Hameln — weltbekannt inee silbergraue Limousine, die sehr fremdländisch daher-
kam und deshalb begreifliches Aufsehen ...
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Hameln — weltbekannt inee silbergraue Limousine, die sehr fremdländisch daher-
kam und deshalb begreifliches Aufsehen erregte/ bo°aus einer der engen Seitengassen Hamelns in die Hauptstraße ein. Ganz oben hielt sie mit einem heiseren Protestgeheul des Motors vor einer schwatzenden Gruppe Althamelner Bürgersleute, und schon wurde vorn am "Wagen die blanke Scheibe heruntergekurbelt. Aus dem Berg von Gepäck, der neben dem Mann am Lenkrad aufgeschichtet lag,.beugte sich ein freundliches Gesicht nach draußen. Neugierige fanden sich rasch. Man machte sich hierzulande seit jeher einen Spaß daraus, dem Fremden, "sobald er auch nur einer Auskunft bedürftig schien, bereitwilligst den W^eg durch das Gewirre der alten Stadt oder z« einem empfehlenswerten Gasthof zu weisen; und auch hier zeigten alle Umstehenden die freundlichste Teilnahme. Die Insassen des weitgereisten Wagens sahen sich mit einem Male im Mittelpunkt eines kleinen Menschenauflaufs. Das freundliche Gesicht hatte nun schon zürn zweitenmal etwas dahergerufen, aber man hatte nur ratlos mit der Schulter gezuckt, da niemand der fremden Sprache Herr war. Da endlich zog einer der Zuschauenden einen Graubart hinzu, der gemütlich "sein Pfeifchen schmauchte und vom Bürgersteig aus belustigt den hilflosen Eifer seiner Landsleute beobachtet hatte; denn da man wußte, daß er in allerlei Ländern herumgekommen war, würde er sicher verstehen, was da begehrt wurde. „The piper of Hamelin'" klang es nun zum dritten Male, nun beinahe etwas ungeduldig und erstaunt, daß man dies hier in der Stadt nicht begreifen sollte. Aber der Graubärtige hatte sofort verstanden. „Sie wollen den Pfeifer von Hameln sehen", erklärte er lachend, indem er sich an die Bürger wandte, und da ging auch diesen endlich ein Licht auf. Indessen war der Wagenschlag geöffnet worden, und aus der Wagentiefe und dem Kofferwust hatten sich zwei Gestalten geschält, die sich zunächst einmal auf dem Pflaster mit ein paar Schritten die erstarrten Beine vertraten. Dann ergab es sich, daß diese beiden Fremden sich in einem gar heiteren Kauderwelsch recht gut mit unsern Hamelner Bürgern verständigen konnten. Sie ließen ihre Blicke voller Neugier und Interesse zum Kranz der Berge schweifen, der Hameln umgibt, zu den Türmen der alten Kirchen und dorthin.
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wo die Weser ihren Lauf talab nimmt. Die Züge der Reisenden strahlten, ein fast fröhlicher Ausdruck erschien auf ihrem von den Anstrengungen einer langen Fahrt ermüdeten Antlitz, und sie begannen von dem ^iper'' zu erzählen, ja, recht eigentlich zu schwärmen. Oh, sie kannten ihn alle! In ihren Schulbüchern sei seine Geschichte abgedruckt gewesen; außerdem besitze man zu Hause, in Amerika, ein buntes Sagen- und Märchenbuch aus Deutschland. Die alte Stadt Hameln sei da ziemlich naturgetreu abgebildet, meinten sie, und musterten immer von neuem die Umrisse d& Türme. Ob denn auch noch das Tor vorhanden sei, durch das einstmals die Kinder auszogen? Nein? W i e schade! Aber der Berg, in dem sie verschwanden? Welcher von den vielen rundum sei es denn gewesen? Die Bürger deuteten über die Stadt hinweg in südliche Richtung, und die Fremden konnten sich nicht trennen von dem Anblick der Stadt, die eine so starke Erinnerung an Kindheitseindrücke wachrief, an jene Sage, durch die Hameln in' der ganzen Welt berühmt wurde, und an den geheimnisvollen und unergründlichen Zauber, den der,,bunte Pfeifer" in ihren Gassen ausgeübt hat. So begann ein unterhaltsames und recht munteres Plaudern. Die Schwierigkeiten der sprachlichen Verständigung wurden durch Winken und Zeichen leicht behoben, und es ergab sich, daß die Fremden vom ; piper" gar viel Ergötzliches wußten, so daß man sehr erstaunt sein mußte. W a s also so oft behauptet wird, daß die Rattenfängersage in der ganzen W e l t bekannt ist, ja eine der allerbekanntesten aus dem Sagenschatze der Völker, das erfuhren die Hamelner wieder einmal bei der Begegnung mit diesen Überseefremden. Ja, manche sagen, auch die Tatsache, daß die schöne alte Stadt Hameln in vergangener Kriegszeit nahezu unzerstört geblieben ist, sei der Berühmtheit des Rattenfängers in aller AVeit zu danken. W i r überlassen nun unsere Reisenden ihren eigenen Eindrücken. Die gastlichen Hamelner werden ihnen gewiß hier und dort in der Stadt und vor den Toren Rede und Antwort stehen. Viele Erinnerungen sind ja in dem alten Gemäuer dieser Rattenfängerstadt bis auf den heutigen Tag lebendig und des Erzählens wert geblieben von dem Zauberer, dem sie in jenen Zeiten, da er pfeifend und lockend durch die Gassen tanzte, den Namen Bunting gegeben hatten. W e r kannte sie nicht, die Sage von diesem Zauberer Bunting, die Alär vom Rattenfänger, wie sie unübertrefflich die Brüder Grimm uns aufgezeichnet haben. Schon in allerfrühester Jugend lauschten wir ihr mit klopfendem Herzen und lasen sie mit staunenden Augen in unsern ersten Lesebüchern.
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den Brüdern Grimm ist diese Sage so erzählt: „Im Jahr 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem bunten Tuch an, weshalb er Bunting soll geheißen haben. Er gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger wurden mit ihm einig und versicherten ihm einen bestimmten Lohn. Der Rattenfänger zog demnach ein Pfeifchen heraus und pfiff. Da kamen alsobald die 'Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sichumihnherum. Als er nun meinte, es "wäre keine zurück, ging er hinaus, und der ganze Haufe folgte ihm, und so führte er sie an die Weser; dort schürzte er seine Kleider und trat in das V/asser, worauf ihm alle die Tiere folgten, hineinstürzten und ertranken. Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Manne unter allerlei Ausflüchten, so daß er zornig und erbittert wegging. Am 26. Juni, auf Johannis- und Pauli-Tag, morgens früh sieben Uhr, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers, erschrecklichen Angesichts, mit einem roten wunderlichen Hut und ließ seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdelein vom vierten Jahre an, in großer Anzahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene Tochter des Bürgermeisters war. Der ganze Schwärm folgte ihm nach und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Dies hatte ein Kindermädchen gesehen, das mit einem Kinde auf dem Arme von fern nachgezogen war, danach umkehrte und das Gerücht in die Stadt brachte. Die Eltern liefen haufenweise vor alle Tore und suchten mit getrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen. Von Stund an wurden Boten zu Wasser und zu Land an alle Orte herumgeschickt, zu erkundigen, ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen hätte: aber alles vergeblich. Es waren im ganzen hundertunddreißig verloren. Zwei hatten sich verspätet und kamen zurück; eins davon war blind, das andere
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atu«nm. D a s blinde konnte den O r t nicht zeigen; das stumme zeigte den Ort, obgleich es nichts gehört hatte. Ein Knäblein war im Hemde mitgelaufen und kehrte um, seinen Rock zu holen, wodurch es dem Unglück entging; denn als es zurückkam, waren die andern schon in der Grube eines Hügels verschwunden. Diese Grube wird noch heute gezeigt." So erzählen die Brüder Grimm; sooft "wir diese alte Sage hören, fühlen wir uns von neuem ergriffen und können uns den Kummer der unglücklichen Eltern vorstellen. Sicher sind sie ihres Lebens nie wieder froh gewordenl _
Mit den Augen der Dichter gesehen . . . D a s Geheimnisvolle und Erschütternde dieser altüberkommenen Mar, die mit dem grausenerregenden Verschwinden der Kinder im Berge endet, hat nun die Dichter aller Jahrhunderte immer wieder veranlaßt, den Stoff in den verschiedensten Abwandlungen neu zu erzählen. Während der letzten 35o Jahre ist eine -wahre Flut von Gedichten, Geschichten, Sing- und Theaterspielen entstanden, durch die Herr Bunting, der Rattenfänger, spukhaft geistert. Selbst Altmeister Goethe zählt zu denen, die von der Sage verzaubert waren. Sein Gedicht: „Ich bin der wohlbekannte Sänger, der vielgereiste Rattenfänger", wurde einst viel gesungen (s. S. 20). Auch Julius Wolff, wegen seiner altertümlichen Erzählungsweise als der Butzenscheibendichter bespöttelt, hat ein Epos um den Rattenfänger geschrieben, das im vorigen Jahrhundert stark verbreitet war (vgl. S. 27). Er umgab es mit reicher Phantasie und ließ viele zur eigentlichen Sage nicht gehörende Gestalten darin auftreten. Auch von Wilhelm Raabe besitzen wir ein W e r k unter seinen „Kleineren-Erzählungen", „Die Hämelschen Kinder" genannt, aus dem zu ersehen ist, wie frei und phantasiereich die Sage behandelt worden ist und welch starke Wirkung sie selbst in abweichender Form auf den Leser ausübt. Auch das Auslandsschrifttum hat den Sagenstoff aufgegriffen. In England gibt es ein Buch, ein längeres Gedicht, das in liebevoller Kleinmalerei und in lebendiger Schilderung die Sage behandelt: „The pied piper of Hamelin", „Der bunte Pfeifer von Hameln" nennt es sich. Sein Verfasser heißt Robert Browning. Dies Buch war einst eines der beliebtesten Lesebücher der englischen Jugend. Selbst der Film hat mehrmals schon den Rattenfänger beschworen. Der Schöpfer der Micky-Maus (jener höchst komischen Trickzeichnungen, die ihr vermutlich alle kennt) schuf für Kinder einen Film
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vom Rattenfänger, der lustig-übermütig beginnt und dann traurig und herzbeklemmend endet und sicher manchen der kindlichen Zuschauer zu Tränen rührt. Die Hamelner Stadtbibliothek hat alles gesammelt, was im Inland oder im Ausland über den Rattenfänger geschrieben worden ist. W e r also in Hameln wohnt, hat es gut: er kann sich jederzeit die Bücher über die alte Sage ausleihen, die seinen Wissensdurst befriedigen. Am merkwürdigsten sind die alten Chroniken und Urkunden, die man in der Bücherei verwahrt. Allerdings handelt es sich nicht nur um Originale, denn diese sind in staatlichem Besitz oder im Eigentum jener Städte, in denen sie einst aufgefunden wurden, und es ist verständlich, daß keine Bibliothek solche Schätze herausgeben und verkaufen wird. Es sind hier in Hameln Nachbildungen dieser alten Handschriften und Inkunabeln gesammelt, jener Bücher also, die bald nach der Erfindung der Buchdruckerkunst hergestellt wurden. Um die Hamelner Sagensammlung möglichst vollständig zu besitzen, hat man diese alten Dokumente und Werke in den fremden Bibliotheken photographieren lassen. Oft umfaßt der Text, der sich auf die Sage bezieht, nur eine einzige Seite, aber auch aus den kürzesten ' H i n w e i s e n erfahren wir, daß man schon in frühester Zeit in allen deutschen Landen von der ,,Hämelschen Sage" Kenntnis hatte.
