Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Gunstone Henessey, der ...
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Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Gunstone Henessey, der neue Mann der Raumbehörde, hat sich eine interessante und reizvolle Aufgabe für Oberst Cliff McLane, Hasso Sigbjörnson und Mario de Monti ausgedacht. Die drei Männer von der ORION sollen im Rahmen eines Inspektionsfluges Einsatzmöglichkeiten und Schlagkraft eines Multi-Intelligenz-Teams t esten. Vor dem Abflug der ORION trifft eine Alarmmeldung ein. Eine terranische Forschungsstation wurde überfallen. Eine geheimnisvolle Macht aus den Tiefen des Alls hat zugeschlagen. Für Cliff McLane beginnt damit eine erregende Jagd auf die unbekannten Plünderer – und für das Multi-Intelligenz-Team ist es die Stunde der Bewährung.
Alle Romane nach der großen Fernsehserie RAUMSCHIFF ORION erscheinen als Taschenbuch im MOEWIG-VERLAG.
Vom gleichen Autor erschienen bisher folgende Raumschiff-Orion-Romane: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29
Angriff aus dem All (T 134) Planet außer Kurs (T 136) Die Hüter des Gesetzes (T 138) Deserteure (T 140) Kampf um die Sonne (T 142) Die Raumfalle (T 144) Invasion (T 146) Die Erde in Gefahr (T 152) Planet der Illusionen (T 154) Wettflug mit dem Tod (T 156) Schneller als das Licht (T 158) Die Mordwespen (T 160) Kosmische Marionetten (O 13) Die tödliche Ebene (O 14) Schiff aus der Zukunft (O 15) Verschollen im All (O 17) Safari im Kosmos (O 18) Die unsichtbaren Herrscher (O 19) Der stählerne Mond (O 20) Staatsfeind Nummer Eins (O 21) Der Mann aus der Vergangenheit (O 22) Entführt in die Unendlichkeit (O 23) Die phantastischen Planeten (O 24) Gefahr für Basis 104 (O 25) Die schwarzen Schmetterlinge (O 26) Das Eisgefängnis (O 27) Bohrstation Alpha (O 28) Das Team der Selbstmörder (O 29)
HANS KNEIFEL
RAUMSCHIFF ORION
DER RAUMPIRAT Zukunftsroman Deutsche Erstveröffentlichung
E-Book by »Menolly«
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Für den Moewig-Verlag nach Ideen zur großen Fernsehserie RAUMPATROUILLE, produziert von der Bavaria-Atelier GmbH, geschrieben von Hans Kneifel
Copyright © 1970 by Arthur Moewig-Verlag Printed in Germany 1970 Titelfoto: Bavaria-Atelier GmbH. Umschlag: Ott & Heidmann design Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg Der Verkaufspreis dieses Bandes enthält die gesetzliche Mehrwertsteuer.
1 Cliff Allistair McLane kannte das Büro. Er hatte sich in den vergangenen drei Jahren sehr häufig innerhalb dieser Wände aufgehalten, um entweder mit KublaiKrim zu diskutieren oder Befehle für irgendwelche Einsätze entgegenzunehmen. Damals, als KublaiKrim noch der Chef der Raumstreitkräfte war, befanden sich in diesem großen Raum, dessen Seitenwand direkt ins Wasser des Carpentariagolfes hinausging, lediglich nüchterne Möbelstücke, sehr viel technische Einrichtung und Modelle von Raumschiffen und die dreidimensionale Projektion der 900-Parsek-Raumkugel. Jetzt sah es anders aus – ganz anders. »Mister Henessey«, sagte Cliff, »wissen Sie, daß Sie mich verwirren?« Gunstone Henessey, der Nachfolger von KublaiKrim, schien sich hierher verirrt zu haben. Der ein Meter achtzig große Mann mit den grünen Augen richtete seinen Blick auf das Bild Kublai-Krims, das hinter ihm angebracht war. »Sind Sie tatsächlich noch zu verwirren, Oberst McLane?« fragte Henessey. Er hatte einen warmen, angenehmen Baßbariton. »Gelegentlich schon«, sagte Cliff. »Besonders dann, wenn ich den typischen phantasielosen Büroraum eines Berufssoldaten erwarte und dann in einen Garten irdischer Freude hineingerate.« Er deutete auf die dicke Panoramascheibe. Dahinter, im Wasser, waren einige goldfarbene Lichtquellen angebracht und ein automatisch arbeitender Futterbehälter. Die Folge davon war, daß sich
um den Futterbehälter kleine Fische tummelten, um ihren Part in dem Schauspiel zu spielen. Sie fraßen das Futter. Größere Fische fraßen die kleinen Fische, und wiederum noch größere Exemplare der Meeresfauna Australiens fraßen diese. Hin und wieder kamen Haifische vorbei und fraßen die ganz großen Fische. Dazwischen rankten sich Korallenstöcke und allerlei andere farbenfröhlichen Dinge. Gunstone wedelte mit der Hand und sagte: »Eine kleine Aufmerksamkeit meinen Gästen gegenüber. Finanziert aus Steuergeldern. Ich bin ziemlich sicher, Kommandant, daß Sie Ihren Urlaub nach dem Einsatz gegen Svend-Wallance gut verbracht haben?« Cliff nickte schweigend und betrachtete, noch immer fasziniert, den Kopf des Mannes ihm gegenüber. Gunstone Henessey – welch eine Namenskombination! – lag entspannt in einem futuristischen Sessel hinter einer freischwebenden Schreibtischplatte, lächelte Cliff entgegen und war, bis auf die buschigen, schwarzen Brauen, fast haarlos. Über die glatte, gebräunte Haut seines Schädels zogen sich, direkt über den Augen, zwei parallele Streifen Haar nach hinten und endeten kurz vor dem hochgestellten weichen Kragen der weißen Uniform. Von Cliff aus gesehen, war der rechte Streifen orange gefärbt, der linke grün, wie die Farbe von Gunstones Augen. Dieser Mann besaß entweder einen ziemlich ausgefallenen Geschmack oder ein hervorragendes Showtalent. Cliff antwortete: »Ich habe den Urlaub gut verbracht. Allerdings waren alle meine Bemühungen, ein Buch voller Informationen über Frank Hoium Dougherty zu be-
kommen, umsonst. Ihre Frage hat zweifellos zu bedeuten, daß Sie den Wunsch haben, über meine Mannschaft, mich und die ORION VIII zu verfügen?« Gunstone Henessey sagte: »Genau!« Cliff sah sich weiter um. Der Raum war voller Farbe. Sämtliche Wände waren mit einer sinnverwirrenden Tapete ausgeklebt. Auf den Wänden tummelten sich jetzt zwischen jugendstilartig verfremdeten Zweigen, Ästen und Blüten allerlei mythologische Tiere. Auch außerordentlich farbenprächtige Vögel waren dazwischen. Monde, Sonnen und Planeten sahen zwischen den Zweigen hindurch. Die sechs Wände – die siebente war die Panoramascheibe – ließen den Raum optisch größer erscheinen, und auf alle Fälle sah das ehemals düstere Büro jetzt unvergleichlich liebenswürdiger aus. »Worum handelt es sich?« fragte Cliff argwöhnisch. Er hatte in den vergangenen Tagen sein inneres Gleichgewicht wieder zurückgewonnen. Nicht zuletzt durch den ausgesucht guten Whisky, mit dem Wamsler seine Ehrenschulden bezahlt hatte. Die Gestalt des mordenden, mit Falken jagenden Earls versank langsam im reichen Fundus von Cliffs Erinnerungen. »Um eine Kombination aus zwei ungewöhnlich reizvollen Versuchen«, sagte Gunstone. »Sie sind doch ein umfassend interessierter Mensch, nicht wahr?« Cliff murmelte: »Meine Feinde behaupten es.« Gunstone stieß ein dröhnendes Lachen aus. Immer
mehr setzte sich in Cliff die Gewißheit durch, in Henessey einen sehr barocken Menschen vor sich zu haben. Nun gut, dachte er. Auch die abwegigste Geste hat in diesem kargen, nüchternen Jahrhundert ihre Berechtigung, und sei es nur eine rein dekorative Funktion, die sie auszeichnet. Er sah von Gunstone auf das in kitschigen Farben prangende Gemälde, das den defunkten Krim zeigte und sagte: »Kann ich Näheres erfahren?« »Selbstverständlich. Glauben Sie, sich als Trainer einer gemischten Mannschaft behaupten zu können?« Cliff dachte an Tamara Jagellovsk, diverse andere Gäste und an seine Mannschaft und sagte überzeugt: »Ja!« »Selbst als Trainer einer Mannschaft, die aus Terranern, Turceed, Kugelwesen von dem Planeten des Einsiedlers und vakuumbeständigen Raguern besteht?« Cliff grinste breit. »Hiermit haben Sie sich in den engen Kreis meine besten Freunde hineinkatapultiert!« sagte er. »Das ist nun tatsächlich etwas, das ich meinen geschätzten Herren Vorgesetzten nimmermehr zugetraut hätte. Ein Multi-Intelligenz-Team!« »So kann man es nennen. Sie erklären sich also bereit, die Schulung einer solchen Mannschaft zu übernehmen? Es wäre der erste Versuch, die verschiedenen Fähigkeiten unserer neuen Freunde zu kombinieren. Sie müßten versuchen, aus diesen Möglichkeiten den Maximaleffekt herauszuholen.« Cliff sagte leise: »Dachten Sie etwa auch noch daran, diejenigen Wesen auszusuchen, mit denen ich bereits Kontakt hatte?«
Wieder nickte Henessey. »Ja. Sie kennen, bis auf den Turceed-Anteil des Teams, alle. Auch die Raguer, die Kugeln von Caernavan't haben gewünscht, mit Ihnen zusammenarbeiten zu dürfen. Sind Sie, Kommandant, startfertig?« Cliff sagte: »Von mir aus kann es morgen früh losgehen.« »In Ordnung«, sagte Gunstone zufrieden. »Also geht es auch morgen früh los!« Cliff hob die Hand. »Und welchen Rahmen wollen Sie diesem Einsatz geben?« Henessey deutete auf einen flackernden Punkt in der Mitte der Raumkugel-Projektion und schaltete dann etwas auf einem kleinen Tischrechengerät neben seiner rechten Hand. Er sah nicht einmal hin. Dann begannen kurz nacheinander in der Raumkugel sieben kleine Lichter zu blinken. Sie waren von hellgrüner Farbe, also keine Sterne oder Planeten, sondern die Symbole für extraterrestrische Stationen. Cliff fiel flüchtig auf, daß, verband man die sieben Leuchtzeichen miteinander, sich eine sanfte Kurve ergab. Henessey deutete auf die Punkte, dann wies sein Finger auf Cliffs Brust. »Sie haben sich selbst einmal als den ›Paria vom Carpentariagolf‹ bezeichnet. Ich nehme es natürlich als das, was es ist: nämlich reine Koketterie. Trotzdem ist etwas Wahres dran. Ein Paria ist unabhängiger als jeder andere, der über ihm steht. Er ist nicht in diesem Maß den Sachzwängen unterworfen. Für Sie bedeutet dies, daß Sie überall dort eingesetzt werden können, wo andere Teams versagen. Sie
haben weder Ihre Erfahrung, noch sind sie in der Lage, schnell umdenken zu können. Sie wissen zuviel, Cliff, um unserem Ideal vom ›guten Raumfahrer‹ zu entsprechen. Sie haben zuviel Phantasie, zuviel eigene Initiative und zuviel erlebt. Sie sind der richtige Mann, um mit diesem Multi-Intelligenzen-Team diesen Kurs dort zu fliegen. Diese Punkte verkörpern kleine Monde, stählerne Satelliten oder unbewohnte Planeten. Jeder Punkt bedeutet, daß ein kleines Team von Menschen und Turceed dort haust und ein Forschungsprojekt betreibt, das so gefährlich ist, daß es nicht auf einem besiedelten Planeten durchgeführt werden kann. Aber auch andere Gründe spielten dabei mit, genau diese Schauplätze zu benützen. Energieversorgung, besondere Lager wertvoller Mineralien oder riesige Mengen von Abgasen, die sonst die Atmosphäre unserer Planeten vergiften würden. Sie sollen diese Stützpunkte kontrollieren. Sie kommen unangemeldet, haben sämtliche Vollmachten und sehen nach. Sie werden am ehesten entdecken, wenn Unregelmäßigkeiten vorliegen – Sie ahnen gar nicht, was alles einer offiziellen Kommission verschwiegen werden kann.« Cliff erwiderte grinsend: »Ich weiß dies genau. Schließlich war ich einmal Offizier der Raumstreitkräfte. Und ein Schüler, der selbst abgeschrieben hat und später Lehrer wird, ist kaum zu betrügen.« »Richtig. Und als besonderen Service werde ich Ihnen einige Bänder abspielen lassen. Sie beschäftigen sich mit den sieben Stationen Ihres Rundfluges und mit dem Zweck der betreffenden Stützpunkte.«
»Einverstanden«, sagte Cliff. »Ich sehe keinen Bildschirm.« Henessey grinste verschmitzt und deutete auf die Seitenwand. Dann drückte er einen Knopf, und die große Fläche mit den Paradiesvögeln, den gelben Monden und blauen Sonnen zwischen und hinter dem grünen Laubwerk verschwand im Boden. Statt der Wand sah Cliff jetzt auf einen Bildschirm von fast sechzehn Quadratmetern Größe. Lautsprecher, Schalter und Wählapparaturen ergänzten diesen technischen Effekt. »Beeindruckend«, sagte Cliff. »Wenn das der Steuerzahler wüßte!« »Das Herz im Leib tät ihm zerspringen«, fuhr Gunstone Henessey fort. »Sie sehen jetzt einen kurzen Querschnitt durch die Station Nummer Nullnullnulldrei. Der Name des Mondes, auf dem sie untergebracht ist, ist Anakonda 4000.« Cliff merkte sich den Namen, als sich der Raum zu verdunkeln begann. Nur die Scheinwerfer und die hungrigen Fische aller drei Größen waren noch zu sehen und schufen ein angenehmes Halbdunkel. Henessey begann: »Anakonda Viertausend ist der einzige Mond mit viertausend Kilometern Äquatorumfang des uninteressanten Planeten Snakes der Sonne Bd + 89° 89041. Sie liegt drei Entfernungskreise von der Erde entfernt.« Auf dem Schirm war ein riesiger, fast runder Felsgesteinklumpen zu sehen, der um einen Planeten herumschwang. Die Sonne tauchte auf. Cliff hörte auf die erklärenden Worte des Mannes
rechts von ihm. Gleichzeitig gab der Sprecher dieses Streifens Kommentare von sich, und Henessey schwieg. Innerhalb von zehn Minuten erhielt Cliff ziemlich umfassende Kenntnisse über Anakonda 4000. Dann begann der zweite Streifen. * In der gleichen Minute. Einhundertfünfunddreißig Parsek von der Erde entfernt. Ein Mond, der sich jetzt im Schatten des Planeten befand, also fast unsichtbar geworden war. Der Mond hieß Anakonda 4000 und war mit einer gemischten Mannschaft aus zwanzig Männern und einundzwanzig Frauen besetzt. Der Mond war eine sehr teure, hervorragend ausgerüstete Station, deren Aufgabe es war, aus dem Funktionsprinzip Laser verschiedene Geräte zu entwickeln und zu testen. Ihnen standen fast alle technischen und fast uneingeschränkte finanzielle Mittel zur Verfügung. Bisher waren zwei Terraner bei Versuchsunterbrechungen gestorben. Der Überfall begann drei Minuten nach dem Zeitpunkt, an dem der Mond in den zylindrischen Schlagschatten des Planeten Snakes eintrat. Das Teuerste und Auffallendste an der Station auf und in dem Mond Anakonda war ohne Zweifel ein modifizierter Laserstrahl, der in der Photosphäre der Sonne Bd + 89° 89041 mündete. Über diesen Strahl wurde die Station mit Energie beliefert, und ihr Bedarf an Energie war relativ hoch. Die fünfzig Apartments, die sämtlich in der Felsstruktur des Mondes eingebettet lagen, waren durch Videophonfenster mit
dem Raum verbunden und mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet. Sie lagen weit auseinander, damit die Zerstörungen im Fall einer Explosion so gering wie möglich waren. Gleichzeitig waren sämtliche Laborräume vom Vakuum nur durch eine dicke, schwer isolierende, aber sehr leichte Decke mit einer großen Anzahl von Sollbruchstellen getrennt. Jede Explosion würde, da der Druck ungehindert in den Raum hinaus entweichen konnte, den Mond nicht mehr als unvermeidbar erschüttern. Natürlich kannte die Erde dieses Jahrhunderts das Prinzip des Lasers wesentlich besser als um das Jahr 2000. Aber noch immer waren die Folgerungen dieser Erfindungen nicht abzusehen. Es gab auf anderen Planeten andere Gase und andere Mineralien, die aus dem Laser ein Instrument vielfältigster Möglichkeiten machen konnten. Alle diese neuen Entdeckungen auf ihre Brauchbarkeit zu testen, war Aufgabe dieser Station. Nicht einmal der Mann in der Funkbude war ohne zweifachen Doktor, und selbst zwei Nobelpreisträger für Physik lebten hier, weit entfernt vom Zentrum aller Kultur, hundertfünfunddreißig Parsek von der Erde entfernt. Der Leiter der Station Anakonda war Cyd Shayon. Ein fünfzigjähriger Mann, der zu den fähigsten Köpfen der Erde zählte. Er war gleichgut als Mann der Administration wie als Physiker. Bereits zehn anwendungsreife Modifikationen hatten Anakonda verlassen, und inzwischen hatten sich sogar die laufenden Kosten des Mondes voll amortisiert. Shayon hatte die Zeitphase des Durchganges als uneingeschränkte Freizeit erklären lassen. Die Besatzung, die nicht den geringsten Grund
hatte, sich als unter Druck gesetzte Arbeitssklaven zu fühlen, begann, eines ihrer zahlreichen Feste zu feiern. Sie waren alle entspannt, gutgelaunt und höchstens von einigen physikalischen Problemen bedrängt, die sich außerhalb des Labors kaum lösen ließen. Anakonda, mit einer Fünftel-zu-Terra-NormSchwerkraft ausgestattet, besaß unter anderem einen hydroponischen Park. Er lag auf dem Grund eines großen Kraters, den man mit einem nur leicht gewölbten Abdeckschirm versehen hatte – zwischen den beiden Plastikschalen konnte bei entsprechender Sonneneinstrahlung eine stark filternde Flüssigkeit hochgepumpt werden. Shayon hatte durch das Kommunikationssystem durchgegeben: »Wir haben schon seit einem Jahr keine Gartenparty mehr gefeiert. Das Motto heißt also: Die Nacht auf dem Kraterboden.« Der Kraterboden war mit feinem Kies, Humus – wobei man ein halbes Jahr sämtliche Abfälle der Station stark zerkleinert und mit einigen Tonnen eingeflogenen Nährbodens der Erde vermischt hatte – und mit ausgesuchten Pflanzen bedeckt. Die Bäume waren wachstumsbeschränkt und erreichten trotz der geringen Schwerkraft nur eine Höhe von zehn Metern. Voller Spaß gingen die einundvierzig Terraner daran, den Park zu dekorieren. Scheinwerfer wurden aufgestellt. Man errichtete eine lange Bar, wärmte das Wasser des kleinen Sees auf, das an der Oberfläche durch eine dünne Schicht eines zähen, wohlriechenden Öls daran gehindert wurde, von selbst aus dem See hin-
auszuspritzen, und man schaffte Essen und Getränke heran. Lautsprecher wurden umgeschaltet oder an die Äste der Bäume gehängt. Und eine Viertelstunde nach dem Eintritt in den Planetenschatten befanden sich alle Terraner in äußerst unwissenschaftlicher Kleidung und bester Laune im hydroponischen Park von Anakonda. * Shaga Noni war siebenundzwanzig Jahre alt und Doktor der Naturwissenschaften. Sie war nicht nur eines der bestaussehenden Mädchen dieses Mondes, sondern hatte sich auch für vier Jahre verpflichtet. Davon waren fast zwei Jahre vergangen, und seit einem Jahr war sie, abgesehen von einer flüchtigen Romanze mit dem Mann, der den Zapfstrahl kontrollierte, die Freundin des Stationsleiters. Das war weder für Shayon noch für sie ein Vorteil, aber auch kein besonders großer Nachteil. Jedenfalls war das Leben schön. Besonders jetzt und hier im Park. Die Abdeckkuppel war so gut wie unsichtbar, und nur ein Drittel des runden Ausschnittes nahm die geschwungene Silhouette des Planeten ein. Die anderen zwei Drittel waren von Sternen ausgefüllt. Bei ihrem Anblick empfand das Mädchen mit dem dunkelgrün gefärbten Haar, in dem sich als farblicher Gag eine Sförmig gekurvte Strähne silberfarbenen Haares befand, ein bißchen Heimweh nach Terra. »Du denkst?« fragte jemand neben ihr. Sie drehte den Kopf und sah das scharfe Profil von Tassinari, dem verrücktesten Burschen des Mondes.
»Selbst wenn du mir noch so viel von Kant und Schopenhauer vorliest – ich denke. Ich denke im Augenblick sogar daran, wie schön es auf der Erde ist, obwohl ich nicht gerade weine, wenn ich an den blauweißen Planeten denke.« Tassinari gab ihr ein frisch gefülltes Glas. »Merkwürdig«, sagte er. »Ich vermisse direkt den roten Strahl, der uns sonst wie ein Seil mit der Sonne verbindet.« Shaga sagte: »Was ich im Augenblick vermisse, ist absolute Einsamkeit.« Tassinari hob sein Glas und murmelte: »Ich hoffe, daß deine Liebenswürdigkeit sich wieder einstellt, sobald wir aus dem planetaren Schatten herausgetreten sind?« Shaga schenkte ihm ihr volles Lächeln. Und der Techniker erkannte, daß sie es ernst, aber nicht bösartig meinte. »Genau zu dieser Zeit werde ich wieder für allgemeinere Dinge zugänglich werden«, versprach sie. Tassinari stand auf, nahm sein Glas mit und sah auf die Digitaluhr. »Große Freude wird dann unter den Menschen sein«, sagte er und ging. Shaga blieb an der Bar sitzen, lehnte ihren Rücken an die Kante der Theke und legte den Kopf in den Nacken. Sie schaute die Sterne an. Sie waren jetzt besonders deutlich – alle dreißig Jahre, hatte der Stationskomputer errechnet, gab es an neun aufeinanderfolgenden Tagen einen Durchgang durch den Planetenschatten. Das bedeutete, daß der Anblick der Sterne nicht durch Nebenlicht beeinträchtigt wurde.
Ein prächtiger Anblick. Er machte atemlos und beruhigte zugleich. Dieser Mond war, da nicht durch eine Gashülle geschützt, direkt zwischen den fernen Sonnen. Schwarzer Samt des Hintergrundes mit starr leuchtenden, hellen Diamanten. Eine Schnittlinie aus tiefstem Schwarz schuf eine zweite Zone – der Planet. Und dann, mitten in ihren Gedanken über die Wirkung des Weltalls auf das weibliche Gemüt, erstarrte Shaga mitten in der Bewegung; sie hatte das Glas zum Mund führen wollen. Die schwarze Silhouette des Planeten beulte sich aus. Ein runder Körper schwebte zwischen Snakes und Anakonda. Ein Scheinwerfer, der sich bewegte, schuf auf der Innenwand der Abdeckkuppel einen störenden Effekt. Durch die laute Musik ertönte das Gelächter; vermutlich erzählte Cyd wieder Psychologenwitze. Jemand sprang, fiel oder wurde ins Wasser geworfen – klatschende und plätschernde Geräusche, eigentümlich verzerrt durch das Öl auf der Seeoberfläche. Shaga stellte ihr Glas ab, stand entschlossen auf und ging auf einem der schmalen Kiespfade auf den See zu. Zehn Meter vor dem gekachelten Rand der Uferbefestigung, auf dem man sich ausstrecken und bräunen lassen konnte, blieb das Mädchen stehen. Ein ungutes Gefühl nahm von ihr Besitz. Es war so, als käme etwas Dunkles, Drohendes auf sie zu. Auf sie allein, merkwürdig, dachte sie gleichzeitig und registrierte, daß der störende Reflex verschwunden war. Der Schatten blieb. Er wurde größer, was zweifellos damit zusammen-
hing, daß er näherkam. Kein Erdschiff war angesagt, und auf diese hinterhältig merkwürdige Art näherte sich weder eines der robotischen Versorgungsschiffe noch eines der bemannten Handelsboote. Shaga wollte zu Cyd laufen und ihm von ihrer Entdeckung berichten, aber plötzlich wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt. Ein starker Scheinwerfer blendete dort oben auf, und sie schätzte die Entfernung des unbekannten Schiffes auf etwa fünfhundert Meter. Dann erschienen im Licht des Scheinwerferstrahles die Konturen einer Gestalt im schweren, gepanzerten Raumanzug. Dann erlosch der Scheinwerfer wieder. »Da geht etwas Ungewöhnliches vor!« flüsterte Shaga. Sie drehte sich entschlossen um und lief auf Cyd zu. Einige Sekunden später brach sie durch die Gruppen der Menschen, die um Cyd herumsaßen und beachtliche Mengen des kalten Buffets vertilgten. »Cyd!« sagte sie aufgeregt. »Über dem Mond kommt ein großes Schiff näher. Eben ist ein Mann im gepanzerten Raumzug ausgeschleust worden.« Cyd ließ einen Käsewürfel fallen und sprang auf. »Tatsache?« rief er leise. »Ich habe mich nicht geirrt!« sagte Shaga. »Verdammt!« sagte Cyd und schob die Männer zur Seite. »Wir haben im Moment nur Batterieenergie. Vier Stunden lang! Wir sind ziemlich wehrlos.« Plötzlich sah er, wie in der Nähe der Bar ein Mann beide Hände auf die Brust preßte, nach vorn kippte und in den Kies fiel. Cyd überlegte fieberhaft schnell und kam zu einer Serie entscheidender Überlegungen. Er vermutete sofort, daß diese unbemerkte An-
näherung – denn jedes andere Schiff hätte sich gemeldet und Landeerlaubnis erbeten – der Anfang eines Überfalls war. Die Station war im Augenblick schutzlos, und einige Handwaffen, die man erst aus den Unterkünften hätte holen müssen, waren als Verteidigungsmöglichkeit ziemlich sinnlos. Der Mann, der dort umgefallen war, zeigte, daß der Gegner bereits ein Mittel gefunden hatte, die Stationsbesatzung auszuschalten. Gas! Cyd handelte schnell und in einer Weise, die den meisten Erfolg versprach. Er konnte niemandem mehr helfen, aber er konnte versuchen, sich zu retten. Ein Bild tauchte in seinen Überlegungen auf, als er Shaga bei der Hand ergriff und losspurtete. Neben und hinter ihm sanken andere Besatzungsmitglieder um, und er wußte auch, aus welchem Grund nicht die gesamte Mannschaft gleichzeitig gelähmt wurde. Sie befanden sich im Luftstrom der Umwälzanlage. Vorbei an der Bar, über den Kies, entlang einer Reihe von zusammengebrochenen Menschen rasten Cyd und Shaga auf den See zu. »Versuche, nicht zu atmen«, sagte Cyd und spürte bereits die ersten Wirkungen eines lähmenden Gases. »Ja!« Sie erreichten den Holzrost am See. Dort lagen zwei Sauerstoffgeräte, mit denen sich die Besatzung die Zeit vertrieb, wenn sie tauchen wollte. Binnen zehn Sekunden hatte jeder von ihnen die Maske vor dem Gesicht. Zwischen zwei tiefen Atemzügen, die das Gas aus dem Körper vertrieb, stieß Cyd hervor:
»Die Flaschen umschnallen und tauchen. Unter den Baum am Steg! Schnell!« Schweigend befestigten sie die Gurte. Sie zogen die Masken über die Gesichter, ließen sich ins Wasser gleiten und schwammen, möglichst selten die Köpfe hebend, quer über den See. Etwa fünfzig Meter, am gegenüberliegenden Ufer, hielten sie sich an den Pfosten des Stegs fest und tauchten dann unter einen der niedrigen Bäume, dessen unterste Aste über das Wasser hingen. Dort versteckten sie sich. Leise sagte Cyd: »Wenn niemand genau nachsucht, bleiben wir unentdeckt. Was hat das alles zu bedeuten?« »Jemand hat es entweder auf uns, den Mond selbst oder unsere Forschungen abgesehen«, flüsterte Shaga. Noch immer liefen die Bänder ab. Der hydroponische Park mit seinem kleinen See und den jetzt flakkernden Scheinwerfern war ohne Leben – alle Menschen lagen unter der Wirkung des Gases. Cyd hoffte inbrünstig, daß es sich um ein betäubendes Gas handelte und nicht um eines, das tötete. Die Klänge der Unterhaltungsmusik bildeten unter diesen Umständen einen bizarren Rahmen für das Geschehen, und die beiden Menschen froren im Wasser, obwohl es warm genug war. Plötzlich wurde die Musik abgeschaltet. Stille... »Jemand kommt in den Park!« wisperte Shaga. »Still!« Cyd tastete nach ihren Arm, griff nach ihren Fingern und hielt die Hand fest. Sie warteten regungslos und bemühten sich, keine Geräusche zu machen. Sie warteten, sahen und hörten zu.
Drei Gestalten, durchaus irdisch, kamen zwischen den vage angeleuchteten Büschen hervor. Deutlich war zu sehen, daß die Raumpanzer, die sie trugen, alt und verbeult waren. Die Gelenke, aus chromglänzenden Kugeln hergestellt, waren zerschrammt. Starke Lampen in den Händen der Eindringlinge warfen ihr Licht auf die bewegungslosen Gestalten. Die Außenlautsprecher und die Mikrophone der schweren Anzüge waren angeschaltet, und jetzt hörten Shaga und Cyd die Stimmen. Es waren männliche Stimmen, heiser und nicht gerade jung. Aber das konnte auch an den alten Geräten liegen. »Verdammt luxuriös haben die's hier!« sagte jemand. »Nicht so dreckig wie wir, Lotos«, war die Antwort. »Offensichtlich eine wissenschaftliche Station.« »Mist, verdammter – wir werden trotzdem was abstauben können.« »Brauchen wir Weiber?« »Immer! Mitnehmen.« »Wir haben nur vier Plätze frei!« Ein klirrendes Geräusch, dann einige Schritte, ein saftiger Fluch folgte. Die Männer blieben stehen, sahen die unbewegte Fläche des Sees und drehten sich abrupt um. Sie schienen etwas gegen Wasser zu haben. »Wir nehmen vier Weiber mit!« schrie die erste Stimme. Sie schien dem Chef dieser Bande zu gehören. Dann sagte jemand: »Wir haben höchstens zwei Stunden. In dieser Zeit müssen wir alles, was wir brauchen, ins Schiff hinübergeschafft haben.«
»Verstanden.« Das war eine deutliche Auskunft. Zwei Stunden lang mußten sie hier aushalten, aber dank der Luftumwälzanlage und der hervorragenden Filter würde das Gas eine ungefährliche Konzentration erreicht haben, bevor die Flaschen leer waren. »Los! Zurück! Holt aus den Buden heraus, was wir brauchen können. Viel Nahrungsmittel! Ist der Mann an der Ortung besoffen?« »Nein, Boß!« Die drei Gestalten wanderten zurück. Gleich darauf erloschen sämtliche Scheinwerfer und alle Lampen der indirekten Beleuchtung. Cyd und Shaga warteten ungeduldig und hofften, daß sie alles überstehen werden. Vier der Mädchen wurden gekidnappt, und die Überlegung, daß die Eindringlinge Räuber, Piraten oder desertierte Raumfahrer sein könnten, schien nicht allzu falsch zu sein. Eine halbe Stunde verging. * Fünfundzwanzig Männer durchsuchten die Station Anakonda. Sie nahmen mit, was sie fanden. Und sie fanden viel. Sie rissen jede Schublade auf, fegten kostbare Dinge von den Regalen, nahmen Kleidung, Nahrungsmittel und Flaschen mit. Sie stahlen die Hälfte von dem, was sie zerstörten. Die Tiefkühlfächer wurden ausgeleert. Kleine Kassettenrecorder, Schreibblöcke und Notizstifte, Pralinenschachteln und Bücher, Lesewürfel und Kanister voller flüssigem Kunstdünger; alles wurde in riesige, transparente Säcke aus dehnbarem Material geworfen und in
die Korridore hinausgeschleppt. Einer von ihnen hatte sich einen Weg durch die Personenschleuse geschnitten, hatte nach einigen Minuten die zentrale Luftversorgung entdeckt und dort einen Druckzylinder mit Nervengas geöffnet. Sämtliche Räume dieses Systems waren geflutet worden. Die Piraten – falls es Piraten waren – drangen in die Labors ein, verstanden nicht, was sie sahen, denn wegen der fehlenden Energien brannten nur wenige Instrumente und Lampen. Sie stolperten durch die Hallen, starrten die merkwürdigen Anordnungen der Versuche an, öffneten hier ein Ventil und dort eine Klappe, bewegten einige Schalter und Regler. Abgesehen von einigen kleinen Möbelstücken fanden sie nichts, was mitnehmenswert erschien. Es waren humane Eindringlinge – sie hatten niemanden umgebracht. Nur vier Mädchen wurden in leichte Raumanzüge gehüllt und hinausgeschleppt. Das Schiff schien eine merkwürdige Konstruktion zu sein – es sah aus wie eine Hantel, deren Scheiben man um neunzig Grad gekippt hatte, wie zwei Diskusse, die durch einen röhrenartigen Steg verbunden waren. Unaufhörlich fuhr der Zentrallift mit den hineingestapelten Säcken auf und nieder, und die Männer bildeten eine Kette. Eine Stunde verging. Zuletzt feuerte der Mann im stahlblauen Anzug, den sie Boß genannt hatten, einige Schüsse in die Funkgeräte und kappte die Stabantenne auf der krustigen Oberfläche des Mondes. Hinter den Banditen blieben zurück: Teilweise verwüstete Labors mit Versuchsanordnungen, die nicht mehr funktionieren würden. Die
Banditen hatten Schaltungen betätigt, die sie nicht hätten anrühren dürfen – die Versuche waren sabotiert. Ein in Zahlen nur schwer ausdrückbarer Schaden war dadurch entstanden. Fast sämtliche Nahrungsmittel der Station Anakonda waren gestohlen worden. Man würde vielleicht gerade noch weiterleben können, aber vielleicht traten auch ernste Schwierigkeiten auf. Sämtliche Zimmer und alle angrenzenden Räume waren systematisch geplündert worden, wobei mehr gestohlen worden war, als die Männer in dem merkwürdig aussehenden Raumfahrzeug je gebrauchen konnten. Eine dichte Schicht von herausgerissenen Kleidungsstükken, persönlichen Wertgegenständen und den Trümmern davon, von Notizen und allem anderen, das in einer Wohnung zu finden war, bedeckte den Boden der Zimmer und die Korridore. Die große, hervorragend ausgerüstete Küche war regelrecht ausgeräumt worden. Die Bestecke ebenfalls, genau wie die Teller und das Essen. Sogar den Radarherd hatten sie aufgerissen, und die Speisen darinnen waren verdorben. Ein großes Paket Speiseeis lag in der Mitte der Küche und löste sich langsam auf. Dann, hundert Minuten, nachdem Shaga die Sterne und den Scheinwerfer betrachtet hatte, flammten die Triebwerke kurz auf, blendeten hinunter in den Park, und lautlos und schnell entfernte sich das fremde Raumschiff. Cyd und Shaga kletterten aus dem Wasser, und Shaga riskierte einen tiefen Atemzug. »Das Gas ist absorbiert worden«, sagte sie. »Wir können uns frei bewegen.«
Cyd schloß die Hähne der Sauerstoffflaschen und warf die Geräte achtlos in den Kies. »Jetzt fängt es an, problematisch zu werden«, sagte er. »Verdammt... ich werde die Burschen jagen. Ich bringe sie zur Strecke, und wenn ich ihnen ein Jahr lang nachjagen soll!« Shaga sagte leise: »Im Augenblick sollten wir uns um unsere Kameraden kümmern, Cyd.« Er versuchte, seine nasse Jacke auszuziehen und verschluckte eine Serie ausgesuchter Kraftausdrücke. »Natürlich. Du hast recht. Wir brauchen Sauerstoff und Medikamente... holst du die Spritze aus dem Lazarettraum?« »Ja.« Shaga lief dem Ausgang entgegen, und als sie die gläsernen Doppeltüren erreicht hatte, schaltete sie erstens den Durchsatz der Klimaanlage auf einen höheren Wert und zweitens sämtliche Lichter an. Fünf Stunden dauerte der Durchgang durch die Schattenzone, und erst in etwa zwei Stunden war hier Sonnenlicht zu erwarten. Cyd kümmerte sich um die bewußtlosen Besatzungsmitglieder. Er schleifte die Körper ins Licht, legte sie entsprechend hin und begann, mit kräftigen Dosen Sauerstoff die Lungen der Mädchen und der Männer zu füllen. Shaga Noni kam dazu und jagte durch die preßluftbetriebene Hochdruckspritze das Medikament in den Kreislauf der Bewußtlosen. In rund einer Stunde waren alle versorgt. Zwei von ihnen bewegten sich bereits. »Fabelhaft, wie du das machst!« sagte Cyd. »Jetzt könnte ich einen Schluck Alkohol gebrauchen. Holst du einen? Falls die Herren Einbrecher noch eine Fla-
sche übriggelassen haben.« Shaga setzte sich erschöpft auf einen umgestürzten Sessel. »In der Station sieht es aus, als habe ein Taifun gewütet«, sagte sie. »Unersetzliche Dinge sind verlorengegangen.« »Auch deine Güte ist unersetzlich«, antwortete Cyd grob. »Sei so gut – dort drüben ist die Bar.« Er fuhr fort mit der künstlichen Beatmung, und unter seinen Händen erwachten zwei weitere Mädchen. Shaga kam mit zwei gefüllten Gläsern zurück. »Es ist so sinnlos!« sagte sie. »Die Bar ist nicht einmal angerührt worden. Nur zwei Gläser sind kaputt, und die hatten ohnehin schon einen ausgebissenen Rand.« Cyd stürzte wortlos einen riesigen Schluck herunter, und die Wärme, die von seinem Magen aus den Körper zu durchziehen begann, tat ihm sehr wohl. Er drehte sich um. »Los, ihr schlaffen Forscher!« brüllte er und legte alle Schärfe, die ihm möglich war, in seine Worte. »Ihr seid gasvergiftet. Bewegt euch! Lauft herum, und wenn ihr nicht mehr könnt, dann schnappt euch einen Sauerstoffapparat und atmet reinen Sauerstoff!« Zwei Männer stützten sich gegenseitig und torkelten davon, auf dem Kiespfad rund um den See hörte Cyd ihre stolpernden Schritte. »Kümmere du dich um die Mädchen!« sagte er deutlich und richtete ein Mädchen auf, das gerade zu sich kam. »Hier hast du dein erstes Opfer.« Sie arbeiteten wie die Berserker, und als das Sonnenlicht auf die Kuppel knallte, waren sämtliche Ter-
raner wieder leidlich sicher auf den Beinen. »So!« sagte Cyd. »Beschäftigungstherapie. Ihr alle räumt eure Zimmer auf. Ich werde ein Hypergramm losjagen!« Er hatte sich inzwischen umgezogen, noch einen zweiten kräftigen Schluck und einige der leicht vertrockneten Happen des kalten Buffets zu sich genommen und war wenigstens äußerlich wiederhergestellt. Zuerst schaltete er den zweiten RedundanzFunkkreis an; verband also unzerstörte Teile des halbzerstörten großen Funkgerätes mit kleineren Ausweichschaltungen, dann merkte er, daß die Hauptantenne zerstört war und legte die Leitung auf die Reserveantenne um, nachdem er die Notboje aus dem Fels gesprengt hatte. Im Weltraum, auf der Oberfläche des Mondes erwärmten sich die Metallverbindungen, streckten und entfalteten sich und bildeten schließlich eine Schirmantenne. Der Funkspruch wurde abgestrahlt.
