgefallenen Passion, Bieruntersetzer aus aller Welt zu sammeln. Er ist stolz darauf, eine wirklich einmalige Sammlung in allen Schattierungen und Varianten zu haben, die vom Bierfilz einer chinesischen Brauerei bis zu den seltenen Exemplaren eines Bierdeckels der Deutschen Union Brauerei in Dortmund reicht, der für den Gebrauch der 162
Einwohner auf Kamtschatka bestimmt war. Man hatte Jacklow für diese grandiose, alkoholisch fundierte Sammlung aus Liebhaberkreisen runde zwanzigtausend Dollar geboten, die der Sammler aber lächelnd ablehnte. Allerdings hatte er von diesem Zeitpunkt an seine papierenen Kostbarkeiten diebessicher im Safe seiner Bank deponiert. Und dann rühmt er sich noch, der fantasievollste Mixer zu sein. Natürlich zaubert er an seiner gutbestückten Hausbar in erstklassiger Qualität auch die Standarddrinks wie Tom Collins, Manhattan, Whisky sour oder Gin fizz – aber die richtige Herausforderung ist das für seine Fähigkeiten nicht. Fred Jacklow schwingt sich erst dann zu einsamer Spitze empor, wenn ihn ein Gast dazu ermuntert, ihm einen Cocktail, den es bisher noch gar nicht gibt, zu mixen. Dann ist Fred in seinem Element. Dann entstehen die gewagtesten Drinks, echte ›Ladykiller‹. Heute abend hat er seine Erfindungsgabe für sich selbst spielen lassen. Während er genießerisch an dem Strohhalm schlürft, beschließt er, dem Ergebnis den Namen ›Stromboli‹ zu verleihen. Der Vulkan erscheint ihm gut genug, um die Urkraft dieses Getränks zu symbolisieren. Fred lacht vor sich hin. Urkraft – das wäre etwas für die blonde Mary, die sich bisher noch jedem hochprozentigen Angriff widersetzen konnte. An ihr wäre die Kraft dieses Drinks am wirkungsvollsten zu messen. Fred überlegt, wann er seinen nächsten dienstfreien Abend hat, und kommt dann zu dem Schluß, daß die blonde Mary und er noch ein Weilchen auf verbindende Freuden zu verzichten haben. Vielleicht aber kann er sie jetzt noch anrufen? Fred blickt auf seine Armbanduhr. Zweiundzwanzig Uhr fünfzehn. Eigentlich keine Besuchsstunde mehr… Gerade als er seine Wohlerzogenheit seinen Begierden preisgeben will, läutet das Telefon. »Hallo, Chef, hier ist Collin«, tönt es aus dem Hörer. 163
»Zum Teufel noch mal, Lieutenant.« Die Stimme des Zurechtgewiesenen bleibt gelassen. »Soeben kam ein Anruf aus dem ›Globe-Theater‹. Dort ist offensichtlich heute abend ein Mord passiert. Wahrscheinlich sind es sogar zwei Morde. Ganz schlau bin ich aus dem aufgeregten Gestammel nicht geworden. Und der Chiefinspector…« »… der Chief-inspector ist der Ansicht, ich hätte eh zu viel freie Stunden…«, ergänzt Jacklow wütend. »So in etwa mag es hinkommen, Chef.« Collin kann ein bestätigendes Lachen nicht unterdrücken. Das besänftigt auch den in seiner Gammelfreude gestörten Inspector. »Haben Sie denn erfahren, wie der Mord passiert ist?« »Es muß sich um eine Artistin handeln, die in einem Glasbassin ertrunken ist.« »Eine Artistin? Doch nicht etwa Joan Dhiser? Ich war vergangenen Monat im ›Globe‹ und habe sie gesehen.« »Doch, Joan Dhiser… das war der Name, der mir genannt wurde. Aber es muß noch etwas anderes vorgefallen sein. Der Ansager soll zu gleicher Zeit einen Herzschlag erlitten haben.« »Reichlich konfus, Ihre Erklärungen, Collin«, tadelt Jacklow. »Es ist wohl doch am besten, ich verlasse hier meine Idylle und sehe selbst nach dem Rechten. Daß man sich heutzutage auf die niederen Chargen aber auch nicht mehr verlassen kann. Ich bin in einigen Minuten im ›Globe‹. Wir treffen uns dort.« Fred Jacklow legt auf. Zwischen ihm und Collin war dieser lässige Umgangston selbstverständlich geworden. Gerade weil Fred Collin besonders schätzt. Der Lieutenant ist zwar der Typ des farblosen jungen Mannes. Sein Gesicht, seine Figur, sein Gang, seine Stimme, seine Reden gelten als so langweilig, daß man seine Nähe fürchtet und ihm aus dem Wege geht, um nicht die Unhöflichkeit zu begehen und zu gähnen. Was ihn jedoch 164
auszeichnet und ihm den Vorzug einbrachte, an der Seite Fred Jacklows zu arbeiten, war ein blitzschnelles Erfassen der Situation und ein Gedächtnis für Personen, Zahlen und Dinge, das Inspector Jacklow im vertrauten Kreise als einfach phänomenal preist. Und bis heute zeigt sich Collin als das lebende Nachschlagewerk der modernen Kriminalistik; er ersetzt für Jacklow eine umfangreiche Verbrecherkartei. In wenigen Minuten ist Fred Jacklow angezogen. In solchen Augenblicken fällt ihm immer der Witz über den Provinztheatertenor ein, von dem zwei Damen schwärmen. Während die eine lobt ›er ist immer so gut angezogen‹, schätzt die andere mehr: ›… und vor allem so schnell‹. Fred Jacklow schmunzelt noch, als er schon zum Fahrstuhl geht. Der ›Fall Joan Dhiser‹ kommt ins Rollen…
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III. Auf der Bühne, hinter dem nunmehr ebenfalls herabgelassenen eisernen Vorhang, sind die großen Scheinwerfer erloschen. Nur die starkflammigen Birnen der ersten Beleuchtergalerie schicken noch weißes Licht auf das Häuflein bedrückter und stiller Menschen, die um das große Glasbassin und um die beiden Toten, den mit verzerrtem Gesichtsausdruck daliegenden Bob Rint und die lang hingestreckte, noch im Tod wunderhübsche Joan Dhiser, stehen. Direktor Blondie, Jim Dhiser und Inspizient Jack Carter haben sich etwas zurückgezogen und sprechen mit leiser Stimme miteinander. Auf die Mordkommission zu warten, ist drückend und äußerst deprimierend. Man kommt sich irgendwie mitschuldig vor, obwohl man weiß, daß man nichts ändern konnte und mit entsetzten Augen wehrlos den Tod der schönsten Frau des Varietés mitansehen mußte. Natürlich hatte man Abend für Abend gewußt, daß die Superattraktion nicht nur ein harmloser Nervenkitzel, sondern ein nacktes Spiel mit dem Tode war… das Leben Joan Dhisers hing an der Gedächtniskunst Bob Rints. Aber niemand hatte es je für nötig gehalten, darüber nachzudenken, was passieren mußte, wenn Bobs Zahlengedächtnis einmal versagte. Und nun war das als unmöglich Verdrängte eingetreten… Verstohlen blickt man zu Jim Dhiser hinüber. Für ihn muß der Verlust der geliebten Frau untragbar sein. Obwohl man munkelt, daß das Eheglück in den vergangenen Monaten nicht so ungetrübt gewesen sei… Der Mann, dem diese Gedanken gelten, lehnt am Pult des Inspizienten. Sein Gesicht ist blaß, zerrissen, die Augen verstört, als zeigten sich Angst und Schuld und beschwörten in seinem 166
Inneren schreckliche Wahrheiten herauf. Seine Hand, die auf der Schreibplatte liegt, zittert leicht. »Ich habe einen großen und unverzeihlichen Fehler gemacht«, sagt er nach langem Schweigen zu Direktor Blondie. »Ich hätte dieses Vabanquespiel nicht zulassen dürfen. Das Leben von Joan ausschließlich auf das Gedächtnis dieses Bob Rint zu setzen. Vor diesem Engagement, als sie noch mit Claudio Orell als Ansager arbeitete, wurden die Zahlen sicherheitshalber zusätzlich notiert. Claudio steckte sich diesen Zettel in die Brusttasche seines Hemdes. Er hätte davon jederzeit die Zahlen ablesen können, wenn es notwendig geworden wäre. Aber als Joan auf Bob traf, und als sich die beiden näherkamen…«, eine leichte Erregung ist in Jims Stimme zu spüren, »wurde sie leichtsinnig. ›Du glaubst doch nicht, daß ausgerechnet Bob meinen Tod herbeiführen würde‹, pflegte sie meine Bedenken abzutun. Drei Jahre reist sie nun mit dieser Nummer… drei Jahre ohne den geringsten Zwischenfall. Und heute ist ihr das blinde Vertrauen auf einen Menschen zum Verhängnis geworden… ich weiß, daß Bob wahrscheinlich nichts für ihren Tod kann. Aber ist es nicht eine bittere Ironie, daß ausgerechnet er es sein mußte, an dem sie zugrunde ging…?« Direktor Blondie senkt den Kopf. Jack Carter wendet sich ab und hantiert verlegen an irgendwelchen Schaltknöpfen. Beiden ist die Doppeldeutigkeit dieser Bemerkung nicht entgangen. Beide wissen, wie lebenslustig Joan war und welche Beziehung sie mit dem gutaussehenden Gedächtniskünstler verbunden hat. Ein Raunen geht durch die Anwesenden, als Fred Jacklow und Michael Collin die Bühne betreten. Der Lieutenant hat ohne ausdrückliche Anweisung seines Vorgesetzten bestens funktioniert, weshalb sie jetzt einen großen Auftritt genießen können. Jacklow und Collin folgen noch acht weitere Herren – Spurensicherer, Polizeifotografen und vor allem Dr. Gerald Seyms, der Polizeiarzt. Direktor Blondie geht der Gruppe entgegen »Ich bin der 167
Direktor des ›Globe-Theaters‹«, stellt er sich vor. »Mein Name ist Blondie, Mark W. Blondie.« »Hallo, Mister Blondie«, nickt ihm der Inspector zu. »Wir kommen in großer Besetzung. Es scheint sich bei Ihnen ja gleich um Massenmord zu handeln.« Aus dem Schweigen, das ihnen entgegenschlägt, spürt Jacklow, daß er den falschen Ton gewählt hat. Schnell schaltet er auf Förmlichkeit um: »Mein Name ist Jacklow. Das hier ist mein Assistent, Lieutenant Collin. Und diese Kapazität hier ist Dr. Seyms, ein Experte, der bisher noch jede Todesursache ermittelt hat. Die anderen Herren brauche ich Ihnen nicht einzeln vorzustellen. Ich darf nur bitten, sie bei ihren Ermittlungen nicht zu behindern.« »Ich habe Ihnen zu danken, daß Sie so schnell gekommen sind.« »Es ist unsere Pflicht, Direktor«, entgegnet Jacklow mit bittersüßer Miene und denkt dabei an den sechsten Cocktail, den er daheim nur halb ausgetrunken stehen lassen mußte. »Vor allem, wenn der Verdacht auf Mord ausgesprochen wird. Und Sie glauben doch, daß ein Mord passiert ist, Direktor…?« »Ein Mord, zwei Morde…«, Blondie schüttelt wie geistesabwesend den Kopf. Dann deutet er auf den Leichnam von Bob Rint. »Er ist plötzlich zusammengebrochen… und nur er wußte die Zahlenkombination… wir brachten den Deckel nicht auf… Joan mußte vor unseren Augen ertrinken…« »Etwas zu oberflächlich, Ihr Bericht.« Jacklow wendet sich an Dr. Seyms. »Wollen Sie sich die beiden Toten schon einmal ansehen, Doctor? Vielleicht erfahren wir dann zuverlässig, ob wirklich ein Mord vorliegt.« Jim Dhiser tritt auf den Inspector zu. »Ich bin der Mann von Joan Dhiser. Ich möchte Ihnen erklären, wie es überhaupt zu diesem Drama kommen konnte.« 168
Jacklow mustert ihn erstaunt. »Wissen Sie schon Hintergründe – oder wollten Sie damit sagen, daß Sie mir genau den Hergang schildern können?« Jim scheint verblüfft. »Nein… natürlich… ich meine, ich kann Ihnen nur erzählen, was ich gesehen habe. Ich mußte von dieser Stelle aus alles mitansehen – habe miterleben müssen, wie sie starb…« Tränen treten in seine Augen. Er muß sie sehr geliebt haben, durchzuckt es in diesem Augenblick Fred Jacklow. Leicht faßt er den Drahtseilkünstler am Oberarm. »Dann erzählen Sie…« Und Jim – immer wieder mit einem Beben in der Stimme – fängt an, das Furchtbare zu rekapitulieren. Er schildert, wie Bob Rint die Bühne betrat, er verwendet fast wortgetreu die Ansage des Conferenciers – kein Wunder, er hat sie ja dreiundsiebzig Tage Abend für Abend gehört -, er berichtet, wie Joan in das Becken kletterte, er erklärt, wie die auf die Bühne geholten Personen die Kombination eingestellt und wieder verstellt haben… bis hin zum Zusammenbruch Bob Rints und zum furchtbaren Erstickungstod seiner Frau. Zum Schluß steigert sich seine Darstellung zum Stakkato. Blinde Wurt bricht aus ihm hervor – fast spielt er nach, wie verzweifelt Joan versuchte, aus ihrem Gefängnis zu entkommen. »Ich habe sie sofort herausgeholt, als der Deckel endlich geöffnet war, und ich habe versucht, sie mit meinem Atem wieder ins Leben zurückzuholen – aber es war zu spät…« Erschüttert hört Jacklow zu. Doch als Jim geendet hat, kommt sofort seine Frage. »Die Personen, die auf die Bühne geholt wurden…?« Blondie schaltet sich ein: »Es waren eine Dame und ein Herr…« »Sind sie wirklich durch den Zufall bestimmt worden, oder handelt es sich um vom Theater bezahlte Schauspieler, die dem Publikum als normale Besucher präsentiert werden?« 169
»Was denken Sie?« Direktor Blondie kann seine Erregung kaum unterdrücken. »Wir arbeiten nicht mit faulen Tricks… nein, die Leute kommen wirklich aus dem Publikum – es sind jeden Abend andere… wer halt zuerst auf die Bühne kommt.« »… und wo sind die beiden von heute abend? Die Dame und der Herr, wenn ich die Zusammensetzung richtig behalten habe?« Blondie, der Inspizient und Dhiser blicken sich verwundert an. Carter versucht zu erklären: »Wo werden sie sein? Zu Hause wahrscheinlich. Oder vielleicht sind sie noch auf ein Bier oder auf ein Glas Wein gegangen. Woher sollen wir das wissen? Jedenfalls haben wir das Publikum nach Hause geschickt – auch diese beiden…« Jacklow wendet sich an Collin: »Suchen lassen… die Personenbeschreibungen werden Sie ja aus den Angaben dieser drei Herren zusammenbekommen…« »Bestimmt, Chef.« »Aber wozu?« Blondie schüttelt seinen Kopf. »Die beiden haben mit der Sache doch gar nichts zu tun!« »Woher wissen Sie das so genau, Direktor? Könnten sie nicht beispielsweise das Gift – nehmen wir einmal an, daß es Gift war – in die Cognacflasche getan haben?« »Nein. Nein.« Dhiser und Blondie antworten fast gleichzeitig. Dann spricht Blondie allein weiter: »Wo denken Sie hin. Die Cognacflasche steht tagsüber in meinem Büro. Schließlich ist es ein zwölf Jahre alter ›La grande Champagne‹. Nur, weil Bob Rint unbedingt auf Cognac bestand und sich weigerte, Tee zu trinken, den das Publikum ja nicht von Cognac unterscheiden kann, habe ich mich breitschlagen lassen, diese Kostbarkeit zu opfern. – Also, die Flasche befindet sich üblicherweise in dem Barfach meines Büroschrankes. Ich selbst übergebe sie jeden Abend vor der Vorstellung Mister Carter, dem Inspizienten. Dann wird sie auf das Stichwort von Rint hin von irgendeinem 170
Assistenten auf die Bühne gebracht. Sofort nach dem Auftritt von Joan habe ich dann bisher stets die Flasche an mich genommen und sie in mein Büro zurückgetragen. Ich hatte, wenn Joan endlich wieder aus dem Bassin war, Grund genug, mir auch ein Glas einzuschenken…« »Das haben Sie aber hoffentlich heute abend nicht getan…« »Nein, vor Aufregung blieb mir dazu keine Zeit…« »Wird auch Ihr Glück gewesen sein, Direktor…« »Warum… was meinen Sie?« Blondie scheint ziemlich verwirrt. »Nun, der Inhalt der Flasche ist ja offensichtlich vergiftet. Ein bißchen verdorben, Ihre Kostbarkeit. – Übrigens, Collin, stellen Sie die Flasche sicher.« »Schon geschehen, Chef, die Flasche war zwar umgestoßen worden, aber da sie sehr bauchig ist, blieb noch genügend Rest, um dem Labor Beschäftigung zu geben.« Der Inspector wendet sich an Carter: »Konnte jemand an die Flasche herankommen… ich meine, sie austauschen oder Gift hineinfüllen… während sie sich bei Ihnen befand?« Carter überlegt: »Ich weiß nicht… ich glaube nicht. Zwar habe ich während der Vorstellung sehr viel zu tun und bin auch nicht ständig an meinem Platz… aber es sind so viele Leute auf der Bühne… wenn sich da jemand an der Flasche zu schaffen machen würde, das müßte irgend jemand auffallen. Nein, ich bin überzeugt, daß das Gift schon in der Flasche war, als sie mir heute abend vom Direktor übergeben wurde.« Plötzlich hält er erschrocken inne: »Ich wollte… wollte damit natürlich nicht sagen, daß Mr. Blondie… ich meine, der Direktor…« »Keine Sorge«, beruhigt ihn Jacklow. »Ich habe Ihre Erklärung schon richtig verstanden. Ganz sicher bin ich mir nicht, daß das Gift schon von Anfang an in der Flasche war… 171
haben Sie hier unter den Artisten nicht Experten, die gewohnt sind, Dinge vor den Augen anderer verschwinden zu lassen?« »Sie meinen Zauberer oder Taschendiebe?« mischt sich Blondie ein. »Gewiß, da ist der große Astrello, der König der Zauberer, wie er auf dem Plakat genannt wird. – Dort drüben, links am Bassin, steht er übrigens. – Aber was soll ihn mit Bob Rint verbinden? Ich habe nie gesehen, daß die beiden auch nur ein Wort miteinander gesprochen hätten.« »Das allein ist keine Entlastung für den großen Astrello. Manche Menschen sprechen kein Wort miteinander und sind sogar miteinander verheiratet.« Jacklow, der eiserne Junggeselle, kann sich diese Bemerkung nicht verkneifen. »Aber wir werden den Zauberer befragen. Im Moment neige ich zu der Ansicht, daß die Flasche das Gift bereits enthielt, als sie aus dem Büro von Mister Blondie kam… Jedenfalls muß der Mörder mit Ihren Gewohnheiten sehr vertraut sein, Direktor!« »Ich verstehe nicht… wieso?« Mr. Blondie fährt sich nervös durch die Haare. »Nun, es hätte doch sein können, daß Sie sich einen Schluck genehmigen, bevor Sie die Flasche zu Mr. Carter bringen…« »Einer meiner eisernen Grundsätze. Ich trinke nie vor der Vorstellung… erst, wenn Joan das Bassin verlassen hatte…« »Eben… das muß dem Mörder bekannt gewesen sein. Sonst wäre sein Plan ja nicht durchführbar gewesen… oder er hat das Gift doch erst auf der Bühne in die Flasche gefüllt.« Der Inspector wendet sich ab und geht zu Dr. Seyms, der noch neben Joan Dhiser kniet. »Nun, Doctor, können Sie schon etwas sagen?« »Sie ist mit Sicherheit ertrunken. Ich habe mich umgehört, Sie muß mindestens 27 Minuten unter Wasser gewesen sein. Das übersteht selbst ein Mensch mit einer so trainierten Lunge 172
nicht.« »Und der Ansager?« »Nageln Sie mich jetzt nicht fest, Jacklow. Aber das rosige Aussehen des Ansagers, seine stark erweiterten Pupillen sind fast untrügliche Kennzeichen. – Das war kein Herzschlag. Kein natürlicher Tod. Ich nehme an, der Cognac muß ziemlich bitter geschmeckt haben… Blausäure! Wahrscheinlich Zyankali! – Aber, wie gesagt, warten Sie meinen Bericht ab, bevor Sie Schlußfolgerungen ziehen…« »Nur nicht so vorsichtig, Doctor, Sie müssen ja nicht für meine Fehler haften.« Jacklow kehrt zu Collin zurück. »Von mir aus können die Leichen abtransportiert werden. Die Herren der Spurensicherung müssen aber vorher ihre Arbeit beendet haben. Vor allem die Fingerabdrücke auf der Cognacflasche interessieren mich.« Übergangslos hebt der Inspector dann seine Stimme und wendet sich an die in Gruppen herumstehenden Artisten und Bühnenarbeiter: »Ich bitte einen Augenblick um ihre Aufmerksamkeit. Meine Mitarbeiter werden Sie jetzt um Ihre Namen und Ihre Adressen bitten, und sie werden Sie fragen, ob Sie im Zusammenhang mit dem Mord irgendwelche Aussagen zu machen haben oder Beobachtungen weitergeben können. Jede Einzelheit ist dabei für uns wichtig. Denn es war Mord… kaltblütiger Mord!« Ein aufgeregtes Raunen entsteht. »Direktor, können wir die Befragungen in Ihrem Büro durchführen?« »Selbstverständlich… Inspector.« »Dann fangen Sie an, Collin.« Während der Lieutenant einige Leute zusammenholt, um mit ihnen in das Direktionsbüro zu gehen, wendet sich Jacklow erneut an Blondie: »Können Sie kontrollieren, ob alle ihre 173
Angestellten und Artisten hier versammelt sind?« Eilfertig wirft sich der Theaterchef in die Brust: »Natürlich… dies hier ist ein mustergültig geführtes Unternehmen. Beim Portier am Personaleingang liegt Tag für Tag die Liste mit allen Namen, und es wird genau eingetragen, wann wer kommt und wer wann das Theater verläßt…« »Und heute abend?« »Sind alle da, soweit ich es beobachten konnte.« Carter tritt zu den beiden: »Sam – das ist unser Portier und Hausfaktotum – hat mir vorhin wie üblich die Anwesenheitsliste gegeben…« »Und?« drängt Jacklow. Der Inspizient fängt zu stottern an: »Es… es… hat doch jemand das Theater verlassen.« »Nein – und wer«, schreit der nervös werdende Blondie. »Miß Whyler.« Ein betretenes Schweigen entsteht. Jacklow nimmt dem Inspizienten die Liste ab und sieht sie mit großem Interesse durch. »Tatsächlich«, sagt er nach einer Weile. »Die einzige, die kurz vor dem Unglücksfall das Theater verließ, war Miß Whyler. Wer ist Miß Whyler?« »Unsere Drahtseilkünstlerin«, beeilt sich Direktor Blondie zu erklären. »Völlig unverdächtig. Ein Engel…« »Meine Partnerin«, fügt Jim Dhiser hinzu. Der Inspector blickt mit einem Ruck auf. »Ihre Partnerin?« fragt er gedehnt. »Wo war sie zur Zeit des Unglücks?« »Woher soll ich das wissen? Vermutlich auf dem Wege nach Hause. Ich habe Peggy nach unserem Auftritt im ersten Teil des Programms weder gesprochen, noch gesehen. Wir hatten heute 174
nachmittag eine kleine, fast belanglose Meinungsverschiedenheit über eine neue Drahtseilattraktion: Peggy ist äußerst sensibel und wird deshalb vorzeitig das Theater verlassen haben.« »Interessant.« Inspector Jacklow holt sein Notizbuch aus der Brusttasche. »Wo wohnt Miß Whyler?« Carter bedauert: »Sie hat sich, glaube ich, in einer Artistenpension eingemietet. Direktor Blondie hat sicher die Adresse in seinem Büro.« »Danke! Ich werde sie mir später geben lassen. – Mr. Carter und Mr. Dhiser, bitte kommen Sie noch zu Mr. Collin, damit er Ihre Aussagen aufnehmen kann. Ansonsten können wir heute wohl nichts mehr tun. Die Labor- und Obduktionsergebnisse erhalte ich bestimmt nicht vor morgen nachmittag. Vielleicht muß ich Sie dann auf die Polizeistation bitten. Sehen Sie also bitte zu, daß Sie in den nächsten Tagen für mich erreichbar sind.« »Es bleibt uns eh nichts anderes übrig, Inspector«, meint Carter mit einem gleichgültigen Unterton in der Stimme. »Der Betrieb hier muß weitergehen, morgen abend öffnet sich der Vorhang wieder…« »Nur eine neue Attraktion werden Sie sich suchen müssen…«, wirft Jacklow ein. »Das ist Mr. Blondies Aufgabe. Ich habe nur dafür zu sorgen, daß auf der Bühne alles läuft… eine gute Nacht, Inspector.« Mit einem kurzen Kopfnicken wendet sich der Inspizient ab und geht auf den Bühnenausgang zu, der zum Büro des Direktors führt. Nach einem kurzen Zögern – Jacklow ist es, als überlege der Artist, ob er ihm noch etwas sagen solle – schließt sich ihm Jim Dhiser an. Jacklow denkt plötzlich an den halben Becher ›Stromboli‹, der zu Hause auf ihn wartet. Glücklicherweise hat er ihn in das Tiefkühlfach gestellt. Dieser Genuß lockt – und außerdem kann 175
er im Augenblick hier sowieso nichts mehr tun. Doch, halt. – Da war doch noch diese Miß Whyler – ach was, Collin konnte das übernehmen. War ja auch nur eine Routineuntersuchung, ob die Dame auch zu Hause war… Jacklow läßt Collin aus dem Direktionsbüro holen. »Wie weit sind Sie da drinnen?« »Gleich fertig, Chef. Etwas anderes als die Adressen haben wir bisher allerdings nicht erfahren. Diesen Leuten muß man jedes Wort aus der Nase ziehen…« »Dann lassen Sie die restlichen Befragungen vom Sergeant vornehmen. Sie selbst fahren noch bei Miß Whyler vorbei…« »In der 17. Avenue St. Mills?… Wissen Sie, wie spät es ist, Inspector?« »Wenn meine Armbanduhr so korrekt arbeitet wie Ihre, ist es jetzt null Uhr fünfundvierzig. Die richtige Besuchszeit bei einer hübschen jungen Dame… aber Spaß beiseite, ich will nur wissen, ob die Partnerin von Jim Dhiser brav nach Hause gegangen ist oder ob ihr vorzeitiges Verlassen des Theaters doch einen bestimmten Grund hatte.« »Na ja, wenn Sie meinen… Chef.« »Ich beliebe zu meinen, Collin…« Jacklow schlägt seinem Assistenten lächelnd auf die Schulter. »Fragen Sie die Ärzte. Mit sechs Stunden Schlaf kommt ein normaler Mensch aus. Wir treffen uns um zehn Uhr auf der Station.« Collin nickt gottergeben. Wie soll man seinem Chef auch klarmachen, daß ein armer Polizeilieutenant kein normaler Mensch ist? Als Jacklow und Collin die Bühne verlassen haben, bleiben nur noch die Fotografen, der Arzt und einige Polizisten zurück. Kurz danach gibt Dr. Seyms die Leichen frei. Sie werden in die schmucklosen Zinksärge gelegt und abtransportiert. 176
Langsam gehen auf der Beleuchterbrücke die Lampen aus. Fahl liegt die Bühne, auf der noch immer das bis an den Rand mit Wasser gefüllte Bassin steht, im Licht der Notbeleuchtung. Zurück bleibt allein Sam, der alte Portier, der die Aufregungen des heutigen Abends noch immer nicht ganz verarbeitet hat. Bevor er jedoch seinen letzten Rundgang durch das Theater macht, rechnet er sich die Überstunden aus. Sechs Dollar fünfundsiebzig Cent wird ihm dieser schreckliche Abend zusätzlich einbringen… genug, um sich einmal etwas Besonderes zu leisten – oder sollte er dafür Susan ein Geschenk kaufen…? Eine schwere Entscheidung… er wird sich das während seines Kontrollganges überlegen.
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IV. Die Künstlerpension ›Star‹, 17. Avenue St. Mills, liegt im Chicagoer Westen in einer Gegend, deren Feudalität nur Leute anlockt, die auf den Stand ihres Bankkontos nicht zu achten haben. Es ist die Gegend der Sandsteinhöhlen, der gepflegten Parks und Tennisplätze, der Gartenlokale und der exklusiven Cocktail- und Nightbars. Mrs. Vanhuisen, eine gebürtige Holländerin, und äußerlich wie auch nach ihrer Gesinnung die Verkörperung einer Matrone, hatte sich hier niedergelassen, in der Hoffnung, mit einer seriösen Künstlerpension ihren Lebensunterhalt anständig zu verdienen. Ihre Hoffnungen wurden nicht enttäuscht! Im Gegenteil – sie wurden in jeder Beziehung übertroffen! Was in der Welt der internationalen Künstler Rang und Namen hatte, stieg für die Dauer seiner Gastspiele bei Mrs. Vanhuisen ab und bezahlte anstandslos die hohen Preise der immer altjüngferlicher und exklusiver werdenden ›Star‹-Besitzerin. Davon ahnt Michael Collin noch nichts, als er jetzt vor dem großen villenähnlichen Gebäude steht und die vielen Fenster zählt. Vereinzelt leuchtet noch Licht aus den Zimmern. Schwach blinkt es auf dem sauber gekiesten Weg; die breite, mit Schnitzereien verzierte Eingangstür ist hell erleuchtet. Dennoch zögert er ein wenig, auf den Klingelknopf aus Messing zu drücken. Eigentlich hat er keine Berechtigung, ehrbare Bürger zu nachtschlafender Zeit zu stören, nur weil eine beleidigte Drahtseiltänzerin das Theater vorzeitig – was ist daran eigentlich so außergewöhnlich? – verlassen hat. Außerdem verspricht er sich herzlich wenig von diesem Besuch, denn für ihn ist klar, daß hinter den beiden Morden ein perfekter Plan steht – und das konnte nicht das Werk einer kleinen Akrobatin sein. Doch Pflicht bleibt eben Pflicht. Private 178
Gedanken im Dienst hemmen einen Beamten! Kräftig drückt Collin auf den Klingelknopf. Vornehm schlägt die Glocke an. Doch es dauert etwas, bis sich von innen eilige Schritte der Tür nähern. Dann klappt vor Collin ein Fensterchen in der Tür auf und ein etwas verschlafenes Mädchen mustert den späten Besucher. »Sie wünschen?« fragt das Mädchen. Die Stimme ist ein wenig schnippisch, vielleicht weil es hier ungewöhnlich ist, daß jemand um halb zwei Uhr früh noch Einlaß begehrt. Collin lächelt. Es ist das bewußte Lächeln, das den ruhigsten Menschen aus der Ruhe bringen kann. Dann zieht er seine Polizeimarke hervor und hält sie vor die unwillig blickenden Augen. Die nötigen Worte spart er sich. Entsetzt weicht das Mädchen zurück. »Polizei…«, stammelt sie. »Mein Gott… bei uns Polizei!« Das erscheint ihr so ungeheuerlich, daß sie noch immer vergißt, die Tür zu öffnen. »Ja, das Leben ist wechselvoll«, meint Collin und steckt die Marke ein. »Es wäre gut, wenn Sie mir jetzt endlich öffnen würden. Ich möchte mich kurz mit dem Besitzer dieser Pension unterhalten…« »Besitzer… diese Pension gehört Mrs. Vanhuisen!« wird Collin zurechtgewiesen, während sich die Tür öffnet. Das Mädchen führt ihn dann in ein Büro und bittet ihn, Platz zu nehmen. Sie werde Mrs. Vanhuisen verständigen. Collin setzt sich in einen breiten bequemen Sessel und blättert in Illustrierten, die den großen Rauchtisch bedecken. Sehr gepflegt, dieses Haus, denkt er dabei und sieht sich um. Woher eine kleine Artistin bloß das Geld hat, in einer solch feudalen Pension zu wohnen…? Schwere, hastige Schritte nähern sich. Herein tritt eine große, etwas dickliche und sorgfältigst in Schwarz gekleidete Dame, die mit einem ihr nie zugetrauten Temperament zu Michael 179
Collin hinabsprudelt. »Die Polizei!« stößt sie um Atem ringend hervor und ringt in größter Nervosität die Hände. »In meinem Hause! Was sollen meine Gäste sagen! Seit zehn Jahren führe ich diese Pension, mein Renommée ist unbescholten… was auch vorkommen mag, Herr Inspector…« »… nur Lieutenant«, verbessert Collin. »Lieutenant… seien Sie bitte so diskret wie möglich…« »Mrs. Vanhuisen«, versucht Collin den Redefluß zu stoppen und steht auf. »Seien Sie unbesorgt. Es handelt sich lediglich um eine kleine Auskunft.« »Gott sei Dank!« Die Besitzerin atmet auf. Erschöpft vor Aufregung sinkt sie in einen der tiefen Sessel. Collin bleibt in dienstlicher Haltung vor ihr stehen. »In Ihrer Pension wohnt eine Miß Peggy Whyler?« fragt er. »Ja«, antwortet Mrs. Vanhuisen erstaunt. »Die Künstlerin ist seit fast drei Monaten bei mir. Sie tritt im ›Globe-Theater‹ als Drahtseiltänzerin und Partnerin des bekannten Jim Dhiser auf.« »Sehr richtig. Und sie hat ihre Rechnungen immer pünktlich bezahlt?« »Immer. Alle vierzehn Tage im voraus. Das ist bei mir üblich«, erläutert Mrs. Vanhuisen stolz. Michael Collin dagegen bekommt ein äußerst nachdenkliches Gesicht. »Wie hoch ist der Pensionspreis Miß Whylers?« fragt er. »Sie bewohnt jetzt eines der besten Apartments. Monatlich dreihundert Dollar.« »Dreihundert Dollar? – Sie betonten ›jetzt‹. Soll das heißen, daß Miß Whyler vorher in einem anderen Raum gewohnt hat?« »Ja, als sie sich einmietete, wollte sie nur ein einfaches Zimmer ohne Bad und WC. Das kostete einhundert Dollar. Vor etwa einem Monat aber ist sie dann umgezogen…« 180
»Und haben Sie den Eindruck, daß sich Miß Whyler diese hohe Summe vom Munde absparen muß?« »Mister…« »Collin…«, verneigt sich der Lieutenant. »Mister Collin, dies ist ein seriöses Haus, meine Gäste haben Anspruch darauf, daß ihre Privatangelegenheiten nicht bekannt werden.« »Darf ich Sie daran erinnern, daß ich im Zuge polizeilicher Ermittlungen um eine Auskunft bitte…« Seufzend lehnt sich Mrs. Vanhuisen zurück. »Also gut. Miß Whyler scheint über sehr viel Geld zu verfügen. Vor allem seit einigen Wochen. Sie hat sich nach der neuesten Mode eingekleidet… und mit viel Geschmack«, fügt sie nach einer kurzen Pause bewundernd hinzu. »Ich bedaure dieser Miß Whyler wegen, nicht mehr zur Jugend zu gehören.« »Und bekam Miß Whyler öfter Herrenbesuch?« »Bei mir nie!« Mrs. Vanhuisen reckt sich. »Meine Pension ist ein seriöses Haus, kein Absteigequartier!« Doch plötzlich stockt sie, und ein verzagtes Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Doch nein, ich hätte jetzt fast gelogen… Mister Dhiser war ab und zu bei Miß Whyler.« »Ach, ihr Partner!« »Ja. Eben, weil er ihr Partner ist, hatte ich gegen diese Besuche nichts einzuwenden.« »Natürlich. Das ist auch weniger interessant. Aufschlußreicher war für mich Ihre Beobachtung, daß Miß Whyler in letzter Zeit ihre Garderobe völlig erneuert hat.« Michael Collin klappt sein Notizbuch zu und steckt es in die Tasche. »Das wäre alles, Mrs. Vanhuisen. Miß Whyler ist doch auf ihrem Zimmer?« »Ja, Ich war zufällig in der Halle, als sie heute abend kam. Sie 181
schien sehr erregt zu sein.« »Ach!« Collin horcht auf. »Können Sie sich an die Zeit erinnern?« »Lassen Sie mich nachdenken… es muß gegen einundzwanzig Uhr dreißig gewesen sein… wohl eher gegen einundzwanzig Uhr fünfzehn.« »Und sie schien Ihnen erregt?… Machte sie Ihnen gegenüber irgendwelche Andeutungen über den Grund ihrer Erregung?« »Nein. Wir sagten uns nur einen ›Guten Abend‹. Vielleicht hatte sie sich wieder mit ihrem Partner gestritten. Das scheint öfter vorgekommen zu sein. Auch hier hatten die beiden mal eine Szene. Es war ein peinlicher Vorfall. Und nur weil Miß Whyler so eine nette Person ist, habe ich ihr nicht gekündigt… ich hatte sogar etwas Mitleid mit ihr. Mister Dhiser muß sehr kleinlich und genau sein.« »Von einer Kleinigkeit kann das Leben eines Artisten abhängen«, entgegnet Collin sinnend. »Und Sie wissen bestimmt, daß Miß Whyler auf ihrem Zimmer ist?« »Das können wir leicht feststellen«, nickt Mrs. Vanhuisen und greift eilig nach dem Telefon. Sie dreht die Nummer vierzehn, es knackt in dem Apparat, und eine helle Mädchenstimme meldet sich. Befriedigt blinzelt Miß Vanhuisen Collin zu… »Miß Whyler«, sagt sie, »haben Sie soeben angerufen? Die Zentrale war einige Minuten nicht besetzt – und als ich jetzt kam, war mir, als habe Ihre Nummer aufgeleuchtet? – Nein? – Ja, es ist gut. Morgen früh wecken, wie immer. – Gute Nacht, Miß Whyler.« Mrs. Vanhuisen legt den Hörer auf die Gabel und blickt zu Collin hin, dessen Gesicht eine leichte Enttäuschung nicht verbergen kann. »Zufrieden?« fragt sie ihn und kommt sich äußerst überlegen vor. Collin nickt. 182
»Ja, danke. Aber eine Bitte habe ich noch: Wahren Sie über unsere Unterredung strengstes Stillschweigen. Und schärfen Sie bitte auch dem Mädchen, das mir öffnete, ein, daß mein Besuch kein öffentliches Thema ist. Vor allen Dingen kein Wort zu Miß Whyler selbst!« »Das liegt schon in meinem eigenen Interesse«, betont Mrs. Vanhuisen und kann doch ihre Neugier nicht länger bezähmen: »Was ist denn mit Miß Whyler?« fragt sie mit Erregung. »Nichts, wie ich hoffe. Im Theater sind einige Diebstähle passiert, und da mußte auch Miß Whyler überprüft werden. Aber da sie heute so früh zu Hause war, kann sie es schon deshalb nicht gewesen sein«, lügt Collin mit Übung und Gewandtheit. »Und nochmals besten Dank, Mrs. Vanhuisen…« Als er draußen auf der Straße steht und nochmals auf das schwach erleuchtete große Haus zurückblickt, schüttelt er resigniert den Kopf und vergräbt die Hände in die Hosentaschen. »Ein Windei!« murmelt er und begibt sich zu seinem Wagen. »Auch wenn das liebe Häschen lauter neue Kleider bekommen hat – wird sich halt einen neuen Liebhaber angelacht haben, die Kleine. Und wenn es Bob Rint gewesen wäre? Dann hätte gerade sie keinen Grund gehabt, ihn zu ermorden. Man schlachtet doch die Henne nicht, die goldene Eier legt.« Vielleicht… vielleicht… wenn sich Michael Collin jedoch persönlich für Miß Whyler interessiert hätte, wäre der Fall Joan Dhiser früher gelöst worden.