Die Gelehrten erscheinen auf dem Plan Zu allererst hat sie ein Bamberger aufgeschrieben und zwar aus folgendem Anlaß: Als Markgraf Albrecht Alkibiades von Brandenburg-Kulmbach nach der Einnahme von Bamberg eine Brandschatzung der Stadt forderte und die Stadt diese nitht in voller Höhe aufbringen konnte, wurden 77 Bürger als Geiseln festgenommen, auf dem Kriegszuge nach Niedersachsen mitgeschleppt und vom 22. bis 3o. Juni i555 notdürftig in der Stadt Hameln untergebracht. Unter diesen Unglücklichen befand sich nun der Bamberger Bürgermeister Hans Zeitlos, ein kluger Herr, der trotz seiner traurigen, ja verzweifelten Lage zum Federkiel griff und die Rattenfänger sage in sein Tagebuch schrieb. Diese wertvollen Aufzeichnungen sind uns erhalten geblieben. In dem Tagebuch des Herrn Zeitlos lesen wir nun folgendes: ,,Es liegt auch ein Berg ungefähr einen Büchsenschuß weit von der Stadt, der ist Calvaria genannt. Sagten die Bürger, daß anno 1283 ein großer Mann gesehen sei worden gleich einem Spielmann, welcher einen Rock mit viel Farben angehabt und ein Pippen oder Pfeifen, damit er in der Stadt gepfiffen,- Da sind die Kinder in der Stadt mit * (f *
hinausgeloffen bis auf den vorgenannten Berg und allda bei ihm versunken. Allein zwei derselben Kinder sind wieder nackend heimkummen, das eine verbündet, das andere verstummt. Als aber die Weiber ihre Kinder zu suchen hinausgeloffen, hat ihnen der vorgenannt Mann gesagt: Über 3oo Jahr wollt er wiederkommen und mehr Kinder holen; seien der Kinder i3o gewest. Fürchten sich demnach die Leut desselben Orts noch, derselb Mann werde, so man i583 zählen soll, wiederkommen." W a s liegt nun dieser Sage zugrunde, was an ihr beruht auf Tatsachen und welche Zeugnisse sind für diese Tatsachen erhalten? Handelt es sich um eine reine Sage, wie z. B. die vom Kaiser Barbarossa, der im Kyffhäuserberg vor dem Marmortische thront, von Raben umkreist? Oder hat sich in längst vergangenen Zeiten in Hameln etwas ereignet, das im Kern der Sage verborgen liegt, und können wir diesen Kern wieder hervorholen, indem wir ihn von dem erdichteten Beiwerk freimachen? Mehr noch als die Dichter haben sich seit dem ersten Auftauchen der Sage die Gelehrten mit ihr beschäftigt, und das Forschen und Untersuchen ruht selbst heute noch nicht. Erst in diesen Tagen ist eine neue Deutung der Sage bekannt geworden und findet große Beachtung in der wissenschaftlichen Welt, weil sie — über die Hamelner Ortsgeschichte hinaus —• vielleicht neue und erstaunliche Schlüsse auf die Siedlungsgeschichte der deutschen Heimat zuläßt. Doch hiervon werden wir erst zum Schlüsse Näheres erfahren. Zunächst wollen wir uns mit den anderen, näherliegenden Erklärungen der Sage bekannt machen.
Wir unterscheiden zwei Sagenteile Doch eines muß uns vor allem klar werden: daß nämlich die Sage in zwei genau auseinanderzuhaltende Teile zerfällt: Die Rattenvertilgung und die Gestalt des bunten Pfeifers stellen den ersten Teil dar, der zweite, man darf wohl sagen, wichtigere, berichtet vom Auszug der Kinder und ihrem Verschwinden auf Nimmerwiedersehen. W i r wollen uns nun ein wenig mit der Forschung nach dem geschichtlichen Kern der Sage beschäftigen. Sicher werden wir überzeugt sein davon, daß irgend etwas an ihr ,,dran'" sein muß. Und damit haben wir recht. Hameln besitzt nämlich noch andere wohlerhaltene Zeugnisse von jenem unvergessen gebliebenen Ereignis, das den Auszug der Kinder bekundet. D a s sind in Stein gemeißelte In-
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Schriften. Auch sie haben die Jahrhunderte überdauert und sie sind für jedermann leicht auffindbar, und ihr Wortlaut ist mit einiger Alühe zu erkennen. Die bekannteste Inschrift befindet sich an der westlichen W a n d des Rattenfängerhauses in der Osterstraße zu Hameln.
Das Rattenfängerhaus Jeder Fremde fragt, ob der Rattenfänger in jenem Hause gewohnt habe, als er dem Rat seine Dienste anbot, da es ja doch seinen Namen trage? Falsch vermutet! Aber er kann ja nicht wissen, daß der Auszug der Kinder sich bereits dreihundert Jahre vor jener Zeit ereignete, da man jenes Haus gebaut hat, das heute das Rattenfängerhaus heißt. W^arum es dennoch diesen Namen trägt, lautet die zweite Frage. Doch sie läßt sich erst beantworten, wenn wir vor dem Hause stehen und seine Inschrift entziffern können. Auf! Laßt uns also einen Gang durch die Altstadt machenl W i r kommen vom Bahnhof her durch eine wenig schöne Geschäftsstraße, stoßen auf die breite, nach einem nahen Gebirgszug benannte Deisterstraße, die sich gegen Norden zu einem mächtigen Sportplatz öffnet und stehen jetzt am sogenannten „Ostertor". Indessen, von einem Tor ist keine Spur zu sehen. Dennoch bezeichnet man diese Stelle, an der die Hauptstraße ausmündet, noch heute als Ostertor, weil hier einst das Osttor stand. Und durch dieses Tor nahmen einst die „Hämelschen Kinder" den W e g hinaus zum Koppenberge. So ist es berühmt geworden. Auf Befehl des Kaisers Napoleon, der alle festen Wehrbauten niederlegen ließ, wurde es 1806 mit allen anderen Toren der Stadt zerstört und abgetragen. Im Vergleich zu der weiten, neuzeitlich angelegten Deisterstraße erscheint euch die Osterstraße recht eng, und ganz besonders eng ist sie an jener Stelle, wo das berühmte Rattenfängerhaus steht, das wir uns jetzt betrachten wollen. Es bleibt uns gar nichts anderes übrig als in die schmale Seitengasse, Heiligengeiststraße genannt, zu treten, die dem Hause gegenüber in die Osterstraße mündet. Nun können wir das herrliche Bauwerk vom hohen Giebel bis hinab zum Sockel betrachten. Die Architekten und Kunstkenner bezeichnen seinen Baustil mit Hochrenaissance. Das ist ein gewichtiges und bedeutungsvolles Wort-, und wer sich besonders treffend ausdrücken will, weil er über eingehende Kenntnisse der Bauformen und Stilrichtungen verfügt, der setzt noch hinzu, daß es sich um echte, reifste „Weser-Renaissance" handelt. Aber auch derjenige, der auf dem Ge-
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biet der Baukunst vielleicht noch wenige Beispiele hat sehen und erleben können, bemerkt, daß dieses Haus etwas ganz Besonderes darstellt. Dennoch soll es also mit dem Rattenfänger selber nichts zu tun haben ? Hört zul Gebaut wurde es in den Jahren 1600 bis 1602 von einem adeligen wohlhabenden Gutsbesitzer aus der Hamelner Gegend als Hochzeitsgabe und Winterhaus für seine Tochter. Der Sitte der Zeit entsprechend, ließ er eine Inschrift an seinem Hause anbringen. Er wollte dort ein Ereignis verewigen, das für seine Stadt und für die Osterstraße, in der sein neuerbautes Haus stand, für immer denkwürdig war.