2 Der Kommandant nahm die sieben Umschläge, die jeweils die genauen Daten über die anzufliegenden Koordinaten enthielten und eine Beschreibung der jeweiligen Stationen, von der Schreibtischplatte herunter und sagte: »Ich freue mich auf diesen Einsatz.« Er hatte in sieben Filmen gesehen, was er untersuchen sollte. Er kannte die Bedeutung der wissenschaftlichen Außenposten und freute sich tatsächlich darauf, diesen Flug zu unternehmen. Man hatte ihm offiziell zwei Monate dafür gegeben, aber wenn er länger brauchte, würde sich niemand daran stören. Nur war jedesmal ein Bericht über das Gesehene und Erlebte unmittelbar nach der Prüfung abzuschicken. Gunstone Henessey sagte grinsend: »Das wird auch sicherlich ausgezeichnete Ergebnisse zeitigen.« »Sicherlich«, sagte Cliff. »Wie fühlen Sie sich eigentlich auf Kublai-Krims Stuhl? Hart gepolstert, nicht wahr?« Gunstone wurde schlagartig ernst und sagte: »Sie täuschen sich. Ich bin kein Traditionalist, Kommandant. Ich komme völlig unbelastet hierher und habe nicht vor, die Kriegsschiff-Politik Kublais fortzuführen. Ich werde selbstverständlich eine stets einsatzbereite Gruppe von Schiffen haben, die notfalls angreifen oder verteidigen können, aber ich teile nicht die Befürchtung der Erdregierung, daß die Erde ununterbrochen allein deswegen bedroht wird, weil sie blau und weiß ist.«
»Jedenfalls«, sagte Cliff, »sind Sie sicherlich ein guter Redner. Sie haben jetzt nicht einmal Atem geholt. Bleibt es dabei? Morgen um neun Uhr Start?« Gunstone nickte. Langsam fuhr die bunte Wand wieder vor die Schirme, und durch einen kleinen technischen Trick leuchteten die Augen im Gemälde Kublai-Krims auf, strahlten Cliff an und zwinkerten dann kurz. McLane fragte undeutlich, während er sich von der Verblüffung erholte: »Stammt das von Ihnen?« Gunstone fragte unschuldig: »Was?« Cliff nickte und sagte leise: »Es scheint ein goldenes Zeitalter angebrochen zu sein. Zuerst dieser Bela Rover, dann Sie... sollten die Militaristen aussterben wie die Saurier?« Lächelnd antwortete Gunstone: »Die Saurier brauchten, um einzusehen, daß sie einer aussterbenden Rasse angehörten, einige Jahrmillionen. Ich hoffe, es in einer wesentlich kürzeren Zeit über die Runden gehen zu lassen.« Cliff schüttelte Gunstones Hand und bemerkte: »Der Paria vom Carpentariagolf scheidet! Kann ich etwas für Sie tun, draußen im All?« Henessey nickte und erwiderte ernsthaft: »Sie können mir einen versilberten, etwa fünf Kilo schweren Meteoriten mitbringen, wenn Sie über einen solchen stolpern.« Cliff sah auf die Uhr und sagte: »Da haben Sie einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt. In dieser Jahreszeit gibt es wenige dieser Exemplare. Besonders nachts sind sie selten.«
Der Türsummer ertönte, hart und dringend. Viermal. Cliff fiel es erst jetzt auf; die obligatorische Lichtflutbarriere fehlte. Er grinste in sich hinein – die Entwicklung, die man zum Schutz der Basis 104 vor den bekannten Ereignissen in der Zukunft eingeleitet hatte, schien zu beginnen. Hier und jetzt. »Herein!« rief Gunstone und legte die Füße auf den Schreibtisch. Ein junges Mädchen kam herein und legte einen versiegelten Umschlag auf den Tisch. Gunstone sah sie an, lächelte breit und griff nach dem langen Papierstück. »Danke, Süße!« sagte er. »Wie steht es mit dem Kaffee? Entschuldigung, Kommandant. Trinken Sie einen mit?« Cliff wandte sich an das Mädchen. »Mit Vergnügen und wenig Zucker«, sagte er. »Doppelt stark.« Binnen zehn Sekunden – das war genau die Zeit, die Gunstone brauchte, um das Siegel aufzubrechen, das Mädchen durch die Tür verschwinden zu sehen und um einige Zeilen zu lesen – veränderte sich die Situation jenseits der Schreibtischplatte. Gunstone riß die Füße von der Platte, drückte schnell mehrere Knöpfe und sah, daß der Bildschirm wieder hinter den exotischen Pflanzen und Monden erschien. Aus dem Tisch fuhr ein Mikrophon. »Hier Gunstone Henessey«, sagte er, »ich brauche sofort die Flugbereitschaft.« Der Schirm wurde hell, zweimal erschien ein Schaltzeichen, dann sah sich Cliff dem ins Monströse vergrößerten Oberkörper einer jungen Dame mit
dienstlicher Miene und einem Mikrophon am Kopfhörerbügel vor dem Mund gegenüber. »Modeste!« sagte Gunstone langsam und betont. »Ich brauche drei startfertige Schiffe. Dann suchen Sie die Liste des Inventars vom Mond Anakonda Viertausend, Planet Snakes, heraus.« Es folgten die Daten, darauf sofort die genauen Koordinaten des Sterns. »Die Positionen Eins bis einhundertdreiundachtzig, je einmal für fünfundvierzig Personen einladen. Dazu die Positionen zweihundert bis zweihundertzehn, dann ein Funkgerät Typ Commander Nova, eine Antenne Typ Luna II, dann...« Er faltete das Hypergramm zusammen, während er sprach. Dann kniff er die Spitze ein und schleuderte die Folie zu Cliff hinüber. In einer eleganten Kurve landete das Papierflugzeug in Cliffs Schoß, und während er es las, hörte er noch undeutlich den letzten Satz des Mannes neben ihm. »... Vollzugsmeldung in einer Stunde, Startmeldung in neunzig Minuten. Rückruf der drei Kommandanten erbeten. Ende. Kann ich mich darauf verlassen? Sie sind doch eine meiner Besten, Modeste! Sie kriegen auch einen dicken Blumenstrauß, ja!« Das Mädchen nickte, während sie notierte, dann, als der Schirm wieder dunkel wurde, begann sie bereits mit der Zeugmeisterei zu sprechen. Cliff hatte, außer in besonderen Situationen an Bord der ORION VIII, derlei noch nie erlebt. »Unbezahlbar, Gunstone!« sagte Cliff. Er las das Hypergramm: »... flash... high speed, via Relais, dringend an Gunstone Henessey. Von Mond Anakonda 4000. Sind überfallen worden. Gasangriff, Lähmgas. Vier Mädchen entführt. Die
Nahrungsmittel und sämtliche Gebrauchsgegenstände der ersten Ausbaustufe gestohlen. Vermuten Piraterie oder Deserteure. Niemand gab das Besteck ab! Energievorräte nicht angetastet, aber wichtige Versuche ruiniert. Schickt zur Untersuchung keinen Debilen. Nahrungsmittel sehr knapp, Wut groß, Tendenz steigend. Gezeichnet Cyd Shayon. Ende.« Gunstone sagte: »Guten Flug, Kommandant!« »Soll ich früher starten? Es wäre möglich – ich kann diesen Teil der Mannschaft ohne Schwierigkeiten zusammenrufen.« »Nein. Die drei Hilfsschiffe starten in knapp zwei Stunden. Fliegen Sie trotzdem schnell und handeln Sie möglichst unbürokratisch.« Der Kaffee kam, und die Männer widmeten sich einige Minuten lang dem starken, duftenden Getränk. Dann sagte Cliff nachdenklich: »Einen Satz habe ich nicht verstanden. Was bedeutet ›das Besteck abgeben?‹« Gunstone lächelte kalt. »Sollten Sie wissen. Ein Toter ißt nicht. Er braucht also kein Besteck mehr. Gibt jemand sein Besteck ab, ist er verschieden.« Cliff antwortete: »Sie haben wirklich einen trockenen Charakter. Besten Dank für die Erklärung. Der Kaffee war ausgezeichnet.« Sie verabschiedeten sich, und Cliff verließ sehr nachdenklich das Büro Gunstone Henesseys. Er wußte, daß es wieder einmal soweit war: Mitten in einem ruhigen, interessanten Projekt war die Gefahr aufgetaucht, nackt und brutal. Eine Station war über-
fallen und ausgeraubt worden. Eine Gruppe von Deserteuren schien sich nahe des Zentrums der Raumkugel herumzutreiben. Und vermutlich war dieser Überfall ein erstes Zeichen – Cliffs Erfahrung sagte ihm, daß weitere Überfälle nicht auszuschließen waren. Er verließ das Stollensystem der Basis 104, fuhr hinauf an die Oberfläche und machte sich an das Studium der Unterlagen. Zuerst aber verständigte er die Mannschaft. * Niemand konnte sagen, daß sich der Kommandant Cliff McLane nicht auf diesen Einsatz vorbereitet hätte. Den gesamten Nachmittag und einen Teil der Nacht hatte er darauf verwendet, sich in die Probleme des Multi-Intelligenzen-Teams zu vertiefen. Er war in seinem Arbeitszimmer gesessen, trank geeisten Fruchtsaft mit Alkohol und spielte abwechselnd Musik von Händel und Tomas Peter. Im Augenblick, da er den einzigen Schwierigkeitsgrad, der vermutlich sein Können überstieg, entdeckte, hörte er ein Konzert für Trompete und Orchester von Leopold Mozart. Der Haken an dieser Angelegenheit war zweifellos der ›Kadett‹. Ein junger Mensch, Turceed, der sich in den Kopf gesetzt hatte, auf den breiten Spuren Cliff McLanes zu wandeln und Raumschiffkommandant zu werden. Er ahnte nicht, daß er sich am Anfang eines steinigen und steilen Weges befand. »Nun denn«, murmelte Cliff und sah auf das Bord-
chronometer, »bemühen wir uns, den Dingen gefaßt entgegenzusehen.« Er drehte den Kommandantensessel herum, schaltete die zentrale Sichtscheibe ein und beobachtete den Raum der Startschleuse. Zuerst, etwa eine halbe Stunde, nachdem Cliff die ORION betreten und die ersten Checks gemacht hatte, betrat Hasso Sigbjörnson mit einer ungewöhnlich großen Flugtasche die Steuerkanzel des Schiffes. »Hat deine Anwesenheit einen bestimmten Grund?« fragte Hasso. Cliff schüttelte die Hand seines ältesten Freundes und erwiderte zögernd: »Ja. Ich wollte vermeiden, daß die gemischte Mannschaft erste Erfahrungen austauscht, ohne daß ich zugegen bin. Wehret den Anfängen – ich muß von der ersten Minute an einen gewissen Schwung, die typische ORION-Linie in den ganzen Laden bringen.« Hasso grinste, setzte sich in den Sessel vor Legrelles Funkpult und sagte: »McLanes Weitblick! Das ist tatsächlich eine interessante Sache. Hoffentlich schicken sie uns bereits halb ausgebildete Individuen, keine totalen Stümper.« Cliff bestätigte voller Wohlwollen: »Gunstone Henessey, dem wir diesen Auftrag verdanken, ist ein guter Mann. Er hat uns gut ausgebildete Leute geschickt.« »Ich bin neugierig!« sagte der weißhaarige Bordingenieur, der nur noch aus Freundschaft zu Cliff mitflog – genau betrachtet zog ihn aber mit ebenso großer Kraft das Abenteuer aus der Anziehungskraft seiner Familie heraus.
Der zweite war Mario, der sich sofort daranmachte, das Schiff zu überprüfen und den Kurs nach Anakonda 4000 zu programmieren. Dann kam Thor. Das Kugelwesen von Caernavan't hatte in einem langen Kurs mit Professor Sherkoff und seinen Psychodynamikern eine Möglichkeit entwickelt, auch ohne Umweg über einen tranceähnlichen Zustand mit Terranern, Turceed und anderen Wesen zu verkehren. Jetzt verlief die Unterhaltung schneller und leichter: Es genügte, wenn einer der Terraner scharf: »Thor!« dachte und einen gedachten Satz anfügte. Auf die gleiche Weise erhielt er die schnelle Antwort. Dadurch, daß Gedanken auch Bilder und Eindrücke übermitteln konnten, war die Informationsmenge pro Satz um siebzig Prozent gesteigert worden. Das Wesen namens Thor schaltete sich nicht in die Gedanken ein, wenn es nicht erwünscht war – also blieben die scharf gedachten Namen der jeweiligen Gesprächspartner als Knopfdruck übrig, der die Kommunikation in Gang setzte. »Cliff! Ich habe diesen Namen aus der Nomenklatur des Dichters hervorgesucht. Alle meine Freunde haben solche Namen. Thor, Baldur... du kennst sie.« Als der erste Turceed aus dem kleinen Lift stieg, sagte Cliff gerade: »Thor! Ich weiß, daß eure Verehrung der Gesänge und Gedichte des Einsiedlers merkwürdige Blüten treibt. Kannst du mich auch verstehen, wenn ich laut spreche? Das ist nämlich die Art, in der wir Zweibeiner uns verständigen.« Die Kugel dachte blitzschnell: »Cliff, Mario, Hasso! Ich verstehe ausgezeichnet.«
Sie begrüßten den jungen Turceed. Er hieß Darco 4009 und wurde sofort Sigbjörnson als Assistent zugeteilt. Er wollte nämlich Raumschiffingenieur werden und später selbst Schiffe entwerfen, und Henessey hatte in den Akten Hassos gelesen, daß der zweiundzwanzigjährige Mann nirgends besser aufgehoben war. Auch er war unfähig, etwas anderes als die Wahrheit zu sagen, war erfreulich unangepaßt und beherrschte die Kunst, die Natur von Gedankenströmungen erfassen und deuten zu können. Schließlich kam Glanskis. Glanskis, ›Glatteis‹, das Raubtier, der Tigerähnliche vom Eisplaneten. Die Unterhaltung mit diesem uralten Wesen, das drei Viertel seines Lebens schlafend und mit stark reduzierter Stoffwechseltätigkeit im Eis verbracht hatte, verlief fast ebenso wie die mit einem Turceed, der die terranische Sprache noch nicht flüssig beherrschte und nach Worten suchte. »Wir haben alle Namen, die etwas mit Eis oder Kälte zu tun haben«, erklärte der uralte Raumfahrer. »Ich weiß, und hier haben wir den ältesten Raumfahrer der Geschichte. Eine Million Jahre!« sagte Cliff. Mario machte ein Gesicht, als müsse er sich noch eine Zeitlang an diese Zahl gewöhnen. »Sind wir komplett?« fragte er. »Ich vermisse Ishmee und Helga und Atan... wie ist das zu erklären?« Cliff deutete auf Hasso und auf Darco 4009. »Darco«, sagte er und wendete Bishayr an, um den Charakter des jungen Mannes näher kennzulernen; Hasso würde dieses Verfahren anwenden, bis sie restlos Aufschluß über die Eigenschaften Darcos hatten, »du bist als Raumkadett fortgeschrittenen Jahr-
ganges an Bord gekommen. Nimm zur Kenntnis, daß wir ein Team sind, von dem drei Mitglieder fehlen – vorübergehend. Es wird höllisch schwer sein, in dieses Team hineinzukommen. Bist du drin, bist du vermutlich ein passabler Raumfahrer. Du wirst für die Dauer dieses Fluges vermutlich fast nur bei Hasso im Maschinenraum sein. Du kannst ihn fragen, was du willst – Hasso hat ein großartiges pädagogisches Talent und wird es reichlich anwenden. Wir müssen starten. Hasso, Darco – ab mit euch, eine Etage tiefer.« Der Turceed grüßte vorschriftsmäßig, und seine Bewegung wurde unsicher, als er Cliffs Grinsen sah. »Diese Verrenkungen sind hier nicht erwünscht«, sagte Cliff. »Wir sind bewaffnete Pazifisten. Los, schnell, weg mit euch!« Hasso nahm seinen Flugsack auf, der Turceed ebenfalls, und einträchtig benutzten sie den kleinen Lift nach unten. Cliff zählte laut ab. »Hasso, Mario, Cliff, Thor und Glanskis sind an Bord, Darco ebenfalls. Sieben Mann sollten wir sein, sechs sind wir erst. Also scheint einer zu fehlen.« Er drehte sich um und schaute auf den Sichtschirm. »Irrtum. Hier ist er, Kommandant!« sagte eine weibliche Stimme vom Lift her. Cliff, der sich langsam mit seinem Sessel drehte, sah Marios Gesicht in seinem Blickfeld auftauchen. Marios Augen glänzten, als habe er Belladonna genommen. Cliff stand auf und murmelte unglücklich: »Naomi 4603! Ich hätte es mir denken sollen. Schließlich...«, der Rest verlor sich in dumpfem Murmeln.
Vor dem Lift stand eine etwa siebenundzwanzigjährige junge Dame, ohne Zweifel eine Turceed. Sie hatte das gleiche schwarze Haar wie Ishmee und die gleichen goldfarbenen Augen. Aber sie war wesentlich hübscher, und irgendwie wirkte sie frischer, unvermittelter und direkter auf Cliff und die anderen. Sie war sehr schlank und war in einen orangefarbenen Hosenanzug gekleidet. Cliff bemühte sich, seine Überlegungen unter Kontrolle zu halten und sagte rauh: »Ist das möglich? Eine Turceed will Kommandant werden?« Naomi sagte halblaut: »Kadett Erster Klasse meldet sich an Bord des Raumschiffes ORION!« Cliff schaute ein zweitesmal auf die Uhr. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Nimm Platz, hier, im Kommandantensessel. In zwei Minuten wird der Start eingeleitet.« Naomi dankte lächelnd, setzte sich hin und brachte den Sessel in die richtige Position. Glanskis sprang federleicht in den Spezialsessel und schaltete die Geräte des Astrogatorenpultes ein. Die Kugel setzte sich in Helgas Sessel, und Mario unternahm die nötigen Schaltungen. Der Zentrallift wurde eingezogen, die Schiffszelle abgedichtet. Es war acht Uhr früh. Die Funkverbindung stand, und mit Hilfe eines Richtmikrophons und eines Richtlautsprechers wickelte Cliff, neben seinem Kommandantenpult stehend, die Gespräche mit dem Startturm ab. Naomi schaltete durch die Aufregung eine Spur zu schnell. Nichtsdestotrotz wickelte die ORION einen ausgezeichneten Start ab.
Über Australien raste sie am Großen Schiff und am Wachring der Diskusschiffe vorbei, beschleunigte und ging nach zwei Stunden in den Hyperraum. Cliff griff zwischen den Händen des Mädchens hindurch und schaltete sein Pult ab. »Autopilot?« fragte Naomi 4603. Cliff deutete hinüber zu Mario. »Ja. Das Schiff wird jetzt von dem Digitalrechner gesteuert. Alles klar, Naomi?« Wahrheitsgemäß versicherte sie: »Ich war etwas aufgeregt, denn ich hatte nicht damit gerechnet, daß ich gleich mit solchen Aufgaben betraut werde.« Mario brummte aus seiner Ecke: »Vielleicht kommen wir in einen Lichtsturm, eine Plasmawolke oder einen Photonentaifun. Dann wirst du sehen, wie leicht dein Job eben war.« Cliff zupfte an seinem Bart und dachte nach. Dann hatte er eine Idee, die allerdings ziemlich naheliegend war. »Wir wollen hier nicht wieder die alten Fehler exerzieren«, sagte er. »Früher haben wir uns mit Emanzipationskämpfen aufgerieben, und dies hier ist ein Versuch, der einzigartig ist. Naomi – du bist, nach mir, die Person mit der meisten Verantwortung; das heißt, du wirst sie später einmal tragen müssen. Vorläufig vertritt mich noch der Erste Offizier Mario de Monti. Bisher haben die weiblichen Mitglieder unserer Crew sich um unser leibliches Wohl gekümmert. Ist dir eine Kombüse ein Begriff?« Voller Selbstvertrauen antwortete Naomi: »Verbinde mir die Augen, warte sieben Minuten, und ein ausgesuchtes Bordfrühstück für drei ver-
schiedene Metabolismus-Typen ist fertig. Vorausgesetzt, die Vorräte sind entsprechend modifiziert worden.« »Der Flug des Verderbens beginnt«, sagte Mario düster. »Der allseits beliebte Schriftsteller Pieter-Paul Ibsen schrieb jüngst ein Opus über eine zusammengewürfelte Mannschaft. Am Schluß waren alle tot, und der Autopilot landete das Schiff.« »Ich glaube«, sagte Naomi und setzte als ihre beste Waffe ein mädchenhaftes Lächeln ein, »es wird mir an Bord der legendären ORION ausgezeichnet gefallen.« Ihre Provokation glitt an Cliff und Mario ebenso ab wie an Glanskis. »In die Küche«, sagte Cliff, »gehen maximal sieben Personen hinein. Wir werden das Kennenlernen mit der ersten stärkenden Mahlzeit an Bord verbinden. Soll Thor dir helfen?« »Ich melde mich, wenn ich Hilfe brauche«, sagte der Kadett Erster Klasse, hob die Bordtasche auf und fuhr mit dem Lift nach unten. Mario grinste breit, während er die Verbindung zur Küche aus der Bordsprechanlage herausnahm, und wandte sich an Glanskis, der mit seinen großen Pranken die Tastatur des Funkgerätes behutsamer als ein Mensch behandelt hatte. »Glanskis?« »Ja?« Es war jenes Exemplar, mit dem die Männer der ORION zuerst Kontakt gehabt hatten, von dem sie also während des Blizzards gerettet worden waren. Sie kannten sich dadurch besser, obwohl erst auf dem Planeten der Turceed, auf Valkyrie, die Schulung der
raubtierähnlichen, silbergrauen Wesen übernommen worden war. »Was hältst du von diesem Versuch einer MultiIntelligenzen-Crew?« »Ich bin grundsätzlich Eis und Wasser dafür!« Sicher meinte er das Synonym für Feuer und Flamme, umgesetzt in die Terminologie des Eisplaneten. »Aber...?« fragte Mario. »Wir müssen die ersten Belastungen abwarten«, erklärte Cliff. »Im Normalbetrieb, wenn niemand bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit beansprucht wird, ist dies alles sicher kein Problem. Die Spezialisierung wird sich ohne Zweifel auch erst später ergeben. Übrigens: Naomi wird zu einem kleinen Problem werden. Sie ist zu selbstsicher. Sie muß in der nächsten Zeit einige Fehler machen, die das Schiff in ernste Gefahr bringen. Das wäre ein Problem für dich, Mario.« Mario nickte ernst und sagte: »Aber sie schlägt fast spielend jeden Rekord an Schönheit, und kein Schiff außer der ORION hat so viele gutaussehende Gäste an Bord gehabt.« Cliff meinte: »Trotzdem wirst du ein paar schöne Fallen programmieren. Nimm die Simulatorbänder, nach denen wir vor Jahrhunderten unsere Manöver geübt haben.« »Einverstanden. Wir haben noch vierundsechzig Stunden bis Anakonda.« Cliff schlug vor: »Wir tasten uns erst einmal vor. Übrigens, habt ihr Bishayr angewendet?« Hasso und Mario nickten schweigend. Cliff sagte:
»Dann habt ihr zweifellos festgestellt, daß beide Turceed in Ordnung sind. Sie passen charakterlich sehr gut in eine Raumschiff-Crew hinein, sogar in die ORION!« »Auch meine Meinung!« sagte Glanskis. »Übrigens: Glanskis ist die alte nordeuropäische Übersetzung von Glatteis«, sagte lautlos das Kugelwesen. »Ich kenne inzwischen auch die Bücher, aus denen der Einsiedler seine Ideen schöpfte.« »Thor!« dachte der Raguer und hob eine Pranke, »du hast vollkommen recht. Wir haben also ein gemeinsames Interesse – über die Raumfahrt hinaus.« Cliff schaltete die Bordsprechanlage auf sämtliche Leitungen um und sagte halblaut: »Kommandant an Mannschaft: In drei Minuten treffen wir uns in der Kombüse zum ersten gemeinsamen Essen an Bord.« Aus der Kombüse kam die Antwort: »Ich warte bereits. Sie essen nur harte Eier, nicht wahr, Kommandant? Ich erfuhr es von meiner Freundin Ishmee.« »Ja«, sagte Cliff und wandte sich zu Mario. Beide Männer sahen sich schweigend an, nickten und brachen dann in Gelächter aus. Cliffs Lachen hörte auf, als er an Anakonda dachte und an das, was noch alles auf ihrem Weg lag. Jetzt jedenfalls hatte er Hunger. * Cliff registrierte die Ruhe, die an Bord herrschte. Der Raguer hatte sich auf dem weichen Bodenbelag der Kommandokanzel ausgestreckt und hielt Wache. Erstaunlich, dachte Cliff, wie selbstverständlich al-
les angefangen hatte. Die Kugel von Caernavan't und der Raguer bildeten jetzt, nach zwanzig Stunden Flug, tatsächlich einen Teil der Mannschaft. Die Verständigung klappte einwandfrei, sobald man einmal die Voraussetzungen als normal empfand. Der Kommandant saß in seiner Kabine. Vor ihm brannte das Punktlicht und beleuchtete die Unterlagen und die Eintragungen, die er für den Bericht an Gunstone gemacht hatte. Cliff saß im Sessel, war in seinen weißen Bademantel gehüllt und hörte leise Musik. Der Türsummer war zu hören, und Cliff schob ein Bündel Stellarkarten über die handschriftlichen Eintragungen. »Herein!« sagte er. »Guten Abend«, sagte Naomi. »Störe ich Sie?« »Nein«, sagte Cliff. »Ich habe dich erwartet. An Bord wurde übrigens vor einem halben Jahr das letzte Sie ausgesprochen.« »Einverstanden, Cliff«, sagte das Mädchen. Sie wirkte nicht mehr so ganz sicher wie vor Stunden. »Was gibt es?« fragte Cliff. »Ich habe ein Problem«, sagte Naomi. »Ein ziemlich schweres Problem.« Cliff lehnte sich zurück und spielte mit seinem verchromten Schreibstift. Dann brummte er: »Offene Ohren sind hier an Bord Ehrensache. Sprich, Schwester Raumfahrerin.« Naomi sagte: »Ich war kurz vor dem Start mehr als erstaunt, als ich die ORION als Ausbildungsfeld zugewiesen bekam. Ich weiß, daß ich – wie auch Glanskis und Thor – in ein Team eingebrochen bin und daß weder Legrelle noch Shubashi, und auch nicht Ishmee mitflie-
gen. Ich versuche, mich richtig zu verhalten, alles richtig zu machen und natürlich Erfahrungen zu sammeln. Können Sie mir dabei helfen?« Cliff nickte. »Ein Team wie das der ORION, das ist eine fast homogene Gemeinschaft. Wir kennen uns seit Jahren, wir sind über unsere gegenseitigen Stärken und Schwächen informiert und respektieren den anderen. Wir sind aufeinander eingespielt. Jeder weiß, was der andere im nächsten Augenblick unternehmen oder nicht unternehmen wird. Das ist etwas, das sich nur durch lange Einsätze hervorbringen läßt. Und natürlich wirst du es in den Tagen dieses Fluges nicht schaffen.« »Das habe ich auch nicht angenommen. Aber ich kann mich auf den richtigen Weg darauf einpendeln. Richtig?« »Das ist es«, sagte Cliff. »Das und noch etwas anderes. Darüber später mehr. Die zweite Frage dieses Fluges sind die beiden Fremden. Sie geben eine zusätzliche Schwierigkeit ab. Denn sie sind nicht menschlich. Die Unterhaltung hat bereits hervorragend geklappt, und die Grundregeln ihres Faches verstehen sie auch. Aber da ist noch etwas: Der Raguer ist eigentlich ein Wesen, das sich hervorragend eignet, im freien Raum zu arbeiten oder auch unter Wasser. An Bord, also als Funker, ist Glanskis nicht unbedingt der beste Fachmann. Das gleiche gilt, abgewandelt, auch für Thor. Er ist ein Wesen, das unter Zuhilfenahme von Wunschvorstellungen anderer etwas erbaut oder werden läßt. Dies alles geschieht auf einer höheren Ebene – im Bereich des Parapsychischen. Wir müssen versuchen, terranische und Tur-
ceed-Eigenheiten, Eigenschaften von Kugelwesen und Raguer zu integrieren. Jeder im richtigen Augenblick eingesetzt, das kann wahre Wunder wirken.« Naomi flüsterte, offensichtlich von einer Einsicht überwältigt: »Ein Organismus!« »Es freut mich, daß du selbst draufgekommen bist«, sagte Cliff. »Das ist es. Jeder von uns, von der alten Crew, ist ein Sinnesorgan mit einem selbständigen Hirn. Zusammen mit dem Schiff ergeben wir einen lebendigen Organismus, bei dem ruhig einmal ein Teil ausfallen kann. Die Entwicklung in diese Richtung – das ist die Verpflichtung dieses Fluges. Vielleicht kommen wir zurück und haben einen Annäherungswert geschaffen. Mehr werden wir nicht erreichen. Aber am Ende dieses Fluges sehen wir, ob die Überlegung richtig war. Selbstverständlich«, fuhr Cliff fort, »wird sie es sein. Denn die Idee zu diesem Experiment stammt auch von mir. Ich bin einer der wenigen Menschen meines Bekanntenkreises, die sich so gut wie niemals irren.« »Ein Mann am Steuer eines Raumschiffes«, sagte Naomi leise, »ist ein Pfau, der sein Rad in der Hand hält. Sagte jüngst Ishmee zu mir.« »Darüber wollte ich gerade sprechen«, sagte Cliff und lächelte verbindlich. »Zu den ersten Pflichten eines Schiffskommandanten gehört eine Eigenschaft, die von ihm nicht zu trennen ist.« »Höflichkeit?« »Weit gefehlt!« sagte Cliff. »Nicht Höflichkeit, sondern die Tatsache, daß er alles ständig in Frage stellt.