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V. Während Collin müde und im Bewußtsein, seine Pflicht mehr als erfüllt zu haben, nach Hause fährt, wälzt sich ein anderer in die Ereignisse Verwickelter in seinem Bett und kann nicht schlafen. Sam, der alte Portier des ›Globe-Theaters‹. Nicht die Überstundenprämie von sechs Dollar fünfundsiebzig Cent und das Problem, wie das unverhoffte Geld am besten zu verwenden sei, sind schuld an seiner Schlaflosigkeit. Diese Gedanken sind längst vergessen. Nein, etwas anderes quält ihn und bringt sein Gewissen in einen argen Konflikt. Er hat bei seiner Befragung im Theater eine Aussage unterlassen. Vielleicht war sie nicht wichtig und so dumm, daß man ihn auslachen und hinauswerfen würde, vielleicht aber auch so wichtig, daß sie dazu beitragen könnte, den rätselhaften Mord aufzuklären. Denn so viel hatte auch der alte Mann mitbekommen: Der Mörder muß im Theater gewesen sein. Und wenn das der Fall war, dann hat er – Sam – ihn gesehen. Er muß bei ihm vorbeigekommen sein. Auf jeden Fall, so grübelt der Portier vor sich hin, muß ich morgen früh um zehn Uhr zum Inspector gehen und meine Aussage nachholen, auch wenn ich nicht geladen bin. Oder ob ich erst Direktor Blondie frage? Er setzt sich im Bett auf und findet keinen Schlaf. Neben ihm liegt Susan und schnarcht leise. Seit dreißig Jahren liegt sie so neben ihm, aber heute beneidet er sie zum erstenmal um ihren gesunden Schlaf. Wie sie lächelt, denkt er. Träumt wohl von ihrem Enkelkind. Wie schmal und faltig ihr Gesicht geworden ist. Vor dreißig Jahren war sie attraktiv und knackig gewesen, besonders angetan hatten es ihm damals ihre Grübchen in den Wangen. Er seufzt und legt sich zurück. Vor dreißig Jahren! Wie lange 184
der Mensch doch lieben kann, denkt er plötzlich. Auch nach dreißig Jahren bleibt die Frau an seiner Seite seine ›Susan‹. Wie merkwürdig der Mensch doch ist. Er schließt die Augen und zwingt sich einzuschlafen. Aber es will nicht gelingen. Qualvoll hämmert ein bedrückender Gedanke durch sein Gehirn: Bob Rint und Joan Dhiser sind ermordet worden – und ich kann vielleicht helfen, die Mörder zu finden… Das Schweigen der Nacht macht ihm Angst. Es ist unheimlich. Er tastet nach Susan rechter Hand und fühlt beglückt ihre Wärme. Und er lächelt noch, als er endlich eingeschlafen ist…
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VI. Am nächsten Morgen stiefelt Michael Collin, wenn auch mit süßsaurer Miene, Punkt zehn Uhr in das Büro seines Chefs. Jacklow scheint ihn bereits zu erwarten. Denn kaum hat sich der Lieutenant gesetzt, fordert ihn der Inspector auf, über seinen Besuch bei Peggy Whyler zu berichten. Collin – als ausgesprochener Morgenmuffel -, noch nicht so richtig auf Touren, lehnt sich erst einmal zurück und nimmt auch in Kauf, daß sich auf der Stirn von Jacklow nicht übersehbare Unmutsfalten bilden. »Es hätte jedenfalls genügt, wenn ich erst heute dort hingegangen wäre. Diese kleine Artistin hat mit dem Mord nun bestimmt nichts zu tun. Die hat mehr ihre Liebhaber im Kopf – und von denen muß sie eine stattliche Anzahl haben. Außerdem ist sie gestern sofort nach der Vorstellung nach Hause… äh, in diese Pension gegangen… und auch dort geblieben…« Jacklow wird ungeduldig. »Lieutenant, darf ich Sie verbindlichst daran erinnern, daß Sie der Mordkommission angehören. Im Rahmen Ihrer Ausbildung sollten Sie gelernt haben, daß jeder verdächtig ist, solange seine Unschuld nicht einwandfrei erwiesen ist. Und außerdem, was soll diese sinnlose Quasselei… Können Sie nicht von Anfang an berichten?« Hoppla, denkt sich Collin, wohl auch zu kurz geschlafen, der Chef. Mit einem Ruck setzt er sich gerade und erzählt Detail für Detail seine Unterhaltung in der Künstlerpension ›Star‹. Er vergißt nicht einmal zu erwähnen, daß Mrs. Vanhuisen offenbar an Krampfadern leide, da sie Stützstrümpfe trage. Doch selbst mit solchen Einlagen konnte er nicht die Laune des Inspectors verbessern. »Und Sie haben nicht persönlich mit Miß Whyler 186
gesprochen?« »Ich hielt das nicht für nötig, Chef, nachdem Mrs. Vanhuisen sich in meiner Gegenwart davon überzeugt hatte, daß das Mädchen auf seinem Zimmer war.« »Woher wissen Sie denn, daß es die Stimme von Miß Whyler war? Es könnte doch sein, daß Mrs. Vanhuisen mit Miß Whyler unter einer Decke steckt. Dann werden die beiden sich jetzt ausschütten vor Lachen, welche Komödie sie Ihnen vorgespielt haben…« »Finden Sie diese Theorie nicht etwas zu weit hergeholt…?« versucht Collin sich mit hochrotem Kopf zu verteidigen. »In unserem Beruf ist nichts zu weit hergeholt. Wir müssen mit allem rechnen… vor allem mit dem Unmöglichsten… wie lange sind Sie eigentlich schon bei uns, Lieutenant?« »In einem Monat werden es zwei Jahre.« »Nach Ihrem Verhalten zu urteilen, könnte es gestern gewesen sein…« Collin findet, daß die Anrempelei jetzt etwas zu weit geht. Sicher, wenn er es so recht bedenkt, hätte er Miß Whyler vielleicht doch aus ihrem Bett holen sollen. Aber schließlich ist ja durch seine Unterlassungssünde kein Schaden entstanden… warum also dieses Getue? Doch er weiß, daß Jacklow nur noch gereizter reagieren würde, versuchte er sein Handeln jetzt noch weiter zu rechtfertigen. »Entschuldigung, Chef… soll nicht wieder vorkommen…« Sogleich zeigt sich der Inspector versöhnlicher. »Schon gut, Collin, war ja nicht so gemeint. Mir geht diese Sache nur etwas auf die Nerven. Zwar haben wir tagtäglich mit Morden aller Art zu tun, aber es ist doch schon eine besondere Tragik, wenn eine schöne junge Frau ertrinken muß, und mehr als zwölfhundert Menschen sind um sie herum und können nicht helfen.« 187
»Haben Sie denn schon eine Vermutung, Chef, wie das passiert sein kann?« »Das ist es ja, daß dieser Fall so viele Möglichkeiten zuläßt. Die Cognacflasche, in der sich das Gift befand, stand im Büro von Direktor Blondie. Rhein theoretisch könnte also der Direktor derjenige sein, dem der Anschlag gegolten hat…« »… und Bob Rint bekam die Flasche versehentlich als erster in die Hand?« »Ja. – Aber diese Möglichkeit möchte ich fast ausschließen, wobei wir natürlich unsere Untersuchungen in dieser Richtung nicht vernachlässigen wollen. Wahrscheinlicher ist, daß wirklich Bob Rint ermordet werden sollte. Doch wer hatte ein Motiv? Eine verlassene Geliebte, ein Nebenbuhler? Hier sollten unsere Nachforschungen einsetzen.« »Das führt zu der dritten Überlegung, Chef. War nicht vielleicht Joan das eigentliche Mordopfer und mußte Bob Rint nur mit ihr sterben, weil er ihr Leben in der Hand hatte?« »Das wäre die gemeinste Version. Ein Unschuldiger geht mit zugrunde, nur weil…« »So selten ist das aber nicht, Chef… sonst dürfte es beispielsweise keine Brandstiftungen und keine Sprengstoffanschläge mehr geben.« »Zugegeben – aber ich kann nicht glauben, daß der Tod Bob Rints vom Mörder mit in Kauf genommen wurde. Es hätte sicher auch andere Methoden gegeben, nur Joan Dhiser zu ermorden…« »… aber keine so spektakulären!« gab Collin zu bedenken. »Und welcher Mörder sieht sich nicht gern im Blickpunkt der Öffentlichkeit?« »Auch wieder wahr. Noch bleibt uns aber die Theorie Nummer vier. Bob Rint und Joan Dhiser sollten wirklich gemeinsam ermordet werden. Das würde aber voraussetzen, daß 188
es eine Verbindung zwischen der Atemkünstlerin und ihrem Ansager gibt.« »Was ja leicht festzustellen sein dürfte…« »Na, ich weiß nicht so recht, Collin. Sie haben ja gestern abend erlebt, daß sich diese Artisten nicht gerne in ihr Privatleben gucken lassen. Haben Sie eine einzige Aussage erhalten? Kann ja sein, daß niemand etwas bemerkt hat… aber mindestens Klatsch hätte aufkommen müssen. Wenn man Abend für Abend zusammen ist, wenn jeder vor seinem Auftritt unter nervlichem Streß steht, wenn viele aufeinander angewiesen sind, wenn das Leben der einzelnen von der Reaktionsfähigkeit seiner Partner oder möglicherweise auch der Bühnenarbeiter abhängt – dann müssen doch Aggressionen auftreten, dann muß es Spannungen, Szenen, Eifersüchteleien geben. Und was haben wir erfahren? – Die Adressen. Sonst nichts. Aus… Schluß…« Jacklow wirft den Bleistift, mit dem er in den letzten Minuten immer hastiger gespielt hat, auf den Tisch. »Nicht so voreilig, Chef. Die Morde sind ja erst gestern passiert. Wir wissen bisher weder die Todesursache noch sonstige Zusammenhänge. Wenn wir einen nach dem anderen in die Mangel nehmen, wird schon etwas abfallen, mit dem wir dann weiterarbeiten können. Das wäre ja auch der erste Fall, den Sie nicht lösen würden.« Die Huldigung seines Assistenten läßt den Inspector nicht kalt. »Nur nicht übertreiben, Collin. Seit zwei Jahren habe ich ja auch noch eine tüchtige Hilfe…« ›… die du vorhin ganz schön zusammengestaucht hast‹ – möchte Collin am liebsten ergänzen, aber er hütet sich wohlweislich, seine Gedanken auszusprechen. »Wo, Chef, sollen wir nun ansetzen?« »Gehen wir zunächst einmal von der Annahme aus, daß es 189
Gift war… das Labor braucht übrigens immer länger, bis es uns Ergebnisse mitteilt… dann kann das Gift wohl erst gestern in die Flasche praktiziert worden sein, denn der Direktor sagte ja aus, daß er noch am Montag einem Gast einen Cognac angeboten habe. Ich studierte vorhin eingehend die gestrige Anwesenheitsliste. Am Vormittag war außer einigen Putzfrauen und zwei Bühnenarbeitern niemand im Theater. Der erste, der von den Artisten eintraf, war Jim Dhiser um fünfzehn Uhr fünfundfünfzig. Kurz danach, um sechzehn Uhr drei, kam Peggy Whyler – das stimmt wieder mit der Aussage Dhisers überein, daß er mit Peggy trainiert und sich mit ihr gestritten habe. Direktor Blondie betrat um sechzehn Uhr fünfundzwanzig sein Theater…« »… So eine Arbeitszeit möchte ich auch einmal haben…« Collin kann sich diesen neidvollen Einwurf nicht verkneifen. »Na, Lieutenant, er ist aber bis spät nachts in seinem Variete… während Sie, wenn ich mich an gestern abend erinnere – zu diesen Zeiten ihr Privatleben genießen wollen.« Collin beschließt im stillen, in Zukunft private Äußerungen zu unterlassen. Er will auch den Inspector schnell von dem gefährlichen Thema abbringen: »Und welche Auftritte folgten dann, Chef?« »Joan Dhiser und Bob Rint kamen erst viel später… hoppla, sie kamen sogar gleichzeitig, um achtzehn Uhr fünfundvierzig. Ob das ein Zufall ist?« »Wir werden es erfahren. Ich bin überzeugt davon.« Und nach einer kurzen Pause fügt Collin hinzu: »Dann hätten eigentlich nur Jim Dhiser und Peggy Whyler Gelegenheit gehabt, den Cognac zu vergiften…« »… oder Direktor Blondie selbst. Für ihn gab es jede Möglichkeit«, führt Jacklow die Überlegungen weiter. »Aber lassen wir unsere Sandkastenspiele, Collin. Ich bin dafür, daß wir uns einmal eingehend mit dem Direktor 190
unterhalten. Er muß ja sein Theater und seine Künstler am besten kennen…« Collin ist schon tatendurstig aufgesprungen, als das Telefon klingelt. Jacklow nimmt ab. Collin hört zwar, daß eine Frauenstimme am anderen Ende ist, kann aber ihre Worte nicht verstehen. So vernimmt er nur die Antworten des Inspectors. »Ich bin gerade am Gehen. Sagen Sie, er solle ein andermal wiederkommen und sich dann vorher anmelden. – Dringend? Wer? – Eine Aussage? – Na, dann schicken Sie den Mann herein.« Jacklow legt auf und blickt dann seinen Assistenten triumphierend an. »Setzen Sie sich wieder hin, Collin. Die Sache wird spannend. Wissen Sie, wer mich sprechen will? – Der Portier des ›GlobeTheaters‹. Er hat eine Aussage zu machen.« Collin bleibt kaum Zeit, ein erstauntes ›Oh‹ zu äußern, da öffnet sich schon die Tür und ein ängstlicher Sam tritt ein. Jacklow bietet ihm einen Stuhl an. »Nett, daß Sie zu uns gekommen sind… Mister… äh, Sam… ich darf doch Sam zu Ihnen sagen?« »Aber freilich, Herr Inspector. Ich… ich weiß ja nicht…«, Sam sitzt auf der vorderen Kante des Stuhles und dreht unentwegt seinen Hut zwischen den Händen, »ja… es ist wahrscheinlich nichts Wichtiges, aber ich wollte es Ihnen doch sagen. Und Susan meinte auch… ja, Susan ist meine Frau, wir sind schon über dreißig Jahre verheiratet… auch Susan fand das sehr merkwürdig…« »Sam«, versucht der Inspector das Nervenbündel vor ihm zu beruhigen, »wir haben einen Mord, vielleicht sogar zwei Morde aufzuklären. Da sind wir für jeden Hinweis dankbar. Wir brauchen Menschen wie Sie, denen etwas auffällt, was nicht in Ordnung ist.« 191
»Nicht in Ordnung? In Ordnung war es vielleicht schon… nur… sie hat es bisher noch nie getan…« »Zigarette?« Collin holt seine Packung aus der Brusttasche und hält sie dem Alten hin. Vielleicht beruhigt ihn das Rauchen. »Und nun erzählen Sie einmal der Reihe nach. Wer hat es bisher noch nicht getan?« »Miß Whyler, Inspector…« »Miß Whyler?!« Jacklow und Collin rufen den Namen wie aus einem Munde. Und Jacklow fügt – zu dem Lieutenant gerichtet – hinzu: »Ihr Engel, Collin…« »Ja, sie ist noch nie in ihrem Bühnenanzug aus dem Theater gegangen.« »Sie meinen das Kostüm, das sie bei ihrem Auftritt mit Jim Dhiser trägt? Was hat sie denn da an?« »Das ist es ja. Sie hat kein Kostüm an, sie ist angezogen wie ein Mann. Schwarze Hose, schwarze Jacke, weißes Hemd und eine rote Schleife… und wenn sie die Bühne betritt, hat sie auch noch einen Hut auf…« »Und so hat sie gestern das Theater verlassen?« »Ja, sie hatte sogar den Hut aufgesetzt… ich weiß ja nun nicht, ob das wirklich so wichtig ist, aber weil auch Susan meint, ich solle das ruhig einmal sagen…« »Jedenfalls scheint es ungewöhnlich zu sein. Hat sich denn Miß Whyler sonst immer umgezogen? Bevor sie nach Hause ging?« »Immer! Und sie sah ja auch in ihrem Rock und mit den hochhackigen Schuhen immer so gut aus… ich weiß ja nicht, was Sie denken, Herr Inspector, aber mir gefallen Frauen in Hosen nicht… die Männer müssen die Hosen anhaben… und meiner Susan, der hätte ich das nie erlaubt, Hosen anzuziehen…« »Aber Miß Whyler meint, den Zuschauern in ihrem Anzug 192
gefallen zu haben…« »Auf der Bühne, Herr Inspector. Na ja, sie war ja so schlank… nicht nur da oben…«, Sam deutet mit seiner linken Hand auf seine Brust, »… da sah sie auch fast wie ein Mann aus…« »Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, Sam?« »Noch etwas – nein, das war alles. Vielleicht war es ja doch nicht notwendig, daß ich hierher gekommen bin und Ihnen Ihre Zeit gestohlen habe. Und ich möchte auch Miß Whyler nichts Böses tun. Sie ist ja immer so nett und spricht auch ab und zu ein Wort mit mir. Viele vom Theater gehen immer nur so an mir vorbei… Sie werden es ihr doch nicht sagen, daß ich Ihnen das erzählt habe?« »Keine Sorge, Sam. Das bleibt eine Sache zwischen Ihnen und uns. Wir sind Ihnen jedenfalls sehr dankbar. Und wenn es im Theater wieder einmal etwas Außergewöhnliches gibt, dann sind der Lieutenant oder ich jederzeit für Sie zu sprechen.« Langsam steht Sam auf. Das Lob hat ihn noch verlegener gemacht. Er ergreift die Hand von Jacklow und schüttelt sie lange. Der Inspector muß sich regelrecht aus seinem Griff befreien. Collin bringt den Portier hinaus und zeigt ihm den Weg nach unten – zum Ausgang. Als er zurückkommt, sitzt Jacklow in seinem Sessel und grinst. »Na, Sie Spürhund, wie beurteilen Sie denn das Verhalten Ihres Schützlings?« »Was soll ich da sagen, Chef, vielleicht ist sie lesbisch und ging zu einem Rendezvous…« »Irrtum, mein Lieber, ein gewisser Lieutenant Collin hat mir vor nicht allzulanger Zeit berichtet, daß sie schnurstracks in ihre Pension zurückgegangen sei… wann ist sie übrigens dort angekommen?« 193
»Nach der Aussage von Mrs. Vanhuisen etwa um zweiundzwanzig Uhr.« Jacklow greift nach der Anwesenheitsliste: »Und im Theater ist sie um einundzwanzig Uhr weggegangen… Collin, was würden Sie schätzen, wie lange braucht man vom ›Globe-Theater‹ bis zur Avenue St. Mills?« »Wenn man mit dem Bus fährt, sicher fünfzig Minuten. Mit dem Taxi etwa dreißig Minuten…« »So wie ich die verwöhnte junge Dame kenne, wird sie sicher das Taxi bevorzugt haben. Und damit kommen wir nun zu unserer Frage: Was machte das wie ein Mann gekleidete Fräulein in den fehlenden dreißig Minuten? Ob sich da Lieutenant Collin nicht einmal darum kümmern sollte?« »Moment mal, Chef«, Collin greift sich das Telefon und drückt den Knopf zum Sekretariat. »Ich möchte Mrs. Vanhuisen in der Pension ›Star‹ sprechen, Avenue St. Mills…« Dann legt er wieder auf. Wortlos sitzen sich Jacklow und Collin einige Minuten gegenüber. Als es klingelt, hebt Collin schnell ab. »Mrs. Vanhuisen? Entschuldigen Sie, wenn ich Sie nochmals stören muß. Sie waren heute nacht so freundlich, mir einige Auskünfte über Miß Peggy Whyler zu geben… selbstverständlich, die Aussage bleibt vertraulich… nun habe ich noch eine Frage: War Miß Whyler, als sie zurückkam, irgendwie auffällig gekleidet?… Nein?… Uns wurde bekannt, daß sie ihren Bühnenanzug anbehielt… das ist richtig?… Und finden Sie das nicht ungewöhnlich?… Und es stimmt, daß Miß Whyler etwa um zweiundzwanzig Uhr nach Hause gekommen ist?… Vielen Dank, Mrs. Vanhuisen, Sie haben mir sehr geholfen. Kann sein, daß ich Sie nochmals belästigen muß… ich darf doch?… Zu reizend, Mrs. Vanhuisen, und es wird selbstverständlich kein Aufsehen geben. Keiner Ihrer Gäste wird etwas merken… Vielen Dank, Mrs. Vanhuisen.« 194
Aufatmend legt Collin den Hörer beiseite. »Na, ich habe ja gar nicht gewußt, daß Sie so hervorragend Süßholz raspeln können, Collin…« Der Lieutenant überhört diese Spitze: »Sie sagt, daß Miß Whyler öfter Hosenanzüge trage… bei ihrer Figur sehe das besonders sexy aus… deshalb wäre es ihr auch nicht aufgefallen, daß es gestern abend nur der Bühnenanzug gewesen sei.« »Nun sind wir so schlau wie zuvor… Auf alle Fälle wird die Aussage des Portiers protokolliert… und Sie, Collin, werden doch noch Gelegenheit bekommen, diese Miß Whyler einmal in Augenschein zu nehmen. – Aber zuerst wollen wir einmal sehen, was uns der Direktor zu enthüllen hat.« Jacklow gibt dem Sekretariat Anweisung, das Büro von Blondie anzurufen – und erhält nach einigen Minuten die Nachricht, daß Direktor Blondie noch nicht im Theater sei, er wäre jedoch in seinem Haus zu erreichen. »Dann werden wir den Mann einmal in seinen vier Wänden aufstöbern… kommen Sie, Lieutenant…«
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VII. Zur gleichen Stunde kommt Peggy Whyler aus ihrem Zimmer. Diesmal ist sie in ein schickes, auf Figur geschnittenes Kostüm gekleidet, das ihre schmale Taille besonders gut zur Geltung bringt. Ihre hochhackigen Pumps zwingen sie, die steile Treppe langsam hinunterzuschreiten, was ihrem Auftritt nur noch mehr Reiz verleiht. Peggy weiß das; sie genießt es, die Blicke der Menschen auf sich zu ziehen. Allerdings wäre es ihr diesmal lieber gewesen, wenn sie weniger Aufmerksamkeit erzielt hätte. In der Halle sitzen immerhin der geschwätzige Mister Cramer, ein selten beschäftigter Tänzer, und der aufdringliche Mister Mortinson, der immer noch nicht wahrhaben will, daß seine Zeit als erster Liebhaber längst vorbei ist. Und Mrs. Vanhuisen tritt gerade auch aus ihrem Büro. Nun ist eh nichts mehr zu retten. Spätestens bis heute abend werden es alle Gäste des Hauses wissen, daß Miß Peggy Whyler in einer Aufmachung, in der man höchstens zum Cocktail geht, bereits gegen Mittag das Haus verlassen hat… doch Ray legt ja Wert darauf, daß sie so attraktiv gekleidet zu ihm kommt. Was würde sie für ihn nicht alles tun… Peggy verläßt die Pension, biegt über den Kiesweg auf die Straße und bald darauf um die Ecke. So können neugierige Augen aus den Fenstern der Pension wenigstens nicht mehr sehen, daß sie das nächste vorbeifahrende Taxi anhält. »Zur 23. Park Lane«, weist sie den Taxifahrer an. Dann lehnt sie sich aufatmend zurück. Gott sei Dank, bald wird diese Versteckspielerei vorüber sein. Dann hat sie erreicht, was sie von frühester Jugend an wollte: reich sein, sich nicht mehr Abend für Abend einem sensationslüsternen Publikum aussetzen zu müssen, sich schöne Kleider leisten zu können und den Mann zu verwöhnen, den sie liebt. Auch wenn er selbst 196
nicht mit großen Gütern gesegnet ist. Sie will nicht abhängig sein, sie will nicht mehr ›danke‹ sagen müssen, sie will endlich vergessen, was sie in ihrer Kindheit und Jugend zu erdulden hatte. Sie schauert, als sie daran denkt, wie ihr Zuhause aussah. Noch heute kann sie sich an jede Ecke des schäbigen Wohnwagens erinnern, mit dem ihre Mutter von Wanderzirkus zu Wanderzirkus zog. In einem kleinen Abteil, das als einzige Abtrennung einen zerschlissenen Wachstuchvorhang aufwies, stand ihr Bett – und von dem Moment an, an dem sie verstanden hatte, was um sie herum vorging, mußte sie fast Nacht für Nacht das Stöhnen ihrer Mutter anhören, wenn diese wieder unter einem Mann lag. Nur selten war es ein ›Onkel‹, den sie länger sah. Die Liebhaber wechselten wie Dämmerung und Morgenröte, und von den paar Cents, die sie auf dem kleinen Tisch neben dem Bett, zurückließen, kaufte sich ihre Mutter neue Kleider. Der Hunger ihres Kindes kümmerte sie wenig. Mit zwölf Jahren wagte Peggy die erste Auseinandersetzung. Die Antwort der Mutter auf ihre Vorwürfe war: Du bist ja jetzt alt genug. Verdiene dir doch selbst etwas zu essen und verschaff dir das Geld, um die Kleider kaufen zu können. ›… es gibt genug Männer, die mit Kindern schlafen wollen…‹ Damals war sie aus dem Wohnwagen gerannt, heulend vor Wut, Zorn und Enttäuschung. Zuerst versuchte sie es mit anständiger Arbeit. Ein Messerwerfer des Zirkus, dem sich ihre Mutter gerade angeschlossen hatte, verletzte seine Partnerin tödlich. Peggy wurde seine neue Assistentin. Innerlich vor Angst schlotternd, stellte sie sich Abend für Abend vor das Brett – und sandte Stoßgebete gen Himmel, bis das letzte der zwölf Messer neben ihr steckte. Doch der Messerwerfer, ein bulliger Ire, interessierte sich bald mehr für sie persönlich. Und sie zog aus, aus dem Abteil in dem Wohnwagen ihrer Mutter – und mußte dann Nacht für Nacht den Mann über sich haben. Sie lernte es, ihm vorzumachen, sie empfinde etwas dabei, wenn er 197
sich über sie stürzte wie ein wildes Tier und sie, das zarte Kind, mit seinem massigen Körper fast unter sich begrub. Eines Tages hörte sie unbemerkt die Unterhaltung von zwei anderen Zirkusmitgliedern mit, die sich darüber unterhielten, daß der Messerwerfer eigentlich der Polizei gemeldet werden müsse, denn ein 13jähriges Mädchen sexuell auszunützen, sei doch wohl strafbar… Da erkannte sie ihre Chance. Von diesem Tage an war sie die Besitzerin des Wohnwagens; der Ire mußte sich eine neue Partnerin suchen – und mit dieser war er eines Morgens auch verschwunden. Zurück blieb eine über Nacht erwachsene Peggy, die sich schwor, nie mehr hungern zu müssen und nie mehr das herzugeben, was sie sich so bitter hatte erringen müssen. Sie fand einen Drahtseilartisten, der ihr Kunststücke beibrachte, so daß sie beim Zirkus bleiben konnte, denn sie hatte erkannt, daß die Männer, vor allem die anscheinend ehrbaren, auf die Tingeltangel-Mädchen flogen. – Und hatte sie solche Männer erst einmal im Bett, dann mußten diese das Vergnügen teuer bezahlen. Einmal drohte sie mit ihrer Jugend, einmal mit einem Besuch bei der Ehefrau… und stets hatte sie Erfolg. Bis sie eines Tages Ray kennenlernte. In einem Kino saß er neben ihr… »Hallo, wir sind da, Miß…« Mit den Gedanken an ihre Vergangenheit beschäftigt, hat sie nicht bemerkt, daß der Fahrer bereits in der Park Lane hält… Sie schiebt ihm die sieben Dollar durch die Trennscheibe und steigt schnell aus. Das Haus, in dem Ray sein Apartment hat, wirkt trostlos, natürlich hätte sie ihn längst in einer vornehmeren Gegend einmieten können, aber sie wollte ihn nicht zu übermütig machen, wollte ihn stets wissen lassen, von wem er, der mittellose Abkömmling aus der New Yorker Bronx abhängt. Schon genug, daß sie ihm das Studium bezahlt… seine 198
Ausbildung soll ihnen beiden die Möglichkeit eröffnen, in die ›Upperclass‹ aufzusteigen. Sie nimmt den Schlüssel aus der Tasche – schließlich gehört ihr die Wohnung – und öffnet die Tür. Schon fühlt sie sich umarmt. Ein kräftiger junger Männerkörper preßt sich an sie… Ray hat auf sie gewartet… er ist nackt… Schon auf dem Weg in das kleine Zimmer, das für ihn Wohnund Schlafzimmer gleichzeitig ist, fängt er an, sie zu entkleiden. Ihre abwehrenden Gesten und Worte erstickt er mit drängenden Küssen… Da wehrt sie sich nicht länger. Ja, sie hilft ihm sogar, als er viel zu hastig versucht, ihr den Slip auszuziehen. Die Strümpfe läßt sie an… sie weiß, wie sehr er den Reiz der Strapse mag… Seine Hände und seine Lippen lassen sie in einem Meer der Leidenschaft versinken. Ihre kleinen Brüste heben sich ihm spitz entgegen, ihr Schoß öffnet sich ihm… Später, als sie schweißgebadet aus dem Rausch aufwachen, schmiegt sie sich fest in seine Arme. Sie streicht die schwarzen Haare aus seinem Gesicht und flüstert voll Glück: »Ich liebe dich, Ray… dich liebe ich… bald ist alles vorbei… nur noch kurze Zeit – und ich besitze, was wir beide brauchen. Dann wohnen wir zusammen, wir können uns Tag und Nacht lieben, wann immer wir wollen… und ich werde oft wollen… ich werde von dir nie genug haben… du bist der Mann, der mich glücklich macht, der mir gezeigt hat, daß Liebe nicht schmutzig sein muß… dafür werde ich dich immer lieben… und alles für dich tun…« Doch fast übergangslos windet sie sich dann aus seiner Umarmung. »Ich muß jetzt wieder gehen. Noch darf man nicht wissen, daß ich dir gehöre… nein, frage nicht… ich habe dich schon so oft darum gebeten… bald wirst du alles erfahren… dann, wenn wir uns nicht mehr verstecken müssen…« Sie steht auf und zieht sich an. 199
Und der Mann, der noch völlig erschöpft auf dem Bett liegt, sieht ihr zu, wie sie sich wieder sorgfältig zurechtmacht. ›Was ist das für eine Frau‹, denkt er ›… sie schenkt einem das Paradies, gibt sich völlig hin… und bleibt doch fremd…‹
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VIII. Jacklow und Collin schauen sich verdutzt an. Das kann doch nicht das Haus von Direktor Blondie sein? Ihren Blicken bietet sich eine langgestreckte, pompöse Villa dar. Rechtwinklig schließt sich ein Gebäude an, dessen Fenster schon durch ihre Nüchternheit signalisieren, daß dahinter Menschen arbeiten. Aber alles scheint penibel sauber. Um einen Fabrikationsbetrieb kann es sich also nicht handeln. Eher um eine Klinik oder ein Büro für technische Zeichner. Collin vergleicht die Hausnummer mit den Angaben auf dem Zettel, den sie von ihrem Sekretariat erhalten haben. Nummer 214. Es stimmt. Der Theaterdirektor muß hier wohnen. Sie steigen aus und gehen auf die Haustüre zu. ›Blondie‹ steht auf einem mächtigen Schild unter dem Messingdrücker. Und daneben eine Tafel: Institut für Moderne Tiermedizin – bitte den nächsten Eingang benützen. Sollte der Direktor etwa… Eine energisch blickende Frau, etwa um die Vierzig, öffnet. »Sie wünschen…?« »Wir möchten Direktor Blondie sprechen.« »Sind Sie angemeldet?« »Wir hoffen…« »Was heißt hoffen… ja oder nein?« »Wir können das Verfahren auch abkürzen!« Jacklow wird dienstlich. Er hält dem irdischen Erzengel seine Polizeimarke unter die Nase. »Sie konnten das wohl nicht gleich sagen…«, faucht die so Überraschte und tritt gerade so weit zurück, daß sich Jacklow und Collin an ihr vorbeizwängen müssen, um überhaupt ins 201