Die berühmte Inschrift ie zu entziffern wollen wirversuchenl Aber das ist nicht so ganz einfach. Die Inschrift ist sehr hoch an der Hauswand angebracht, und ihre Buchstaben sind altertümlich, ver• schnörkelt, der Text führt zudem jene Sprache, die um 1600 im Lande Niedersachsen, zu dem Hameln ja gehört, gebräuchlich war, und die uns heute nicht ohne weiteres verständlich ist. Jeden Fremden, der nach Hameln kommt, erkennt man übrigens unfehlbar daran, daß er mit hochgerecktem Hals sich am Rattenfängerhaus aufstellt und an dieser Inschrift herumbuchstabiert. Treten wir also jetztin das westliche Seitengäßchen, das unmittelbar am Hause entlangführt! Deutlich sichtbar leuchtet dort oben der vergoldete Spruch, so daß sich die einzelnen Buchstaben gut leserlich vom altersgrauen Sandstein abheben. Das enge Gäßchen hier heißt noch heute die,,Bungelose-Straße", die „Trommellose". In ihr durfte keine Trommel gerührt werden und kein Saitenspiel erklingen zum ewigen Trauergedenken an die Hämelschen Kinder, die durch diese Gasse ihren schicksalsvollen W e g zum Ostertor hinaus nahmen, für ewig „verloren . „Bi den Koppen verloren." So nämlich verkündet da oben an der W^estwand des Rattenfängerhauses die Inschrift. "Wir wollen sie ganz genau und W^ort für "Wort studierenl Sie lautet: „Anno 1284 am Dage Johannes et Pauli war der 26. Junii
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durch einen Pieper in allerley Farve bekledet gewesen C X X X Kinder verledet Binnen Hameln geborn, To Calvarie bi den Koppen verloren." In Hochdeutsch übersetzt also die Kunde, daß am 26. Juni 1284, am Johannes- und Paulstage, i3o in Hameln geborene Kinder durch einen, in allerlei Farben gekleideten Pfeifer verkitet, hinter dem Wallfahrtsorte, bei dem Koppenberge, verlorengingen. Hundertdreißig Kinder! Verloren! Ein grausiges, ein erschütterndes und ein ganz unerklärlich-geheimnisvolles Ereignis, das dann im Laufe der Jahrhunderte mit dem ersten Teil der Sage vom Rattenfänger, der um seinen Lohn geprellt wurde, zu einer einzigen, sinnvoll aufeinander folgenden Handlung verschmolzen worden ist. W i r müssen also die beiden einzelnen Sagenteile gut auseinander halten und werden erkennen, daß der erste Teil besonders geheimnisvoll erscheint, während wir beim zweiten Teil annehmen könnten, daß ihm ein wirkliches Geschehnis zugrunde liege. Bedeutet nun der Auszug von hundertdreißig Kindern unter Vorantritt eines Pfeifers unbedingt, daß sie „verzaubert" wurden, wie die Sage annimmt? Daß sie, wenn auch „bi den Koppen verloren", i n jenem Berge verschwanden? Konnten sie nicht auch hinter diesem Berge weitergewandert sein, so, daß die Nachblickenden sie von der Stadtmauer oder von hochgelegenen Fenstern aus aus den Augen „verloren" •— ? Spricht man doch von solchem „aus dem Auge verlieren", wenn man davonwandernden Menschen, flüchtendem Wild, einem in den Wölken kreisenden Vogel oder einem Flugzeug angestrengt nachspäht! „Bi den Koppen verloren!" Vielleicht ein sehr einfach zu erklärender Vorgang, vielleicht daß man ihn sogar geschichtlich begründen kann? Aber das Grübeln in dieser Richtung setzte erst sehr spät ein. Viele Jahrhunderte hindurch glaubte man fest an einen geheimnisvollen Zauberer, an den die Erinnerung auch heute noch wach ist in der alten, durch den Zustrom der Flüchtlinge gegenwärtig so übervölkerten Stadt.
Viel Fremde besuchen Hameln Vor dem Kriege verdankte die Stadt Hameln der Rattenfängersage einen blühenden Fremdenverkehr. Schulen, Heimatvereine, Studiengesellschaften, Kunstfreunde und Altertumsforscher kamen in Scharen oder einzeln gewandert. Hier in der Stadt fand man Zuckerwerk in Form von Ratten in den Schaufenstern, kleine und große Semmeln in Rattengestalt, mit kühnen Schnurrbartborsten und
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ellenlangen Schwänzen; man fand Ratten aus Kuchenteig geformt und mit Schokolade überzogen. Tintenfässer und Aschenbecher, ja, die ungeeignetsten Gegenstände gab es in Gestalt von Ratten zu kaufen, und auf jedem Taschentuch, jedem Schmuckteller und jeder Blumenvase, die den Fremden feilgeboten wurden, war der bunte Pfeifer abgebildet. — Die anderen aber, die Kunstfreunde, fanden die altehrwürdigen Bauten der Stadt und die Naturfreunde obendrein die liebliche Weserlandschaft mit dem Auf und Ab der Hügel und dem alles belebenden Strom. Und die wanderfrohe Jugend sang das schöne Lied von der Weser: „Hier hab' ich so manches liebe Mal mit meiner Laute gesessen." Die Marzipan- und Schokoladenratten sind jetzt freilich verschwunden; glücklicherweise auch die Tintenfässer und all die anderen „Hausgreuel". Die herrlichen Gebäude jedoch hat —' bis auf die schöne alte Marktkirche und den Barockbau des Alten Rathauses -— der Krieg verschont. Unverändert geblieben sind auch die Berge, Täler und Fluren rund um die an Denkwürdigkeiten so . reiche, weltberühmte, alte Stadt. — — Die vielen aus dem deutschen Osten hereingeströmten Flüchtlinge, «sie kannten alle, wen man auch danach befragte, die Rattenfängersage, aber die Entstehungsgeschichte und den geschichtlichen Hintergrund nur in seltenen Fällen, und so kreist von neuem die Phantasie um die noch immer geheimnisvolle Gestalt des bunten Pfeifers, und das Mitleid um die „verlorenen'' Kinder beschäftigt die Gemüter, zumal es ja so viele gleichartige Schicksale in dieser Zeit zu tragen gibt. •— Die fremden Soldaten aber, die nach dem Kriege gekommen sind, haben, wie konnte es anders sein bei ihrer Schwärmerei für die alte Sage, den Ort ihrer geselligen Erholungsstunden „Pipers Club" genannt, und die gebildeten unter ihnen lassen sich von den in Hameln ansässigen Geschichtsforschern in das Heimatmuseum führen, in dem es ein Sonderzimmer gibt mit vielen Schaukästen, mit Büchern, Bildern und Erinnerungsgegenständen, die alle die Sage betreffen.
Blick auf das Hochzeitshaus Da wir nun einmal in der Osterstraße sind, wollen wir nicht versäumen, einen Blick auf das berühmte „Hochzeitshaus'* zu werfen, das wir weiter.unten, am Ende der Straße, liegen sehen. Es beherrscht das Bild dieser Hamelner Hauptstraße so großartig, daß man es unmöglich übersehen kann. Selbst wer überhaupt kein Interesse für Bauten besäße oder völlig verträumt durch fremde Städte schlenderte, würde sozusagen mit der Nase auf dieses mächtige Gebäude stoßen.
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Es ist ein Prachtbau, 1610, also kurz vor dem Dreißigjährigen Kriege errichtet, zu einer Zeit, als die Stadt Hameln mitsamt ihren Bürgern zu Reichtum gekommen war. In diesem prächtigen, ebenfalls im Renaissance-Stil errichteten Großgebäude fanden in der Folgezeit alle Hochfeste statt. Hier feierte man mit Vorliebe Vermählung bei Schmaus und Tanz, und so gab man dem wie ein feierliches Schloß wirkenden Bau den Namen Hochzeitshaus. So heißt es noch heute, obwohl es längst nur noch die Schreibstuben und Sitzungszimmer der Stadtverwaltung beherbergt, neuerdings sogar mit Wohnungs- und Ernährungs- und Flüchtlingsamt und was sonst noch die bedrängte Gegenwart erfordert. Im Hochzeitshaus hat i63o Feldmarschall Tilly kurze Zeit residiert, ehe er auf Magdeburg rückte, um es zu belagern. Uns fesselt das Hochzeitshaus im besonderen, weil es gleichfalls eine auf den Fortzug der Kinder deutende Inschrift trägt, im Wortlaut sehr ähnlich derjenigen, die wir soeben am Rattenfängerhaus entzifferten.