Menschliche Bindungen ebenso wie das Funktionieren seiner Hebel. Er muß sich hundertmal vergewissern, und er hat trotzdem die Pflicht, allem zu mißtrauen.« »Bezieht sich das auf alle Lebensbereiche?« fragte Naomi mit einem unschuldig wirkenden Augenaufschlag. In Cliff ertönten Alarmsirenen. »Ausnahmslos!« bestätigte der Kommandant und zog den Kragen seines weißen Mantels zusammen. »Mißtraust du mir?« fragte Naomi. »Selbstverständlich«, sagte Cliff ruhig. »Du bist erstens eine Frau und zweitens eine Turceed. Das ist etwa so, wenn man auf einem Tiger reitet. Nicht auf einem Raguer!« »Ich werde es mir merken«, sagte sie. »Alles in Frage stellen.« »Alles«, sagte Cliff. »Nur so können wir überleben.« »Es wird nicht leicht sein«, sagte sie. »Aber jetzt verstehe ich auch, warum Raumfahrer so merkwürdige Menschen sind.« Cliff korrigierte: »Nicht merkwürdig, sondern bemerkenswert. Außerdem hast du in einer Stunde Wache. Du löst Glanskis ab.« »Verstanden. Danke für die Tips, Cliff!« Cliff streichelte ihre Wange und murmelte: »Du wirst jedes Wort, das ich dir mit auf den beschwerlichen Lebensweg gab, brauchen wie ein Fasch das Wasser.« Sie stutzte. »Fasch... was ist das?« Cliff drehte sich herum und knurrte:
»Sprechfehler. Sollte Fisch heißen!« »Wie ich mich freue, einen humorvollen Kommandanten gefunden zu haben«, sagte Naomi schnippisch. Sie ärgerte sich, weil Cliff sie nicht mit Komplimenten empfangen und mit eindeutigen Angeboten verabschiedet hatte. Sie schob gerade die Sicherheitstür hinter sich zu, als Mario de Monti in seiner Kabine einen Schalter herumlegte, der eines der Simulatorenbänder anlaufen ließ. Noch im Ringkorridor erreichte Naomi der Klang des Alarmsummers, und sie stürzte nach oben und warf sich in den Kommandantensessel. Alle Geräte zeigten die Symptome, die auftraten, wenn ein Photonensturm das Schiff berührte. Wenn Naomi während ihrer Kadettenzeit aufgepaßt hatte, konnte sie theoretisch diesen Sturm abreiten. Wenn nicht, dann war es auch nicht weiter schlimm, denn das Schiff blieb auf dem Kurs. Nur die Schiffszelle selbst wurde hin- und hergeworfen, die Energieausfälle wurden über die Komputerleitungen geschaltet, das Licht ging aus und war plötzlich wieder in voller Spannung da. Klirrend, klappernd und summend, durch Serien schwerer Stöße erschüttert, raste das Schiff dahin. Eine Stunde lang... Zuerst erschien Mario de Monti, identifizierte die Störungen als Photonensturm und half mit, das Schiff wieder in den Griff zu bekommen. Hasso meldete Totalausfall einer Maschine. Der Tanz ging weiter. Naomi 4603 hielt sich ausgezeichnet und hätte im Ernstfall – für sie war es ein Ernstfall, obwohl sie Cliffs beruhigende Nähe spürte, der neben ihr an den
Kontrollen stand und ihr hin und wieder Tips gab – das Schiff aus der Gefahrenzone herausgebracht. Schließlich war die Flugbahn wieder stabil. Naomi drehte sich um, nachdem sie das Schiff in antriebslosen Flug versetzt hatte. Das Mädchen wischte den Schweiß von ihrer Stirn, atmete hörbar ein und aus und sagte: »Ich habe das Schiff wieder in Form. Wie war ich?« »Relativ gut«, sagte Cliff. »Denke daran, was ich dir gesagt habe.« In genau dieser Sekunde lief das Band aus. Auf den letzten Metern war totaler Energieausfall programmiert. Das Licht ging aus, die Notstromanlage versagte, die künstliche Schwerkraft wurde aufgehoben und das Schiff wirbelte hilflos weiter. »Alles in Frage stellen«, sagte Cliff, fing sich an der Decke und schoß auf das Eingabeelement des Komputers zu. Er bewegte einen Hebel und führte damit den alten Zustand wieder ein. »Das Schiff wäre zerstört worden«, sagte er. »Glücklicherweise war dies nur ein Simulatorband.« Das Mädchen schluckte, wurde zuerst rot und dann weiß vor Wut, schließlich begann sie sich zu besinnen. Sie löste die Gurte, stand auf und lehnte sich sichtlich geknickt an die Lehne des Kommandantensessels. »Verdammt!« sagte sie. »War das nötig, Cliff?« »Ja«, sagte Cliff. »Übertriebenes Selbstbewußtsein verleitet zu Fehlschaltungen. Man muß richtig Angst haben, dann macht man alles richtig.« »Hast du immer Angst, Cliff?« fragte Naomi leise. »Meistens«, sagte Cliff. »Im Augenblick nicht. Wir werden nämlich in genau vier Stunden an Anakonda
Viertausend anlegen.« Naomi murmelte: »Diese letzten zwei Stunden werde ich ziemlich lange nicht vergessen. Soll ich jetzt Kaffee kochen?« Mario de Monti pfiff durch die Zähne und sagte deutlich: »Unser Turceed-Küken lernt verdammt schnell. Vergiß nicht: Kaffee mit Zucker, nicht mit Salz. Stelle auch die Aufschriften der Vorratsbehälter in Frage.« Naomi fauchte ihn an: »Mit dir trinke ich nicht einmal mehr Mineralwasser, du Saboteur!« Aber sie lächelte schon wieder, als sie mit dem Lift nach unten fuhr.
3 Auch diese Idylle war, wie die meisten, trügerisch. Während der Raguer mit verblüffender Geschwindigkeit die neue Antenne auf der Oberfläche des Mondes anmontierte, saßen Cliff und der Rest des Teams zwischen den Bäumen im hydroponischen Park. Cliff hatte keinen Grund, sich nicht außerordentlich wohlzufühlen, aber ein Rest Unbehagen verließ ihn nicht. Cliff saß Cyd gegenüber, einem Mann, der ihm auf Anhieb sympathisch war. Der Kommandant sondierte Shayons Charakter und stellte fest, daß man schwerlich einen besseren Stationschef hätte finden können. Cyd Shayon berichtete, was er und seine Leute erlebt hatten. Hin und wieder stellten Hasso oder Mario eine Frage; der junge Turceed beschäftigte sich in den Labors mit netten Technikerinnen und mit den Versuchen. Als Shaga Noni erzählte, wie sie die Annäherung des Schiffes beobachtet hatte, schaltete sich Cliff ein. »Sie sagen, Shaga, daß Sie zwei Diskusse gesehen hätten, durch einen röhrenförmigen Schacht miteinander verbunden?« »Genauso war es. Kein Zweifel!« Cliff sagte kurz: »Eigenbau! Ein solches Schiff gibt es nicht innerhalb der Raumkugel. Ich meine: eine solche Schiffsform ist nicht konstruiert worden. Sie wäre auch unpraktisch.« Cyd Shayon murmelte:
»Ich habe mit diesen Kerlen in den verrosteten Panzeranzügen einen privaten Krieg auszutragen. Nehmen Sie mich mit, Kommandant?« Cliff lachte kurz und brummte: »Ich habe nicht gesagt, daß ich die Deserteure oder Piraten zu verfolgen beabsichtige.« »Ich fürchte, Sie enttäuschen mich. Aus welchem Grund sind Sie eigentlich hier? Verstehen Sie mich recht – ich habe nicht das geringste gegen Ihre Anwesenheit. Nur – es sind vier Mädchen entführt worden.« »Mister Shayon«, sagte Cliff langsam, »eine Verfolgung auf den ersten Verdacht ist etwa so blödsinnig und so wenig vielversprechend wie Liebe auf den ersten Blick.« »Sie scheinen dem Ruf, der Ihnen durch die Galaxis voranfliegt, zu entsprechen. Sie nehmen mich nicht mit?« »Nein«, sagte Cliff hart. »Ich verfolge nicht, nehme Sie nicht mit und bin hier, um Ihre Station zu kontrollieren.« Shaga lehnte sich zurück, lachte laut auf und sagte dann verblüfft: »Und ausgezeichnete Witze machen Sie auch noch!« »Ich mache keine Witze«, sagte Cliff. »Ich bin wirklich hier, um die Station zu kontrollieren. Drei wichtige Feststellungen habe ich bereits getroffen. Ein Bericht geht in Kürze ab.« Cyd fragte, plötzlich ernst werdend: »Gibt es einen Grund für eine Überprüfung, Kommandant?« »Nein«, sagte Cliff. »Nicht den geringsten. Reine Routinesache. Außerdem muß ich mein neues Team
einüben. Wie weit ist es bis Troyanos Range?« Tassinari sagte: »Sechs Lichtjahre. Warum fragen Sie?« »Weil dies der nächste Punkt meiner Reise ist. Welchen Verdacht haben Sie?« Cyd und Shaga sagten fast gleichzeitig: »Weltraum-Piraten!« »Warum?« Sie berichteten, welche Dinge, Ausrüstungsgegenstände und Nahrungsmittel nach dem Überfall fehlten. Es waren typisch diejenigen, von denen man annehmen mußte, daß sie von Menschen gebraucht wurden, die lange Zeit im All unterwegs waren und daran einen starken Mangel hatten. Lange Zeit im All, diese Bemerkung schien Cliff wichtig zu sein. Er ließ sich berichten, was vermißt wurde, wie lange der Überfall gedauert hatte und daß die drei Einsatzschiffe bereits wieder abgeflogen waren. Natürlich hatten umfangreiche Ortungen stattgefunden, aber niemand und nichts war entdeckt worden. Während Cliff sich unterhielt, kontrollierte der junge Turceed die Forschungsprojekte, und das Kugelwesen von Caernavan't röntgte mit Hilfe seiner besonderen Fähigkeit alles übrige. Es würde an Bord ausgewertet werden. Cliff konnte sich also darauf beschränken, hier zu sitzen und Eindrücke zu sammeln. Sie waren vorzüglich, denn niemand hatte auch nur eine Kleinigkeit zu verbergen. Das gute Gewissen war auf dieser Station offensichtlich Dauergast. Sowohl die drei Terraner mit ihren Bishayr-Kenntnissen als auch die Turceed, die in der Nähe Cliffs saß und ebenfalls die Gedankenströme registrierte und untersuchte, konnten dies bestätigen.
»Wie schneiden wir ab?« fragte Tassinari unvermittelt. »Ganz ausgezeichnet«, sagte Cliff. »Wir werden ein Schild auf dem Mond anbringen: Hier stimmt alles.« Leise sagte der Stationsleiter: »Bringen Sie uns die vier Mädchen wieder zurück, Cliff?« Er meinte es sehr ernst. Echte Sorge war zu spüren und eine kalte Wut. »Ich kann nichts garantieren«, sagte Cliff stockend. »Bitte, verstehen Sie mich. Eine Suchaktion hat kaum Erfolg. Noch immer ist die Möglichkeit, sich selbst in Erdnähe zu verstecken, ungeheuer groß. Was glauben Sie, wieviel Boliden sich hier bewegen, wieviel Verstecke es auf unbewohnbaren Planeten gibt?« Shaga Noni erkundigte sich entrüstet: »Und wie will T.R.A.V. die Piraten finden?« »Induktiv«, sagte Cliff. »Wir werden zunächst alle Möglichkeiten, wo sich die Piraten verstecken könnten, aussondern. Dann gehen wir schematisch vor – das heißt, wenn sich die Gruppe nicht vorher verrät.« Er stand auf, und in dem gleichen Moment, als seine Hand die Sessellehne losließ, ertönte ein harter, schnarrender Summton durch den Park. Eine Stimme schrie: »Nachricht an alle. Notruf von Troyanos Range! Überfall, Funkkontakt mitten im Spruch abgebrochen.« Cliff atmete tief ein und aus und sagte: »Ich verstoße gegen die Regeln. Bestimmen Sie einen Stellvertreter, Cyd, und kommen Sie mit. Wir sind auf der Spur. Ausgerechnet Troyanos Range! Die Piraten fliegen vor mir her.«
Cyd deutete auf Tassinari und sagte hart: »Hör gut zu! Rühre mir das Experiment hundertneun nicht an. Du hast die Verantwortung für alles. Klar?« Dann rannte Cyd los. Cliff schaltete sein Armbandfunkgerät ein und sagte: »Hier ist Cliff. Darco, Thor und Glanskis! Sofort zum Schiff!« Drei Minuten nach der Durchsage befanden sich die Teammitglieder in den Raumanzügen und standen in der Außenschleuse des kleinen, schwarzen Mondes. Kurze Zeit später beschleunigte die ORION VIII mit voller Maschinenkraft. Hasso und Darco beobachteten die zitternden Zeiger der Instrumente, und Cliff saß selbst am Schaltpult. Das war zu wichtig, um Experimente mit jungem Kommandantennachwuchs machen zu können. Links und rechts des Kommandanten standen die Turceed und der Terraner. Die ORION raste, während der Überfall stattfand, auf die planetare Station zu. Dort befanden sich Laboratorien, die an kraftverstärkenden Maschinen arbeiteten, also an der Vervollkommung von Regelmechanismen in einem Feld von sehr geringer Schwerebeschleunigung. * Die sechs Lichtjahre beanspruchten eine Zeit von drei Stunden. Diese geringe Entfernung konnte nicht schneller übersprungen werden, das Verhältnis war bei größeren Strecken ungleich günstiger. Etwa eine Stunde lang beschleunigte das Schiff, dann riskierten
Mario und Cliff einen kurzen Hyperraumaufenthalt. In der Zwischenzeit lief ein Hypergramm an Villa und Wamsler ab, und ein zweites an Gunstone Henessey. Im Augenblick war der fällige Bericht über Anakonda 4000 nebensächlich. Cliff sagte etwas später: »Mario – wenn wir den Planeten anfliegen, nein, wenn wir uns dem System nähern, bist du in der Overkill-Steuerkammer zu finden? Klar?« Der Erste Offizier bearbeitete wild die Tasten seines Eingabelementes und sagte: »In Ordnung, Cliff.« »Kann ich Ihnen helfen?« erkundigte sich Cyd Shayon. »Ja«, sagte Cliff. »Sie können sich mit Thor anfreunden und versuchen, irgend etwas auf den Schirm zu bekommen, was nach Piraten aussieht. Aber ich fürchte, wir kommen trotzdem zu spät.« »Ich kann Fernradar ziemlich virtuos bedienen«, sagte Cyd. »Bereuen Sie es, mich mitgenommen zu haben?« »Noch nicht.« Die Mannschaft zog leichte Raumanzüge an, rüstete sich aus und legte die Helme in Griffweite nieder. Das Schiff wurde in Bereitschaft gebracht. Vielleicht sahen sie etwas, vielleicht konnten sie eingreifen. Cliff war sehr skeptisch, aber er verhielt sich abwartend. Er holte trotz der warnenden Durchsagen Hassos aus den Maschinen heraus, was sie nur gerade leisten konnten. Jeder konzentrierte sich auf seine Aufgabe, und ohne daß es in der Erregung jemand merkte, wuchsen die einzelnen exotischen Bestandteile des Multi-Intelligenzen-Teams mehr und mehr
zusammen. Besonders der Raguer bewies, daß er selbst über eine sehr lange Tradition in der Raumfahrt verfügte; er paßte sich der Situation schneller an, als sie es dachten. Die einhundertfünfzigste Minute brach an. Das Schiff verließ den Hyperraum und tauchte zwischen den Sternen auf. Dreißig Lichtminuten geradeaus leuchtete die kleine, rote Sonne des Planeten Troyanos auf. Sie wirkte wie ein Leuchtturm. Das Schiff fegte fast mit Lichtgeschwindigkeit darauf zu. Niemand sprach. Die Radarantennen drehten sich, die Vergrößerungen schalteten sich nacheinander ein, und nach einigen Minuten flüsterte Naomi 4603: »Finden Sie etwas, Cyd?« »Nichts!« sagte der Leiter von Anakonda 4000. Mit unverminderter Geschwindigkeit raste Cliff auf den Planeten los. Der Komputer warf rasselnd immer neue Zahlenreihen aus, die auf Cliffs Sekundärschirmen erschienen. Der Standort des Planeten auf seiner fast kreisrunden Bahn wurde festgestellt, die Koordinaten der Station auf der planetaren Oberfläche wurden mit den zeitlichen Verhältnissen koordiniert, und nach Minuten lag das Ergebnis vor: Die Station befand sich um diese Zeit ziemlich genau in der Nähe der Hell-Dunkel-Grenze. Noch in der Lichtzone, also war es jetzt in Troyanos Range früher Abend. Cliff sagte heiser: »Kommandant an Funkpult: Glanskis! Hast du Funkkontakt herstellen können?« »Nein. Aber dort unten spricht jemand in ein Armbandfunkgerät. Ich höre allerlei Gemurmel, kann aber nichts unterscheiden. Größte Verstärker zugeschaltet.
Wir müssen näher heran, die Gashülle absorbiert zuviel.« »Kein Wunder«, sagte Cyd. »Und ich habe eben an der Auflösungsgrenze des Fernradars ein Schiff beobachtet, das in den Hyperraum ging. Weg. Noch haben wir nichts, um im Hyperraum orten zu können.« »Leider«, sagte Cliff. Sie erreichten den Planeten, tauchten über dem nördlichen Pol ein und rasten in sechzig Kilometern Höhe entlang der Trennlinie zwischen Tag und Nacht. Minuten später setzte Cliff sämtliche Bremskräfte des mächtigen Schiffes ein, und Hasso begann zu fluchen und Beschwörungen auszustoßen; er schaltete pausenlos die Energieleitungen um. In einer gewaltigen Staubwolke, die das Schiff im Augenblick der Landung eingeholt hatte und sich mit dem gelbgrauen Rauchring am Boden vermischte, kam die ORION bei den Trümmern der riesigen Sendeantenne zum Stehen. »Kein Ziel zu sehen«, meldete sich Mario aus der Steuerkabine für die ausgefahrenen OverkillProjektoren. »Anordnung zurückgenommen«, sagte Cliff. »Thor bleibt bei Naomi im Schiff. Alle anderen mit Waffen und leichten Raumanzügen hinunter. Was ergibt der Funkkontakt?« Augenblicklich erwiderte der Raguer: »Jemand ruft Schiffe um Hilfe. Offensichtlich Raubüberfall mit erheblichen Zerstörungen.« »Verstanden.« Reihenweise legte Cliff Schalter herum und arretierte das Schiff zehn Meter über dem Boden. Die erste Gruppe bestand aus Mario de Monti, Cyd Shayon
und Cliff, als zweite Gruppe setzte der Zentrallift Hasso Sigbjörnson, Darco und den Raguer ab, der nur einen schnellen Erkundigungslauf unternehmen sollte, bevor er wieder ins Schiff zurückkehrte. Auf dem Boden des Planeten herrschte ein halbes g. Um die Station, die ein System aus flachen Kuppen und unzähligen oberirdischen Röhren und unterirdischen Stollen war, lag ein riesiger Ring aus dichtem, undurchsichtigem Rauch. Jetzt senkte sich langsam der Sandvorhang, den das Schiff hinter sich hergeschleppt hatte. Cliff sagte deutlich in sein Mikrophon, das sich in der Halsblende des Anzugs befand: »Ich rufe über Flottenwelle die Besatzung von Troyanos Range. Ich bin Kommandant McLane. Können Sie mich hören, dann antworten Sie über dieselbe Welle. Wir nähern uns dem Haupteingang, nicht schießen!« Ganz dünn kam die Antwort: »Verstanden... erwarte Sie... zerstört.« Der Rauch stammte mit einiger Sicherheit von den Räubern. Er war wirklich undurchsichtig. Cliff und seine Mannschaft bildeten eine Kette und gingen geradeaus, bis sie auf eine Markierung aus schwarzen Steinen im weißen Sand des Wüstenbodens stießen. Sie sahen genau zwei Meter weit, prallten gegen eine Mauer aus planetarem Stein und Spezialzement, tasteten sich zuerst acht Meter nach rechts und dann, als sie Spuren sahen, wieder zurück. Zwanzig Meter weiter rannten sie in eine zerborstene Außentür aus Glasmasse hinein. Dahinter, als provisorische InnenSchleusentür, befestigten gerade zwei Männer mit
blutigen Köpfen und zerrissener Kleidung eine Plastikwand mit einem Magnetverschluß. Cyd trat vor und hämmerte mit der Faust an die zerborstene Tür. Die Männer sahen auf, dann wurden die fünf Personen hineingelassen. Hier aber hatte es einen harten Kampf gegeben. Zwei Männer waren schwer verletzt, und die Station war etwas weniger verwüstet, der Raum war geringer als auf Anakonda. Cliff traf mit den maßgeblichen Leuten zusammen und ließ sich berichten. Plötzlich summte sein Funkgerät auf. »Cliff hier?« »Hier spricht Glanskis. Ich habe mit einem Schweißgerät der ORION die Bruchstücke der Antenne zusammengeschweißt, ein Kunstfaserseil genommen und ziehe jetzt den Antennenmast hoch. Eine halbe Stunde lang kann gefunkt werden.« Cyd bemerkte: »Das ist offensichtlich der Tag, an dem ich den Rest meiner Vorurteile revidieren muß. Dieser Tiger in Silbergrau ist ein Phänomen.« Mario knurrte: »Und dabei ist er noch so jung. Erst eine Million Jahre alt!« Cliff gab die Nachricht weiter, und in den nächsten fünfundzwanzig Minuten jagten durch die mächtige Antenne die Hypergramme hinaus. Cliff ließ fünf Schiffe mit ausgesuchten Mannschaften anfordern und die notwendigen Frachter mit Ersatzmaterialien. Dann, nachdem er einen Teil der Verwüstungen betrachtet hatte, sprach er lange mit dem wissenschaftlichen Leiter dieser Station.
Der Überfall hatte am späten Nachmittag stattgefunden und genau einhundert Minuten gedauert. * Vierundzwanzig Terraner und elf Turceed arbeiteten hier. Sie hatten zwanzig Maschinen zur Verfügung, mit denen sie trainierten. »Wir untersuchen hier die Belastbarkeit von Regelmechanismen. Wir haben nichts anderes als Roboter, die durch einen Fingerdruck des Piloten einen kleinen Berg abtragen können. Sie setzen einen winzigen Befehl in schwere Aktionen um. Und das Gegenteil ist noch interessanter. In großen Anlagen werden heftige Bewegungen eines Mikropiloten übertragen. Wir arbeiten dann mit unseren Robots im mikroskopischen Bereich.« Das Problem war, daß ein Befehl sicher ausgeführt werden mußte. Auf das erste Beispiel bezogen, bedeutete es folgendes: Ein Mann saß in einer riesigen Maschine, die auf Rädern, Walzen, Gleisketten oder Antigravfeldern lief und sich auf der Stelle drehen konnte. Mit dieser Maschine sollte etwas bewegt werden. Dann rührte der Pilot seine Finger und führte die Teilaufgaben durch, die für die Arbeit benötigt wurden. Gleichzeitig wurden seine Bewegungen durch ein Regelsystem übertragen und von der Maschine ausgeführt – in etwa zehntausendfacher Stärke, Geschwindigkeit und – Genauigkeit. Die Planiermaschine, die dreihundert Tonnen wog, mußte auf den Millimeter bewegt, gestoppt und genau gesteuert werden. Das war hier im
Experiment zu sehen. Und das genaue Gegenteil. Große Bewegungen wurden ins unfaßbar Kleine übertragen. Gegen fünf Uhr nachmittags waren Ben Thirnton und Claudie Bargon mit der Erdbearbeitungsmaschine unterwegs. * Ben war in dem Pilotensessel der Maschine festgeschnallt. Er konnte kaum einen Muskel bewegen, ohne nicht gleichzeitig dadurch einen Impuls auszulösen, der die Maschine bewegte. Die Maschine – ein Hunderttonner mit einer merkwürdig geformten, etwa spatenförmigen Schaufel, fuhr auf ihren acht breiten Gleisketten mit hundertfünfzig Stundenkilometern Geschwindigkeit auf den riesigen Berg aus Sand, Geröll und Felsen zu. Dann, kurz vor Erreichen des Berges, lehnte sich Ben zurück. Binnen dreißig Metern bremsten die Ketten ab, und der Koloß stand. »Ich bin immer wieder fasziniert«, sagte Claudie. »Eine Erdbewegungsmaschine, die mit der Geschwindigkeit eines Akkordarbeiters schuftet.« »Schalte die Kameras ein!« sagte Ben. Er machte die Bewegung, als hielten seine Hände einen Spaten. Relais knackten, dann fuhr die Schaufel schräg nach vorn. Es war ein offener Behälter von knapp zweiundzwanzig Kubikmetern Fassungsvermögen. Die vorderen Kanten waren mit Hochleistungs-Vibratorsägen ausgestattet. »Los!« Die Kameras schnurrten los. Ben führte die erste Bewegung aus. Er nahm seinen
imaginären Spaten, stieß ihn schräg nach vorn und fühlte den entsprechenden Widerstand. Er setzte mehr Kraft zu, dann hob er ihn an, und die Maschine bebte – die Maschinen brüllten auf. »Wir müssen zweihundert Phon noch herunterdämpfen«, sagte Claudie. »Mindestens.« Der unsichtbare Spaten hob sich, der Mann drehte sich um hundert Grad und lud den Spaten ab. »Zeit?« »Vier Sekunden.« Die Maschine hatte innerhalb von vier Sekunden die gleichen Arbeiten durchgeführt. Dabei hatte sie das Zweimillionenfache einer Spatenleistung erbracht. Mehr als zweiundzwanzig Kubikmeter Sand, Fels und Geröll waren ausgehoben, um fünfzig Meter bewegt und wieder abgeladen worden. »Die Schaltungen haben funktioniert«, sagte Claudie. Ben drehte sich herum, die Maschine folgte. Ruhig schwebte der riesige, einwärts gekrümmte Spaten über dem Loch, schräg im Berg. »Jetzt kommt der Belastungstest«, sagte er. »Schalte die Bänder ein!« »Selbstverständlich!« Jedes einzelne Instrument und fast sämtliche mechanischen Teile des Giganten waren mit Detektoren und Leitungen versehen. Jedes Teil, das ausfiel, wurde aufgezeichnet, und auch der Zeitpunkt des Ausfalls wurde genau festgehalten. Ben holte tief Luft, und dann dachte er an ein Stück widerspenstiges Erdreich und daran, daß körperliche Bewegung fit macht. Dann legte Ben los.
Er grub, ohne einen Spaten zu halten, den Berg um und transportierte ihn an einen anderen Platz. Zehn Minuten lang schuftete er, daß ihm der Schweiß ausbrach. Er wollte diesen Kasten hier ruinieren, denn nur der härteste Test unter schwierigsten Bedingungen konnte die anfälligen Stellen zutage bringen. Nach zehn Minuten fiel eine Raupenkette aus, nach elf Minuten brach eine Scharte in den »Spaten«; Ben grub verbissen weiter. Wenn ein solcher Maschinengigant mit der Geschwindigkeit eines Menschen arbeitete und dementsprechend viel größere Mengen leistete, dann war der Effekt großartig. Mitten in der Arbeit hörte Ben einen schmetternden Krach, der sogar die Auspuffgeräusche der Maschinen übertönte. Und plötzlich waren lange, weißgraue Rauchbahnen in der Luft. Claudie schrie: »Halt, Ben!« Sie drückte gleichzeitig auf vier Schalter. Die Maschine stand. Kameras und Meßbänder hielten an. Der Knall war der Unterschallkrach eines Raumschiffes gewesen, das jetzt auf die Station zuraste. Von dem Schiff hatten sich ungefähr fünfzig kleine, stabförmige Raketen gelöst, die rund um die Station einschlugen. Am Ort des Aufschlages entstand sofort eine dichte gelbgraue Rauchwolke, die in der trägen Luft nur langsam zerstreut wurde. Immer mehr Rauchfahnen erhoben sich, und das Mädchen neben Ben sagte: »Sie enthalten Metallpartikel, die Eigenschwingungen abgeben. Sämtliche Radargeräte werden gestört. Dies ist ein Überfall!« »Ja«, sagte Ben. Er war wie erstarrt.
Zwischen der Maschine und der Station entstand eine riesige Rauchwolke, die den Himmel verfinsterte und das Sonnenlicht absorbierte. Das Schiff war durch den wogenden Rauch kurz zu erkennen; es bestand aus zwei Diskussen, die durch eine Röhre miteinander verbunden waren. Ben hatte noch nie einen solchen Schiffstyp gesehen. »Wir fahren zur Station!« sagte er. Dröhnend erwachten die Maschinen. Ben lehnte sich nach vorn, und je mehr er sein Gesicht der gewölbten Scheibe näherte, desto schneller wurde der Schaufellader. Aus dem Schiff fuhr, ungesehen von Ben und Claudie, ein Lasergeschütz heraus. Dreimal flammte es auf, und die Raupenketten auf einer Seite des Maschinenriesen fielen zerschnitten und glühend aus den Führungsrädern. Dann verschwand das Schiff in den Rauchwolken. * Zwanzig Gestalten in alten Panzeranzügen verließen die ausgefahrenen Liftschleusen des Doppelschiffes und rannten feuernd auf die Station zu. Sie schienen durch den Nebel sehen zu können. Der Stationsleiter, der sich ihnen im Raumanzug aus der Hauptschleuse entgegenwarf, erhielt einen Strahlerschuß in die Schulter. Ein Techniker, der sich weiter innen in einem Korridor wehrte, wurde ebenfalls niedergeschossen. Dann verteilten sich etwa dreißig Mann über die Station. Sie gingen ebenfalls so vor wie vor drei Tagen in Anakonda. Sie bildeten drei Abteilungen. Eine davon
plünderte die Privatquartiere, die andere schleppte aus den Magazinen heraus, was getragen werden konnte, und die dritte untersuchte die Labors. Der Schaden ging in die Hunderttausende. Nahrungsmittel und alle Arten der technischen Einrichtung wurden gestohlen. Gasbomben, die in sämtlichen Gängen eingesetzt wurden, lähmten alle Terraner und Turceed, die sich nicht im Raumanzug befanden. Eine Kette bildete sich zwischen dem Schiff und dem zerschossenen Eingang der Zentralschleuse. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit wurden die geraubten Gegenstände aus der Station transportiert, auf ein großes Netz gelegt, und kurz darauf senkte sich ein Kranarm und schleuste das Netz, dessen vier Ecken zusammengelegt worden waren, in eine der Schiffshälften. Das alles sahen Ben und Claudie nur undeutlich; ihre Maschine lag auf der Seite, und bis Ben alle seine Anschlüsse abgeschaltet und die Sensoren von seinen Muskeln genommen hatte, war der Überfall vorbei. Am Boden begann sich der Rauchvorhang bereits zu lichten. Die Füße der Gestalten wurden sichtbar. Zwei Männer gingen rückwärts aus der Schleuse heraus, aus der langsam die Atemluft entwich. Unablässig feuerten die schweren Handwaffen, zogen glühende Bahnen durch den Sand und schmolzen das Gestein. Dann, gerade als Claudie und Ben sich in die leichten Raumanzüge gezwängt hatten und versuchten, die gestauchte Tür aufzustemmen, startete das Schiff. Die Luftwirbel, die der große Körper bei seinem schnellen Start hinterließ, wirbelten die Rauch-
wolken durcheinander, und ein roter Blitz im Licht der untergehenden Sonne war das letzte, das Ben und Claudie sahen. Sie liefen langsam auf die Station zu. Provisorisch dichteten sie die Schleuse ab, dann versuchten sie, einen Notruf abzugeben. Die Antenne war zerstört. Während Claudie versuchte, die beiden bewußtlosen Schwerverletzten zu versorgen, sprach Ben in ein kleines Funkgerät – ohne viel Hoffnung, gehört zu werden. Dann gingen die beiden daran, etwas Ordnung zu schaffen. * Ben Thirnton sagte zu Cliff McLane: »Wir haben zwei Schwerverletzte durch Strahlerschüsse. Aber sie werden durchkommen. Schlimmer ist, daß ein Regeltechniker fehlt.« Cyd Shayon sagte aufgebracht: »Das sind bereits fünf Entführte! Vier Mädchen und ein Mann.« Jetzt, vier Stunden nach dem Ende des Überfalls, sah es in der Station wieder einigermaßen normal aus. Die Spuren der Verwüstungen waren, so gut es ging, beseitigt worden, und die Turceed und die Terraner versuchten, aus den Vorräten das auszusondern, was noch brauchbar war. Viel brachten sie nicht zusammen. »Ich habe entsprechende Anforderungen durchgegeben«, sagte der Kommandant. »In knapp drei Tagen sind drei Ersatzschiffe da und bringen unter anderem neue Lebensmittel. Berichten Sie jetzt bitte al-
les, was Sie sehen konnten, und auch die Schlüsse, die Sie daraus ziehen konnten.« Er legte sein Armbandfunkgerät auf den Tisch und ließ eine Leitung zum Bandgerät an Glanskis Pult erstellen. Die Spulen begannen sich zu drehen. Langsam begannen Claudie und Ben zu schildern, was sie gesehen hatten. Die Aussagen von vier weiteren Stationsbewohnern schlossen sich an, und alles wurde auf Band gespeichert. »Vorbei«, sagte Cliff. »Der zweite Überfall, mehr Informationen und keine Klarheit. Ich muß gestehen, ich weiß nicht, was zu tun ist. Verfolgung um jeden Preis ist sinnlos. Uns hilft nur ein Geistesblitz weiter.« Mario sagte: »Hoffen wir, daß er einen von uns trifft. Wir brauchen nicht länger hierzubleiben... aber, wie gehen wir vor, Cliff?« »Starten wir auf alle Fälle nach Ya Kappa. Das ist die nächste Station unseres Fluges.« Er gab es schon jetzt auf, über diese Station einen Bericht schreiben zu wollen, dann aber behielt sein Pflichtbewußtsein die Oberhand, und er begann mit seiner Mannschaft einen ausgedehnten Rundgang durch die Station, auf dem er sich sämtliche Einrichtungen und die Maschinen zeigen ließ, die sich hier im harten Dauereinsatz befanden. Die Mannschaft dieser Station nannte ihre Geräte Ipsokineten; der Ausdruck würde in den nächsten Jahren interstellare Bedeutung erlangen. »Wir haben sämtliche Probleme grundsätzlich gelöst, Kommandant«, sagte Claudie, die Cliff durch die Maschinenhallen führte, »und jetzt testen wir verschiedene Maschinen kaputt, ganz einfach deswegen,
weil wir die schwachen Stellen ausmerzen müssen.« »Das ipsokinetische System ist also perfekt?« »Es wäre schön für uns, wenn es perfekt wäre. Die grundlegenden Schaltungen funktionieren tadellos, aber wir haben noch technische Probleme.« Cliff wandte hier und dort Bishayr an, um festzustellen, ob hier etwas verborgen wurde. Aber er fand auch hier nichts, dazu kam die Aufregung nach dem Überfall; das ganze Unternehmen stand unter einem Unstern. Eine Stunde später verließen die Mitglieder der ORION-Crew wieder die Station, nachdem sie ihre Eindrücke gesammelt hatten. Hasso sagte, sobald sie wieder in der ruhigen Umgebung der Steuerkanzel waren: »Wie merkwürdig – entweder ziehen wir die Piraten an, oder wir befinden uns direkt auf ihren Spuren.« Cliff antwortete nichts. Er hatte eine vage Idee und dachte darüber nach, aber er kam zu keinem Ergebnis. »Ich werde jedenfalls den Kurs nach Ya Kappa programmieren. Einverstanden, Kommandant?« fragte Mario laut und konnte seinen Blick nur schwer von Naomi losreißen. »Ja«, murmelte Cliff. Thor meldete sich auf lautlose Weise. »Cliff! Wir müssen diese Piraten vor dem nächsten Überfall fassen. Wo werden sie als nächstes zuschlagen?« Cliff dachte zurück: »Wenn ich das wüßte, wären wir bereits auf dem Flug dorthin, Thor!« Glanskis horchte die Funkimpulse zwischen den
gestarteten Schiffen der Flotte, den anderen Stationen, die hiermit gewarnt wurden, und den Einsatzschiffen ab, die nach Troyanos Range unterwegs waren. Naomi 4603 stand neben Cliff vor dem Kommandantenpult und betrachtete nachdenklich die Anlage der Station. Darco meldete sich über die Bordsprechanlage. »Kommandant?« fragte er. »Ja?« murmelte Cliff McLane. »Diese Piraten müssen einen Schlupfwinkel haben. Wenn ich die Aussagen der Betroffenen richtig interpretiere, dann ist auch das Schiff nicht mehr die zuverlässigste Konstruktion. Wir dürfen also mit einigem Recht annehmen, daß der Stützpunkt von den überfallenen Stationen nicht sonderlich weit entfernt ist. Können wir einen Punkt rechnerisch konstruieren, der von allen sieben Stationen etwa gleich weit entfernt ist?« »Wir können«, sagte Cliff. »Aber ich habe eine andere Idee. Mario und Naomi – startet bitte das Schiff und bringt es auf den schnellsten Kurs nach Ya Kappa.« Er verließ die Steuerkanzel und verfolgte auf dem kleinen Monitor in seiner Kabine den Startvorgang mit. Hasso, Mario und Naomi arbeiteten perfekt zusammen. Cliff mischte sich einen Fruchtsaft mit Alkohol, sortierte seine Unterlagen und dachte intensiv über das Problem nach. Anakonda 4000... Ya Kappa... »Die nächste Station unseres Fluges ist High Voltage II; ein Testlabor für Stromleitungsprobleme.« Er zog die Kurve nach, die sich durch das Gewimmel der Sterne spannte. Es konnte kein Zufall sein,
daß die Piraten diese beiden Stationen angegriffen und ausgeplündert hatten. Wenn Cliffs Verdacht richtig war, dann erfolgte der dritte Überfall innerhalb von zehn Tagen auf High Voltage. Ebensogut konnten die Piraten aber auch diese Station aussparen und den vierten Punkt auf der Kurve angreifen. Das wiederum würde bedeuten, daß das Versteck der Piraten entweder an einem Punkt lag, der etwa gleichweit von allen Stationen entfernt war, also vielleicht im Mittelpunkt eines Kreises, dessen Ausschnitt die Kurve war. Was hatte Cliff auf Anakonda erfahren? Geraubt wurde, was Menschen brauchen, die lange Zeit im Raum unterwegs waren. Natürlich war dies nur eine Vermutung, aber sie konnte zutreffen. Wenn die Piraten sich vielleicht in einem kleinen Mond verbargen, der parallel zu der projizierten Kurve auf einer gewaltigen, weit ausholenden Bahn durch die 900-Parsek-Raumkugel flog? Ein Irrläufer? Cliff grinste; es war eine sehr wacklige Theorie, die er hier aufstellte. Aber jener Instinkt, dem er schon so häufig vertraut hatte, sagte ihm, daß mehr daran sein konnte. Gab es einen Test, der diese These beweisen konnte? Cliff schaltete die Bordsprechanlage ein und rief Mario de Monti. »Du scheinst eine Idee gehabt zu haben«, sagte Mario. »Außerdem sind deine Brauen hochgezogen. Was also willst du?« »Versucht bitte, so schnell wie möglich nach High Voltage zu kommen. Und dann brauche ich eine Auskunft, Mario.«
»Jede, die ich geben kann!« Cliff hob die stellare Karte mit der eingezeichneten Bahnkurve des ORION-Kurses hoch und sagte: »Versuche bitte festzustellen, ob auf der Irrläuferliste ein Objekt verzeichnet ist, das annähernd sich auf diesem Kurs bewegt. Können auch Lichtjahre daneben sein. Und wenn du keine Daten in den Speichern deiner Denkmaschine hast, lasse Glanskis bei Henessey über die Zentrale Rechenanlage nachfragen. Klar?« »Du vermutest...?« fragte Mario aufgeregt. »Ich bin sehr unsicher und brauche mehr Informationen. Vorläufig Ende.« Mario sagte: »Ich melde mich wieder, wenn ich etwas gefunden habe.« Cliff arbeitete sich weiter durch die zahlreichen fragwürdigen Punkte in seinen Überlegungen. Ein Anhaltspunkt für die Theorie, die er gefunden hatte, war folgende Tatsache: Wenn ein Mond denselben Kurs flog, dann brauchten die Piraten sich nur jedesmal abzusetzen und zu verbergen. Im Innern eines Mondes konnten sie praktisch nicht aufgestöbert werden. Wenn dann der Mond kurz vor dem Ziel war, also kurz vor High Voltage in diesem Fall, startete das Schiff wieder, führte seinen Raubzug durch und entzog sich einer möglichen Verfolgung durch einen Sprung in den Hyperraum. Von dort aus kamen sie kurz vor dem derzeitigen Standort des Mondes wieder aus dem Hyperraum und verschwanden. »Also werden wir auf High Voltage landen und uns dort überfallen lassen«, sagte der Kommandant entschlossen.