Haus zu gelangen. »Warten Sie hier. Ich werde den Herrn Direktor verständigen.« Schon ist sie durch eine schwere eichene Tür verschwunden. Die beiden Polizeibeamten sehen sich um. Auch die Eingangshalle zeugt von großem Wohlstand. Eine massige Ledercouch steht im Mittelpunkt, davor ein ausladender Marmortisch. Die Wände schmückt eine chinesische Grastapete bester Qualität. »Donnerwetter, offensichtlich muß man ein Variete führen, um sich so etwas leisten zu können«, flüstert Collin seinem Vorgesetzten ins Ohr. »Aber Geschmack hat er, das muß ihm der Neid lassen«, entgegnet der Inspector. Da geht die eichene Tür wieder auf und Direktor Blondie stürzt in die Halle: »Sie mußten doch hoffentlich nicht warten… wenn mich meine Sekretärin verständigt hätte, wäre ich natürlich auch ins Theater gekommen, und Sie hätten sich den weiten Weg heraus erspart…« Er bittet den Inspector und den Lieutenant in einen weiträumigen Salon, der auf drei Seiten große Fenster aufweist, die den Blick in einen prachtvoll angelegten Garten freigeben. »Ein kleiner Ausflug tut uns ganz gut«, knüpft Jacklow an die Begrüßungsworte Blondies an, während er der Aufforderung des Direktors folgt und sich setzt. »Und außerdem – so angenehm wie hier können wir uns im Theater nicht unterhalten.« Er befühlt dabei den kostbaren Seidenbezug des daunenweich gefütterten Sofas, auf dem er Platz genommen hat. »Ja, das ist der Vorteil, wenn man mit einer reichen Frau verheiratet ist«, erklärt Direktor Blondie mit einem schüchternen Lächeln. »Alles, was Sie hier sehen, gehört meiner Frau… ein Theaterdirektor könnte sich das alles nicht leisten. Aber da ich nicht für die Familie zu sorgen habe, vermag ich mir ein 202
kostspieliges Hobby zu gönnen – und das ist für mich das ›Globe-Theater‹.« Collin beugt sich vor: »Gehört das Institut… wie war doch der Name, den ich draußen an der Türe gelesen habe…?« »Institut für Moderne Tiermedizin«, hilft Blondie seinem Gedächtnis nach. »… das ›Institut für Moderne Tiermedizin‹ Ihrer Frau?« »Ja, sie hat es aus kleinsten Anfängen aufgebaut. Sie ist eine bekannte Biologin und Verhaltensforscherin – allerdings kennt man sie unter ihrem Mädchennamen ›Styler‹. Seit einigen Jahren führt sie für die NASA Forschungsaufträge aus, und das bewirkte den raschen Ausbau des Instituts.« Und mit hörbarer Resignation fügt er leise hinzu: »Seitdem sehen wir uns sehr wenig. Sie ist tagsüber voll ausgelastet, und ich bin jeden Abend weg… aber schließlich sind wir auch schon dreißig Jahre miteinander verheiratet. Da ist die Zeit der stürmischen Liebe vorbei… jeder geht seinen eigenen Interessen nach…« Blondie bricht ab. Da er sehr nachdenklich scheint, hält sich Jacklow mit seinen Fragen zurück. Und so ist es nach einiger Zeit der Direktor, der in die Realität zurückführt: »Aber Sie werden ja nicht gekommen sein, um sich mit mir über den Beruf meiner Frau zu unterhalten… wissen Sie schon, was für ein Gift es war…?« Jacklow stellt eine Gegenfrage: »Sie gehen davon aus, daß nur Gift in Frage kommt?« »Was soll es sonst gewesen sein? Ein Herzschlag? Ich bitte Sie… Bob Rint war dreiundzwanzig Jahre alt, als er gestern abend sterben mußte. Nie war er krank. Es gab niemand, der sich so lebenslustig fühlte wie er… ein Herzschlag? Nein, ich kann daran nicht glauben…« »Offen gesagt…«, Jacklow nickt zustimmend, »auch wir 203
gehen davon aus, daß Bob Rint vergiftet wurde. Obwohl das Obduktionsergebnis und die Laboruntersuchungen noch nicht vorliegen. Doch wir werden sie wohl im Laufe des Nachmittags noch erhalten.« »Und wer soll es gewesen sein?« »Das, Direktor«, prescht Collin vor, »würden wir gern von Ihnen wissen. Die Flasche stand in Ihrem Büro, dort wurde sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, auch mit dem Gift präpariert.« »Soll das heißen, daß Sie mich verdächtigen…?« »Wenn Sie so wollen, Mister Blondie, verdächtigen wir jeden – jeden, der sich gestern im Theater aufhielt. Und da keine Fremden in der Kontroll-Liste des Portiers eingetragen sind, kommen auch nur die Mitarbeiter des Theaters in Frage. Einer von ihnen muß der Mörder – oder die Mörderin – sein.« Jacklow referiert in der ihm eigenen kühlen Art. Trotzdem wirkt Blondie aufgeregt. »Und können Sie mir sagen, warum ich mich selbst meiner größten Attraktion berauben sollte?… Jetzt, nachdem es Joan nicht mehr gibt, werden die Vorstellungen schlechter besucht sein… den größten Schaden aus dieser Geschichte habe ich…« »Vorausgesetzt, man betrachtet den Tod selbst nicht als Verlust…« Blondie spürt die Zurechtweisung, die in diesen Worten des Lieutenants liegt. »Entschuldigung, meine Herren, Sie werden verstehen, daß dieser Vorfall auch mich sehr mitgenommen hat, natürlich auch menschlich… aber ein Variete-Theater hat heute zu kämpfen… das Fernsehen bietet Attraktionen auf bequemere Art.« Jacklow steht auf: »Direktor, lassen Sie mich eine ganz direkte Frage stellen. Kennen Sie jemand, der ein Interesse am Tod von Bob Rint oder von Joan Dhiser oder am gemeinsamen Tod beider gehabt haben könnte?« Blondie sinkt in seinen Sessel zurück. Der Inspector tritt an 204
das Panoramafenster des Salons und blickt in den gepflegten Garten. Einige Minuten ist es still. »Seit heute nacht…«, Blondie fängt leise und langsam zu sprechen an, »denke ich über diese Frage nach – und ich finde keine Antwort. – Sicher, es gibt unter Artisten immer Auseinandersetzungen, der eine ist auf den anderen eifersüchtig… aber das führt doch nicht zu einem Mord…!« Während Blondie das sagt, steigert sich seine Stimme mehr und mehr; die letzten Worte schreit er fast. »Direktor«, Collin legt ihm beruhigend seine linke Hand auf das Knie, »glauben Sie uns – Menschen sind schon wegen ein paar Cents getötet worden. Deshalb – wenn Sie das Gefühl haben, daß Bob Rint jemandem im Wege war, sagen Sie uns das bitte.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf… bestimmt führt es Sie auf die falsche Spur, und außerdem hat es mit dem Mord nichts zu tun… mein Gott, das ist doch zu alltäglich… also, Joan Dhiser und Bob Rint hatten ein Verhältnis…« »Und ihr Mann bricht nach ihrem Tod auf der Bühne zusammen?« Jacklow ist jetzt hinter den Direktor getreten. »Warum auch nicht? Ich bin überzeugt, daß Jim Dhiser seine Frau geliebt hat, sehr geliebt sogar. Er hat alles versucht, sie zurückzugewinnen…« Collin unterbricht: »Und er hat geduldet, daß die beiden Abend für Abend gemeinsam auftraten… und wahrscheinlich mehr Beifall bekamen als er und Peggy Whyler…?« »Was sollte er tun? Die Gage von Joan ist natürlich weit größer als die von Jim. Und Jim ist älter als Joan und Bob Rint. Er wird bald vierzig… das ist für einen Artisten fast schon die Pensionsgrenze, wenn er es sich leisten könnte, aufzuhören. Jim brauchte Joan… aber, ich betone es nochmals… er liebte sie auch. Ich bin sicher, eines Tages wäre sie zu ihm zurückgekehrt…« 205
Jacklow wird unwillig: »Herr Direktor, ich möchte nicht von Ihnen wissen, was geworden wäre, wenn… Sagen Sie mir jetzt klipp und klar: Gab es wegen Joan Auseinandersetzungen zwischen Jim Dhiser und Bob Rint?« Blondie ringt verzweifelt die Hände: »Was meinen Sie mit Auseinandersetzungen?… Ob sie in Streit gerieten?… Woher soll ich das wissen?« »Ich dachte, einem Theaterdirektor entgeht nichts. Sind Sie nicht so etwas, was man beim Militär als die ›Mutter der Kompanie‹ bezeichnet? – Aber, wenn Sie es unbedingt so haben wollen – ich werde ihr gesamtes Personal vorladen und es einzeln einem Verhör unterziehen – und ich garantiere Ihnen, ich erfahre, was Sie mir nicht sagen wollen…« »Sie wollen mich zwingen, Jim Dhiser zu belasten…« »Darum geht es nicht. Ein Mord ist geschehen! Und eine Frau ist ertrunken! Ich werde dafür bezahlt, daß ich herausbekomme, wer das getan hat… und ich finde es heraus, auch ohne Ihre Hilfe.« Jacklow ist wütend geworden. Er beugt sich zu Blondie hinunter: »Und nun will ich Ihnen noch etwas sagen, Direktor! Ich werde dann bei diesen Verhören auch in Ihrem Leben herumstochern. Denn gewöhnlich hören die Leute nicht mehr auf, wenn Sie erst einmal ins Reden gekommen sind. Sie werden auch über ihren Direktor etwas wissen – und dieses Wissen nicht für sich behalten… Kann ich sie daran hindern?« Blondie war schon bei dem ersten drohenden Satz in sich zusammengesunken. Nun sitzt er da wie ein Häuflein Elend. Collin denkt: Wie das personifizierte schlechte Gewissen. Jacklow hatte offensichtlich ins Schwarze getroffen. Doch schnell hat sich Blondie wieder gefangen. »Sie sind sich ja wohl klar darüber, Inspector, daß ich mich Ihnen freiwillig für die Untersuchung – etwas anderes soll es ja wohl nicht sein – zur Verfügung gestellt habe. Wir können uns aber auch erst dann wieder sprechen, wenn ich meinen 206
Rechtsanwalt dabei habe. – Doch ich will Ihre Worte nicht auf die Goldwaage legen. Das schreckliche Sterben von Joan Dhiser hat uns wohl alle nicht unberührt gelassen. – Also gut, ja, es gab Streit zwischen Jim und Bob. Von einigen erregten Wortwechseln wurde mir berichtet; eine Auseinandersetzung habe ich selbst miterlebt. Sie war furchtbar. Jim drohte, Bob umzubringen, wenn er nicht von Joan lasse, und Bob raste, er werde Joan eher töten, als sie wieder freigeben. Bob ist Puertoricaner gewesen. Aus jedem Anlaß machte er ein Drama – aber wahrscheinlich war es gerade das, was Joan an ihm faszinierte.« »Danke, Direktor, das hatte ich zwar schon vermutet, aber ich brauchte Ihre Bestätigung.« »Und was werden Sie damit machen, Herr Inspector? Jim Dhiser verhaften?« »Warum sollte ich? Sie sagten doch selbst, aus so etwas entstehe noch lange kein Mord. Und Sie sind der erste, den wir gefragt haben. War es ein Giftmord, dann steht gewöhnlich der Ehemann der Toten sowieso zunächst einmal an erster Stelle der Verdächtigen. Aber Ihr Theater besteht ja nicht nur aus Jim Dhiser. – Wir werden uns noch häufig sehen – Herr Direktor… Das nächstemal noch heute – in Ihrem Theater! – Mister Collin und ich sind Ihnen für diese – wie nannten Sie es? – Untersuchung sehr zu Dank verbunden…« Jacklow nickt Collin zu und geht mit ihm in die Eingangshalle. Direktor Blondie folgt. Beinahe devot öffnet er die Haustüre. Der Inspector ist schon fast durch die Türe gegangen, als er sich noch einmal umdreht und unvermittelt fragt: »Wissen Sie eigentlich, Direktor, daß Peggy Whyler wahrscheinlich mit Jim Dhiser ein Verhältnis hat…?« Blondie erstarrt. »… Was, mit dem auch…?« entfährt es ihm. 207
Jacklow horcht auf: »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich… es ist ja nicht so wichtig… Sie wissen ja, es wird so viel erzählt… Miß Whyler soll eben sehr lebenslustig sein… wenn Sie verstehen, was ich meine…« Jacklow bleibt dem stotternden Direktor die Antwort schuldig. Auf dem Weg ins Präsidium blickt Collin seinen Vorgesetzten strahlend an: »Dem ist aber der Arsch ganz schön auf Grundeis gegangen, als Sie damit drohten, sein Privatleben etwas zu durchleuchten. Der gute Mister Blondie muß wohl selbst Dreck am Stecken haben…« »Was nicht zu bedeuten hat, daß uns das bei unseren Mordermittlungen weiterhilft«, gibt Jacklow zu bedenken. »Aber ich fürchte, Collin, wir haben in ein Wespennest gestochen…«
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IX. »Es besteht kein Zweifel. Bob Rint wurde mit Zyankali vergiftet. Dr. Seyms sitzt Jacklow und Collin gegenüber. Er hatte die Nachricht hinterlassen, daß er jetzt die Obduktionsbefunde und das Ergebnis der Laboruntersuchungen habe. Er halte sich bereit, Bericht zu erstatten. Natürlich gab Jacklow, nachdem er von Direktor Blondie zurückgekehrt war, sofort Anweisung, den Polizeiarzt zu verständigen.« »An und für sich habe ich nie daran gezweifelt, daß ein Mord vorliegt«, kommentiert der Inspector die einleitende Feststellung des Doctors. »War nun das Gift in der Flasche, oder befand es sich vielleicht nur im Glas?« »Die Laborbefunde sind auch da eindeutig. Das Gift wurde in die Cognacflasche gegeben. Der Mörder scheint in Direktor Blondies Büro Zeit gehabt zu haben. Und noch etwas: Er hat eine hochkonzentrierte Dosis gewählt. Sonst wäre der Tod nicht so blitzartig eingetreten.« »Unser Mörder ist also mit aller Umsicht zu Werke gegangen. Er muß auch die Wirkungsweise des Giftes genau gekannt haben. Denn es kam ihm ja offensichtlich darauf an, daß Bob Rint noch auf der Bühne stirbt«, überlegt Jacklow. »Daraus ließe sich außerdem folgern, daß der gleichzeitige Tod von Joan Dhiser voll beabsichtigt war«, wirft Collin ein. »Doch ich glaube, eine Überlegung haben wir völlig außer acht gelassen: Der Mörder mußte doch damit rechnen, daß vorher noch jemand aus der Flasche trinkt. Dann wäre ein Unschuldiger ums Leben gekommen.« »Wer hätte dieser Unschuldige sein können? Ganz ohne Frage nur Direktor Blondie«, führt Jacklow die Kombinationen seines Assistenten weiter. Dann gibt er sich plötzlich einen Ruck: 209
»Menschenskind, Collin… daran haben wir noch gar nicht gedacht: Was nun, wenn der Anschlag nicht Bob Rint, sondern dem Direktor gegolten hat? Blondie hätte aus der Flasche trinken sollen… er hat es nicht getan… der Mörder hatte dann keine Gelegenheit mehr, den Cognac zu beseitigen – und so mußte Rint sterben und mit ihm Joan Dhiser! – Die Untersuchung kompliziert sich. Wir brauchen nun nicht allein jemand, der ein Motiv hatte, Bob Rint oder Joan Dhiser zu töten… wir müssen auch feststellen, ob es für irgend jemand ein Motiv gab, Blondie aus dem Weg zu räumen. Schließlich haben wir vorhin bemerkt, daß der gute Mann offensichtlich nicht ganz astrein ist, da gibt es sicher einen Ansatzpunkt…« »Darf ich auch etwas zu Ihren Überlegungen beitragen, Inspector?« schaltet sich Dr. Seyms ein: »Sie sagen, der Mörder mußte damit rechnen, daß vorher jemand aus der Flasche trinkt. Diese Hypothese trifft in einem Fall nicht zu…« »Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Doctor«, unterbricht Jacklow. »Nun, es wird derjenige nicht aus der Flasche trinken, der weiß, daß der Cognac vergiftet ist. Angenommen, Direktor Blondie hatte einen Grund, Bob Rint oder Joan Dhiser zu ermorden – dann wäre das die einfachste Erklärung dafür, wie das Gift in die Flasche kam und warum niemand zuvor nach dem Cognac griff.« Jacklow springt auf und schlägt Doctor Seyms auf die Schulter: »Sie sollten zu uns kommen, Doctor, und Ihr Leben nicht in der Pathologie verplempern… natürlich, Collin, wenn überhaupt jemand mit Ruhe und Sicherheit diesen Mord in der erlebten Weise inszenieren konnte, dann kommt dafür nur Blondie in Frage – aber«, schränkt der Inspector ein, »hat er sich damit in Wirklichkeit nicht selbst geschadet? Immerhin war Joan Dhiser mit ihrer Darbietung ja so etwas wie ein Goldesel für ihn…« 210
»Da bin ich anderer Ansicht, Chef. Schon als Blondie vorhin in dieser Richtung zu jammern anfing, habe ich mir meine eigenen Gedanken gemacht. Erstens haben wir doch gesehen, daß er nie am Hungertuch zu nagen braucht, und zweitens: Warten wir einmal ab, was passiert, wenn morgen die Zeitungen die spektakulären Morde melden. Die Sensationslüsternen werden in Scharen in das ›Globe-Theater‹ pilgern, ganz gleich, was dort im Augenblick geboten wird – aber man muß doch einmal dort gewesen sein – die Bühne gesehen haben, auf der eine Frau auf so schreckliche Weise ertrunken ist. – Nein, Blondie braucht sich in dieser Hinsicht nicht zu sorgen. Er kann selbst Joans Bassin noch gegen Eintrittsgeld besichtigen lassen…« »Wahrscheinlich haben Sie recht, Collin«, überlegt Jacklow. »Aber weil Sie es gerade erwähnten – wir müssen noch die Presse füttern…« »Schon veranlaßt, Chef. Die ersten Hyänen haben natürlich schon etwas läuten gehört. Wahrscheinlich stöbern sie schon im ›Globe-Theater‹. Aber ich habe – bevor Dr. Seyms kam – Anweisung gegeben, daß die Polizeireporter zusammenzuholen sind. Wir können ihnen dann jetzt alles präsentieren.« »Alles – bis auf den Mörder«, sagt Jacklow bitter. »Das wäre jedenfalls der erste, der Ihnen durch die Lappen ginge…«, richtet Collin seinen Vorgesetzten auf. »Doch, Doctor, wir haben Sie noch gar nicht richtig zu Wort kommen lassen, sicher gibt es ja weitere Enthüllungen, die Sie uns mitzuteilen haben…« »Leider nein, es gibt Fingerabdrücke auf der Flasche… wir versuchen gerade festzustellen, wem sie gehören. Herauskommen wird dabei wohl nichts, die Flasche ist durch zu viele Hände gegangen, und die Obduktion von Joan Dhiser ergab genau das, was wir alle schon wissen: sie ist ertrunken! Auch ich hätte, wäre ich im Theater gewesen, sie nicht mehr 211
wiederbeleben können. Ihr Tod muß furchtbar gewesen sein…« »Ein Grund mehr, ihren Mörder nicht auf freiem Fuß zu lassen…«, nickt Jacklow entschlossen. »Wollen Sie nicht mitkommen, Doctor, wenn wir jetzt den Presseleuten Rede und Antwort stehen? Ich hätte Sie gerne dabei… viele Dinge können Sie ja besser erklären…« »Meinetwegen, Inspector, obwohl mir diese Auftritte ja verhaßt sind…« Dr. Seyms steht auf und will Jacklow zur Türe folgen. Plötzlich bleibt er stehen: »Ach, ja, Inspector, da gibt es noch etwas, was wir bei der Obduktion festgestellt haben. Fast hätte ich vergessen, es Ihnen zu sagen. In der Scheide von Joan Dhiser fanden wir Sperma – männlichen Samen.« »Und was bedeutet das, Doctor…?« »Sie muß noch am nachmittag Geschlechtsverkehr gehabt haben…« Jacklow überlegt einige Sekunden. Dann bittet er: »Doctor, das bleibt vorerst noch unser Geheimnis. Also kein Wort davon zur Presse… vielleicht haben wir wenigstens dieses Wissen dem Mörder voraus…«
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X. Für die Reporter war der Doppelmord die Sensation gewesen. Manche hatten gar nicht abgewartet, bis Jacklow, Collin und Dr. Seyms alle Erläuterungen gegeben hatten, sondern das Präsidium vorzeitig verlassen, nur um ihren Redaktionen diese Story sofort zu übermitteln. Wahrscheinlich würden schon einige Abendzeitungen die ersten Meldungen bringen. Jacklow dachte sich auf der Fahrt ins ›Globe-Theater‹ die möglichen Schlagzeilen aus: Der grausame Tod der schönen Wassernixe – Artistin ertrank vor über tausend Zuschauern im gläsernen Sarg – Doppelmord im Variete. So ungefähr werden die Überschriften lauten, prophezeit er sich selbst. Ihn schauert noch, als er das Theater durch den Personaleingang betritt. Collin ist nicht dabei. Der Assistent hat den Auftrag erhalten, sich einmal gründlich in der Wohnung von Bob Rint, die bisher lediglich versiegelt wurde, umzusehen. Dafür wurde es höchste Zeit. Freundlich grüßt Jacklow im Vorbeigehen den alten Sam. Schon tritt ihm ein Mann entgegen: »Entschuldigung, Inspector, Sie kennen mich. Ich bin vom ›Chicago Tribune‹. Können Sie mir ein paar Fragen beantworten?« Verärgert wehrt Jacklow ihn mit dem Hinweis ab, er habe eben im Präsidium der Presse alles mitgeteilt, was er wisse, mehr gebe es nicht zu sagen. Schnell verschwindet er im Sekretariat von Direktor Blondie. Als er dort die Türe hinter sich geschlossen hat und aufblickt, hätte er fast einen anerkennenden Pfiff ausgestoßen. Hinter dem Schreibtisch sitzt eine Blondine, die mühelos jeden Schönheitswettbewerb gewinnen könnte. Allein ihre Oberweite ist mehr als aufregend. Seufzend denkt Jacklow an die altgedienten Wesen, die einem Polizeiinspector vom Personalbüro als Sekretärin zugeteilt werden… Sein 213
Seufzen ist wohl etwas zu laut gewesen. – »Tut Ihnen irgend etwas weh?« Die Ironie ist nicht zu überhören…. »Wieso?« Jacklow zwingt sich zu dieser Gegenfrage, obwohl ihm eine passende Antwort auf der Zunge liegt. Aber solch lockere Töne würden wohl nicht zum Erscheinungsbild des Vertreters der öffentlichen Gerechtigkeit passen. »Nun, Sie haben unüberhörbar geseufzt.« Jetzt gehen Jacklow aber doch die Gäule durch: »Sie werden es nicht glauben – manchmal stöhne ich und liege trotzdem nicht im Sterben…« Sein aufregendes Gegenüber verzieht keine Miene. »Sind Sie gekommen, um mir das zu enthüllen?« Sie steht auf und kommt hinter dem schützenden Schreibtisch hervor. Jacklow hat jetzt noch mehr Grund, zu bedauern, daß er nicht Varietedirektor geworden ist. Denn auch der Unterbau hält, was die Aufbauten versprachen. Eine enge Taille, die die Hüften vorteilhaft zur Geltung kommen läßt, und – soweit sie der enge geschlitzte Rock freigibt – Beine, die wirklich im Paradies zu enden scheinen. Doch der Inspector erinnert sich selbst brutal daran, daß er hierher nicht als Mann, sondern als Polizist gekommen ist. »Ich wußte überhaupt nicht, daß es Sie hier gibt. Bisher habe ich das Theater nur von seiner unerfreulichen Seite kennengelernt… Ich bin Inspector Jacklow und wollte eigentlich Direktor Blondie sprechen.« »Bedaure, der Direktor ist noch nicht hier. Doch lange wird es nicht mehr dauern… kann ich Ihnen in der Zwischenzeit irgendwie behilflich sein?« Wieder hält Jacklow sein loses Mundwerk mühsam im Zaum. »Wenn Sie mir bitte zeigen würden, wo üblicherweise die bewußte Cognacflasche stand…« »Gerne, kommen Sie mit.« 214
Ihre atemberaubenden Hüften wiegen sich vor ihm her durch die Türe ins Büro von Direktor Blondie. Ohne Zögern geht die Sekretärin auf den großen Wandschrank zu und klappt ein Barfach auf: »Hier… hier war die Cognacflasche tagsüber… der Direktor hatte ja auch Gäste zu bewirten… wenn ich nur daran denke, was hätte passieren können, wenn gestern nachmittag…« Jacklow unterbricht: »Woher wissen Sie denn eigentlich, daß der Cognac vergiftet war? Und außerdem: ich habe nur von der ›bewußten Cognacflasche‹ gesprochen – und Sie waren sofort im Bilde, welche Flasche gemeint war. Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie gestern abend nicht dabei, als der Mord passierte…« »Aber, Inspector, was glauben Sie, worüber die Leute dort draußen im Theater reden? Und ich wäre doch wohl eine schlechte Direktionssekretärin, wenn ich solche Dinge nicht sofort erführe…« Ihre Antwort, die sie mit einem zurechtweisenden Lächeln gibt, ist einleuchtend – denkt Jacklow. »Da Sie offenbar so allwissend sind – haben Sie vielleicht auch schon eine Vermutung, wie das Gift – wir wissen jetzt, daß es wirklich Gift war – in die Flasche gekommen ist?« »Wenn ich das wüßte, wäre ich doch wahrscheinlich der Mörder… oder – Inspector?« Die ist nicht nur mit körperlichen Vorzügen ausgestattet, denkt Jacklow anerkennend. Aber möglicherweise vermag sie ihr kluges Köpfchen auch für finstere Pläne einzusetzen… »Jedenfalls kann das Gift nicht in Windeseile in die Flasche gekommen sein. Immerhin ist ja erst der Schrank zu öffnen – und das Einfüllen bedarf ebenfalls einiger Geschicklichkeit. Kann sich jemand mehrere Minuten lang unbemerkt in diesem Zimmer aufhalten?« »Eigentlich nicht, Inspector. Zwar hat das Büro drei Türen, 215
wie Sie sicher schon festgestellt haben. Durch die eine Türe sind wir gekommen. Wer sie benützt, muß an mir vorbei. – Und wenn ich nicht da bin, ist sie versperrt. – Diese Türe hier«, sie zeigt auf die rechte Seite, »ist ein separater Eingang, er wird selten benützt. Meist geht der Direktor durch das Sekretariat. Nur wenn er es besonders eilig hat, stürzt er von hier aus auf die Bühne. Aber dann muß er erst aufschließen, denn sehen Sie«, sie drückt auf die Klinke, »die Türe ist von innen versperrt. Allerdings steckt stets der Schlüssel…« »Und dieser Ausgang?« Jacklow weist auf die dritte, besonders schmale Türe, die sich direkt hinter dem Schreibtisch des Direktors befindet. »Das ist kein Ausgang«, gibt die Sekretärin zur Antwort. »Dahinter befindet sich ein winziger fensterloser Raum. Der Direktor hat sich eine Liege reinstellen lassen. Manchmal zieht er sich für eine halbe Stunde dorthin zurück und schläft… schließlich ist er nicht mehr der Jüngste. – Dann leuchtet bei mir im Sekretariat eine rote Lampe auf. Das heißt, daß er auf keinen Fall gestört werden darf.« »Auch nicht von Ihnen?« Jacklows Frage klingt bewußt anzüglich. »Auch nicht von mir! Und falls Sie damit ausdrücken wollten, daß ich Direktor Blondie – äh – bei seinen Ruhepausen – vielleicht Gesellschaft leiste – dann sind Sie auf dem Holzweg…« Jacklow verteidigt sich. »Diesmal waren Sie diejenige auf dem Holzweg… Sie vergessen, daß ich einen Mord aufzuklären habe. Falls Sie nämlich ganz bestimmt nicht das Büro betreten, wenn die rote Lampe brennt, und der Direktor gleichzeitig nebenan schläft, dann war das doch für den Täter der ideale Zeitpunkt, um in aller Ruhe das Gift in die Flasche zu füllen…« »Theoretisch ja… aber wie sollte jemand in das Büro kommen? Er hätte ja den Weg durch mein Zimmer nehmen 216
müssen…« »… es gibt ja schließlich diesen separaten Eingang« »… der, wie. ich bereits demonstrierte, von innen verschlossen ist.« »… der Direktor könnte ja einmal vergessen haben, den Schlüssel umzudrehen… oder?« Jacklow hebt seine Stimme: »Direktor Blondie wird ja, bevor er sich zurückzieht, nicht immer kontrollieren, ob die Türe auch verschlossen ist. Irgend jemand könnte sie ja gestern heimlich aufgesperrt haben…« »Womit ich wieder die Hauptverdächtige wäre…«, stellt die Sekretärin sarkastisch fest. Jacklow nickt ernst: »Sie haben recht… Sie kennen die Gewohnheiten von Direktor Blondie sicher besser als seine Frau…«, er macht eine beschwichtigende Handbewegung, als die Sekretärin zu einem Protest ansetzen will, »… ich meine das ohne jeden Hintergedanken. Wenn Sie hier den Schlüssel herumgedreht haben, bevor Blondie eines seiner Schläfchen einlegte, dann hatte der Mörder leichtes Spiel. Denn Sie als seine Komplizin schützten ihn sogar noch…« »Ich bewundere Ihre Fantasie, Herr Inspector… eine solche Gabe scheint viele Polizisten auszuzeichnen – wahrscheinlich ist darauf auch zurückzuführen, daß meistens die Falschen eingelocht werden… Doch wenn ich jetzt schon Ihre Lieblingskandidatin geworden bin, dann sollten Sie wohl auch meinen Namen wissen: Catherine haben mich meine Eltern getauft – und meine Eltern heißen French.« »Danke, Miß…« »Missis… bitte, ich bin nicht mehr unberührt – schon weil eine Ehe hinter mir liegt. Sie dauerte allerdings nur sechs Monate – dann war mein Holder mit meinem Volkswagen, meinen Ersparnissen und meinem Schmuck verschwunden… Ihre tüchtigen Kollegen haben ihn bis heute nicht ausfindig machen können… dabei hätte ich wenigstens den Volkswagen gerne wiedergehabt…« 217