Das älteste Dokument der Sage
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Das älteste und wertvollste Zeugnis "wird jedoch im Münster aufbewahrt. Das Münster ist der Hamelner Dom, ein frühgotischer Bau, an dem wir den interessanten Übergang vom romanischen zum gotischen Stil studieren können. Aber wir wollen ja vor allem etwas über die Sage erfahren! Etwas? Nein! Möglichst allesl Und so betreten wir dann das Innere der alten Kirche und finden einen grauen, sorglich gehüteten Denkstein und lassen uns erzählen, daß er vom ehemaligen Neuen Tor stammt. Über dem Hamelner Wappenztichen ist die Jahreszahl i53i eingemeißelt und auf seinem Sockel trägt der Stein die Zahl 1556 und einen lateinischen Vers, der besagt, daß dieses Tor 272 Jahre nach dem Fortzug der Kinder durch „den Zauberer errichtet worden seil 272 Jahre später, im 16. Jahrhundert also, glaubte man noch so fest an die geheimnisvolle Macht eines Zauberers, der die Kinder wider ihren Willen entführte, daß man diese erschütternde Tatsache sogar auf Denksteinen verewigte. Die Erinnerung sollte wachbleiben für alle Zeit und Ewigkeit! —•• Den Gelehrten und Forschern genügten indessen all diese Urkunden noch nicht. Sollte es denn in Hameln nicht noch mehr, noch andere, noch aufschlußreichere Zeugnisse und Hinweise geben? Diese Frage wurde immer wieder laut, und die gelehrten Professoren aller Jahrhunderte haben beschwerliche Reisen nicht gescheut, haben dem Rat feierliche Besuche abgestattet, und man hat sie willkommen ge~
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heißen und in der Stadt herumgeführt. Manche sind auch ihre eigenen Wege gegangen und haben die alten Einwohner ausgefragt. Diese erzählten ihnen dann, was ihnen einst von ihren Vorfahren berichtet wurde, als sie selber noch Kinder waren und was diese wiederum von Großvater und Großmutter und Urahne gehört hatten. Jedes Hamelner Haus und jede Toreinfahrt, jedes noch so unscheinbare Hofgebäude und jeder Mauerrest wurden untersucht nach Spuren, die auf die Sage hindeuten könnten. Keine Chronik, die in vergessenen Truhen auf verstaubten Böden und in versteckten Kammern aufgefunden wurde, blieb ungelesen. Vor allem aber wurden unzählige vergilbte Akten durchstöbert, die der Rat sorglich hütete. Viele Wochen und Monate brüteten die Gelehrten über verschnörkelten, schwer zu entziffernden Schriften, und das, was durchforscht und beiseite gelegt wurde, zogen neue Forschergenerationen nach Jahrzehnten und Jahrhunderten wiederum ans Tageslicht und begannen erneut zu sichten und zu suchen. Alle schriftlichen Zeugnisse, die sich auf die Sage beziehen, stammen jedoch •—• wohlgemerkt -—• frühestens aus dem 16. Jahrhundert. Alle diese papiernen Zeugnisse sind jünger als die erste Kunde, die uns jener Torstein in der Münsterkirche überliefert hat.
W a r es der Teufel ? W i r haben gewiß schon festgestellt, daß in all diesen schriftlichen und steinernen Urkunden von Ratten- und Mäusevertilgung noch immer keine Rede ist. Sie berichten vielmehr nur, nachtrauernd, vom Schicksal der unglücklichen Kinder. Dieses unselige Schicksal gibt der Phantasie der Menschen immer neue Nahrung und spinnt um die durch vielerart Dokumente bezeugte Tatsache buntfarbiges Beiwerk. Es waren höchst sonderbare Deutungen, zu denen die Nachsinnenden kamen. Den Auszug der Kinder legten sich die gelehrten Herren ganz nach der Denkungsweise jener Zeit zurecht, in der sie lebten. Sie waren ja doch selber Kinder ihres JahrhundertsI Ihre merkwürdigen Erklärungen deuten uns an, wie tief man damals im Aberglauben befangen war. Der Pfeifer, so meinen sie, kann selbstverständlich niemand anderes gewesen sein als der leibhaftige Teufel. Zu dieser Feststellung kommt zum Beispiel im Jahre i556 Johann Weiers in seinem Buche „Über die Blendwerke des Teufels'4 (s. S. 21). Ein anderer Gelehrter, Caspar Athesinus mit Namen, erzählt in seinen „Wunderzeichen", die im Jahre 1567 in Frankfurt gedruckt wurden, daß „der
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Teufel in siehtbarlicher gestalt uufi' der gassen umher gangen / u n d gepfiffen / und damit viel Knäblein und Mägdlein an, sich gezogen hat / und zuletzt zum Stadt Thor hinaus geführet / an einen Berg, daselbst verloren, das niemand hat können erfahren / wo die Kinder hinkommen seyn". ' Und viele andere Chronisten jener wundergläubigen Zeit haben ähnliches geschrieben. Unablässig beschäftigte die Kunde von der Entführung der Kinder die Menschen.
Der Rattenfänger tritt auf In dieser Zeit — es war im 16. Jahrhundert .—• taucht in der Sage der Rattenfänger auf. Schon in der Teufelsgeschichte des Johann Weiers (s. S. 21) ist von dem Mäuse- und Rattenvertilger die Rede. Die Geschichte von dem geprellten, sich rächenden Zauberer wurde dem zweiten Teil, von dessen Zustandekommen bisher allein die Rede war, vorangestellt und findet in dieser neuen, erweiterten Form in allen deutschen Landen die stärkste Verbreitung. In vielen Chroniken und Denkwürdigkeiten wird sie niedergeschrieben. Die meisten dieser Niederschriften befinden sich, wie zu Beginn unseres Berichtes schon erwähnt wurde, in der Hamelner Stadtbücherei. Hameln wurde nun, da der Gaukler hinzugekommen war, erst recht berühmt. Indessen, die Geschichte des Rattenfängers klang wahrlich nicht wie ein Lob für die redliche Weserstadt. Das Ansehen des Rats mußte erheblich leiden, wenn man ihm den schändlichen Wortbruch nachwies, den die Sage anprangerte. Mochten die beteiligten Ratsmitglieder auch seit Jahrhunderten schon im Grabe ruhen, so mußte die Nachwelt doch des Glaubens sein, daß am Ende solch schändlich-schäbiger Geist in Hameln noch fortlebe und daß er nie auszurotten sei, weil er sich wie ein Flueh von Generation zu Generation weitervererbe. Es galt also, die Glaubwürdigkeit des ersten Sagenteils anzuzweifeln, und es ist verständlich, daß dieser Zweifel zu allererst in Hameln selber einsetzte. Hartnäckig bekämpften die Hamelner also die böse Geschichte vom W^ortbruch ihrer Stadtväter und sie erreichten auch, daß wenigstens die Hamelner Bürger um das Jahr i65o herum der Überzeugung waren, daß diese W^ortbri.-hgeschichte nichts anderes als eine Legende sei. So sehr man die Sage schätzte, denn sie hatte ja die Stadt berühmt gemacht und manchen interessierten und gut zahlenden Fremden herbeigelockt, so «tand ihren Einwohnern der Ruf der städtischen Ver-
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gangenheit doch hoher als das Fremdengeschäft. Ein jeder möchte ja gern stolz sein können auf seine Vaterstadt! Im Jahre i653 wird also in einem wichtigen Buch, der „Topographie (Ortsbeschreibung) der Braunschweig-Lüneburgischen Lande" zum erstenmal ausdrücklich festgestellt, daß die Sage vom Rattenfänger ins Reich der Fabel gehöre. So! Das mochten sich nun alle jene merken, die so gern den alten Märchen Glauben schenkten und sich durchaus nicht eines Besseren belehren ließen! Ein würdiger Hamelner Senator, Spilker mit Namen, nannte in dieser Zeit die Sage „ein locker Gedicht, die Kinder zu schrecken, etwa den alten München (er meint Märchen) gleich4'. Aber Satans- und Hexenglaube waren so leicht nicht aus den Köpfen zu treiben, und das ungelehrte Volk sah in dem Pfeifer auch weiterhin den Zauberer, den Satan in Menschengestalt. Als einer der ersten kam der berühmte Weltgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, der für die Aufklärung seiner Zeit so viel getan hat, zu der Vermutung, daß den steinernen Inschriften ein historisches Begebnis zugrunde liegen müsse. Er sprach den Gedanken aus, daß zu jener Zeit, in der die Entführung der Kinder sich nach der Sage abgespielt hat, in Hameln vielleicht eine Seuche ausgebrochen sei: eine unheimliche, ansteckende Todeskrankheit, und daß man deshalb die Erkrankten vorsorglich aus der eng ummauerten Stadt hinausgebracht habe, damit die Seuche nicht noch anderen Menschen zum Unheil werde. Das seien dann die verlorenen Kinder der Sage geworden. Möglicherweise könne es sich aber auch um die Teilnahme der Hämelschen Jugend am Kinderkreuzzug gehandelt haben, von dem sie niemals Wiederkehrten. So grübelte und forschte man und versuchte zu'erklären und zu deuten, aber das Geheimnis blieb Geheimnis. Jahrzehnte, Jahrhunderte hindurch.