4 Eine Stunde später, als das Schiff mit voller Kraft durch den Hyperraum auf den Planeten zuflog, meldete sich Mario de Monti. Cliff schaute auf. »Ergebnis positiv?« fragte er aufgeregt. »Leider negativ«, erwiderte Mario. »Beide Komplexe negativ. Auf der Irrläuferliste ist für dieses Gebiet nichts vermerkt außer einigen Boliden, in denen man bestenfalls eine Konservendose verstecken könnte. Die Zentrale Rechenanlage wies ebenfalls ein gewöhnliches Vakuum mit einigen Wasserstoffatomen aus. Wenn sich ein Objekt auf diesem Kurs befinden sollte, dann ist es seit einem halben Jahr innerhalb dieser Zone. Nicht länger. Es liegen also keinerlei Daten vor.« Cliff sagte: »Dann gebt einen Spruch an die fünf Schiffe, die ich angefordert habe. Sie sollen in dem betreffenden Gebiet Fernortungen durchführen. Vielleicht hilft es etwas!« Mario verzog das Gesicht. »Vielleicht. Viel Hoffnung habe ich nicht!« »Ich auch nicht«, sagte der Kommandant. »Aber schaden kann es auf keinen Fall. Wieviel Flugzeit ist bis High Voltage ausgerechnet worden?« Mario rief etwas zu Naomi hinüber, bekam eine Antwort und sagte: »Achtundvierzig Stunden. Wir knobeln eben einen Plan für die Wache aus. Kommst du nach oben?« »Noch nicht«, sagte Cliff. »Ich versuche, die Fehler in meinen Überlegungen zu finden und auszusondern.«
»Viel Glück dabei wünsche ich!« »Danke.« Je mehr Cliff mit diesem Modell spielte, je mehr es ihm gelang, sich in die Psyche eines Piraten zu versetzen, desto sicherer wurde er. Für ihn stand nach einigen Stunden fest: Wäre er Pirat, würde er es auf genau diese Weise machen. Dazu benötigte er allerdings einen Mond oder einen kleinen Planeten. Gab es jenen rätselhaften Irrläufer? Vielleicht. Das Leben an Bord spielte sich ein. Durch die dramatischen Umstände und die Simulatorbänder, durch die Ungewißheit darüber, welchen Aktionen sie entgegenflogen, brachte es die Versuchsmannschaft fertig, einander näherzukommen. Noch waren Unsicherheiten zu beobachten, noch klappte die Zusammenarbeit nicht so nahtlos wie bei der ORION-Crew, aber die beiden exotischen Mitglieder wuchsen mit jeder Stunde mehr in den Organismus hinein. Wachen wechselten sich mit Schlafperioden ab, es wurde gegessen, die nötigen Checks wurden vorgenommen, und knapp achtundvierzig Stunden später ging das Schiff aus dem Hyperraum hinaus. »Dreißig Lichtminuten Abstand!« sagte Thor lautlos. Glanskis schaltete seine Funkgeräte ein, und die Besatzungsmitglieder hörten mit, wie er eine mustergültige Anflugmeldung durchgab und um Landeerlaubnis bat. Der Mann in der Funkbude von High Voltage meldete sich. »Hier Malloy, Funkabteilung. Bitte geben Sie sofort Ihre Kodenummer durch.« Es sprach für Glanskis, daß er sie aus dem Ge-
dächtnis aufsagen konnte. Dann schaltete er die Bildfunkverbindung auf die Schirme und Linsen von Cliffs Kommandopult um. »Sie können mit dem Kommandanten sprechen«, meinte der Raguer, den der Mann vom Planeten High Voltage mit offensichtlicher Verblüffung anstarrte. Cliff hob die Hand. »Sie wissen vom Überfall, aber Sie sind noch nicht überfallen worden? Ist das richtig?« fragte er. »Richtig. Wir sind gerüstet, falls die Piraten angreifen sollten«, sagte Malloy. Cliff schaute auf das Bordchronometer und erwiderte: »Wir landen in fünfundzwanzig Minuten. Bitte, denken Sie darüber nach, wo wir in der Nähe das Raumschiff verstecken können.« Malloy fragte mißtrauisch: »Was haben Sie vor, Kommandant McLane?« Cliff lächelte kalt und antwortete: »Ich habe das unwiderstehliche Bedürfnis, mich von den Piraten überfallen zu lassen.« »Ich werde wahnsinnig!« sagte Malloy. »Bis bald, Kommandant!« Er schaltete ab. Auf dem Planeten, den sie anflogen, und der völlig atmosphärelos unter den grellen Strahlen einer Solähnlichen lag, fanden Experimente statt, die ungeheure Mengen an Energie verschlangen. Man beschäftigte sich hier mit der Zähmung des kryogenischen Effekts; man kühlte bestimmte Metalle und Legierungen bis auf den Nullpunkt ab und machte sie supraleitfähig, so daß sie ihren elektrischen Widerstand verloren.
Dabei ergab sich, daß bei Verwendung von tiefgekühlten Leitungen aus Niobium gewaltige Verluste an Energie aufgefangen werden konnten. Selbst die Maschinen, die zur Kühlung verwendet wurden, fraßen nur einen Bruchteil dieses Differenzbetrages. Alle diese Vorgänge zu erforschen und Verfahren auszuarbeiten, um bei einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Erfolg der Supraleiter-Technik herbeizuführen – das war die Arbeit von einhundert Technikerinnen und Technikern auf dem Planeten, der den beziehungsvollen Namen trug. Der Planet kam näher. Man hatte für den Standort des großen Labors ein Gelände ausgesucht, das ziemlich untypisch war: ein stark bergiges Stück der toten Landschaft mit Felsen, Sandflächen und riesigen, ausgetrockneten Flußbetten. Teils unterirdisch, teils in gewohnter Kuppelbauweise waren die Unterkünfte angelegt worden. Cliff dachte: »Thor! Hast du festgestellt, wo wir die Station finden?« »Ja. Genau geradeaus, also auf der beleuchteten Scheibe. Die Station müßte gerade Mittag haben und liegt auf der Äquatorlinie. Ich habe in einigen Minuten die genauen Werte.« Der silberglänzende Diskus bildete sich auf den Schirmen der Station ab. Die ORION kam näher und wurde größer, schwebte zwischen den Sternen hervor und kam fast gerade auf das riesige Landschaftsbekken zu. »Hier sind die Koordinaten«, dachte Thor. »Danke.« Ein Kartenbild wurde auf einen Monitor gespiegelt,
und Cliff verglich die Landschaft, auf die sie zuflogen, mit der Karte. Das Schiff lag auf Kurs und würde in einigen Minuten landen können. »Verteufelt bergige Landschaft!« sagte Hasso. »Wie willst du das Schiff verstecken?« fragte der junge Turceed. »Keine Ahnung«, antwortete Cliff. »Wir werden anschließend auf Suche gehen.« »Hoffentlich«, meinte Naomi skeptisch, »werden wir bei unserer Suche nicht von den Piraten überrollt.« Cliff gab widerwillig zu: »Das könnte passieren!« Das Schiff schwebte ein, ungehindert durch eine Gashülle. Unter dem Diskus erstreckte sich eine Landschaft aus Weiß, Schwarz und sämtlichen Brauntönen der Skala. Weiß waren einzelne Flächen von Sand, stark mit hellen Mineralien angereichert. Schwarz waren die Felsen, und die Brauntöne verliefen über Dünen, Flußbetten und Abhänge. Der Schatten des runden Schiffes glitt unter der ORION auf die Bauten zu, auf die Gebäude aus Plastik, Aluminium oder anderen Materialien. Dicht vor der Schleuse, einem kugelförmigen, blendend gelben Bau, blieb die ORION in der Luft stehen, zehn Meter über dem glühendheißen Boden. Der Schlagschatten bildete einen Kreis. »Hier sind wir«, sagte Mario de Monti. Die Crew ließ Thor an Bord zurück und zog die Raumanzüge an, dann verließen sie das Schiff. Als der Stationsleiter, der sie in der Schleuse erwartete, den Raguer sah, prallte er zurück. In dem Gedränge, das sich kurz darauf in der Schleuse bildete, sagte Cliff:
»Keine Fehlschlüsse! Glanskis ›Glatteis‹ ist eines unserer neuen Besatzungsmitglieder. Wir sind in Eile, Professor Alvez.« Der Chef der Station erwiderte: »Wir haben bereits alles organisiert. Kommen Sie bitte!« Sie trafen sich in der Messe der Station. Professor Alvez hatte nicht zuviel versprochen. Alle Mitarbeiter, die eingeschaltet werden konnten, waren versammelt. Cliff nahm den Helm ab, ließ sich in einen Sessel fallen und erklärte, was er vorhatte und was er in den nächsten Stunden brauchte. Die Männer von High Voltage waren nicht gerade hell begeistert, aber sie spielten mit. Sie wußten selbstverständlich, wie gefährlich dieses Spiel werden konnte. * Die ORION war auf eine raffinierte Weise versteckt worden. Man hatte den Bodenabstand verringert, war zu einer riesigen Düne geflogen und hatte die ORION fast auf dem Boden abgesetzt. Dann lief ein Gebläse an und schleuderte eine große Masse Sand auf die Oberschale des Diskus. Binnen weniger Minuten war das Schiff bis zur Unkenntlichkeit bedeckt. Es verschwand in der Landschaft, und das herunterrieselnde Material hatte ringsherum einen Wall geschaffen. Wenn die Piraten nicht gerade schärfste Ortungen und Messungen vornahmen, würden sie das Schiff auf keinen Fall entdecken können. Vorausgesetzt, sie kamen tatsächlich. »Hervorragend, bis jetzt«, sagte McLane. »Ich bin
gespannt, ob und wann der Überfall stattfindet.« Naomi sagte in leichter Panik: »Hoffentlich warten wir hier umsonst. Das ist nun wirklich kein Job, nach dem ich mich sehne.« Cliff hob abwehrend die Hände und sagte: »Wir sind noch nicht fertig. Es gibt eine Menge zu planen!« Diese Planung hatte Cliff mehr als zehn Stunden beschäftigt. Er machte sich nicht die geringsten Illusionen darüber, daß auch dieses sein Vorhaben gefährlich werden konnte. Sämtliche Mitglieder der Station wurden zusammengerufen, und dann entwickelte der Kommandant seine Vorschläge. Es war ein ziemlich breites, kompliziertes Programm, und die instabile Mannschaft schien ein zusätzlicher Unsicherheitsfaktor zu sein. Dann konnten sie nur eines tun: Warten. * »Cliff McLane an Bord der ORION, zur Zeit Planet High Voltage, an Gunstone Henessey: Wir warten hier auf Überfall der Piraten. Erbitten Fernradarortung und gegebenenfalls Verfolgung der Piraten. Vermutlich sendet Piratenschiff Dauerpeilton auf Flottenwelle aus. Weiterer Bericht folgt nach Überfall. Ende.« Cliff blieb noch einige Sekunden in der Funkkabine stehen und sagte dann leise zum Funker: »Sie kennen Ihre Aufgabe?« »Selbstverständlich, Kommandant. Wir arbeiten weiter, als sei nichts geschehen. Wir verstecken, was von Wert ist und wehren uns auf keinen Fall!«
»Richtig!« sagte Cliff. »Und niemand erwähnt die Namen der ORION oder ihrer Mannschaft.« »Verstanden.« Zwölf Stunden angestrengtes Arbeiten hatten genügt, um die Station gründlich zu verändern. Alles, was wichtig oder kostbar war, wurde systematisch versteckt und in Sicherheit gebracht. Man mauerte in aller Eile neue Wände hoch, um gewisse Bezirke des Stollensystems abzuschließen und unkenntlich zu machen. Kameras und Röntgenaufnahmegeräte wurden in der Schleuse und vor wichtigen Knotenpunkten installiert und zusätzliche Filter eingebaut, die das Gas neutralisieren konnten. Die Technikerinnen würden sich in fieberhafter Eile in eine unterirdische Station flüchten. Der telekinetisch begabte Thor erhielt eine Sonderaufgabe. Und für Glanskis entwickelten die Männer dieser Station ein Funkgerät, das mit Hilfe von Magneten am Rumpf des feindlichen Schiffes befestigt werden konnte. Alles war bereit. »Nur die Piraten fehlen«, sagte Naomi. Cliff und das Turceed-Mädchen saßen in einem kleinen Raum in der Nähe der Funkbude, der auch nicht entdeckt werden konnte. Hier liefen zwanzig Videophonleitungen zusammen, und eine Kamera mit Weitwinkelobjektiv würde alle zwanzig Schirme filmen können. Warnend und etwas müde sagte Cliff: »Ich glaube, du siehst diesem Abenteuer – falls es stattfindet – mit Vergnügen entgegen?« Naomi strich ihr schwarzes Haar nach hinten. »Und mit Ungeduld. Warum eigentlich diese passive Haltung? Aus welchem Grund sollten wir die Pi-
raten nicht angreifen, sobald sie sich auf dem Radarschirm zeigen?« Cliff schüttelte den Kopf und fragte vorwurfsvoll: »Ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, daß sie vielleicht zurückschießen könnten?« »Nein«, sagte Naomi. »Sie sind nur schwach bewaffnet.« Cliff grinste humorlos und antwortete: »Ein Mensch ist sogar mit einer Dessertgabel oder einer Glasscherbe umzubringen. Ich will keine Verletzten oder Toten. Niemand will Tote. Es kommt mir einzig und allein darauf an, mehr Informationen zu haben. Angenommen, wir schießen das Schiff aus dem Orbit. Unter Umständen verhungern die vier Mädchen aus Anakonda. Vielleicht auch der Techniker von Ya Kappa. Ich möchte die Chance haben, den Schlupfwinkel der Piraten ausfindig zu machen. Dort werden wir sie stellen.« »Angst? So, wie du alles in Frage stellst – angeblich?« fragte die Turceed. Sie versuchte, Cliffs Gedanken zu erkennen. »Ja. Etwa so. Ich halte nichts oder sehr wenig von Aktionen, die den hohen Mut der Raumfahrer beweisen sollen. Solange sich die Piraten mit einfacher Plünderung und mit bewaffneten Überfällen beschäftigen, sind sie harmlos. Ich will keinen Kleinkrieg.« Sie nickte. »Ungewöhnliche Ansichten, aber durchaus zu begreifen. Wie lange, glaubst du, müssen wir noch warten?« Cliff hatte sich diese Frage schon mehrmals selbst
gestellt und sagte: »Wenn ich den zeitlichen Abstand zwischen den Überfällen auf Anakonda und Ya Kappa mit dem wirklichen Abstand der beiden Punkte vergleiche, dann kommt eine Zeit von etwa drei Tagen heraus. Ein Tag ist schon fast vergangen, also haben wir noch maximal siebzig Stunden, allerhöchstens, bis wir mit unseren lieben Freunden rechnen dürfen.« Die Turceed stellte die Unruhe in Cliffs Gedanken fest, während Cliff versuchte, deutliche Charakterschwächen aufzuspüren. »Und bis dahin geht die Arbeit hier ›normal‹ weiter?« »So ist es«, erwiderte Cliff. »Ich darf gar nicht daran denken, wie groß mein Ärger wird, wenn die Piraten sich entschlossen hätten, High Voltage nicht zu überfallen.« Nachdem Naomi gegangen war, versuchte Cliff zu schlafen. * Cliffs Erstaunen wuchs von der ersten Meldung an immer mehr. Er hatte niemals gedacht, daß der Anführer oder Chef dieser verbrecherischen Gruppe ein Idiot wäre, aber bereits die Art, wie das Schiff den Planeten anflog, war gekonnt. Er hätte es kaum besser machen können. Nur der Energiestoß, mit dem ein Schiff aus dem Hyperraum kam, wurde angemessen. Augenblicklich gab der Funker, von Hasso unterstützt, Alarm. In der Station lief schnell und mit nur wenigen
Pannen Cliffs Programm an. Dann geschah einige Minuten lang nichts. Das Schiff flog dicht über dem Boden, sicher auf der antipodischen Seite des Planeten einfliegend, um den halben Planeten herum und erschien unvermittelt über der Station. Ein Laserschuß peitschte auf und kappte den Sendemast. Die Attrappe, nach Cliffs Angaben konstruiert, sank um. Augenblicklich liefen die Informationen über die unbeschädigte Sendeanlage, und die fünf wartenden Schiffe fingen sie auf. Sehr geschickt unterbrachen drei oder vier Bomben die Hauptkabel der Stromzuführung, die sich deutlich sichtbar von der Umformerstation bis in die Hallen, Kuppeln und Bauwerke der Laboratoriumsstation erstreckten. Das Schiff landete, fuhr die beiden Zentrallifte aus, und rund dreißig schwerbewaffnete Männer rannten auf die drei Schleusen zu. Der Hauptkeil ging gegen die große, kugelförmige Schleuse vor, die sich mühelos und ohne jede Gegenwehr öffnen ließ. Dann waren die Piraten in der Station. Kameras klickten unaufhörlich. Die dunklen Sichtscheiben der Helme bildeten für die Röntgenaufnahmegeräte keine Hindernisse. Die Gesichter der Männer wurden aufgenommen. Schüsse peitschten auf – ein sicheres Mittel, um die Besatzung in Schrecken, Panik und Angst zu versetzen. Die Männer kamen mit erhobenen Händen aus den Labors und den Konstruktionsbüros hervor und liefen direkt in die Gaswolken der explodierenden Geschosse hinein. Sie stürzten zu Boden – diese Bewußtlosigkeit war nicht gespielt.
Das gleiche Schauspiel begann wie auf den vorangegangenen zwei Stationen. Die Räume wurden systematisch geplündert. Rauhe Kommandos ertönten. Cliff drückte in gewissen Abständen auf einen breiten Knopf. Ein Ultraschallgerät lief an, die Schwingungen fanden einen Weg durch die gepanzerten Anzüge und schalteten die wichtigen Versorgungsgeräte aus. Jetzt gab es für die Piraten ein echtes Problem – sie mußten entweder ihre Aktion abbrechen oder die Helme öffnen. Einige von ihnen rannten los und schalteten die Luftumwälzanlage auf wesentlich höhere Leistung. Dann benutzten sie die überall angebrachten Lebensretter; kleine Sauerstoffflaschen mit Mundstück. Die Filme der Kameras enthielten ab jetzt richtige, gut ausgeleuchtete Steckbrief-Photos. Auch die Unterhaltungen wurden mitgeschnitten. Cliff sah auf seinen Schirmen zu, wie eine perfekte Plünderung sich scheinbar ohne jede Organisation abwickelte. Übung macht den Meister, dachte der Kommandant bitter, als er sah, wie Nahrungsmittel und Gebrauchsgüter eingesammelt und fortgeschleppt wurden. »Verdammt! Sie scheinen ein Versorgungsschiff zu erwarten – nichts zu finden!« rief einer der Piraten. »Das Schiff kann bald eintreffen! Macht schnell!« »Natürlich, Dougherty!« antwortete eine helle Stimme. Es war ohne Zweifel eine Frau. Cliff fuhr aus seinem Sitz hoch. Dougherty! Dieser unselige Name... er wuchs sich langsam zu einem Trauma aus. Noch immer war es ihm nicht gelungen, eine Biographie von Frank Hoium Dougherty aufzu-
treiben. Nein, dachte er, das war unmöglich. Ein Zufall. Die Kette bildete sich, und die Transportsäcke wurden weitergereicht. In der Zwischenzeit handelte das Kugelwesen von Caernavan't. Es war dies der erste telekinetische Einsatz seit dem Kontakt mit den Terranern. Thor handelte ebenso rasch und präzise wie seine Partner, die das Schloß des Einsiedlers aus dem Nichts hatten entstehen lassen. Thor verständigte sich mit dem Raguer, der beim ersten Alarm das geschlossene System der Station aus einer Nebenschleuse verlassen hatte. Glanskis trug das Gerät mit sich, das die Verfolgung des Piratenschiffes erst möglich machen sollte. Glanskis hielt sich zwischen den glühenden Felsen verborgen. »Glanskis!« rief Thor. »Du bist bereit?« Lautlos gab das silbergraue Raubtier zur Antwort: »Ja. Jetzt.« Das Kugelwesen griff nach dem Raguer. Es transportierte ihn mit einem Satz auf das stumpfe, blatternarbige Metall einer Schiffsoberschale. Dort befestigte Glanskis mit dem Magnetsatz das Funkgerät, schaltete es ein und verhielt sich still wie ein lebendes Denkmal. Er schrie unhörbar: »Thor! Zurück!« »Jetzt!« Das raubtierartige Wesen des Eisplaneten wurde von Thor von der Oberfläche einer Schiffshälfte gerissen, auf dem heißen, staubigen Boden abgesetzt und verschwand mit drei pantherartigen Sätzen zwischen großen Steinen. Dann hörte die Bewegung auf der
Fläche vor der Schleuse auf. Für zwei Minuten. Dann flog die Tür der Schleuse auf, und die ersten Piraten hasteten auf das Schiff zu. Ihre Anzüge funktionierten wieder, und sie bildeten eine lange Kette. Mit den schweren, gepanzerten Handschuhen rissen sie die gefüllten Bündel hoch und wuchteten sie in die Schleuse. Fieberhafte Tätigkeit, kurze, scharfe Kommandos und rennende Männer, Wachen mit schußbereiten Strahlern – alles ging in wahnsinniger Eile vor sich. Minuten später war alles vorbei. Das Schiff startete, ein paar Laserschüsse schmolzen glühende Bahnen in die Geröllhalden, und dann raste das merkwürdige GF bilde schräg durch die Atmosphäre davon. Die Station blieb nur mäßig beschädigt zurück. Die Sirene heulte durch die Gänge und Röhren des Verbindungssystems. Der Stationsleiter sagte: »Vorbei! Alles wieder in den normalen Betrieb überführen.« Da die Mannschaft vorbereitet war, dauerte es nicht lange. Die Filme wurden entwickelt, und die Tonbandaufnahmegeräte wurden geschnitten, die Bänder in die ORION überspielt. Die Röntgenaufnahmegeräte wurden geleert und die Filme entwikkelt. Einige Stunden nach dem Start, während der Funkverkehr zwischen dem Raguer, Mario und den Funkern und Astrogatoren der fünf Schiffe hin und herging, lagen die ersten Resultate vor. Die Piraten, an deren Schiff ein Peilsender pausenlos Signale abstrahlte, wurden vom Fernradar der ORION verfolgt,
aber das Gerät kam an seine Grenzen, als das Schiff hinter dem Planeten verschwand und die riesige Landmasse eine Ortung hinfällig machte. Gleichzeitig suchten die Schiffe, die Cliff angefordert hatte, den Raum ab und versuchten, das Schiff zu entdecken und festzustellen, wohin es flog. »Wir werden unsere Arbeit damit haben«, sagte Cliff und blätterte die zahlreichen Photos durch. »Kennst du einen der Männer?« fragte Naomi. »Nein«, murmelte Cliff. »Nicht einen von ihnen. Aber ich muß mich noch darauf konzentrieren.« Mario fragte: »Was willst du unternehmen, Cliff?« Cliff stützte den Kopf in die Hände und murmelte: »Ich weiß es nicht. Wir können im Moment nichts unternehmen. Wir haben die Bänder mit den Stimmen von insgesamt zwanzig verschiedenen Personen. Neunzehn Männern und einer Frau. Wir haben von fünfzehn Personen Photos, und von allen Piraten, die in der Station waren, besitzen wir etwas undeutliche Aufnahmen durch die Röntgengeräte. Ich habe das Schiff gesehen – wirklich eine tolle Konstruktion. Und wir haben sehr gute Chancen, den Fluchtweg des Piratenschiffes zu verfolgen.« Hasso Sigbjörnson meinte zweifelnd: »Hier auf High Voltage können wir kaum etwas ausrichten. Wir sollten in den Raum hinaus und die Verfolgung einleiten. Zumindest sind wir dann schneller. Das bringt mich auf die Frage: Hast du vor, die Piraten zu verfolgen?« »Selbstverständlich!« sagte Cyd Shayon mit Nachdruck. Cliff drehte den Kopf und sah den Stationsleiter von Anakonda leicht irritiert an.
»Ich bin noch nicht abgelöst worden«, sagte er mürrisch. »Cliff!« sagte der Turceed. »Wir sind die einzige Gruppe, die sowohl sehr viele Informationen besitzt als auch die Möglichkeit hat, diese Informationen zu verwerten. Hasso hat recht: Wir sollten starten und abwarten, was die fünf Schiffe feststellen können.« Darco sah Naomi an. »Was sagt unser Kapitänsnachwuchs?« fragte der Turceed. »Ich bin Hassos Meinung. Wir haben hier geholfen, so gut wir konnten. Jetzt sollten wir uns tatsächlich um die Piraten kümmern.« »Ein ganz dicker Mann mit einem buschigen, schwarzen Schnurrbart«, sagte Cliff nachdenklich. »Das ist dieser Dougherty.« Glanskis fauchte: »Der Pirat?« Schweigend musterte Cliff das Wesen vom Eisplaneten, das wie ein unruhiges Raubtier durch den Versammlungsraum von Station High Voltage strich. Die großen, dunklen Augen waren starr auf den Kommandanten geheftet. Cliff stand auf und legte die Hand auf das lederartige Fell dieses uralten, rätselhaften Wesens. »Glanskis – was würdest du an meiner Stelle tun?« fragte Cliff leise. Glanskis entblößte sein mörderisches Gebiß. »Kämpfen!« sagte er. Der Raguer war selbst ein Symbol für einen harten, schnellen Kampf. Cliff biß sich auf die Unterlippe. Er war unentschlossen, weil er im Augenblick eine organisierte Verfolgung für unsinnig hielt. Sie würde,
weil das Schiff garantiert im Hyperraum verschwunden war, ins Nichts führen. »Vor dem Kampf wäre noch eine nervenzermürbende Suche fällig«, sagte Cliff. »Ich scheue, ehrlich gesagt, den Gedanken an eine wochenlange Suche nach diesen Piraten oder ihrem Schlupfwinkel.« Das hochintelligente Wesen, das wie ein Raubtier aussah, grollte wütend: »Dann suchen wir einfach!« Cliff zuckte die Schultern und antwortete: »Du hast recht, und wir können ebenso gut an Bord diskutieren, wenn wir im All sind.« »Endlich höre ich den alten McLane!« sagte Mario zufrieden. »Wir können hier nichts mehr tun.« »Einverstanden!« antwortete Cliff. »Wir starten in einer Stunde.« Sie verabschiedeten sich von den Mädchen und Männern der Station. Es war niemand verwundet, niemand entführt und niemand getötet worden. Die Zerstörungen waren gering, und die Plünderung hatte die Station nicht sehr empfindlich getroffen. In zwei Tagen konnten die Forschungsprogramme wieder im alten Umfang aufgenommen werden. Langsam zogen sich die Mannschaftsmitglieder der ORION die Raumanzüge an und verließen die Station. Cliff schaltete in der Schleuse sein Funkgerät an und sagte zu Mario: »Ich werde versuchen, einige Sternkarten zu testen. Die Informationen, die uns die fünf Schiffe geben können, werden mir dabei vielleicht helfen können.« »Vielleicht.« Sie gingen hintereinander auf den flachen Sandhügel zu, unter dem sich die ORION verbarg. Thor hatte
die Mannschaft gesehen, schaltete einige Hebel, und das Schiff stieg höher. Die Sandmassen fielen an den Rändern herunter, in einer Höhe von zehn Metern blieb der Diskus stehen, dann fuhr der Zentrallift aus. Zwanzig Minuten später kippte der Diskus und fegte von der glühenden Oberfläche des Planeten hinaus in den Raum. Kurze Zeit später stand Cliff neben dem Raguer am Funkpult. »Glanskis – versuche, sie nacheinander anzurufen. Den Text nehmen wir auf Band auf.« »Verstanden!« Mario de Monti programmierte einen Kurs, der das Schiff in die Richtung des Kreismittelpunktes führen sollte. Die Kreislinie bildeten die durch eine Kurve verbundenen Standorte der sieben Forschungsstationen. Dabei war analog zu dieser Linie eine fiktive Ebene angelegt worden – im Gedankenmodell wirkte es wie eine Metallscheibe, an deren Rand sieben Kügelchen aufgereiht waren. Auf der ›Oberfläche‹ dieser ›Scheibe‹ raste die ORION jetzt durch den normalen, dreidimensionalen Raum. »Mario!« rief Cliff. Der Erste Ingenieur schaute auf und nahm seine Finger von den Tasten des Eingabeelementes. »Ja?« »Wir bleiben die nächsten Stunden im normalen Raum.« »Nichts anderes hatte ich beabsichtigt.« Naomi saß am Kommandantenpult und arbeitete mit Mario zusammen, und Thor versuchte mit Cyds Hilfe Fernortungen vorzunehmen. Aber bisher waren die Schirme, wie befürchtet, leer geblieben. Die einzelnen Meldungen liefen ein.