»Tut mir leid, Missis French… Sie dürfen die Polizei nicht an einzelnen Beamten messen… was war denn Ihr Mann?« »Er gehörte zum fahrenden Volke… so nennt man das wohl. Auf Jahrmärkten lebte er auf. Dort verdingte er sich – mal als Clown, mal als Kartenabreißer, mal als Assistent eines Artisten… bis er mich kennenlernte. Wir heirateten, und er versuchte sich als Kellner in einem First-Class-Restaurant… Ich glaube, er machte seine Sache auch nicht schlecht… bis ihn anscheinend wieder das Fernweh packte… verständlich vielleicht, nur hätte er nicht auch noch meine Sache mitgehen lassen sollen…« In diesem Moment betritt jemand das Sekretariat. Jacklow und Mrs. French drehen sich gleichzeitig um. In der Verbindungstüre erscheint – Jim Dhiser. Sein sich plötzlich verdüsternder Gesichtsausdruck verrät, daß er den Inspector in diesem Moment nicht erwartet hat. »Hallo… hallo, Catherine«, kommt es zögernd über seine Lippen. »Oh, Mister Dhiser, Sie kommen wie gerufen. Ich hätte Sie sonst in Ihrer Wohnung aufsuchen müssen…«, begrüßt ihn Fred Jacklow und fährt fort: »… denn ich habe einige Fragen an Sie.« Dhiser zeigt sich noch mehr verwirrt. »Wo können wir uns ungestört unterhalten?« Der Inspector stellt diese Frage so, daß sich sowohl Jim Dhiser als auch Missis French angesprochen fühlen. Die Frau antwortet zuerst: »Vielleicht in Jims Umkleideraum?« Nun fängt sich der Artist wieder. »Ich bin hierhergekommen, um zu trainieren. Das Theater verfügt über einen Übungsraum… wenn wir uns dort unterhalten könnten? Da hätte ich die Möglichkeit, wenigstens einige Muskelübungen dabei zu machen…« »Aber gern… solange ich Ihrem Beispiel nicht folgen muß«, 218
meint der Inspector lachend. Dann verabschiedet er sich von Missis French: »Wir sehen uns sicher noch. Sagen Sie Direktor Blondie, falls er kommt, wo ich mit Mr. Dhiser bin…« Er folgt Jim, der schon mit schnellen Schritten vorausgegangen ist. Sie gehen zusammen durch einige typische, verwinkelte Gänge, wie sie hinter Theaterbühnen immer anzutreffen sind, bis der Artist eine Eisentüre öffnet und den Inspector zuerst in eine große Halle vorausgehen läßt. Sie ist mit vielerlei Varietéutensilien gefüllt. Von der Decke hängen Ringe und ein Trapez. Jim steuert auf eine Ecke zu, in der ein Body-Building-Trainer in Form eines Ruderbootes aufgestellt ist. Ungeniert knöpft er sein Hemd auf, zieht Hose und Strümpfe aus und setzt sich dann in das Marterinstrument. Dem Inspector bedeutet er, er möge in seiner Nähe Platz nehmen. »Dort auf dem Schemel sitzen Sie sicher am besten. Ich weiß, es ist nicht gerade die bequemste Sitzgelegenheit… aber ich kann es mir nicht erlauben, das tägliche Trainingspensum auszulassen. Deshalb muß ich Ihnen diese nüchterne Umgebung zumuten…« Der Inspector hört interessiert zu. Von dem Jim Dhiser, der gestern abend völlig verzweifelt schien über den Tod seiner Frau, ist nichts mehr zu spüren. Vor ihm übt ein Mann, der sich offenbar vollkommen in der Gewalt hat, dem sein Beruf über alles geht. Oder ist es nur das alte Künstlerprinzip: The show must go on? »Üben Sie hier täglich?« »Ja… was bleibt mir denn anderes übrig? Von meinen Muskeln und meinen richtigen Reaktionen hängt mein Leben ab.« »Aber gestern nachmittag…« »War ich mit Peggy hier… richtig. Wir haben eine neue Technik am Trapez probiert. Es ist eine andere Form von 219
Training… aber hat die gleiche Wirkung.« »Sie hatten Streit…?« »Streit – so würde ich es nicht nennen. Peggy war mal wieder anderer Meinung als ich. Sie kennen ja sicher die Frauen. Sie glauben immer, das letzte Wort haben zu müssen… es ging um einen Fanggriff, den sie laufend falsch anwendete… sie behauptete, ich hätte ihn ihr von Anfang an falsch gezeigt…« »Und Sie waren allein…?« »Absolut allein, Inspector… drei Stunden lang. Und wenn Sie es genau wissen wollen; wir hatten uns sogar eingesperrt.« »Eingesperrt?… Wieso?« »Weil es die Konzentration nachteilig beeinflußt, wenn ständig jemand durch die Tür spaziert. Außerdem… solange eine Nummer noch nicht sitzt, hat man nicht gerne Zuschauer. Deshalb haben wir – mit Erlaubnis des Direktors – immer abgeschlossen, wenn wir trainierten. Das tun übrigens andere Artisten auch…« »Interessant…«, meint Jacklow. »Wollen Sie daraus etwas folgern?« keucht Jim. In der Zwischenzeit haben sich auf seiner Stirn Schweißperlen gebildet. Kein Wunder, er ›rudert‹ mit größter Kraftanstrengung. »Könnte ich?« pariert der Inspector. Und fährt nach einer kurzen Pause fort: »Ich wundere mich, daß Sie mich noch nicht gefragt haben, ob wir nun die Todesursache feststellen konnten…« »Warum sollte ich? Für mich stand es – wie Sie wissen – seit gestern abend fest, daß es Mord war. Bob Rint wurde aus dem Weg geschafft, und mit ihm mußte auch Joan sterben…« »Ja, es war Mord!« bestätigt Jacklow. »Der Partner ihrer Frau wurde mit Zyankali getötet – und Ihre Frau ist ertrunken.« »Na also.« Jim Dhiser rudert noch verbissener. »Um das herauszufinden, haben Sie so lange gebraucht? Oder haben Sie 220
den Mörder etwa auch schon?« »Leider nicht. Aber wir werden ihn bekommen.« Und unvermittelt stößt der Inspector zu: »Ihre Frau und Bob Rint hatten ein Verhältnis!« Jim Dhiser hört auf zu rudern. Einige Sekunden sitzt er wie gedankenverloren da, dann sagt er leise: »Ich wußte, daß irgend jemand das zur Sprache bringen würde… das ist natürlich ein Motiv. Der verlassene Ehemann, der seine Frau und deren Liebhaber umbringt. – Nur, der verlassene Ehemann, das stimmt nicht…« »Wollen Sie damit sagen, daß es zwischen Ihrer Frau und Bob Rint nichts gab?« »Nein, das wäre gelogen. Aber es war aus. Sie hat ihn verlassen.« Und er setzt mit einem unüberhörbaren Stolz hinzu: »Sie ist zu mir zurückgekehrt!« »Mit anderen Worten: Sie hatten keinen Grund mehr, Bob Rint zu vergiften…« »Richtig kombiniert, Inspector… Ihr Motiv… es hat sich in Luft aufgelöst.« »Vielleicht das Motiv des betrogenen Ehemannes. Aber es ist auch schon vorgekommen, daß ein Mann erst dann seinen Nebenbuhler umgebracht hat, als seine Frau ihren Irrtum schon eingesehen hatte. Er rächt damit sich und seine Frau auf einen Schlag.« »Ich bin nicht von der Sorte, Inspector… ich war glücklich, Joan wiederzuhaben. – Und vergessen Sie nicht – der Mord an Bob Rint mußte auch den Tod meiner Frau bedeuten. – Also: ich hätte vielleicht Bob Rint ermorden können, aber doch nicht meine Frau! Nein…«, Jim Dhiser lächelt, »wenn schon ein Mord, dann hätte Bob jetzt mehr Grund gehabt.« Jacklow horcht auf: »Was meinen Sie damit?« »Na, glauben Sie, daß sich Bob mit dem Schicksal des 221
Verlassenen so einfach abgefunden hat… ein Frauenheld wie er? Er hat getobt, er hat Joan verfolgt… ihr aufgelauert… immer wieder beschwor er sie, zu ihm zurückzukehren – vergebens! Er schrieb ihr Drohbriefe…« »… Drohbriefe?« »Er wollte sie töten – sich töten. Seine Niederlage machte ihn rasend. Er war es wohl nicht gewohnt, eine Frau zu verlieren.« »Gibt es diese… äh, Drohbriefe… noch?« Jacklow fragt es hoffnungsvoll. »Vielleicht den einen oder anderen… ich müßte nachsehen. Joan hat sie meistens sofort zerrissen. Sie hat über dieses Irren nur gelacht. Für sie existierte Bob Rint nicht mehr – es gab für sie nur noch mich!« Jacklow hört aufmerksam zu. Dhiser muß seinen Triumph auskosten: »Bob Rint hatte verloren… er sah es wohl selbst ein. Vor einigen Tagen schrieb er Joan, er werde sich töten, weil er ohne sie nicht leben könne…« »Wollen Sie damit sagen, daß der Mord kein Mord, sondern ein Selbstmord war?« Dhiser scheint verblüfft: »Sie meinen, daß sich Bob selbst vergiftet hat? – Daran habe ich noch gar nicht gedacht…« Dann entschlossen: »Nein, Inspector, damit machen Sie es sich zu einfach. Bob Rint ist kein Selbstmordtyp. So einer wie er – der sucht sich eine neue Freundin…« »Und die Briefe?« »Joan und ich haben sie nicht ernstgenommen. – Allerdings erscheinen sie jetzt in einem völlig anderen Licht…« Für einen Moment hört Jim sogar mit dem Rudern auf. »Sie schließen also nicht mehr aus, daß Bob Rint den Cognac selbst vergiftet und Ihre Frau mit in den Tod genommen hat?« Jim Dhiser wird ärgerlich: »Was fragen Sie mich das, 222
Inspector? Bin ich der Polizist, oder sind Sie es? Soll ich mir für Sie meinen Kopf zerbrechen? – Nein, ich hab’ wohl schon Kummer genug, sehen Sie zu, wo Sie Ihren Mörder herkriegen…« Jacklow beschließt, das Thema zu wechseln. »Wie lange haben Sie den gestern mit Ihrer Partnerin trainiert?« »Ich kam etwa um sechzehn Uhr. Sie kurz danach. Bis wir umgezogen waren… na, so gegen sechzehn Uhr dreißig werden wir wohl hier gewesen sein, und um neunzehn Uhr haben wir aufgehört. Schließlich mußten wir vor der Vorstellung noch etwas ausruhen.« »Und Sie waren diese zweieinhalb Stunden allein hier?« »Allein – und wir haben wirklich trainiert, wenn Sie das wissen wollten…« »Wollte ich nicht – aber jetzt weiß ich es«, lächelt Jacklow. »Sie oder Peggy haben die Halle in dieser Zeit nicht verlassen?« »Nicht für eine Minute…« Der Artist hat sich ein Handtuch gegriffen und wischt sich damit über die schweißfeuchte Stirne. »Übrigens, um auf Ihre Selbstmordtheorie zurückzukommen, Inspector: Ist es nicht so, daß Selbstmörder immer Briefe hinterlassen, mit denen sie ihren Entschluß erklären?« »Sie scheinen genügend Kriminalromane gelesen zu haben«, erwidert Jacklow leichthin, wird jedoch gleich wieder ernst: »Sie haben recht. Solche Briefe gibt es in den meisten Fällen.« Dhisers Tonfall wird überheblich: »Und da Sie keinen solchen Brief von Bob erhalten haben, können Ihre Überlegungen auch nicht stimmen… Oder«, schließt er fragend an, »haben Sie etwa einen solchen Brief bekommen?« »Nein, habe ich nicht – und Sie vermuten wohl richtig. Obwohl, wenn ich mir das alles so durch den Kopf gehen lasse, was Sie mir da erzählt haben…« Jacklow gibt sich einen Ruck und steht auf. »Ich will Sie aber nicht weiter stören. Sie müssen 223
ja üben…« »Davon habe ich mich, wie Sie sicher bemerkten, auch von Ihnen nicht abhalten lassen. Ich hoffe nur, ich konnte Ihnen etwas helfen…« Jacklows Stimme hat plötzlich einen schneidenden Klang: »Wie wollen Sie mir helfen, wenn Sie mir Wichtiges verschweigen?« Der Artist blickt völlig verdutzt: »Ich… verschweigen? Was meinen Sie denn damit?« »Haben Sie mir etwa gesagt, daß Sie ein Verhältnis mit Ihrer Partnerin haben?« Dhiser springt auf und schreit: »Was behaupten Sie da? Wer hat das gesagt?« Der Inspector blickt ihn gelassen an: »Niemand – aber wie anders würden Sie erklären, daß Miß Peggy Whyler in ihrer Pension des öfteren männlichen Besuch erhielt – und dieser Besucher waren Sie!« Jim Dhiser bleibt aufgeregt: »Na und? Kann ich nicht mal meine Partnerin besuchen? Muß ich da gleich mit ihr ein Verhältnis haben? – Nein, Inspector, mit diesem Geschoß treffen Sie nicht ins Schwarze. Ich mag Peggy… ich habe sie, zugegeben, öfter besucht… aber muß das gleich ein Verhältnis bedeuten? Können Sie sich nicht vorstellen, daß zwei Menschen, die Abend für Abend gemeinsam ihr Leben aufs Spiel setzen, auch manchmal etwas zu besprechen haben – und dies nicht in der Öffentlichkeit tun wollen?« »Möglich…«,Jacklow nickt nachdenklich. »Nur etwas paßt da nicht in Ihr Bild…« »Und…?« lenkt Dhiser ein. »… daß Sie gestern abend geschwiegen haben, als ich fragte, wo Peggy Whyler wohnt. Sie wußten doch die Adresse. Aber Sie wollten es wahrscheinlich vor Ihren Kollegen verbergen, daß 224
Sie Peggy schon öfter besucht haben. – Etwa doch ein schlechtes Gewissen?« »Unsinn. – Gestern abend war ich viel zu erschüttert, als daß ich auf das gehört hätte, was Sie fragten.« Jim Dhiser wird wieder laut: »Oder können Sie sich nicht vorstellen, wie einem Mann zumute ist, dessen Frau soeben vor seinen Augen ertrunken ist?« »Ich bemühe mich… Wo war Ihre Frau eigentlich gestern nachmittag?« »Zu Hause – ich meine damit natürlich die hier von uns gemietete Wohnung. Sie hatte sich hingelegt, als ich fortging…« »Danke, Mister Dhiser. Jetzt weiß ich wirklich alles.« Jacklow geht zur Tür. Noch als er die Halle schon verlassen hat, grübelt Jim Dhiser über den letzten Satz des Inspectors. Jacklow durchschreitet die winkeligen Gänge, er will das Theater verlassen. Da fühlt er sich plötzlich von hinten am Arm gepackt. Er dreht sich um. Ein kleines Männchen steht vor ihm. »Sie nicht böse sein. Aber ich habe zu sagen etwas. Ist wichtig, daß Sie kommen herein – in Umkleideraum.« Jacklow tritt in die Garderobe, deren Tür sein Gegenüber sofort schließt. »Zuerst ich mich vorstellen. Ich bin Mann, der vorführt dressierten Hund. Bin Julio.« Der Inspector hat es eilig. »Und was haben Sie mir zu sagen, Julio?« »Sie müssen verstehen, ich nix wollen beschuldigen. Aber ich glauben, daß Sie es wissen müssen wegen Flasche…« »Welcher Flasche…?« »Wo steht im Zimmer von Direktor. Und war vergiftet…« »Woher wissen Sie das?« 225
»Sie gestern abend selbst gesagt, Herr Kommissar… oder nicht?« Jacklow brummt eine zögernde Zustimmung. »Und deshalb mir erscheint wichtig, daß ich gestern gesehen habe jemand, wo ist gekommen aus Zimmer von Direktor.« »Wer?« »Ich nicht habe gesehen… nur Person… hat gehabt an Bademantel mit Kapuze.« »Und Sie haben die Person nicht erkannt?« »Bedauerlich nein, Herr Kommissar. Aber glaube ich, daß es war Frau.« »Eine Frau…? Und wie sah der Bademantel aus?« »War weiß. Nix sonst ungewöhnlich.« »Und die Frau, wenn es eine Frau war – kam aus dem Sekretariat?« »Nein, aus Zimmer von Direktor Blondie, Sie wissen, Seitentüre direkt zu Büro, nix über Sekretärin.« Jacklow ist elektrisiert. »Wann war das?« »Na, kurz nachdem ich bin gekommen. Wird gewesen sein siebzehn Uhr dreißig. Person hatte es sehr eilig.« »In welche Richtung ging sie?« »Ging nicht zur Bühne. Weg zurück…« Also zum Trainingsraum – ergänzt Jacklow für sich. »Trug sie etwas in der Hand?« »Konnte ich nicht sehen. Sie verstehen, Frau mich auch nicht gesehen hat. Will Direktor nicht, daß jemand benutzt diese Türe…« »Ich weiß«, sagt Jacklow. »Ich danke Ihnen, Sie haben mir vielleicht sehr geholfen.« »Habe ich gedacht, daß ich muß sagen Ihnen…« 226
Jacklow hat schon die Türe geöffnet. Die letzten Worte des Hundedompteurs hört er bereits nicht mehr, denn er eilt mit schnellen Schritten zum Trainingsraum zurück. Ohne anzuklopfen öffnet er die Türe. Jim Dhiser steht unter dem Trapez – in einem weißen Frotteemantel. Er scheint nicht sehr überrascht, den Inspector nochmals zu sehen. »Haben Sie doch noch eine Frage vergessen, Inspector?« »Ja, eine. Tragen alle Artisten einen solchen Frotteemantel, wie Sie ihn jetzt anhaben?« Jim Dhiser weiß offensichtlich nicht, ob ihn der Inspector auf den Arm nehmen will. »Einen solchen Frotteemantel? Ja, viele sicher… genau weiß ich das natürlich nicht.« »Und Ihre Frau?« »Ja – sie trug einen, genauer gesagt, legte sie sogar besonderen Wert darauf.« »Farbe?« »Schwarz – es betonte ihre schlanke Figur…« »Und Miß Peggy Whyler?« »Sie hat einen weißen Mantel… er ist wie meiner geschnitten. Mit einer Kapuze, wie Sie sehen!« Jim Dhiser dreht sich um sich selbst wie ein Dressman. »Eigentlich sind es ja Saunamäntel.« »Danke, mehr wollte ich nicht wissen. Es waren auch nur noch Routinefragen…« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie bei jedem ihrer Fälle nach Bademänteln fragen?« Dhiser verzieht spöttisch seine Lippen. Donnerwetter, denkt Jacklow, der Bursche ist ernst zu nehmen. Dann antwortet er und betont fast jedes Wort: »Natürlich nicht! Nur bei Artisten.«
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XI. Bob Rint hatte seine Wohnung downtown in der Nähe des Hafens gemietet gehabt. Viel bringt so ein Job als Artist wohl nicht ein, denkt sich Lieutenant Collin, als er den schon etwas heruntergekommenen Hausflur betritt und mit den ihn begleitenden Beamten die Treppe zum dritten Stock hinaufsteigt. Auf sein Klingeln wird die Türe einen Spaltbreit geöffnet. Der schmale Durchblick zeigt eine offensichtlich in einen ausgewaschenen Bademantel gehüllte Frau, deren langes schwarzes Haar ihr ungekämmt ins Gesicht hängt. Sie streicht es zurück, als ihr Collin seine Polizeimarke zeigt und sie auffordert, ihn und seine Begleiter einzulassen. Widerwillig löst sie die Sperrkette. »Wie oft kommt Ihr denn noch? Könnt Ihr einen denn nicht in Ruhe lassen?« »Wieso«, fragt der Lieutenant verdutzt. »Wie oft war denn schon jemand da?« »Na, gestern nacht noch hat man mich aus dem Bett geläutet, nur um dieses blöde Siegel an seiner Türe anzubringen. Als ob das nicht Zeit bis zum Morgen gehabt hätte. Wer ist denn schon an den paar lächerlichen Klamotten interessiert…?« »Wir beispielsweise«, gibt Collin leichthin zur Antwort und tritt in den Wohnungsflur. Der Geruch von Kohlgemüse hängt in der Luft. Links und rechts gehen Türen ab, Über dem Schloß einer dieser Türen klebt das Polizeisiegel. Es ist nicht zu übersehen. »Na, dann mal los«, fordert Collin seine Begleiter auf. Einer geht auch sofort an die Türe, entfernt das Siegel und schließt auf. Er läßt den Lieutenant zuerst in das Zimmer treten. Es ist kärglich möbliert. Ein Bett, ein Tisch und ein billiger 228
Schrank bilden die gesamte Einrichtung. Auf dem Boden liegt ein verblichener Woll-Läufer, an den Wänden hängen Pin-ups, dazwischen – fast wie ein Fremdkörper – ein Foto von Bob Rint, das ihn in seinem Bühnensmoking zeigt. Der Lieutenant nimmt das mit einem Blick auf. Dann dreht er sich zu den beiden Beamten um, die hinter ihm stehen. »Sie wissen ja, was zu tun ist – Fingerabdrücke… sonstige Spuren, und alles durchsuchen!« Er wendet sich der Vermieterin zu, die ebenso lässig wie verdrossen am Türrahmen lehnt. »Würden Sie mir bitte einige Fragen beantworten?« »Wenn es unbedingt sein muß. Kommen Sie mit zu mir rüber. Ich kann den Bullen bei ihrer Leichenfledderei nicht zusehen.« Sie geht mit betont wiegenden Schritten, die ihr aber nicht besonders ästhetisch gelingen, vor Collin her und führt ihn in ein Zimmer, das offensichtlich ihre gute Stube darstellt. »Wollen Sie etwas trinken?« Der Lieutenant weist dankend darauf hin, daß er im Dienst ist. »Aber ich darf doch wohl…?« Sie holt aus einer Vitrine eine halbleere Flasche Bourbon und ein Glas und schenkt sich ein. Dann setzt sie sich Collin gegenüber, der inzwischen auf einer alten Couch Platz genommen hat, auf einen Stuhl und schlägt die Beine übereinander. Es stört sie nicht, daß der Bademantel dabei oben und unten auseinanderklafft und der Blick auf ein paar stramme Brüste und gut geformte Beine freigegeben wird. Ganz ohne Zweifel – unter dem Bademantel ist die Frau nackt. »Wissen Sie schon, was passiert ist?« »Mit Bob Rint? Woher sollte ich…? Ihre Männer, die gestern abend die Türe versiegelten, sagten mir nur, daß er tot ist.« »Ja, tot ist er. Er wurde – ermordet.« »Ermordet?« Sie beugt sich vor – und dem Lieutenant bieten sich noch tiefere Einblicke. Doch die Umgebung und der Anlaß 229
sind nicht dazu angetan, in ihm romantische Gefühle zu wecken. Obwohl – das muß er sich eingestehen – die Figur der Frau verlockender ist als ihr schmuddeliges Äußeres. »Genauer gesagt: Ihr Untermieter wurde vergiftet.« »Schade, er war ein netter Kerl. – Nun kann ich sehen, daß ich für das Zimmer einen neuen Mieter finde… Ist nicht so leicht, hier in der Gegend jemand zu bekommen, der einem nicht jede Nacht zwischen die Beine will.« »Hatten Sie etwa bei Bob Rint etwas dagegen?« Die Frage ist dem Lieutenant herausgerutscht. Er hat sie nicht überlegt. Um so mehr überrascht ihn die Antwort. »Warum sollte ich? Er war jung und im Bett ein toller Kerl. Aber…« »Aber…?« »Es war ein seltenes Vergnügen. Schließlich hatte er diese Pflichten auch noch bei einigen anderen übernommen…« »Sie meinen, Bob Rint war ein Frauenheld?« »Es wurde ihm leicht gemacht. Kann man verstehen, daß sie alle hinter ihm her waren. Jedenfalls hat er mir davon erzählt.« »Sie hatten also ein Verhältnis mit Ihm?« »Nur weil ich ein paarmal mit ihm geschlafen habe? Nee, das ergab sich so… wir saßen halt zusammen und ließen uns vollaufen… fürs Herz, da hatte er die andere…« »Die andere? Sie wollen damit sagen, daß Bob Rint eine feste Bindung hatte…?« »Natürlich. Sie war ja fast jeden Nachmittag hier. Und dann war es besser, nicht über den Gang zu gehen. Das Gestöhne und Geseufze konnte einen neidisch machen…« »Und – wissen Sie, wer die Frau war?« »Jetzt kann ich es wohl sagen. Es ist seine Partnerin, die Schwimmerin. Sie ist ganz verrückt nach ihm. Dabei hat sie 230
einen Mann…« »Also doch Joan Dhiser«, murmelt Collin mehr zu sich. Doch sein Gegenüber hat ihn verstanden. »Richtig, Joan Dhiser ist es. Was die wohl dazu gesagt hat…?« »Sie kam nicht mehr in die Lage, dazu etwas zu sagen. Denn sie starb mit Bob Rint.« »Auch vergiftet?« »Nein, sie ertrank. Ihr Bassin konnte nicht mehr rechtzeitig geöffnet werden, denn nur Bob Rint kannte die Zahlenkombination!« »Und wer war es?« »Um das zu erfahren, sind wir hier. Wir hoffen, hier wenigstens einen Anhaltspunkt zu finden. – Was glauben Sie – nahm Bob Rint das Verhältnis mit Joan Dhiser ernst?« »Leider ja. Er war ebenso hinter ihr her, wie sie hinter ihm. Er hat oft zu mir davon gesprochen, daß er sie heiraten möchte. So sind die Männer. Da pennen sie mit einem – und dann muß man sich danach noch ihre Liebesprobleme anhören. – Komisch, was?« Sie lacht schrill. »Für Bob Rint war es also eine ernste Sache…?« »Für sie ebenso. Manchmal stritten sie ja auch. – Und wenn sie ihm dann drohte, ihn zu verlassen, schwor er, sich umzubringen.« »Hätte er es getan?« Sie schüttelt den Kopf. »Bob? Ne, der nicht. Der tat nur so. Nach Joan wäre sicher eine andere gekommen… aber das war ja gar nicht nötig. Jedesmal, wenn sie ihm den Abschied gegeben hatte, war sie am nächsten Nachmittag wieder da… und dann hörte man die Versöhnung durch alle Türen.« »Wann haben Sie Joan Dhiser das letztemal gesehen?« 231
»Da brauche ich nicht lange zu überlegen. Es war gestern nachmittag. Sie kam gegen halb fünf. Die beiden gingen dann etwa um halb sieben zusammen weg…« Also deshalb fand man das Sperma bei Joan Dhiser – denkt Collin. Der Inspector wird sich freuen. Wenigstens ein Rätsel gelöst. »Und außer Mrs. Dhiser bekam Bob nie Besuch?« »Nicht daß ich wüßte, nur einmal brachte er nachts jemand mit – eine Frau – ich habe sie nur kurz gesehen, als sie wieder ging… sie hatte blonde Haare… Mit der hat er sich so laut gestritten, daß ich an die Türe klopfen mußte, um zu verhindern, daß die Nachbarn rebellisch wurden.« »Und Sie haben nicht gehorcht…?« »Da brauchte man nicht zu horchen… es ging darum, daß er ihr etwas zahlen sollte… offensichtlich hatte er Schulden bei ihr oder so etwas ähnliches – jedenfalls drohte sie mehrmals, sie würde ihn anzeigen.« »Sie haben Bob Rint nie gefragt, wer die Frau war?« »Gefragt schon. Aber er wurde nur ärgerlich… so wütend habe ich ihn nie erlebt… da ließ ich die Fragerei lieber.« »Und die Frau kam nicht wieder?« »Was weiß ich? Ich habe sie jedenfalls nie mehr gesehen oder gehört. – Doch ich bin ja nicht immer da. Schließlich muß ich auch meine Brötchen verdienen. Ich arbeite als Bedienung in einem Highway-Restaurant. – Vielleicht, daß sie dann noch einmal da war…« In diesem Moment klopft es an die Türe. Einer der Beamten tritt ein. »Wir sind fertig, Lieutenant.« Collin erhebt sich. »Ich habe auch keine Fragen mehr. Vielen Dank, Mrs. Parker.« Er folgt dem Beamten auf den Flur und in Bobs Zimmer. »Etwas von Bedeutung?« 232
»Kann man wohl sagen.« Der Beamte nimmt eine kleine braune Flasche vom Tisch. »Riechen Sie mal daran.« Collin entfernt den Stöpsel und prallt zurück. Dem Gefäß entströmt der charakteristische Bittermandelgeruch. Sofort schließt er sie wieder. »Wo habt ihr das gefunden?« »In einer Ecke des Schrankes. Sie sehen, das Etikett ist halb abgekratzt. Trotzdem würde ich sagen, die Flasche stammt aus einem Labor.« »Eines ist ja wohl klar. Bob Rint ist mit Blausäure vergiftet worden – wenn sie aus dieser Flasche stammt, muß er Selbstmord begangen haben.« »Dagegen spricht aber dieser Brief.« Der zweite Beamte reicht Collin einen mit Schreibmaschine beschriebenen Briefbogen. Der Lieutenant liest: Dan, ich habe Dich sofort erkannt. Wenn einem das passiert, was Du mir angetan hast, entwickelt man ein gutes Gedächtnis. Ich habe Dich beobachtet. Und ich kenne Dein Verhältnis mit Joan Dhiser. Meinetwegen soll sie Dich haben. Aber Du schuldest mir Geld. Das will ich zurückhaben. Sonst bringe ich Dich um. Laß mich nicht lange auf Deine Antwort warten. Honey. Kein Datum. Kein Absender. »Aber der Brief ist doch gar nicht an Bob Rint gerichtet. Wer ist Dan?« fragt Collin. »Bob Rint ist Dan Smith! – So lautet nämlich sein richtiger Name. Wir haben hier seinen Paß gefunden.« »Mit dem Brief hätten wir also ein weiteres Tatmotiv. Offensichtlich hatten mehrere Leute Grund, Bob Rint aus dem Wege zu räumen…« Collin hält inne, sein Blick fällt auf ein Foto, das auf dem 233
Tisch steht. Es ist eine Künstlerpostkarte, die eine lächelnde Joan Dhiser zeigt. ›With all my love‹ ist darauf geschrieben – direkt neben einem Lippenstiftabdruck. »Und Fingerabdrücke…?« »Einige… doch die müssen erst ausgewertet werden.« »Na, da hat sich unser Besuch ja gelohnt«, meint der Lieutenant zufrieden und wendet sich an die Vermieterin. »Wir müssen Ihre Aussage noch zu Protokoll nehmen. Kommen Sie bitte morgen in meinem Büro vorbei, zum Unterschreiben. – Das Zimmer muß wieder versiegelt werden. Aber lange kann es nicht mehr dauern, bis wir es freigeben können.« »Und wer bezahlt mir den Mietausfall?« »Ich jedenfalls nicht.« Collin schmunzelt immer noch über seine Antwort, als er mit den Beamten das Treppenhaus betritt. Hinter ihnen fällt krachend die Tür ins Schloß. Ganz offensichtlich konnte die Frau über diesen Scherz nicht lachen. Na ja, überlegt der Lieutenant. Schließlich hat sie ja nicht nur einen Mieter, sondern auch einen – wenn auch nur gelegentlichen – Liebhaber verloren. Zu dem Zeitpunkt, an dem Collin und die Beamten in das Präsidium zurückfahren, läutet in Peggy Whylers Zimmer das Telefon. Sie nimmt ab. Eine männliche Stimme beschwört sie hastig: »Du solltest für einige Tage verschwinden. Die Polizei ist mißtrauisch geworden. Jedenfalls ist es besser, wenn sie dich nicht auch noch verhören – bevor sie wissen, wie Bob Rint wirklich umgekommen ist. Lange kann es sowieso nicht mehr dauern. Ich habe sie schon auf die besprochene Fährte gelockt…« »Und wo soll ich hin?« 234
»Nimm die Indiana Toll Road nach Osten an der Küste entlang. Kurz vor Portage siehst du links ein Motel. Das Sunshine-Motel. Dort nimm dir ein Zimmer. Ich komme heute nacht nach.« »Und du versuchst keinen üblen Trick?« »Wie sollte ich? Schließlich sitzen wir beide in einem Boot.« »Wenn du das nur nicht vergißt!« Peggys Stimme hat einen drohenden Unterton. »Also gut. Ich warte auf dich… du hast mir dann sicher noch einiges zu erzählen.« Ohne ein Abschiedswort legt sie auf und zieht sich schnell an. Einige Sachen packt sie in einen kleinen Koffer. Sie will ihn gerade schließen, als sie kurz überlegt… In einem der Schrankfächer räumt sie einige Wäschestücke beiseite und greift sich die darunterliegenden Fotos und Briefe. Rasch überfliegt sie die Unterlagen, sortiert das meiste aus und legt diesen Pack oben auf den Koffer. »Sicher ist sicher«, murmelt sie dabei. Die restlichen Stücke – es sind nur noch wenige Fotos und ein Bündel Briefe – legt sie in den Schrank zurück. Dann greift sie zum Telefon. »Darling, ich muß für einige Tage weg. Nein, frage nicht – es ist wichtig für uns. Wenn wir je Zusammensein wollen, dann muß es sein. Und – Ray – bleib mir treu! – Ich liebe dich – nur dich, hörst du…!« Sie haucht noch einen Kuß ins Telefon und legt dann auf. Noch während sie die Treppe der Pension hinunterschreitet, denkt sie, daß es langsam Zeit wird, das Versteckspiel zu beenden.