Licht kommt in das geheimnisvolle Dunkel Plötzlich aber kommt Licht in das Dunkel dieser Sage. Im Jahre 1749 lebte in Hameln ein alter Pfarrer namens Fein, der ein emsiger und gelehrter Herr war. Dieser Mann veröffentlichte nach eingehenden Forschungen eine Schrift, die er „Die entlarvte Fabel vom Ausgang der Hämelschen Kinder" nannte. Er hatte sich nämlich ausgerechnet, daß man in der Chronik Hamelns auf ein bedeutsames Ereignis stieß, "wenn man die oberste auf dem Stein in der Münsterkirche angegebene Jahreszahl zugrunde legte und nicht, wie es bisher geschehen war, die Zahl auf dem Sockel dieses Steines. Auf
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dem Torstein im Münster stand-öfeen aber die Jahreszahl i53i und der Vers, der besagte, daß dieses Tor 272 Jahre nach der Entführung der Kinder errichtet worden sei. Diese Entführung hatte sich also, wenn man zurückrechnete, im Jahre 1259 abgespielt und nicht in den Jahren 1283 oder 1284, die man bis dahin errechnet hatte, indem man die Jahresangabe 272 von der Zahl i556 auf dem Sockel abzog. -Dieses Jahr 1259, so erkannte Pfarrer Fein, war aber zugleich das Jahr der unglücklichen Schlacht von Sedemünde, aus der die Hamelsche Jugend nicht mehr heimgekehrt war. Sedemünde lag einen Tagesmarsch von Hameln entfernt am Fuße des Deister. Dieses Dorf ist inzwischen untergegangen. Auf seiner Gemarkung hatten die Mannen der Stadt Hameln und die des Bischofs von Minden 12 5g ein blutiges Treffen, ging es doch um die neue Herrschaft des neuen Bischofs von Minden über die Stadt. Bis dahin war Hameln dem Bischof von Fulda unterstellt gewesen. Fulda lag für damalige Reiseverhältnisse weit entfernt. Eine höchst bequeme Oberhoheit für die Hamelner. Jetzt sollte auf einmal der benachbarte Bischof von Minden befehlen dürfenl Das paßte den freiheitgewohnten Hamelnern nicht. So war es zur Fehdeansage gekommen, und alle Waffenfähigen waren durch das Ostertor dem Feinde entgegengezogen. Spricht man nicht auch bei Erwachsenen, daß sie ihres Heimatortes Kinder seien? Nennt man sich nicht selber, bis ins Alter hinein, ein „Kind" seiner Stadt, seines Dorfes, seinT Landschaft? Muß man mit den Worten „Kinder, binnen Hameln geooren" (wie der alte Text am Rattenfängerhause lautet) unbedingt nur Hosenmätze und Dreikäsehochs gemeint haben? Konnten es nicht ebensogut junge, waffentragende Burschen gewesen sein, die, von einem Pfeifer angeführt, in der Richtung auf Sedemünde marschierten und hinter dem Koppenberge verschwanden? Der Rat der Stadt mochte sie feierlich bis vors Tor geleitet haben, gefolgt von der Bürgerschaft. Und hier standen nun Eltern und Geschwister, junge Bräute und Frauen und blickten ihnen abschiedwinkend nach. Bis sie „To Calvarie, bi den Koppen verloren" gingen! In der Tat: „verloren", denn die Schlacht bei Sedemünde ging unglücklich für die Hamelner aus. Die gesamte Jungmannschaft wurde dahingerafft. Unbeschreibliche Trauer beherrschte die kleine Stadt, in der i3o junge Menschen den Großteil der Jugend ausmachten. Fast jede Familie beweinte 'einen Angehörigen, und das Gedächtnis an den Opfertod schlief nicht ein und sollte auch nicht einschlafen. Viele Totenmessen wurden gelesen, jahrhundertelang; erst als Luthers
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Lehre um 1640 auch m Hameln Fuß gefaßt hatte l;„n •• r> L j j u- i • u u • . 6 , , a t t e ' l l e I J man von diesem Brauch, und das historische Ereignis verblaßte mit der Zeit Es war aber in Hameln Sitte geworden, außer der Datierung nach Christi Geburt, eine zweite Jahreszahl zu errechnen, die sich Na kinder utgang" benannte. Diese Bemerkung findet man sehr häufig in alten Hamelner Urkunden. — — — Der Herr Pfarrer Fein zu Hameln muß damals recht stolz gewesen sein auf diese seine Entdeckung, deren Ergebnis uns heute recht einleuchtet, so daß man meint, es könnten überhaupt keine neuen Zweifel an ihrer Richtigkeit aufsteigen, denn auch die Einzelheiten der Sage passen zu dieser Auslegung. Wollen wir nach unserem Rundgang durch die Stadt einen Spaziergang auf den Klüt machen, den Berg am Westufer der Weser und dort oben den Turm besteigen? Da werden wir gleich feststellen, daß der Weg in der Richtung auf Sedemünde allemal zum Ostertor hinausführt, unmittelbar am Koppenberge vorbei, bei dem, wie die Sage verkündet, die Kinder „verloren" gingen. Mußte man sich hier nicht überzeugen lassen, daß die Feinsche Deutung der Wahrheit nicht nur nahekam, sondern daß sie das Ereignis treffend erklärt hatte. Schön und gutl Wie aber kam die Gestalt des Rattenfängers zur Sage hinzu? Die Unklarheit blieb. Zu jener Zeit, die man die Zeit der Romantiker nennt, das heißt also um die Wende des 18. Jahrhunderts und einige Jahrzehnte später, beschäftigte man sich damit, die mythischen Grundlagen der Sage zu untersuchen, ihre Anknüpfung also an altüberlieferten Volksglauben, aus dem schließlich alle Märchen und Sagen herkommen. Es waren wiederum die Gelehrten und die Forscher, die nun die Rattenfängersage mit den Sagen anderer Gegenden und auch anderer Völker verglichen. So deuteten sie die Gestalt des Rattenfängers als den Totengott, der die Seelen der Verstorbenen hinter sich herführt und zwar in solchen Scharen, daß es wie ein immer stärker anschwellendes Ratten- und Mäusegewimmel war. Andere Forscher sahen in der Sage nur eine lose Abweichung von der im Mittelalter allgemein üblichen Tierverfluchung durch Zauberformeln, von der alte Aufzeichnungen berichten. Die Menschen jener Jahrhunderte waren ja noch "weit zurück in der Erkenntnis der Natur und kannten oft kein besseres Mittel als diesen geheimnisvoll wirkenden Zauberfluch, wenn sie sich von Tiernöten oder einer Ungezieferplage befreien wollten. Daß Hameln ganz besonders unter Ratten und Mäusen zu leiden hatte, war nur allzu verständlich. AVar es doch von altersher ein Städtchen mit vielen Mühlen, dem beliebten Tummelplatz der Ratten. Das Wappen Hamelns zeigt ja
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auch den .Mühlstein, und um seiner vielen Mühlen wegen trug der Ort in ältester Zeit den Namen Querenhameln, das heißt Mühlenhameln. Aber noch immer ruhte die Forschung nicht: Auch mit dieser Erklärung gab mancher sich nicht zufrieden. Man hatte Aufzeichnungen anderer Städte entziffert und dabei erfahren, daß die Jugend des i 3 . Jahrhunderts, jener Zeit also, die mit dem „utgang der hämelschen Kinder" übereinstimmt, zuweilen von einer Tanzwut besessen war. Man nannte diese Tanzwütigen auch Johannistänzer, und die Fortführung der Kinder fiel ja, der alten steinernen Inschrift gemäß, in die Tage um Johannis. Konnten es also nicht Tanzwütige gewesen sein, die erst nach längerer Zeit des Austobens, brav und ernüchtert, wieder an ihr Tagewerk innerhalb der heimatlichen Mauern zurückkehrten?
Schuld und Sühne ieviel man geforscht und gegrübelt hat und wieviel teilweise recht abseits liegende Lösungen i man fand, die sich schließlich nicht als Lösungen erwiesen, so daß man immer wieder von vorn beginnen mußte, ist euch jetzt sicher klar. Man hatte aber auch eine wichtige Frage bisher unbeantwortet gelassen : wie es denn eigentlich zur Verbindung beider Sagenteile gekommen war, warum man den Bericht vom Auszug der Kinder, dem offenbar eine historische Tatsache zugrunde lag, mit der Gestalt des Rattenfängers verkoppelt hatte. Hierüber hat erst ein neuerer Geschichts- und Sagenforscher, D r . Renken, in seiner Schrift „Die Rattenfängersage", einer sehr klugen Zusammenfassung aller Quellen und Deutungen, Aufschlüsse gegeben. Er entwickelt in dieser Schrift folgende Gedanken: Daß das Volk die Sage von dem Rattenverzauberer und die Historie von dem Todeszug der Kinder zu einem Ganzen zusammenfügte und sie in eine wundersam geschlossene Erzählung zusammenfließen ließ, das ist gar nicht so unbegreiflich. ..Das Volk hat einen tiefen Glauben an die Gerechtigkeit alles Geschehens",' schreibt der Verfasser. Der jähe Untergang einer Kinderschar ist
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für das mitfühlende Volk ein so furchtbares Ereignis, daß das Menschenherz sich gegen eine so grausige Vernichtung Unschuldiger aufbäumen muß und nach einer Begründung sucht. So war auch dieser Totentanz von Hameln, so glaubte man, gewiß nichts anderes als die Sühne für eine schwere Missetat. Und da man den Kindern diese Schuld nicht auf lasten konnte, suchte man sie bei den Menschen ihrer Umgebung. Die Art und "Weise, wie das Volk die Erzählung von dem Undank gegenüber dem Wohltäter der Stadt nun in die Erinnerung an den Tod der Hamelner Kinder hineinverwob, offenbart ganz den ethischen, sittlich reinen Grundzug im Denken des einfachen Volkes, ,,seinen Glauben an die Gerechtigkeit alles Geschehens'". Der geschichtliche Kern der Sage wurde zwar durch dieses Hineinfließen in die Mär vom betrogenen und rachedürstigen Rattenfänger noch mehr verdunkelt, aber dafür trat das Menschlich-Persönliche um so deutlicher hervor, und das gerade liebt die Sage. Tiere und Menschenkinder erleiden in ihr das gleiche Schicksal, beide sind sie geheimnisvollen Kräften ausgeliefert. D a s Grauen des Volkes vor solch undeutbaren übernatürlichen Mächten hat hier eine Lösung gesucht. — So entstand diese Dichtung von Schuld und Sühne, und es gibt wenige Sagen unter den Völkern, in denen Stoffe so verschiedenartiger Herkunft so spannungsvoll ergreifend und folgerichtig zusammengeschmolzen sind. W e r empfänglich ist für den eigenartigen Reiz solcher Sagenbildung,' kann tief hineinschauen in das Seelenleben des Volkes, das sie ersonnen hat.