Ein Schiff hatte nichts feststellen können. Die vier anderen Schiffe, die von vier verschiedenen Stellen der Raumkugel gestartet waren und demnach auch vier voneinander stark unterschiedliche Flugbahnen beschrieben, lieferten eine Menge von Koordinaten. Cliff erhielt vier Flugbahnen, genauer: eine Flugbahn, aus vier verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Alle diese Bahnen, Striche auf einer Sternkarte darstellend, rissen an dem Punkt ab, an dem das Schiff der Piraten in den Hyperraum gegangen war. Cliff zeichnete auf, was er hörte und bedankte sich dann bei den anderen fünf Kommandanten. Er überlegte einige Sekunden lang und bat dann die Partner dieser Suche, sich in zwei Tagen an einem bestimmten Koordinatenpunkt zu treffen. Dann schaltete er ab. »Wir haben nichts gefunden«, sagte Cyd. »Ich habe eine Idee, Cliff.« Cliff grinste endlich wieder einmal und antwortete: »Ich habe mehrere Ideen. Gründen wir eine Gesellschaft zur Verwertung von Ideen?« »Gern«, gab der Stationsleiter zu. »Zumal von unseren Ideen das Leben von fünf Gefangenen abhängen kann.« Cliff sagte: »Cyd, kommen Sie bitte herunter in meine Kabine? Ich werde versuchen, unsere Ideen zu koordinieren.« In der Kabine angekommen, meinte Cyd: »Sie scheinen es ziemlich ernst zu nehmen, wie?« Cliff sah ihn schweigend an, dann nickte er. »Ja. Ich war bisher unsicher, aber langsam werde ich nervös. Das ist immer ein Zeichen dafür, daß ich mich auf einer heißen Spur befinde. Ich habe mich in
den letzten Tagen immer wieder mit dem Problem herumgeschlagen, mich in die Überlegungen eines Piraten zu versetzen.« Er nahm eine Sternkarte, ein Lineal und einen astrogatorischen Zirkel. Dann zeichnete er zwei parallele Kurven auf. Eine deckte sich mit der Kurve, welche die sieben Stationen verband, die andere verlief fünf Lichtjahre von dieser Kurve entfernt. »Nehmen wir an«, sagte Cliff, »vor einiger Zeit ist in dieses Gebiet ein kleiner Mond, ein Planetoid oder ein Planet gekommen. Er wurde bisher noch nicht registriert. Nehmen wir ferner an, er bewegt sich auf diesem Kurs.« Cyd setzte sich hin, starrte einige Zeit die Karte an und knurrte dann: »Sie wissen, daß dies die schwächste Stelle in Ihren Überlegungen ist?« »Ja«, sagte Cliff. »Klammern wir diese Kritik vorübergehend aus.« Während sie diskutierten, bewegte sich die ORION VIII fast mit der Geschwindigkeit des Lichtes auf das Zentrum dieses imaginären Kreises zu. »Gut. Entwickeln Sie Ihre Theorie.« »Wir haben keine Angaben darüber, von welcher Seite der Anflug auf Anakonda stattfand. Wir wissen, daß jedenfalls Ya Kappa aus der Richtung angegriffen wurde, in der wir dieses Versteck vermuten. Und sogar High Voltage konnte orten, daß das Schiff aus dieser Richtung kam. Es flog sogar wieder in diese Richtung zurück.« Cliff zeichnete vier Kugeln auf die zweite Kurve ein. »Nehmen wir ferner an, daß sich dieser Mond in
einer gewissen Geschwindigkeit bewegt. Sie muß natürlich sehr hoch sein, das ist klar. Dann haben wir vier Positionen, von denen mindestens drei richtig sind.« Cyd nickte schweigend und sah die Zeichnung an. »Wenn wir die Zeit von dieser Position zu dieser festlegen und durch die Stunden teilen, die zwischen dem ersten und letzten Überfall liegen, dann haben wir die Stundengeschwindigkeit des Verstecks.« »Einverstanden.« »Die Sonne der Erde rast mit einer Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern in der Sekunde um den Kern der Milchstraße. Für den Mond – oder was immer es ist – habe ich eine Geschwindigkeit von achtzig Sekundenkilometern errechnet. Das heißt, daß er auf seinem Weg die gesamte Raumkugel passiert.« »Auch hier glaube ich, daß Sie recht haben«, sagte Cyd. Cliff fragte: »Der Pirat weiß dies alles ebenso gut wie wir. Welche Chancen ergeben sich für ihn dabei?« Cyd Shayon sagte langsam: »Dieser Punkt Ihrer Überlegungen ist nicht zu widerlegen. Erstens verfügt der Pirat über einen hervorragenden Schlupfwinkel, der sich jeden Tag an einer anderen Stelle befindet, bezogen auf die übrigen Festpunkte in unserem Raumsystem. Zweitens kann er ohne viel Aufwand an Zeit, Energie und Mühe sämtliche Welten entlang dieses Weges testen, ob eine davon für ihn in Frage kommt. Er will sich nicht innerhalb der menschlichen Gesellschaft niederlassen, sondern sucht einen Planeten für
sich und seine Mannschaft. Er hat alle Chancen. Natürlich braucht er für diesen Plan eine Unmenge von Material.« Cliff kniff die Augen leicht zusammen und fragte kühl: »Haben Sie die Verlustlisten gelesen? Ich spreche hier mit einem Betroffenen!« Cyd stieß die Luft pfeifend zwischen den Zähnen aus und sagte dann verblüfft: »Er hat bisher genau das gestohlen, was ein Siedler – oder eine Siedlergemeinschaft – brauchen würde, wenn er auf einer einsamen Insel ausgesetzt wird.« »Und das«, schloß Cliff, »hat schließlich meine Zweifel besiegt. Wir brauchen nur noch den Mond zu finden.« Jetzt leuchteten auch Cyds Augen auf. Er verspürte Jagdfieber. »Was dank Ihrer gedanklichen Vorarbeit kein Problem mehr sein dürfte!« sagte Cyd. »Da irren Sie aber sehr!« prophezeite der Kommandant, und er sollte recht behalten.
5 Die folgenden Probleme waren leichter: Die Crew brauchte ›nur‹ den Standort des Verstecks auszurechnen, einen Flug durch den Hyperraum zu unternehmen und präzise Ortungen vorzunehmen, wenn sich das Schiff wieder im dreidimensionalen Raum befand. Natürlich war es sogar dem Kugelwesen klar, daß die Wahrscheinlichkeit, den Mond zu finden und vielleicht auch noch an der Stelle, an der er sich nach Cliffs Theorie befinden mußte, sehr gering war. Sie wußten nicht einmal, ob es ein Mond war. Oder ob es überhaupt einen Mond gab. Einen halben Tag brauchten sie, bis sie sich wieder im normalen Raum befanden. Naomi arbeitete fast ununterbrochen an Cliffs Pult, und niemand war bisher auf die Idee gekommen, ein zweites Simulatorband einzuspeisen. Cliff schrieb seine drei Analysen, und beim Abfassen der Situationsberichte über Anakonda 4000, Ya Kappa und High Voltage II freute er sich selbst, denn an diesen Stationen, ihrer Leitung und an den wissenschaftlichen Erfolgen gab es nichts auszusetzen. Später verschlüsselte Cliff die Texte und übergab sie dem Raguer, der sie an Gunstone Henessey abstrahlte, sobald das Schiff wieder aus dem Hyperraum aufgetaucht war. Das Summen der Schiffsmaschinen und das Vibrieren der Zelle nahmen ab, und der junge Ingenieur meldete anstelle Sigbjörnsons: »Maschinenraum an Kommandanten: Auf Normalantrieb umgeschaltet.« Cliff hob die Hand, nickte kurz in Richtung auf den
Monitor und sagte: »Danke.« Sämtliche Linsen, Kameras und Radarantennen des Schiffes richteten sich jetzt auf das Raumgebiet, in dem sie das Versteck vermuteten. Gesucht war ein kosmischer Körper von nicht genau festgelegter Größe und Masse, der sich mit achtzig Sekundenkilometern Geschwindigkeit von rechts nach links auf den Schirmen bewegen würde... falls es ihn überhaupt gab. Stille machte sich in der Kommandokanzel breit. Die beiden Turceed registrierten die aufgeregten Gedankenströme der Terraner, sogar die des Raguer. Zwar hatten die beiden exotischen Wesen ihre Aufgaben bisher glänzend gelöst, aber sie bedeuteten keine Erweiterung der Fähigkeiten einer menschlichen Crew. Abgesehen von dem sekundenlangen Einsatz auf dem letzten Planeten hätte man anstelle von Thor und Glanskis auch Terraner oder Turceed verwenden können. Cliff nahm mit Bestimmtheit an, daß sich erst bei dem Angriff auf das Versteck die eigentlichen Kräfte der beiden herausstellen würden. »Cyd?« fragte er. »Noch nichts!« kam es vom Astrogatorenpult. Sämtliche Kanäle der Funkanlage waren geöffnet, aber in den Lautsprechern und im Kopfhörer, den der Raguer trug, war nichts als das Rauschen der kosmischen Statik zu hören. Cyd Shayon schaltete, drehte an Knöpfen und fuhr nacheinander sämtliche Vergrößerungsmöglichkeiten durch. »Nichts! Verdammt!« sagte er leise und erbittert. Cliff konnte ihn sehr gut verstehen; die Sorge um das Befinden und das Leben der vier Technikerinnen
war berechtigt. In dem Kegel, den die Instrumente erfassen konnten, war jedenfalls nichts zu sehen. Mario knurrte: »Zu unsicher, Cliff!« Cliff schwenkte seinen Sessel herum und fragte: »Wie meinst du das?« De Monti zuckte die Schultern und stand auf. Er dehnte seinen Brustkorb und murmelte: »Du hast sicher richtig gerechnet. Aber der Raumbereich, der nach deiner Berechnung als möglicher Weg dieses Flugkörpers in Frage kommt, ist zu klein. Der Mond könnte näher an den Stationen vorbeirasen, er könnte sich, wenn wir bei unserem ›Scheiben‹Modell bleiben, oberhalb oder unterhalb der Scheibe befinden. Die Frage ist nur, ob wir weitersuchen sollen.« Cliff erwiderte leicht gereizt, obwohl Mario vollkommen recht hatte: »Weißt du einen besseren Weg?« Der Raguer konzentrierte sich, während das Schiff dieser röhrenförmigen Zone entgegenraste, auf die Suche nach Funkkontakten. Schließlich war es gut möglich, daß sich das Schiff länger als die ORION im Hyperraum befunden hatte. Wäre der Sender noch an der Oberfläche des anderen Schiffes, dann würde man den Impuls klar empfangen können. Einige Minuten vergingen. Der Raguer schlug mit einer Pranke auf die Lehne seines Spezialsessels und sagte dann: »Funksignale!« Er schaltete und betätigte einen Schieberegler, dann hörte es die ganze Besatzung mit. Ein kurzer, scharfer Pfeifton in regelmäßigen Abständen war zu hören.
Sehr undeutlich, verzerrt und schwach. Mario erkannte das Signal sofort: »Das ist die Sonde, die Glanskis an die Hülle des Piratenschiffes geheftet hat. Wir sind doch auf der richtigen Spur. Peile das Ding ein, Glanskis!« »Bin bereits dabei!« sagte der Raguer. Die Funkantennen spielten sich ein, bewegten sich, und auf einem Spezialschirm, der sonst nur zu radioastronomischen Untersuchungen verwendet wurde, zeichneten sich die Impulse ab. Inmitten der Schleier und der Radionester begann, fast nicht zu sehen, ein winziges Pünktchen zu flackern. Das mußte das Signal sein, und als Glanskis die Lautstärke weiter erhöhte, erkannte die Crew, daß das Aufflackern dieses Punktes synchron mit dem Pfeifton war. »Ziel erfaßt«, meldete Cyd. Zwei Sekunden später dachte Thor: »Cliff! Abstand zu dem fraglichen Objekt sechzehn Lichtminuten!« Cliff sagte laut: »Verstanden. Gib mir bitte die Richtung an.« Der Diskus wurde sofort wieder beschleunigt, änderte seine Lage und schoß in eine weite Kurve. Dann wurde aus dieser Richtungsänderung wieder eine Gerade, und die Konstellation der Sterne, die sich als Radiosender auf dem anderen Schirm abgezeichnet hatten, war jetzt wirklich auf Cliffs zentralem Bildschirm. Nur daß die Sterne nun sichtbares Licht aussendeten. »Kommandant an alle«, sagte Cliff in sein Mikrophon. »Dies ist kein Kampfanflug. Wir stellen jetzt erst fest, ob dieses Signal vom Schiff selbst kommt –
oder ob sich der Pirat eine neue Teufelei erdacht hat.« Wieder war in der Schiffszelle jener zirpende, hohe Ton zu hören, der immer dann entstand, wenn die Maschinen des Normalantriebs bis zur äußersten Grenze ihrer Leistungsfähigkeit beansprucht wurden. Die ORION war innerhalb weniger Minuten wieder fast lichtschnell, und der Doppler-Effekt veränderte die Tonhöhe und das sichtbare Licht des Funksignals. Hatten sie das Schiff entdeckt? Flog vor ihnen, jetzt nur noch drei Lichtminuten entfernt, wirklich das Doppelschiff des Piraten? »Astrogation an alle! Noch eine Lichtminute!« »Verstanden, danke«, sagte Cliff und versuchte, zwischen den Sternen auf seinem Schirm etwas zu sehen. Er flog weitere fünfzehn Sekunden mit vollem Tempo und bremste dann das Schiff hart ab. »Ziel wird sichtbar!« sagte Cyd. »Vergrößern!« Zuerst sah Cliff nichts. Dann erkannte er auf der Vergrößerung, die das Astrogatorenteam auf seinen Sichtschirm schaltete, einen Gegenstand, der etwa halbkugelig mit drei langen Auswüchsen war, an denen runde Metallflächen befestigt waren. »Verdammt!« sagte Cliff wütend. Naomi stand hinter ihm und starrte auf den Schirm. Sie war ebenso enttäuscht wie der Kommandant. »Das ist unsere Funksonde!« sagte sie. Mario verließ seinen Platz und blieb neben dem Mädchen stehen. Er benützte die Gelegenheit, um ihr den Arm um die Schultern zu legen. Naomi hatte recht behalten: Dort draußen, vierhundert Meter vom fast bewegungslosen Schiff entfernt, trieb, sich lang-
sam drehend, die Funksonde im Raum und sendete ihren Peilton. Er war jetzt völlig wertlos. Cyd sagte entschuldigend: »Wir haben den Impuls festgestellt. Die Gerade zielt auf den hellen Stern im Quadrat G Siebzehn. Von dort wurde die Sonde in den Raum gestoßen.« Thor handelte, während die Besatzung versuchte, ihre Enttäuschung hinunterzuschlucken. »Cliff!« dachte er aufgeregt. »Ja, Thor?« »Ich hole die Sonde.« Das Kugelwesen von Caernavan't konzentrierte sich auf diese Konstruktion und wurde still, dann landete der Gegenstand polternd mitten in der Kommandokanzel. Er überzog sich augenblicklich knisternd mit Rauhreif, und niemand wagte es, den Sender mit den drei schweren Dauermagneten anzurühren. Erst als Naomi einen tragbaren Heizlüfter heranbrachte, ihn auf volle Leistung stellte und Heißluft gegen die Sonde blies, entdeckten sie, daß mit einem Draht ein dicker Plastiksack, etwa handgroß, an die Sonde gebunden war. Es dauerte Minuten, bis der Gegenstand Raumtemperatur angenommen hatte. Vorsichtig öffnete Mario de Monti den Draht, schüttelte den Plastikbeutel – und eine Tonbandspule fiel heraus. Cliff murmelte: »Eine Botschaft, vermutlich. Oder ein Ultimatum!« »Oder beides, Cliff!« sagte Cyd. Mario nahm das Band, ging hinüber zum Raguer und ließ die Spule einlegen. Dann spielte das schwere Gerät der Funkanlage das Band ab. Die Lautsprecher knackten, und die Stimme des dicken Mannes mit
dem Schnurrbart, also vermutlich Doughertys Stimme, sagte: »Hier spricht Lotos Marcus Dougherty. Ich weiß, daß mein Schiff gesucht wird. Abgesehen davon, daß niemand mich finden wird, habe ich die Hoffnung, daß Terra einsieht: Das Leben von vier Technikerinnen und einem Techniker ist in Gefahr. Beim geringsten Anzeichen dafür, daß wir weiter verfolgt werden, lasse ich die fünf Menschen erschießen. Dies ist eine Warnung.« »Davor habe ich mich seit unserem Start von Anakonda gefürchtet, Cliff!« sagte Cyd Shayon. Cliff schaute in das resignierende Gesicht des Mannes. »Ja. Das ist ein Einsatz, der unerwartet schwierig werden dürfte. Fünf Menschenleben. Aber dies kann auch Bluff sein, Cyd.« Hasso sagte: »Du meinst, daß er weiß, wenn er die Menschen umbringt, wird er schonungslos von jedem Raumschiff gejagt, das T.R.A.V. in den Raum hinausbringen kann.« »Ja«, sagte Naomi. »Bringt er sie um, ist er schutzlos. Er hat keine Geiseln mehr.«. »Wie erfahren wir, was er vorhat?« fragte Mario. »Wir erfahren es sicher auf eine Art, die uns nicht besonders freut«, meinte der Kommandant hart. »Aber jetzt geht die Jagd erst richtig los. In einem Tag treffen wir mit den Schiffen zusammen.« Thor versuchte, das Problem auf seine Weise zu lösen. »Cliff! Mario! Naomi... an alle: Eure Aufgabe ist es, den Mond zu finden. Es muß ein Versteck geben. Dies ist eine zwingende Notwendigkeit, denn die
Menge der Beute hätte niemals im Schiff Platz. Findet dieses Versteck. Ich hole dann die fünf Geiseln heraus. Das ist alles.« Verblüfft drehte sich Cliff um, betrachtete die stelzenartigen Gehwerkzeuge des Kugelwesens, die Thor bemerkenswert geschickt auch als Hände benützte. Dann sagte der Kommandant leise: »Das ist ein brauchbarer Vorschlag. Der Mond wird nicht verschwinden. Ich habe einen Vorschlag: Wir machen drei Stunden Pause!« Darco 4009 sagte deutlich: »Darin sollte ein gemeinsames Essen enthalten sein.« »Ganz klar«, antwortete Cliff. Hasso und Mario sahen und spürten die Veränderung in seiner Haltung. Cliff hatte jetzt ein Ziel. Die Herausforderung war klar und deutlich gewesen, und McLane hatte sie mit allen Konsequenzen angenommen, die sich mit Sicherheit daraus ergeben würden. Er war, übertrieben ausgedrückt, ein unbarmherziger Jäger, der sein Opfer bis zur völligen Erschöpfung seiner selbst verfolgen und zur Strecke bringen würde. »Wir essen«, sagte Cliff, »ruhen uns kurz aus, und dann führen wir eine Serie von Flügen durch, die uns jedesmal an einen anderen Punkt des Raumes bringen werden. Wir legen dreißig mögliche Zielgebiete fest und losen aus, welche Reihenfolge wir einhalten werden. Hier gibt es keine systematische Suche. Bis zu der Zeit, an der wir uns mit den fünf Schiffen treffen werden, arbeiten wir ununterbrochen und so schnell wie möglich... Cyd, das gilt für Sie ebenso
wie für den Raguer und Thor.« Naomi nickte und ging auf den Lift zu. »Ich werde ein fabelhaftes Essen kombinieren!« versprach sie. »Laßt mir bitte sieben Minuten Zeit.« »Notfalls einundzwanzig«, sagte der Kommandant und lächelte. »Lotos Marcus Dougherty! Einer seiner Urahnen ist mein Trauma! Ich werde dem Piraten beweisen, daß man einem Clifford Allistair McLane kein Ultimatum stellt.« Er schwieg. Die sieben Mitglieder des Teams wußten, daß nach der Pause eine Zeit anfangen würde, in der sie sich verausgaben mußten. * Um das Schiff herum erstreckte sich der Raum mit allen seinen Sonnen, der Weltraum im dritten Entfernungskreis von der Erde. Irgendwo hier raste mit kosmischer Geschwindigkeit das Versteck des Piraten auf den Mittelpunkt der Raumkugel vor. Wenn die von Cliff errechnete zweite Kurve richtig war, würde der Mond die Erde im Sektor Eins/Ost passieren. Dreißig Zielgebiete waren errechnet worden. Die Koordinaten waren dadurch entstanden, daß Cliff und Mario, die zusammen die Berechnungen durchführten, jeweils eine andere Geschwindigkeit ausgesucht hatten und mehrmals die Bahn verändert hatten. Die Wahrscheinlichkeit war nachgerechnet worden; der Komputer sagte aus, daß eine der dreißig Raumpunkte richtig sein mußte. Man hatte ihn mit allen Daten gefüttert, die man besaß. Mario sagte:
»Ich habe den Zufallszahlengenerator zugeschaltet und die Ziele durchlaufen lassen. Als erstes ist Ziel vier ausgesucht worden. Hier sind die Koordinaten!« Auf Cliffs Monitor erschienen die Zahlenkolonnen. Cliff richtete den Kurs aus und sah, daß ein sehr kurzer Hyperraumsprung notwendig geworden war. Er bog das Mikrophon zurecht und sagte: »Kommandant an alle! Die Jagd nach Dougherty beginnt.« »Verstanden.« Die ORION flog eine enge Kurve und beschleunigte. Das Schiff flog auf einen blauen Riesen zu, der fern zwischen den anderen Sternen leuchtete. Niemand redete. Alle konzentrierten sich auf ihre Aufgaben und testeten die Geräte, mit denen sie nach dem Piraten suchen würden. Es war ihnen klargeworden, daß der Pirat die Sonde entdeckt, einen Mann im Raumanzug ausgeschleust und die Sonde in eine beliebige Richtung des Kosmos geschossen hatte. Dougherty war in der Lage, ein Raumschiff dieser Konstruktion zu steuern, und er kannte vermutlich auch fast alle Tricks, die andere Raumfahrer beherrschten. Er war dann unmittelbar nach dem Abwurf der Sonde in den Hyperraum gegangen und hatte sein Versteck aufgesucht. Das Band an Henessey war abgestrahlt worden. – Die Nachricht lag jetzt schon auf seinem Tisch. Glanskis, der Raguer, lag entspannt in seinem ungewöhnlich aussehenden Sessel, die Finger zwischen den Tatzen waren vorgestreckt. In dieser Haltung wurde es den Terranern leicht gemacht, in dem Raubtierwesen des Eisplaneten einen Humanoiden zu sehen. Das wiederum hatte zur Folge, daß alles selbstverständli-
cher wurde, sogar das gemeinsame Essen, bei dem Glanskis rohe Fleischstücke und den von Valkyrie importierten Salat aß. Mario de Monti meldete: »Autopilot übernimmt die Steuerung. Das Schiff ist im Hyperraum.« »Verstanden«, sagte Naomi 4603. Sie und Cliff saßen vor den Kontrollen der Steuerung. In den letzten Tagen hatte Naomi ihre provozierende Selbstsicherheit verloren, aber dafür war ihr Verhalten gegenüber der Mannschaft und den Systemen eines Raumschiffes im Einsatz von den Sachzwängen geprägt worden. Fast alles, was Naomi tat oder sagte, war situationsgerecht. Sie war das beste Beispiel dafür, daß eine Gruppe nur diejenigen Mitglieder formen konnte, die in diese Gruppe hinein wollten. Naomi wollte. Und was für die ORION VIII galt, würde auch für fast alle anderen Schiffe gelten. Aus der jungen Turceed wurde langsam ein echter Raumfahrer. Der Autopilot schwang den Diskus wieder in den dreidimensionalen Raum zurück. Die Konstellationen der fernen Sonnen hatten sich nur geringfügig verschoben. Cyd Shayon sagte: »Wir befinden uns jetzt in der Nähe der Stelle, an der das Versteck sein müßte, wenn die Geschwindigkeit des Körpers rund zehn Kilometer weniger groß wäre. Ich beginne mit den Arbeiten.« Das elektronische Bordbuch lief mit. »Gut. Bitte das Bild auf meinen Zentralschirm, wenn es soweit ist«, antwortete Cliff. Seine Hände lagen auf den Griffen und Hebeln der Steuerung.
Sämtliche Erfassungssysteme der ORION wurden eingeschaltet. Sie suchten in einem Kegel, dessen weiteste Ausdehnung etwa ein Lichtjahr war, den Raum ab. Jeder Gegenstand, der sich innerhalb dieses Spitzkegels bewegte, dessen Ausgangspunkt das Raumschiff war, wurde erfaßt und aufgezeichnet. Durch besondere Schaltungen ließen sich bestimmte Entfernungen gesondert betrachten, dort würden selbst winzige Körper bemerkt werden. Die Maschinen des Schiffes liefen langsamer, und als Naomi hochblickte und Hassos Gesicht auf dem Monitor sah, machte der Bordingenieur eine beruhigende Bewegung. Im Maschinenraum war alles in bester Ordnung. »Cliff!« dachte das Kugelwesen, das neben Cyd Schaltungen durchführte und mit nicht sichtbaren Augen die Schirme betrachtete. »Was gibt es, Thor?« »Wie schnell ist das Schiff?« Cliff las laut die Werte ab. »Dann versuche bitte, ganz langsam den Diskus einmal um dreihundertsechzig Grad um die Polachse zu drehen und führe dann diese Bewegung um eine Querachse durch.« »Verstehe. Habt ihr etwas gefunden?« Cyd knurrte wütend: »Ein paar Atome interstellaren Wasserstoffs, nichts anderes.« Cliff hatte verstanden, was das Kugelwesen wollte. Dadurch, daß der Kegelbereich sich erweiterte, nämlich dadurch, daß sich das Schiff drehte und mit den Suchinstrumenten einen kugelförmigen Raumbezirk absuchte, wurde die Wahrscheinlichkeit heraufge-
setzt, etwas zu finden. Langsam drehte sich der Diskus, ebenso langsam schwenkte der Spitzkegel mit. Es waren in dem interstellaren Wasserstoff nicht einmal die Spuren zu sehen, die ein Körper hinterließ, wenn er durch diese Wolke sehr geringer Konzentration hindurchraste und ein Loch riß. Eine Stunde später, während auch der Raguer den Raum nach Funksignalen absuchte, wußten sie Bescheid. »Nichts!« sagte Glanskis. »Absolut nichts.« »Fehlanzeige!« sagte Cyd. »Vielleicht haben sie die fünf Geiseln schon umgebracht!« Cliff griff in die Handsteuerung und suchte den nächsten Zielstern. Mario de Monti las laut die Koordinaten von Ziel neun ab, die der Komputer als zweite Möglichkeit herausgesucht hatte. »Danke!« sagte Cliff. »Wir starten dorthin!« Der Punkt, auf den jetzt die ORION zusteuerte, war identisch mit der Position, die der unsichtbare Mond einnehmen müßte, wenn seine Flugbahn näher an den Stationen verlaufen würde. Wieder beschleunigte das Schiff, ging in den Hyperraum und kam wieder daraus hervor. Wieder suchten die Geräte den Raum ab. Wieder lauschte Glanskis auf Funksignale oder Impulse. Nichts. Die Stimmung an Bord sank dem Nullpunkt entgegen. Bis auf die notwendigen Kommandos und Zurufe sagte niemand etwas. Dann begann sich das Schiff zu drehen, über zwei Achsen, und auch innerhalb dieser vergrößerten Zone wurde nichts festgestellt. Dieser verdammte Mond schien verschwunden zu sein – oder aber Cliff hatte umsonst gesucht.
Vielleicht waren seine Überlegungen falsch gewesen. Vielleicht... Er blieb und leitete das dritte Manöver ein. Dann das vierte und das fünfte. Immer das gleiche Ergebnis: Der Raum war leer. Das sechste, das siebente und das achte. Schließlich, nach dem zwanzigsten, war die Crew erschöpft. »Wir hören auf«, sagte Cliff. »Nur noch ein Start.« Mario de Monti fragte: »Zum Treffpunkt mit den anderen fünf Schiffen?« »Jawohl«, sagte Cliff. »Aber das bedeutet nicht, daß ich aufgebe. Ich unterbreche die Jagd nur kurz.« Wieder setzte sich das Schiff in Bewegung, und drei Stunden später bremste Naomi die ORION auf dem Kurs ab, der sie mit halber Lichtgeschwindigkeit dem Punkt im Raum zudriften ließ, an dem die anderen Schiffe sich treffen würden. Noch war keines der Diskusschiffe angekommen, aber dies mußte spätestens in den nächsten Stunden geschehen. Naomi und Darco hatten die Wache, alle anderen Mitglieder des Teams lagen in ihren Kabinen und schliefen erschöpft. * Sechs Diskusschiffe, einander ähnlich wie eine Kokosnuß der anderen, trieben langsam auf ihrem Kurs dahin. Die sechs Punkte zwischen den Sternen hatten sich einander bis auf rund fünfhundert Meter genähert. Einige Minuten nach der ersten Kontaktaufnahme versuchte Cliff, durch eine eiskalte Dusche, eine Tasse starken Kaffee und einige Kniebeugen wieder fit zu werden.
Langsam ging er auf das Kommandopult zu. Außer ihm waren nur noch Naomi und Glanskis in der Steuerkanzel. Glanskis sagte: »Sämtliche Kanäle sind offen, Cliff.« Cliff setzte sich, schaltete die Bildschirme, die Linsen und die Mikroskope an, sah kurz auf eine Liste mit Namen und Schiffsbezeichnungen und sagte dann, heiser und sich mehrmals räuspernd: »Hier McLane in ORION VIII. Ich rufe Kommandant Haven von der PLUTONIA!« Der Schirm wurde hell, und das Gesicht des Mannes wurde deutlich. Er grüßte knapp und sagte: »Sie machen einen mürrischen Eindruck, Kommandant, und ich fürchte, Sie werden nach meiner Meldung noch mürrischer aussehen.« Cliff winkte ab. »Das ist kaum mehr möglich«, sagte er. »Welches Gebiet haben Sie untersucht?« »Wir flogen folgendermaßen an...«, begann Haven. Er schilderte den Weg und die Stationen der PLUTONIA. Cliff zeichnete schraffierte Gebiete in seine Sternkarten ein und hörte zu, was Haven berichtete. Die PLUTONIA hatte einen schlauchförmigen Raumkorridor abgesucht, der ebenfalls eine mögliche Flugbahn des Mondes enthalten konnte. Einige Minuten später fragte Cliff: »Das Ergebnis Ihrer Suche war natürlich negativ?« Etwas indigniert erwiderte Haven: »Sie wurden mir als Optimist geschildert, Kommandant McLane. Leider waren unsere Ergebnisse negativ, aber ›natürlich‹ ist das für mich keineswegs.« Cliff sagte:
»Wir haben hier bis zum Umfallen gesucht und geortet und mehr als zwanzig Hyperraummanöver geflogen. Der abgesuchte Raum war leer. Außerdem gibt es in unserer Rechnung leider sehr viele unbestimmbare Faktoren.« »Jedenfalls fanden wir nichts«, sagte Haven. »Das gleiche gilt für die SATURN II.« Der andere Kommandant meldete sich, als Havens Bild vom Schirm verschwunden war. Er zuckte die Schultern und sagte: »Wir waren im folgenden Gebiet...« Cliff zeichnete auch dieses Gebiet auf, und er bemerkte voller Ärger, daß sich die Zone verbreiterte. Neben der Kurve mit den eingezeichneten Stationen erstreckte sich bereits jetzt, von insgesamt drei Schiffen durchforscht, ein großer unregelmäßiger Raum. »Auch wir fanden nichts, Kommandant!« sagte Bergyn, der Kommandant der SATURN II. »Schade«, antwortete Cliff. Er hörte weiter zu, zeichnete und vergrößerte den abgesuchten Raum. Langsam mußte er einsehen, daß seine Theorie falsch war. Oder doch nicht? Die ARES GAMMA hatte nichts gefunden. Auch die TERRA QUEEN hatte keine Ergebnisse aufzuweisen. Schließlich meldete sich der Erste Offizier der JETSTREAM. »Sie haben nichts gefunden«, stellte Cliff fest und sah auf den Schirm. »Nein. Keinen Planeten, keinen Irrläufer und keinen Mond. Wir waren in dem Gebiet um die Sonne...« Auch jetzt strichelte Cliff ein Raumgebiet aus und erkannte, daß die Schiffe, eingeschlossen die ORION,
einen sehr beträchtlichen Bezirk des Raumes erforscht hatten. Es war eine fast nahtlos zusammenhängende, sehr unregelmäßig geformte Wolke von drei Lichtjahren Durchmesser und etwa acht Lichtjahren Länge, an deren Rand sich die schon häufig erwähnte Kurve abzeichnete. »Sonst nichts?« fragte Cliff. »Nein«, sagte der Erste. »Nur einen rasenden Kometen bei der Sonne Thornton. Wir ließen ihn unbeachtet, trotz seines prächtigen Schweifes.« Cliff richtete sich langsam auf und starrte den Mann an. »Komet, wie?« fragte er leise. Er holte mehrmals tief Atem. »Ja, bei der Sonne Thornton. Seine Flugbahn war ziemlich gerade.« Cliff murmelte heiser: »Geben Sie mir sofort die Daten seiner Bahn.« »Ja, natürlich, einen Moment... aber was suchen Sie in einem Kometen, der aus Eis und Staubpartikeln besteht?« Cliff sagte mit unterdrückter Wut: »Ich bitte Sie, mir sofort die Daten der Kometenbahn zu geben. Belehrungen über die physikalische Natur von Bartsternen brauche ich nicht.« Der Erste nickte etwas verstört, und aus den Augenwinkeln sah Cliff, daß außer Naomi noch Hasso und de Monti im Raum waren. Sekunden später hatte Cliff die langen Zahlenreihen umgerechnet, nahm ein großes Kurvenlineal und zeichnete den Kurs des Kometen ein. Dann hielt er die bekritzelte Sternkarte hoch und sagte: »Hier.«
»Sagenhaft!« sagte Mario. »Das ist wirklich das Letzte.« »Wie meinen, Kollege?« fragte der Erste Offizier der JETSTREAM. »Sehen Sie diese Kurve?« fragte Cliff in geradezu unmenschlicher Ruhe. »Ja.« Die Kurve entsprach genau derjenigen, die Cliff angelegt hatte. Sie war sogar deckungsgleich. Nur war sie um ein Drittel länger als Cliffs Projektion, was nur den einen Schluß zuließ, daß der Irrläufer um ein Drittel seiner geschätzten Geschwindigkeit schneller war, nämlich einhundertsechs Kilometer in der Sekunde. Cliff sagte: »Erstens ist dieser Komet das Versteck der Piraten. Zweitens werden wir alle jetzt dorthin starten. Drittens: Wir halten an, wenn die Entfernung erreicht ist, die dem äußersten Bereich unserer Fernradargeräte entspricht. Die Entfernung beträgt zeitlich etwa zwanzig Stunden.« Und Naomi fügte hinzu: »Außerdem befindet sich der Komet in einer Position, die es den Piraten gestattet, kurz nach unserer Ankunft die Station Pionier zu überfallen. Eile tut also not!« Cliff stand auf und deutete auf den Kommandantensessel. »Naomi, du wirst das Schiff auf Kurs bringen. Bis wir dort ankommen, vergehen rund zwanzig Stunden, und bis auf eine schnell abwechselnde Wabe werden wir uns jetzt gründlich ausschlafen. Mario, den Kurs.«
»Verstanden. Es dauert einige Sekunden.« Der Chefkybernetiker begann das Eingabeelement zu bearbeiten. Augenblicke später ratterte der Schnellschreiber los, und gleichzeitig erschienen auf dem Monitor über dem zentralen Sichtschirm die Daten. Die ORION scherte aus dem losen Verband aus, wurde schneller und schob sich an den anderen Schiffen vorbei. Dann raste der Diskus los und richtete seine Kante auf einen Zielstern, der einige Lichtjahre von der irdischen Sonne entfernt war. Die Mannschaft, für die das nichts anderes als ein Routinemanöver war, ging in die Kabinen zurück und legte sich wieder hin. Naomi hatte zwei Stunden Wache; Glanskis würde sie ablösen. Die ORION wurde schneller... ... erreichte die Grenzgeschwindigkeit... ... schwang sich in den sternenlosen, dunklen Hyperraum, in dem sämtliche physikalischen Begriffe aufgehoben waren. Nacheinander folgten die fünf anderen Schiffe Die JETSTREAM war das letzte Schiff, das auf Kurs ging. Sie alle hatten nur ein Ziel: den Kometen. * Neunzehn Stunden vergingen, ehe die Mannschaft wieder in den Raum der Kommandokanzel zurückkam. Noch immer war die ORION VIII im Hyperraum. »Ich glaube, der Komet ist das Versteck«, sagte Cyd Shayon leise zu Cliff. »Und ich habe nicht vor, hier pessimistische Reden zu führen. Aber was passiert, wenn sich herausstellt, daß der Irrläufer leer ist, daß
sich die Piraten irgendwo verstecken, nur nicht hier?« Cliff hob die Schultern und murmelte: »Ich weiß es nicht, Cyd, wirklich. Wir haben dann nur noch die Möglichkeit, die Flotte einzuschalten. Jedoch wage ich zu bezweifeln, daß wir dadurch viel gewinnen.« »Das Material ist nebensächlich – aber die fünf Geiseln. Und alle offenstehenden Fragen müssen ebenfalls gelöst werden!« sagte Hasso. »Richtig. Wir bleiben außerhalb der Ortungsentfernung«, sagte Cyd. »Ich rechne damit, daß die Piraten nicht gerade die modernsten Geräte haben. Also sehen sie uns noch nicht, wenn wir sie schon längst deutlich identifizieren können.« Cliff nickte. »Die gleichen Überlegungen hatte ich auch.« Die Mannschaft saß ausgeruht auf ihren Posten. Hinter sich wußten sie fünf bewaffnete Schiffe und mehr als fünfundzwanzig Mann Verstärkung. Ob sie ihnen entscheidend helfen konnten, blieb fraglich. Vor ihnen raste der Komet davon – in der gleichen Richtung, die auch die Schiffe flogen. Alles spielte sich im Bereich hoher und höchster Geschwindigkeiten ab. Mit Sicherheit würden der Raguer und das Kugelwesen jetzt ihre Fähigkeiten beweisen müssen. Bis jetzt war alles klar: Die Probleme würden auftauchen, sobald die Sonne Thornton auf den Schirmen brannte. »Noch zehn Minuten bis zum Übergang!« sagte Cyd. »Hoffentlich hat der Überfall auf Pionier noch nicht angefangen.« Cliff sagte:
»Wir werden die JETSTREAM hinschicken. Befehl: Feuer eröffnen, sobald das Schiff auftaucht. Nur keine fragwürdigen Experimente.« Hasso sagte leise: »Eine radikale, aber gute Entscheidung. Glanskis – bitte Funkkontakt zur JETSTREAM, sobald wir im normalen Raum sind.« Elf Minuten später zeichneten sich zwei Dinge auf den Schirmen ab. Die Sonne, vierzig Lichtminuten entfernt, war deutlich sichtbar. Und vor der Sonne, analog zur Flugbahn der ORION, war im Raum ein langer, dünner Streifen erschienen. Der Komet.