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XII. Collin sitzt Jacklow in dessen Büro gegenüber. Er hat soeben ausführlich Bericht über sein Gespräch mit Mrs. Parker erstattet und den Inspector über die Flasche mit dem Zyankali und den Brief informiert. Als Collin geendet hat, reagiert Jacklow nicht sofort. Er lehnt sich in seinen Sessel zurück. Man spürt, daß er das Gehörte überdenkt und in Zusammenhänge zu bringen versucht. »Es wird immer rätselhafter, Collin«, sagt er dann endlich. »Was Sie herausgefunden haben, steht völlig im Gegensatz zu dem, was Jim Dhiser mir erzählt hat.« »Und was hat er erzählt?« »Er behauptet, seine Frau hätte Bob Rint verlassen und wäre zu ihm zurückgekehrt. Und ich hatte dabei den Eindruck, daß er die Wahrheit sagte – es könnte ja sein, daß die Sache zwischen Joan und Bob erst heute wieder angefangen hat. Vielleicht war es sogar nur eine letzte Aussprache?« »Sie vergessen das Sperma, das Dr. Seyms gefunden hat. Von Mr. Dhiser kann es doch wohl kaum sein. – Außer, er hätte mit seiner Frau geschlafen, bevor er in das Theater zum Üben gegangen ist. Aber das kann ich nicht glauben. Nein, Inspector, ich bin sicher, das Verhältnis zwischen Bob Rint und Joan Dhiser existierte nach wie vor. Joan hat Bob zwar anscheinend gedroht, ihn zu verlassen… vielleicht wußte sie, daß er es mit der Treue zu ihr nicht so genau nahm… doch schon nach einem Tag war sie dann wieder da, wie immer. Und wenn es da wirklich eine große Trennung in der letzten Woche gegeben hätte – diese Mrs. Parker hätte mir todsicher davon erzählt.« »Sie haben wahrscheinlich recht, Collin.« Jacklow setzt sich auf und beugt sich vor. Er greift sich einen Bogen Papier und 236
einen Kugelschreiber. »Lassen Sie uns doch einmal sehen, was wir bis jetzt an Fakten zusammengetragen haben. – Beginnen wir mit Jim Dhiser.« »Er ist für mich heute schon der Mörder, Chef…« »Aber was haben wir gegen ihn in der Hand? Gut, er hätte ein Motiv gehabt, Bob Rint zu ermorden. Der Ansager hat ihm die Frau weggenommen. Doch was nützte ihm der Tod des Nebenbuhlers, wenn gleichzeitig auch seine Frau starb? Er wollte doch die Frau zurückhaben…« »Sie vergessen Peggy Whyler, Inspector.« »Richtig. Wahrscheinlich hat er ein Verhältnis mit ihr. Doch wenn Jim wirklich Peggy wollte, dann hätte er ja keinen Grund mehr gehabt, Bob Rint und seine Frau umzubringen. Einfacher wäre das Bäumchen-wechsle-dich-Spiel doch nicht mehr gegangen. Bob wäre mit Joan glücklich geworden, und Jim hätte sich mit Peggy getröstet. – Nein, Collin, von dieser Seite aus betrachtet ergibt der Mord keinen Sinn. Da platzt jedes Motiv – und außerdem: Woher sollte Jim Dhiser das Zyankali haben? Ein Artist wie er kommt nicht so leicht an ein solch gefährliches Gift. – Noch dazu haben Sie das Gift bei Bob Rint gefunden…« »Was uns wieder zu der Selbstmordtheorie führt…« »… daß Bob Rint die Drohung wahrgemacht und sich selbst umgebracht hat – und Joan mit in den Tod nahm, weil sie ihn verlassen hatte… Vielleicht stimmt es ja wirklich, was mir Jim Dhiser über seinen neuen Honigmond mit Joan erzählt hat…« »Und dann schlief sie wieder mit dem Ansager? Das Sperma bei Joan Dhiser stammt von Bob Rint. Die beiden hatten noch am Nachmittag Geschlechtsverkehr. Gemeinsam gingen sie dann gegen Abend zur Vorstellung. Und da soll Bob mit Joan Dhiser freiwillig in den Tod gegangen sein…? Tut mir leid, aber daran glaube ich nicht.« 237
Jacklow, der bisher die Stichpunkte mitgeschrieben hatte, legt plötzlich den Kugelschreiber weg: »Wahrscheinlich haben Sie recht, Collin. Denn da ist etwas, was Sie noch nicht wissen.« Er berichtet dem Lieutenant von der Aussage des Hundedompteurs und flicht in seine Ausführungen auch einige Bemerkungen über seine Begegnung mit Mrs. French ein. »Also eine Frau ist aus dem Büro des Direktors gekommen«, rekapituliert Collin. »Falls der Mann sich nicht getäuscht hat. Welche weiblichen Wesen wollen wir denn in unsere Spekulationen mit einbeziehen? Peggy Whyler…?« »… und die Unbekannte, die den Drohbrief an Bob Rint geschrieben hat und…«, Jacklow zögert etwas, »auch Mrs. French. Mein Gefühl sagt mir, daß sie mit den Geschehnissen auf irgendeine Art in Verbindung steht. Ich weiß nur nicht wie…« »Dann erst mal zu Peggy Whyler. Sie hat, wie wir erfuhren, einen weißen Bademantel. Sie könnte also die Frau gewesen sein, die aus dem Büro des Direktors kam. Doch – welches Motiv hätte sie gehabt, Bob Rint umzubringen?« »Bob Rint vielleicht nicht, aber – Joan Dhiser.« »Mhm«, der Lieutenant grübelt. »So hätte sie Jim natürlich für sich gehabt. Doch mußte sie dann gleich einen Doppelmord begehen? Es wäre sicher einfacher gewesen, nur Joan zu töten.« »Vielleicht wollte sie uns auf eine falsche Spur führen, Collin. Die beiden Morde zusammen ergeben ja erst das Rätsel, das wir im Augenblick nicht zu lösen vermögen.« »Aber gleich zwei Menschen zu ermorden? Ist denn der Trapezkünstler so interessant?« »Vielleicht sollten wir einmal sein Bankkonto überprüfen. Denken Sie nur an den finanziellen Aufstieg, den Peggy in Chicago absolviert hat. Da muß doch irgend etwas dahinterstecken…« 238
»Sie meinen, Jim Dhiser wäre der Finanzier? Also, alles, was ich bisher über das Variete gehört habe – Vermögen sind dort nicht zu verdienen…« »Seien wir ehrlich, Lieutenant. Was wissen wir schon über Jim Dhiser? Gut, ich habe mich mit ihm unterhalten, habe in diesem Zusammenhang auch manches erfahren… aber er als Mensch blieb dabei für mich im dunkeln. Wie reagiert Dhiser? Wo lebt er? Wie hoch ist sein Bankkonto? – Mensch, Collin, das ist es…«, der Inspector springt auf und greift sich an den Kopf. »Wir sehen Jim Dhiser immer nur als den eifersüchtigen Ehemann. Vielleicht ist er gar nicht eifersüchtig, sondern nur geldgierig! Vielleicht hat der Mord ihn saniert. – Lassen Sie mich den Faden weiterspinnen…«, die Worte sprudeln aus Jacklow nur so heraus. »Hatte Joan Dhiser eventuell Vermögen? Wir müssen das überprüfen, Collin! Schnellstens…« Der Lieutenant blickt demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Achtzehn Uhr, Chef. Jetzt holen Sie keinen mehr aus dem Feierabend zurück.« Jacklow grinst den Lieutenant an und kneift dann ein Auge zu. »Muß ich doch wohl auch nicht – schließlich sind ja Sie noch da. Und außerdem könnte ich sowieso keinen Besseren schicken…« »Danke für die Blumen«, sagt Collin trocken. »Und wo, denken Sie, soll ich die Informationen herbekommen?« »Im Theater… Lieutenant, im ›Globe‹, wo sonst? In knapp zwei Stunden beginnt die Abendvorstellung. Treiben Sie sich hinter der Bühne herum, gehen Sie in die Garderoben, sprechen Sie mit den Leuten… Collin, Sie werden mehr erfahren, als wir wissen müssen…« »Und Sie, wenn ich mir die Frage erlauben darf… was machen Sie?« »Ich hole einen freien Abend nach, der mir ja gestern unterbrochen wurde…« 239
»… und Sie mixen…?« »Mit größter Wahrscheinlichkeit, Collin. Und wenn Sie gut arbeiten, bringe ich Ihnen morgen einen Cocktail mit.« »Den Mann müßte man finden, der einstmals das Delegationsprinzip erfunden hat«, mault der Lieutenant. »Na, wenn Sie so weitermachen, werden Sie ja selbst bald Anweisungen weitergeben können. – Übrigens, eines interessiert mich. Konnten die Experten schon in etwa sagen, auf welcher Schreibmaschine der bei Bob Rint gefundene ominöse Drohbrief getippt wurde?« »Keineswegs auf einer elektrischen Maschine, das ist sicher. Die Druckstärke ist zu unterschiedlich. Die Vermutung geht dahin, daß es sich um eine mechanische Remington handelt.« »Remington…? Woran erinnert mich das?« Der Inspector reibt mit dem Zeigefinger seine Stirn. – »Scheint, daß ich langsam alt werde… Collin, Sie werden noch früher als erwartet die Möglichkeit haben, Arbeit zu delegieren… doch vorerst – marsch an die Front!« »Wenn Sie meinen, Chef, daß es wichtig ist…« Jacklow lacht: »Einen Anreiz hat die Sache. Die süße Versuchung im Büro des Direktors. Die enttäuschte Mrs. French. Sie dürfen sich ihrer gern besonders annehmen…« Collin fragt schmunzelnd: »Aber wohl nur rein dienstlich… oder? – Übrigens, weil wir gerade von seinem Vorzimmerdrachen sprechen – haben Sie nicht Mr. Blondie auf Ihrer Liste vergessen?« »Wir haben nur nicht über ihn gesprochen. Vergessen habe ich ihn nicht. Schließlich ist der Direktor ein zu undurchsichtiger Mann. Und vor allem: Er hätte ja die beste Gelegenheit gehabt, das Gift in die Flasche zu geben.« »Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, Chef – mich hat von Anfang an stutzig gemacht, daß den ganzen lieben langen 240
Tag niemand aus der Flasche getrunken hat.« »Und was folgern Sie daraus?« »Blondie muß gewußt haben, daß Gift in der Flasche ist, deshalb hat er an diesem Tag auch niemandem den Cognac angeboten.« Jacklows Stirn legt sich in Falten: »Aber das Motiv, Collin? – Das Motiv? Immer wieder stoßen wir an diese Frage. Wer wollte zwei Menschen auf einmal umbringen und vor allem – warum?… Blondie?… Er hat doch bei der ganzen Sache den meisten Schaden. Weshalb sollte sich ein Direktor zwei seiner besten Artisten berauben?« Der Lieutenant steht auf. »Da Sie ja sicher nicht von Ihrem Vorsatz ablassen, daß ich mich in meiner Freizeit im Theater rumzutreiben habe, will ich lieber gleich gehen. Ich wünsche einen angenehmen Abend, Chef.« Jacklow lacht. »Nehmen Sie’s nicht so schwer, Mike. Ich hoffe, daß wir diesen Fall bald gelöst haben, auch wenn es im Moment so gar nicht danach aussieht.« »Was hilft’s«, meint Collin, schon an der Türe, »wenn wir den Mörder von Joan Dhiser und Bob Rint haben, kommt mit Sicherheit das nächste kriminalistische Rätsel auf uns zu, und das Spielchen geht von neuem los. Geschieht mir ja auch recht. Warum bin ich nicht Bankbeamter geworden, wie mir meine Mutter immer wieder geraten hat.«
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XIII. Als Collin im Theater eintrifft, ist schon die Atmosphäre der herannahenden Vorstellung zu spüren. Zwar trifft der Lieutenant kaum auf Menschen, weil sich alle Artisten bereits in den Umkleideräumen befinden, doch die allgemeine Geschäftigkeit und wohl auch die Nervosität dringen durch die Türen, hängen in der Luft. Collin begibt sich sofort in das Direktionsbüro. Die Erzählungen seines Chefs haben ihn auf die Sekretärin neugierig gemacht. Und er muß sich eingestehen, daß seine Neugier mehr von dem Mann Michael als von dem Lieutenant Collin ausgelöst wird. Er hat Glück, Mrs. French ist da. Sie steht, als er das Büro betritt, gerade am Fotokopiergerät, läßt sich aber zunächst nicht stören. Erst als sie offensichtlich die notwendige Kopienzahl gemacht hat, dreht sie sich zu dem Besucher um: »Sie wünschen?« »Ich habe gewissermaßen den dienstlichen Auftrag, Ihnen meinen freien Abend zu widmen, Mrs. French«, erklärt Collin und läßt sich unaufgefordert auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. »Ich bin Lieutenant Collin und komme in Vertretung von Inspector Jacklow.« »Heißt das, daß Sie mich verhören sollen?« Die Frage klingt besorgt. »Gäbe es etwas, was mein Chef von Ihnen noch nicht erfahren hat?« »Was er mich gefragt hat, habe ich beantwortet. Nach bestem Wissen und Gewissen – so heißt wohl die Formel.« »Donnerwetter, Sie sind aber juristisch auf Draht. Diese Formulierung hätte direkt von einem Rechtsanwalt stammen 242
können.« »Sie sollten sich als Hellseher etablieren. Bevor ich hier bei Direktor Blondie anfing, habe ich tatsächlich bei einem Rechtsanwalt gearbeitet – und anscheinend einiges mitbekommen.« »Na, da muß ich mich ja in acht nehmen, daß Sie mir keinen Formfehler nachweisen.« Collins jungenhaftes Lachen steckt an. Auch Mrs. French schmunzelt jetzt. »Wir können ja einen Nichtangriffspakt abschließen.« »Zu so weitreichenden Abmachungen ist ein kleiner Lieutenant leider nicht befugt, Mrs….« »Sie dürfen ruhig ›Cathy‹ zu mir sagen…« »Danke, Cathy – aber ich glaube, ich werde mal dem Direktor einen ›guten Abend‹ wünschen. Schließlich sollte er es wohl auch wissen, wenn ich in seinem Theater herumstöbere.« »Was wollen Sie mit Ihrem Herumstöbern erreichen? Nur Staub aufwirbeln? Oder glauben Sie immer noch, hier den Mörder finden zu können?« »Liebe Cathy. Ich will Mary heißen, wenn des Mordes Lösung nicht in diesem Theater liegt. Nehmen Sie nur eine Tatsache heraus: Wer sonst außer einem Mitglied dieses Theaters sollte das Gift in die Flasche praktiziert haben? Und was diesen Punkt angeht, muß ich Ihnen leider sagen: Sie gehören mit zu den Hauptverdächtigen. Denn wer hätte mehr Gelegenheit gehabt als Sie, ungestört diese Aktion durchzuführen…?« Collins sagt das mehr aus Jux, als er schon die Tür zum Büro des Direktors erreicht hat. Und nur dem Umstand, daß er sich nicht mehr umdreht, verdankt es Mrs. French, daß die Angst, die plötzlich ihr Gesicht überzieht, von dem Lieutenant nicht registriert wird. Sie hält sich am Schreibtisch fest. Ihr ist schwindelig. Hat 243
vielleicht der Inspector doch etwas gemerkt? Hat er kombiniert? Hat irgend jemand eine Bemerkung fallenlassen?… Sie setzt sich auf ihren Stuhl und schließt die Augen. Es muß etwas geschehen. Sie muß die Initiative ergreifen. Geschehe dabei, was da wolle. Collin hat unterdessen Blondie begrüßt: »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich da bin, Direktor. Inspector Jacklow meinte, es wäre ganz gut, wenn ich mich einmal etwas umhorchen und umsehen würde. – Aber kein Grund zur Beunruhigung. Konkrete Anhaltspunkte haben wir bedauerlicherweise immer noch nicht.« Blondie, der, um dem Inspector die Hand zu schütteln, aufgestanden war, setzt sich wieder. »Hoffentlich gelingt es Ihnen überhaupt, den Mörder zu finden. – Nicht auszudenken, wenn solch ein Doppelmord in meinem Theater ungesühnt bliebe.« Collin lacht beruhigend: »Die Polizei sitzt immer am längeren Hebel, Direktor. Sie braucht nur manchmal etwas Zeit, um den richtigen Ansatzpunkt zu finden. – Aber ich will Sie jetzt nicht länger stören. Vor einer Vorstellung haben Sie sicher viel zu tun.« »Normalerweise nicht. Denn wenn ein Programm erst einmal steht, dann sorgt schon die sprichwörtliche Disziplin der Artisten dafür, daß alles wie am Schnürchen abläuft. Heute allerdings muß einiges umgestellt werden. Schließlich ist das Programm seiner Hauptattraktion beraubt. Das muß ich den Besuchern erst einmal beibringen.« »Ich beneide Sie nicht um diese Aufgabe, Mr. Blondie«, meint Collin und wendet sich der Tür zu, die, wie er aus Jacklows Bericht weiß, direkt auf die Bühne führt. »Darf ich gleich hier raus?« »Selbstverständlich. Sie brauchen nur mit dem Schlüssel aufzuschließen. Ich halte die Tür immer von innen verschlossen, 244
damit niemand direkt zu mir vordringen kann. Mrs. French hat mir als Schutzschild schon gute Dienste geleistet.« Collin will den Schlüssel umdrehen. Doch es gelingt ihm nicht. Da drückt er die Klinke herunter und – die Tür öffnet sich. Sie war nicht verschlossen. »Offensichtlich wird Ihr Prinzip des öfteren durchbrochen, Direktor«, wendet sich Collin an Mr. Blondie, der fassungslos an seinem Schreibtisch sitzt. »Sollten Sie schon eine neue Flasche Cognac in Ihr Barfach gestellt haben, würde ich empfehlen, daß niemand daraus trinkt. Zwei Morde reichen – denke ich.« Der Lieutenant läßt einen aufgeregten Direktor zurück. Er sieht auch nicht mehr, wie Mr. Blondie in das Sekretariat läuft und von Mrs. French eine Erklärung fordert, weshalb die Tür nicht verschlossen gewesen sei. Collin betritt die Bühne. Das Glasbassin, in dem Joan Dhiser ertrunken ist, steht nicht mehr da. Wahrscheinlich Artistenbrauch, denkt der Polizist. Alles, was Unglück bringt oder gebracht hat, darf nicht zu sehen sein. Er fragt einen Bühnenarbeiter nach dem Umkleideraum von Jim Dhiser und findet bald darauf die richtige Türe. Auf sein Klopfen ertönt ein unsicheres »Herein«. Als Collin der Aufforderung Folge leistet, sieht er Jim Dhiser, in seinen weißen Bademantel gehüllt, auf einer Liege ruhen. Der Artist erhebt sich nicht. Nur seinen Kopf dreht er dem Lieutenant zu: »Schon wieder die Polizei. Wenn ihr so tüchtig wärt, wie ihr lästig seid, müßtet ihr den Mörder schon lange haben.« »Unsere Stunde wird schon noch kommen, Mr. Dhiser«, meint Collin begütigend. »Ich wollte Ihnen auch nur ›Guten Tag‹ sagen und Ihnen viel Glück für die Vorstellung wünschen. Es muß ja nicht leicht für Sie sein, heute abend aufzutreten.« »Sie zeigen ja Herz«, spottet Dhiser grimmig. »Und ich dachte mir…« 245
»Überlassen Sie das Denken uns«, unterbricht Collin, schärfer als nötig. »Ich bin jedenfalls nicht zu meinem Vergnügen hier. Und niemand sollte das mehr würdigen können als Sie. Schließlich geht es darum, den Mord an Ihrer Frau aufzuklären. Und wenn Sie uns keine Märchen auftischen würden, gelänge es uns vielleicht schneller, den Giftmischer zu finden.« »Märchen? – Was soll das, Lieutenant? – Ich verbitte mir, daß Sie mich beschuldigen.« Dhiser ist erregt von der Liege gesprungen und steht vor dem Lieutenant. Der nimmt die rechte Hand des Artisten, die seinen Jackenkragen umkrampft hält, behutsam weg. »Sie brauchen sich nicht künstlich hochzupumpen, Mr. Dhiser. Ich kann belegen, was ich sage. – Sie erklärten meinem Chef noch vor wenigen Stunden, Ihre Frau wäre gestern nachmittag zu Hause gewesen, Sie hätte sich hingelegt…« »Na und? – Soll das etwa nicht stimmen? Ich bleibe dabei.« »Ihre Frau war gestern nachmittag bei Bob Rint. Und sie stattete ihm nicht nur einen Höflichkeitsbesuch ab…« Collin kann sich gerade noch zur Seite werfen. Denn mit einem Aufschrei ist der stämmige Artist auf ihn losgestürmt. »Sie lügen… Sie gemeiner Bulle…« Doch sofort nach diesem Ausbruch hat sich Dhiser wieder in der Gewalt: »Das werden Sie mir beweisen müssen…« »Das kann ich, Mr. Dhiser. Ich habe eine Zeugin, die Ihre Frau gestern nachmittag bei Bob Rint in dessen Wohnung gesehen hat.« »Wann soll das gewesen sein?« »Zwischen sechzehn Uhr dreißig und achtzehn Uhr dreißig.« »Da war ich hier im ›Globe‹ und habe mit Miß Whyler trainiert. Also habe ich nicht gelogen. Meine Frau war jedenfalls noch zu Hause, als ich wegging. Aber ich kann nicht glauben, daß sie sich immer noch mit ihm traf.« 246
»Daran besteht keinerlei Zweifel – leider, Mr. Dhiser.« - Und nach einer Pause: »Haben Sie das wirklich nicht gewußt?« »Nein, sie ist doch zu mir zurückgekehrt… Sie hat mir geschworen, ihn nie mehr wiedersehen zu wollen… Wir hatten einen neuen Anfang gemacht… Mein Gott…«, Dhiser schlägt die Hände vors Gesicht, »wir waren doch so glücklich.« Ein Zittern geht durch den Körper des Artisten. Hilflos zusammengekauert sitzt er da. Dann wendet er sich hoffnungsvoll an den Lieutenant: »Vielleicht wollte sie nur endgültig ihren Abschied von ihm machen. – Er hat sie sicher bedrängt… Sie ist nur zu ihm gegangen, um ihm noch einmal klipp und klar zu sagen, daß es endgültig aus ist…« »Ich muß Ihnen leider auch diese Vermutung zerstören, Mr. Dhiser. Ihre Frau und Bob Rint sprachen nicht nur miteinander… Ich möchte fast sagen, sie sprachen sehr wenig… Wenn Sie wissen, was ich meine…« »Verflucht soll sie sein…« Diese Worte kommen spontan. Doch sofort hält der Artist inne. »Sie dürfen das nicht mißverstehen. Ich hatte wirklich keine Ahnung. Ich habe dem Inspector über unser neues Glück die Wahrheit gesagt. Ich habe bis zu Ihrem Kommen geglaubt, daß meine Frau zu mir zurückgekehrt sei. – Aber selbst wenn ich das gewußt hätte – ich hätte nie den Mut gehabt, sie und Bob Rint umzubringen. Artisten sind nur während ihres Auftritts Helden.« »Aber in Künstlerkreisen ist Eifersucht unbarmherziger als im normalen Leben, habe ich mir sagen lassen«, ergänzt Collin. »Sie überschätzen mich, Lieutenant«, wehrt Dhiser ab. »Ich bin nur ein kleiner Drahtseilkünstler. Joan war in unserer Verbindung die Beherrschende.« »Auch finanziell?« Diese Frage war instinktmäßig gekommen, Collin hatte nicht überlegt. 247
»Richtig – auch finanziell. Ich kann es ruhig zugeben, Lieutenant. Der Direktor müßte Ihnen ja sowieso, wenn Sie darauf bestehen, die Gehaltslisten vorlegen. – Ja, Joan hat ungefähr das Doppelte verdient wie ich.« »Dann erleiden Sie durch den Tod Ihrer Frau auch einen finanziellen Verlust?« Es entgeht Collin nicht, daß sein Gegenüber mit der Beantwortung etwas zögert. »Ja, wie soll ich sagen? – Wenn Sie die monatlichen Einkünfte meinen, dann ist es richtig.« Und wieder entsteht eine Pause. Collin fühlt, daß er nachbohren muß: »Was wollen Sie mit dieser Einschränkung sagen?« »Meine Frau hatte – eine Lebensversicherung; die werde ich nun wohl ausgezahlt bekommen.« »Und wie hoch ist die Summe?« »Zweihundertfünfzigtausend Dollar.« Collin erstarrt: »Mr. Dhiser, wissen Sie, daß Sie durch diese Tatsache zum Hauptverdächtigen werden?« »Ist mir bewußt. Warum, glauben Sie, habe ich so gezögert? Aber die Versicherung wurde schon vor zwei Monaten abgeschlossen. Übrigens, zu gleicher Zeit ließ auch ich mich zugunsten meiner Frau versichern – mit derselben Summe. Das sollte Ihnen doch wohl zeigen, daß es eine gegenseitige Vorsichtsmaßnahme war.« »Das mag zutreffen, muß aber nicht so sein… Mr. Dhiser, es ist Ihnen doch klar, daß ich das dem Inspector mitteilen muß?« »Natürlich. – Aber da mein Gewissen rein ist… Was kann es an der Sachlage schon ändern?« »Ich wünsche Ihnen, daß nicht noch mehr solcher Verdachtsmomente zum Vorschein kommen, Mr. Dhiser. Es könnte sonst unangenehm werden für Sie.« 248
Der Artist zuckt mit den Schultern. »Schließlich wäre ich wohl nicht der erste, der einem Irrtum der Polizei zum Opfer fiele, oder…?« Collin erspart sich die Antwort, indem er schnell den Raum verläßt. Er kennt sich jetzt schon so gut im Theater aus, daß er ohne fremde Hilfe auf dem kürzesten Weg das Zimmer der Sekretärin findet. Ohne anzuklopfen tritt er ein. Mrs. French ist offensichtlich gerade damit beschäftigt, ihren Schreibtisch aufzuräumen. Sie blickt nur kurz auf, als Collin das Zimmer betritt. Dann sagt sie leichthin: »Na, hat unser Sherlock Holmes eine neue Spur gefunden? Oder fehlt ihm ein Mr. Watson?« »Wollen etwa Sie sich für diese Rolle anbieten?« »Warum nicht? Wenn Sie meinen, ich könnte Ihnen nützlich sein.« »Machen wir doch gleich die Probe. Bekommt Mr. Dhiser sein Honorar auf ein Konto überwiesen, oder erhält er es bar ausbezahlt?« »Halten Sie das für eine Frage, deren Beantwortung Intelligenz erfordert?« »Ich halte das für eine wichtige Frage – aber ich kann ja auch den Direktor bitten…« »Nicht nötig. Mr. Dhisers Honorar geht auf ein Konto bei der Chase Manhattan Bank.« »Und die Bezüge von Joan Dhiser?« »Sie werden von mir auf das gleiche Konto überwiesen.« Collin streicht sich über die Stirn. »Interessant. Schreiben Sie mir bitte die Nummer auf, Cathy.« Die Sekretärin geht zu einem vor ihrem Schreibtisch stehenden Schrank mit einem Rolladenverschluß und öffnet ihn. Während 249
sie gerade dabei ist, die gewünschte Nummer auf einen Notizzettel zu schreiben, stürmt Jack Carter sichtlich aufgeregt in das Zimmer. »Ist der Direktor da«, ruft der Inspizient. Er wartet gar nicht erst eine Antwort ab, sondern eilt sofort in den angrenzenden Raum. Collin hört nur den Gesprächsfetzen: »… Peggy ist verschwunden…« Das genügt, um ihn in Alarm zu versetzen. Auch er kommt nun zu Blondie und Carter: »Was ist denn passiert?« Carter stößt hervor: »Eine Katastrophe. Als Peggy – äh – Miß Whyler – um neunzehn Uhr fünfzehn noch nicht im Theater war, habe ich in ihrer Pension angerufen. Da sagte man mir, Peggy habe um siebzehn Uhr fünfzehn nach einem Anruf das Haus verlassen – mit einem Koffer. – Und das«, schließt der Inspizient, »ist ein Zeichen dafür, daß sie nicht ins ›Globe‹ gewollt hat. Denn wozu hätte sie sonst den Koffer gebraucht?« Collin überlegt: »Es gibt schon einen Grund, warum Mrs. Whyler einen Koffer dabeigehabt haben könnte. Wir haben nämlich erfahren, daß sie gestern abend das Theater in ihrem Bühnenkostüm verlassen hat. Wenn sie heute abend auftreten will, muß sie den Anzug wieder mit zurückbringen.« Diese Enthüllung verblüfft den Direktor ebenso wie Carter: »Sie hat sich nicht umgezogen? Unverständlich. Die Sache wird ja immer mysteriöser.« Schließlich ruft Blondie der Sekretärin zu, sie möge Mr. Dhiser holen. Dieser tritt einige Minuten später in das Zimmer, bereits fertig für seinen Auftritt angezogen. »Jim – Peggy ist weg«, ruft ihm der Direktor entgegen. Gelassen entgegnet der Artist: »Deshalb lassen Sie mich rufen? Es ist schließlich nicht das erstemal, daß Peggy in letzter 250
Minute auftaucht.« »Aber es ist bereits zwanzig Minuten vor acht Uhr«, Carter ringt die Hände. »Dann verschieben wir eben unseren Auftritt in die zweite Hälfte des Programms«, schlägt Dhiser vor. »Und – wenn Peggy überhaupt nicht kommt…?« Blondie ist es, der diese Frage stellt. »Unsinn«, erklärt Dhiser kategorisch. »Was sollte Peggy denn dazu bewegen, wegzulaufen?« Collin wendet sich ihm zu: »Vielleicht hat sie etwas mit den Morden zu tun!« »Das ist doch wohl albern, Lieutenant.« Der Artist gibt sich bestimmt. »Eine kleine Artistin wie Peggy die Mörderin von Joan und Bob Rint? Daß ich nicht lache! Wo ist denn da eine Verbindung?« »Zugegeben, ich kann Ihnen im Augenblick keine nennen – aber das hindert mich nicht daran, einen Zusammenhang zu vermuten.« »Und auf diese Weise tappen Sie immer auf den falschen Fährten herum«, spottet Jim Dhiser. Collin antwortet nicht. Er geht zu Mrs. French, die in der Verbindungstür steht und nur zugehört hat. »Wo kann ich hier ungestört telefonieren?« »Am besten vom Apparat in der Portiersloge aus. Sam wird sie Ihnen für diesen Zweck sicher allein überlassen.« »Führen Sie mich?« Auf diese Hilfe wäre er nicht angewiesen. Aber Collin will die Sekretärin von Carter, Blondie und Dhiser trennen. Als sie bei Sam ankommen, räumt dieser sofort sein Reich und bleibt mit Mrs. French vor dem Glasfenster stehen. Collin wählt die Privatnummer von Jacklow. 251
»Hallo…?« »Tut mit leid Chef, daß ich Sie schon wieder bei Ihrer Lieblingsbeschäftigung stören muß.« Collins Stimme hat einen süffisanten Unterton. »Aber es ist doch einiges passiert, was Sie wissen sollten.« »Und morgen früh ist es dafür zu spät?« »Vielleicht, Inspector. Es ist nämlich so, daß Miß Whyler offensichtlich verschwunden ist.« Collin berichtet knapp und sachlich. Und an den Schluß hängt er die Nachricht von der Lebensversicherung, die Jim Dhiser für seine Frau abgeschlossen hat. »Na, Mike, es hat sich ja doch gelohnt, daß Sie Ihre Freizeit geopfert haben. – Aber was soll ich jetzt bei der ganzen Geschichte tun?« »Vielleicht eine Fahndung nach Miß Whyler…« »Mensch, Collin«, unterbricht Jacklow, »das ist doch nicht Ihr Ernst. Ich alarmiere alle Polizeidienststellen im ganzen Land und dann kommt die Dame vielleicht etwas später in das Theater spaziert und erklärt, Ihre Uhr sei stehengeblieben. Offensichtlich passiert das ja nicht zum erstenmal.« »Dennoch…« »Nein, Lieutenant, wenn Miß Whyler bis morgen früh nicht wieder aufgetaucht ist, bin ich sofort bereit, die Fahndung rauszugeben. Aber keine Minute früher. Ich blamiere mich doch nicht vor dem Chief-inspector.« »Okay, Sir. Aber lassen Sie dann doch morgen früh auch mal das Konto von Mr. Dhiser überprüfen…«, und Collin nennt Nummer und Bank. »Einverstanden, Lieutenant. Sie haben gut gearbeitet. Am besten, Sie legen sich jetzt auch aufs Ohr, und wir treffen uns dann morgen um zehn Uhr wieder in meinem Büro. Scheint ja einen aufregenden Tag zu geben.« 252
Collin legt auf. Draußen tritt er zu Mrs. French. »Ich bin entlassen…« Und erst als sie ungläubig ihr Gesicht verzieht, fährt er schmunzelnd fort: »… in Gnaden für heute abend. Das heißt, daß ich ab jetzt außer Dienst bin und Sie einladen kann. Wie wär’s mit einem kleinen Drink? Irgendwo in einer gemütlichen Bar?« »Ob ich mich Ihnen als Privatmann anvertrauen kann? – Na, ein Risiko muß man im Leben ja wohl immer eingehen. Kommen Sie mit. Bei mir um die Ecke gibt es eine kleine Kneipe. Sie wird Ihnen sicher gefallen. – Ich muß nur noch meine Tasche aus dem Büro holen.« Als sie dort eintreten, haben sich Bloridie, Carter und Dhiser schon auf den zweiten notwendigen Programmwechsel geeinigt. »Mr. Dhiser wird alleine auftreten«, erklärt der Direktor dem Polizeibeamten. »Er hat schon seit Monaten an einer Solonummer geübt. Als ob er geahnt hätte, was ihm Peggy heute antut…« »Mir schien vorhin, als sei Mr. Dhiser überzeugt, daß Miß Whyler noch kommt…«, stellt Collin fragend fest. »Bin ich auch«, antwortet Jim Dhiser hastig. »Aber als Artist kalkuliert man alles ein…« »Auch den Mord an Ihrer Frau, wie die vorsorglich abgeschlossene Lebensversicherung beweist«, fährt Collin lakonisch fort. »Jedenfalls stelle ich fest, daß ich hier nicht mehr benötigt werde. Das Krisenkommando funktioniert ja ausgezeichnet. Da kann ich der heutigen Vorstellung nur noch Erfolg wünschen.« Der Lieutenant packt Mrs. French am Arm und verläßt schnell den Raum. So hört er auch nicht mehr, wie Blondie, Carter und Dhiser seinen Abgang kommentieren. 253
Etwa zur gleichen Zeit nimmt Peggy Whyler als Mrs. Betty Franklin ein Apartment im Sunshine-Motel. Sie gibt an, noch ihren Mann zu erwarten. Das wird – nachdem sie die Rezeption wieder verlassen hat – vom Portier mit dem verständigen nachsichtigen Lächeln quittiert, das man in solchen Fällen allein anreisenden Damen entgegenbringt.
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XIV. Das Lokal, in das ihn seine Begleiterin führt, sagt Michael Collin auf den ersten Blick zu. Es ist im Stil eines französischen Bistros gehalten; an kleinen runden Tischen sitzen angenehm wirkende Gäste. Das Licht ist sehr gedämpft, an der Längsseite steht ein Klavier, auf dem ein farbiger Student gerade ›When the Saints go marchin’in‹ variiert. »Wie haben Sie denn diesen Auftritt inszeniert?« fragt der Lieutenant seine Führerin. »Wollen Sie etwa damit sagen, daß Sie zu den Heiligen gehören?« »Ich? Keineswegs. Ich ging davon aus, daß der Text auf Sie Bezug nimmt.« »Danke, gut pariert«, stellt sie anerkennend und gutgelaunt fest. Collin steuert auf einen freien Tisch in einer Ecke zu. Bald danach steht vor ihm ein ›Whisky sour‹. Cathy French hat einen ›Manhattan‹ gewählt. »Offensichtlich gehen Sie oft aus«, forscht Collins. »Es hält sich in Grenzen«, entgegnet sie mit leiser Stimme, in der ein trauriger Unterton schwebt. »Sie schwindeln. Um eine Frau wie Sie müssen die Männer ja wie die Bienen um den Bienenstock schwirren.« »Ich bin nicht gerade auf Eroberungen aus. Sie haben ja bestimmt von Mr. Jacklow erfahren, daß ich ein gebranntes Kind bin. Eine solche Erfahrung reicht mir.« »Aber man darf doch nicht verallgemeinern. Was Ihr Mann getan hat, können Sie doch nicht als Paradebeispiel für eine 255
Partnerschaft nehmen.« »Kann sein – aber ich bin dadurch sehr verwundbar geworden. Und da ist es mir lieber, ich bleibe allein und werde nicht enttäuscht. Und außerdem – was man so sieht, welche Liebesbeziehung geht schon gut aus?« »Denken Sie jetzt an ein bestimmtes Paar?« »An einige. – Aber nehmen Sie nur Joan und Jim Dhiser. Man sollte doch meinen, daß hier alle Voraussetzungen für eine gute Ehe gegeben gewesen wären. Und was geschieht? Joan verliebt sich in – in diesen Bob Rint, und Jim hängt sich an Peggy.« »Sind Sie sicher?« »Wobei? Bei Joan und Bob? Na, das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern.« »Das hat sogar schon die Polizei gemerkt. Ich meinte Peggy und Jim.« »Absolut. – Obwohl – für Peggy ist es wohl mehr nur eine Abwechslung gewesen.« »Abwechslung? Soll das heißen, daß unsere kleine Artistin ein Schmetterling ist, der von Blume zu Blume fliegt?« »Eine Blumenwiese wird es wohl nicht sein – aber…« »Kennen Sie außer Jim noch mehrere dieser Blumen?« »Würden Sie mir versprechen können, daß Sie niemals sagen, wer Ihnen diese Information gegeben hat?« »Ich verspreche es feierlich.« Collin hebt die Finger wie zum Schwur. Cathy seufzt. »Wahrscheinlich ist es dumm, wenn ich Ihnen vertraue, aber ich will es riskieren. Ein weiterer Liebhaber von Peggy ist – Direktor Blondie.« Der Lieutenant wäre fast vom Stuhl gefallen. Darauf hätte er nie getippt. »Sie nehmen mich nicht auf den Arm?« 256