Der Werber aus Mähren Während dieser Sagenforscher also für die Verbindung des geschichtlichen und des Sagenstoffes eine Erklärung gibt, hat sich in allerjüngster Zeit in Hameln ein Mann gemeldet, der auch über den Auszug der Hamelnschen Kinder selber etwas Neues auszusagen hat. Und da er ein kluger Mann ist, der bisher als Archivar in der mährischen Troppau gelebt und geforscht hat, darf man seiner Meinung schon einiges Gewicht beimessen. Diesem Mann ist die Geschichte von den „verlorenen Kindern" Hamelns sein Leben lang nachgegangen. Schon den jungen Prager Studenten hat vor mehr als zwanzig Jahren die Rattenfängersage zum Nachdenken angeregt und seitdem hat er sich in emsigem Suchen, Vergleichen und kühnen Schlüssen ein eigenes Bild von jenem erregenden Vorgang zurechtgelegt. Um seine Deutung auch recht und, wie er glaubt, schlüssig begründen zu können, ist er auf seinen vielen Reisen durch halb
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Europa jeder nur möglichen Spur gefolgt, bis seine Nachforschungen sich zuletzt fast ganz auf die Weserstadt Hameln und seine eigene Heimatstadt Troppau beschränkten. Leider ist vieles von dem, was er in emsiger Sammelarbeit schriftlich niedergelegt hatte, während dieses Krieges verlorengegangen. Aber für das Ergebnis, zu dem er gekommen ist, hat er doch noch so viele Beweisstücke zur Hand, daß sich die Sagenforscher ernsthaft damit beschäftigen müssen. Er glaubt also bewiesen zu haben, daß es sich bei der Fortführung der Kinder doch um ein Ereignis der Siedlungsgeschichte handle, was man früher schon einmal vermutet hatte. W i e kommt der Archivar aus Troppau zu dieser Ansicht? Nun, er stellte eines Tages fest, daß es in Troppau und Umgebung merkwürdig viele Orts- uqd Familiennamen gibt, wie sie auch in Hameln und im Hamelner Lande zu finden sind. Und diese Namen gehen alle in eine Zeit zurück, in die man auch die Rattenfängersage verlegt hat. Der Rattenfänger ist nach der Überzeugung dieses Sagenforschers niemand anders gewesen als einer der Werber, die von Mähren aus, wo man Bauern und Werkleute suchte, ins Niedersachsenland gekommen seien, um in jener unrastigen und notvollen Zeit mit viel lockenden Versprechungen die zweiten und dritten Söhne der Bauern- und Handwerkerfamilien und ihre jungen Frauen und Bräute als Siedler zu gewinnen. Daß solch ein Werber, der gleichzeitig den Dolmetscher abgab, in buntfarbigen Kleidern auftrat, gehörte zu seinem Beruf; daß er ein lustig Lied auf der Pfeife blies, als die Schar der i3o Angeworbenen mit ihm in die Fremde aufbrach, diente seiner Aufgabe, die Siedlungswilligen in Stimmung zu halten und über ihren Abschiedsschmerz hinwegzumusizieren. Die Angeworbenen sind dann auf langen mühsamen Wegen bis nach Mähren gezogen, haben dort in der Troppauer Gegend sich ein neues Leben gezimmert, aber ihre alten „Hämelschen" Namen weitergeführt und den Höfen und Siedlungen, die sie gründeten, in Heimweherinnerung die Ortsnamen ihrer alten Hamelner Heimat gegeben. So erklärt sich die auch heute noch bestehende Gleichartigkeit der Namen dort und hier. W i e gesagt, es handelt sich nur um eine Deutung mit vielen Gründen, und ihr seht daran, daß der Rattenfänger auch heute noch keine Ruhe gibt. Bald pfeift er hierhin, bald dorthin, daß man sich gar nicht mehr auskennt. Er ist also doch wohl ein Zauberer, der nicht nur die huschenden Quälgeister, sondern auch die Menschen in seinen Bann zu schlagen versteht. Über ein halbes Jahrtausend bewegt er die Gemüter und verzaubert die Menschen mit seinem Pfeiflein. Aber wohin er aucn locken mag, in den Berg, zur Schlacht, nach
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Mähren, oder ins Land der Kreuzzüge: Er bleibt doch unsichtbar an Hameln gebunden, solange die Weser am altersgrauen Münster vorüberfiießt und das Rauschen des Wehrs mit dem fröhlichen Gesang „Hämelscher" Kinder zusammenklingt, wenn sie heute zu sommerlichen Wanderungen oder winters mit Rodel und Schi auf den turmbekrönten Klüt hinaufziehen,
Anhang: Aus Chroniken und Liederbüchern inmal noch schlagen wir zum Schluß das bunte Bilderbuch vom Rattenfänger auf, in das seit Jahrhunderten jede Generation ein anderes farbiges Blatt hineingeheftet hat. In das eine oder andere Blatt dieses Zauberbuches haben wir schon hineingeguckt: "wir meinen das Tagebuchblatt jenes Bamberger Bürgermeisters oder das Blatt, auf dem die Brüder Grimm ihre Rattenfängergeschichte aufgeschrieben haben, oder die Seite, wo der große Leibniz oder der alte Hameler Pfarrer Fein ihre Ansichten niederlegten. Da liegt ein anderes Blatt aus dem 16. Jahrhundert vor, es ist gedruckt ,,zu Frankfurt am Mayn durch Nikolaus Basseum" und ist eine wahrhaftige Teufelsgeschichte, und es wundert uns nicht, daß Meister Bunting da zwischen Zauberern, Giftbereitern, Schwarzkünstlern, Hexen uud Unholden zu finden ist. In diesem von Johann Weiers geschriebenen und zu Frankfurt gedruckten Buche ist folgendes über den Ratten- und Kinderfänger zu lesen: „. . . und hierher schickt sich nicht übel die historie vom Pfeiffer, so seiner bunten vielfarbigen kleider halber Buntling geheissen, die zu Hameln sich zugetragen hat. Dann als derselbe von der Stadt die grossen Meuse und Ratten zu vertreiben gedinget aber nicht gehalten wurde, was ihm versprochen und zugesagt worden, hat er mit nachfolgender erschrecklichen that ihnen ihre Undankbarkeit wieder vergolten. Dann im Jar 1284 den 26. Brachmonats (Juni) kommet er wieder in die Stadt, bringet mit seiner Pfeiffen auf einer Gassen an Kindern zusamen Knaben und Meidtlein i3o. Die selbigen führet er mit sich zur Stadt hinauß nach dem gericht zu, sonst unterm Koppe genannt, an der Landtstrassen gegen mitternacht.
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Daselbst verschlingt sie plötzlich das Krdtreicli, daß keines mehr von jenen nach dieser Zeit gesehen worden ist. Dieses findet man zu Hameln in ProtocoIIn und Jarbüchern fleissig ausgezeichnet, ja man liest es auch in den Kirchenbüchern daselbst, wie ich mit meinen Augen selbst gesehen und darumb davon zeugen kan. Auch hat der Rath vor alters zur bestetigung dieser Geschichte, in brieffen und Akten allerwegen gepflegt, das jar Christ und auch das jar dess außganges dieser Kinder bey einander zusetzen. Und auff den heutigen tag darff keiner zur ewigen gedächtniß dieser geschichte in derselbigen gassen, da die Kinder zur Stadt hinauß durchgangen, weder tantzen noch trommel schlagen. W a n n sichs etwan zutregt, daß Hochzeiten dadurch gehen, so halten sie solange mit dem Saitenspiele still, bis sie gar hierdurch seind. Man sagt, es sei dies geschehe morgents früe nach sieben uhren und daß under andern Kindern auch deß Bürgermeisters tochter, die erwachsen und schon mannbar gewesen ist, mit drauff gangen seye. Ein Knabe aber, der noch unangethan gewest, ist deßwegs wol ein theil den andern nachgefolget. Dieweil er aber unbekleidet gewesen, ist er wieder zurück nach heim gelauffen, willens seine kleider zu holen und alsdann den andern nachzueylen. Mitler zeit aber seind sie alle miteinander in einer kleinen gruben deß Hügels, die man mir gezeigt, drauffgangen und nicht mehr gesehen worden. Da hat sich entlich gefunden, daß der Pfeiffer niemands anders dann der -leidige Teuffei gewest seye, der ohn unterlaß nach mordt und Wut deß Menschen hungert und dürstet" (vgl. S. i3). 17. Jahrhundert Einmal muß eines der verschwundenen Kinder doch wieder zurückfindenl — Diese Hoffnung hat sich Jahrhunderte hindurch erhalten. Da taucht im Jahre 1724 in Hameln plötzlich ein Knabe auf, wild und fremdartig, und niemand weiß, wo er hergekommen ist. Und schon glaubt man, daß dieser Knabe eines der verzauberten Kinder sein könne, das nun nach Jahrhunderten aus Siebenbürgen nach Hameln zurückkehrt. Der große Dichter Wilhelm Raabe gibt in seinem Buche ,,Die Hämelschen Kinder" einen Brief wieder, in dem von diesem gar merkwürdigen Knaben die Rede ist (vgl. S. 5). ,.. . . denn es war 1724 eben in der "v^eizenernte", so steht in diesem Brief, „als ein hiesiger Bürger, Nahmens Jürgen Meyer, des Nachmittags aus dem Felde in das Brükkenthor kam und einen nackenden Knaben von ohngefähr 10 bis 12 Jahren alt mit sich herein führete, er hatte kurzkrause Haare, und sah an Farbe auf
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dem Leibe einem Zigeunerjungen gleich. Die Kinder in der Stadt sammelten sich um diesen fremden Ausländer so viel häufiger, je weiter er in die Stadt kam. Ich selbst habe solchem zugesehen; wenn man ihm zusprach und warum fragte, legte er die Finger auf den Mund, um vielleicht anzudeuten, daß er nicht reden könte; wenn ihm was gegeben wurde, küßete er seine eigene Hand, auch zuweilen die Erde und geberdete sich dabei freundlich, er schlief nicht wie andere Menschen liegend, sondern auf denen Ellenbogen und Knien sitzend. Die erstere Zeit lief der Knabe frei in der Stadt herum, suchte aber öfters wieder aus dem Thor, wo er hereingebracht war, zu kommen, und wenn er bis an die Schildwachten, welche Ordre, hatten, ihn nicht passieren zu lassen, gelangete, küßete er nach Art der Orientaler die Erde. — Auf denen Straßen sah er sich gerne nach denen vorbeifahrenden Schiebekarren um, und wenn solche leer, sprang er darauf und ließ sich, soweit man wollte, wegfahren; wenn aber die Zeugmacherjungens oder andere, so solchen Karren zogen, ihn herunter warfen, "wurde er im Gesichte ganz erbost und zeigte die Zähne wie ein Hund oder Affe, fing auch nachmahls an, sich an den Kindern seines Alters zu vergreifen, welches den Rat veranlaßte, ihn im Armenhause St. Spiritus, wohin er gebracht worden, etwas genauer in Obsicht nehmen zu lassen. Seine Reinligkeit war nicht die beste, denn sowohl das Bette als die Erde boten ihm gleiche Bequemlichkeit dar, und ob man ihn gleich mit Hemden und Kleidung versehen, zerriß er doch solches öfters, und wollte zuletzt keiner mehr Aufsicht über ihn führen, welches veranlaßte, nachzusuchen, daß die Königliche Regierung ihn in das Dollhaus nach Celle aufnehmen lassen mögte. . W a s mit dem Jungen nachhero weiter vorgegangen, wie er vor Ihro hochsei. Königl. Majestät Georg dem Ersten nach Hannover gebracht werden müssen, ist bekannt. Inzwischen gab der Vorfall tiefsinnigen Köpfen Anlaß ein und die andere Vermutung auszusprechen : 1. ob dieser Junge auch etwa in einem im Orient entstandenen Gewitter gleich einem Frosch mit aufgezogen und allhie wieder niedergelassen sei; 2. ob er nicht etwa aus Siebenbürgen als ein Spion abgesandt sei, der ehemals ausgegangenen Kinder Nachlaß hieselbst zu erkunden, oder 3. ob er nicht ein aus der Erde gewachsener, ein unter der Erden nach dem genio des Paracelsi gezeugeter Mensch sei."