6 »Ein prächtiger Anblick!« sagte H a s s o bewundernd. Die ORION, fast lichtschnell, änderte ihren Kurs. Das Schiff raste in einer engen Kurve nach links; die Richtung war auf die Ebene bezogen, in deren Mittelpunkt die Sonne stand, und auf deren Fläche sich der Komet bewegte. Dann überholte der Diskus den Kometen, glich die Geschwindigkeit an und raste wieder in dieselbe Richtung. Das Bild auf den Schirmen änderte sich ebenfalls. Jetzt sahen die Leute der ORION den Kometenschweif quer durch die Breite des zentralen Bildschirms. Etwas über diesem feinen langgezogenen Strich, der in der Nähe des runden, leuchtenden Körpers seine dickste Kontur zeigte, stand Thornton. Der Komet war ein annähernd runder Brocken von vierzig Kilometern Durchmesser. Er raste mit etwas mehr als einhundertsechs Kilometern in der Sekunde durch den kosmischen Raum, war also für einen Bartstern, der der klassischen Definition entsprach, zu schnell. Auch dieser Körper bestand aus Eis, Methan, Ammoniak und anderen gefrorenen Gasen. Dieses »Eis« war mit Staub und kleinen Meteoren gemischt und zu einer betonartigen Masse zusammengebakken. Jetzt, in der Nähe der Sonne, schmolz und verdunstete ein Teil der Gase, und der Partikeldruck trieb einen schrägen, langen Schweif von dem Körper weg. Die zweite Messung ergab, daß der Komet eine Gravitation von einem Sechstel des irdischen Wertes auf der Oberfläche hatte. Das konnte nur bedeuten, daß sich unterhalb der weißen, körnigen Schicht ein massiver Felsblock verbarg.
Die Koma, die Wolke, die den Kern des Kometen verbarg, leuchtete im Gegenlicht auf wie ein Nebel aus Diamantstaub. Aber das Gestirn war zu weit entfernt, als daß der Körper sich vergrößern konnte. Nur wenig Gas wurde expandiert, und der Komet blieb kompakt. »Die Messung hat ergeben, daß in der Eisummantelung Metallgegenstände enthalten sind!« sagte Cyd. »Das ist die Bestätigung dafür, daß wir wirklich den Schlupfwinkel gefunden haben«, sagte Darco, der eben aus dem Maschinenraum in die Kommandokanzel gekommen war. Rund dreißig Lichtminuten von der Sonne entfernt, passierte der Komet diesen Raumbezirk. Das Schiff blieb zwanzig Lichtminuten vom Meteor entfernt, also fast eine Lichtstunde von der Sonne. Beide Körper schossen mit gleicher Geschwindigkeit langsam an der Sonne vorbei, einem großen, gelben Stern. Dieses System besaß keine Planeten, und in den nächsten sechs Entfernungskreisen gab es ebenfalls kein Planetensystem, das nicht schon von Terra kolonisiert worden wäre. »Nächste Messung«, sagte Cyd. »Genau ein Sechstel der Erdschwere. Die ersten, ungenauen Messungen haben sich bestätigt.« Cliff sagte erregt: »Kann ich eine Vergrößerung bekommen? Dreht sich dieser Komet überhaupt?« »Hier ist das Bild, aber du wirst wenig Freude daran haben – man sieht nichts. Wir konnten keine sichtbare Rotation feststellen.« Auf dem Zentralschirm flackerte die Vergrößerung auf.
Der Kern des Kometen sah aus wie eine Kugel aus gefrorenem Kohlendioxyd, von der leichte Dämpfe aufstiegen. Einige zehn Meter hoch war die Hülle aus nebelartigen, geringfügig erwärmten Gasen, die dann von der Sonne und der Energie des Sonnenwindes zur Seite gedrückt wurden. Cliff erkannte undeutlich die Oberfläche, die einem grauen Gletscherhang mit verschieden großen Einschüssen fremder Gegenstände glich. Darüber die leuchtende, koronaähnliche Gashülle, die sich an ihrer Obergrenze aufzulösen begann. Den kompakten, sehr schweren Kern konnte der Kommandant nicht entdecken, auch nichts, was auf eine Öffnung hindeutete. Naomi meinte halblaut: »Eigentlich wäre nach unserer Theorie in wenigen Minuten der Start des Piraten nach Pionier fällig. Die JETSTREAM ist bereits auf Kurs gegangen; sie wird auf alle Fälle vor dem Piraten dort sein.« Cliff entschied: »Warten wir also. Bitte wieder das Originalbild, Thor!« »Cliff! Hier ist es.« Das Bild auf dem großen, runden Schirm wechselte, und Cliff sah wieder die gewohnte Landschaft des Kosmos. Für ihn hatte sie jetzt aber einen dramatischen Akzent bekommen. »Lotos Marcus Dougherty!« murmelte er zwischen den Zähnen. »Siehe, dein Ende ist nahe!« Die Gefahr für Pionier war gebannt: das T.R.A.V.Schiff würde eine Landung auf dem kleinen Planeten mit der Giftatmosphäre verhindern. Das bedeutete ferner, daß das Piratenschiff wieder umkehren würde. Die Spanne zwischen Start und Landung genügte
dem Team der ORION. Darco fragte zögernd: »Was hast du vor, Cliff?« »Den Piraten besuchen. Aber erst nach dem Start.« »Du rechnest fest damit?« fragte Hasso. »Ja. Die Konstellation ist für den dicken Mann einzigartig günstig.« Cliff sah Mario an und grinste. Mario seinerseits deutete mit ausgestrecktem Arm auf den Raguer. »Dreimann-Team?« fragte der Chefkybernetiker. »Jawohl«, sagte Cliff. »Aber da gibt es noch eine Schwierigkeit: Mario und ich besitzen Funkgeräte in den Raumanzügen. Glanskis braucht keinen Schutzanzug, also hat er auch kein Funkgerät – es wird notwendig, sich mit ihm zu verständigen. Andererseits gibt es dort auf dem Kometen keine nennenswerte Lufthülle. Was tun wir also?« »Ich habe schon daran gedacht«, erwiderte der Raguer. »Hier ist ein Funkgerät, das in einem winzigen Lautsprecher endet. Die Kapsel führe ich in meine Gehöröffnung ein, und was der Schall nicht hervorbringt, das werden die Vibrationen tun können. Klar?« »Völlig!« sagte Hasso zufrieden. Glanskis befestigte den breiten, federnden Bügel über seinem Kopf und steckte das etwa bohnengroße Endstück in seine Gehöröffnung. Dann klemmte er an der Außenseite der linken Pranke, analog zum menschlichen Unterarm, die Gasdruckwaffe fest, und die tödliche HM 4 befestigte er auf der anderen Seite seines silbergrauen Körpers. »Ich bin bereit!« sagte er leise. »Wie kommen wir hinüber zum Kometen?«
»Mit meiner Hilfe!« dachte das Kugelwesen. Cliff und Mario überlegten kurz, dann entschieden sie sich für die schweren Raumanzüge. Das Schiff wurde von Naomi gesteuert, und die Männer fuhren mit dem kleinen Lift nach unten in den Ringkorridor. Während sie sich gegenseitig in die schweren Anzüge halfen, fragte Mario: »Was hast du in Wirklichkeit vor, Cliff?« Bedächtig befestigte Cliff die Verbindungen der Handschuhe zum Anzugärmel. Er drehte den Kopf prüfend hin und her und verstellte den Durchmesser der Halsblende. Sein Gesicht war ernst und entschlossen. »Keine Ahnung!« murmelte er. Mario de Monti grinste ungläubig. »Dieses Wort hat du in den letzten Tagen ziemlich häufig gebraucht. Willst du mir etwa sagen, daß du nicht weißt, was wir auf der Oberfläche des Kometen unternehmen werden?« Cliff steckte die Waffen ein und verstaute zusätzliche Magazine in den Anzugtaschen. »Ich weiß es wirklich nicht. Wir werden erst entscheiden können, wenn wir die Verhältnisse kennen. Von hier aus ist dies unmöglich. Jedenfalls müssen wir versuchen, einen Weg in den Stützpunkt zu finden.« »Das ist leichter gesagt als getan«, sagte Mario. »Aus genau diesem Grund habe ich auch keine Ahnung, was wir dort tun werden«, schloß der Kommandant. Sie befestigten die Helme, testeten die Versorgungsaggregate durch und klappten dann die Helme in die Nacken. Langsam gingen sie wieder in die Kommandokanzel zurück.
Darco nickte, als er sie sah und erklärte: »Die Piraten haben sich nicht gerührt. Die anderen vier Schiffe fliegen den gleichen Kurs wie wir und halten sich in Bereitschaft.« »Ausgezeichnet.« Cliff stapfte zum Kommandantensessel und ließ sich hineinfallen. Aufmerksam betrachtete er das Bild des Kometen, der stark vergrößert direkt vor dem Schiff zu schweben schien. Nichts hatte sich verändert, und inzwischen lagen sämtliche Ergebnisse der Messungen vor. Auch hier gab es keine Überraschungen mehr. Cliff tröstete sich damit, daß die geringe Schwerkraft die Last der Anzüge etwas mindern würde. »Kein Start erfolgt?« fragte Mario mißtrauisch. Er stand hinter Cliff und schaute auf die Scheibe des Schirmes. Minuten vergingen langsam, nicht ein einziger Funkimpuls konnte gemessen werden, und außer den merkwürdigen Metallgegenständen im Eis hatten Thor und Cyd auch keinerlei Bewegungen oder Energieausbrüche feststellen können. »Vielleicht sind sie bereits gestartet?« fragte Darco aufgeregt. »Nein«, sagte Cyd. »Das ist ausgeschlossen. Wir hätten in diesem Fall eine Turbulenzzone in dem Gasmantel feststellen müssen.« Thor dachte in Cliffs Richtung: »Mit Waffen und Wehr wahret euch! Wahrlich! Schwertkampf steht den Schiffern des Weltraums bevor!« Cliff grinste und dachte: »Konzentriere dich, Kugel! Kannst kühn uns bringen zum Kometen!«
»Sofort?« »Nein...«, begann Cliff, aber Cyd unterbrach ihn. »Ein Schiff! Sie kommen aus dem Kometen heraus!« Jetzt sah es auch der Kommandant. Es war in der Eisfläche kein Durchbruch, kein Tor zu sehen. Aber die Kante eines Schiffes schob sich langsam durch den Nebel, dann folgte der erste Rumpf, schließlich der Verbindungsteil, und langsam driftete das zusammengesetzte Schiff in den schwarzen Raum hinaus. Es geriet in das Sonnenlicht, blitzte kurz auf und wurde dann schneller. Die Triebwerke begannen zu arbeiten, und in einer langgestreckten Kurve schoß das Doppelschiff davon, wurde kleiner, verlor sich zwischen den Sternen. Der Komet blieb zurück auf seinem einsamen Weg durch die 900Parsek-Raumkugel. Es war als sicher anzunehmen, daß nicht alle Mann der Besatzung sich im Schiff befanden. Die ORION-Crew rechnete fest damit, daß sich die fünf Geiseln innerhalb des Kometen befanden. »Mario? Bereit?« fragte Cliff. »Selbstverständlich!« sagte der Erste Offizier. »Wir brauchen aber einen Funkkanal zur ORION. Darco – übernimmst du das Funkpult anstelle Glanskis?« Der junge Turceed, der sich bisher ausschließlich mit den Schiffsmaschinen beschäftigt hatte, ging auf das Funkpult zu und setzte sich mit unbehaglicher Miene in die Spezialkonstruktion für den Raguer. »Selbstverständlich. Ich nehme an, daß soweit wie möglich Funkstille gewahrt werden soll?« Cliff schloß seinen Helm und sagte über den Außenlautsprecher:
»Selbstverständlich. Thor, wenn es zu gefährlich wird, mußt du uns auf demselben Weg wieder zurückholen, auf dem du uns in einer Minute dorthin bringen wirst. Ist das klar?« »Vollständig!« Mario, Cliff und der Raguer standen in einer kleinen Gruppe im Zentrum der Kommandokanzel zusammen. Zwischen den Terranern in den dunklen, teilweise verchromten Anzügen mit den großen Helmen und den getönten Sichtblenden nahm sich das Wesen, das wie ein mutierter Tiger aussah, mehr als exotisch aus. »Glanskis?« kam es aus dem Außenlautsprecher des Ersten Offiziers. »Ja?« »Funktioniert der Funkkontakt? Ich mache eine Sprechprobe!« Mario und Cliff schalteten ihre Außenmikrophone ein, die Außenlautsprecher ab und legten die Schaltung auf die im Helminnern untergebrachten Kommunikationsgeräte um. Sekunden später sagte Glanskis zuerst über das Kehlkopfmikrophon, dann laut: »Beide Systeme arbeiten zufriedenstellend.« Thor dachte: »Ihr wolltet hinüber zum Kometen? Jetzt gleich?« »Bitte!« sagte Cliff. Und plötzlich befand er sich in der geringen Schwerkraft des Kometen. Er stand mitten in einem dichten, aus sich heraus leuchtenden Nebel. Undeutlich sah er neben sich Mario und den Raguer. Cliff fing sich schnell und ordnete über Funk an: »Glanskis – vermutlich sind diese Metalldinger irgendwelche Sensoren. Laufe los und schalte soviel
von ihnen aus, wie du kannst. Und dann kommst du wieder zu uns zurück. Wir versuchen, zum Eingang vorzustoßen.« »Verstanden.« In weiten Sätzen, die wie Zeitlupenaufnahmen wirkten, hetzte das Wesen über die Eisfläche davon und war nach zwei Sprüngen unsichtbar geworden. Sie hofften, daß der Raguer zu ihnen zurückfand. Cliff und Mario drehten sich um neunzig Grad und arbeiteten sich über das Eis vorwärts. Mario sagte leise: »Es ist gespenstisch gewesen, Cliff. Einfach, als ob man aus einem Zimmer in ein anderes tritt. Wie ein schneller Bildwechsel in einem Videophonspiel.« »Ja«, sagte Cliff. »Wie in einem Raumfahrerstück. Zwei Männer suchen die Wohnung eines Schurken auf.« So schnell sie konnten, gingen sie über das schrundige, aufgerissene Eis. Die Krümmung des Kometen war so stark, daß sie das Gefühl hatten, sie würden sich auf einer kleinen Kugel bewegen. Ihre Bewegungen und Schritte verliefen langsamer, aber nach einigen Minuten hatten sie sich an die geringe Schwerkraft und an die veränderte Umweltsituation gewöhnt. Das hatten sie noch nicht erlebt: Um die beiden Männer herum erstreckte sich der dichte Nebel, der vom Licht der Sonne erfüllt war. Die Zone über dem Boden wirkte wie künstlicher Rauch, von starken Scheinwerfern erleuchtet. Es schien, als befänden sie sich im Innern einer Leuchtstoffröhre. Rechts von ihnen war die Helligkeit am stärksten, also mußten sie sich weiter geradeaus be-
wegen, denn an dieser Stelle, an der Seite des Kometen, die in die Richtung seiner Bewegung durch das All sah, befand sich der Ausgang. Dort war das Schiff in den Raum hinausgeschwebt. Schweigend und konzentriert arbeiteten sich Cliff und Mario weiter. Sie stolperten über Eisrillen, fielen auf scharfkantige Felstrümmer – vermutlich Reste geborstener Meteoriten. Sie übersprangen breite Spalten und rutschten auf dem glatten Material der Oberfläche dahin. »Was für einen Durchmesser hat dieses Ding?« erkundigte sich Mario. »Unwichtig. Wir müssen die Schleuse finden!« gab Cliff zurück. »Ich habe soeben das zweite System ausgeschaltet«, sagte der Raguer. »Es sind Linsen zur direkten Sicht und Anlagen zur Ortung.« »Verstanden. Weiter so!« sagte der Kommandant. Er und Mario stapften weiter. Zehn Minuten lang kletterten, rutschten und schlitterten sie geradeaus. Der Nebel lichtete sich nicht, und keinerlei Geländemerkmale waren zu sehen. Dann kamen sie an einen breiten Spalt, den vermutlich ein Meteorit geschaffen hatte, der die runde Oberfläche des Kometen getroffen hatte. Die freiwerdende Energie dieses kleinen kosmischen Geschosses hatte einen offenen Tunnel in das Eis geschmolzen, und die Seiten bildeten bizarre Muster geschmolzenen und wieder erstarrten Methans. Dieser Spalt verlief mindestens einhundert Meter und bildete unzusammenhängende Formen. Unregelmäßiger Boden, überhängende Eisflächen und Brücken mit seltsam weichen, abgerundeten Kanten. Weiter...
Dann blieben sie stehen, als hätten sie sich verständigt. Vor ihnen ragte ein Stab hervor, etwa zwanzig Zentimeter dick. Er trug eine durchsichtige Kugel aus einem Plastikmaterial, in deren Inneren sie verschiedene Linsen, eine Steuerautomatik und die Halbschale eines winzigen Radargerätes entdeckten. Cliff murmelte leise: »Zerstören! Nichts anderes...« Der lange Marsch durch das leuchtende, flackernde Medium des Gases, das zu brennen schien, hatte ihn in einen eigentümlichen Zustand versetzt; es war wie ein Rausch in Helligkeit und wogendem Nebel. Fremdartig, in ganz besonderer Weise auf die Psyche einwirkend. Langsam zogen Cliff und Mario ihre Strahlwaffen heraus, entsicherten die schlanken Projektoren und zielten sorgfältig. Dann schnitten zwei scharfe, bleistiftdicke Strahlen durch den Nebel ließen ihn entlang des Spurstrahls aufleuchten und trafen die Röhre. Lautlos fraßen sich zwei Schnitte durch den Sockel der Anlage. Das Rohr zitterte leicht, und als die Waffen abgeschaltet waren, warf Mario mit einem Fußtritt die Anlage um. Sie hüpfte in grotesken Sprüngen davon und verschwand im Nebel. Mario steckte die Waffe wieder zurück. »Wir müßten bald an der Stelle des Einganges sein«, sagte er leise. »Wir sind unmittelbar davor«, sagte Cliff. Er ging drei Schritte weiter und kauerte sich nieder. Vor ihnen, auf dem Grund eines kleinen Kraters mit steilen, an den Kanten abgeschmolzenen Rändern, zeigte sich eine Serie von Stufen, die ins Eis geschmolzen waren. Ein Geländer aus einem plastik-
verkleideten Stahlseil und dünnen Stäben führte aus drei Metern Tiefe bis zur Oberfläche hinauf. »Nicht die Schiffsschleuse«, sagte Cliff, »aber ein Einstieg.« »Oder ein Ausstieg!« Sie hielten sich aneinander fest, und Mario rutschte vorsichtig den Kraterrand hinunter, griff nach dem Seil und hangelte sich bis zur Treppe. Cliff landete mit einem weichen, federnden Sprung neben ihm. Sie sahen sich an, suchten zwischen ihren Stiefeln und entdeckten einen runden Fleck, der aussah wie ein Stahldeckel, der mit Rauhreif bedeckt war. »Hier kommen wir in die Station hinein!« sagte Cliff. »Ich suche euch! Wo seid ihr? Ich bin bei dem zerschmolzenen Stumpf der Linsenanlage!« kam die Stimme des Raguer aus den winzigen Helmlautsprechern. Cliff holte Atem und erwiderte leise: »Geradeaus weiter! Wir sind nicht mehr als fünfzehn Meter davon entfernt. Die Sonne muß rechts von dir bleiben.« Einige Sekunden später sprang mit einem elf Meter weiten Satz der Raguer neben ihnen auf das Eis, bremste mit den Krallen ab und rief einen Regen von langen Eissplittern hervor. Er schaute den Deckel an und zog dann geschickt die Strahlwaffe. »Zugefroren!« sagte er. »Wie auf dem Eisplaneten, auf dem ich erwachte!« Mario grinste Cliff durch das dunkle Glas des Helmvisiers hindurch an, und die drei Waffen, auf schwache Leistung geschaltet, richteten sich auf den Verschluß dieses Stollens. Dann fauchte Dampf auf, und das Ammoniak und
das Methan verwandelten sich in expandierendes Gas. Die Ränder des Deckels wurden sichtbar, einige Handgriffe kamen zum Vorschein, und in der Mitte der kleinen, kuppelartigen Konstruktion schälte sich ein langer Hebel aus dem Eis hervor. Als die Flammenbahnen nicht mehr auf das Eis niederbrannten, streckte sich Glanskis, faßte den Hebel an und spannte seine mächtigen Muskelstränge. Ein einziger, langer Ruck – und der Hebel drehte sich um hundertachtzig Grad. »Hinein!« sagte der Raguer. Er wuchtete den Deckel hoch, und den drei Personen zeigte sich ein Stollen von etwa vier Metern Durchmessern, mit breiten, in das Eis eingelassenen Griffbügeln versehen. Die Abdeckung, ein einfacher Deckel aus Stahlblech mit einigen Riegeln und einem Zentralverschluß, stand senkrecht hoch. Cliff sagte warnend: »Ab jetzt, Freunde, bewegen wir uns in absolut unbekanntem Gebiet. Keiner von uns hat eine Ahnung, wie es dort im Zentrum des Kometen aussieht. Eines ist uns klar geworden: Das Eis ist nicht dick, und wir werden bald auf den Fels stoßen. Wir müssen verdammt vorsichtig sein.« »Richtig!« sagte Mario. »Und wesentlich schneller, falls uns jemand entdeckt. Bis jetzt scheinen wir unbemerkt geblieben zu sein.« »Wahrscheinlich!« meinte der Raguer, der sich im fast vollkommenen Vakuum ohne jeden Schutz bewegte. Cliff fühlte plötzlich, wie in seinen Überlegungen ein Satz entstand. »Kommandant! Ich sehe durch deine Augen! Ich
weiß genau, wo ihr seid, und wenn einer von euch in eine gefährliche Situation gerät, werde ich ihn ins Schiff zurückholen.« Cliff dachte angestrengt: »Danke, Thor! Die Zeit des Schwertes ist noch nicht gekommen!« Mit einem unhörbaren Lachen dachte Thor zurück: »Wahnsinnig wird Wotan wüten! Weh dir, wahnwitziger Pirat.« Mario hatte die Botschaft mitgehört und knurrte: »Weiter!« Der Raguer bewegte sich blitzschnell, schien einen Sekundenbruchteil in der Luft zu verharren und ließ sich dann kopfüber in den Schacht fallen. Kurze Zeit später sagte er: »Nachkommen. Ungefährlich.« Cliff und Mario dachten an die geringe Schwerkraft und sprangen ihm nach. Über ihren Köpfen blieb das weißgraue Glühen zurück, und aus dem Schacht wurde eine Röhre, an deren oberen Ende die Helligkeit einen scharfen Kreis bildete. Zwanzig Meter tief fielen die Männer, und nacheinander fing sie der starke Raguer auf. Sie hatten auf dem Grund des Schachtes genügend Platz, um nebeneinander stehen zu können. Ein Scheinwerfer, an der Seite von Marios Helm angeheftet, leuchtete auf. Mario drehte sich einmal um seine eigene Achse, dann blieb er ruhig und leuchtete die Wand an. »Hier. Ein Schott.« Der Raguer legte seine Schnauze an die dunkle Stahlplatte und sagte nach einiger Zeit: »Dahinter ist bereits warme Luft. Ich kann auch die Erschütterungen spüren, die von einer kleinen An-
zahl Menschen erzeugt werden.« Cliff murmelte unsicher: »Wir müssen sehr schnell sein, wenn sich dahinter eine Schleuse und ein Gang befinden. Niemand darf Gelegenheit haben, die anderen zu warnen.« Sie zogen die Gasdruckwaffen, die Lähmungsnadeln verschossen. Der Raguer drehte an dem Handrad, die Platte schwang nach außen auf, und sie sahen sich einer dunklen Fünf-Mann-Schleuse gegenüber, in deren Innentür eine schmale, dicke Glasscheibe eingelassen war. »Hinein! Schnell!« stieß Mario de Monti hervor. In der gleichen Sekunde kam die Meldung aus dem Raumschiff: »Cyd hier. Der Pirat kommt und fliegt auf die Schleuse zu. Achtung!« »Danke. Gehört!« sagte Cliff, und hinter ihnen schloß sich die Außentür wieder. Mario verriegelte sie, und alle drei rechneten damit, daß die Aufregung während des Einschleusens des Schiffes und die noch größere Erregung, wenn sich herausstellte, daß der Überfall nicht stattgefunden hatte, ihr Eindringen erleichtern würde. »Was siehst du?« fragte Mario, während Luft in die Schleuse einströmte. »Drei Terraner. Oder Gestalten, die Terranern sehr ähnlich sehen«, antwortete der Kommandant, der durch den schmalen Schlitz in den erleuchteten Gang hineinspähte. »Kennst du sie?« »Von den Bildern aus High Voltage!« Cliff sah einen Korridor, der zwei Meter hoch und einen Meter breit war. Roh und flüchtig verlegte
Leitungen für Licht und Energie baumelten an den Wänden. Die Wände waren von einer alten Vibratorsäge aus dem massiven Granit herausgearbeitet worden, und im Licht der primitiven Leuchtkörper sah Cliff die breiten Adern von Eisenerz oder anderem Metall in den Wänden. Es war ein provisorisches, liebloses Loch im Fels. Am Ende dieses Ganges standen zwei Männer mit wilden Bärten und schäbiger Kleidung. Sie waren unbewaffnet und starrten auf einen großen, flackernden Bildschirm. Cliff sagte: »Jetzt!« Die Innentür der Schleuse schwang auf, und sofort feuerte der Kommandant zweimal. Die Nadeln betäubten die Piraten binnen Sekundenbruchteilen, und nacheinander stürmten Cliff, Mario und der Raguer in den Gang hinein. Sie rannten zehn Meter gerade aus und hatten dann die bewußtlosen Körper erreicht. Zwei Piraten waren ausgeschaltet, und der Raguer packte einen von ihnen mit der Pranke, den anderen mit den Zähnen und schleifte die Piraten in den äußersten Winkel des Ganges. Dann, als er wieder zurückpreschte, sprang er hoch und zertrümmerte zwei der Leuchtkörper. Das Ende des Ganges mit den schwarzen Seitenflächen lag in tiefster Dunkelheit. Hier herrschte künstliche Schwerkraft von rund zwei Drittel g. »Was jetzt?« Cliff deutete nach links. »Wir haben nur eine Möglichkeit. Dort hinunter!« Auf dem schwarzen Boden lagen die Metallnetze, in denen die Energie für die Anziehungskraft lief und umgewandelt wurde. Sie gestatteten hier, im Zen-
trum des felsigen Kerns, die Verhältnisse von oben und unten sehr willkürlich auszulegen. Schnell gingen die drei Teammitglieder weiter. Sie kamen in einen Treppenschacht, der die Richtung der Schwerkraft, also das, was man als ›unten‹ bezeichnete, um neunzig Grad umkehrte. Obwohl der nächste Gang von den Außenbezirken des Felsens in dessen Zentrum hineinführte, blieben die Stiefel und die Pranken auf dem Netz haften – praktisch gingen sie an der Wand eines senkrechten Schachtes nach unten. Etwa zweihundert Meter weit. Niemand sprach. Der Gang war nur mäßig beleuchtet, und deutlich war zu erkennen, daß die Piraten ihren Schlupfwinkel in großer Eile und mit unzulänglichen Mitteln ausgebaut und eingerichtet hatten. Vermutlich hatten sie jeden Leuchtkörper und jeden Meter Kabel gestohlen, ebenso wie die Bearbeitungsgeräte. Dorther, von wo Cliff, Mario und Glanskis gekommen waren, konnte ihnen nichts mehr in den Rücken fallen. Eines stand fest: Sie durften sich nicht gefangennehmen lassen. »Dort vorn ist mehr Licht!« flüsterte Mario. »Weiter!« sagte Cliff. »Und mit äußerster Vorsicht.« Der junge Bordingenieur meldete sich aus dem Raumschiff. Jetzt, nachdem mehrere Radareinrichtungen zerstört worden waren, brauchten sie die Funkstille nicht mehr einzuhalten. »Können wir helfen?« »Noch nicht!« erwiderte Cliff. »Wartet noch!« Vermutlich versammelten sich jetzt sämtliche Piraten in der Nähe der Schleuse, um von Dougherty den Grund der vorzeitigen Rückkehr zu erfahren. Bis jetzt waren die wenigen Gänge leer gewesen. Die drei
hasteten weiter und blieben stehen, als sie sich einer würfelförmigen Höhlung gegenübersahen. Hier standen viele Kisten, und sorgfältig war ein Teil der Beute hier gestapelt worden. Schwaches Licht war in den Gängen zwischen den Kisten und Tonnen, und nur an der Decke hingen einige schwere Punktstrahler von Anakonda 4000. Der Raguer sprang vorwärts, raste im Zickzack durch das Lager und kam zurück. »Leer! Niemand hier!« »Schnell weiter!« sagte Cliff. Wieder gelangten sie an eine Kammer, in der die Schwerkraft geändert wurde. Langsam entstand in den Gedanken der Männer ein Bild: Der runde Felskörper mit dem ungewöhnlich hohen spezifischen Gewicht und der hohen Dichte des Felsens war ausgehöhlt worden wie ein Molekülmodell. Waagrechte oder senkrechte Schächte und Gänge verbanden würfelförmige Kammern miteinander, ein dreidimensionales System aus Höhlungen war entstanden. Je mehr sie ins Zentrum vorstießen, desto eher würden sie auf die Behausungen stoßen. Wenn diese ebenfalls so karg eingerichtet waren wie alles bisher, dann verstand Cliff, warum der Pirat mit seinen Leuten fieberhaft nach einem Planeten suchte, auf dem er leben konnte. Jetzt liefen sie langsam einen Gang entlang, kamen an ein Stück Korridor, das sich verbreiterte und blieben kurz stehen, um sich zu orientieren. Von dem Korridor zweigten acht Türen ab. Einige waren mit Vorhängen verschlossen, andere bestanden aus zusammengelöteten Blechteilen. »Glanskis! Schnell!« Cliff und Mario verständigten sich mit einem
schnellen Blick. Dann machte Mario einen Satz nach links und polterte mit vollem Schwung durch eine der primitiven Türen in den Wohnraum hinein. Cliff warf sich nach rechts und riß den Vorhang zur Seite, die Waffen in den Fäusten. Der Raguer bewegte sich wie ein Blitz. Er spurtete los, warf sich im rechten Winkel herum und flog vorwärts, zerfetzte einen Vorhang und verschwand in dem angrenzenden Raum. Mario de Monti erwischte zwei Männer, die an einem Tisch saßen, aßen und nebenbei in Lesewürfeln lasen. Die Raumanzüge waren es, die Marios Unsicherheit beendeten; sie waren alt, verrottet und rostig. Zweimal fauchte die kleine Gasdruckwaffe auf, und die zwei Piraten brachen mit ihren provisorischen Stühlen zusammen. Mario sah sich um, behielt den Eingang im Auge und zog einen Meter der Metallgliederschnur aus der Tasche des Raumanzugs. Er rollte die Männer herum, fesselte jeweils eine Hand an den Fuß des anderen Mannes, vertauschte rechts gegen links, und zwei Minuten später zog er den Steckschlüssel aus dem Endstück der dünnen Kette. Die Glieder zogen sich zusammen, und das Knäuel von Gliedmaßen würde sich nicht mehr entwirren können. Dann schaltete Mario den Bildschirm aus, drehte sich um und verließ den Raum. »Mario!« Die Gedankenstimme der blauweißen Kugel mit den vier dünnen Gliedmaßen war plötzlich in seinen Überlegungen. Er dachte zurück: »Ja?« »Soll ich euch helfen?« »Frage Cliff, Thor!« dachte Mario konzentriert zu-
rück und rannte auf den Vorhang zu, der noch nicht zerstört war und darauf hindeutete, daß weder Glanskis noch Cliff in diesen Raum eingedrungen waren. »Cliff ist zu sehr beschäftigt. Er kann sich nicht meinem Ruf öffnen!« gab Thor in heller Aufregung zurück. Mario entschied sich schnell: »Komme zu uns, Thor!« Eine Sekunde später stand das Kugelwesen vor Mario. Der Raum, in den er hineingepoltert war, schien unbewohnt zu sein. »Leer!« Thor deutete mit einem seiner vier Beine auf den breiten Korridor, der weiter hinten wieder in einen schmalen Gang überführte. Dort entstand plötzlich eine massive, schwarze Wand, wie aus gewachsenem Fels. Auf diese Art und Weise hatten Thor und seine Rassegenossen die Burg des Einsiedlers gebaut. »Dieser Teil der Höhlen ist abgeschlossen!« sagte Mario. Der Raguer tauchte auf; er kam aus dem Raum gegenüber Mario. »Wohnanlagen! Ich habe sechs Piraten betäuben können«, sagte er. Plötzlich kam die Stimme Cliffs aus den kleinen Kopfhörern und Lautsprechern. »Mario, Glanskis – bitte hierher!« »Wohin?« »Zweiter Eingang rechts.« »Verstanden.« Glanskis und Mario gingen auf den Eingang zu, vor dem die Reste einer Blechtür mit Fetzen von Kunststofftapeten hingen. Thor konzentrierte sich auf alle drei Individuen und verkündete:
»Ich sehe mich im Schlupfwinkel um. Wenn ich eine der Geiseln sehe, transportiere ich sie zurück ins Schiff!« Cliff gab zurück: »Eine ausgezeichnete Idee, Thor!« Sie bemerkten noch, wie Thor einige Zeilen eines nordischen Kampfliedes vor sich hin dachte, dann verloren sich seine Überlegungen. Die blauweiße, geäderte Kugel verschwand. Von ›innen‹ konnte niemand diesen Teil des Systems betreten, ohne die massive Felswand zu zerschneiden, die Thor geschaffen hatte. Cliff befand sich in einem großen, zwei Meter hohen Felsraum. Eine Wand war flüchtig geglättet und mit einer uralten, beschmutzten und aufgerissenen Isoliertapete beklebt worden. Die drei anderen Wände waren von ausgespanntem Stoff in fünf Farben verhüllt. Der Boden bestand aus dickem, aufgespritztem Isolierschaum von hellgrauer Farbe. Mit dem verglichen, was die Eindringlinge bisher gesehen hatten, war dies hier ein kostbar ausgestattetes Gemach. Das Fürstenzimmer dieser Wohnabteilung. An Möbeln waren vorhanden: Eine große Platte aus Kunstschaum, mit zwei Decken verkleidet. Zwei lakkierte Fässer als Stühle. Ein Tisch, der aus einem Felsblock bestand und wie der Sockel eines Denkmals wirkte. Zwei Videophonschirme, von dem einer durch Cliffs Schuß zersplittert war, der andere zeigte das Bild eines Raumes, der offenbar neben der Schleuse lag. Auf der primitiven Liege saß eine Frau. Mario murmelte: »Kaum ist dieser McLane irgendwo eingedrungen,
verirrt er sich schon in die Gewölbe der Damen. Erstaunlich! Wo bleibt deine Kampfmoral?« Cliff deutete auf die Handfesseln, die um die Gelenke der Frau lagen und sagte trocken: »Die Kampfmoral ist gewahrt. Diese Dame war bei dem Überfall auf High Voltage dabei. Ich kenne ihr Gesicht, und ich habe ihre Stimme nicht vergessen. Sie ist die Gefährtin von Dougherty.« »Und Sie sind ein Phantast!« sagte die Frau. Sie war etwa fünfunddreißig Jahre alt, sah aber trotzdem ganz passabel aus, nahm man die Umstände in Kauf, unter denen sie hier leben mußte. »Unter anderem, gnädige Frau«, sagte Cliff. »Meinen Namen kennen Sie, darf ich um Ihren bitten?« »Er geht Sie nichts an!« sagte die Frau und schloß die Augen. Cliff McLane entriegelte die Sicherung seines Helmes, klappte ihn nach hinten und sah die Frau lange und schweigend an. Glanskis und Mario beschäftigten sich damit, hinter die Stoffverkleidungen der Wände zu sehen und nach verborgenen Ausgängen zu suchen. Sie fanden nichts. Dann blieb Mario vor dem Schirm stehen und konzentrierte sich auf das Geschehen, das die undeutlichen Bilder zeigten; die technische Einrichtung war alt, störanfällig und arbeitete schlecht und mit einem geringen Wirkungsgrad. »Gnädige Frau«, sagte Cliff verbindlich, »es gibt nur wenige Frauen, die nicht versuchen würden, eine bessere Vergangenheit zu bekommen. Ihr Herzallerliebster, der Pirat, hat ausgespielt. Er weiß es nur noch nicht. Sie können, falls Sie sich etwas entgegenkommend zeigen, eine Menge Unheil verhüten. Der
Komet ist umstellt.« Die Frau erwiderte: »Doug hat noch nie verloren. Er wird Sie mit Hilfe der Geiseln vernichten. Und wir werden unseren Planeten finden.« Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie plötzlich an Cliff vorbeischaute. Der Kommandant drehte sich leicht herum, und neben ihm stand ein junges Mädchen, dessen Kleidung schmutzig war. Das Mädchen war zutiefst verwirrt, und ihr Gesicht zeigte dies auch. »Ich...«, begann sie. Cliff sagte leise: »Sie werden auf dem gleichen Weg in die ORION VIII transportiert werden. Dort wartet Cyd Shayon auf Sie. Einen schönen Gruß von mir!« Das Mädchen konnte gerade noch nicken und Cliff einen verstörten Blick zuwerfen, dann verschwand sie. Thor hatte sie auf telekinetischem Weg ins Schiff gebracht. Der Kommandant steckte die HM 4 ein und sagte: »Das war die erste Geisel, möglicherweise auch die letzte. Wir werden Dougherty systematisch entwaffnen. Wir schrecken nur davor zurück, den Stützpunkt mit Overkill-Projektoren zu sprengen.« Die Frau mit dem schwarzen, langen Haar und den grünen Augen sah ihn entsetzt an. Sie war sprachlos. Sie hätte den Kopf nicht verloren, wenn um den Kometen ein wilder Kampf entbrannt wäre, aber diese schnellen, lautlosen und schwer zu begreifenden Vorgänge nahmen ihr die Beherrschung und machten sie ratlos.