»Warum sollte ich? – Sie können es ja sicher überprüfen.« »Und woher wissen Sie das?« »Glauben Sie wirklich, eine Sekretärin merkt nicht, wenn ihr Chef plötzlich ein Verhältnis beginnt? Da muß man für ein Wochenende Doppelzimmer bestellen – angeblich für Mrs. und Mr. Blondie -, und dann liest man einige Tage später in der Zeitung, daß Mrs. Blondie an den betreffenden Tagen ganz woanders bei einem wissenschaftlichen Kongreß war.« »Dann handelt es sich nur um Indizien, die Sie zusammengetragen haben?« »Keineswegs. Ich habe die beiden auch mal in Blondies Büro in einer verfänglichen Situation erwischt. Und außerdem – erst gestern nachmittag haben sich die beiden wieder miteinander vergnügt.« Collin kommt aus dem Staunen nicht heraus: »Gestern nachmittag? Wenn ich mich nicht irre, haben da Jim Dhiser und Peggy Whyler eine neue Nummer trainiert.« »Das erzählen die beiden zwar. Aber Peggy hat sich mit Mr. Blondie in dessen Schlafraum getroffen. Sie konnte ja durch den direkten Zugang unbemerkt zu ihm kommen. Und mir hat er durch das rote Licht signalisiert, daß er nicht gestört werden darf.« Wie ein Blitz durchzuckt es in diesem Augenblick Collin. Hat der Inspector nicht von der Aussage des Hundedompteurs berichtet, der eine Frau aus der zum Direktor führenden Türe kommen sah – im weißen Bademantel. Aber das würde heißen, daß Jim Dhiser dieses Schäferstündchen gebilligt hat. »Wußte noch jemand im Theater von dieser Liaison und dem Tête-à-tête?« »Ich weiß es nicht. – Warum? Wäre das denn eine Spur, die zu dem Mörder führte?« »Natürlich. Überlegen Sie: Es könnte ja sein, daß Peggy die 257
Tür, als sie Blondies Büro betrat, nicht abgeschlossen hat. Dann konnte, während sie sich mit dem Direktor befaßte, ein Dritter oder eine Dritte ungehindert in das Zimmer spazieren und das Gift in die Flasche geben.« »Sie könnte also eine Komplizin oder einen Komplizen gehabt haben?« »Genau – und das kann nur Jim Dhiser gewesen sein. Weshalb sonst hätte er geduldet, daß sie den Direktor beglückt?« »Vielleicht hat sie ihm erzählt, sie müsse mit Blondie etwas besprechen…« »… etwa eine Gehaltszulage?« fragt Collin sarkastisch. »Nein, Jim muß die Wahrheit gewußt haben.« Der Lieutenant verstummt. Er überlegt, ob er den Inspector sofort nochmals anrufen und ihm diese Sensation berichten solle. »Kombinieren Sie jetzt?« »Nein. Ich frage mich nur, ob ich diese neuen Gesichtspunkte, durch die Peggy und Jim sehr belastet werden, nicht sofort weitergeben muß.« Er bemerkt die Enttäuschung auf Cathys Zügen. »Und ich dachte… Sie wollten einen gemütlichen Abend mit mir verbringen.« »Sie haben recht. Jim Dhiser weiß ja nicht, was sie mir jetzt enthüllt haben. Er wird bis morgen schon nicht davonlaufen. – Also, Cin-Cin.« Sie nimmt plötzlich seine Hände und streichelt sie zärtlich. Collin wird erst jetzt gewahr, daß er neben einer begehrenswerten Frau sitzt. Die Bluse, die sie anhat, ist so weit geöffnet, daß sie den Blick auf die Ansätze zweier lockender Brüste freigibt. Der Lieutenant kann sich nicht erinnern, je ein Kostverächter gewesen zu sein. Und offensichtlich winkt ihm hier ein süßes 258
Abenteuer. Mrs. French kommt seinen Gedanken zuvor: »Ich habe in meinem Kühlschrank eine Flasche kalifornischen Sekt. Wenn Sie Lust haben, sind Sie herzlich eingeladen.« »Wer könnte denn da nein sagen«, scherzt Collin und ergänzt im stillen: Wenn du wüßtest, wie ich Lust habe! Als er sich Stunden später aus ihrer Umarmung löst, muß er sich gestehen, daß das aufregendste Liebesabenteuer seines Lebens hinter ihm liegt – und er hat auf diesem Gebiet schon einige Erfahrungen vorzuweisen. Doch nie hatte er eine Frau gehabt, die so wie Cathy die Kunst der Liebe beherrschte. Sie war ihm mit einer Selbstverständlichkeit entgegengekommen, die ihre Verschmelzung der Zufälligkeit enthob und ihn jede Sekunde bewußt erleben ließ; sie hatte ihn mit einer Raffinesse angestachelt, die ihn zum unbesiegbaren, triumphierenden Liebhaber werden ließ, und zugleich hatte sie es verstanden, ihrem Liebesrausch den Anschein der unschuldigen ersten Begegnung zu verleihen. Sie hatten sich ineinander verbissen, sich wie im furchtbaren Kampf im Bett gewälzt, mitgerissen vom Feuerstrom ihrer Begierden – und Cathy hatte ihn angefeuert, sie immer wieder zu nehmen, in sie einzudringen, sie zu besiegen. Ob er sich an diese Frau verloren hatte? Collin setzt sich auf die Bettkante und streichelt über ihren Kopf. Noch fühlen sich ihre Haare und ihre Stirn feucht an, die Leidenschaft hatte diese Zeichen auf ihrem Körper hinterlassen. »Cathy, du hast mich besiegt«, murmelt er. »Ich wollte es, ich wollte dich einmal haben – wenigstens einmal.« »Du wirst mich noch oft haben.« »Ich glaube es nicht – denn ich muß dir etwas sagen. Auch ich 259
bin in den Fall Joan Dhiser verwickelt.« Collin wird plötzlich hellwach. Er nimmt die Hand von Cathys Haar. »Du? Das ist wohl ein schlechter Scherz.« »Es ist kein Scherz. Bob Rint war – mein Mann. Als er mich verließ, habe ich wieder meinen Mädchennamen angenommen. Aber ich war einmal Mrs. Cathy Smith.« Der Lieutenant sitzt wie erstarrt. Er bemüht sich, seine Gedanken zu ordnen. Da war doch ein Brief – richtig, der Drohbrief im Schrank von Bob Rint. »Bist du etwa ›Honey‹?« »So hat er mich genannt.« »Dann ist der Brief, in dem ihm mit dem Tod gedroht wurde, von dir?« »Ja, er ist von mir. Doch die Drohung war nicht ernst gemeint. Ich wollte nur mein Geld zurück. Ich wollte wiederhaben, was er mir gestohlen hatte.« »Und hast du es bekommen?« »Nein – aber er versprach mir, das Geld zu beschaffen. Er sagte, er erwarte eine größere Summe.« »Cathy – das darf doch nicht wahr sein. Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?« »Ich wollte dich haben – und ich hoffte, du würdest mir danach eher glauben als vorher. – Ich sage dir die Wahrheit: Ich habe ihn nicht umgebracht.« »Aber du hast ein Motiv. – Das erste Motiv, das für uns – für die Polizei – greifbar ist. Und du hattest Gelegenheit, das Gift in die Flasche zu tun.« »Bitte glaube mir! Sag mir, daß du mich nicht für die Mörderin hältst.« Collin atmet tief. Was soll er antworten? Sein Gefühl zieht ihn zu dieser Frau. Aber zugleich spürt er Argwohn. Hat sie deshalb 260
mit ihm geschlafen? Wollte Sie ihn betäuben? Ihn unsicher machen? Er schlägt die Bettdecke zurück und legt sich neben sie. Er nimmt sie in die Arme, küßt ihre Augen, ihre Lippen. »Cathy«, sagt er dann. »Ich weiß nicht, ob ich dir glauben kann. Aber ich will es versuchen. Der Inspector soll entscheiden.«
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XV. Als Collin am nächsten Morgen mit zehn Minuten Verspätung vor dem Schreibtisch seines Chefs Platz nimmt, läßt er die unabwendbare Bemerkung Jacklows, ob er neuerdings seine Überstunden im Bett verbringe, mit Gelassenheit über sich ergehen. Er ist sich ja sicher, daß er diesmal Trümpfe in der Tasche hat, die den Inspector die Unpünktlichkeit schnell vergessen lassen werden. Und außerdem hat er für seine Verspätung auch eine Erklärung. Also wartet er zunächst einmal geduldig, bis Jacklow seine Spottschelte angebracht hat. Dann lehnt er sich lässig zurück und sagt: »Ich bin etwas spät ins Bett gekommen.« »Nach meinem Wissensstand haben Sie das ›Globe-Theater‹ schon gegen zwanzig Uhr verlassen.« Der Lieutenant ist völlig verblüfft. Daran hätte er denken können. Es war damit zu rechnen gewesen, daß Jacklow herumhorcht. »Ich hatte den mir von Ihnen erteilten Auftrag so verstanden, daß ich so lange Nachforschungen anstellen soll, wie mir das richtig erscheint. Und an eine Ortsfestlegung ihrerseits kann ich mich auch nicht erinnern – Chef.« Diese absichtlich geschraubte Erklärung versöhnt Jacklow sofort. »Sie riskieren heute aber eine große Lippe. Mir scheint, Sie haben etwas in der Hinterhand.« Collin lehnt sich entspannt zurück. Gott sei Dank, der Sturm ist vorbei. »Jedenfalls habe ich einiges in Erfahrung gebracht…« »Ich weiß… daß Miß Whyler verschwunden ist. Übrigens ist die Dame bis jetzt nicht wieder aufgetaucht. Vor zehn Minuten – 262
als Sie vermutlich noch tief geschlafen haben – gab ich die Fahndung raus.« »Hoffentlich wird das Vögelchen bald gefunden… Ich glaube, Sie kann uns einiges singen…« »Wie meinen Sie das? – Vermutungen oder eine wirkliche Spur? – Mensch, Collin, lassen Sie sich doch nicht so mühsam die Würmer aus der Nase ziehen.« Der Lieutenant genießt seine Überlegenheit. »Chef, erinnern Sie sich an die Aussage des Hundedompteurs? – Julio heißt er, glaube ich. Er behauptete, gesehen zu haben, wie eine Frau aus der Seitentür von Blondies Büro kam…« »Richtig. Sie soll einen weißen Bademantel angehabt haben. – Die Aussage wurde heute vormittag hier protokolliert.« Jacklow sucht auf seinem Schreibtisch und nimmt dann ein Blatt Papier, das er Collin reicht. »Aber es hat sich herausgestellt, daß der Mann extrem kurzsichtig ist und seine Brille nicht auf hatte, als er die Gestalt sah. Seine Aussage ist also mit Vorsicht zu genießen. In einem Prozeß wird der Verteidiger einen solchen Zeugen spielend auseinandernehmen.« »Wir brauchen den Dompteur nicht mehr. – Denn es war tatsächlich eine Frau, die von Blondie kam – besser gesagt, ein Fräulein – Miß Peggy Whyler…« Collin hat sich den Satz absichtlich so aufgebaut. Ein bißchen Dramatik und Regie müssen bei einer solchen Enthüllung schon sein. Jacklow hat sich vorgebeugt. »Und wer hat Ihnen das geflüstert? Oder hat Peggy Whyler ein schriftliches Geständnis hinterlassen, bevor sie auf die große Flucht ging?« »Ich habe eine Zeugin, Chef – Mrs. French…« »Blondies Sekretärin?« 263
»Genau – und ich habe sie gleich mitgebracht, damit ihre Erklärung sofort protokolliert werden kann. – Mrs. French war übrigens auch der Grund für meine Verspätung«, fügt der Lieutenant listig hinzu. »Sie wissen ja, daß Frauen nicht immer rechtzeitig mit ihren Malarbeiten fertig werden.« Jacklow überhört diese nachträgliche Verteidigung geflissentlich. »Und Mrs. French hat Peggy gesehen?« »Gesehen nicht, Chef – aber Sie ging gestern trotz des roten Lichts in das Büro von Blondie, während der Direktor mit der Artistin im hinteren Zimmer seine Spielchen trieb – übrigens diente das Bett wohl häufiger diesem Zweck als dem Ausruhen und da sah sie den Bademantel von Peggy Whyler liegen…« »Aber Miß Whyler hat doch mit Jim Dhiser trainiert…« »Das behauptet er jedenfalls, unser guter Mr. Dhiser. – Und weil das nicht stimmen kann, traue ich dem Witwer nicht mehr.« »Doch wenn seine Angabe wirklich stimmt? – Es könnte ja sein, daß es eine andere Dame war, die ebenfalls solch einen weißen Bademantel trägt – und die vielleicht bewußt den Verdacht auf Peggy Whyler lenken wollte.« »Auf Peggys Bademantel ist ein ›P‹ gestickt, und gerade dieses ›P‹ hat Cathy – äh – ich meine, Mrs. French, gesehen.« Collins Versprecher hat Jacklow sichtlich amüsiert. Doch er verkneift sich eine Anspielung. »Hm, erscheint mir schlüssig – obwohl, ein hundertprozentiger Beweis ist das immer noch nicht. Wenn Blondie die Aussage verweigert und Dhiser bei seiner Behauptung bleibt, Peggy habe von sechzehn Uhr dreißig bis achtzehn Uhr dreißig mit ihm trainiert – dann wird uns das Gericht nicht folgen…« »Sie vergessen in diesem Zusammenhang eine Tatsache, Chef.« »…?« 264
»Die Lebensversicherung, die Jim Dhiser für seine Frau abgeschlossen hat. 250.000 Dollar sind kein Pappenstiel. Ich würde sagen, es wurden schon für geringere Beträge Ehepartner umgebracht… Was hat übrigens die Kontoüberprüfung ergeben?« »Ich erwarte jeden Moment den Bericht… Ja, die Lebensversicherung – bestimmt ein weiteres Indiz. Aber mehr eben auch wieder nicht.« »Ich würde das doch im Zusammenhang sehen. – Peggy hatte, davon sollten wir ausgehen, ein Verhältnis mit Blondie und zugleich mit Jim Dhiser. Beides sind ältere Männer und – verheiratet. Was also kann das Mädchen an ihnen gereizt haben? – Doch wohl nur ihr Geld! Und da ist eine Lebensversicherung über 250.000 Dollar eine nicht geringe Verlockung…« »Und wer von den dreien hat nun nach Ihrer Ansicht den Mord begangen?« Collin überlegt: »Blondie scheidet für mich aus. Er war sicher nur auf seine Schäferstündchen bedacht – übrigens nicht nur bei Peggy. Bleiben also Peggy und Dhiser. Und genau das ist der Punkt, wo auch ich zweifle. Peggy könnte nämlich leicht das Gift in die Flasche geschüttet haben. Den Direktor für eine solch kurze Zeitspanne abzulenken, während sie in seinem Büro war, traue ich ihr leicht zu. Oder Jim Dhiser hat das Büro betreten, während Peggy und Blondie im Hinterzimmer miteinander herumtobten…« Noch während Collin seine Theorien entwickelte, hatte Jacklows Telefon zu läuten angefangen. Der Inspector nimmt ab und hört interessiert zu. Der Lieutenant sieht, wie sich der Oberkörper seines Chefs aufrichtet – immer ein Zeichen dafür, daß Jacklow eine wichtige Nachricht verarbeitet. Dann legt Jacklow auf und lehnt sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck wieder lässig zurück. »Ich glaube, wir kommen langsam ans Ziel, Collin«, sagt er aufatmend. 265
»Die Dinge geraten in Fluß. – Das war die Nachricht über Dhisers Finanzen.« »Und…?« »Es sieht übel aus. – Dhiser hat in den letzten beiden Monaten große Summen abgehoben und darüber hinaus ungedeckte Schecks ausgestellt. Es laufen Pfändungsbeschlüsse – es scheint, daß sich unser Freund vor den Gläubigern kaum retten kann.« »Na also, das paßt doch alles nahtlos zusammen…« »Sie vergessen nur, Lieutenant, daß wir weder Dhiser noch Peggy den Giftbesitz nachweisen können. Im Gegenteil, das Gift wurde ja bei Bob Rint gefunden.« Diese Feststellung bringt Collin wieder auf den Boden der Tatsachen – und erinnert ihn an Mrs. French, die wohl immer noch in Jacklows Sekretariat sitzt. Etwas zurückhaltend gesteht er: »Es gibt da noch eine Neuigkeit, Chef.« Und schnell fügt er hinzu: »Ich glaube aber nicht, daß sie des Rätsels Lösung liefert…« »Was soll das, Collin? Ihnen schlägt wohl das Artistenmilieu zu Gemüt? Sie haben es doch nicht nötig, sich bei mir als Enthüllungskünstler zu profilieren…« Collin sinkt noch weiter in seinen Stuhl. »Es betrifft Mrs. French. – Mrs. French ist nämlich ihr Mädchenname. Als sie noch verheiratet war, hieß sie – Mrs. Catherine Smith…« »Smith?« Des Inspectors Stirn zieht sich in Falten. Er denkt angestrengt nach. »Smith ist ja kein ausgefallener Name. Aber sind wir ihm nicht schon einmal im Fall Joan Dhiser begegnet?« Jacklow greift sich die Akte und blättert darin. »Sie brauchen nicht nachzusehen, Inspector. Der Name Dan Smith steht in einem Paß, den ich Ihnen gestern nachmittag mitgebracht habe. Dan Smith war – Bob Rint.« Eine Sekunde hört man nur das Ticken der beiden 266
Armbanduhren. So still ist es auf einmal in dem Büro geworden. Plötzlich steht der Inspector abrupt auf, geht um den Schreibtisch herum und bleibt vor Collin stehen: »Und der bei Rint gefundene Drohbrief?« fragt er von oben herab. »Ist von – Mrs. French geschrieben!« »Sie wollten wohl wieder ›Cathy‹ sagen? Menschenskind, Lieutenant – Sie sind wohl von allen guten Geistern verlassen! Was Sie da tun, ist ja fast schon Begünstigung im Amt – oder Dummheit«, fährt Jacklow mit etwas weniger Lautstärke fort. »Sehen Sie das denn nicht? Diese gerissene Person enthüllt Ihnen zuerst angebliche und nicht beweisbare Beobachtungen über Peggy und Blondie, um Sie auf eine falsche Spur zu locken. Und dann, nachdem Sie mit Ihnen gepennt hat, erzählt sie Ihnen so nebenbei, daß sie mit dem Mordopfer verheiratet war und diesem vor kurzem einen Drohbrief geschrieben hat. Und Sie glauben auch noch, daß dies nur ein makabrer Scherz war…« »Sie hätte es mir ja nicht gestehen müssen…« »Daß ich nicht lache. Sie hat Ihnen mehr zugetraut, als in Ihnen steckt. Ihr Verstand sitzt seit gestern abend wohl zwischen den Beinen! – Denken Sie doch nach, was die Spurensicherung ergeben hat. Der Drohbrief ist mit einer Remington geschrieben worden. – Erinnern Sie sich noch, wie ich gestutzt habe, als Sie mir das sagten? Jetzt weiß ich, wonach ich in meinem Gedächtnis gekramt habe. Und Sie hätten es auch sehen müssen, wenn Sie gestern nicht nur Augen für Beine und Busen gehabt hätten. Eine solche Remington steht in Mrs. Frenchs Büro! – Geht Ihnen jetzt endlich ein Licht auf? Oder immer noch nicht?« Jacklow beugt sich über seinen Schreibtisch und angelt sich die Sprechanlage. Er gibt seiner Sekretärin mit hochrotem Gesicht den Auftrag, Mrs. French zu ihm zu führen. Als Blondies Vorzimmerdame durch die Tür tritt, geht er ihr entgegen. 267
»Hallo, Mrs. French. Ich hätte nie gedacht, daß wir uns so schnell wieder begegnen würden. Ehrlich gesagt – ich habe sie offensichtlich unterschätzt. Was Sie mit dem Lieutenant angestellt haben, verdient Bewunderung.« Cathy wirft einen schnellen Blick auf Collin, der mit einem resignierenden Schulterzucken reagiert. Dann setzt sie sich auf den Stuhl, den ihr der Inspector zuweist. Sie trägt einen schwarzen Hosenanzug, der ihre schlanke Figur besonders wirkungsvoll zur Geltung kommen läßt. Wären nicht ihre nicht zu übersehenden Brüste und die blonden Haare gewesen, hätte man denken können, es säße ein gutgebauter Mann vor den beiden Polizeibeamten. »Verzeihen Sie, wenn ich jetzt die Fragen stelle, Mrs. French. Und wenn diese etwas unangenehmer werden als die von Lieutenant Collin.« Die Angesprochene nickt nur. Sie fühlt, daß der Inspector, der sich ihr gegenüber gestern noch so leutselig gegeben hat, zu ihrem Feind geworden ist. »Wann haben Sie Ihren Mann zum erstenmal wiedergesehen?« »Als er sein Engagement beim ›Globe‹ antrat. Zwar hatte ich ihm den von Blondie ausgestellten Vertrag übersandt, aber da wußte ich noch nicht, wer sich wirklich hinter dem Pseudonym ›Bob Rint‹ verbarg – ja, mir war nicht einmal bekannt, daß es sich um ein Pseudonym handelte.« »Und wie gestaltete sich ihr Wiedersehen?« »Wie soll ich sagen… Wir waren beide überrascht.« »Und haben Sie sofort Ihre Forderung gestellt?« »Nein, erst später…« »Wann später?« »Ich kann das nicht mehr so genau sagen…« »Vielleicht, als Sie von dem Verhältnis zwischen Bob Rint und Joan Dhiser erfahren hatten?« 268
»Davon habe ich ziemlich bald nach seinen Auftritten bei uns gehört. Es war ja nicht zu übersehen. Also muß unsere erste Auseinandersetzung über das Geld danach gewesen sein.« »Und es gibt da keinen Zusammenhang?« fragt Jacklow lauernd. Dann fährt er mit knallharter Stimme fort: »Mrs. French. Ich behaupte, Sie haben Ihren ehemaligen Mann erst dann mit Ihren Forderungen konfrontiert, als Sie sich eingestehen mußten, daß er von Ihnen nichts mehr wissen wollte, weil er nur noch Augen für Joan Dhiser hatte. Sie waren eifersüchtig. Es ging Ihnen weniger um das Geld. Sie wollten Bob zurückhaben. Oder Joan Dhiser sollte ihn auch nicht haben. Und deshalb mußte er sterben – und Joan Dhiser mit ihm.« Mrs. French bemüht sich, das Zittern ihrer Hände, die sie krampfhaft in ihrem Schoß gefaltet hält, nicht sichtbar werden zu lassen. Fast unhörbar entgegnet sie: »Es hat wohl keinen Zweck, Ihnen das auszureden. Sie sehen mich ja schon als die Mörderin.« Jacklow weist diese Annahme zurück: »Ich stelle Hypothesen auf, die Sie widerlegen können. Aber offensichtlich fällt Ihnen das schwer.« »Ich habe Ihnen Material gegen Miß Whyler und Mr. Dhiser geliefert, das Sie anscheinend übergehen.« »Auch das wird überprüft. Und Mr. Dhiser und Peggy – wenn wir sie gefunden haben – werden dazu befragt werden. Aber auch zu diesen Punkten möchte ich – wenn Sie mir gestatten – Zweifel anmelden. Könnte es nicht sein, daß auch hier Ihre Eifersucht eine Rolle spielt? Vielleicht hätte Mr. Blondie manchmal Sie auffordern sollen, mit ihm in sein Spielzimmer zu kommen…« Mrs. French will entrüstet aufstehen. Doch sofort hat sie sich wieder in der Gewalt: »Mein Gott, wenn es das gewesen wäre. Mr. Blondie hat es oft genug versucht – doch ich eigne mich nicht dafür, in eine Galerie eingereiht zu werden. Mir geht es um 269
mehr…«, und sie wirft einen schüchtern-liebevollen Blick zum Lieutenant hinüber, der seine Erregung über die Verhörtechnik seines Chefs nur mühsam zügeln kann. »Können Sie das beweisen… Ich meine, daß Direktor Blondie auch Sie mit seinen eindeutigen Anträgen verfolgte?« »Muß ich das? Es gehört doch wohl nicht mit zu den Verdachtsmomenten und – entlasten würde es mich in Ihren Augen doch wohl keinesfalls.« »Zugegeben – aber es würde für mich das Bild, das ich mir bisher von dem Direktor gemacht habe, abrunden. – Übrigens, mich würde interessieren: Spielt Ihrer Ansicht nach Mr. Blondie in diesem Fall eine Rolle?« »Wie meinen Sie das – ob er irgendwie in den Mord verwickelt ist?« »Ich möchte mich da nicht festlegen. Antworten Sie nach Belieben. Schließlich ist Blondie eine der wenigen Personen, die nachweisbar Gelegenheit genug gehabt hätten, das Gift gefahrlos in die Flasche zu geben.« »Er hat es sicher nicht getan. Dazu wäre er…«, sie zögert, »zu feige gewesen.« »Und warum sollte er ausgerechnet den Ansager töten? Da gibt es doch wohl überhaupt keine Verbindung.« »Ich glaube nicht – obwohl…« Mrs. French bricht ab. »Obwohl…?« »Warum soll ich Ihnen das sagen? Sie werden wohl auch das als Ablenkungsmanöver abtun. – Bob Rint war in den letzten Wochen auffallend oft bei Mr. Blondie.« »Offiziell?« »Meistens offiziell – wenn Sie damit ausdrücken wollen, ob er den Weg über mich, die Sekretärin, wählte. Aber er kam auch schon manchmal durch die Seitentüre. Jedenfalls hörte ich zweimal seine Stimme durch die geschlossene Tür – auch da 270
leuchtete dann jedesmal das rote Licht auf.« »Sie haben gelauscht?« »Das war nicht nötig. Blondie und Dan, ich meine Bob, sprachen laut und erregt.« »Und worum ging es?« »Ich weiß es nicht. Das war nicht zu verstehen.« »Sie tischen uns lauter Dinge auf, die nicht zu beweisen sind, Mrs. French! Ihre eigene Situation verbessern Sie damit jedenfalls nicht…« »Das ist mir bewußt, Inspector…« Der Lieutenant hat bisher, wenn auch bebend, zugehört. Jetzt kann er sich nicht länger zurückhalten. »Sorry, Sir… Ich habe während meiner Ausbildung gelernt, daß sich die Polizei auch um die Entlastung eines Angeklagten zu kümmern hat. Sie aber sehen nur die Gelegenheit, Mrs. French auf die Anklagebank bringen zu können. Das finde ich nicht fair – auch wenn Sie mir Befangenheit vorwerfen werden.« »Und was etwa spricht für Mrs. French?« fragt Jacklow herablassend. »Daß sie selbst es war, die ihre Verbindung zu Bob Rint gestanden hat…« »Nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. – Nein, mein Lieber. Auch Sie machen es sich auf diese Weise zu leicht.« »Und Blondie? Sie haben zwar gefragt, ob er ein Mordmotiv gegenüber Bob Rint gehabt haben könnte – aber wie stand er zu Joan Dhiser? Vielleicht hatte er auch sie im Bett, und sie erpreßte ihn.« »Gut, fragen wir Mrs. French.« Jacklow wendet sich der Frau zu. »Hat unser Sonnyboy recht?« 271
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich nie etwas bemerkt.« »Tatsächlich? Diesmal keine unbeweisbaren Angaben, Mrs. French?« Der Zynismus Jacklows ist brutal. »Also: Blondie hatte auch nach Ihren Beobachtungen keinen Grund, Mrs. Dhiser umzubringen! – Wie sollte er auch«, fährt der Inspector mehr zu sich selbst sprechend fort, »schließlich ist er ja jetzt einer großen Attraktion beraubt. Er hat durch diese Ereignisse nur Schaden – auch wenn jetzt einige Tage lang der sensationslüsterne Mob in sein Theater strömen wird.« Mrs. French beugt sich vor: »Schaden – sagen Sie? Das trifft wohl nur bedingt zu. Mr. Blondie hat sich immer abgesichert.« »Abgesichert – wie meinen Sie das?« »Er hat eine Versicherung abgeschlossen – für den Fall, daß eine Darbietung während eines laufenden Programms ausfällt und nicht gleichwertig ersetzt werden kann…« Jetzt wird Jacklow neugierig: »Sie wollen damit sagen, daß der Direktor auch an dem Tod von Mrs. French verdient?« »Ich bin sicher… Ich habe ja die Versicherungspolice in meinen Akten.« »Und auf welche Summe lautet die?« »Bei Joan Dhiser – sie war ja die Zugnummer – auf dreihunderttausend Dollar.« Jacklow blickt zu Collin hinüber, der ein schadenfrohes Grinsen nicht unterdrücken kann. »Und das ist kein Witz, was Sie uns da erzählen?« »Warum sollte ich? Das ist ja endlich sogar beweisbar.« Das schrille Klingeln des Telefons läßt Mrs. French, die zuletzt sehr leise gesprochen hat, zusammenfahren. Jacklow nimmt ab: »Hallo… oh, Mr. Blondie, wie geht es? – Hat der Ansturm auf Ihre Kassen schon eingesetzt? Die Zeitungen sind ja heute voll vom Fall Joan Dhiser. Alle Schlagzeilen werben für Ihr Theater…« 272
Eine Pause entsteht. Offensichtlich läßt Jacklow jetzt den Direktor reden. Plötzlich aber fährt er auf: »Was haben Sie bekommen?… Von wem?… Kann ich mitschreiben?… Einen Moment, ich suche Papier…« Fieberhaft wühlt der Inspector auf dem Schreibtisch. Dann findet er schließlich Papier und Kugelschreiber. Hastig schreibt er mit, was ihm Blondie offensichtlich am anderen Ende der Leitung vorliest. Dann lehnt er sich wieder in seinen Sessel zurück. »Geben Sie mir jetzt bitte den Sergeant, der Ihnen den Brief überbracht hat. – Ja, Sergeant, hier Inspector Jacklow, Mordkommission. Bitte bringen Sie mir den Brief in mein Büro… Ja, Polizeipräsidium, dritter Stock, Zimmer 335. Ich gebe Ihnen die Erlaubnis, mit Polizeisirene und Blaulicht zu fahren… Und, Sergeant, ich will Sie unbedingt persönlich sprechen, wenn Sie hier sind. Good bye.« Jacklow legt auf. Eine Minute lang atmet er hörbar durch. Dann wendet er sich an Mrs. French. »In unserem Fall ist eine neue Entwicklung eingetreten, die ich unbedingt schnell mit dem Lieutenant durchsprechen muß. Darf ich Sie deshalb bitten, nochmals für einige Minuten im Sekretariat Platz zu nehmen?« Als Blondies Sekretärin das Zimmer verlassen hat, wendet sich Jacklow mit der soeben niedergeschriebenen Notiz in der Hand Collin zu. »Die Situation wird immer verwirrter, statt sich aufzuklären. Bob Rint hat einen Abschiedsbrief geschrieben. Er war an die Direktion des ›Globe‹ adressiert, und Blondie hat ihn gerade erhalten. Ich will Ihnen den Text vorlesen…« Der Inspector bemüht sich sichtlich, seine eilige Niederschrift zu entziffern: »Da mich Joan verlassen hat, sehe ich keinen Sinn mehr in meinem Leben. 273
Aber sie soll auch keinem anderen gehören. Noch einmal wird man unser beider Namen zusammen lesen: in den Meldungen über unseren Tod! Bob Rint« Jacklow legt das Blatt auf seinen Schreibtisch zurück. »Sie haben ja gehört, daß ich gebeten habe, man solle mir den Brief sofort bringen. Der Sergeant muß in etwa zehn Minuten da sein.« Auch Collin ist nun aufgestanden. Langsam geht er zum Fenster und blickt einen Augenblick sinnend auf den gegenüberliegenden Wolkenkratzer. Dann fragt er: »Soll das nun wirklich alles gewesen sein? Der Selbstmord eines eifersüchtigen Liebhabers, der zugleich seine Geliebte mit in den Tod nimmt? Sie elendiglich ertrinken läßt?« Jacklow tritt hinter den Lieutenant: »Es hätte so sein können. Noch gestern hätte ich das wahrscheinlich auf Anhieb geglaubt. Gestern – als Jim Dhiser mir erzählte, daß seine Frau zu ihm zurückgekehrt sei, daß sie Bob Rint endgültig verlassen habe. Aber was wir heute erfahren haben, läßt mich dieser einfachen Lösung mißtrauen. Die Lösung ist zu elegant, zu simpel.« »Aber, Chef, vielleicht sehen wir wirklich nur die Komplikationen. Was heißt es schon, daß Dhiser und Blondie jeweils eine Versicherung auf Joan Dhiser abgeschlossen haben? Gerade weil sie es beide unabhängig voneinander taten, müßten wir doch davon ausgehen, daß diese doch nicht so ungewöhnliche Vorsichtsmaßnahme absolut nichts mit dem Tod an Bob Rint und der Artistin zu tun hat…« »Und die anderen Vorgänge sind für Sie auch normal? Das Verschwinden von Peggy Whyler, ihre Schäferstündchen mit Direktor Blondie, das dramatische Wiedersehen von Bob Rint mit der von ihm verlassenen und betrogenen Frau… ihrer, äh, 274
Mrs. French…?« »Eines stimmt zwar mit dem Selbstmordbekenntnis überein: daß wir im Zimmer von Bob Rint das Gift gefunden haben…« »Ich habe hier den Laborbericht.« Jacklow greift sich vier zusammengeheftete Blätter von seinem Schreibtisch: »An der Flasche waren keine Fingerabdrücke zu entdecken… Und da frage ich Sie: Hätte es Bob Rint nötig gehabt, seine eigenen Spuren zu verwischen?« Collin wird nachdenklich: »Zugegeben… Aber…« »Was, aber? – Es gibt keine Begründung für den Selbstmord. Schon allein deshalb nicht, weil ja Bob noch am Nachmittag mit Joan zusammen war, wie wir wissen – und da soll er sich und sie dann am Abend umbringen?« »Vielleicht gibt gerade das die Erklärung… Ich meine, daß Joan in Rints Wohnung gekommen ist. Möglicherweise stimmt ja der Hinweis Dhisers, daß seine Frau Bob Rint noch einmal die Endgültigkeit ihrer Entscheidung klarmachen wollte…« »… und prompt mit ihm geschlafen hat?« unterbricht der Inspector spöttisch. »Tut mir leid, Chef. Ich finde das nicht so ungewöhnlich. Joan wäre sicher nicht die erste Frau gewesen, die sich von einem Geliebten damit verabschiedet, daß sie nochmals mit ihm schläft. Frauen haben ja manchmal so etwas Masochistisches an sich. Einerseits wollen sie sich quälen und sich beweisen, daß sie wirklich Opfer bringen, andererseits wollen sie dem Mann zum letztenmal demonstrieren, was er verliert…« »Sie scheinen ja über eine Menge einschlägiger Erfahrungen zu verfügen, Lieutenant.« Jacklow nimmt die Sache offenbar von der heiteren Seite. Collin ärgert sich: »Vielleicht sollten Sie sich darüber besser mit einem Psychiater unterhalten, Sir.« »Seien Sie doch nicht gleich eingeschnappt, Mike«, besänftigt 275
der Inspector. »Dieser Fall ist verwickelt genug. Da wird es doch erlaubt sein, wenn man nicht alles so bierernst nimmt. – Aber damit Sie getröstet sind: Ich finde Ihren Hinweis selbstverständlich wichtig und einer Nachprüfung wert.« Sofort ist der Lieutenant wieder versöhnt. Er fragt sich im stillen selbst, warum er heute gegen Jacklow so voreingenommen ist. Hängt es etwa mit des Inspectors Verhalten gegenüber Cathy zusammen? Die Tür zum Sekretariat wird geöffnet, und Jacklows Sekretärin erscheint: »Sir, da ist ein Sergeant, der Ihnen einen Brief überbringen soll…?« »Herein mit ihm!« ruft Jacklow aufgeregt. Ein kleiner, etwas untersetzter Mann tritt ein; es ist ihm anzusehen, daß er von der Wichtigkeit seiner Mission überzeugt ist: »Sergeant Fielding, Inspector. Sie wollten diesen Brief.« Und eilfertig setzt er hinzu: »Ich hoffe, ich komme noch zur rechten Zeit. Jedenfalls habe ich mich beeilt…« Er fühlt sich wohl als Gottes Sendbote, fährt es Collin durch den Sinn. Jacklow nimmt gelassen das Kuvert und entfaltet es: »Wir sind weit davon entfernt, bald die Lösung des Falls parat zu haben, Sergeant«, äußert er dabei lässig. »Sie wären auch noch in Stunden zu früh dafür gekommen.« Fielding sinkt merklich zusammen. »Aber ich bin natürlich dankbar, daß Sie so schnell hier waren. Denn sicher wird uns dieser Brief einen entscheidenden Schritt vorwärtsbringen.« Das ist seine Masche, denkt der Lieutenant. Die Leute zuerst auf ihren wirklichen Wert reduzieren und sie dann wieder motivieren. Inzwischen hat Jacklow aus dem Umschlag den Brief entnommen und ihn entfaltet. »Es haben ja bestimmt inzwischen so viele mit diesem Papier herumhantiert, daß meine zusätzlichen Fingerabdrücke auch nichts mehr verwirren 276
können.« Er liest. »Hier, Lieutenant. Der Text mit Schreibmaschine geschrieben und dann die Unterschrift daruntergesetzt. Kein Datum.« Jacklow hält seinem Assistenten das Blatt Papier vor die Nase. »Fällt Ihnen etwas auf, Lieutenant?« Jetzt will er mich testen, denkt Collin und bemüht sich, einen Ansatzpunkt zu erkennen. Doch es ist Jacklow auch zuzutrauen, daß er eine solche Frage nur aus Jux und Tollerei stellt – ohne selbst etwas von Wichtigkeit erkannt zu haben. »Ich finde nichts außergewöhnlich daran, Chef – wenn man von der Form absieht. Ein mit Schreibmaschine getippter Abschiedsbrief… Ein bißchen unkonventionell, finden Sie nicht?« »Kann ich schlecht sagen, Collin. Ich befand mich noch niemals in einer solchen Situation«, schmunzelt Jacklow. »Aber sehen Sie einmal. Der Umschlag hat eine längliche Form. Der Brief hingegen ist so gefaltet, als sollte er ursprünglich in ein konventionelles schmales Kuvert gesteckt werden.« »Richtig, Chef.« Collin ärgert sich. Die Blamage hätte er sich vor dem Sergeant ersparen können. Na, jedenfalls soll sich erst einmal das Labor mit diesen beiden Beweisstücken beschäftigen… »Sally! Kommen Sie bitte.« Jacklow hat sich über die Sprechanlage gebeugt. Die Sekretärin tritt sofort ein. »Bitte bringen Sie dies ins Labor. Ich brauche einen vorläufigen Eilbericht. Welche Schreibmaschine, ob die Unterschrift echt ist und Fingerabdrücke… Na, und was denen sonst noch einfällt…« »Okay, Sir.« Als sich die Tür hinter der Sekretärin wieder geschlossen hat, 277