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18. Jahrhundert In tränenreichen, oftmals aber auch lustigen Liedern ist der Rattenfänger vom Volk, von Bänkelsängern, aber auch von unseren Dichtern besungen worden. Im 18. Jahrhundert ging das folgende Lied vom Rattei fänger um, dessen Text uns Clemens Brentano und Achim von Arnim in ihrer berühmten Volksliedersammlung „Des Knaben Wunderhorn" mitgeteilt haben: ^Ver ist der bunte Mann Er führet Böses wohl im Er pfeift so wild und so Ich hart' mein Kind ihm
im Bilde? Schilde, bedacht; nicht gebracht.
In Hameln fochten Maus und Ratzen Bei hellem Tage mit den Katzen, Es war viel Not, der Rat bedacht, \ ^ i e andre Kunst zuweg gebracht. Da fand sich ein der Wundermann, Mit bunten Kleidern angetan, Pfiff Ratz und Maus zusamm ohn Zahl, Ersäuft sie in der Weser all. Der Rat will ihm dafür nicht geben, W a s ihm ward zugesagt soeben, Sie meinten, das ging gar zu leicht, Und war wohl gar ein Teufelsstreich. W i e hart er auch den Rat besprochen, Sie dräuten seinem bösen Pochen, Er könnt zuletzt vor der Gemein' N u r auf dem Dorfe sicher sein. Die Stadt, von solcher Not befreit, Im großen Dankfest sich erfreut. Im Betstuhl saßen alle Leut, Es läuten alle Glocken weit.
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Die Kinder spielten in den Gassen, Der Wundermann durchzog die Straßen, Er kam und pfiff zusamm geschwind Wohl auf ein Hundert schöne Kind. Der Hirt sah sie zur ^Veser gehen, Und keiner hat sie mehr gesehen. Verloren sind sie an dem Tag Zu ihrer Eltern W e h und Klag. Im Strome schwebten Irrlicht nieder, Die Kinder frischen drin die Glieder, Dann pfeifet er sie wieder ein, Für seine Kunst bezahlt zu sein. Ihr Leute, wenn ihr Gift wollt le^en. So hütet doch die Kinder g^gen, D a s Gift ist selbst der Teufel wohl. Der uns die lieben Kinder stohl.
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Keine Weise ist aber so bekannt geworden wie Goethes lustiges Lied vom „Rattenfänger von Hameln" (s.S. 5). Hier der Wortlaut: Ich bin der wohlbekannte Sänger, Der vielgereiste Rattenfänger, Den diese altberühmte Stadt Gewiß besonders nötig hat. Und wären's Ratten noch so viele. Und wären Wiesel mit im Spiele, Von allen säub'r ich diesen Ort, Sie müssen miteinander fort. Dann ist der gutgelaunte Sänger Mitunter auch ein Kinderfänger, Der selbst die wildesten bezwingt, Wenn er die1 goldnen Märchen singt. Und wären Knaben noch so trutzig. Und wären Mädchen noch so stutzig. In meine Saiten greif ich ein, Sie müssen alle hinterdrein.
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Dann ist der vielgewandte Sänger Gelegentlich ein Mädchenfänger. In keinem Städtchen langt er an, Wo er's nicht mancher angetan. Und wären Mädchen noch so blöde Und.wären Weiber noch so spröde, Doch allen wird so liebebang Bei Zaubersaiten und Gesana'. 19. Jahrhundert In vielen Melodien geht die Sage vom Rattenfänger durch $as Land. Aus dem Westerwald stammt die folgende Weise:
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Von den Rattenfängergedichten der neueren Zeit soll eines des „Butzenscheibendichters" Julius Wolff hier stehen (vgl. S. 5). Ratten
und
Kommt aus dem Löchelchen, Mäuschen heraus! Krümel und Knöchelchen Kriegt ihr zum Schmaus. W i e ich euch liebe, Näscher und Diebe, Niedliche Grauchen, Männchen und Frauchen! Naget euch, waget euch Hurtig heraus! Jaget euch, traget euch Zucker ins Haus!
Mäuse.
Ratten, ihr huschigen, Höret ihr nicht? Kommt aus den buschigen Winkeln ans Licht! Schnuppert und schlecket, W a s ihr entdecket, Speck oder Butter, Leckeres Futter. Dränget euch, zwänget euch Durch das Stacket, Länget euch, hänget euch Schwelgend ans Fett!