7 Das Bild auf dem flackernden Videophonschirm, den Mario de Monti grimmig anstarrte, zeigte einen Raum unmittelbar vor der Schleuse. Vor etwa zehn Minuten war das Doppelschiff des Piraten eingeschleust worden, und jetzt hatte sich dieser würfelförmige Raum, der zwei Ausgänge besaß, beziehungsweise an zwei Gänge angeschlossen war, mit etwa fünfzig Personen gefüllt. Sie bildeten einen Kreis. In der Mitte dieses Kreises standen der dicke Mann mit dem Schnurrbart und ein anderer, schlanker Mann, der vermutlich der Erste Offizier war. Mario streckte die Hand aus und drehte am Lautstärkeregler. »... versteht ihr! Wir kamen erst gar nicht an den Planeten heran. Wir sahen das andere Schiff, sie sahen uns und funkten uns an, und dann fing die Jagd an. Sie haben mindestens dreimal nach uns geschossen!« »Mit Lasern und mit Overkill!« »... und da war natürlich an einen Überfall nicht zu denken. Wir hatten keine Geisel an Bord.« »Wir haben abgedreht und sind geflohen. Hierher.« »... nachgeflogen?« »Nein. Sie verfolgten uns etwas unlustig, und bevor wir in den Hyperraum gingen, konnten wir sehen, wie sie abdrehten und wieder zum Planeten zurückflogen. Die Sache ging ganz einfach schief.« »Und die nächste Station?« »Vermutlich unmöglich. Wir müssen uns darauf vorbereiten...«
»... eine sehr lange Zeit im Kometen zu bleiben und die Planeten, an denen wir vorbeirasen, testen. Aber, je mehr wir in Erdnähe kommen, desto schlimmer wird es!« »... alles besiedelt.« Mario drehte den Knopf wieder zurück und überlegte sich gerate, wo erstens der Raguer steckte und ob er zweitens Thor rufen sollte, als das Kugelwesen bereits erschien und zwischen Cliff und der Frau stehenblieb. »Thor?« dachte Cliff. »Ich habe herausgefunden, wie die Station angelegt ist. Es sind jeweils drei Reihen zu je drei Kammern. Sie bilden, untereinander durch Gänge verbunden, ein Stockwerk. Von diesen Stockwerken gibt es drei. Also siebenundzwanzig Kammern. Teilweise Lagerräume, teilweise Wohnbezirke.« »Wieviel Insassen?« fragte Mario laut. Unhörbar gab Thor zurück: »Etwa siebzig. Die fünf Geiseln sind in der ORION!« Cliff atmete schwer ein und aus. Diese Möglichkeit war Dougherty genommen. Jetzt hatten sie nur noch etwa fünfundfünfzig Gegner. »Ausgezeichnet!« sagte er. »Ich danke dir, Thor!« »Schimmerndes Schwert, donnernde Düsen und männlicher Mut! Wir kämpfen mit Kopf!« »Recht so!« sagte der Raguer. »Weiter mit der Innenarchitektur!« Thor schilderte weiter: »Die mittlere Achse des mittleren Stockwerkes verlängert sich bis in die Kammer, die dort zu sehen ist. Dort stehen die Piraten und beklagen ihren Zu-
stand. Der Gang setzt sich fort und endet in einer Personenschleuse, hinter der das Schiff steht. Das Schiff ist durch ein System von aufblasbaren Plastikwürfeln vom Weltraum getrennt; wenn die Luft aus den Würfeln gepumpt wurde, fallen sie zusammen und geben den Eingang frei. Die Geiseln sind gerettet.« Irritiert fragte Mario: »Warum betonst du das zweimal, Thor?« »Es waren insgesamt fünf Geiseln. Ich werde es fünfmal sagen«, dachte das verblüffende Kugelwesen. Cliff drehte den Kopf und sah Mario an. »Hier oben, in diesem System, wird es nur wenig Piraten geben. Was machen wir mit ihnen?« Glanskis schlug vor: »Betäuben. Dann arbeiten wir uns nach unten vor. Hinter uns sperrt Thor die Korridore. Wie steht es mit der Luftversorgung?« Thor schilderte: »Wenn ich die Gänge zumauere, dann betrifft dies nicht die gesondert angelegten Kanäle der Luftumwälzanlage. Die Geiseln sind...« »Verstanden!« sagte Cliff. Dann wandte er sich wieder an die Frau, die vor ihm auf der Liege saß und die vier Gestalten musterte. Sie schien nicht darüber wegzukommen, daß ein Wesen wie der Raguer und ein anderes, das einer Kugel auf Stelzen glich, mit den Terranern zusammenarbeiteten. Cliff sagte leise und in durchaus glaubwürdigem Tonfall: »Ich wollte Sie eigentlich schonen und hoffte, daß Sie sich etwas vernünftiger zeigen würden. Leider!
Ich gehe jetzt gegen Dougherty vor, und vermutlich werden wir uns erst wieder bei der Gerichtsverhandlung in Terra sehen. Es tut mir leid!« Er zog die Gasdruckwaffe, richtete den Lauf auf den Oberschenkel der Frau und drückte ab. Sekunden später war die Frau betäubt, und Cliff legte sie auf die Decken zurück. Dann verließen sie diesen Raum. Sie gingen hinaus in den Korridor, ließen sich von Thor erklären, wo sie sich in diesem dreidimensionalen System befanden und schlugen dann einen Korridor ein, der sie nach »unten« führte, also in die mittlere der drei Ebenen. Systematisch blockierte das Kugelwesen neun Verbindungsgänge, indem es an Stellen, die anschließend mit der Wand verliefen, die Gänge mit umgeformtem Gestein verschloß und die Verbindungen unkenntlich machte. Piraten, die hierher kamen und weitergehen wollten, würden verzweifeln. Jetzt waren die vier Mitglieder des Teams im Zentrum der Anlage. Cliff stürmte im nächsten Wohnbezirk in eine Kammer hinein, schoß mit den Lähmungsnadeln einen Piraten nieder, der geschlafen hatte und bei Cliffs Eintreten hochfuhr, und dann schaltete Cliff den Videophonschirm ein. Langsam erstellte sich das Bild. Cliff sah, daß sich die Masse der Piraten in Bewegung gesetzt hatte und auf seinen Standort zukam. Cliff konzentrierte sich auf Thor und dachte: »Thor! Sperre sie in der ersten Kammer dieses Stockwerks ein. Errichte vor und hinter ihnen Sperren. Wir müssen zum Schiff!« »Verstanden.«
Thor verschwand. Cliff, Mario und Glanskis zogen sich in die Kammer zurück, die in einer Ecke des Neun-KammernSystems lag. Die Piraten kamen näher, die ersten von ihnen erreichten den Raum im Zentrum, der etwas Ähnliches wie eine Messe darstellte. Thor verschloß den zentralen Gang an zwei Stellen. Zuerst die Wand der Messe, dann, als sich die Piraten darin versammelt hatten, auch die andere Seite. Jetzt konnten sie nur noch nach den Seiten ausweichen oder nach unten. Drei weitere Aktionen versperrten auch diese Fluchtmöglichkeiten. Die meisten Besatzungsmitglieder dieses Kometen waren jetzt in einem Raum eingeschlossen und besaßen keine Möglichkeit, ihn zu verlassen. Bis jetzt hatte Dougherty noch nicht gemerkt, daß der Feind in der Station war. In den nächsten Minuten mußte er es merken. Die Männer der ORION, die im Eckraum zwischen den geräuschvoll arbeitenden Maschinen der Luftversorgung warteten, sahen das Kugelwesen wieder auftauchen und kamen mit gezogenen Waffen aus ihrem Versteck heraus. Sie liefen geradeaus, erreichten die erste Kammer des mittleren Systems, wandten sich nach rechts und liefen auf die Schleuse zu. Mario fragte schwer atmend: »Willst du nicht unsere Hilfsschiffe alarmieren?« »Sofort«, sagte der Kommandant. Der Raguer entwickelte eine rege Tätigkeit. Während Mario und Cliff geradeaus rannten, sprang das Raubtierwesen hin und her, suchte sämtliche Ecken und Nischen des Korridors ab und lähmte zwei der Piraten, die an Geräten Dienst taten. Dann folgte
Glanskis den Männern in die Schleuse, Thor blieb zurück. Er wollte, sagte er, Ausbruchsversuche verhindern, aber er konnte auch nur dort etwas tun, wo er vorher gewesen war. Er war bei seinen telekinetischen Aktionen auf sein Wissen angewiesen, und einen Gang, den er nicht kannte, konnte er aus diesem Grund nicht sperren. Die Schleusentüren schlossen und öffneten sich, und dann standen Cliff, Glanskis und Mario vor dem Doppelschiff. Das Schiff füllte den Schleusenraum fast völlig aus. Es war mit großer Behutsamkeit hineinbugsiert worden. Hintereinander betrachteten die Männer die beiden Rümpfe und das Verbindungsstück, das schlecht ausgeführte Arbeit zeigte. Die Zentrallifte waren ausgefahren, und Mario nahm Glanskis mit, als er den ersten Rumpf enterte. Er wurde im Ringkorridor in ein kurzes Feuergefecht verwickelt, das er für sich entschied. Einen zweiten Mann, der im Maschinenraum arbeitete, betäubte der Raguer. Das Schiff, das Cliff betrat, war leer. Im Verbindungsgang, einer zwei Meter durchmessenden Röhre mit verstärkten Wandungen, trafen sich die Männer wieder. »Ich glaube, das ganze Geheimnis ist, daß sie einfach ein größeres Schiff haben wollten«, sagte Mario. »Ich habe keinen Einbau entdeckt, der diese Wahrscheinlichkeit verändern würde.« »Das interessiert mich im Augenblick noch nicht«, sagte Cliff. »Vorläufig sind die Chancen noch bei uns. Aber wir brauchen Verstärkung. Zuerst muß den Piraten jeder Fluchtweg abgeschnitten werden.« Glanskis sagte aufgeregt: »Das bedeutet, daß dieses Schiff die Schleuse ver-
lassen muß?« »Richtig!« sagte Cliff. »Enterkommandos müssen her. Ich rufe die Schiffe.« »Einverstanden.« Cliff schaltete das Funkgerät um und rief die ORION. Sofort meldete sich Hasso Sigbjörnson. »Hasso! Du und Cyd, ihr zieht bitte schwere Raumanzüge an, bewaffnet euch, und in der Zwischenzeit sollen sämtliche Schiffe hierher kommen. Von jedem Schiff brauche ich drei Mann als Enterkommando. Wir werden auch viele Gefangene in die Kältekammern der Schiffe bringen müssen.« »Wird sofort erledigt – wie steht es innerhalb des Kometen?« Cliff erwiderte: »Noch ist die Situation stabil. Wir haben rund fünfzig Piraten eingeschlossen, aber niemand weiß, ob sie nicht doch über einen zusätzlichen Fluchtweg verfügen.« Bedächtig antwortete Cliffs ältester Freund: »Die Aktion läuft bereits. Wir sind in zwei oder drei Minuten am Kometen.« »Danke!« Cliff lehnte sich etwas erschöpft gegen die Wand, nachdem sie das Schiff wieder verlassen hatten. Er öffnete den Helm und sagte leise: »Dieses Schiff muß hinaus in den Raum geschleppt werden. Dann erst können die Enterkommandos hereinkommen. Zuerst muß Glanskis alle Piraten, die wir ausgeschaltet haben, in die Schiffe bringen. Kannst du das schaffen? He! Thor?« Thor meldete sich. »Nichts verstanden!« dachte er.
Cliff wiederholte seine Frage. Er bekam eine positive Antwort. Er sagte scharf: »Thor! Fange sofort damit an. Bringe sämtliche bewußtlosen Piraten in den ersten Raum hinter der Schleuse.« »Verstanden!« Sie begannen gleich selbst damit und schleppten die drei bewußtlosen Männer aus dem Schiff in den großen Raum. Sie legten sie derart gut sichtbar hin, daß Dougherty auf dem Videophonschirm der Messe alles sehen konnte. Cliff ließ den Ton abgeschaltet. Er legte keinen Wert darauf, mit dem dicken Mann zu diskutieren. Noch nicht. * Zuerst kamen die Schiffe... Die ORION ankerte mit ihren magnetischen Trossen dicht neben der Schleuse. Zwei Gestalten und ein kleines Gerät schwebten aus der ausgefahrenen Schleuse des Zentralliftes hinüber, schritten ein Loch durch die Plastikschleuse und enterten den Kometen, der weiter auf seiner fast geraden Bahn in Erdnähe raste, an der Sonne Thornton vorbei. Dann kam die PLUTONIA. Sie setzte direkt über der Schleuse auf, verankerte sich und entließ drei Männer in schweren Panzeranzügen, die über das Eis rutschten und stolperten und förmlich in die Schleuse hineinfielen. Sofort wurden die Funkgeräte auf den Flottenkanal geschaltet, und Cliff begann seine Anweisungen zu geben. Er stand mitten in der ersten Kammer, und um ihn herum la-
gen bewußtlose Piraten. Ein Mann von der SATURN II steuerte, nachdem er mit seinen Leuten eingestiegen war, das Doppelschiff aus der Hangarschleuse in den freien Raum hinaus. Die ARES GAMMA glitt in die Schleuse. Die zerschnittenen Plastikwürfel wurden wieder provisorisch abgedichtet, und der Hangar wurde mit Atemluft geflutet. Dann schleppten die Männer nacheinander die besinnungslosen Piraten in das Schiff, füllten die Kälteschlafkammern damit, und als zwanzig Personen im Schiff waren, sagte der Erste Offizier, der das Schiff steuerte: »Wir sind voll besetzt, Kommandant. Welchen Auftrag haben Sie für mich?« Cliff brauchte nicht zu überlegen und antwortete: »Fliegen Sie schnellstens zur Erde. Setzen Sie sich mit Oberst Villa, Raummarschall Wamsler und Gunstone Henessey in Verbindung. Noch vor dem Erreichen des Hyperraumes beordern Sie drei Hilfsschiffe hierher. Sie müssen den Kometen ausräumen und sowohl die Geiseln als auch das Material auf die Stationen Terras zurückfliegen. Das alles ist ungeheuer wichtig und außerdem eilig – also bemühen Sie sich, einen besseren Eindruck als der Erste von der JETSTREAM zu machen!« Der Erste Offizier versicherte halblaut: »Ich werde mein Bestes tun, Kommandant McLane.« »Hoffentlich ist es gut genug!« konterte Cliff und beendete das Gespräch. Nachdem die TERRA QUEEN und sämtliche Männer der Enterkommandos eingeschleust worden waren, konnten weitere Aktio-
nen geplant werden. Man versammelte sich in dem großen Raum, und Cliff schaltete die Videophonanlage aus. Die Männer klappten die Helme zurück. »Freunde«, sagte Cliff halblaut und entschlossen, »wir haben sämtliche Piraten, die wir bei unserem Eindringen hier fanden, betäubt und in die ARES GAMMA gebracht. Etwa fünfzig Menschen sind in der Messe eingeschlossen. Die Frage erhebt sich, wie wir vorgehen.« »Schnell und unbarmherzig!« sagte jemand. »Bedenken Sie, daß die Männer Doughertys einige Schwerverletzte hinterlassen haben.« Cliff hob einen Arm und rief: »Ich will kein Gemetzel. Ich werde Dougherty ein Ultimatum stellen. Vermutlich wird er nicht darauf eingehen.« »Vermutlich nicht«, sagte Mario. »Wir brauchen Thor.« Cliff sagte: »Der Raum, in den die Piraten eingeschlossen sind, hat Würfelform und dementsprechend sechs Eingange. Diese Öffnungen wurden verschlossen, und Thor wird sie für uns öffnen. Wir bilden sechs Gruppen und wenden schonungslos die Gasdruckwaffen an. Die Strahler nur dann, wenn sich jemand von uns in echter Lebensgefahr befindet.« »Klar! Verstanden.« Cliff teilte die sechs Gruppen ein und sagte ihnen genau, wo sie sich zu postieren hatten. Er sah zu, wie die Männer ihre Anzüge schlossen und abmarschierten. Eine kleine Gruppe blieb bei Cliff. Der Kommandant ging zum Videophonschirm, schaltete ihn ein
und drehte die Lautstärkeregelung auf. Dann wartete er auf das Bild, und als er auf die Versammlung der Piraten im mittleren Raum dieses Systems blickte, sagte er: »Hier spricht McLane, Vertreter der Erdregierung mit sämtlichen Vollmachten. Ich will Lotos Marcus Dougherty sprechen.« Einer der Piraten, dessen Gesicht Cliff zu kennen glaubte, sagte mit einem unbehaglichen Grinsen: »Doug ist im Augenblick nicht zu erreichen, Mister. Sie müssen ihn schon suchen, wenn Sie mit ihm sprechen wollen.« »Ausgezeichnet«, sagte Cliff. »Wieviel Leute sind bei ihm?« Der Angesprochene zuckte die Schultern. Cliff musterte die Gesichter der Piraten und fand zwei seiner Vermutungen bestätigt. Erstens befand sich eine ziemlich große Anzahl von Mädchen und Frauen unter ihnen, und zweitens besagten die Gesichter, daß die Piraten auf etwas warteten. Sie hofften darauf, daß Dougherty etwas ausrichten konnte. Das, was er versprochen hatte, mußte für sie ein Gewinn sein – also war Dougherty mit einigen Männern geflohen. Cliff sagte: »Sie haben keine Wahl. Es werden jetzt die Ausgänge geöffnet. Ergeben Sie sich, dann ersparen Sie sich die Schmerzen beim Aufwachen nach einem Lähmungsschuß. Wenn Sie sich wehren, dann sind wir unbarmherzig.« »Verstanden, Mister. Treten Sie ruhig näher!« sagte ein anderer. Das konnte nur bedeuten, daß Dougherty geflohen
war. Mit einigen seiner besten Männer. Entweder beabsichtigte er, ein Schiff zu kapern, oder er besaß selbst eine LANCET oder sogar ein weiteres Schiff. Das mußte verhindert werden. Cliff dachte angestrengt: »Thor!« Sofort meldete sich das Kugelwesen. »Öffne zuerst den Gang in der Decke der Messe, dann den am Boden. Zweitens: halte dich bereit, mich und Glanskis auf die Oberfläche hinauszubringen.« »Jawohl.« Cliff schaltete das Funkgerät um und rief: »Hier McLane. Ich rufe die ORION!« Naomi meldete sich. »Ziehe sofort die Zentralanlage ein. Lasse niemanden ins Schiff und achte auf einige Männer oder ein flüchtendes Raumschiff.« »Verstanden, Cliff!« »Ich rufe die PLUTONIA!« rief der Kommandant. »Wo stehen Sie?« »Über der Schleuse. Ich habe mitgehört – niemand nähert sich dem Schiff. Ich ziehe eben den Lift ein. Alles klar!« »Danke«, sagte Cliff. »SATURN Zwei, bitte melden!« »Hier spricht die Wache in der SATURN. Was haben Sie, Kommandant?« Cliff sagte aufgeregt: »Sie schalten sofort den Stromkreis aus, der die Liftapparatur und die Schleuse versorgt. Es besteht die Gefahr, daß jemand ins Schiff einzudringen versucht. Er darf auf keinen Fall hinein. Es ist der Pirat mit einigen seiner Männer. Haben Sie verstanden?«
»Jawohl. Ich schalte bereits. Soll ich Sie verständigen, falls ich etwas bemerke?« »Bitte.« Die ARES GAMMA war unterwegs, und es blieb nur noch die TERRA QUEEN, die sich im Hangar des Kometen befand. Cliff rief laut: »TERRA QUEEN!« »Ja?« »Sofort das Schiff abschließen. Sollte schon jemand eingedrungen sein, Notschaltung betätigen.« »Verstanden... es ist niemand im Schiff. Ich ziehe eben den leeren Lift ein. Soll ich die Anlage verlassen?« »Nein!« sagte Cliff. »Danke.« Er spürte, wie sich der Raguer an seine Knie drängte, als wittere er die Gefahr neben ihnen. Cliff konzentrierte sich wieder, von Aufregung und Panik erfüllt. »Thor?« »Ich bin bereit!« Cliff fragte ohne viel Hoffnung: »Weißt du, wohin Dougherty geflohen ist?« »Durch einen langen, gewundenen Gang an die Oberfläche hinaus. Mehr kann ich nicht sagen.« Mit einem wilden Ruck schloß Cliff seinen Helm und sagte: »Dann bringe uns bitte in die Nähe des Ausganges und öffne dann die gesamten Felssperren!« »Sehr wohl! Schwinge das Schwert, schwarzer Ritter!« Und plötzlich waren Cliff und der Raguer wieder in der leuchtenden, verwirrenden Gashülle des Ko-
meten. Langsam drehte sich Cliff um und spähte nach allen Seiten – der Pirat hatte einen deutlichen Vorsprung. Der Raguer fragte, während er in einer Serie langer Sätze davonraste: »Wohin mögen die Piraten geflohen sein?« Cliff erwiderte: »Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, daß Dougherty ein eigenes Schiff besitzt. Auch wird er sich ausrechnen können, daß er damit keine Chance haben würde. Fünf Schiffe warten hier – er könnte nicht entkommen.« Also blieb nur der Versuch, in die PLUTONIA oder die SATURN II einzudringen. Der Kommandant erklärte dies seinem neuen Freund, und auch der Raguer war dieser Meinung. Er setzte sich auf die Spur der Männer, die er vor sich im Eis entdeckte, denn die Piraten hatten es sehr eilig gehabt und mit den schweren Anzugsstiefeln das Eis zerkratzt. Cliff folgte Glanskis, so schnell er konnte. Sie liefen, rutschten und stolperten in jenem leuchtenden Gas, das eine Sicht von maximal drei Metern gestattete, auf das Schiff neben der Schleuse zu. Es zeichnete sich weit vor ihnen als undeutliche schwarze Masse ab, die das Licht der Sonne aufhielt. Nur dadurch hatten die ORION-Leute einen Anhaltspunkt. Weiter... Schneller... Cliff atmete schwer, drehte das Sauerstoffgerät etwas weiter auf und hastete dem Raguer nach. Längst sah er nur die breiten, tiefen Rillen im Eis, die von den stahlharten Krallen herrührten – das Wesen selbst war verschwunden. Cliff winkelte die Arme an
und rannte in der geringen Schwerkraft weiter, immer geradeaus, und schließlich kam er an den Eingang des schrägen Stollens, den der Meteorit eingeschmolzen hatte. »Cliff!« Das war Glanskis. »Ich höre!« »Es sind sechs Männer. Sie befinden sich in der Röhre. Ich umgehe sie von links, überhole du sie von rechts.« »Verstanden.« Der Schwung trug Cliff rechts die kleine Anhöhe hinauf. Er stolperte, krachte mit voller Wucht auf das Eis und rutschte auf einer geraden, spiegelnden Fläche aus. Ein Gelenk seines Anzugs donnerte gegen ein Stück Eis, das in langen Splittern brach und sich nach allen Seiten verteilte. Der Kommandant kam leise fluchend wieder auf die Füße, holte Luft und rannte weiter. Links unter ihm lag jetzt der Bodenspalt. Cliff wußte jetzt, wo er sich befand – etwa hundertfünfzig Meter geradeaus war die Schleusenöffnung für das Doppelschiff. Links davon stand das Raumschiff. Weiter, schneller. Cliff sah den Raguer nicht, aber er fühlte die beruhigende Nähe dieses Wesens, das zum Kampf geboren zu sein schien. Jedenfalls bewegte sich Glanskis in dieser ungewohnt geringen Schwerebeschleunigung schnell und mit sparsamen, genau kontrollierten Bewegungen – eben wie ein Raumfahrer, der eine Million Jahre alt war. Cliff rannte weitere zwanzig Meter, schlitterte auf einer Eisbrücke über die tiefe Spalte und sah unter sich sechs Schatten.
Der erste war am weitesten voraus. Cliff hatte ein neues Problem – er wollte keinen der Männer mit der HM 4 umbringen, und die Gasdruckwaffe durchschlug das schwere Material des Anzuges nicht. Der Kommandant lief weiter, überlegte fieberhaft und blieb dann in der Mitte des Eissteges stehen. »Ich nehme den letzten!« sagte er. »Einverstanden.« Er wartete eine Weile, bis Dougherty unter ihm vorbei war, dann zählte er und ließ sich fallen, als der letzte der sechs Männer unter ihm aus der leuchtenden Gasmasse auftauchte. Cliff zielte sorgfältig, warf den Mann zu Boden, indem er ihm in den Rücken sprang, und riß dann mit einem Ruck den gepanzerten Schlauch der Sauerstoffzuleitung aus der Steckverbindung. Der Außenlautsprecher übertrug das Zischen. Cliff dachte: »Thor!« »Ich höre!« »Hier, genau zwischen dem Ausgang und der Schleuse liegen einige Männer. Bitte, bringe sie in die Station und lasse ihre Helme öffnen.« Cliff drehte sich um und wußte, daß binnen Minuten der fehlende Sauerstoff den Mann bewußtlos machen würde. Nach einigen Metern kam er an dem zweiten Piraten vorbei, den der Raguer umgeworfen hatte. Funktionierten die Geräte in den Anzügen nicht mehr? Der dritte Mann lag ebenfalls halb besinnungslos auf dem Eis, und als Cliff schneller lief, überrundete er die wild um sich schlagende Gruppe: der vierte Pirat wurde gerade von Glanskis auf das
Eis geworfen, und die nadelscharfen Zähne des Eiswesens kappten die Sauerstoffzuleitung. »Noch einen außer Dougherty!« Cliff rannte weiter, sah einen Schatten vor sich aus dem brennenden Gas hervorwachsen und warf sich nach vorn. Er umklammerte die Beine des Mannes. Sein Helm wurde mit einem dröhnenden Schlag von der Kante eines Stiefels getroffen, und der Pirat fiel auf die Hände. Seine schwere Waffe prallte auf das Eis und schlitterte davon. Cliff rollte den Mann herum, schlug einmal mit der geballten Faust im Panzerhandschuh zu und wischte den Arm vor seinem Gesicht weg, dann hatte er den Sauerstoffschlauch in der Hand. Er riß daran, wieder ertönte das Zischen. Das Gesicht des Piraten war unter der Sichtscheibe des rostigen Helmes von Panik erfüllt. Cliff stand auf und merkte, wie sich der Raguer neben ihn setzte. »Wer überfällt den Piratenchef?« fragte Glanskis. »Wir beide!« »Los!« Sie setzten sich wieder in Bewegung. Cliff war erschöpft und ausgepumpt, aber er lief weiter und hoffte, daß Thor mit der gewohnten Präzision handelte. Ihm kam der letzte Teil der Aktion nicht ganz geheuer vor: Wenn Dougherty die Hilferufe seiner Leute nicht gehört hatte, dann schien er sein Funkgerät abgeschaltet zu haben. Auch hatte sich der dicke Mann nicht ein einzigesmal umgedreht, um nach seinen fünf Leuten zu sehen. Vor dem Piraten reckte sich jetzt das Terra-Schiff aus dem Nebel, wie ein gewaltiger Pilz, der auf dem stählernen Schaft des Zentralliftes wuchs.
»Dougherty!« schrie Cliff. Er hielt seine Waffe in der Hand. Der Strahler war entsichert. Der Pirat reagierte nicht. Cliff sah den Raguer neben ihm verschwinden; Glanskis lief einen weit ausholenden Halbkreis, der ihn zur gleichen Zeit mit Dougherty an der geöffneten Schleuse des Schiffes zusammentreffen lassen würde. Cliff blieb stehen und sah rote Nebel vor seinen Augen. Er zwinkerte, legte die rechte Hand auf den linken, angekrümmten Unterarm und feuerte. Zweimal. Links und rechts des flüchtenden Piraten bohrten sich glühende Strahlen in das Eis, riefen eine expandierende Gaswolke hervor. Der Pirat blieb stehen, fuhr herum, und gleichzeitig ließ sich Cliff fallen. Ein wahrer Hagel von Schüssen peitschte durch den Nebel und verwandelte das Eis um ihn herum in Wasser und Dampf. Dann, einige Sekunden später, fühlte Cliff eine Erschütterung. Er schwang sich wieder auf die Beine. Die Erschütterung wurde dadurch ausgelöst, daß ein schwerer Körper mit aller Wucht auf das Eis niederkrachte. Der Raguer hatte den Piraten im vollen Lauf angesprungen und umgeworfen. Ein Prankenhieb hatte den Schaft der Waffe verbogen, und der Biß der Zähne kappte die Zuleitung. »Die Jagd ist zu Ende«, sagte Cliff und blieb mit entsicherter Waffe vor dem Piraten stehen. Schlagbereit schwebte eine Pranke des Wesens, das ohne Schutz im Vakuum leben konnte, über Doughertys Sichtscheibe. »Thor!« »Du brauchst nicht zu fragen. Ich habe fünf be-
wußtlose Männer nach innen transportiert.« »Ausgezeichnet!« sagte Cliff. »Ich habe eine letzte Arbeit für dich.« Das Kugelwesen dachte: »Euch holen, ja? Schwanget ihr das Schwert?« Der Raguer erwiderte: »Wir schwangen ein schwirrend' Schwert, aber jetzt hole uns!« Die Antwort brauchten sie nicht mehr zu geben – sie befanden sich bereits innerhalb der Station. Sie landeten im Chaos. Einige Piraten waren ausgebrochen, hatten wild um sich geschossen und waren von Gasdruckwaffen gelähmt worden. Andere, meistens die Mädchen und Frauen, hatten sich ergeben und dann, als sie sahen, daß sich ihre Kameraden wehrten, in den Kampf eingegriffen. Sie hatten dazu alles verwendet, was sie fanden, sogar das Geschirr und das Besteck der Messe. Und schließlich hatten die Terraner einige Tränengasbomben geworfen und schonungslos mit Lähmnadeln in die Menge hineingeschossen. Keiner der Piraten war mehr auf den Beinen. »Das«, sagte Cliff erschöpft und mit zitternden Knien und Fingern, »ist zwar nicht sehr schön, aber es wird uns in den nächsten Stunden etwas Ruhe verschaffen.« Er ordnete als erste Maßnahme eine Zählung an, dann befahl er, daß sämtliche Piraten in die Kälteschlafkammern der Schiffe hineingestapelt werden sollten – nur die ORION mußte leer bleiben. Cyd Shayon kam auf ihn zu und schlug Cliff auf die Schulter. Der Kommandant erwiderte Cyds herzliches Lachen mit einem gequälten Grinsen.