tritt Jacklow zu dem Sergeant: »Und nun erzählen Sie mal, wie Sie zu diesem Brief gekommen sind.« »Sir, ich habe hier bereits meinen Bericht mitgebracht.« Der Sergeant greift diensteifrig in seine Uniformjacke. »Ich will jetzt nicht lesen«, winkt Jacklow mißmutig ab. »Ich will, daß ich das Wichtige schnell von Ihnen erfahre – mündlich.« Sergeant Fielding ist verblüfft. Ein Vorgesetzter, der keinen schriftlichen Bericht will? Na ja, jeder hat so seine besonderen Macken. »Ich wurde heute morgen in das Central Community Hospital gerufen. Dort hat man vorgestern gegen dreiundzwanzig Uhr einen Jungen eingeliefert… Einen Streuner. Sie kennen ja diese Burschen, die kein Zuhause haben und heute in dieser Ruine, morgen in jenem Schuppen übernachten und größtenteils vom Diebstahl leben. Er war brutal zusammengeschlagen worden… Eine Polizeistreife hatte ihn bewußtlos gefunden und ihn ins Krankenhaus eingeliefert. Als er gestern abend wieder zu sich gekommen ist, bat er die Krankenschwester, den Brief aus seiner Jacke zu nehmen und ihn abzuliefern – er war ja ans ›GlobeTheater‹ adressiert.« »Weiß ich«, drängt Jacklow. »Aber anscheinend war die Dame nicht so sehr von der Wichtigkeit des Briefes überzeugt… Na ja, was soll so ein Bursche schon Dringendes mit sich führen?… Jedenfalls muß der Junge sein Anliegen heute morgen bei der Visite wohl nochmals dem Arzt vorgetragen haben – der hat es dann endlich der Verwaltung gemeldet und die dort haben unser Polizeirevier angerufen. Man hat dann mich beauftragt, der Meldung nachzugehen… ich bin nämlich der Dienstälteste auf der Station.« Diesen Hinweis mußte Fielding anbringen, jetzt ist ihm wohler. Er lauert. Doch Jacklow und der Lieutenant lassen nicht erkennen, ob sie 278
die Bedeutung dieser Mitteilung auch richtig zu würdigen wissen. Sie warten offensichtlich darauf, daß der Sergeant mit seinem Bericht fortfährt. Dieser unterdrückt seine Enttäuschung – diese aufgeblasenen Schreibtischhengste, denkt er – und beschließt, weiter zu berichten: »Als ich die Adresse des Briefes las, fiel mir sofort ein, daß ich heute morgen von dem Mordfall im ›Globe-Theater‹ gelesen hatte. Ich vermutete also, daß es sich um eine wichtige Nachricht handeln könne.« »Und mit dem Jungen haben Sie nicht gesprochen?« unterbricht Collin. »Aber was denken Sie denn von mir, Lieutenant. Ich wollte es gerade erzählen. – Also, das Kind… es ist gerade vierzehn Jahre alt… ist übel zugerichtet. Noch ein paar mehr von den Schlägen, die er abbekommen hat, und er wäre hinüber gewesen. Er konnte kaum sprechen – bei den vielen Zähnen, die ihm ausgeschlagen worden waren.« »Was erfuhren Sie, Sergeant… Bedenken Sie, wir haben es mit einem Doppelmord zu tun.« Jacklow wird ungeduldig. Das sind vielleicht Ignoranten, beruhigt sich Fielding im stillen. Da haben Sie endlich mal einen Polizeibeamten vor sich, der auf jede Kleinigkeit achtet, und dann trifft man auf solch oberflächliche Kollegen. Die hätte ich gerne mal als blutige Anfänger in meinem Dienstbereich. Denen würde ich schon die Flötentöne beibringen. Aber mich werden die nicht aus der Ruhe bringen. »Wie gesagt, der Junge konnte kaum sprechen«, betont er nochmals. »Sein Gestammel war schlecht zu verstehen. Doch es gelang mir, alles zu rekonstruieren. Danach hat ihm ein Mann am Dienstag abend – also vorgestern – am Eingang des Lindblom Parks – Sie wissen sicher, das ist in der Nähe einer Station der B & O Central Railroad, wo sich oft lichtscheues Gesindel herumtreibt das Kuvert und gleichzeitig 50 Dollar 279
übergeben. Er solle den Brief sofort ins Theater bringen. Aber offensichtlich haben andere Herumstreuner dies beobachtet 50 Dollar sind ja in solchen Kreisen ein Vermögen – und ihm das Geld auf die brutalste Weise abgenommen. Sein Fehler war wahrscheinlich, daß er sich gewehrt und den Schein nicht freiwillig rausgerückt hat. Jetzt ist er nicht nur das Geld los, sondern liegt auch noch im Krankenhaus.« »Haben Sie sich den Mann beschreiben lassen?« Jacklow ist solche psychologischen Ausschweifungen nicht gewohnt. »Gewiß, Sir… Aber da ist nicht viel dabei herausgekommen. Der Mann trug einen schwarzen Anzug und einen hellen Hut.« »Haarfarbe?« Fielding stutzt. »Danach habe ich nicht gefragt«, meint er zunächst entschuldigend, doch nach einer kleinen Pause fährt er mit erhobener Stimme fort: »Inspector, wie soll die Haarfarbe zu erkennen gewesen sein, wenn der Mann doch einen Hut trug.« »Sie mögen recht haben«, pflichtet ihm Jacklow bei. »Doch fragen sollte man den Jungen bei Gelegenheit noch mal. – Und wann wurde der Brief übergeben?« »Auch danach habe ich mich selbstverständlich erkundigt. Aber solche Leute leben sorglos in den Tag hinein. Ich will sagen, der Junge hatte keine Armbanduhr. Er kann also nicht genau sagen, wie spät es war, als er den Brief erhielt. Er kann sich nur erinnern, daß es schon dunkel war. Aber was besagt das schon. Um diese Jahreszeit ist es in Chicago bereits um neunzehn Uhr schon stockduster.« »Bereits um neunzehn Uhr«, wiederholt Jacklow sinnend, dann geht er auf den Sergeant zu. »Sie haben gute Arbeit geleistet. Ich werde das Ihren Vorgesetzten wissen lassen. – Sie können damit rechnen.« Der Angesprochene fühlt sich sichtbar geschmeichelt. Fast hätte er die Hacken zusammengeschlagen. Aber dem kommt der 280
Inspector zuvor, indem er dem Sergeant auf die Schulter klopft: »Bitte geben Sie Ihren Bericht meiner Sekretärin. Und – nochmals vielen Dank.« Fielding marschiert aus der Tür. Mehr denn je zuvor von seiner Wichtigkeit überzeugt. »Na, Collin, was sagen Sie?« Der Lieutenant zuckt mit den Schultern. »Bob Rint jedenfalls scheint den Brief nicht übergeben zu haben… Er war ja spätestens ab neunzehn Uhr im Theater.« »Genau dasselbe habe ich mir auch überlegt. Und das ist das Perfide an dieser Sache. Wäre der Junge nicht wegen des Geldes zusammengeschlagen worden, hätte Blondie den Brief mit Sicherheit noch am gleichen Abend, also während der Vorstellung oder kurz danach bekommen. Der Ansager und Joan Dhiser wären dann nicht mehr zu retten gewesen. Wir wären gekommen, hätten den Brief erhalten und später die Giftflasche in Bob Rints Schrank gefunden. – Beweis hätte sich an Beweis, Indiz an Indiz gefügt – und der Fall wäre von uns als glatter Selbstmord abgelegt worden -, nie hätten wir den Jungen gefunden. Der hätte wahrscheinlich den Brief bei Sam an der Loge abgegeben und wäre danach auf Nimmerwiedersehen verschwunden.« »Aber wer war der Mann, der den Auftrag erteilte…?« Jacklow wird ernst: »Collin, bestimmt muß ich Ihnen jetzt sehr nahe treten. Haben Sie wirklich keine Augen mehr im Kopf? – Was trägt ein Mann?« »Einen Anzug – was sonst?« »Richtig. Aber ein Anzug ist längst kein ausschließlich männliches Kleidungsstück mehr – geht Ihnen ein Licht auf?« Collin erbleicht: »Sie meinen… Mrs. French? Sie glauben wirklich – sie hat… Chef, das kann nicht Ihr Ernst sein…« »Überlegen Sie, Collin. Der Brief wurde bestimmt nicht um 281
neunzehn Uhr übergeben. Dann hätte nämlich die Gefahr bestanden, daß der Junge zu früh ins Theater kommt. Ich schätze, vor zwanzig Uhr lief die Übergabe nicht. Und etwa um diese Zeit geht doch – wie ich von Ihnen selbst erfuhr – Mrs. French nach Hause…« »Das ist ein unglückliches Zusammentreffen… Bestimmt, Inspector!« »Und ihre Drohung an Bob Rint?« »Gegenfrage: Woher soll sie das Gift bekommen haben?« »Das werden wir auch noch erfahren, Collin…« Die Tür öffnet sich, und die Sekretärin kommt mit einem Fernschreiben, das sie Jacklow aushändigt. »Sie sollten es sofort lesen, Sir…« Jacklow überfliegt die Zeilen und läßt dann erschüttert den Arm mit dem Telex sinken. Collin blickt ihn fragend an. »Der Erfolg meiner Fahndungsmeldung, Lieutenant. Im Sunshine Motel an der Indiana Toll Road – es muß kurz vor Portage sein – ist eine Frau ermordet aufgefunden worden – Miß Peggy Whyler!« Collin reißt dem Inspector das Telex aus der Hand und liest es mit steigender Erregung. Dem Bericht zufolge ist die Artistin erstochen worden. »Das dritte Opfer…«, sagt Jacklow schließlich. »Hätten wir das nicht verhindern können?« »Ich glaube nicht, Chef«, tröstet Collin. »Dieser Fall ist nicht so einfach in den Griff zu kriegen. Jedenfalls wissen wir jetzt wenigstens definitiv, daß wir den Selbstmord von Bob Rint nicht weiter verfolgen brauchen – denn es gibt einen Mörder… einen, der noch lebt und der auch Miß Whyler erstochen hat.« Dann überlegt Collin kurz und erklärt triumphierend weiter: »Übrigens, auch Mrs. French kommt damit aus Ihrer Schußlinie. Schließlich war sie – das will ich jetzt gern gestehen – heute 282
nacht mit mir zusammen…« »Ich habe es eh vermutet, Mike.« Jacklow nickt seinem Assistenten ermunternd zu. »Bei Ihrem Engagement… Aber so ganz ist Ihre Herzdame noch nicht entlastet. Sie kann ja schließlich einen Komplizen oder eine Komplizin haben. – Doch jetzt an die Arbeit. Ich schlage vor, Sie fahren zu Miß Whylers Apartment und suchen ein bißchen gründlicher als das letztemal – und ich werde raus nach Portage eilen und mir selbst ein Bild von dem Mord machen.« »Okay, Sir.« Collin will schon zur Tür eilen. »Noch etwas, Mike. Sie würden Mrs. French sicher einen großen Dienst erweisen, wenn Sie sie dazu bewegen könnten, hierzubleiben… Sie ist nicht verhaftet, o nein… Aber ich möchte später keine Spekulationen anstellen müssen, wo sie an diesem Nachmittag war.«
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XVI. Noch einmal fährt Lieutenant Collin die Strecke zur Mozart Street im Nordosten Chicagos – und wieder denkt er bewundernd, als er vor Mrs. Vanhuisens Pension steht: Einen guten Geschmack hat die Puppe. Erst dann fällt ihm ein, daß er ja jetzt in der Vergangenheit zu sprechen hat – von dem Geschmack, den Peggy Whyler entwickelt hatte. Sie mag ja ein Luder gewesen sein – aber so hätte sie nun auch wieder nicht enden müssen. Er geht den gekiesten Weg bis zur edlen Eingangstür – fast fühlt er sich hier schon zu Hause. Diesmal braucht er nicht lange zu warten, bis ihm geöffnet wird. Er erkennt das Mädchen sofort wieder. »Ich hoffe, ich habe vor zwei Tagen einen so unauslöschlichen Eindruck hinterlassen, daß ich mich nicht noch einmal vorstellen muß«, sagt er leichthin. Die Rothaarige, die vorgestern nacht so verschlafen aus dem Bett gekommen war, um ihm zu öffnen, ist jetzt hellwach. Zuerst mustert sie den vorlauten Besucher etwas abschätzend, dann verziehen sich ihre leicht lila geschminkten Lippen zu einem spöttischen Lächeln: »Aha, der Polizist… Sie müssen sich in der Zeit geirrt haben… Es ist noch früh am Nachmittag.« »Der Lieutenant – Lieutenant Collin«, verbessert Michael mit sichtlicher Betonung. »Früher wußten die Mädchen den Rang eines Uniformierten richtig einzuschätzen. – Ich möchte Mrs. Vanhuisen sprechen.« »Bitte, wenn Sie noch einen Moment im Büro Platz nehmen würden. Sie kennen sich ja schon aus.« Wieder setzt sich Collin in den breiten Sessel – und wieder muß er nicht lange warten, bis Mrs. Vanhuisen herbeieilt. Für 284
ihre Fülle ist sie ungewöhnlich behend. Mit gequältem Blick kommt die Pensionsbesitzerin auf den Lieutenant zu. »Schon wieder Polizei? – Handelt es sich auch diesmal um Miß Peggy Whyler?« Collin bestätigt es und fährt fort: »Aber diese Belästigungen hören jetzt bestimmt auf. Miß Whyler ist nämlich – tot.« »Tot? – Mein Gott, ist sie abgestürzt? – Ich habe ihr immer geraten, nur mit dem Netz zu arbeiten. Aber Mr. Dhiser war es wohl, der dies strikt ablehnte…« »Auch ein Netz hätte ihr nicht geholfen, Mrs. Vanhuisen. Miß Whyler ist nämlich ermordet worden.« Collins Gegenüber wirft die Arme in die Luft und ringt theatralisch die Hände: »Mon Dieu… Ermordet? Und das jemand aus meiner Pension! Wenn das bekannt wird…« »Es hat nichts mit Ihrem Haus zu tun, Mrs. Vanhuisen… Es braucht auch nicht bekannt zu werden, daß Miß Whyler hier wohnte… Das heißt«, Collin wiegt seine Worte sehr sorgfältig ab, »wenn Sie mich bei meinen Nachforschungen unterstützen und wir den Fall schnell abschließen können.« »Aber sagen Sie, wie ich Ihnen helfen kann… Mr.?« »Lieutenant Collin, Madam.« Der Beamte fühlt, daß diese Anrede hier willkommen ist. Und in der Tat, Mrs. Vanhuisen umfängt ihn und drückt ihn an ihre Brust: »Lieutenant, wir verstehen uns… Was wollen Sie wissen?« »Ich würde mich zunächst gern mit Ihrer Telefonistin unterhalten und dann das Zimmer von Miß Whyler untersuchen… Es kann ja sein, daß ich einen Anhaltspunkt finde… Denn, ehrlich gesagt, wir tappen bislang noch im dunkeln.« »Ich rufe Ihnen Sue. Sie arbeitet in der Telefonzentrale – fast rund um die Uhr. Es ist wohl besser, sie kommt hierher ins Büro – wir wollen doch alles so unauffällig wie möglich abwickeln. 285
Und danach kann Liz – das ist das Hausmädchen, das Ihnen geöffnet hat – Sie in das Zimmer von Miß Whyler führen… Einverstanden?« Collin nickt. Kaum ist Mrs. Vanhuisen nach draußen gegangen, kommt sie auch schon wieder herein. In ihrem Schlepptau eine Eurasierin. »Das ist Sue. Und das«, sie wendet sich dem Lieutenant zu, »ist Mr. Collin. Er hat einige Fragen, Sue, die Sie beantworten sollen.« Der Lieutenant steht auf und geht zu der Telefonistin. »Es betrifft Miß Whyler. Ich wüßte gerne, ob und wann sie gestern Anrufe erhalten hat.« Das Mädchen nimmt ein Buch, das sie bisher in der linken Hand gehalten hat, und blättert darin: »Jedes Telefongespräch ist hier eingetragen…« »Ich lege darauf besonderen Wert«, wirft Mrs. Vanhuisen stolz ein. »Die Seriosität meines Hauses erfordert dies.« Collin murmelt nur: »Ich verstehe, Madam…« »Ja«, das Mädchen, das bisher schweigend seine Aufzeichnungen durchgegangen ist, hält plötzlich inne. »Hier war ein Anruf für Miß Whyler. Gestein nachmittag siebzehn Uhr siebenundvierzig…« »Haben Sie den Anruf entgegengenommen?« Als das Mädchen zustimmend nickt, fährt Collin fort: »War es ein Mann oder eine Frau?« »Es war ein Mann… Er hat seinen Namen nicht genannt, aber er hat öfter angerufen… Die Stimme war mir bekannt.« »Wird auch festgehalten, wenn Ihre Gäste selbst telefonieren?« »Nein, aber Diana liest täglich um sechzehn Uhr die Zähler ab«, schaltet sich Mrs. Vanhuisen in die Unterhaltung. »Sie 286
kann ja mal überprüfen, was seit gestern nachmittag angefallen ist.« »Das kann nicht schaden«, meint Collin. »Ich werde mich inzwischen oben umsehen.« Schon hat Mrs. Vanhuisen Liz gerufen. »Führen Sie bitte Mr. Collin in Miß Whylers Zimmer. Und bleiben Sie bei ihm. Der Lieutenant hat das Recht, das Zimmer zu durchsuchen.« »Danke, Madam.« Collin deutet sogar eine leichte Verbeugung an. Mit Speck fängt man Mäuse. Dann folgt er Liz. Miß Whylers Zimmer befindet sich im zweiten Stock. Es erweist sich als nicht übertrieben groß, aber es ist luxuriös und gleichzeitig gemütlich eingerichtet. Zwei große Fenster spenden genügend Helligkeit und Sonne. Collin geht zum Westfenster. Hinter den gegenüberliegenden Häusern sieht er Bäume. »Das ist der Horne Park«, erklärt Liz, die hinter ihn getreten ist. »Danke für die Fremdenführung«, lächelt Collin, »aber ich muß mich leider mehr um die Realitäten hier im Zimmer als um die Schönheiten draußen kümmern. Lassen Sie uns also beginnen.« Er fängt an, das Zimmer langsam und beobachtend abzuschreiten. Auf dem Nachttisch steht ein Foto von Jim Dhiser. Es zeigt den Artisten in seinem Bühnenkostüm. »War er oft hier?« fragt Collin wie nebenbei. »Der Drahtseilkünstler? Na ja, so ein- bis zweimal die Woche. Und dann wurde gefeiert…« »Was gefeiert?« »Ich mußte stets Champagner bringen… Unter dem tat sie es nicht.« »Sie wollen damit wohl ausdrücken, daß die beiden ein Verhältnis hatten?« »Das nehme ich wohl an. Weshalb hätte er sie sonst 287
besucht…?« »Aber etwas Konkretes haben Sie nicht bemerkt… Ich meine, daß die beiden wirklich miteinander im Bett waren?« »Wie sollte ich? Die Tür wurde ja sofort verschlossen, wenn ich den Champagner gebracht hatte.« »Und danach?« »Danach war alles aufgeräumt.« »Scheinen ja doch nur beruflich gewesen zu sein, diese Treffen…« »Wie soll ich das wissen?… Einmal, da haben sie sich gestritten. Sie schrien sich an. – Ich habe gerade im Gang den Schrank abgestaubt, deshalb konnte ich mithören. Er warf ihr vor, wegen ihr so viele Schulden gemacht zu haben…« »Und wie ging es weiter?« »Weiß ich nicht. Mrs. Vanhuisen rief mich nach unten.« Collin geht zum Schrank und öffnet ihn. Mit routinierten Griffen tastet er sich durch Schals, Blusen und Pullover. Als er die Unterwäsche abgreift, stutzt er plötzlich und nimmt einige Fotos und ein mit einem rosa Band umschnürtes Bündel Briefe hervor. Er öffnet das Band und sieht auf den Absender: »Ray Hardin, 23th Park Lane, Chicago« – liest er laut. »Hoppla, der Herr ist uns noch nicht bekannt«, kommentiert er dann mehr zu sich selbst. Es sind heiße Liebesbekenntnisse, die er lesen muß. Intimste Geständnisse, die von einer unbändigen Leidenschaft zeugen. Und – was er aus den Briefen ebenfalls entnehmen kann – auch Peggy schien in Ray ihren Traummann gefunden zu haben. Die Fotos bieten auf den ersten Blick keine neuen Erkenntnisse. Auf ihnen ist ausschließlich Peggy in den verschiedensten Posen zu sehen. Der Lieutenant öffnet den zweiten Schrank. Eng 288
zusammengedrängt hängen hier Peggy Whylers Kleider. Collin nimmt eins davon heraus und hält es Liz vor die Nase. »Was meinen Sie, was diese Creation gekostet hat?« Die Gefragte zuckt mit den Schultern: »Ich weiß nur, daß ich mir so etwas nicht leisten kann. Das ist nicht meine Gehaltsklasse…« »… aber auch nicht die Gehaltsklasse von Varietekünstlerinnen«, ergänzt Collin. »Vielleicht ist dieser Mr. Ray Hardin ein kleiner Krösus.« Er will das Kleid in den Schrank zurückhängen und schafft sich zu diesem Zweck eine Lücke zwischen den Kleidern. In diesem Augenblick sieht er auf dem Boden des Schrankes etwas liegen, das ihn zunächst stutzen läßt. Dann greift er aufgeregt danach und – hält einen Hut in der Hand. Obwohl er wie ein Herrenhut aussieht, ist er aber offensichtlich für eine Dame bestimmt. Die weiche Flanellqualität verrät es. Und der Hut ist – cremefarben. Fast hätte der Lieutenant einen Luftsprung vollführt. Gerade noch rechtzeitig aber besinnt er sich darauf, daß er nicht allein ist. So sagt er nur: »Der Chef wird Augen machen…« Dann wendet er sich an Liz, die ihm staunend, aber offensichtlich verständnislos zugesehen hat: »Ich bin fertig. Und es hat sich gelohnt.« Unten in der Halle angekommen, wirft er noch einen Blick in die Telefonzentrale. Diana hat ihn schon erwartet: »Miß Whyler hat seit gestern sechzehn Uhr nur einmal telefoniert. Ein Ortsgespräch.« »Danke«, ruft ihr der Lieutenant zu. Und wendet sich wieder Liz zu: »Bestellen Sie Mrs. Vanhuisen meine Empfehlung. Ich werde mich bemühen, möglichst nicht wieder zu kommen.« Draußen im Polizeiwagen weist er den Chauffeur an: »Zur Park Lane… aber dalli.« 289
XVII. Das Sunshine Motel trug seinen Namen zu Unrecht. Von der Atmosphäre, die der Hinweis auf den ›Sonnenschein‹ suggerierte, war nicht viel zu spüren. Von außen vermittelte das gesamte Anwesen sogar einen mehr als abstoßenden Eindruck. Jacklow hätte dort jedenfalls nicht übernachten wollen. Zu seinem Urteil mochte aber auch beigetragen haben, daß ein penetranter Geruch den Parkplatz des Geländes überzog. Der Inspector ließ sich von dem ihn erwartenden örtlichen Polizisten erklären, daß gestern nachmittag in der Einfahrt zum Motel ein Odelwagen ausgelaufen sei. »Es wird wohl noch einige Tage dauern, bis sich der Gestank verzogen hat«, meinte abschließend der Beamte, bevor er Jacklow in das Apartment 7 führte. Dort herrscht noch geschäftiges Treiben. Vier Spurensicherer nehmen ihre Aufgabe offenbar sehr ernst. Der Polizeiarzt klappt gerade seine Tasche zu. »Können Sie schon etwas sagen?« fragt ihn Jacklow. »Die Todesursache steht einwandfrei fest. Sehen Sie selbst.« Der Arzt geht voraus in das angrenzende Schlafzimmer. Jacklow bleibt in der Tür stehen. Peggy Whyler liegt quer über dem breiten Bett. Die Kissen sind zerwühlt, das Bettlaken ist halb weggerissen. Sollte Peggy einst schön gewesen sein, so ist jetzt nichts mehr davon zu sehen – denkt der Inspector. Peggy ist nackt, ihr Körper blutverschmiert, ihr Mund qualvoll aufgerissen; die Augen blicken auch jetzt noch, in ihrer Starre, entsetzt. So, als könnte das Mädchen das grausame Geschehen nicht begreifen. »Sie ist erstochen worden – mit diesem Messer.« Der Arzt hält Jacklow ein spitzes Küchenmesser hin. »Es gehört zur Ausstattung des Apartments…« 290
»Sie muß doch geschrien haben. Hat jemand in den angrenzenden Räumen etwas bemerkt?« »Ich glaube, ihr Mörder hat ihr mit diesem Kissen den Mund zugehalten. Er muß über beachtliche Kräfte verfügen, denn die Frau hat sich offensichtlich verzweifelt gewehrt. Doch sie hatte keine Chance mehr, beide Stiche trafen genau das Herz.« Der Inspector wendet sich ab. Wie oft hat er solche Anblicke schon aushalten müssen… Und doch, die Brutalität, mit der in diesen Fällen der Tod gewaltsam herbeigeführt wird, berührt ihn immer wieder. In diesen Augenblicken weiß er, warum er seinen Beruf ergriffen hat und warum er in ihm eine Berufung sieht. Mörder dürfen nicht frei herumlaufen, sie müssen ihrer Bestrafung zugeführt werden. Jacklow geht in das Wohnzimmer zurück: »Irgend etwas, was ich noch wissen müßte?« fragt er seinen Kollegen, der die Untersuchung leitet. »Ich glaube, ja. – Wir haben ein Feuerzeug gefunden und diese Fotos.« Jacklow nimmt zuerst die fünf Fotos. Es sind Aktaufnahmen; sie zeigen ein Paar in eindeutigen Posen. Die Frau ist Peggy Whyler und ihr Partner – Mr. Blondie. Der Inspector pfeift durch die Zähne. »Da sieh mal einer an. Unser lieber Direktor als Lustknabe… Wo waren die Fotos?« »In ihrem Koffer, in einem Seitenfach. Nicht sofort zu finden.« »Meinen Sie, der Mörder hat danach gesucht – oder nach anderen Dingen?« »Das ist schwer zu sagen. Es war nichts in Unordnung. Aber ich möchte annehmen, daß zumindest der Koffer durchwühlt wurde… Genaues wird aber erst die Auswertung der Spuren ergeben…« Jacklow nimmt das Feuerzeug und betrachtet es. Es handelt 291
sich um ein elegantes Dunhill-Modell. Der Inspector wendet es in seinen Händen und stutzt plötzlich. Auf dem Boden sind drei Buchstaben eingraviert: M. W. B. »Mark W. Blondie«, entschlüsselt Jacklow halblaut. »Wie bitte?« fragt sein Kollege. »Ich habe wohl mit mir selbst gesprochen«, weicht Jacklow aus. »Bitte, geben Sie mir diese Beweisgegenstände mit. Ich quittiere Ihnen natürlich dafür – sie werden mir helfen, einem alten Genießer einige unangenehme Fragen zu stellen.« Als er wieder in seinem Wagen sitzt, greift Jacklow zum Telefon und ruft seine Sekretärin an: »Sally, stellen Sie fest, wo sich Mr. Blondie im Augenblick aufhält und melden Sie es mir. Sagen Sie ihm aber nicht, daß ich ihm einen Besuch abstatten möchte. Es wird Ihnen schon eine passende harmlose Erklärung einfallen…« Als er bereits wieder East Chicago erreicht hat, erhält er die Auskunft, daß sich der Direktor noch zu Hause befindet. Es sei ganz einfach gewesen, das zu erfahren. Sam, der Portier, habe die Auskunft erteilt, und zwar habe Mrs. French angerufen, die sich ja noch im Präsidium aufhalte. »Danke, Sally – das habt ihr gut gemacht. Und nun rufen Sie Collin. Er soll sofort zum Haus von Blondie fahren und mich dort erwarten – aber unauffällig.«
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XVIII. Der Lieutenant kommt gerade von seinem Gespräch mit Ray Hardin, als ihm der Fahrer von der Anweisung Jacklows berichtet. Seufzend lehnt sich Collin im Sitz zurück: »Daß man auch keine Sekunde verschnaufen kann – also, dann brausen Sie mal los.« Michael läßt noch einmal seinen Besuch bei Ray Hardin an sich vorüberziehen. Was war das doch für eine Überraschung gewesen, als ihm der Student geöffnet hatte. Schon beim Anblick des Hauses hatte sich der Lieutenant selbst gesagt, daß seine Vermutung, Ray Hardin sei ein Millionär, der sich in Peggy Whyler eine schicke junge Freundin halte, wohl nicht ganz zutreffen könne. Aber, daß er dann einen Studenten, der wohl eher von seiner Freundin verhalten wurde, treffen würde, damit hatte er doch nicht gerechnet. Den brauchen wir jedenfalls nicht auf die Liste der Verdächtigen zu nehmen – denkt Collin. Offen und ohne Vorbehalte hatte Ray auf die Fragen des Lieutenants geantwortet und dabei geradeheraus bekannt, daß er sich von Peggy das Studium und die Wohnung bezahlen lasse. Kein Zweifel – der hätte nie die teuren Kleider kaufen können, die in Mrs. Vanhuisens Pension hingen. Aber dann muß Jim Dhiser der noble Spender gewesen sein. Vielleicht erklärt das dessen unheimlichen Geldverbrauch. Hardin hatte auch von dem letzten Anruf Peggys berichtet: »Noch nie hat sie so etwas getan… Ich wollte sie noch fragen, was das bedeuten solle, da hatte sie schon aufgelegt. – Wenn wir je Zusammensein wollen, dann muß es sein… Ja, das waren 293
genau ihre Worte. Was hat denn dieses Verschwinden mit mir, mit unserer gemeinsamen Zukunft zu tun?« Und dann hatte der Student von den Plänen berichtet, die Peggy und er geschmiedet haben. Er erwähnte dabei auch, daß ihn Peggy zu der Versteckspielerei gezwungen habe. Nur selten sei sie mit ihm ausgegangen. Und dann berichtete er noch, daß Peggy in den letzten Wochen immer wieder davon gesprochen habe, daß sie nun bald besitze, was sie beide brauchten… Collin war es schwergefallen, dem Studenten zu sagen, daß Peggy ermordet wurde – wohl weil sie zu hoch um diesen Besitz gespielt hatte. Ray hatte getobt und heilige Schwüre ausgestoßen – »Ich werde den Kerl, der sie angerührt hat, noch im Gerichtssaal umbringen« -, dann war er zusammengebrochen und hatte nur noch geweint. Er hatte sie geliebt, wirklich geliebt – denkt Collin. Er ist nicht der Typ, der sich von einer Frau bewußt aushalten läßt. Wahrscheinlich wäre Peggy durch ihn von ihrem zweifelhaften Doppelleben abgekommen. »Wir sind da, Lieutenant«, reißt ihn der Fahrer aus seinen Gedanken. »Fahren Sie bitte einige Häuser weiter – wir wollen nicht direkt vor der Haustüre warten. Der Inspector muß ja gleich hier sein.« In der Tat. Es dauert keine fünf Minuten, bis hinter ihnen Jacklow aus seinem Wagen steigt. Auch Collin zwängt sich aus seinem unbequemen Sitz. »Na, Lieutenant, haben Sie sich gut mit Mrs. Vanhuisen unterhalten?« »Danke, es war ein ausgesprochenes Vergnügen. Sie wissen ja, daß ich gepflegte Konversation schätze. Doch ich habe nicht 294
nur parliert. Ich kann auch mit einigen Überraschungen aufwarten.« Und Collin berichtet zuerst von der Existenz Ray Hardins – und auch davon, daß er den Studenten sofort aufgesucht habe. »Er ist absolut unverdächtig«, schließt er. »Meine Vermutung ist, daß Miß Whyler auf Erpressung aus war und deswegen sterben mußte. Ihr großes Ding ist nicht mehr gelaufen.« »Sie können verdammt recht haben, Lieutenant«, nickt Jacklow und denkt an die Fotos in seiner Brusttasche. »Tatsache ist auch, daß Peggy Whyler angerufen wurde, kurz bevor sie gestern nachmittag die Pension verließ und verschwand«, schildert Collin weiter. »Und« – trumpft er auf – »sie ist mit Sicherheit in den Fall Joan Dhiser verwickelt. Denn sehen Sie hier, Chef…« Collin öffnet die Fondtür und angelt vom Rücksitz den cremefarbenen Hut, den er in Peggy Whylers Schrank gefunden hat. Er hält ihn dem Inspector triumphierend vor die Nase. »Wissen Sie, was das ist?« »Ein Hut… was sonst?« »Die Entlastung für Mrs. French, Inspector.« Collin platzt fast vor Stolz. »Denn dieser Hut gehört Miß Whyler…« »…?« »Erinnern Sie sich nicht mehr, Chef… An die Aussage des Portiers? – Sam berichtete uns, daß Peggy Whyler Dienstagabend – ganz gegen ihre Gewohnheit – das Theater in ihrem Bühnenkostüm verlassen hat – und auch ihren Hut aufgesetzt hatte.« »Soll das der Hut sein?« »Ja, Sir… Und dann hörten wir heute, der zusammengeschlagene Junge habe ausgesagt, der Mann habe einen schwarzen Anzug und einen hellen Hut getragen. Dieser Mann, der den Brief übergab, war…« »… Miß Whyler«, bringt ihn Jacklow um die Pointe. 295
Collin läßt die Hand, mit der er immer noch den Hut in Jacklows Augenhöhe gehalten hat, enttäuscht sinken. »Und deshalb hat sie auch mit dem Mord zu tun – vielleicht wurde sie auch ermordet, weil sie den Täter kannte und ihn damit erpressen wollte.« »Unsere Artistin hat auf zu vielen verstimmten Klavieren gespielt – das, was sie sich vorgenommen hatte, war aber offensichtlich eine Nummer zu groß für sie«, erklärt Jacklow und zeigt Collin die Fotos: »Hier, Sie werden staunen…« Der Lieutenant betrachtet die Aufnahmen kopfschüttelnd: »Blondie… Mr. Blondie und Peggy Whyler! Und ich hätte geschworen, daß sie mit Jim Dhiser das Verhältnis hat und dieser ihre Rechnungen bezahlt… Glauben Sie, Inspector, daß Blondie sie umgebracht hat?« »Es sieht fast so aus«, erklärt Jacklow und reicht dem Assistenten das Feuerzeug. »Sie können es ruhig anfassen. Das lag in Peggys Apartment im Sunshine Motel. Fingerabdrücke sind schon abgenommen. Betrachten Sie vor allem die Gravierung unten am Boden.« »M. W. B.«, liest Collin. »Ja«, meint Jacklow, »das deutet einwandfrei auf Mark W. Blondie hin. – Aber – kommen Sie, wir wollen dem guten Direktor mal auf den Zahn fühlen.« Blondie kommt sichtlich mitgenommen an die Tür. Seine Wangen sind eingefallen, dunkle Ringe liegen unter den Augen. Wenn ich nicht wüßte, was er heute nacht gemacht hat, würde ich vermuten, er habe sich einige zuviel hinter die Binde gegossen – denkt Jacklow. Der Direktor führt die beiden wieder in den Salon, in dem sie sich schon bei ihrem ersten Besuch mit ihm unterhalten hatten. »Gibt es etwas Neues?« 296
»Das ist eine relative Frage, Direktor. Meinen Sie – etwas Neues für Sie oder für uns?« Und übergangslos fügt Jacklow hinzu: »Ich würde gerne wissen, wo Sie heute nacht waren?« »Ich? – Hier, wo sonst?« »Und wann sind Sie heimgekommen?« »Ich fuhr sofort nach der Vorstellung hierher. – Es wird so etwa kurz vor dreiundzwanzig Uhr gewesen sein.« »Und Ihre Frau kann das bezeugen?« Blondie wird verlegen: »Meine Frau? Ja, wissen Sie, meine Frau war auf einem Kongreß – in Detroit. Sie hatte dort gestern abend einen Vortrag zu halten. – Sie ist erst vor einer Stunde zurückgekommen.« »Aber Ihre Haushälterin hat Sie sicher kommen hören.« Blondie sinkt noch tiefer in seinen Sessel. »Ich fürchte, auch da muß ich Sie enttäuschen. Sie hatte gestern ihren freien Tag.« »Mit anderen Worten: Niemand kann Ihnen bestätigen, daß Sie heute nacht hier waren…?« »Bedauerlicherweise, nein… Aber warum glauben Sie mir nicht? Ist das denn so wichtig, ob ich hier war – oder mich anderswo vergnügte?« Blondie versucht, ins Scherzhafte auszuweichen. »Es ist eben sehr wichtig, Mr. Blondie – sonst würde ich nicht so beharrlich nachfragen«, erklärt Jacklow betont ernst. »Miß Whyler wurde heute nacht ermordet – besser gesagt erstochen – in einem Apartment eines Motels in der Nähe von Portage. – Aber Sie werden das ja wissen…« Der Inspector hält inne. »Woher soll ich das wissen?« Blondie fährt auf. »Wollen Sie etwa mich verdächtigen? – Ich soll Peggy umgebracht haben?« Der Direktor hat die letzte Frage fast geschrien, doch Collin und der Inspector spüren, daß seine Empörung gespielt ist. »In dem Apartment wurde dieses Feuerzeug gefunden… Gehört es nicht Ihnen?« 297
Jacklow schiebt das Feuerzeug über den Tisch. Mit zittrigen Händen greift Blondie danach; sein erster Blick gilt dem Boden – der Gravur. »Ja, das ist mein Feuerzeug«, sagt er dann leise. »Warum sollte ich es leugnen?« »Und wie kommt es in das Sunshine Motel?« Collin beugt sich vor. »Es ist mir unerklärlich. Es lag gestern noch auf meinem Schreibtisch…« »Ein goldenes Feuerzeug lassen Sie achtlos auf dem Schreibtisch liegen… Aber, Direktor, wem wollen Sie das erzählen?« spottet Collin. »Lassen wir zunächst einmal das Feuerzeug«, unterbricht Jacklow. »Vielleicht haben Sie uns zu diesen Fotos mehr zu sagen.« Der Inspector holt die fünf Aktaufnahmen aus seiner Brusttasche und gibt sie Blondie, der nur einen flüchtigen Blick auf sie wirft. »Ich kenne diese Aufnahmen«, sagt er mit gebrochener Stimme. »Sie waren das teuerste Abenteuer meines Lebens…« Dann richtet er sich auf – offensichtlich hat er einen Entschluß gefaßt: »Inspector… Lieutenant… Es hat keinen Zweck mehr, wenn ich es noch länger verheimliche. Und offen gesagt, ich bin fast froh, endlich mit jemand darüber sprechen zu können.« Er hält inne. Doch Jacklow und Collin bleiben ebenfalls stumm. »Ja, ich hatte ein Verhältnis mit Peggy Whyler. – Leider bin ich attraktiven Frauen gegenüber nicht völlig immun. – Ich bin zwar kein Jüngling mehr, aber auch noch nicht so alt wie ich mir in meiner Ehe vorkomme. Meine Frau – habe ich es Ihnen nicht schon anläßlich unseres letzten Gespräches gesagt? – kennt nur ihren Beruf. Sie ist sehr erfolgreich und voll ausgelastet… Mein Theater läßt mir mehr freie Zeit – und da kommt man eben 298