Schlüpfet und hüpfet ihr graulichen Scharen, Kommt aus Genisten und Höhlen gefahren, Rucket und zucket hervor und heraus, Alles, was Schwänze hat, Ratz oder Maus! 20. Jahrhundert Und wie der Film sich des Rattenfängers angenommen hat (vgl. Seite 5), so hat auch der Rundfunk den Zaubersmann von Hameln nicht vergessen. Die folgenden Szenen sind Ausschnitte aus einem Hörspiel von Hermann Roth. Ratsversammlung (Allgemeines Gemurmel) B ü r g e r m e i s t e r : Geehrte, versammelte Männer des Rats, Mitbürger! Über das augenblickliche Geschick unserer Stadt brauche ich nichts zu sagen. W^ir wissen, daß wir der Not durch das graue Getier nun ein rasches Ende bereiten müssen. Ich habe darum auch den Rat versammelt, um ihm vorzuschlagen, den neuen Mann, der in unsere Stadt gekommen ist mit allerlei Versprechungen und Gerüchten,'zu hören, mit ihm einen möglichst einfachen, billigen und schnellen Handel zu machen und ihn zu binden, die Stadt von allen Ratten und Mäusen zu befreien. — Lasset den Mann herein! (Gemurmel, Erstaunen, Mißtrauen)
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Stimmen: Einer ist wie alle und alle sind wie dieser, Rattenfänger sind Lügner. Aber der sieht doch anders aus als die bisherigen —> Merkwürdig und "sonderbar! B ü r g e r m e i s t e r (hochmütig-sachlich) : W i e (Stille) heißt Ihr, Landfahrender? B u n t i n g : Man hat mich Bunting geheißen allerorts, wo ich gewesen. B ü r g e r m e i s t e r : Und wo seid Ihr bisher gewesen? B u n t i n g : Ich bin durch die Länder gefahren, bis mein W e g zum Weserstrom geführt, dem ich jetzt aufwärts'bis zu dieser Stadt gefolgt bin. B ü r g e r m e i s t e r : W a s hat Euch hierhergebracht in diese Stadt ? Seid Ihr ein Rattenfänger ? Habt Ihr gehört von einer Plage, die hier herrschen soll? B u n t i n g : Ein Rattenfänger bin ich nicht •—• ,doch bin ich in dieser Kunst mehr bewandert, als manche, die in diese Stadt schon kamen. Das Land ringsum ist voll von Schrecken über die graue Plage in Euren Mauern —, ich wollte es selbst sehen, wie es steht um diese Stadt. B ü r g e r m e i s t e r : Man sagt also von Euch mit Recht, daß Ihr die Stadt von diesem Übel befreien könnt? Seid Ihr d a z u hergekommen ? B u n t i n g : Hereingekommen bin ich in diese Stadt, um sie zu sehen. Und hier in diesen Saal, Ihr wißt es selbst, habt I h r mich hergebeten. B ü r g e r m e i s t e r (ungeduldig): Nun antwortet: könnt Ihr die Stadt erlösen? B u n t i n g : Ja. B ü r g e r m e i s t e r : Versprecht Ihr mir's? B u n t i n g : Ja. (Erstaunen des ganzen Rats) B ü r g e r m e i s t e r : Gut, so sind wir einigl B e r t h o l d (Ratsherr): So billig wird's nicht gehenl B u n t i n g : Noch nichtl Ich will euch alle von der grauen Not erretten, gegen einen L o h n : gebt mir einen Sack Gulden und dazu ein gutes Roß, das mich wieder weiter durch die weiten Länder trägt. S t i m m e n : Zuviell B ü r g e r m e i s t e r (erregt): Zuviel, Bunting, die Stadt ist arm gefressen 1
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W e n r e 1 ( R a t s i l e r r ) : Einen solchen Handel können wir nicht eingehen. Es hat noch keiner von allen, die sich zur Hilfe hier anboten, so viel verlangt. _ , s t i m m e n : Dafür auch nichts geschafft! — Das kann die Stadt nicht geben, sie ist so arm 1 . « , . » , . R a t s h e r r : Ist denn die Plage so schlimm, daß die Befreiung so wertvoll ist? B u n t i n g : Erlaubt jetzt, daß ich spreche. Die einen sagen, die Stadt ist so arm, daß sie nichts zahlen kann. Die anderen glauben, der grauen Tiere sind doch nicht so gefährlich viel. Nun gut, ich bin nicht Bürger dieser Stadt, ich lebe draußen, draußen in der Welt und habe von den Tieren gar nichts zu fürchten. So gehe ich, wie ich gekommen bin, aus dieser Stadt, ungebeten • unbelohnt. S t i m m e n : Halt! Haiti B ü r g e r m e i s t e r : Halt, Rattenfänger. So war's nicht gemeint. Du wirst belohnt, wenn du die Not zu unserer aller Zufriedenheit beendet hast. Tue es nur baldl Du wirst belohnt • (Gerede) B u n t i n g : Ich will es tun. Ich werde belohnt. B ü r g e r m e i s t e r : Ja, du wirst belohnt •—• •—• •—• mit unserem Dank dazu! (Gemurmel, Pfeifenspiel, Auszug der Ratten) 3. S z e n e (Pfeifen klingt ganz nahe herein) C o n r a d (des Bürgermeisters Sohn): Hör nur, Mutter, das Pfeifchen! W e n z e 1 (feierlich): Wunderbar, wunderbar •—• —• •—' S a b i n e (des Bürgermeisters Tochter): Sieh doch, da aus dem Keller, wie das strömt! B e r t h o 1 d: Der Mann hat Mut und Witz, ha, hal C o n r a d : Mutter, schau her, komm ans Fenster, der ganze Markt ist graul — B ü r g e r m e i s t e r i n : Ach, ist das ein Geseusel! Ich habe Angst vor diesem seltsamen Mannl S a b i n e : Ja, Mutter, ein Zauberer! Aber sieh doch — — — B ü r g e r m e i s t e r (tritt ein): N a ? wird e s . . . ? B e r t h o l d : Und w i e , Herr Bürgermeister! B ü r g e r m e i s t e r : Alle Wetter, der besorgt es gründlich! Soviel •—' das hätte ich nicht geglaubt. -— Ich verstehe das nicht. W e n z e 1: Ganz recht, Herr Bürgermeister — ich auch nicht —> ich traue nicht.
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B e r t h o 1 d: Und alles mit dem Pfeifchen! Nun hört doch nur —' unheimlich — unheimlich komisch (ha, ha). Sirenengesang für die Mäuse, wie es scheint. C o n r a d : Ob der auch andere Tiere bezaubern kann — und Menschen ? B ü r g e r m e i s t e r : Nun seht doch, da — da, um die Ecke, dieser graue Strom! B e r t h o 1 d (lachend): Der Markt ist gut besucht! B ü r g e r m e i s t e r i n : Ich kann's nicht länger sehen. B e r t h o l d : Freut Euch, Frau Bürgermeisterin, die Not hat nun ein Ende. — Freut Euch, Bürger. R u f e : Die Stadt ist frei! Hoch der Rat —• die Stadt ist frei — —• — 5. S z e n e (Ratsversammlung) We n z e 1 (dumpf und leise): Jetzt kommt er gleich, um hier den versprochenen Lohn zu holen. (Nochheimlicher) Aberich glaube, der Bürgermeister hat eine böse Geschichte vor. S t i m m e n : Gebt ihm den Lohn nicht! W e n z e 1: Das geht böse aus! (Stille) B ü r g e r m e i s t e r : Ich begrüße alle Bürger und hoffe. Euch alle hier wohl nach unserem Feste zu finden, das wir, befreit von Not und Plage, feiern mußten. Ich gebe nun zu bedenken: die Not ist um, die Stadt ist frei. Seine Mühen waren gering, er hat nur seine Versprechen erfüllt. • Gewiß, wir danken ihm — doch erscheint mir dei* Lohn, nachdem wir alle gesehen, wie leicht doch die Mäusenot zu beheben war, recht hoch! — — — W a s wünscht Ihr, Bunting? B u n t i n g (dunkel, langsam).: AVerte Bürger! —• Ich verstehe nicht, was Ihr sagt. Vor zwei Tagen stand ich hier und bat um Roß und Gulden, wenn ich die graue Not beende. M e i n Versprechen ist erfüllt. Ich bin hierhergekommen noch einmal vor den Rat der Stadt, daß nun I h r Euer Versprechen einlöst. M e h r e r e : Versprechen? Versprechen? B ü r g e r m e i s t e r : Ihr seid ein wenig keck — Landfahrender, ich habe schon gesagt, wir danken und bewundern Eure Kunst und Tat, ja, die ganze Nacht hindurch haben wir Eure Kunst gefeiert auf unserem Fest. Ist Euch denn das nicht' Lohn genug? S t i m m e n : Genug! Genüg! W i r danken ihm!
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B u n t i n g : Genug, genug, genug? W o ist mein L o h n , der mir versprochen w a r <— ich w i l l ihn z w i s c h e n meinen H ä n d e n fühlen! B e r t h o l d : I h r w u n d e r l i c h e r M a n n , redet immer von einem V e r s p r e c h e n — ich kenne das nicht. Z w i s c h e n r u f e : Ich a u c h nicht. I h r müßt euch t ä u s c h e n ! B u n t i n g (scharf gedehnt, lachend, v e r b i t t e r t ) : H a , h a , E u c h r e u t der L o h n , den I h r mir v e r s p r o c h e n ! (Plötzliche Stille) B ü r g e r m e i s t e r (unsicher, doch hochmütig): I c h k a n n mich z w a r nicht entsinnen, E u c h einen L o h n v e r s p r o c h e n z u h a b e n . D o c h weil I h r glaubt, so sollt I h r zur W e i t e r f a h r t ein Säcklein Gulden haben. — K ä m m e r e r , holt es und zahlt ihm die Gulden a u s . — W i r w ä r e n fertig mit E u c h . ( G e m u r m e l und Aufstehen) B u n t i n g (scharf und v e r b i t t e r t ) : F e r t i g ! F e r t i g — ich bin noch nicht fertig mit E u c h — m i t dir — du meineidige S t a d t — S t i m m e n : W e r f t ihn h i n a u s , e r ist tobsüchtig. R a t s h e r r : Beruhigt Euch, M a n n . Versprochen w a r Euch nichts und, zudem, die S t a d t ist arm •— B u n t i n g : S o w i r d sie noch ä r m e r w e r d e n , s o arm w i e keine! W e n z e 1: Er flucht'uns! (Tumult) B ü r g e r m e i s t e r ( s c h r e i e n d ) : H i n a u s jetzt, S t r a u c h d i e b ! Z a u b e r n a r r ! K ä m m e r e r , zieht die G u l d e n ein, an L o h n ist nicht zu denken. F ü h r t ihn zum T o r e h i n a u s auf N i m m e r w i e d e r s e h e n .— H i n a u s ! (Tumult) B u n t i n g (fluchend): So w e r d e i c h E u c h lohnen — d e n k t an mich — — am J o h a n n i s t a g e ! (Stille — — D i e T ü r des R a t s s a a l e s schlägt hinter dem D a v o n s t ü r m e n d e n zu) Charlotte Kühl von Kalckstein, die Verfasserin dieses Lesebogens, lebt als Schriftstellerin und Schriftleiterin in der Rattenfängerstadt Hameln. Sie schrieb für die Jugend manche vielgelesenen Bücher. Das Umschtagbild ist ein Ausschnitt aus einem Bildblatt für Kinder, das Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Den „Initialen" (Schmuckbuchstaben an den Kapitelanfängen) auf den Seiten 4, 9, 18 und 21 sind Holzschnitte des in Hameln schaffenden Künstlers Riege zugrunde gelegt. Sie sind der Chronik des Rattenfängerhauses entnommen.
L U X - J U G E N D - L E S E B O G E N Nr. 22 • Heftpreis 20 Pfg. Natur- und kulturkundliche Hefte • Verlag Sebastian Lux (Lizenz US-E-138) Murnau-München • Aufl. 35000 • Herstellung: Druckerei des Gregorius-Verlag vorm. Friedrich Pustet Regensburg