»Alle Geiseln sind, zwar etwas hungrig und mit flatternden Nerven, an Bord der ORION!« sagte Cyd. »Meinen Mädchen ist nichts passiert.« »Wunderbar!« sagte Cliff. »Sie und Ihre Schützlinge fliegen mit dem ersten Ersatzschiff zurück nach Anakonda Viertausend.« Cyd nickte. »Mit Vergnügen«, sagte er. »Sie sollten ausschlafen, Cliff. Sie sehen aus wie der Zorn der Galaxis!« »Ich fühle mich kaum anders«, bestätigte Cliff. »Die wahren Helden unseres Unternehmens sind Thor und Glanskis.« Er sah zu, wie Männer des Enterkommandos die sechs Männer aus den Anzügen schälten und schnell entwaffneten, fesselten und in die Schleuse trieben. »Wo ist Glanskis?« fragte Cyd. Die Antwort entstand in den Gedanken der beiden Männer. »Das, was jetzt geschieht, ist nur noch zu einem winzigen Bruchteil Sache von uns, also der ORIONCrew. Ich habe mir gestattet, unseren Freund ins Schiff zurückzubringen. Ich werde dies mit den anderen Besatzungsmitgliedern in den nächsten Minuten ebenso halten.« Cliff schaltete seine Versorgungssysteme ab und antwortete: »Du kannst gleich mit mir anfangen. Am besten setzt du mich in meiner Kabine ab, im Bett.« Er fand sich einen Sekundenbruchteil später in einer Höhe von einem halben Meter über dem Laken. Krachend fiel der Kommandant im schweren Raumanzug in sein Bett. Kissen flogen, Decken rollten sich zusammen, und auf die lauten Schreie Cliffs kam
sofort Naomi in seine Kabine und half ihm aus dem Anzug. »Schwester«, sagte Cliff gebrochen, »du kannst heute auf das Schlaflied verzichten. Ich schaffe es auch ohne dein Krächzen.« »Schade«, sagte die Turceed anzüglich. »Gerade dann, wenn du sehr müde bist, erreicht deine männliche Ausstrahlung einen ungeahnten Höhepunkt.« Das sagt Ishmee auch immer, fand Cliff, und er schlief sofort ein.
8 Cliff hatte sechzehn Stunden lang geschlafen. Er fühlte sich außerordentlich wohl, aber in der ORION war für seinen Geschmack der Trubel zu groß. Zu viele Menschen, wenn auch die vier Mädchen von Anakonda 4000 eine Augenweide waren. Der Kommandant lag entspannt und in seiner weißen Zivilkleidung in seinem Sessel, hatte die Absätze seiner handgefertigten Stiefel auf die Armaturen gelegt und somit die Nachdenk-Position eingenommen. Sämtliche Kabinen des Schiffes waren überbelegt, und selbst Glanskis, der entspannt mitten in der Kabine lag und an einem riesigen Salatblatt knabberte, betrachtete die Unruhe mit Unmut. Cliff beugte sich vor, drehte an einem Abstimmknopf und betrachtete das Bild, das die Linsen zeigten. »Hoffentlich haben sie es bald geschafft!« murmelte er. Drei Frachtschiffe und ihre Besatzungen, durch Roboter verstärkt, arbeiteten an der Aufgabe, den Kometen auszuleeren. Sie sortierten die gestohlenen Gegenstände und schleppten sie in die Laderäume. Was von Anakonda gestohlen worden war, wußten sie anhand der Listen, die durch Funk übermittelt worden waren. Cyd Shayon kam langsam heran und blieb hinter Cliff stehen. Auch der Chef von Anakonda betrachtete das Bild. »Sie scheinen fertig zu sein!« sagte er halblaut. »Möglich«, sagte Cliff. »Sie ärgern sich, wie?«
»Beträchtlich!« antwortete Cyd. »Sie waren eine Idee schneller als ich.« Cliff wußte, daß Cyd Shayon noch immer wütend darüber war daß er es nicht gewesen war, der Lotos Marcus Dougherty gefangen hatte. Cliff hatte nicht die Absicht gehabt, Cyd zuvorzukommen; es hatte sich einfach so ergeben. »Ja. Und beinahe wäre uns der liebe Freund noch in der letzten Minute entwischt. Mit einem funkelnagelneuen Raumschiff.« Cyd antwortete: »Ihre trostreichen Worte freuen mich sehr. Ich werde sie in die ruhige Abgeschiedenheit meines kleinen Mondes mitnehmen. Bleiben Sie, wie Sie sind, Kommandant.« Cliff erwiderte trocken: »Vermutlich.« Zwei der Schiffe waren bereits vollgeladen. Das dritte schwebte eben aus dem Hangar heraus. Die gesamte Konstellation der Schiffe rund um den Kometen bewegte sich mit diesem Objekt durch den Weltraum, mit mehr als einhundertsechs Sekundenkilometern. Die Sonne war in den vergangenen Tagen kleiner geworden, und der Schweif des Kometen nahm an Länge und Leuchtkraft ab. »Knurren Sie nicht«, sagte Cyd. »Ich habe mich bemüht, Ihnen zu helfen. Wir waren ein gutes Gespann.« Cliff nahm seine Hacken von der Instrumentenkonsole, stellte die Füße auf den Boden und stand langsam auf. »Ich bin noch etwas verschlafen«, sagte er halblaut. »Und außerdem beschäftigt mich die Frage, aus wel-
chem Grund es Piraten gibt.« »Das wird sicher bei der Gerichtsverhandlung geklärt werden«, meinte Naomi. »Ich glaube, wir haben Funkkontakt.« Darco schaltete die Anlage auf die Lautsprecher und Monitoren um, und der Kommandant eines der Schiffe meldete sich. »Wir sind fertig zum Start nach Anakonda Viertausend. Laut Anweisung von Kommandant McLane sollen wir fünf Gäste mitnehmen und dort absetzen.« »Zweifellos sind wir damit gemeint«, sagte Cyd. »Mädchen! Los, in die Raumanzüge! Wir schweben hinüber.« Er blieb dicht vor Cliff stehen und sagte: »Danke für alles, Kommandant.« Sie schüttelten sich die Hände. Cliff nickte und meinte ruhig: »Keinen Anlaß dafür. Das sind so die kleinen Abenteuer, die ein Inspekteur der T.R.A.V. auf einer Testreise erlebt. Wenn es Sie noch mehr beruhigen sollte, Cyd, dann kann ich Ihnen sagen, daß Ihre Station eine sehr gute Zensur bekommen hat.« Cyd schlüpfte langsam in einen leuchtend weißen Schutzanzug und fragte verblüfft: »Von Ihnen?« »Nein«, sagte Cliff. »Nicht von mir. Wenigstens nicht von mir allein. Sondern vom ersten MultiIntelligenzen-Team in der Geschichte der bemannten Raumfahrt.« Die fünf Gäste von Anakonda standen mitten in der Kommandokanzel. Sie steckten in den Raumanzügen, hielten die Helme noch in den behandschuhten Händen.
»Wie funktionierte das?« Cliff lächelte und sagte dann: »Die beiden Turceed, nämlich Darco Viertausendneun und Naomi Viertausendsechshundertdrei, können die Natur von Gedankenströmen feststellen. Sie spürten, daß niemand von Ihnen das hatte, was man ›schlechtes Gewissen‹ nennen kann. Außerdem ist Darco, in Zusammenarbeit mit meinem Freund Hasso, ein ausgezeichneter Ingenieur.« Cyd wurde unsicher; das hatte er nicht wissen können. »Ferner besitzen Hasso, Mario und meine Wenigkeit die Gabe, mit Hilfe von gewissen Sondierungen die Charaktere unserer Partner ziemlich genau testen zu können. Das ist ein zweiter Punkt. Drittens haben auch unsere beiden exotischen Freunde dazu beigetragen, daß unsere Beurteilungen richtig und gerecht wurden. Leben Sie möglichst wohl, meine Damen und mein Herr!« Mit deutlicher Verwirrung verabschiedeten sich die vier Mädchen. Dann griff Thor ein und transportierte die fünf Gestalten im Raumanzug nacheinander hinüber in das andere Schiff. »So!« sagte Cliff zufrieden. »Wir sind wieder unter uns! Welche Punkte standen noch auf dem Programm?« Die Schiffe waren gestartet... Die PLUTONIA ebenso wie die SATURN II. Die TERRA QUEEN hatte ebenfalls Kurs auf Terra genommen. Sämtliche Piraten waren in zwei oder drei Tagen sicher in der Obhut von Villas GSD-Leuten. Der Komet war leer.
Jetzt scherte das erste Frachtschiff aus dem Verband aus, beschleunigte und nahm direkten Kurs auf Anakonda 4000. Naomi erledigte die Funkkontakte, und dann raste das zweite Schiff davon. Nach Y a Kappa. Das dritte startete einige Minuten später zurück nach High Voltage. Hasso brummte: »Die sind wir auch los.« Cliff saß auf der Kante seines Instrumentenpultes, warf eine Münze in die Höhe und fing sie wieder auf. »Wer möchte die Ehre haben?« fragte er, plötzlich sehr lustig geworden. Mario schüttelte den Kopf und meinte: »Bist du sicher, daß deine Nerven nicht gelitten haben während des Rennens auf dem Eis?« »Völlig sicher!« sagte Cliff. »Ich werde den Knopf drücken.« Er setzte sich in seinen Kommandantensessel, brachte das Schiff einige zwanzig Kilometer von dem dahinrasenden Kometen weg und sagte dann: »Lotos Marcus Dougherty – oder die Vernichtung eines Kometen!« Die gesamte Besatzung umstand jetzt Cliff und den zentralen Bildschirm. Die ferne Sonne war zu sehen, der feine Strich des Kometenschweifes und der Komet selbst, dessen Hülle aus verdampfendem Eis, Methan und Ammoniak sichtbar dünner geworden war. »Ein Pirat reicht!« sagte Cliff. Auf seinem Pult lag ein Fernsteuerungsgerät. Er nahm es in die Hand und drückte einen Schalter herunter. Eine Sekunde später war dort, wo eben noch der Komet durch das Bild flog, eine Feuerkugel zu sehen, die nur zwei oder drei Sekunden lang exi-
stierte. Dann zerbrach der Komet in einige tausend kleinere und größere Trümmer. Der Schwarm von Kometentrümmern bewegte sich langsam auseinander, die Zwischenräume vergrößerten sich, Gas, Eis und Felsen wirbelten langsam durcheinander, und langsam verschwand der ehemalige Komet in der Dunkelheit des Weltraums. Cliff starrte das Bild eine Weile an, dann sagte er leise: »Erster Offizier Mario de Monti?« »Herr Kapitän?« Cliff grinste und sagte dann: »Ich nehme an, der Erdkurs ist bereits programmiert?« Mario salutierte übertrieben. »Selbstverständlich!« Cliff stand auf. »Naomi«; sagte er. »Würdest du bitte hier Platz nehmen und das Schiff auf exakten Erdkurs bringen? Ich habe Heimweh, und Gunstone Henessey wird sich für unsere Aussagen interessieren.« Naomi nickte. Eine Stunde später war die ORION VIII wieder auf Erdkurs, raste durch den Hyperraum und verschwand zwischen den Sternen. Cliff glaubte, daß die Verfolgung des Piraten mit der Sprengung des Kometen beendet war. * Zwischen den zahlreichen Sesseln schwebte eine große, runde Tischplatte. Das gesamte ORION-Team, Oberst Villa und Marschall Wamsler und Gunstone
saßen um diese Platte, und die Fläche war übersät von Photos und Lesewürfeln, von Karten und Diagrammen und von Gläsern, Flaschen und Tassen. Marschall Wamsler lehnte sich nach vorn und sagte: »Ich habe es zuerst nicht glauben können, Cliff, mein Junge – aber die Existenz eines Piraten ist selbst für einen so abgebrühten alten Verwaltungsmann wie mich verblüffend.« Cliff antwortete ruhig: »Wir hatten auch unsere Schwierigkeiten, es zu glauben. Aber wir wurden sehr schnell eines Schlechteren belehrt. Mich interessieren bei allem aber tiefere Gründe.« Mario hob die Hand. »Ich möchte zuerst wissen, wie weit die Vorbereitungen für den Prozeß vorangetrieben worden sind. Das, glaube ich, ist die Aufgabe von Oberst Villa und seinen Leuten gewesen.« »Unter anderem auch von Tamara Jagellovsk«, sagte Villa und drehte das Glas zwischen seinen Fingern. »Zunächst – wir erhielten von Ihnen genau vierundsechzig Piraten. Von ihnen waren zweiundzwanzig weiblichen Geschlechts. Ausschließlich jeder von ihnen ist ein Mensch, der die Gesellschaft freiwillig verlassen hatte. Wir untersuchen gerade noch, wie sie sich getroffen haben.« Hasso Sigbjörnson unterbrach. »Wo haben sie sich getroffen?« Oberst Villa lächelte dünn und erklärte: »In der Nähe der Grenze. Dougherty hat bei einem Flug diesen Kometen angemessen, ihn später ange-
flogen und untersucht. Die beiden Schiffe, die er und seine Männer zusammengebaut haben, stammen aus einer Werft im zehnten Entfernungskreis – sie waren dort, um verschrottet zu werden. Dort, auf diesem Planeten trafen sich auch die Mitglieder der Bande. Sie verließen den Planeten und nahmen alles mit, was sie besaßen und richteten sich im Kometen ein. Übrigens – ist das Ding gesprengt worden?« Mario nickte und sagte: »Kommandant McLane ließ es sich nicht nehmen, ihn selbst zu zünden. Es gab einen netten kleinen Haufen Materie, der in den nächsten Jahrzehnten sich über einen riesigen Raumbereich verteilen und dort der Schiffahrt Schwierigkeiten machen wird.« »Danke«, sagte Villa. Er warf einen irritierten Blick auf die beiden, orangefarben und grün gefärbten Haarstreifen auf Gunstones Kopf, schaute verlegen zur Seite, als ihn Henessey anlächelte und sprach weiter. »Der Rest verhielt sich so, wie Sie es schilderten, meine Herren. Die Piraten traten ihren langen Flug durch die Raumkugel an und untersuchten, sofern möglich, jeden Planeten, der entlang dieser Reiseroute lag. Sie fanden bis jetzt keinen, der ihren Vorstellungen entsprochen hätte, denn jeder, den sie anflogen, war bereits von Terra besiedelt. Sie hätten, nachdem sie an der Erde vorbeigeflogen wären, also in einigen Jahrzehnten, sicher einen Planeten gefunden – aber dann wären sie vermutlich schon zu alt gewesen, um ihn noch besiedeln zu können. Außerdem wäre vorher das Schiff auseinandergefallen, wäre der Komet eine alles andere als bequeme Heimstatt geworden, und vermutlich hätte
man auch diesen Bartstern etwas näher untersucht. Das Vorhaben war also von Anfang an zum Scheitern verurteilt, und das wußte sogar Dougherty.« Cliff beschloß, Villa eine Falle zu stellen. »Ist Lotos Marcus tatsächlich ein Nachkomme von Frank Hoium Dougherty?« fragte er. Villa zuckte zusammen, sah ihn überrascht an und war aus dem Konzept gebracht. »Wie?« fragte er. Cliff bedauerte unendlich, daß er die Bücher über diesen berühmten Vorfahren noch immer nicht gelesen hatte und daher nicht viel mehr als Villa wußte. Villa schien allerdings nichts zu wissen. »Was?« fragte Cliff entsetzt, »Sie kennen F. H. Dougherty nicht?« »Nein«, sagte der GSD-Chef. »Müßte ich ihn kennen?« Cliff zog indigniert die Brauen hoch und schwieg. Er zuckte nur mit den Schultern, und für Villa war es schlagartig klar geworden, daß er sich gegenüber Cliff blamiert hatte. »Man kann schließlich nicht alles wissen«, tröstete der Raguer den GSD-Mann und kratzte mit einer Kralle ein Muster in Gunstones teuren Teppich. »Bitte, fahren Sie fort«, sagte Wamsler und nickte Villa aufmunternd zu. Villa sagte etwas weniger sicher: »Die Piraten, und das alles geht aus den Aussagen hervor, die sie während der Verhöre machten, planten von Anfang an, die Gesellschaft zu verunsichern und sich zu nehmen, was sie brauchten. Der Überfall auf Anakonda war die erste Aktion, der auf Ya Kappa die zweite, und der auf High Voltage...«
»... die dritte!« sagte Wamsler. »Woher wissen Sie das?« erkundigte sich Gunstone. Wamsler zuckte mit den Schultern und grinste. »Auch wenn Sie es nicht für möglich erachten, junger Mann, aber selbst die Generation vor Ihnen konnte bis zehn oder elf zählen.« Gunstone betrachtete angelegentlich das Muster der verwirrenden Tapete, entdeckte dann das amüsierte Grinsen in Cliffs Gesicht und hüstelte. Villa schüttelte den Kopf und begann sich unbehaglich zu fühlen. Er sagte: »Und die Piraten planten auch, diese Taktik weiter anzuwenden. Sie wollten sich alles zusammenstehlen, was sie brauchten, Schiffe und Menschen. Material und Energie. Und dazu verhalf ihnen die Überzeugungskraft von Dougherty, der Ihnen sein Ende verdankt!« Der Raguer deutete auf Cliff, und Cliff zeigte deutlich auf Glanskis. »Ist ja auch gleichgültig«, sagte Wamsler. »Unterbrechen Sie sich nicht immer, Oberst.« »Ich unterbreche mich nicht. Übrigens hat Dougherty nach Ihnen verlangt, Kommandant McLane.« Cliff war ehrlich überrascht. »Nach mir? Warum? Ich wüßte nicht, aus welchem Grund. Ich glaube auch nicht, daß wir uns viel zu sagen hätten.« »Ich weiß es auch nicht«, sagte Villa, »aber ich habe nach Ende dieser Sitzung eine Stunde Sprecherlaubnis für Sie erwirkt.« Cliff murmelte:
»Ja. Es ist besser... ich werde mich mit ihm unterhalten.« Mit überaus großer und unechter Höflichkeit sagte Gunstone Henessey: »Dürfen wir auch das Ende Ihrer Ausführungen hören?« »Sie dürfen«, schnappte Villa gereizt zurück. »Die Piraten gaben zu, daß sie keinerlei Skrupel gehabt hätten, zu schießen, wenn sich ihnen jemand in den Weg gestellt habe. Sie betrachteten sich als Gläubiger der Gesellschaft. Sie sagten übereinstimmend aus, daß sie sich moralisch im Recht fühlten.« Cliff erlebte jetzt ein seltsames Experiment mit. Thor dachte, auf Villa konzentriert: »Wo befindet sich der Pirat jetzt?« Die Crew, bereits hinreichend mit dieser Art der Kommunikation geschult, hörte den fragenden Gedanken mit. Villa unterbrach sich mitten im Satz, starrte nacheinander die einzelnen Mitglieder der Tafelrunde an und sagte dann: »In einem Raum in der Nähe meines Büros. Hier unten, in der Basis 104.« Dann zwinkerte er und sagte verstört: »Aber es hat... niemand hat etwas laut gefragt!« Thor dachte ein zweitesmal: »Doch, ich!« »Wer?« fragte Villa. Cliff erhob sich halb aus seinem Sessel und deutete auf die blauweiß geäderte Kugel mit den vier Beinen, deren Saugnäpfe jetzt mit den Fasern des hochflorigen Teppichs spielten. Das war der einzige Ausdruck, den Thor zeigen konnte. Villa nahm diesen Schlag mit Haltung und schloß:
»Das wäre, zusammenfassend, der Bericht über die Piraten. Ich habe nichts mehr hinzuzufügen, und in der Verhandlung werden sich vermutlich auch keine neuen Aspekte mehr ergeben. Sie sehen bitte, bevor Sie mit Dougherty sprechen, in meinem Büro nach, Kommandant?« »Mit Vergnügen!« bestätigte Cliff. Villa erhob sich steif, grüßte nach allen Seiten und ging zur Tür. Bevor er sie erreichte, flackerte das Licht auf, einmal, zweimal, dann blieb es zwei Sekunden lang dunkel, schließlich kam die Helligkeit wieder. Kurze Zeit waren nur die bunten Fische zu sehen gewesen, die der Raguer unentwegt anstarrte. Vermutlich hatte er im Videophon die neueste Werbung für jod- und vitaminreichen Fisch gesehen. »Wir danken Ihnen, Oberst!« rief Wamsler. Dann deutete er auf Cliff und rief wütend: »Sie haben nichts getan, Sie haben nicht einmal gegrinst oder einer Ihrer impertinenten Zwischenfragen gestellt. Und trotzdem werden Sie sich noch einmal um Kopf und Kragen bringen, mein Junge.« Mit unendlicher Ruhe warf Hasso Sigbjörnson ein: »Nicht mit diesen Verdiensten, Marschall. Das glauben Sie doch selbst nicht einmal?« Wamsler schüttelte den Kopf. »Nein!« bekannte er. »Übrigens: Alles hat sich wieder beruhigt. Die Ersatzschiffe haben die Forschungsstationen angeflogen und ihre Ladung gelöscht. Dazu kamen die Beutestücke, die von den drei Frachtern aus dem Kometen hinaustransportiert wurden. Die entführten Mädchen und der Techniker sind auch wieder gelandet, desgleichen der Chef von Anakonda. Er schwärmt übrigens von Ihnen und Ihrem Team, Cliff!«
Thor dachte deutlich: »Wer tut das nicht? Rauhe Raumfahrer, rasend durch rötliche Riesensterne...« »Schon gut!« brummte der Raguer. Cliff nickte lächelnd. »Ferner sind alle Schiffe dieses Einsatzes inzwischen wieder in ihren Heimatbasen gelandet. Die Aktion ist beendet...« Krachend flog die Tür auf, schlug gegen die Wand und beschädigte die Tapete. Die Wucht des Aufpralls ließ sie wieder zurückschwingen. Eine dunkle, laute Stimme sagte von der Tür her: »Sie ist nicht beendet, meine Herren!« Cliff drehte seinen Sessel und erschrak tödlich. Neben der Tür eine schwere Waffe in der rechten Hand und unter der Schulter festgeklemmt, mit blutenden Handgelenken und aufgerissener Kleidung stand dort der Pirat. »Lotos Marcus Dougherty!« sagte Cliff. »Willkommen!« Der dicke Mann, einen Kopf kleiner als Cliff, machte drei Schritte vorwärts und schwenkte die Waffe in einem Halbkreis. Cliff fühlte sich, trotz seines lakonischen Begrüßungswortes, keinesfalls wohl. Er wußte, daß ein einziger Feuerstoß aus dieser Intervall-Strahlwaffe, die kurze Energieblitze verschoß, sämtliche Insassen des Raumes töten und den Raum selbst vernichten konnte. »Ich habe alle hier, die ich brauche«, sagte Dougherty leise. »Nur dieser kleine, giftige Villa fehlt mir. Rufen Sie ihn her!« Mit provozierender Langsamkeit griff Gunstone
Henessey nach einer Flasche, goß etwas von dem Inhalt in ein riesiges, kugelförmiges Glas und hob es hoch. »Sie müssen direkt an ihm vorbeigelaufen sein«, sagte er leise. »Vor drei Sekunden hat er diesen Raum verlassen. Jemand, der Sie kannte, hat die Sicherungen für einige Zeit umgeschaltet, nicht wahr?« Mario schaltete sich ein und murmelte: »Jemand, der Respekt vor dem Namen Dougherty hatte. Jemand, der nicht wußte oder nicht glauben wollte, daß binnen sechs oder sieben Generationen aus einem Namen ein Schimpfwort werden kann.« Dougherty knurrte, zwei Schritte nach vorn gehend: »Sie sind mutig!« Ungerührt antwortete Mario: »Sie wissen ebenso gut wie ich, daß dies die Wahrheit ist. Warum geben Sie nicht auf?« Cliff beruhigte sich wieder; er wußte, wo die Trumpfe des Teams versteckt waren. Trotzdem faszinierte ihn dieser Mann. Er sah ihn an, schwieg und überlegte. Fünf Meter vor ihm stand ein dicker, schwarzhaariger Mann. Er trug abgerissene Stiefel, die einmal ein kleines Vermögen gekostet haben mochten. Seine Brust unter dem zerfetzten Stoff der Jacke war dicht und schwarz behaart, und das Haar auf dem Schädel war ebenfalls dicht und gekraust. Jetzt war es feucht vor Schweiß. Die Unterarme und Handgelenke, die aus den zerfransten Ärmeln hervorsahen, waren so dick wie die Schenkel eines Kindes. Die Handgelenke waren aufgeschürft und blutig; vermutlich hatte man den Piraten in einem Sessel mit Armfesseln gefangengehalten.
Der Stromausfall hatte vermutlich die Armfesseln und die anderen Metallbänder gelöst, und der Mann war geflohen. Cliff kannte auch die Waffe. Es war eine, die von GSD-Leuten getragen wurde, wenn sie auf Schwerverbrecher aufpassen mußten. Und diese Waffe richtete sich jetzt auf die sieben Wesen, die Lotos als Gefahr einstufte. Endlich rührte sich Cliff. Er stellte eine einfache Frage. »Dougherty?« Der Lauf der Waffe zielte auf Cliff, der mit einer langstieligen Blume spielte. »Was wollen Sie?« »War einer Ihrer Ahnen der berühmte Frank Hoium? Überall sind Tafeln angeschlagen, die seine Geisteskraft rühmen. Ich sah keine Tafel, die seine Nachkommenschaft gepriesen hätte.« »Sie haben recht. Einer meiner Ahnen. Der Mann, der die weltweiten schöpferischen Glücksspiele schuf. Sie wissen: game is more than fun! Er war es auch, den man als Gegner der pharmazeutischen Sozial-Tranquillisation beschimpfte, bis er sich durchsetzte.« »Danke«, sagte Cliff, »jetzt weiß ich alles. Mir ist schlagartig klargeworden, warum Sie Pirat wurden und sich als Opfer der Gesellschaft betrachteten.« Dougherty musterte Cliff drohend, die buschigen Brauen zusammengeschoben. »Das ist selbst mir neu. Warum?« Cliff hob die Schultern und roch an der Blüte. »Sie hatten seit Ihrer Jugend, ebenso wie Ihre Vorfahren zwischen Frank Hoium und Ihnen, das Bild
dieses Mannes vor Augen. Es wird sich vermutlich herausstellen, daß einige Kränze an seinem Grab – ich weiß nicht, wo es liegt! – von Ihnen persönlich stammten.« »Richtig!« sagte Lotos. »Sie mußten im Laufe Ihres Lebens erfahren, daß Sie Frank nicht einholen konnten. Sie litten darunter. Ihre Ansprüche wurden nicht erfüllt, weil Sie zu hohe Ansprüche stellten, die nichts aus Ihrer eigenen Leistung rechtfertigen konnte. Sie sollten sich einmal die Wohnungen erfolgreicher Raumfahrer ansehen: Karg, klein und schlecht klimatisiert! So lebt der Mensch. Jeder mit dem, was er verdient. Sie haben niemals Tafeln an Häusern und Plätzen verdient. Sie haben niemals in Ihrer gesamten Karriere geglänzt. Sie erregten niemals Aufsehen. Aus diesem Grund aßen Sie soviel, daß Sie so dick wurden, wie Sie heute sind. So beschlossen Sie, die Welt auf sich aufmerksam zu machen. Sie gründeten eine schlechtgehende Piraterie. Nicht einmal darin waren Sie groß. Und da Sie dies alles ahnten, wurden Sie immer mißmutiger. Und der erste Überfall, also die erste Tat, mit der Sie die planetare Öffentlichkeit auf sich aufmerksam machen wollten, kostete Sie ihre Reputation als Outsider. Sehen Sie – bis hierher hat Sie Ihr Mittelmaß gebracht. Allerdings – mich hat es auch nicht viel weiter gebracht als bis hierher.« Sarkastisch fragte Gunstone: »Was sagen Sie zu diesen lichtvollen Ausführungen, Lotos?« Der Pirat atmete schwer und erklärte:
»Er hat recht. Er hat recht – aber das ändert nichts daran, daß ich am Schluß euch alle in der Hand habe.« Naomi sagte mit großer Beherrschtheit: »Ich wäre an Ihrer Stelle nicht so sicher, Dougherty.« Der Pirat ging in einem Viertelkreis seitwärts und lehnte sich so an eine der wenigen, dekorativ verkleideten Säulen, daß er die gesamten Insassen dieses Raumes vor sich hatte. Eine Menge Augenpaare folgten ihm. »Sie sind so verdammt sicher!« knurrte der Pirat und wischte mit dem Unterarm über seinen Schnurrbart. Darco sagte: »Das sind wir. Aber dazu gehört in dieser Situation wohl nicht viel. Der einzige Unsichere sind Sie in diesem Raum. Und vielleicht einer der ganz kleinen Fische dort draußen.« Dougherty brüllte: »Ich kann Sie alle umbringen!« Glanskis sagte: »Das könnten Sie – unter Umständen. Aber was würden Sie damit erreichen? Glauben Sie im Ernst, daß man Ihnen eine Chance gibt? Sie sind gemütskrank, vielleicht, und Sie gehören in die beruhigende Natur des Planeten Caernavan't.« Plötzlich wieder sicher werdend, flüsterte der Pirat: »Sie sind praktisch schon tot!« Naomi verkündete kalt: »Sie leben auch nicht mehr lange. Die tödlichste Waffe, die das Universum bisher kennt, ist genau auf Sie gerichtet. Diese Waffe kann Sie umbringen oder entwaffnen, vernichten oder betäuben.
Sie haben bereits verloren. Aber Sie wissen es noch nicht. Jetzt... jetzt wissen Sie es. Aber Sie können es nicht glauben.« Cliff sah, wie sich der Zeigefinger des Mannes um den Abzug krümmte. In der Schußlinie befand sich Naomi, die Turceed. »Sie sind wahnsinnig!« zischte Dougherty. »Vollkommen verrückt. Ich...« Cliff dachte scharf: »Thor! Die Waffe weg!« Mit furchtbarer, blitzartiger Gewalt, als ob eine Explosionsladung gezündet worden wäre, riß eine unsichtbare Kraft die Waffe aus den Händen des dicken, schwarzhaarigen Mannes. Der Zeigefinger blieb hängen und wurde gebrochen, und Dougherty schrie auf. Die Waffe bohrte eine breite Rinne in den bearbeiteten, hochpolierten Felsen der Decke. Dann schleuderte Thor die Waffe achtlos in einen Winkel. »Glanskis!« Mit einem einzigen Satz, der ihn über den Tisch und die Sessel von Naomi und Hasso hinwegtrug, sprang der Raguer auf. Er hatte sich seit einigen Minuten auf diesen Sprung vorbereitet, hatte die Geschwindigkeit ausgerechnet, die Flugparabel und die Wucht. Dougherty, den ein mehrere Zentner schweres Raubtier an der Brust traf, taumelte nach hinten und schlug mit dem Schädel gegen einen tragbaren Videophonschirm. Krachend barst der Schirm, und die Splitter klingelten. Der Raguer stand über dem Mann, bereit, ihm die Kehle mit einem einzigen Biß zu zerfleischen. Dann, als Glanskis merkte, daß Dougherty besinnungslos war, drehte er sich um und trottete zurück zu seinem Platz.
»Das war wohl endgültig der letzte Akt!« sagte Gunstone, und als er den Cognac hinunterstürzte, zitterten seine Finger. Cliff legte vorsichtig die Blume auf den Tisch, stand auf und ging bis zum Sessel von Naomi, deren Nerven vibrierten wie Bogensehnen. Cliff streckte seine Hand aus und legte sie um die Wange des Mädchens, und dann erst löste sich die Spannung. »Trotzdem«, sagte Hasso, »das war verdammt knapp. Um einige Sekunden zu knapp, Cliff.« »Nicht zu knapp! Ingenieur – ich hielt ständig das Energiemagazin blockiert. Es hat zwei mechanische Teile! Ein rostiges Schwert schwang er, hei!« Wortlos ging Mario de Monti zur Tür, riß sie auf und brüllte aus vollen Lungen: »Wache!« Als nach einigen Minuten die GSD-Leute kamen, fragte sie Mario an der Tür in harmlosem Ton: »Wußten Sie schon, daß Ihr Staatsgefangener hier liegt und sich ausruht?« Ehe der Trubel losbrechen konnte, verließen das Team und Gunstone das Büro und zogen sich vornehm und diskret zurück ins Starlight-Casino. Es gab nicht mehr viel zu sagen. Nach dem vierten oder fünften Glas – er beglich auch die gesamte Zeche – sagte Gunstone Henessey: »Der Versuch mit dem Multi-Intelligenzen-Team hat besser geklappt, als wir alle dachten, nicht wahr? Die Demonstration eben dürfte auch jeden Berufsskeptiker überzeugt haben.« »Jawohl«, sagte Cliff. »Trotzdem werde ich auch noch mit meiner alten Crew fliegen. Ich nehme an, daß ich nach einigen Tagen Urlaub die restlichen Sta-
tionen besuchen und kontrollieren soll?« Gunstone schüttelte seine Hand und sagte: »Ja. Bitte, melden Sie sich vorher noch bei mir?« Cliff nickte nur. Gunstone ging, und mit ihm zusammen verabschiedeten sich Hasso und Mario. Das Kugelwesen zog sich mit einem gewaltigen Satz zurück, nachdem Darco die Bar verlassen hatte: Thor war in einem der besten Hotels dieser Stadt untergebracht. Der Raguer startete zu einem Trainingslauf um einen Teil der Insel – er lief gern am Strand, in der Sonne und im feuchten Sand. Schließlich waren nur noch Cliff und Naomi nebeneinander an der Bar. »Cliff?« fragte sie, leicht angeheitert. »Ja, Naomi?« »Ich freue mich, daß ich Eingang in das Team gefunden habe. Und ich freue mich noch mehr darüber, daß ich den nächsten Flug wieder mit dir unternehmen darf.« Cliff beugte sich vor und küßte sie kurz auf den Mund. »Stelle alles in Frage«, sagte er. »Die Raumfahrt, die Zuneigung alternder Kommandanten und selbst die Konkurrenz gegen eine Turceed. Ich sitze Ishmee ungern gegenüber und gebe ihr dabei die Chance, in meinen Gedanken dein Bild zu entdecken.« »Danke«, sagte sie. »Ich komme allein nach Hause.« Cliff nickte ohne jede Ironie und sagte leise: »Das ist einer der wenigen Vorteile von jungen und emanzipierten Raumfahrerinnen. Gute Nacht.« Sie lächelte ihm nach, als er ging, aber je weiter er sich in Richtung auf den Lift entfernte, desto nach-
denklicher wurde der Ausdruck in Naomi 4603's Gesicht. Dann begann sie, auch ihre eigenen Gefühle in Frage zu stellen. Es war nicht leicht.