manchmal auch auf dumme Gedanken. – Ja, ich bin kein Kostverächter… War es nie – und das Varieté bietet da noch einige Möglichkeiten. Man nimmt es bei uns mit der Moral nicht so genau. Ein flüchtiges Abenteuer, noch dazu wenn es Spaß macht, wird selten abgelehnt…« »Der Schlafraum hinter Ihrem Büro diente wohl häufiger diesem Zweck?« forscht Jacklow mit treuherzigem Blick. »Er war mir dabei oft von Nutzen«, bestätigt der Direktor. »Also war Peggy Whyler nicht die einzige?« »Nein, aber die teuerste. Sie ließ mich bezahlen… Tausende hat sie aus mir herausgepreßt…« »Mit diesen Fotos?« »Ja, mit diesen unglückseligen Fotos… Sie drohte damit, sie meiner Frau zu zeigen. Und dabei war sie es, die damals die Idee hatte, wir könnten uns doch zusammen fotografieren… Sie redete mir ein, sie möchte stets eine Erinnerung an unsere gemeinsamen Stunden haben. – Sie nahm auch den Film an sich, um ihn zum Entwickeln zu bringen. Ich ließ das zu – und so bekam sie das Negativ… Ich war ihr ausgeliefert.« »Aber Sie haben sich nicht von ihr getrennt?« Der Direktor zuckt die Schultern. »Nein. Sie werden das vielleicht nicht verstehen… Aber… Ich dachte mir, wenn ich schon zahlen muß, dann will ich wenigstens noch etwas dafür haben.« »Wann waren Sie das letztemal mit ihr zusammen?« Collin schießt diese Frage ab. Jetzt wird sich herausstellen, ob der Direktor lügt. »Vorgestern nachmittag – an dem Nachmittag, an dem abends Joan Dhiser und Bob Rint starben. Sie kam zu mir… ins… ins Büro. Sie wissen ja, mein Zimmer hat einen direkten Zugang zur Bühne…« »Und…?« 299
»Was und, Inspector…« »Was haben Sie da getan?« »Was soll man schon tun… Inspector… Ist das so schwer zu erraten…?« Blondie versucht ein Grinsen. »Sie könnten noch einmal alle Einzelheiten des Mordplanes durchgegangen sein… Das Gift in die Cognacflasche geschüttet haben… Besprochen haben, wo Miß Whyler den Brief abgeben soll…« Blondie blickt ratlos: »Wovon sprechen Sie?… Ich kann Ihnen nicht folgen…« »Vielleicht können Sie mir wenigstens folgen, wenn ich Ihnen sage, daß es um dreihunderttausend Dollar ging«, wirft ihm der Inspector entgegen. »Um dreihunderttausend Dollar?« »Ist das nicht die Summe, für die Sie Mrs. Dhiser versichert haben?« Blondie erbleicht: »Wer hat Ihnen das gesagt?« »Wir wissen es jedenfalls. Dreihunderttausend Dollar, vielleicht wollten Sie diese Summe mit Peggy Whyler teilen. Oder sollte sie alles bekommen, wenn sie Ihnen die Negative aushändigte?« »Ich schwöre Ihnen, Peggy wußte nichts von dieser Versicherung…« Der Inspector lehnt sich wieder zurück: »Sie sprachen von einem Film. Gibt es also noch mehr solcher Fotos?« »Wir haben…«, Blondie zögert, »… insgesamt sechs Aufnahmen gemacht.« »Und wo ist das sechste Motiv?« Blondie steht auf und geht im Zimmer auf und ab. Offensichtlich ringt er sich einen Entschluß ab. Der Inspector und Collin warten neugierig. 300
»Es wäre wahrscheinlich töricht, würde ich es Ihnen verschweigen. Sie werden es ja doch finden, denn es muß ja noch existieren. – Das fehlende Bild hatte… Bob Rint.« Collin hätte fast aufgeschrien vor Überraschung. Doch der Inspector behält die Ruhe: »Und deshalb mußte er sterben? – Hat er Sie auch erpreßt?« »Ja, auch er…« Blondie wendet sich mit verzweifelter Gebärde dem Inspector zu. »Wissen Sie, was das bedeutet hat? Ich mußte an beide zahlen… Immer nur zahlen… Weiß der Teufel, wie Bob an das Foto gekommen ist… Peggy sagte mir, er habe es ihr wahrscheinlich aus der Garderobe gestohlen… Aber das war ja egal… Er konnte mich damit erpressen…« Jacklow murmelt: »Also Peggy Whyler wußte von Bob Rints Aktionen?« »Ja, ich habe es ihr erzählt… Ihr die heftigsten Vorwürfe gemacht… Ihr gesagt, daß sie nun nicht mehr so viel bekommen könne…« »Und wieviel haben Sie bisher insgesamt gezahlt?« Blondie bleibt stehen: »Etwa fünfzigtausend Dollar an Peggy und fünfzehntausend an Bob.« »Da sind Sie ja noch billig weggekommen…«, stellt Collin sachkundig fest. »Sie machen mir Spaß, Lieutenant. Ich verfüge über kein Privatvermögen. Alles gehört meiner Frau. Ich mußte Kredite auf das ›Globe‹ aufnehmen – natürlich heimlich. Meine Frau durfte ja nichts erfahren – die beiden hätten mich im Laufe der Zeit in den Ruin getrieben.« »Welch ein Glück für Sie, daß sie nun tot sind«. Jacklows Worte sind bewußt ironisch gehalten. Die Tür öffnet sich, und eine mittelgroße, überschlanke, sehr männlich aussehende Frau tritt ein. Blondie eilt ihr entgegen: »Es handelt sich um den Tod von 301
Joan. Darf ich dir Inspector Jacklow und Lieutenant Collin vorstellen?« Die beiden stehen auf. »Kennt man schon den Mörder, meine Herren?« »Noch nicht, aber wir sind ihm auf der Spur«, erwidert Jacklow und wirft einen schnellen Blick auf den Direktor, der bei dieser Feststellung erschrocken zusammenfährt. »War es nicht Gift, das verwendet wurde?« »Ja… Zyankali«. »Eine besonders sichere Methode… und in der notwendigen Dosis auch schnell wirkend.« »Sie kennen das Gift?« fragt Jacklow interessiert. »Natürlich.« Die Antwort wird kühl, fast mit Herablassung gegeben. »Ich bin Wissenschaftlerin… Ich habe ein Labor… Wir brauchen Blausäure manchmal für unsere Versuche…« Jacklow bemüht sich, seine Erregung nicht spürbar werden zu lassen: »Sie haben hier Blausäure…?« »Nicht hier – unten im Labor natürlich.« »Wäre es sehr unverschämt, gnädige Frau, Sie zu bitten, uns den Aufbewahrungsort zu zeigen?« »Wenn Sie glauben, daß es Ihnen bei Ihrer Arbeit helfen kann… Warum nicht? Aber ich darf Sie darauf aufmerksam machen: Blausäure sieht immer gleich aus…« Es klingt fast wie eine Zurechtweisung. »Trotzdem…«, beharrt Jacklow. »Bitte, folgen Sie mir…« Blondies Frau geht voran. Jacklow und Collin – hinter ihnen folgt Blondie – müssen einige Gänge durchqueren, ehe sie ins Labor gelangen. Als sie an einem rotgestrichenen Schrank angekommen sind, greift die Frau auf dessen Oberseite und holt von dort einen 302
Schlüssel herunter. Damit öffnet sie den Schrank. »Müßte der Schlüssel nicht separat verwahrt und unter Kontrolle gehalten werden?« fragt der Inspector verblüfft. »Wenn man genau nach den Vorschriften geht – ja… Doch wenn wir uns immer nur stur danach halten würden, kämen wir vor lauter Vorsichtsmaßnahmen zu keiner sinnvollen Arbeit mehr…«, erklärt Frau Dr. Styler-Blondie kurz und bündig. Sie blickt ihre Gesprächspartner auch nicht an, denn sie ist fieberhaft damit beschäftigt, den Inhalt des Schrankes zu sortieren. »Die Flasche ist nicht da…«, sagt sie schließlich. »Dr. Slesio!« Ein Mann, der bisher am Fenster des Labors mit Reagenzgläsern hantiert hat, kommt eilfertig herbei. »Frau Dr. Styler…?« »Dr. Slesio… Arbeitet im Moment jemand mit Blausäure…?« »Nicht daß ich wüßte… Bestimmt nicht! Die letzte Versuchsreihe, bei der wir Blausäure eingesetzt haben, lief vergangene Woche.« Auf dem Gesicht von Frau Styler-Blondie bilden sich rote Flecken. Der Direktor blickt zu Boden. »Wie sah denn das Gefäß aus, in dem sich das Gift befand?« schaltet sich Jacklow ein. »Es war eine kleine braune Flasche. Zyanverbindungen sind hochgiftig. Wir bewahren deshalb hier keine großen Mengen auf.« »Dann brauchen Sie nicht weiter zu suchen. Wir wissen, wo die Flasche hingekommen ist…« Der Inspector wendet sich abrupt ab und nimmt den Weg zurück in die Privatwohnung. »Mr. Blondie – ich hätte noch 303
einige Fragen an Sie.« Die Frau des Direktors bleibt zurück. Sie diskutiert erregt mit Dr. Slesio. Als das Trio wieder im Salon angekommen ist, geht Jacklow auf Mr. Blondie zu: »Darf ich Ihnen jetzt mal eine kleine Geschichte erzählen? – Also gut: Zwei Artisten werden ermordet – der eine stirbt, weil er einen Cognac getrunken hat, der mit Blausäure vergiftet war, und seine Partnerin muß elendig ertrinken. Blausäure ist ein Gift, das nicht leicht zu beschaffen ist – doch der Direktor des Theaters, in dem der Mord geschieht, hat eine Frau, die den Giftschrank ihres Labors nicht vorschriftsmäßig abschließt. Und in diesem Schrank befindet sich die Giftflasche – bis zum Tod der Artisten. Die Cognacflasche, in die das Gift gefüllt wurde, steht im Zimmer des schon erwähnten Direktors. Und der Artist, der sterben mußte, hat den Direktor erpreßt. Doch nicht genug damit: Für den Tod der Partnerin wird der Direktor von der Versicherung nicht weniger als dreihunderttausend Dollar ausgezahlt bekommen. Genug, um eine Erpresserin damit zu besänftigen, die ihn fast ruiniert hätte. Und diese Erpresserin wird einen Tag später tot aufgefunden… In Ihrem Motelzimmer stellt die Polizei ein Feuerzeug sicher, das dem Direktor gehört, der nebenbei für die Mordnacht kein Alibi hat…« Blondie schreit: »Hören Sie auf… Das sind doch alles Kombinationen… Alles Vermutungen… Zufälligkeiten!« »Vielleicht sind es Zufälligkeiten, Mr. Blondie«, erwidert Jacklow hart. »Aber mir sind es zu viele… Und dann noch der Brief…« »Welcher Brief?« »Der Brief, mit dem Bob Rint seinen angeblichen Selbstmord erklärte. Sie haben ihn ja an sich selbst adressiert. Miß Whyler übernahm die Beförderung… deshalb verließ sie vorgestern abend vorzeitig und noch dazu in ihrem Bühnenkostüm das 304
Theater. Sie wollte als Mann auftreten. Doch ein unvorhersehbarer Zwischenfall verhinderte, daß der Brief rechtzeitig ankam. Er erreichte Sie zu spät – zu spät, um uns zu überzeugen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir schon zu viele andere Erkenntnisse. Sonst wären wir Ihnen und Miß Whyler wahrscheinlich auf den Leim gegangen… So perfekt, wie Sie Ihr Verbrechen ausgeklügelt hatten…« »Ich – ich soll etwas mit diesem Brief zu tun haben…? Inspector… Das glauben Sie aber selbst nicht… Das ist doch Wahnsinn, was Sie mir da anhängen wollen…« Jacklow wird bestimmt: »Mr. Blondie… Sie sollten mir jetzt freiwillig auf das Präsidium folgen… Sonst müßte ich Sie für verhaftet erklären. Ich beschuldige Sie, Bob Rint und Miß Whyler ermordet und außerdem den gewaltsamen Tod von Joan Dhiser verschuldet zu haben.«
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XIX. Als sich die beiden wieder im Präsidium – in Jacklows Zimmer – gegenübersitzen, fragt der Lieutenant vorsichtig: »Sind Sie sich wirklich sicher, Chef, daß Blondie es war… Ich meine, daß er drei Morde auf dem Gewissen hat?« Jacklow sieht seinen Assistenten lauernd an: »Sind Sie es nicht?« Collin geht aufs Ganze: »Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen, Inspector – ich kann mir nicht vorstellen, daß der Direktor zu all dem fähig ist. Hinter diesem Fall steht ein starker Mann, einer, der einen festen Fahrplan hatte… Oder jemand, den ein zwingendes Motiv trieb. – Aber Blondie? – Ich glaube fast, er wäre eher in seinen Untergang gelaufen, als auch nur einen Mord zu begehen…« »Vor solchen Folgerungen sollten wir uns hüten, Lieutenant«, weist Jacklow ihn zurecht. »Das ist Sache der Psychiater, der Geschworenen oder auch des Richters. Wir haben nur Fakten aneinander zu reihen… Und diese Fakten sprechen gegen Blondie…« »Trotzdem, es bleiben noch offene Fragen…« »… die wir beantworten müssen und werden«, korrigiert Jacklow. Dann, weniger abweisend: »Welche Fragen meinten Sie?« »Ich finde keine Antwort darauf, wie das Gift in Bob Rints Wohnung gekommen ist.« »Blondie wird uns das schon noch sagen. Er widerruft ja ständig seine Aussagen und tischt uns neue Märchen auf. – Sie haben es ja vorhin selbst mitbekommen. Da erklärt er doch plötzlich, er habe uns angelogen, das Feuerzeug sei nicht von seinem Schreibtisch verschwunden, er habe es nämlich schon 306
vor Wochen Miß Whyler geschenkt. – Natürlich wäre das eine plausible Erklärung, warum es im Apartment herumgelegen hat. Und das hat er sich nachträglich auch überlegt. Bloß sollte er mich nicht für so blöde halten, daß ich ihm das jetzt noch abkaufe.« »Aber seine Erklärung für das Zustandekommen des Selbstmordbriefes klang schon überzeugender – und sie stimmt mit dem Laborbericht überein.« »Und was beweist das? Doch nur, daß er wußte, wie das Selbstmordbekenntnis zustande gekommen ist. Da setzt er uns lange auseinander, daß Bob Rint die Angewohnheit hatte, seine Unterschrift auf einen Blankobogen zu setzen und darüber ein Künstlerfoto zu kleben – weil er der Meinung gewesen sei, sich auf diese Weise auffällig von anderen Artisten zu unterscheiden, wenn er Verehrerpost und Anfragen nach einem Autogramm beantworte… Okay. Irgend jemand wird solch eigentümliches Verhalten – bei Künstlern scheint ja nichts unmöglich zu sein, wenn es nur darum geht aufzufallen – ja noch bestätigen können. Und da Bob Rint außerdem diese Briefbogen immer vorsignierte und diese dann in seiner Theatergarderobe herumliegen ließ, konnte sich jeder x-beliebige leicht so eine Unterschrift besorgen. – Aber: Jeder x-beliebige… dazu zählt wohl auch der Direktor des Theaters, der ja Tag und Nacht ungehindert und vor allem – wenn er will – unbemerkt alle Räume betreten kann. Und das Labor findet zusätzlich noch heraus, daß dieser angeblich von Bob Rint geschriebene Brief mit der gleichen Schreibmaschine getippt wurde, auf der auch der von Mrs. French verfaßte Drohbrief entstand – also auf der Remington in Dr. Blondies Sekretariat. Nun kombinieren Sie – wer konnte – von Mrs. French abgesehen, an deren Täterschaft ich auch nicht mehr glaube – auf dieser Schreibmaschine in erster Linie heimlich tippen – doch wohl ebenfalls Mr. Blondie!« Jacklow hat sich in eine Erregung hineingesteigert, so als wolle er sich selbst noch einmal die 307
Schlüssigkeit seiner Beweisführung nachhaltig demonstrieren. Jetzt hält er inne. Er spürt, daß er seinen Assistenten noch immer nicht überzeugt hat. »Ist ja gut, Mike… Ich will zugeben, daß auch mich so manche Details noch nicht hundertprozentig überzeugen. Aber diese Lücken werden wir doch wohl noch füllen können. Wenn wir Blondie erst einige Tage hier haben und ihm immer wieder die gleichen Fragen stellen – immer wieder – stereotyp… dann wird er sich schon in weitere Widersprüche verwickeln… dann werden wir ihn zwingen, uns die Wahrheit zu sagen, die volle Wahrheit…« »Ich wollte Sie nicht kritisieren, Chef…«, meint Collin entschuldigend. »Mike, wir arbeiten nun seit eineinhalb Jahren zusammen… und wir haben beide noch jeden uns übertragenen Fall gelöst… Sie haben dazu viel und manchmal auch Entscheidendes beigetragen – ich will auch diesmal Ihre Unterstützung… und sei sie so kritisch, wie Sie sich jetzt geben… Ich zermartere mir ja selbst das Gehirn und stelle mir immer wieder die Frage: Habe ich auch nichts übersehen? Irgendeinen Fingerzeig, eine Spur?« Jacklow ist hinter Collin getreten und hat ihm die Hände auf die Schultern gelegt: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag… Wir denken den Fall noch einmal durch… Wir beide… Aber jeder für sich allein. Vielleicht ist es doch so, daß da noch ein neuer Gesichtspunkt auftaucht… Nehmen Sie die Akten nur mit – ich glaube, ich kenne sie inzwischen auswendig… Bleiben Sie aber in Ihrem Büro, falls ich Sie erreichen muß.« Collin erhebt sich und geht zur Tür. Doch bevor er sie öffnet, zögert er eine Sekunde. Dann dreht er sich zu Jacklow und fragt: »Und Mrs. French…?« Der Inspector lacht: »Ich sagte ja schon, daß ich sie nicht mehr als die Mörderin betrachte. Sie können sie nach Hause gehen 308
lassen…« »Danke, Chef…«, stößt Collin hervor und stürmt aus dem Zimmer. Es geht auf zwanzig Uhr zu – draußen ist es inzwischen dunkel geworden -, als das Telefon auf Collins Schreibtisch läutet. Der Lieutenant unterbricht das Studium der ›Dhiser/Rint-Akten‹ und nimmt ab. Jacklow meldet sich, seine Stimme hat einen fröhlichen Unterton: »Na, wie geht’s… Haben Sie etwas entdeckt?« Collin verneint. »Meinen grauen Zellen hat Ihre Predigt jedenfalls gutgetan… Ich habe jetzt den schlüssigen Beweis gefunden…« »Den Beweis für Blondies Täterschaft?« will der Lieutenant wissen. »Seien Sie doch nicht so neugierig«, weicht Jacklow lachend aus. »Kommen Sie lieber zu mir rüber – ich möchte mit Ihnen ins Theater fahren.« »Einverstanden, Chef… Ich bin schon auf dem Weg.« Im Theater geht Jacklow mit eiligen Schritten voran in den Ankleideraum von Jim Dhiser. Collin hat Mühe, seinem Chef zu folgen. Der Artist sitzt an seinem Schreibtisch. Schon im Kostüm. Er ist gerade dabei, sein Gesicht braun zu färben. Er blickt kurz auf, als die beiden Beamten eintreten. »Findet die Vorstellung heute unter Polizeibewachung statt?« fragt er mißmutig. »O nein, wir haben uns nur an die Varieteatmosphäre gewöhnt«, gibt der Inspector kühl zurück. »Wir sind sozusagen privat hier. Der Fall ist nämlich abgeschlossen…« 309
Fast wäre dem Artisten die Schminkfarbe aus der Hand gefallen. Wie von der Tarantel gestochen dreht er sich um: »Der Fall ist abgeschlossen?« stößt er erregt hervor. »Das heißt, Sie haben den Täter? – Wer ist es?« »Wir haben Direktor Blondie verhaftet…« Noch einmal malt sich Verblüffung auf Dhisers Zügen: »Den Direktor?… Er hat – Joan ermordet?« »Ihre Frau, Bob Rint und – Miß Whyler…« Diesmal bleibt die Reaktion, die Jacklow provozieren wollte, aus. Der Artist gibt sich erstaunlich gelassen: »Wollen Sie damit sagen, daß auch Peggy ermordet wurde?« Er dreht sich wieder dem Spiegel zu. »Sie wußten es noch nicht?« »Woher sollte ich! Ich war fast den ganzen Tag über hier im Theater…« »Miß Whyler ist nicht heute ermordet worden… sondern gestern – wahrscheinlich kurz vor Mitternacht. In einem billigen Motel… Interessiert Sie das eigentlich so wenig? Sie war doch Ihre Partnerin – und, wenn ich nicht irre, Ihre Geliebte…« Langsam dreht sich Jim Dhiser um und blickt dem Inspector ruhig ins Gesicht: »Ich habe es Ihnen gestern bereits sagen müssen… Es gab kein Verhältnis zwischen Peggy und mir… Das sind üble Nachreden… Wir waren Partner – sicher, ich bedauere natürlich, daß sie so enden mußte, aber sie hat sich ja wohl in Dinge eingelassen, die ihr über den Kopf gewachsen sind…« »Was meinen Sie damit?« »Nun kann ich es wohl sagen… Sie hatte ein Verhältnis mit dem Direktor… Niemand sollte es wissen… Aber mir konnte sie das nicht verheimlichen… Ich mußte ihr ja auch das Alibi besorgen – immer, wenn ich angeblich mit ihr im Trainingsraum übte, ging sie zu ihm…« 310
»… auch Dienstag nachmittag?« »Richtig, auch vorgestern nachmittag…« »Und warum sagen Sie das erst jetzt, Mr. Dhiser?« »Jetzt kann es ja niemand mehr schaden. Peggy ist tot und – Mr. Blondie ist ja bereits der Tat überführt, wenn ich Sie richtig verstanden habe…« »Sie haben bedauerlicherweise nicht richtig zugehört, Mr. Dhiser. Ich sagte, wir haben Mr. Blondie verhaftet. Nicht überführt.« Der Artist wurde ärgerlich: »Was sollen diese Spitzfindigkeiten? Wollen Sie mich aufs Glatteis führen? Ich habe Wichtigeres zu tun. In fünfzehn Minuten ist mein Auftritt. Das erstemal daß ich meine große Nummer komplett vorführe… Gestern habe ich den Höhepunkt noch ausgelassen. Die Vorbereitungszeit war zu kurz. Doch heute habe ich geübt… verbissen trainiert. Jetzt kann ich es wagen. – Sie sollten die Nummer sehen, meine Herren, das ist eine Weltsensation.« »Würden Sie mir vorher trotzdem noch ein Frage beantworten, Mr. Dhiser?« fragte Jacklow mit betonter Höflichkeit. »Wo waren Sie heute Nacht?« Donnerwetter – denkt Collin. Hat der alte Fuchs doch noch einen Trumpf im Ärmel? Dhiser fährt fort, sich zu schminken. Langsam sagt er: »Ich war zu Hause. Nach einer Vorstellung bin ich erledigt. Da läuft nichts mehr mit amüsieren und so… Können Sie wahrscheinlich nicht verstehen.« »O doch, Mr. Dhiser. Aber dennoch – es könnt nicht zufällig sein, daß Sie sich nach Portage verirrt haben?« Der Artist unterbricht und sieht den Inspector im Spiegel an: »Nach Portage? Was soll ich da…?« »In der Nähe liegt das Sunshine Motel, in dem Miß Whyler ermordet wurde…« 311
»Von Direktor Blondie!« »Habe ich gesagt, ja… Doch Sie sollten es besser wissen… Denn S i e waren der Mörder Ihrer Partnerin und… Geliebten – und Sie waren auch der Mörder von Bob Rint und Ihrer Frau. Denn Ihre Frau war nicht zu Ihnen zurückgekehrt, wie Sie uns glauben machen wollten… Ihre Frau hat Bob Rint nie verlassen.« Die Worte waren aus Jacklow nur so herausgesprudelt, jedes einzelne hatte er Jim Dhiser ins Gesicht geschrien. Collin sitzt erstarrt. Der erste, der sich anscheinend wieder fängt, ist der Drahtseilkünstler: »Das werden Sie beweisen müssen, Inspector, oder…«, versucht er zu drohen. »Ich kann es beweisen. Denn Ihnen ist ein dummer Zufall zum Verhängnis geworden! – Haben Sie etwa nicht bemerkt, als Sie gestern nacht im Sunshine Motel ankamen, daß ein furchtbarer Gestank in der Luft hing? – Odel! Er ist ausgelaufen, als ein Rad des Odelwagens brach. Da es an der Einfahrt passierte, mußte jedes Auto durch diese Lache fahren, das an das Motel wollte. Und Odel hinterläßt Spuren. Spuren, die leicht nachzuweisen sind. – Ich habe mir vor einer Stunde den Spaß gemacht, die Reifen Ihres Wagens untersuchen zu lassen. Natürlich ohne daß Sie es merkten. Und nun…«, wieder hebt Jacklow seine Stimme, »nun erklären Sie mir mal, Mr. Dhiser, wie Odelreste an Ihre Reifen kommen können, wenn Sie gar nicht in Portage waren.« Urplötzlich ist eine beklemmende Stille im Raum. Der Lieutenant bringt den Mund nicht mehr zu. Da hat es der Inspector doch wieder mal geschafft… Die Überheblichkeit ist aus Dhisers Gesicht gewichen. Zusammengesunken sitzt er auf seinem Stuhl. Dann dreht er sich langsam um: »Sie haben gewonnen, Inspector… Ich werde Ihnen alles gestehen.« Leise und stockend beginnt er zu sprechen: »Verflucht sei Bob Rint. Er war an allem schuld. Er hat Joan verrückt gemacht. Wir 312
haben eine gute Ehe geführt… Ich habe Joan verehrt… bis er kam mit seiner Jugend und seinem Siegerlächeln. Joan war fünfzehn Jahre jünger als ich, müssen Sie wissen, und Bob war gerade fünfundzwanzig. Er hatte leichtes Spiel. Joan verfiel ihm… Er hat sie süchtig werden lassen. – In unserer Ehe spielte Sex nie eine große Rolle… Von ihm allerdings konnte sie nie genug kriegen… Sie fragen sich sicher, woher ich das weiß?« Er lacht bitter: »Joan selbst hat es mir erzählt. Sie hat keine Einzelheit ausgelassen, und – sie hat mir vorgeworfen, daß ich es ihr nie so besorgt habe – ja, das waren genau ihre Worte… Ich sei ein Versager im Bett, ein altes Wrack.« Dhiser schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt: »Ich habe sie geliebt, und sie hat mich so gedemütigt«, stößt er hervor. Dann atmet er tief durch, um sich wieder etwas zu beruhigen: »Bis dahin hatte ich in Peggy nur die Partnerin gesehen – obwohl sie mich spüren ließ, daß ich ihr nicht gleichgültig sei. Eines Tages – es geschah nach einer fürchterlichen Szene zwischen Joan und mir – war es dann soweit. Ich schlief mit Peggy. Sie wurde meine Geliebte. Sie gab mir die Geborgenheit, die ich suchte, und – sie ließ mich wieder das Gefühl erleben, ein Mann zu sein. Ich überschüttete Peggy mit Geschenken, doch je mehr ich ihr gab, desto mehr forderte sie. Trotzdem fuhr ich fort, ihr jeden Wunsch zu erfüllen, denn längst hatten wir begonnen, an eine gemeinsame Zukunft zu denken. Sie war es dann, die mir riet, die Versicherung für Joan abzuschließen; als ich dann wieder einmal nach einer Auseinandersetzung mit Joan voll Wut drohte, ich werde sie und Bob Rint umbringen, da schrak Peggy nicht etwa zurück – nein, sie entwickelte sofort Pläne, wie das zu bewerkstelligen sei. Mit der Versicherungssumme könnten wir beide uns dann ja ein neues Leben aufbauen.« Jacklow und Collin lauschen erschüttert dieser Beichte. Sie spüren, daß der Artist jetzt nicht mit Fragen unterbrochen werden darf. 313
»Aber wir konnten uns nicht einigen. Bis wir vergangene Woche bei Mr. Blondie und seiner Frau eingeladen waren – das gesamte Ensemble des Theaters. Stolz hat uns der Direktor durch das Haus geführt – und auf unser Drängen zeigte er uns auch die Laborräume seiner Frau. Ja, er öffnete für uns sogar den Giftschrank. Peggy hat dabei beobachtet, daß es sehr leicht ist, an den Schlüssel heranzukommen. Als wir wieder in den Privaträumen waren, überredete sie mich, heimlich nochmals hinüber ins Labor zu gehen und die Blausäure zu holen – sie kannte dieses Gift. Sie hatte von seiner schnellen Wirkung in einem Buch gelesen. Es gelang mir ohne Schwierigkeiten, die Flasche an mich zu bringen. Alles andere können Sie sich wohl denken. Ich habe eine vorher abgefüllte Menge des Giftes in die Cognacflasche getan, als Peggy vorgestern bei Direktor Blondie war – sie hat mir die Seitentür aufgelassen. Schon einen Tag vorher hatte ich, mit Hilfe des Schlüssels, den Joan zu Bobs Wohnung hatte, die Giftflasche in seinem Schrank deponiert – er sollte ja angeblich Selbstmord begehen. Ich habe auch auf seinem Autogrammpapier in seinem Namen einen Abschiedsbrief geschrieben – der Brief hätte noch am selben Abend bei Direktor Blondie landen müssen. Er ist bis heute nicht eingetroffen, und das war wohl der entscheidende Fehler. Hätten Sie diesen Brief erhalten, Inspector, Sie hätten wohl die Selbstmordtheorie geglaubt…« »Der Brief ist da, Mr. Dhiser«, erklärt Jacklow leise. »Ihr Plan war fast perfekt… Aber auch hier hat Ihnen der Zufall einen Streich gespielt. Der Junge, dem Miß Whyler – wir kennen inzwischen die Einzelheiten – den Umschlag übergab, wurde zusammengeschlagen. Er konnte den Botengang nicht mehr ausführen.« Der Artist lacht bitter auf: »Und gestern, nachdem der Brief nicht kam und Sie mich verhört hatten, wurde ich nervös. Ich glaubte, es wäre besser, Peggy würde nicht Ihren Fragen ausgesetzt. Ich wollte mit ihr in Ruhe besprechen, wie man Sie 314
und den Lieutenant auf eine neue falsche Spur locken könne. Deshalb rief ich sie an und bat sie, sich im Sunshine Motel ein Apartment zu nehmen.« »Und Sie fuhren nach der Vorstellung ebenfalls dorthin?« »Ja. Doch mich erwartete nicht die Peggy, die ich vorzufinden hoffte. Als ich meine Sorgen äußerte, warf sie mir vor, ein Waschlappen zu sein. Ich hätte jämmerlich versagt. Und als ich sie an unsere gemeinsame Zukunft erinnerte, da fing sie an zu spotten. Sie wurde plötzlich wie Joan. Auch sie lachte mich aus und fragte, ob ich jemals geglaubt habe, ihr zu genügen. Ich könnte ja ihr Vater sein… Und was sie in zwanzig Jahren mit mir anfangen solle? Ich könne doch nicht annehmen, daß sie dann einen alternden Artisten ernährt. – Und zuletzt forderte sie von mir, ich solle ihr die Versicherungssumme abliefern. Sonst würde sie mit der Polizei reden. Denn ich hätte ja die Morde gegangen – allein ich – oder gäbe es etwa Beweise, daß sie beteiligt gewesen sei?« Dhiser steht auf und geht auf den Inspector zu: »Da konnte ich nicht mehr… Rasend vor Wut und außer mir vor Scham lief ich in die Küche und griff mir das Messer. Sie wollte schreien. Ich warf mich auf sie und drückte ihr ein Kissen auf den Mund… dann stach ich zu… mehrere Male…« »Zweimal«, korrigiert Jacklow. »Und wie kamen Sie an das Feuerzeug von Direktor Blondie?« »Peggy hatte es in ihrem Koffer… auch Briefe, die ich ihr geschrieben hatte… diese Briefe und auch Fotos, die uns beide zeigten, habe ich mitgenommen…« »… und die Fotos, die Direktor Blondie belasteten, zurückgelassen…« Dhiser nickt: »Sie dürfen mir glauben – ich habe sie zum erstenmal gesehen. Und mir hat sie immer erzählt, sie würde sich nur unserer Pläne wegen mit dem Direktor einlassen.« Eine über dem Schminktisch angebrachte Lampe leuchtet auf. 315
Zugleich ertönt eine Klingel. Dhisers Gesicht überzieht ein wehmütiges Lächeln: »Mein Auftritt. Draußen warten eintausendzweihundert Menschen, die ich nicht enttäuschen möchte. Erst das Publikum, dann wir, heißt unser Motto. Lassen Sie mich noch einmal auftreten. Nachher stehe ich Ihnen zur Verfügung… Vom Trapez aus kann ich Ihnen nicht entfliehen, Inspector!« Jacklow zögert einen Augenblick, dann blickt er zu Collin hinüber. Dieser nickt. »Gut«, entscheidet der Inspector ernst. »Spielen Sie Ihre Rolle zu Ende. Ich sehe Ihnen vom Orchesterpodest aus zu. Mr. Collin wird Sie nach der Vorstellung in Empfang nehmen.« Zehn Scheinwerfer leuchten von der Beleuchterbrücke des Theaters. Eintausendzweihundert Menschen halten den Atem an. Das Orchester setzt aus, nur die Trommeln wirbeln leise… dumpf… aufpeitschend. Im silbernen Trikot steht Jim Dhiser hoch oben auf der Plattform des Trapeztisches. Er grüßt nach allen Seiten, sein Lächeln reißt die Zuschauer mit. Sie klatschen ihm zu. Die wortreich angekündigte Sensation beginnt. Die große Nummer, die größte vielleicht, die dieses Theater je sah: der Salto Mortale mit verbundenen Augen vom Trapez auf ein Trampolin und von da wieder hinauf zu einem frei schwebenden zweiten Trapez. Ein Sprung in den sicheren Tod, wenn nur eine Zehntelsekunde zu spät gegriffen wird. Die Bühne selbst ist trotz ihrer riesigen Ausmaße zu klein für diese Darbietung. Um das Trampolin aufstellen zu können, wurden Stühle in der Mitte des Zuschauerraumes entfernt. Jim Dhiser wird mit seinem Trapez von einer gegenüber der Bühne angebrachten Plattform mitten in den Saal schwingen, hoch über den Köpfen der Besucher hinweg. Denn wie immer hat Jim Dhiser auch diesmal das schützende Netz abgelehnt. Lauter wirbeln die Trommeln. 316
Zweitausendvierhundert Augen starren in die Lichtkegel unter der Kuppel. Jack Carter kaut an seinem Bleistift. Es ist das erstemal, daß er fast die Nerven verliert. Jim Dhiser grüßt noch einmal nach allen Seiten. Er grüßt auch hinab zum Orchesterpodest, auf dem im Hintergrund Inspector Jacklow steht. Dann legt er sich die Binde um die Augen und greift sich das Trapez. Wie spielerisch stößt er sich ab und schwebt in den Zuschauerraum hinein. Weit schwingt das Trapez aus. Die Trommeln verstummen plötzlich. Ein Raunen geht durch die Menschen. Der silberne Körper wirbelt durch die Luft, überschlägt dreimal im rasenden Salto – prallt auf das Trampolin – wird wie ein leuchtender metallischer Ball emporgeschleudert – fliegt dem von der Bühne aus heranschwebenden zweiten Trapez entgegen. Aber – nein… das kann doch nicht sein! Viele Zuschauer springen vor Erregung von ihren Sitzen. Keine Hände greifen blitzschnell das Trapez, um den Artisten in die Bahn des schwingenden Gerätes zu reißen. Der Körper saust über das Trapez hinaus, dreht sich silbern blitzend noch einmal um sich selbst und fällt dann senkrecht – mit dem Kopf voran – wie ein Stein der Bühne entgegen – zerschellt auf den Planken mit einem dumpfen Aufprall. Entsetzt schreien die Menschen auf. Inspector Jacklow rennt sofort auf die Bühne; dort hat Collin schon die ersten Anweisungen gegeben. Jack Carter gebärdet sich wie verrückt; er ist außer sich, er tobt und schreit. Das Orchester setzt lautstark mit einem Marsch ein. Der Vorhang fällt. Alle Künstler sind inzwischen aus ihren Garderoben geeilt und haben sich um die furchtbar entstellte Leiche Jim Dhisers versammelt. Jeder redet auf jeden ein. Bis endlich Sam auf Jacklows Geheiß eine Decke bringt und diese über den zerschmetterten Körper Jim Dhisers breitet.
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»Ich ahnte es«, sagt der Inspector eine Stunde später zu Collin, als beide das Theater verlassen. »Er wollte diesen Tod. Wollte in Ehre vor seinem Publikum sterben… als todesmutiger Akrobat. – Der Mensch Jim Dhiser war ein Schwächling. Der Mann Jim Dhiser ein Versager. Der Artist Jim Dhiser ein Held. Man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er wurde zum Mörder, weil man ihm die Achtung vor sich selbst genommen hatte.« »Und wie kamen Sie letztendlich auf die Lösung, Chef?« will der Lieutenant wissen. »Ehrlich gesagt, Mike – ich war von Blondies Schuld nie so überzeugt, wie ich Ihnen vielleicht zu verstehen gab. Die einzelnen Verdachtsmomente lagen mir zu klar auf der Hand. Ich wehrte mich innerlich gegen eine so simple Erklärung der Morde. Aber erst Ihre Predigt, die sie mir heute abend hielten, hat dann meine kleinen grauen Zellen reaktiviert. – Ich ging noch einmal alle Einzelheiten durch und erinnerte mich natürlich in diesem Zusammenhang auch an den penetranten Gestank. So stieß ich auf das entscheidende Indiz. Eine schnelle Untersuchung der Reifen an den Autos von Dhiser und Blondie brachte dann die Bestätigung: Von diesen beiden war nur Dhiser in Portage gewesen! – Allerdings… wäre dieser zusammengebrochene Odelwagen nicht gewesen, ich glaube, wir hätten uns an Jim Dhiser noch eine Zeitlang die Zähne ausgebissen. – So aber hat er selbst ausgepackt und unsere Wissenslücken gestopft.« »Haben Sie schon Anweisung gegeben, Blondie freizulassen?« »Noch nicht. Aber ich fahre jetzt ins Präsidium zurück und erledige alles. Nein«, fährt er entschieden fort, als er sieht, daß Collin ihm diensteifrig folgen will. »Sie erhalten den Auftrag, Mrs. French aufzusuchen und sich bei ihr zu entschuldigen, daß sie fälschlicherweise in Verdacht geriet.« Und augenzwinkernd: »Falls sie trotzdem protestieren will, bin ich überzeugt davon, daß Ihnen die passende Methode einfällt, um ihr den Mund zu schließen…« 318